Revolution, Exil und Befreiung: Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den 1960er und 1970er Jahren [1 ed.] 9783666557781, 9783525557785


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Revolution, Exil und Befreiung: Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den 1960er und 1970er Jahren [1 ed.]
 9783666557781, 9783525557785

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Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 63

Vandenhoeck & Ruprecht

Annegreth Schilling

Revolution, Exil und Befreiung Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den 1960er und 1970er Jahren

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-140X ISBN 978-3-525-55778-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

„Was tut die ökumenische Bewegung? Antwort: Sie ist ein – zugegeben: sehr ernsthaftes – Spiel mit einer Möglichkeit. Sie ist – abgesehen von ihrer Funktion als Instrument internationaler Zusammenarbeit – eine Werkstatt, in der Zukunft entworfen, eine Option für die Kirchen erarbeitet wird. Sie ist eine Antizipation.“ Ernst Lange, Utopie, 24.

Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangsfragen und Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodisches Vorgehen und Forschungsstand . . . . . . . . . . .

15 15 25

Teil I Der historische Kontext: Christentum und politische Entwicklungen in Lateinamerika im 20. Jahrhundert 1. Der lateinamerikanische Protestantismus . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Anfänge: Der lateinamerikanische Protestantismus zwischen kolonialer Vergangenheit, europäischer Einwanderung und nordamerikanischer Mission . . . . . 1.2 Der Ausschluss von Edinburgh 1910 als Beginn eines wachsenden Selbstbewusstseins des lateinamerikanischen Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der lateinamerikanische Protestantismus im Ringen um Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Profile des lateinamerikanischen Protestantismus . . . . . 2. Die 1960er und 1970er Jahre in Lateinamerika . . . . . . . . . 2.1 Die politische Situation in Lateinamerika zwischen Revolution und Diktatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die katholische Kirche im Aufbruch: Vom Zweiten Vatikanischen Konzil nach Medell n 1968 . . . . . . . . .

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40 46 53

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53

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3. Die Integration Lateinamerikas in den ÖRK in den 1950er Jahren 3.1 Die Repräsentation Lateinamerikas in der Gründungsphase des ÖRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Studienprogramm „Rapid Social Change“ und seine Relevanz für Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die ökumenische Verantwortung der Kirchen angesichts des raschen sozialen Wandels . . . . . . . .

69

Teil II Die Anf nge: Lateinamerika und der kumenische Rat der Kirchen

71 73 74

8

Inhalt

3.2.2 Die Aufnahme des Studienprogramms in Lateinamerika und die Rolle von Richard Shaull . . . . 3.3 Das Ende der ökumenischen Isolation Lateinamerikas . . . . 4. Protestantismus und sozialer Wandel in Lateinamerika – Die Bewegung Iglesia y Sociedad en Am rica Latina (ISAL) . . . . . . 4.1 Die Gründung in Huampan 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Arbeitsweise und Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Verantwortung – Revolution – Befreiung: Drei Etappen der ISAL-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Theologische Einflüsse und ökumenische Wechselwirkungen. 4.4.1 Der Einfluss der Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Wechselwirkungen zwischen ISAL und dem ÖRK . . . 5. Die Strukturierung und Professionalisierung der Arbeit zur Region Lateinamerika im ÖRK ab 1961 . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Lateinamerika-Sekretariat . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der lateinamerikanische Arbeitsausschuss . . . . . . . . . . . 6. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80 88 91 92 96 100 106 106 109 112 113 114 123

Teil III Der lateinamerikanische Boom in der internationalen kumene 7. Der lateinamerikanische Einfluss in den 1960er Jahren . . . . . 7.1 Die „verantwortliche Gesellschaft“ als sozialethisches Leitkonzept 1948–1966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Theologie der Revolution – eine lateinamerikanische Alternative zur „verantwortlichen Gesellschaft“ (Genf 1966) 7.2.1 Die Vorbereitung der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft und die Rolle Richard Shaulls . . . . . . 7.2.2 Das Lateinamerika-Plenum und die Kritik an der „verantwortlichen Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Der lateinamerikanische Einfluss auf das Gesamtergebnis der Konferenz . . . . . . . . . . . . . 7.2.4 Das Ende der Theologie der Revolution . . . . . . . . 7.3 Die Theologie der Entwicklung und die Arbeit des ökumenischen Ausschusses für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden (SODEPAX) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Das Experiment SODEPAX . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Die Ausdifferenzierung des Entwicklungsverständnisses (Beirut 1968 / Montreal 1969) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 125 . 127 . 132 . 135 . 143 . 153 . 157 . 159 . 161 . 164

9

Inhalt

7.3.3 Von der Theologie der Entwicklung zur ökumenischen Artikulation der Theologie der Befreiung (Cartigny 1969) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Die Bedeutung von SODEPAX für den ökumenischen Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Exil und Befreiung: Lateinamerikanische Perspektiven im Stab des ÖRK (1969–1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die ersten Lateinamerikaner im Stab des ÖRK in den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Wegbereiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Die Berufung von Leopoldo Niilus trotz Widerständen . 8.2 Paulo Freire: Von der Freiheit pädagogischen Handelns . . . 8.2.1 Biographischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Im ökumenischen Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Freires befreiungspädagogische Impulse für den ÖRK . 8.2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Julio de Santa Ana: Von der Entwicklung zur Befreiung . . . . 8.3.1 Biographischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Auf dem Weg ins ökumenische Exil . . . . . . . . . . . 8.3.3 Santa Anas befreiungstheologische Impulse für die Commission on the Churches’ Participation in Development (CCPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Emilio Castro: Der Beginn der Weltmission . . . . . . . . . . 8.4.1 Biographischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Zwischen Berufung und ökumenischem Exil . . . . . . 8.4.3 Castros Beitrag zu einem erneuerten ökumenischen Missionsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178 187 188 191 193 193 195 200 201 202 208 213 214 215 216 220 226 228 228 231 233 239 240

Teil IV kumenisch-hermeneutische Konsequenzen 9. Die Wechselwirkungen zwischen Lateinamerika und dem ÖRK als Modell ökumenischer Transkontextualität . . . . . . . . . . 9.1 Globale theologische Verflechtungen . . . . . . . . . . . . . 9.2 Überschreitung von Grenzen und Eröffnung neuer Räume . 9.3 Die Einheit der Kirche als Ausdruck von Vielfalt und Differenz

. . . .

245 249 255 264

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Danksagung Die vorliegende Studie wurde 2013 als Dissertation an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommen. Außerordentlicher Dank gebührt Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Weinrich, der als Erstgutachter die Dissertation betreut hat und mich seit vielen Jahren als theologischer Lehrer und ökumenischer Mentor begleitet. Von ihm habe ich von Anbeginn gelernt, dass Ökumene zum Wesen der Kirche gehört, kritisch verfolgt und verantwortlich gestaltet werden will. Die Dissertation wäre nicht zustande gekommen ohne das wegweisende DFG-Forschungsprojekt „Auf dem Weg zum globalen Christentum: Die europäische Ökumene und die Entdeckung der Dritten Welt“ unter der Leitung von PD Dr. Katharina Kunter. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin habe ich von 2008–2011 in diesem Projekt den zeitgeschichtlichen Kontext sowie theologische Themen der „Globalisierung der Kirchen“1 in den 1960er und 1970er Jahren erarbeitet und in diesem Zusammenhang auch das Thema der Dissertation entwickelt. Katharina Kunter möchte ich nicht nur danken für die Erstellung des Zweitgutachtens, sondern vor allem für unzählige spannende Projekttreffen in Karlsruhe, Frankfurt, Genf und Berlin, für die Einführung in die Kirchliche Zeitgeschichte und die Geheimnisse der Archivarbeit, für Beratung, Aufmunterung und nicht zuletzt für die in diesen Jahren entstandene Freundschaft im Frankfurter Nordend. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, wo ich seit 2011 als Assistentin von Prof. Dr. Dr. h. c. Michael Weinrich am Ökumenischen Institut tätig bin, hat mir ermöglicht, die Dissertation zu Ende zu bringen, und mir auch den Weg in die weitere wissenschaftlich-theologische Arbeit geebnet. Prof. Dr. Traugott Jähnichen danke ich sehr herzlich für die Erstellung des Drittgutachtens. Außerdem danke ich allen Kolleginnen und Kollegen in Bochum für ihre je unterschiedliche Unterstützung, insbesondere den MitarbeiterInnen am Lehrstuhl Ulrike Busse, Karen Lutz und JanPhilipp Zymelka. Ulrike Eichler und Christoph Urban haben wertvolle Anregungen im Doktorandenkolloquium gegeben. Besonders danken möchte ich den Zeitzeugen, die ihre Erinnerung an den ökumenischen Aufbruch der 1960er und 1970er Jahre mit mir geteilt haben, viele Verbindungslinien gezogen haben und kritischen Rückfragen nicht ausgewichen sind. Stellvertretend danke ich Julio de Santa Ana, der mich gleich dreimal in seiner Wohnung im Grand-Saconnex willkommen geheißen 1 Vgl. Kunter / Schilling, Globalisierung.

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Danksagung

hat und mir Ein- und Ausblicke in die lateinamerikanische Revolution und die verwobene ökumenische Geschichte gegeben hat. Den Mitarbeitern im Archiv des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Genf, insbesondere dessen Leiter Hans von Rütte, möchte ich danken für die Unterstützung bei den Recherchen und der manches Mal unkonventionellen Nutzung des Archivs. Außerdem danke ich den KollegInnen und FreundInnen in Genf für weiterführende Gespräche und die Unterstützung meiner Arbeit, namentlich Semegnish Asfaw, Dr. Odair Pedroso Mateus, Dr. Simon Oxley, Marta Palma, Dr. Martin Robra, Manuel Quintero P rez und Dr. Carlos Sintado. Dr. Stephen Brown gebührt ein außerordentlicher Dank für seine unzähligen Hinweise auf interessante Quellen, seine Korrekturen englischer Beiträge und nicht zuletzt mitreißende Diskussionen in kulinarischer Runde. Besonders bedanken möchte ich mich außerdem bei Prof. Dr. em. Konrad Raiser, der mir während der gesamten Zeit der Dissertation beratend zur Seite stand, und mir zusammen mit Dr. Elisabeth Raiser vorlebt, wie Wissenschaft und Leidenschaft für die ökumenische Sache Hand in Hand gehen können. Doch auch ohne die Expertise der Lateinamerikanistik hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Ich danke PD Dr. Barbara Dröscher für ein äußerst kreatives Gespräch im S-Bahn Caf in Berlin-Friedenau, das mir die Bedeutung transkultureller und postkolonialer Theorie für meine Arbeit erhellt hat, sowie Prof. Dr. Anja Bandau für die Möglichkeit des Vortrags im Colloquium „Soziale Bewegungen“ an der Leibniz-Universität in Hannover. Für ihre fortwährende Freundschaft und Unterstützung, ihr Mitdenken und Mitfühlen möchte ich außerdem danken: meinen Eltern, Barbara und Dr. Johannes Strümpfel, meinen Geschwistern Claudia Hultsch, Albrecht Strümpfel und Christoph Strümpfel, meinem Mit-Doktoranden Christian Albers sowie Prof. Dr. Edmund Arens, Christina Biere, Dr. Maria Böhmer, Almut Bretschneider-Felzmann, Lioba Diez, Anne Freudenberg, Dr. des. Dorothea Gädeke, Dr. Sebastian Maly SJ, Prof. Dr. em. Michael Raske, Kristy Rempel, Julia Rintz, Prof. Dr. em. Pius Siller, Eugenie Schilling (†), HansJustus Strümpfel, Werner Strümpfel (†) und Stephan von Twardowski. Für die Lektüre und Korrektur einzelner Kapitel danke ich außerdem herzlich Martin Frankowski, Ursula Schuh und Dr. Christoph Wiesner. Der Arbeitsgemeinschaft Kirchliche Zeitgeschichte und den Herausgebern der Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“, Prof. Dr. Siegfried Hermle und Prof. Dr. Harry Oelke, danke ich für die Aufnahme in die Schriftenreihe sowie die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Ebenfalls danken möchte ich dem Deutschen Ökumenischen Studienausschuss (DÖSTA) sowie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung. Den Mitarbeitern im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich Herrn Christoph Spill und Frau Dr. Elke Liebig, danke ich herzlich für die Beratung und Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts.

Danksagung

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Schließlich danke ich Klaus Schilling, der mich in diesen entscheidenden Jahren unermüdlich unterstützt, mich immer wieder ermuntert und kritisch begleitet hat. Danke für Deine Ruhe, die mich manches Mal zur rechten Zeit geerdet hat. Es ist ein großes Glück, mit Dir zusammen theologisch denken und ökumenisch leben zu dürfen! Rund 50 Jahre liegen zwischen den Ereignissen, die in dem vorliegenden Buch nachgezeichnet werden, und dem Heute – ein halbes Jahrhundert, in dem sich auch innerhalb der Ökumene viele Koordinaten geändert haben. Das Buch ist unseren Kindern Jakob und Ronja gewidmet, als Zeichen und Ermutigung, ökumenische Geschichte(n) über Generationen hinweg zu erinnern und weiter zu erzählen. Annegreth Schilling Frankfurt am Main, 31. Januar 2016

Einleitung 1. Ausgangsfragen und Erkenntnisinteresse Der gebrochene Eurozentrismus des Christentums und die Globalisierung der Ökumene Die Wahl des argentinischen Kardinals Jorge Mario Bergoglio zum Papst im Frühjahr 2013 stellte für die römisch-katholische Kirche in doppelter Hinsicht ein Novum dar: Denn mit ihm wurde nicht nur der erste Jesuit an die Spitze des Vatikans gewählt, sondern auch der erste Papst aus Lateinamerika. Die Wochenzeitung Die Zeit titelte euphorisch: „Ein Mann aus der neuen Welt übernimmt Rom. Mit der Wahl von Franziskus ist der Eurozentrismus des Papsttums gebrochen.“1 Auch Bergoglio zeigte sich überrascht über seine Wahl und kommentierte diese in seiner Antrittsrede auf dem Balkon des Petersdoms damit, dass seine Kardinalsbrüder „fast bis zum Ende der Welt“2 gegangen seien, um ihn zu finden. Dies war freilich übertrieben, denn der lateinamerikanische Kontinent war seit seiner „Entdeckung“ 1492 durch die Europäer kein unbekanntes Terrain mehr und avancierte spätestens im 20. Jahrhundert mit der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medell n 1968 im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965) zu einem bedeutenden geographischen und theologischen Referenzpunkt des Katholizismus. Doch an den Reaktionen zeigte sich, dass Bergoglios Wahl etwas Außergewöhnliches darstellte. Mit der Wahl von Franziskus sei die „Stunde des Südens“ gekommen, fasste die Frankfurter Allgemeine Zeitung zusammen: „Damit vollzieht auch die katholische Kirche nach, was in den vergangenen Jahren schon Weltpolitik und Weltwirtschaft beschäftigt hat: die Hinwendung zu den aufstrebenden Regionen und Nationen des Südens und die Abwendung von Europa und dessen Herabstufung.“3

Dabei ist die römisch-katholische Kirche nicht die erste kirchliche Institution auf Weltebene, die einen Mann aus dem „Süden“ an ihre Spitze gewählt hat. Im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK), dem die römisch-katholische Kirche nicht angehört und der gegenwärtig 345 protestantische, anglikanische und

1 K ufer, Mann. 2 Apostolischer Segen „Urbi et Orbi“, 13. 3. 2013. Vgl. auch die kurz nach seiner Wahl ausgestrahlte TV-Dokumentation der ARD über Jorge Mario Bergoglio: „Franziskus – Der Papst vom Ende der Welt“. 3 Frankenberger, Stunde.

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Einleitung

orthodoxe Kirchen aus über 110 Ländern in sich vereint4, fand ein vergleichbarer Führungswechsel bereits 41 Jahre zuvor statt: Der von der karibischen Insel Dominica stammende methodistische Pfarrer Philip Alford Potter wurde im August 1972 auf dem Zentralausschuss des ÖRK in Utrecht zum dritten Generalsekretär gewählt. Seine Vorgänger waren der Niederländer Willem A. Visser ’t Hooft und der aus den USA stammende Eugene Carson Blake. Die Euphorie über die Wahl des ersten „schwarzen“ Generalsekretärs des ÖRK war vergleichbar mit der Freude über die Wahl Bergoglios im März 2013, wie ein Kommentar in Die Zeit aus dem Jahr 1972 zeigt: „Seine [Potters] Wahl ist Zeugnis: Die Kirche der Dritten Welt hat ihren Platz neben den Kirchen Europas und Amerikas eingenommen als gleichberechtigter Partner, vielleicht sogar als ihr Erneuerer.“5

Damals wie heute, in Genf wie in Rom, stand der neugewählte Kirchenmann an der Spitze für Aufbruch und Reformen. Im ÖRKwar die Wahl von Potter zum Generalsekretär des Weltkirchenrates allerdings nicht der Beginn, sondern nur der sichtbare Höhepunkt für einen sich bereits seit Mitte der 1950er Jahre vollziehenden ökumenischen Transformationsprozess. Die „langen sechziger Jahre“6 (1955–1973) markieren in der Geschichte des ÖRK die Phase der Globalisierung, die sich einerseits durch eine zunehmende Entwestlichung der internationalen Ökumene und andererseits durch eine stärkere Hinwendung der Kirchen zu politischen Themen auszeichnete.7 Dieses lange Jahrzehnt wurde durch die wachsende Präsenz der Dritten Welt8 im ÖRK bestimmt. Das neue, globale Gesicht der Ökumene zeigte sich erstmals auf der 3. Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 – der ersten Versammlung ihrer Art an einem nicht-westlichen Ort. Zum einen nahm dort der ÖRK 23 neue Mitgliedskirchen auf, von denen 19 aus Afrika, Asien und Lateinamerika stammten, und zum anderen gelang mit der Integration des Internationalen Missionsrates in den ÖRK die Zusammenführung von ökumenischen Themen und Akteuren mit der Arbeit der Missionsge4 Ökumenischer Rat der Kirchen, Über uns. 5 Strothmann, Pastor. 6 Vgl. zur Definition der „long sixties“: Marwick, Sixties. Vgl. zum religiösen Wandel in dieser Zeit: McLeod, 1960s. 7 Vgl. Kunter / Schilling, Christ, 23 f; Str mpfel, Theologie, 150. 8 Der Begriff „Dritte Welt“ wird im Folgenden als zeitgeschichtlicher Oberbegriff für Afrika, Asien und Lateinamerika verwendet. Vgl. zu Definition und Grenzen des Begriffs: Kalter, Entdeckung, 44 f. Wie die Bezeichnung „Dritte Welt“ sind auch die Begriffe Westen / westlich, Entwicklungsländer, entwickelte Länder, Industrienationen, etc. Terminologien der 1960er und 1970er Jahre, die heute aufgrund ihres polarisierenden bzw. eindimensionalen Bedeutungshorizonts nicht mehr uneingeschränkt benutzt werden können. Dennoch ermöglichen sie eine gewisse historische Sprachfähigkeit und werden daher im Folgenden in ihrer zeitgeschichtlichen Bedeutung verwendet. Für die bessere Lesbarkeit wird auf Anführungszeichen verzichtet. Vgl. zur gleichlautenden Argumentation: Eckert, Herrschaft, 7 (Fußnote 17); Kunter / Schilling, Christ, 23.

Ausgangsfragen und Erkenntnisinteresse

17

sellschaften in den „jungen Kirchen“.9 Anfang der 1970er Jahre sah Philip Potter den ÖRK durch den wachsenden Einfluss der Kirchen aus der Dritten Welt „an der Schwelle zu einer neuen Ära“ angekommen, „in der die ökumenische Bewegung in einem echteren Sinne weltweit wird“10. Die protestantischen Kirchen und die Theologie aus Lateinamerika – so die These der vorliegenden Untersuchung – nahmen dabei für die Globalisierung des ÖRK in den 1960er und 1970er Jahren eine besondere Rolle ein, indem sie einerseits theologische Impulse aus dem ÖRK und aus Europa aufnahmen und verarbeiteten und andererseits mit ihren eigenen kontextuellen theologischen Beiträgen die Arbeit der internationalen Ökumene beeinflussten. Während in den 1950er Jahren durch die Dekolonisationsprozesse vor allem Asien11 und ab Mitte der 1970er Jahre mit der Zuwendung zum Thema Rassismus zunehmend Afrika12 im Zentrum der ökumenischen Diskussion standen, stellten die langen sechziger Jahre das Jahrzehnt dar, in dem Lateinamerika ins Blickfeld der internationalen Ökumene rückte. Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in den langen 1960er Jahren Der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den langen sechziger Jahren. Die Bezeichnung „Boom“ ist aus der lateinamerikanischen Literaturwissenschaft entlehnt, die darunter das Aufkommen des neuen lateinamerikanischen Romans (nueva novela) in den 1960er Jahren versteht.13 Kennzeichen der nueva novela waren einerseits die eigenständige,

9 Vgl. Stransky, Council; Gensichen, Missionskonferenzen, 834; Newbigin, Mission. Mit dem Terminus „junge Kirchen“ wurden die „aus der westlichen Missionsarbeit entstandenen Kirchen der Dritten Welt“ (Hollenweger, Kirchen, 454) bezeichnet. Der Begriff wird im Folgenden in seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung verwendet. 10 Potter, Welt, 386. 11 Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 159–215 und 240–258. 12 Vgl. Odudoye, Africa. Das 1969 eingesetzte Antirassismusprogramm des ÖRK gilt bis in die Gegenwart als bedeutendstes globales Aktionsprogramm des ÖRK, das allerdings auch große Kontroversen nach sich zog. Vgl. ausführlich hierzu: Laine, Attack. Für die Auswirkungen des Programms auf den westdeutschen Protestantismus vgl. Tripp, Fromm. 13 Vgl. Rçssner, Literaturgeschichte, 368–372. Der Gedanke des wirtschaftlichen Aufschwungs, der in Europa in erster Linie mit dem Boom-Begriff assoziiert wird, spielt in diesem Zusammenhang keine, bzw. im Blick auf die Vermarktung der lateinamerikanischen Literatur außerhalb Lateinamerikas nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. zur zeitgeschichtlichen Lesart des Begriffs in Westeuropa: Doering-Manteuffel / Raphael, Boom. Diese Studie geht auf ein zeitgeschichtlich orientiertes Forschungsprojekt der Universitäten Trier und Tübingen zurück, das sich mit der Entwicklung westlicher Industriegesellschaften, insbes. der Bundesrepublik Deutschland ab 1970 beschäftigt. Vgl. Forschungsverbund „Nach dem Boom“, http://www. nach-dem-boom.uni-tuebingen.de/index.php (Zugriff: 27. 7. 2013).

18

Einleitung

von Europa unabhängige Erzählweise und andererseits ihre international breit angelegte Rezeption.14 Der Boom-Begriff verweist auf eine zeitgeschichtliche Parallelität zwischen lateinamerikanischer Literatur- und Theologiegeschichte und ist in drei Perspektiven für den Untersuchungsgegenstand anschlussfähig: (1) Er verweist auf den Aufbruch des lateinamerikanischen Protestantismus in den langen sechziger Jahren und die Ausprägung eines genuin lateinamerikanischprotestantischen Selbstverständnisses in Abgrenzung zur Dominanz des lateinamerikanischen Katholizismus einerseits und zum europäischen und nordamerikanischen Protestantismus andererseits. (2) Der Boom-Begriff verdeutlicht den gesellschaftlichen Bezug und die politische Relevanz der protestantischen Theologie, die sich in diesen Jahren in Lateinamerika entfaltete, angefangen von der Gründung der Bewegung für Kirche und Gesellschaft ISAL (Iglesia y Sociedad en Am rica Latina) in der Region des R o de la Plata, über die Artikulation einer Theologie der Revolution bis hin zur Ausprägung der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Diese galt sowohl für katholische als auch für protestantische Theologen als eine „neue Art, Theologie zu treiben“15, die von der lateinamerikanischen Realität ausging und als kritische Reflexion der Praxis zur befreienden Veränderung der konkreten Lebenssituation in der Perspektive des Reiches Gottes beitrug. (3) Der Boom-Begriff verweist auf den Aspekt der Rezeption und Wirkung lateinamerikanischer Theologie außerhalb Lateinamerikas. Hierzu zählten beispielsweise die hohe Aufmerksamkeit, die lateinamerikanischen Delegierten auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 zuteil wurde, und wenig später die starke internationale Rezeption lateinamerikanischer Befreiungstheologie.16

14 Hauptanliegen der Boomliteratur war es, die Andersartigkeit des lateinamerikanischen Kontinents in den Mittelpunkt des Erzählens zu stellen und sich dadurch vom europäisch-abendländischen Stil abzugrenzen (vgl. M ller, Boom-Autoren, 12). Auch wenn nicht von einer „Schule“ der Boomliteraten gesprochen werden kann, so waren ihnen dennoch zwei Charakteristika gemeinsam: Zum einen verstanden sich die Autoren des Boom unter Berufung auf Jean-Paul Sartre als Vertreter der „litt rature engag e“, d. h. als Vertreter einer Literatur, die sich religiös, gesellschaftlich und politisch einmischt, Widersprüche aufdeckt und diese zu überwinden trachtet. Zum anderen verband die Autoren, dass ihre Werke international auf große Resonanz stießen und breit rezipiert wurden. Vgl. Dçhl, Litt rature; Donoso, Historia. Einführend aus literaturwissenschaftlicher Perspektive: vgl. Harmuth / Ingenschay, Literatur, 56–61; Rçssner, Literatur, 9–25, bes. 22 f. 15 Vgl. Guti rrez, Theologie, 21 (Kursiv im Original); Vgl. als protestantische Entwürfe der Theologie der Befreiung: Alves, Theology; M guez Bonino, Theologie. 16 Vgl. zur Rezeption im deutschsprachigen Raum u. a. Metz, Religion; Greinacher, Konflikt; Schottroff, Gott; Sçlle, Gott; Tamayo, Rezeption; Moltmann, Erfahrungen, 194–222; Fornet-Betancourt, Befreiungstheologie; Schreij ck, Stationen.

Ausgangsfragen und Erkenntnisinteresse

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Die Bedeutung transkultureller und postkolonialer Theoriebildung für die Ökumenik Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den 1960er und 1970er Jahren kann allerdings nicht als einseitiger Akt der Repräsentation und Einflussnahme verstanden werden, im Zuge dessen lateinamerikanische theologische Konzepte in den globalen ökumenischen Diskurs im Bild einer Einbahnstraße eingeführt wurden. Vielmehr handelte es sich hierbei um einen Prozess von kulturellen Verflechtungen und theologischen Wechselwirkungen, der den ökumenischen Dialog befördert und zur Ausprägung neuer theologischer Konzepte geführt hat. Kulturwissenschaftliche Studien haben seit den 1970er Jahren den Aspekt der Verflechtung und Interdependenz von Kulturen und Kontexten zunehmend in das Zentrum der Geistes- und Sozialwissenschaften gerückt. Mit dem Stichwort „cultural turn(s)“ wird seitdem der Wandel im Kulturverständnis bezeichnet, der nicht mehr von einem monolithischen Kulturbegriff ausgeht, sondern die inter- und transkulturellen Beziehungen und ihre Auswirkungen auf kulturelle Identitäten thematisiert.17 Als bedeutendes Forschungsfeld innerhalb der Kulturwissenschaften gilt seit mehreren Jahrzehnten die postkoloniale Theoriebildung, welche die Herrschafts- und Machtstrukturen zwischen verschiedenen Kulturen und Kontexten offenlegt und die Dominanz westlicher Kultur gegenüber nicht-westlichen Kontexten – insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika – als Fortschreibung kolonialer Abhängigkeiten kritisiert.18 Der Philosoph Wolfgang Welsch hat in Deutschland in den 1990er Jahren das Konzept der Transkulturalität in den kulturwissenschaftlichen Diskurs eingeführt, das auf der Grundlage postkolonialer Theoriebildung das Aufeinandertreffen von Kulturen beschreibt. Entscheidend für Welschs Ansatz ist, dass Kulturen dabei nicht als homogene, kugelartige Gebilde wahrgenommen werden, sondern als hybride, dynamische Einheiten, die sich durch Pluralität, Heterogenität und Mobilität auszeichnen und sich ständig erneuern.19 Wo immer sich unterschiedliche Kulturen und Kontexte begegnen, finden daher Prozesse von Aneignung, Identifikation, Bestätigung einerseits und von Abgrenzung, Verwerfung, Ausgrenzung andererseits statt.20 Diese Spannung zwischen Affirmation und Differenz ist konstitutiv für transkulturelle Pro17 Zu den Neuorientierungen in der Kulturwissenschaft vgl. Bachmann-Medick, Cultural turns. 18 Vgl. einführend: do Mar Castro Varela / Dhawan, Theorie. Zu den Begründern postkolonialer Theorien gehören Edward Said, Literaturwissenschaftler palästinensischer Herkunft mit seinem 1978 erschienenen Werk „Orientalism“, die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Ch. Spivak mit ihrem Beitrag „Can the Subaltern speak“ (1988) sowie der ebenfalls aus Indien stammende Homi K. Bhabha mit seinen Publikationen zu Nation und Kultur, vgl. Bhabha, Nation; Bhabha, Location of Culture (1994); dt.: Verortung. 19 Vgl. Welsch, Transkulturalität, 84. 20 Vgl. Gippert / Gçppe / Kleinau, Einführung, 12.

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zesse und kann nicht einfach aufgehoben werden; vielmehr werden die unterschiedlichen Positionen in transkulturellen „Zwischenräumen“ miteinander ausgehandelt. Der amerikanisch-indische Literaturwissenschaftler und postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha hat sich in seinem Werk umfassend mit der Beschreibung solcher transkultureller Zwischenräume befasst. Bhabha zufolge zerstört der „Zwischenraum“ den „Spiegel der Repräsentation“21 und kann sich zu einem Ort entwickeln, an dem Differenzen zwischen verschiedenen kulturellen Systemen sichtbar gemacht und neue Identitäten ausgebildet werden: „Diese ,Zwischen-Räume‘ stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen können.“22

Grundlegend ist für Bhabhas Ansatz, dass die neuen Relationen und Identitäten, die in den „Zwischenräumen“ ausgebildet werden, nicht homogen und eindeutig sind, sondern von Herrschafts- und Machtansprüchen durchzogen bleiben und somit Ausdruck von Spannungen und bleibend differierenden Positionen sind. Während in der Geschichtswissenschaft der postkoloniale Diskurs vor allem im Bereich der Globalgeschichte seit dem Ende der 1990er Jahre konstruktiv aufgenommen wurde23, ist dieser theoretische Ansatz für die Theologie – insbesondere im Bereich der Systematik – in Deutschland noch weitgehendes Neuland.24 Der Theologe und Religionswissenschaftler Klaus Hock

21 Bhabha, Verortung, 56. 22 Ebd., 2. 23 Vgl. für den deutschen Sprachraum die grundlegenden Einführungen von Conrad / Eckert / Freytag, Globalgeschichte; Conrad, Globalgeschichte. 24 Die Rezeption der postkolonialen Studien begann in der Theologie im Bereich der Bibelwissenschaften in den 1990er Jahren mit der postkolonialen Relektüre neutestamentlicher Texte durch R. S. Sugirtharajah aus Sri Lanka / Birmingham; vgl. Nausner, Theologien, 120 f. Der Beitrag von Nausner enthält einen umfassenden internationalen Forschungsüberblick sowie eine ausführliche Bibliographie zum Themenfeld postkolonialer Theologien. Einführende systematisch-theologische Beiträge sind in Deutschland erst seit 2008 in verschiedenen Zeitschriften und Sammelbänden oder Monographien zu verzeichnen. Federführend in der theologischen Diskussion ist neben dem Systematiker Michael Nausner der Erlanger Missions- und Religionswissenschaftler Andreas Nehring, der sowohl als Mitherausgeber der Reihe „ReligionsKulturen“ im Kohlhammer-Verlag sowie als Mitherausgeber der Zeitschriften „Interkulturelle Theologie“ und „Verkündigung und Forschung“ die Bedeutung des postkolonialen Diskurses für die Theologie stärkt. Vgl. die Einführung Nehring / Tielesch, Theologien. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (Stuttgart 2013), das von Nehring verantwortete Themenheft „Interkulturelle Theologie“. In: Verk ndigung und Forschung (2012) sowie das Themenheft „Postkoloniale Theologie“. In: Interkulturelle Theologie

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hat 2002 überzeugend darauf aufmerksam gemacht, dass Religion ein gutes Beispiel für transkulturelle Prozesse darstellt: Denn Religion sei nicht einfach gegeben, sondern ein „Resultat vielfältiger Austausch- und Interaktionsprozesse“25. Obwohl das Konzept der Transkulturalität folglich geeignet sei, um Wechselbeziehungen zwischen Religionen, Konfessionen und Kulturen zu beschreiben, unterstreicht Hock, dass transkulturelle Prozesse keine MetaNarrative darstellten, die in großen Theorien beschrieben werden könnten. Diese Bewegungen ließen sich vielmehr „durch Mikrostudien und historische Detailanalysen nachzeichnen, in denen die komplexen Austauschvorgänge und Interaktionsformen zwischen Religionen – oder besser: zwischen religiösen Akteuren – rekonstruiert werden“26. Allerdings handelt es sich hinsichtlich der von Hock geforderten Mikrostudien und historischen Detailanalysen in der Theologie und Religionswissenschaft nach wie vor um ein wenig beachtetes Forschungsfeld. So ist etwa für den Bereich der ökumenischen Theologie oder Missionswissenschaft zu konstatieren, dass bislang nur wenige Untersuchungen vorliegen, die konkret vom Konzept der Transkulturalität ausgehen. Verbreiteter ist es dagegen, das Konzept der Interkulturalität und der interkulturellen Theologie zum Ausgangspunkt ökumenischer und missionswissenschaftlicher Arbeit zu wählen.27 (2012). Auch im Bereich der katholischen Theologie wird das Thema Postkolonialismus zunehmend rezipiert: vgl. das Themenheft der Zeitschrift Concilium (2013). 25 Hock, Religion, 74. 26 Ebd. 27 Vgl. die theologischen Einführungen von K ster, Einführung; Wrogemann, Theologie sowie exemplarisch die Dissertation der katholischen Theologin Gruber, Theologie. Selbst Hock betitelte sein 2011 erschienenes Lehrbuch „Einführung in die interkulturelle Theologie“ und lässt den Begriff Transkulturalität in diesem Überblickswerk weitgehend unberücksichtigt. Dass es sich jedoch beim Begriff „Interkulturalität“ um einen problematischen Begriff handelt, machte Welsch bereits 1994 deutlich. Denn Interkulturalität stelle keinen „Ausweg“ dar, sondern trage vielmehr das Problem eines homogenen Kulturbegriffs weiter: „Das Konzept der Interkulturalität schleppt die Prämisse des traditionellen Kulturbegriffs – die Unterstellung einer insel- oder kugelartigen Verfassung der Kulturen – unverändert mit sich fort. […] Nur: die Beschreibung heutiger Kulturen als Inseln bzw. Kugeln ist eben deskriptiv falsch wie normativ irreführend. Die Kulturen haben nicht mehr die unterstellte Form der Homogenität und Separiertheit. Daher ist es dringend geboten, die Grammatik des Ausdrucks ,Kultur‘ entsprechend zu verändern, begriffliche Nachholarbeit zu leisten. Es gilt, über das klassische Konzept der Einzelkulturen und die wohlmeinenden Bemühungen der Interkulturalität hinaus zum Konzept der Transkulturalität überzugehen […].“ (Welsch, Transkulturalität, 94 f.) Auch für missionswissenschaftliche Studien wie die o. g. Publikationen von Küster, Wrogemann, Gruber und Hock wäre daher kritisch zu prüfen, ob der Begriff der interkulturellen Theologie die Verwobenheiten der verschiedenen Kulturen angemessen zum Ausdruck bringt, oder ob hier nicht ebenfalls das Konzept der Transkulturalität weiterführender wäre. Wrogemann kommt in seinem knappen und wenig zufriedenstellenden Vergleich zwischen den Begrifflichkeiten ,Interkulturelle Theologie‘ und ,Transkultureller Theologie‘ zu dem Schluss, dass ,Transkulturelle Theologie‘ zwar als analytische Kategorie tragfähig sei, dass aber zur Bezeichnung eines theologischen Faches der Begriff ,Interkulturelle Theologie‘ zu bevorzugen wäre, da durch ihn

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Überzeugend hat die Missionswissenschaftlerin Claudia Jahnel 2008 in Anknüpfung an Hock in einem umfangreichen und präzise ausgearbeiteten Aufsatz darauf hingewiesen, dass es gerade für die ökumenische Theologie eine Bereicherung sein kann, das Konzept der Transkulturalität anzuwenden, wie sich nicht zuletzt an der Geschichte der ökumenischen Bewegung zeige: „Ökumenische Bewegung, Dialog und Theologie sind ,contact zones‘ der Kulturen, Zonen des Aushandelns von Unterschieden, des transkulturellen Verkehrs in verschiedene Richtungen, der gegenseitigen Bereicherung, Assimilierung, Integration und des Ausschlusses. Diese Zonen sind keinesfalls ,unschuldig‘, sondern durchwirkt von Maßstäben, die dazu ermächtigt sind, zu definieren, zu entscheiden, aus- und einzuschließen.“28

Jahnels Beobachtungen und erste Erkundungen hinsichtlich einer transkulturellen Interpretation der Geschichte der ökumenischen Bewegung fordern dazu heraus, die hier folgende zeitgeschichtliche Untersuchung zum Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene einer solchen transkulturellen Lesart zu unterziehen. Die kulturwissenschaftliche / postkoloniale Perspektive ist insofern weiterführend, als sie wesentliche Impulse für eine ökumenisch-hermeneutische Reflexion des Untersuchungsgegenstandes liefert. Wichtige postkoloniale Leitthemen sind dabei Verflechtung, Grenzüberschreitung, Hybridisierung, Differenz und Identitätsbildung. Konkret wird im Folgenden danach gefragt, inwiefern sich von einer Aneignung lateinamerikanischer theologischer Positionen im globalen ökumenischen Kontext sprechen lässt und welches Bild lateinamerikanischer Theologie bzw. welche lateinamerikanischen (protestantischen) Identitäten dabei konstruiert wurden. Außerdem wird die Rolle und Bedeutung des ÖRK als ökumenischer „Zwischenraum“ beleuchtet und erörtert, inwieweit eine postkoloniale Perspektive auf den ökumenischen Dialog das Verständnis von der Einheit der Kirche verändert. Die Wechselwirkungen zwischen dem lateinamerikanischen Protestantismus und dem ÖRK Ausgehend von dem Konzept der Transkulturalität bearbeitet die vorliegende Studie die Wechselwirkungen zwischen dem ÖRK und Lateinamerika, in deren Verlauf wechselseitig Impulse aus dem jeweiligen theologischen und ökumenischen Diskurs aufgenommen (Rezeption) und angepasst wurden (Aneignung), in veränderter Gestalt in den jeweiligen Kontext zurückflossen die kulturellen Unterschiede besser zum Ausdruck gebracht werden würden (vgl. Wrogemann, Theologie, 341.) Diese Begründung verkennt jedoch, dass es dem Konzept der Transkulturalität nicht darum geht, kulturelle Differenzen auszublenden, sondern diese auszuhandelnden Differenzen in den Mittelpunkt zu stellen. 28 Jahnel, Ökumene, 14.

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(Neuformulierung) und dann wiederum in einen neuen Rezeptionsprozess mündeten. Es wird untersucht, welche Ereignisse, Konstellationen und Personen die Integration Lateinamerikas in die internationale Ökumene seit Mitte der 1950er Jahre befördert haben und erörtert, wodurch sich „die“ lateinamerikanische Perspektive auszeichnete. Unter „Lateinamerika“ wird dabei der geographische Raum von Mittel-, Zentral- und Südamerika verstanden, wobei Brasilien und dem Cono Sur (insbesondere in Argentinien und Uruguay) eine besondere Aufmerksamkeit zukommt. Die Entwicklungen in der Karibik werden in der Darstellung weitestgehend außen vor gelassen, da die Karibik als Ganze im strengen Sinn nicht zur lateinamerikanischen Region zählt.29 Die Untersuchung besteht aus vier Teilen, von denen sich die ersten drei in zeitgeschichtlicher Perspektive mit dem historischen Kontext in Lateinamerika (I) sowie den Wechselwirkungen zwischen dem lateinamerikanischen Protestantismus und dem ÖRK (II und III) beschäftigen. Im letzten Teil (IV) wird diese zeitgeschichtliche Diagnose mithilfe globalgeschichtlicher und postkolonialer Theoriebildung auf ihre Bedeutung für eine ökumenische Hermeneutik hin untersucht. Diese vier Hauptteile werden in neun Kapiteln systematisch entfaltet: Das erste Kapitel befasst sich mit der Geschichte des Protestantismus in Lateinamerika seit der Kolonialzeit, konzentriert sich dabei aber hauptsächlich auf einen Überblick über die Vielfalt protestantischer Strömungen und ihr Ringen um Einheit im 20. Jahrhundert. Im zweiten Kapitel wird der historische Hintergrund der 1960er und 1970er Jahre in Lateinamerika dargestellt, indem zunächst die politische Situation der für die Untersuchung maßgeblichen lateinamerikanischen Länder wie Argentinien, Uruguay und Brasilien skizziert wird. Daran anschließend wird der durch das Zweite Vatikanische Konzil beförderte Aufbruch in der römisch-katholischen Kirche und seine Auswirkungen auf den lateinamerikanischen Katholizismus beleuchtet. Nach dieser historischen Kontextualisierung beschäftigt sich der zweite Hauptteil mit den Anfängen der Zusammenarbeit zwischen Lateinamerika und dem ÖRK zwischen 1955 und 1961. Im Mittelpunkt von Kapitel 3 steht das Rapid Social Change-Programm des ÖRK, das die seit der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 bestehende ökumenische Isolation Lateinamerikas aufhob und den Beginn des ökumenischen Dialogs zwischen Lateinamerika und dem ÖRK darstellte. Daran anschließend wird im vierten Kapitel die durch das Rapid Social Change-Programm angestoßene Gründung der Bewegung für Kirche und Gesellschaft (ISAL) vorgestellt, die den gesellschaftspolitisch orientierten, linken Flügel des lateinamerikanischen Protes29 Zu Lateinamerika wird meist nur der spanischsprachige Teil der Karibik gezählt. In Übersichten und Statistiken internationaler Organisationen wird die Karibik meist einzeln oder in der Verbindung „Lateinamerika und Karibik“ aufgeführt. Vgl. G rtner, Lateinamerika. Der ÖRK ordnet seine Mitgliedskirchen gegenwärtig in acht Regionen ein, von denen die Karibik eine gesonderte Region darstellt: vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Member churches.

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tantismus repräsentierte und durch ihre Vertreter und mit ihren theologischen Diskursen die Arbeit des ÖRK in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren maßgeblich beeinflusste. Das fünfte Kapitel beleuchtet abschließend die Lateinamerika-Arbeit innerhalb des ÖRK, die sich in den 1960er Jahren zunehmend strukturierte und professionalisierte. Die Ergebnisse dieses Teils werden dann in einer kurzen Zwischenbilanz zusammengefasst (Kap. 6). Der dritte Teil stellt das Kernstück der Studie dar und widmet sich mit zwei Kapiteln dem Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene. Das Kapitel 7 zeichnet den lateinamerikanischen Einfluss auf die ökumenische Sozialethik nach und reflektiert den Beitrag der lateinamerikanischen Delegierten auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. Im Unterschied zum bis dahin im ÖRK allgemein akzeptierten sozialethischen Leitbild der „verantwortlichen Gesellschaft“ (Kap. 7.1) präsentierten die Lateinamerikaner in Genf erstmalig im internationalen Kontext ihr Konzept einer „Theologie der Revolution“ (Kap. 7.2), das die Mitwirkung der Kirchen an einem radikalen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Wandel befürwortete und diesen Ansatz theologisch untermauerte. Während die Lateinamerikaner mit diesem revolutionären Konzept zwar teilweise auf Sympathien stießen, sie dieses als sozialethische Leitidee im ÖRK allerdings nicht durchsetzen konnten, gelang es ihnen hingegen wenige Jahre später, ihre Perspektive in die Arbeit des ökumenischen Ausschusses für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden (SODEPAX) einzutragen: Kapitel 7.3 zeichnet die Kontroversen um den ökumenischen Entwicklungsbegriff nach und zeigt, wie die lateinamerikanischen Vertreter auf zwei Konsultationen in Montreal und Cartigny 1969 eine dezidiert befreiungstheologische Perspektive artikulierten und damit den sozialethischen Diskurs zum Verhältnis von Entwicklung und Befreiung maßgeblich beeinflussten. Doch nicht nur auf der Ebene von ökumenischen Konferenzen boomte die lateinamerikanische Perspektive: Auch innerhalb des Stabs des ÖRK wurde der lateinamerikanische Einfluss ab 1969 zunehmend spürbar, wie in Kapitel 8 dargestellt wird. Mit Leopoldo Niilus als Direktor der Kommission für internationale Angelegenheiten (CCIA), Paulo Freire als Sonderberater für Bildungsfragen, Julio de Santa Ana als Studiensekretär im Kirchlichen Entwicklungsdienst (CCPD) sowie mit Emilio Castro als Direktor der Kommission für Weltmission und Evangelisation (CWME) berief der ÖRK vier lateinamerikanische Intellektuelle in seinen Stab, die in allen Abteilungen des ÖRK ihre befreiungstheologischen Perspektiven nachhaltig in der programmatischen Arbeit verankerten. Die zeitgeschichtliche Darstellung des lateinamerikanischen Einflusses im ÖRK führt im vierten und abschließenden Teil der Arbeit zur Frage, welche Konsequenzen sich aus den Wechselwirkungen zwischen Lateinamerika und dem ÖRK für eine ökumenische Hermeneutik ableiten lassen. In Anlehnung an postkoloniale und globalgeschichtliche Theoriebildung werden zunächst

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die theologischen Verflechtungen zwischen Lateinamerika und der internationalen Ökumene herausgearbeitet (Kap. 9.1), bevor dann der ÖRK als Ort transkontextueller Begegnung vorgestellt wird (Kap. 9.2). Hier zeigt sich exemplarisch die Bedeutung internationaler Organisationen als „Zwischenraum“ (Homi Bhabha), in dem differierende kontextuelle Positionen ausgetauscht und verhandelt werden. Das diesen Teil abschließende Kapitel (Kap. 9.3) fragt danach, wie sich die in den beiden vorangegangenen Kapiteln entwickelte transkontextuelle Perspektive auf die Hermeneutik des ökumenischen Dialogs auswirkt. Dabei wird deutlich, dass die Suche nach sichtbarer Einheit der Kirchen in erster Linie die Differenzen und Brüche zwischen den verschiedenen Kontexten offenlegt, die ihrerseits jedoch nicht zu einem Abbruch ökumenischer Beziehungen führen, sondern zu einem besseren Verstehen der jeweiligen konfessionellen, theologischen und kulturellen Hintergründe und zu einer tieferen Dimension des ökumenischen Dialogs.

2. Methodisches Vorgehen und Forschungsstand Die vorliegende Arbeit verortet sich in einem interdisziplinären Dreieck zwischen Kirchlicher Zeitgeschichte, Kulturwissenschaften und Ökumenischer Theologie. Die Grundachse stellt die zeitgeschichtliche Betrachtung des Booms des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den langen sechziger Jahren (1955–1973) dar. Dabei verbindet die Untersuchung Methoden der Kirchlichen Zeitgeschichte mit der Globalgeschichte und legt damit aus historischer und theologischer Perspektive die globalen Verflechtungszusammenhänge der Kirchen offen. Die indischschweizerische Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin Shalini Randeria prägte dafür den Begriff „entangled histories“, der einerseits auf die Übereinstimmungen und die Herausbildung einer gemeinsamen, geteilten Geschichte („shared history“) und andererseits auf die Gegensätze, Brüche und Differenzen dieser geteilten Geschichte („divided history“) aufmerksam macht.30 Dieser von postkolonialer Theorie beeinflusste globale Blick auf historische Entwicklungen wendet sich dezidiert gegen die Universalisierung der europäischen resp. westlichen Geschichte und verweist auf die wechselseitigen, teils zirkulären Beziehungen, aber auch auf die Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Kontexten.31 Für die vorliegende Studie ist dieser globalgeschichtliche Ansatzpunkt in doppelter Hinsicht weiterführend: Denn erstens verweist er auf die Notwendigkeit, die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen ökumenischen Kontexten wahrzunehmen und damit zur globalen Orientierung kirchlicher Zeitgeschichte beizutragen. Zweitens er30 Vgl. Randeria, Histories; Conrad / Randeria, Geschichten, 17–22. 31 Vgl. Conrad / Eckert, Globalgeschichte, 23f.

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weitert er durch die kulturwissenschaftliche / postkoloniale Perspektive aber auch den Horizont für die theologische Reflexion und setzt neue Impulse für die Formulierung einer ökumenischen Hermeneutik. Damit öffnet sich die zeitgeschichtliche Untersuchung auch für grundlegende Fragestellungen Ökumenischer Theologie. Forschungsstand Die 1960er und 1970er Jahre gelten in der Kirchlichen Zeitgeschichte als Periode des Umbruchs: Demokratisierungs- und Säkularisierungsprozesse in Westeuropa und Nordamerika, das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965, die globalen Studentenproteste und das Aufkommen sozialer Bewegungen sind nur einige Signaturen dieser Zeit.32 Innerhalb der Kirchlichen Zeitgeschichtsforschung in Deutschland stellen die 1960er und 1970er Jahre spätestens seit 2005 ein bedeutendes Forschungsfeld dar, in dem in den vergangenen Jahren zahlreiche Publikationen erschienen sind.33 Allerdings konzentrieren sich diese Forschungen größtenteils auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland und gehen nur sporadisch auf globale Entwicklungen ein.34 Eine Ausnahme bilden u. a. die Arbeiten der Kirchenhistorikerin Katharina Kunter, die sowohl die Geschichte des Kalten Krieges als auch die Entwicklung des Christentums im 20. Jahrhundert konsequent in globaler und transnationaler Perspektive analysiert.35 Für die Untersuchung globaler Entwicklungen bieten internationale Organisationen ein umfassendes Forschungsfeld. Dem Historiker Daniel Maul zufolge ist die Erforschung internationaler Organisationen deswegen besonders interessant, da sie „Foren internationalen Austauschs“ darstellen, in denen die politischen Entwicklungen und Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts „wie durch ein Brennglas“ reflektiert werden.36 Dabei weist Maul auf das 32 Zu den „Umbrüche[n] in den sechziger Jahren“ vgl. Greschat, Zeitgeschichte, 30–37. 33 Vgl. exemplarisch die Veröffentlichungen der Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, darunter die aus drei Tagungen der Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte hervorgegangenen Sammelbände: Hermle, Umbrüche; Fitschen, Politisierung; Lepp / Oelke / Pollack, Religion. 34 Eine transnationale / globale Perspektive nehmen in den o. g. Tagungsbänden die Beiträge von Spliesgart, Theologie und Str mpfel, Theologie sowie die Beiträge der Sektion „Die Politisierung des Protestantismus – ein internationales Phänomen?“. In: Fitschen, Politisierung, 275–328 ein. 35 Vgl. Kunter / Schjørring, Christentum; Kunter, Kirchen und das Erbe; Kunter, Kirchen und Ökumene. Für eine transnationale Perspektive auf die Kirchengeschichte ist auch der Münchner Kirchenhistoriker Klaus Koschorke bekannt, dessen Arbeiten sich jedoch vorrangig der außereuropäischen Christentumsgeschichte zuwenden und nicht ausschließlich zeitgeschichtlich verortet sind: vgl. Koschorke, Etappen; Koschorke, African identities; Koschorke, Christentumsgeschichte. 36 Maul, Organisationen, 22 und 24 f. Maul hat die globale Bedeutung und Reichweite der Arbeit internationaler Organisationen überzeugend am Beispiel der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) herausgearbeitet; vgl. Maul, Menschenrechte; vgl. auch Kunter / Schilling, Christ, 23.

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grundlegende Problem hin, dass es bislang zu wenig theoretisch reflektierte Untersuchungen zur Bedeutung und dem Einfluss internationaler Organisationen gibt.37 Dies gilt auch für die Geschichtsschreibung des ÖRK: Neben der recht überschaubaren Anzahl an allgemeiner einführender Literatur in die Geschichte des ÖRK38 sind viele Studien entweder im Umkreis des ÖRK entstanden und kommen daher teilweise zu apologetischen Urteilen39, oder sie vertreten, wie etwa der Kirchenhistoriker Armin Boyens oder die Historikerin Hedwig Richter, eine eher politikgeschichtliche Perspektive auf die Geschichte des ÖRK, welche dem Weltkirchenrat „linksrevolutionäre[s] Pathos“40 bescheinigt und ihn in der Vergangenheit eng mit sowjetischer Staatspolitik verwoben sah.41 Zudem sind die meisten Darstellungen an einer überwiegend europäischen Darstellung interessiert und lassen einen globalgeschichtlichen Zugriff auf die ökumenische Bewegung vermissen.42 Hinsichtlich der Erforschung des Einflusses der Dritten Welt im ÖRK sind bislang nur wenige repräsentative Arbeiten erschienen. Eine wichtige und detaillierte Untersuchung stellt die bereits 1974 publizierte Arbeit des Mainzer Theologen Karl-Heinz Dejung dar, deren Untersuchungszeitraum allerdings 1968 endet und die daher die Transformationsperiode noch nicht übersieht.43 In jüngerer Zeit hat der Theologe Geiko Müller-Fahrenholz in einem kurzen Text die Bedeutung des Nord-Süd-Konflikts für den ÖRK herausgestellt, der sich dadurch auszeichnet, dass Müller-Fahrenholz den Konflikt im Kontext des Kalten Krieges verortet, der allerdings nur eine erste Skizze des Problems darstellt.44 2008 hat dann Katharina Kunter den ÖRK erstmals als „Global Player“ im Kalten Krieg bezeichnet und damit das Forschungsdesiderat unterstrichen.45

37 Vgl. Maul, Organisationen, 26. Zur Geschichte internationaler Organisationen vgl. auch: Herren, Organisationen; Volger, Geschichte. 38 Vgl einführend: Elderen, Zeugnis; Frieling, Weg; Dehn, Christentum. 39 Vgl. die sehr lesenswerte Trilogie zur Geschichte des ÖRK: A History of the Ecumenical Movement, 3 Bde.; Visser ’t Hooft, Ursprung; Link / M ller-Fahrenholz, Hoffnungswege. 40 Richter, Protestantismus. 41 Vgl. Boyens, Rat; Lefever, Weltkirchenrat; Richter, Protestantismus. Vgl. zur Kritik an Boyens: Dejung / Krusche / Stçhr, Rat. 42 Mit dem von der DFG geförderten Forschungsprojekt „Auf dem Weg zum globalen Christentum: Die europäische Ökumene und die Entdeckung der Dritten Welt zwischen 1966 und 1973“ (2008–2011) wurde unter der Leitung von PD Dr. Katharina Kunter erstmals der ÖRK in globalhistorischer Perspektive untersucht. Die Verfasserin war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin maßgeblich an der Durchführung des Projektes beteiligt und entwickelte vor diesem Hintergrund das Thema der hier vorliegenden Studie. Die Ergebnisse des o. g. Forschungsprojektes sind veröffentlicht in: Kunter / Schilling, Globalisierung. 43 Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt. 44 Vgl. M ller-Fahrenholz, Instrumentalisierung. Ähnlich auch Spliesgart, Theologie. 45 Vgl. Kunter, Ost. Mit dem o. g. DFG-Forschungsprojekt wurde dieses Desiderat aufgenommen und vielfältige Ergebnisse vorgelegt; vgl. Kunter / Schilling, Globalisierung.

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Der lateinamerikanische Einfluss auf den ÖRK in den 1960er und 1970er Jahren wurde in der Sekundärliteratur bereits mehrfach postuliert, allerdings noch nicht zusammenhängend zeitgeschichtlich erforscht und systematisch entfaltet.46 Am dezidiertesten stellte Margot Käßmann in ihrer Untersuchung zum ökumenischen Entwicklungsdiskurs die „Lateinamerikanischen Einflüsse“ auf den ÖRK heraus, bezog sich unter dieser Überschrift aber ausschließlich auf den Einfluss der Bischofskonferenzen der römisch-katholischen Kirche in Medell n 1968 und Puebla 1979.47 Die folgende Untersuchung zeigt dagegen, dass der „lateinamerikanische Einfluss“ auf die ökumenische Diskussion in entscheidendem Maße auf die protestantische Theologie und die Entwicklungen in den evangelischen Kirchen Lateinamerikas selbst zurückzuführen ist. Archivrecherche und weitere Quellen Für die zeitgeschichtliche Analyse wurde auf den großen archivalischen Bestand des Ökumenischen Rates der Kirchen (AÖRK) in Genf zurückgegriffen. Auf Archivreisen nach Lateinamerika wurde verzichtet, da das Archiv in Genf bereits über eine Fülle von für die Arbeit relevanten Briefwechseln, Memoranden, Vorträgen und Dokumenten verfügt. Allerdings befinden sich die Archivalien in Genf in unterschiedlichem Zustand: Während Dokumente zu den internationalen Konferenzen und Vollversammlungen des ÖRK, dem Rapid Social Change-Programm, zu ISAL und SODEPAX vergleichsweise leicht zugänglich waren und archivalisch gut aufbereitet sind, lagen Dokumente zu Einzelpersonen kaum gebündelt vor. Zwar hat das Archiv des ÖRK damit begonnen, Archivalien zu einzelnen ökumenischen Persönlichkeiten zu sammeln (AÖRK 992–997), doch enthielten diese nur wenige für den Untersuchungsgegenstand weiterführende Informationen. Daher war es notwendig, die Teilarchive der verschiedenen Abteilungen des ÖRK zu konsultieren. Die Archivalien der CCIA befinden sich größtenteils bereits in einem sehr guten Zustand. Weniger systematisch und archivalisch aufbereitet sind dagegen die Dokumente der Abteilung für ökumenische Aktivität (DEA), der Kommission für Kirchlichen Entwicklungsdienst (CCPD) und der Kommission für Weltmission und Evangelisation (CWME). Die Funde im Archiv wurden durch die Auswertung zahlreicher deutsch-, englisch- und spanischsprachiger Berichtbände und Dokumentationen aus der Zeit inhaltlich erweitert und ergänzt. Zusätzlich zu den Archivrecherchen, dem Quellen- und Literaturstudium wurden zwischen 2009 und 2011 zahlreiche Zeitzeugengespräche durchgeführt. Die Gespräche dauerten zwischen eineinhalb und drei Stunden; in ei46 Vgl. K ssmann, Vision, 105 f. (Fußnote 19); Raiser, Übergang, 97; Rudersdorf, Entwicklungskonzept, 203; Robra, Sozialethik, 104–108; Zaugg-Ott, Entwicklung, 39 f.; 75 f.; 155; et passim. 47 Vgl. K ssmann, Vision, 139–146 und 194–201.

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nigen Fällen waren sogar mehrere Gespräche möglich. Diese wurden nicht gesondert qualitativ ausgewertet, sondern dienten der Arbeit mit Hintergrundinformationen. Folgende Zeitzeugen standen für die Gespräche bereitwillig zur Verfügung: Ulrich Becker (Hannover), Emilio Castro (Genf), KarlHeinz Dejung (Frankfurt am Main), Dwain Epps (Genf), Charles Harper (Genf), Albert van den Heuvel (Amsterdam), Jürgen Moltmann (Tübingen), Leopoldo Niilus (Genf), Konrad Raiser (Berlin) und Julio de Santa Ana (Genf). Mit ihren Erinnerungen und Erzählungen füllten die Zeitzeugen bedeutende Leerstellen, die allein durch die Archivrecherchen oder die Auswertung von Dokumentationsbänden nicht hätten geschlossen werden können.

Teil I Der historische Kontext: Christentum und politische Entwicklungen in Lateinamerika im 20. Jahrhundert 1. Der lateinamerikanische Protestantismus Lateinamerika galt auf dem religiösen Feld bis ins 20. Jahrhundert als katholischer Kontinent. Spanische und portugiesische Konquistadoren brachten im 16. und 17. Jahrhundert den römisch-katholischen Glauben in die „Neue Welt“ und verankerten ihn – meist gegen den Willen der indigenen Bevölkerung – in nahezu allen Regionen Lateinamerikas.1 Für die protestantischen europäischen und nordamerikanischen Missionsgesellschaften stellte Lateinamerika im 19. Jahrhundert daher bereits ein christianisiertes Gebiet dar und wurde demzufolge nicht so sehr als Missionsfeld angesehen wie etwa die Kolonien in Asien oder Afrika. Um die Wende zum 20. Jahrhundert entstand jedoch unter einigen protestantischen Missionaren das Bild, dass Lateinamerika von den Missionen zu Unrecht vernachlässigt worden sei, denn die Vorherrschaft des römisch-katholischen Glaubens dürfte ihrer Ansicht nach die protestantischen Missionsbestrebungen nicht mindern, sondern müsste diese vielmehr herausfordern.2 Ein Jahrhundert später ist die Diagnose von der Abwesenheit des Protestantismus in Lateinamerika kaum mehr vorstellbar: Das Wachstum der Pfingstbewegung und der charismatischen Kirchen schreitet unentwegt voran, so dass der Protestantismus heute zur am stärksten wachsenden Religion im Lateinamerika des 21. Jahrhunderts gehört.3 Zwischen dem Bild von Lateinamerika als einem von den protestantischen Missionsgesellschaften vernachlässigten und einem von der Pfingstbewegung dominierten Kontinent liegen mehr als 100 Jahre, in der sich schrittweise die

1 Vgl. ausführlich: Dussel, Geschichte, 69–121. 2 Vgl. Piedra, Evangelizaci n, 2. Die Bezeichnung Lateinamerikas als „vernachlässigter Kontinent“ geht auf eine Publikation der britischen Missionarin Lucy Guinness zurück, die 1894 ein Buch mit dem Titel „The Neglected Continent“ veröffentlichte, in der sie die Missionsbestrebungen britischer Missionsgesellschaften in Lateinamerika im 19. Jahrhundert reflektierte. Knapp 20 Jahre später veröffentlichte auch der schottische Missionar John A. Mackay mehrere Artikel unter dem spanischsprachigen Titel „El Continente Abandonado“ [Der vernachlässigte Kontinent]. Vgl. ausführlich hierzu Piedra, Evangelizaci n, 2–4. 3 Im Jahr 2000 bezeichneten sich 68 % der Christen in Lateinamerika als pfingstlich bzw. charismatisch, vgl. Sch fer, Pfingstbewegung, 553; Bidegain, Christianity, 174 f; 176.

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„Protestantisierung Lateinamerikas“4 vollzogen hat. Die Rolle, die dem protestantischen Glauben in dieser Zeit zukam, fasste der argentinische Theologe Jos M guez Bonino folgendermaßen prägnant zusammen: „Der Protestantismus bedeutete für unsere Länder in dem Augenblick, als diese langsam aus ihrer kolonialen Vergangenheit auftauchten und ihren Eingang in die moderne Welt suchten, einen Ruf zum Wandel und zur Veränderung, der zwar auf den Bereich der Religion konzentriert war, aber seine Wirkung auf die Totalität des Lebens und der Gesellschaft ausübte.“5

Dieser These zufolge hat der Protestantismus den Übergang Lateinamerikas von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft befördert und prägte den gesellschaftlichen Wandel des Kontinents im 20. Jahrhundert entscheidend mit. Zugleich muss aber eingeräumt werden, dass sich der lateinamerikanische Protestantismus im 20. Jahrhundert stets in einer Minderheitensituation befand: So lag beispielsweise der Anteil von Protestanten in Argentinien im Jahr 1960 bei 2,6 %6, eine im Vergleich mit dem Katholizismus geringe Größe, die aber dennoch – nicht zuletzt durch die ökumenischen Beziehungen – ihren Einfluss im Land geltend machte. Das folgende Kapitel bietet einen Überblick über die fortschreitende Protestantisierung Lateinamerikas seit der Kolonialzeit und legt den Schwerpunkt auf die Frage, inwiefern und in welcher Weise es zur Ausprägung genuin lateinamerikanischer protestantischer Identität(en) im 20. Jahrhundert kam. Seine dynamische Gestalt und fortwährende Pluralisierung7 gehören zu den anhaltend bedeutsamen Charakteristika des lateinamerikanischen Protestantismus und stehen daher im Mittelpunkt des Interesses. 1.1 Die Anfänge: Der lateinamerikanische Protestantismus zwischen kolonialer Vergangenheit, europäischer Einwanderung und nordamerikanischer Mission Noch bevor im 19. Jahrhundert europäische Einwanderer und nordamerikanische Missionsgesellschaften den Protestantismus in Lateinamerika verankerten, hatten bereits im Zeitalter der Konquista protestantische Gruppen versucht, auf dem amerikanischen Subkontinent Fuß zu fassen. Exemplarisch für die gescheiterten Siedlungsversuche europäischer Protestanten stand im Jahr 1555 die Gründung der französischen Kolonie France Antarctique in 4 Bergunder, Einführung, 11. Neben den im Folgenden ausführlicher referierten Positionen vgl. auch den einführenden und gut lesbaren Überblick über die Entwicklung protestantischer Theologie in Lateinamerika bei: Padilla, Evangelical Theology. 5 M guez Bonino, Haltung, 3. 6 Zorzin, Argentinien, 722. 7 Vgl. hierzu Sch fer, Lateinamerika.

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Brasilien unter Führung von Admiral Nicolas Durand de Villegagnon.8 Mit rund 600 Soldaten und hugenottischen Siedlern, die damit der Verfolgung durch den katholischen Klerus in Europa zu entfliehen versuchten, gründete Villegagnon das Fort Coligny, eine Siedlung in einer kleinen Meeresbucht vor dem heutigen Rio de Janeiro. Wie der Historiograph Jean-Pierre Bastian beschreibt, sollte Fort Coligny „ein kleines Genf sein, das die Möglichkeit bieten sollte, den reformierten Kult in aller Freiheit zu praktizieren“9. Doch unterschiedliche Ansichten und Praktiken des reformierten Glaubens sowie der autoritäre Führungsstil des Admirals führten zu Zerwürfnissen zwischen Villegagnon und den reformierten Siedlern, woraufhin einige von ihnen nach Europa zurückkehrten. Den verbliebenen Siedlern forderte Villegagnon ein Bekenntnis ihres Glaubens ab, in dem sie nur ihre Gebräuche, nicht jedoch die katholische Autorität ablehnen sollten. Doch die Siedler formulierten stattdessen ein eindeutig reformiertes Bekenntnis, in welchem sie sich allein auf die Bibel und den Katechismus Calvins beriefen und das als das erste protestantische Glaubensbekenntnis der Neuen Welt in die Geschichte einging.10 Daraufhin ließ Villegagnon die Siedler als Ketzer und Verräter hinrichten.11 Der Siedlungsversuch der europäischen Protestanten in Fort Coligny galt damit als gescheitert; die Siedlung wurde aufgegeben und wenig später von portugiesischen Kolonisten zerstört.12 In den folgenden Jahrhunderten blieb Lateinamerika ein vor allem durch den römischen Katholizismus geprägter Kontinent. Im 17. und 18. Jahrhundert kamen vereinzelt nicht römisch-katholische Christen nach Lateinamerika, etwa Anglikaner nach Jamaika (1655), dänische Lutheraner auf die Jungferninseln (1666) oder die Herrnhuter Brüder nach Surinam (1735).13 Der Durchbruch zu einer stärkeren Präsenz des protestantischen Christentums geschah erst im 19. Jahrhundert im Zuge von Einwanderungsbewegungen aus Europa, vornehmlich aus Deutschland und Holland, sowie durch britische und nordamerikanische Missionsgesellschaften. Die Gemeindegründungen in Lateinamerika waren eng mit den Unabhängigkeitsprozessen des Kontinents verbunden, und so wundert es nicht, dass die erste protestantische Gemeinde 1807 in Haiti gegründet wurde, dem Land, das nach einem 8 Vgl. Prien, Christentum, 161. Unter der Überschrift „Gescheiterte Siedlungsversuche“ beschreibt der Religionssoziologe Bastian vier Kolonisierungsversuche europäischer Protestanten in Venezuela (1528–1546), Brasilien (1555–1560), Florida (1546–1565) und Holländisch-Brasilien (1630–1654); vgl. Bastian, Geschichte, 48–59, bes. 50–53. 9 Bastian, Geschichte, 51. 10 Das Glaubensbekenntnis ist in den sog. Märtyrerakten (1561) des Genfer Verlegers Jean Crespin belegt. Vgl. Bastian, Geschichte, 51 f.; vgl. auch Prien, Christentum, 161. Eine ausführliche Beschreibung der französischen Hugenottenexpedition des Theologen Jean de L ry erschien 1578 unter dem Titel Histoire d’un voyage fait en la terre du Br sil. Vgl. die dt. Ausgabe: L ry, Menschenfressern. 11 Vgl. Prien, Christentum, 161. 12 Vgl. Rinke, Geschichte, 36. 13 Vgl. Dreher, Lateinamerika, 103.

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langen, erfolgreich geführten Sklavenaufstand 1804 als erstes die Unabhängigkeit gegenüber Frankreich erklärt hatte.14 Im südlichen Teil des lateinamerikanischen Kontinents siedelten europäische Einwanderer Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst in Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay. Es handelte sich dabei vor allem um Händler, Industrielle und Ingenieure aus Italien, Polen, Deutschland, Holland und Dänemark, die sich in diesen Ländern „zur Landerschließung, zur Stärkung der Wirtschaftskraft und besonders in Brasilien zum Ersatz für Sklavenarbeit und zur Sicherung der nationalen Souveränität“15 niederließen. Die ersten nicht römisch-katholischen Gemeindegründungen in Südamerika erfolgten 1819 in Rio de Janeiro und 1829 in Buenos Aires, die sich im Laufe des Jahrhunderts vervielfachten und über den ganzen Kontinent ausbreiteten.16 Zwar ermöglichte die Einführung der religiösen Kultfreiheit den Protestanten, ihren reformatorischen Glauben ungehindert auszuleben, allerdings führte dies nicht unmittelbar zu einer steigenden Einwanderungsquote, dafür aber zu einer wachsenden Präsenz von Bibel- und Missionsgesellschaften in Lateinamerika ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.17 Die insgesamt rund 20 in Lateinamerika tätigen Missionsgesellschaften kamen vorrangig aus den USA und vertraten die traditionellen angelsächsischen protestantischen Konfessionen. Dies waren zunächst Methodisten, Presbyterianer und Episkopale, etwas später folgten die freikirchlichen Missionen der Baptisten, Disciples of Christ, Quäker und Adventisten sowie die Heilsarmee und die sog. Glaubensmissionen (faith missions).18 Die Missionsgesellschaften brachten nicht nur neue christliche Glaubensüberzeugungen nach Lateinamerika, indem sie hohen Wert auf Bibellektüre und die unmittelbare Gemeinschaft mit Jesus Christus legten, sondern traten im Gegensatz zur römisch-katholischen Kirche auch als Vorreiter und Vermittler der Moderne auf. Für den argentinischen Theologen Jos M guez Bonino ging vom Protestantismus ein „Ruf zum Wandel und zur Veränderung“19 aus, der sich auf alle Bereiche des lateinamerikanischen Lebens erstreckte. Dabei geriet der Protestantismus in Lateinamerika nicht nur in Konkurrenz zum römischen Katholizismus, sondern machte sich auch die liberale Haltung des nordamerikanischen Protestantismus zu eigen: 14 Vgl. Prien, Christentum, 311. Nach Prien ging die Gemeindebildung in Haiti von britischen Methodisten aus, die sich jedoch nicht der französischsprachigen Bevölkerung, sondern vor allem den aus den USA geflüchteten englischsprachigen Schwarzen zuwandte. Vgl. einführend zur haitianischen Revolution: Bernecker, Geschichte, 37–46. 15 Prien, Christentum, 311. 16 Vgl. Prien, Christentum, 310 f.; Bastian, Geschichte, 111–121. Vgl. ausführlicher zu den verschiedenen konfessionellen protestantischen Einwanderergemeinden: Gonz lez, Christianity, 190–205. 17 Vgl. Prien, Christentum, 310. 18 Vgl. Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 306; Bastian, Geschichte, 134 f. 19 M guez Bonino, Haltung, 3; auch zitiert bei Prien, Christentum, 325.

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„In fast allen lateinamerikanischen Ländern wird in dieser Zeit ein Kampf geführt zwischen der traditionellen Gesellschaft und den Pionieren der Modernität, worunter damals öffentliche Erziehung, repräsentative Demokratie, wirtschaftlicher Liberalismus und Eintritt in die nordatlantische Machtsphäre (England und später USA) verstanden wurde. Die römisch-katholische Kirche wurde als eines der Haupthindernisse auf dem Weg zur Moderne gesehen, während der Protestantismus eher zu diesem Ziel zu führen schien, weil er die Religion jener Gesellschaften war, die als Vorbilder zur Erreichung dieses Ziels dienten, und auch weil er eine Religion der Freiheit, der Individualität, eigenen Forschung und Emanzipation war.“20

Die liberale Identität der Protestanten zeigte sich insbesondere darin, dass sie im Gegensatz zur Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung Lesen und Schreiben konnten und somit „zu einer gebildeten liberalen Minderheit innerhalb der Masse der Analphabeten“21 gehörten. Einen wesentlichen Bereich der Missionsarbeit stellte folglich der Aufbau des Schulwesens in den Missionsgebieten dar.22 Der Protestantismus, der sich im 19. Jahrhundert in Lateinamerika vor allem im südlichen Teil des Kontinents etablierte, war somit aufs Engste mit der europäischen und nordamerikanischen demokratischen Kultur, dem Prozess der Individualisierung und dem liberalen Freiheitsstreben verbunden. Dies hatte nicht nur positive Seiten, sondern begünstigte auch die wirtschaftliche Vormachtstellung der USA in Lateinamerika. Das liberale Konzept des Panamerikanismus, das im Anschluss an die Monroe-Doktrin (1823)23 im ausgehenden 19. Jahrhundert die Einheit des amerikanischen Kontinents gegenüber Europa stärken sollte, sorgte zunehmend für eine politische und wirtschaftliche Abhängigkeit des lateinamerikanischen Kontinents von seinem nördlichen „Bruder“ und führte im Sinne der These Max Webers zu einer sichtbaren Allianz zwischen Protestantismus und dem „Geist des Kapitalismus“24. Wie an anderer Stelle ausgeführt werden soll, nahm ab den späten 1950er Jahren eine jüngere Generation von Theologen aus dem linken Spektrum des lateinamerikanischen Protestantismus genau diese Allianz zum Ausgangspunkt für ihre Kritik an der Gestalt der sozialen Ordnung und der Neuformulierung christlicher Theologie.25

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Ebd., 4. Bastian, Geschichte, 145. Vgl. ebd., 149–158. Die von dem US-Präsidenten James Monroe entworfene Doktrin stand unter dem Motto „Amerika den Amerikanern“ und betonte die amerikanische Unabhängigkeit gegenüber den europäischen Kolonialbestrebungen. Vgl. Heideking / Mauch, Geschichte, 90; Rinke, Lateinamerika, 26 f. 24 Vgl. Weber, Ethik. 25 Vgl. zur Entstehung der Bewegung für Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika (ISAL) unten S. 91–112.

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1.2 Der Ausschluss von Edinburgh 1910 als Beginn eines wachsenden Selbstbewusstseins des lateinamerikanischen Protestantismus Zur ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 waren nur Missionsgesellschaften eingeladen, die Missionare in nicht-christliche Erdteile entsandten. Da Lateinamerika als bereits christianisierter Kontinent galt, waren protestantische Missionsgesellschaften aus dieser Region von der Teilnahme an der Weltmissionskonferenz ausgeschlossen.26 Der Vorsitzende der Weltmissionskonferenz, der nordamerikanische Methodist John R. Mott, teilte diese Einschätzung – wie viele andere nordamerikanische Missionare – jedoch nicht: Er war vielmehr der Ansicht, dass der Katholizismus in Lateinamerika versagt habe und der Kontinent daher umso mehr der Aufmerksamkeit protestantischer Missionsgesellschaften bedürfe.27 Eine andere Meinung vertraten dagegen Repräsentanten der anglikanischen Kirche Großbritanniens, die in der Präsenz von protestantischen Missionsgesellschaften in Lateinamerika einen Affront gegenüber der katholischen Missionstätigkeit sahen und verhindern wollten, dass ihre Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche dadurch belastet würden.28 Das Missionsfeld Lateinamerika entwickelte sich damit zum Streitfall der Vorbereitungen der Weltmissionskonferenz.29 Die Lösung in dem Konflikt zwischen Engländern und Nordamerikanern fand sich in der Übereinkunft, die in Lateinamerika agierenden protestantischen Missionsgesellschaften von der Weltmissionskonferenz auszuschließen, mit der Ausnahme der Missionstätigkeit unter der indigenen Bevölkerung, die bislang noch nicht von der römisch-katholischen Kirche evangelisiert worden war.30 Trotz der Abwesenheit offizieller Delegationen von den in Lateinamerika agierenden Missionsgesellschaften fanden in Edinburgh zwei inoffizielle Treffen für Missionsarbeit in Lateinamerika unter der Federführung des USamerikanischen Missionars Robert Speer statt, die 1913 zur Gründung eines 26 Vgl. Weber, Kontinenten, 121; vgl. Koschorke, World, 207. Koschorke bezieht sich folglich in seinem Beitrag ausschließlich auf die Auswirkungen der Weltmissionskonferenz auf die Kirchen in Afrika und Asien. 27 Vgl. Piedra, Evangelizaci n, 120 f. Hintergrund dieser Einstellung war der AmerikanischSpanische Krieg (1898), der bei Mott, wie bei vielen Nordamerikanern, ein stärkeres Interesse an dem amerikanischen Subkontinent hervorrief. Wenige Jahre zuvor schien Lateinamerika selbst für Mott von untergeordnetem Interesse hinsichtlich protestantischer Missionsbestrebungen gewesen zu sein. Vgl. ebd., 118–120. 28 Vgl. ebd., 125. 29 Arturo Piedra bezeichnet diesen Streitfall um Lateinamerika als „Apfel der Zwietracht“ [manzana de la discordia]; vgl. Piedra, Evangelizaci n, 124. 30 An der Vermittlung der beiden Fronten war J. H. Oldham maßgeblich beteiligt. Vgl. die ausführlich erarbeitete Darstellung der Kontroverse bei Piedra, Evangelizaci n, 124–142. Die internationale ökumenische Anerkennung von Lateinamerika als Missionsgebiet erfolgte erst durch die Weltmissionskonferenz in Jerusalem 1928. Vgl. Prien, Christentum, 326.

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vorläufigen Komitees für missionarische Zusammenarbeit in Lateinamerika (CCLA – Comit de Cooperaci n en Am rica Latina) durch die Konferenz für Äußere Mission in den USA mit Sitz in New York führten.31 Exekutivsekretär des Komitees wurde der Texaner Samuel Guy Inman, der seit 1905 als Missionar in Lateinamerika tätig war.32 Das vorläufige Komitee berief für das Jahr 1916 den ersten panamerikanischen Kongress in Panama ein, der einerseits als Reaktion auf den Ausschluss Lateinamerikas von der Weltmissionskonferenz zu verstehen war, andererseits aber vor allem den Beginn der ökumenischen Zusammenarbeit protestantischer Missionsgesellschaften in Lateinamerika darstellte. Dem Historiker Arturo Piedra zufolge hofften die Organisatoren, „dass der Kongress in Panama das für Lateinamerika darstellen würde, was Edinburgh für den nicht-christlichen Teil der Welt anderer Kontinente gewesen ist“33. Der Kongress fand vom 10. bis 20. Februar 1916 in Panama statt.34 Wie bereits in Edinburgh überwog auch in Panama die Zahl westlicher, vorrangig nordamerikanischer Missionsräte, denn von den rund 230 Teilnehmenden war nur etwa jeder zehnte Lateinamerikaner.35 Das Treffen in Mittelamerika fand zwei Jahre nach der Einweihung des Panama-Kanals 1914 statt und stand daher ganz im Licht des Panamerikanismus. Die protestantischen Missionen verstanden sich als dessen „religiöser Aspekt“36 und sorgten damit zunächst für Unterstützung des panamerikanischen Projekts.37 Den thematischen Mittelpunkt des Kongresses bildete die Frage nach der Evangelisation Lateinamerikas, aber auch gesellschaftspolitische Probleme des Kontinents kamen zur Sprache. Dabei wurde Erziehung als eines der vorrangigen Mittel gesehen, die Armut weiter Bevölkerungsteile zu überwinden.38 Zunehmend gerieten für das Komitee CCLA jedoch auch die Mittelschicht und die Eliten Lateinamerikas in den Blick und sorgten somit für eine Allianz zwischen den protestantischen Missionsgesellschaften und den aufstrebenden Oligarchien.39

31 Vgl. Weber, Kontinenten, 121; vgl. Mackay, Christ, 245 f. 32 Vgl. Buss, Movimiento, 278; Sneed, Inman. Spätere Exekutivsekretäre des CCLA waren die Missionare Stanley Rycroft (1940–1950) und Howard W. Yoder (1954–1963). 33 Vgl. Piedra, Evangelizaci n, 209 (Übersetzung – AS). 34 Vgl. die Berichtbände des Panama-Kongresses: Christian Work in Latin America. 35 Vgl. Odell, Wandel, 158; Bastian, Geschichte, 166. Die Gesamtzahl der Teilnehmer variiert zwischen 230 (Odell) und 235 (Bastian). Beide bestätigen aber, dass nur ein äußerst geringer Anteil der Delegierten aus Lateinamerika stammte. 36 Vgl. das gleichnamige Werk des brasilianischen Pädagogen Braga, Pan-americanismo. 37 Vgl. Bastian, Geschichte, 167–169. 38 Vgl. M guez Bonino, Faces, 15 f. 39 Vgl. Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 308. Die Verbindung mit den Eliten wird von den meisten Historikern und Theologen als Fehlentscheidung verstanden, die jedoch den lateinamerikanischen Protestantismus viele Jahrzehnte lang prägte. Vgl. ebd.; M guez Bonino, Faces, 17–21; Bastian, Geschichte, 167–170.

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Die Bedeutung des Panama-Kongresses bestand vor allem darin, dass erstmals in der Geschichte des Protestantismus in Lateinamerika die Akteure der Missionsgesellschaften ihre strategische Zusammenarbeit auf dem Kontinent prüften und damit begannen, Solidarität und Einheit zu demonstrieren. Der Historiker Bastian fasste die Reichweite des Kongresses wie folgt zusammen: „Zweifellos gab der Kongreß den Anstoß zu einer kontinentalen evangelischen Bewegung, die die Grundsätze protestantischen Wirkens im Bewußtsein ihres Ziels festlegte. Es handelte sich darum, nicht mehr nur die Armen, sondern auch die führenden Klassen zu erreichen, eine Evangelisierung der Ureinwohner zu fördern und auf die Herausforderung der ,industriellen Revolution, die auf Lateinamerika zukommt‘, mit einem sozialen Evangelium zu antworten, der Frau in der Gesellschaft einen Wirkungsbereich zu eröffnen und sich selbst tragende Kirchen mit einer nationalen Leitung aufzubauen.“40

Der Panama-Kongress stand somit am Beginn der Suche des lateinamerikanischen Protestantismus nach seiner Identität, nach seiner Aufgabe und Verantwortung für den lateinamerikanischen Kontinent. Für seine Protagonisten galt der Kongress als „Symbol des Übergangs hin zu einer neuen Ära des Christentums in Lateinamerika“41, im Zuge dessen sich der Protestantismus zu einer eigenständigen Größe entwickelte und an Selbstvertrauen gewann. Im Anschluss an Panama plante das CCLA zwei weitere Konferenzen, um die Präsenz des Protestantismus in Lateinamerika genauer zu untersuchen. Doch es vergingen fast zehn Jahre, bis 1925 in Montevideo der zweite lateinamerikanische protestantische Kongress stattfand. Während in Panama sowohl inhaltlich als auch strukturell noch die Missionsgesellschaften die Agenda dominierten, war die Anzahl der lateinamerikanischen Delegierten in Montevideo bereits von 10 % auf 27 % gestiegen.42 Im Zentrum des Kongresses, der erstmals Spanisch als Tagungssprache vorsah, stand die soziale Verantwortung der Kirchen.43 Beeinflusst wurden die Diskussionen auf dem Kongress vor allem durch die im ausgehenden 19. Jahrhundert in den USA entstandene Social-Gospel-Bewegung, welche der Frage nach der praktischen Umsetzung der im Evangelium enthaltenen Grundsätze den Vorzug gegenüber dogmatischen Glaubensüberzeugungen gab.44 Die methodistische Tradition, 40 41 42 43 44

Bastian, Geschichte, 166 f. Piedra, Evangelizaci n, 211. Vgl. Bastian, Geschichte, 171. Vgl. Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 308; Odell, Wandel, 159. Die Social-Gospel-Bewegung entstand im ausgehenden 19. Jahrhundert in den USA und befürwortete die Verschränkung von christlicher Frömmigkeit und sozialem Dienst. Als führender Vertreter der Social-Gospel-Bewegung galt der US-amerikanische Baptist Walter Rauschenbusch; vgl. Rauschenbusch, Christianity. Der spätere Generalsekretär des ÖRK, Willem A. Visser ’t Hooft, veröffentlichte 1928 seine Dissertation zur Entstehung und Entwicklung der

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die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Protestantismus in Uruguay und Argentinien maßgeblich prägte und ebenfalls die soziale Gestalt des Evangeliums in den Mittelpunkt ihres Bekenntnisses stellte, bot der SocialGospel-Bewegung in Lateinamerika eine breite Basis.45 Entsprechend standen vordergründig soziale Themen wie die Beteiligung der Frau in der Gesellschaft und die Arbeiterbewegung auf der Agenda des Kongresses in Montevideo, aber auch die Beziehungen zwischen den Missionaren aus Nordamerika und Europa und den einheimischen Kirchen.46 In Bezug auf die Missionstätigkeit förderte das CCLA die geographische Aufteilung der verschiedenen Missionsgesellschaften (sog. comity agreements) und begann Studien über bislang noch unerschlossene Missionsgebiete.47 Mit dem Kongress in Montevideo begann der missionarische Ausschuss auch seine ökumenische Arbeit in Lateinamerika auszuweiten, indem er konfessionsübergreifende theologische Seminare, Ausbildungsprogramme für christliche Laienprediger sowie interkonfessionelle Buchläden einrichtete. Außerdem publizierte der Ausschuss die Zeitschrift La Nueva Democracia und entwickelte einen Plan zur Veröffentlichung christlicher Literatur.48 Vier Jahre später wurde der dritte Kongress des Ausschusses für missionarische Zusammenarbeit in Lateinamerika einberufen, der 1929 in Havanna stattfand. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Kongressen wurde dieser erstmals vollständig von Lateinamerikanern vorbereitet und durchgeführt. Die „Latinität“49 des Kongresses galt als Beginn einer neuen Periode und wirkte sich nachhaltig auf das wachsende Selbstbewusstsein des lateinamerikanischen Protestantismus aus. Im Mittelpunkt des Kongresses stand die Frage der Nationalisierung und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit – ein Thema, das besonders im Jahr der Weltwirtschaftskrise wichtig wurde. Auch die Suche nach der Identität des lateinamerikanischen Protestantismus prägte den Kongress in Havanna stark, wobei sich drei unterschiedliche Parteien herauskristallisierten: Das erste Lager war sozialpolitisch orientiert und begründete die mangelnde Ausprägung des lateinamerikanischen Protestantismus damit, dass sich die protestantischen Kirchen bisher zu wenig um die Belange der lateinamerikanischen Völker gekümmert hätten. Ein anderer Teil wandte sich gegen die wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA und lehnte den Einfluss des nordamerikanischen Handels in Lateinamerika als unmoralisch ab. Im Gegensatz dazu unterstrich ein drittes Lager die Bedeutung des Panamerikanismus für die Entwicklung Lateinamerikas und wandte sich de-

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Bewegung: vgl. Visser ’t Hooft, Background. Einen knappen Überblick zur Social-GospelBewegung bietet Toulouse, Social Gospel. Vgl. exemplarisch zum Methodismus in Uruguay: Castro, Metodismo; Olivera, Caminos, 22–25. Vgl. Bastian, Geschichte, 171 f. Vgl. Odell, Wandel, 159. Vgl. ebd. Ebd.

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zidiert gegen die Arbeiterbewegung und bolschewistische Tendenzen innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus.50 Trotz dieser unterschiedlichen Positionen einigten sich die Delegierten in Havanna darauf, eine von dem CCLA eigenständige lateinamerikanische evangelische Föderation zu gründen, die die Einheit des lateinamerikanischen Protestantismus als zu verwirklichendes Ziel vor Augen hatte. Es dauerte weitere 20 Jahre, bis mit der von den USA unabhängigen ersten Evangelischen Konferenz in Lateinamerika (CELA) dieser Vorschlag umgesetzt werden sollte. In der Zusammenschau der Entwicklung zwischen 1910 und 1929 zeigt sich, dass ausgehend von dem Ausschluss lateinamerikanischer Vertreter von der Weltmissionskonferenz in Edinburgh der lateinamerikanische Protestantismus damit begann, seine Rolle gegenüber den nordamerikanischen Missionsgesellschaften stärker zu reflektieren. Während für einige der Panamerikanismus den Schlüssel zur Identitätsbildung des lateinamerikanischen Protestantismus darstellte, forderten andere, insbesondere im Zuge des dritten CCLA-Kongresses in Havanna, die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Kirchen von nordamerikanischen Missionsgesellschaften. Für diese stellte das zunehmende soziale Bewusstsein der Kirchen, das sich insbesondere in der Frage nach der Rolle der Frau und von Arbeitern in der Gesellschaft und in der Kirche artikulierte, einen wesentlichen Bezugspunkt für die protestantische Identität in Lateinamerika dar. Auf der einen Seite prägte sich diese soziale Dimension in den folgenden Jahrzehnten weiter aus und wurde zu einem Signum des lateinamerikanischen Protestantismus. Auf der anderen Seite bildete sich jedoch auch eine konservative Position heraus, die bestrebt war, die Beziehungen zu den Missionsgesellschaften aufrecht zu erhalten und der gesellschaftspolitischen Öffnung und einer damit einhergehenden Erneuerung des Protestantismus ablehnend gegenüber stand. 1.3 Der lateinamerikanische Protestantismus im Ringen um Einheit Nachdem die drei protestantischen Kongresse in Panama, Montevideo und Havanna die Notwendigkeit zur innerprotestantischen Zusammenarbeit in Lateinamerika deutlich artikuliert hatten, stand ab den 1930er Jahren zunehmend die Frage im Zentrum, wie diese begonnene ökumenische Zusammenarbeit institutionell fortgeführt und intensiviert werden könne. Ein Meilenstein war zunächst die Gründung einer Reihe von nationalen Kirchenräten in Mexiko (1928), Brasilien (1934), R o de la Plata (1939), Jamaika (1939), Peru (1940), Chile (1941) und Kuba (1941).51 Angesichts der unterschiedlichen Frömmigkeitsrichtungen innerhalb des lateinamerikanischen 50 Vgl. Bastian, Geschichte, 174 f. 51 Vgl. Weber, Kontinenten, 123. Der erste nationale Kirchenrat in Lateinamerika wurde bereits 1905 in Puerto Rico gegründet.

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Protestantismus gestaltete sich jedoch die Schaffung eines kontinentweiten ökumenischen Organs zur Einheit des Protestantismus als schwierig und gelang erst mit der Gründung des Lateinamerikanischen Kirchenrates CLAI im Jahr 1982. Vorreiter der institutionellen ökumenischen Zusammenarbeit in Lateinamerika waren mehrere Jugendorganisationen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden: dies war zum einen der CVJM, dessen Gründungen in Lateinamerika bereits auf die Jahrhundertwende zurückgingen.52 Unterstützt durch den christlichen Studentenweltbund (WSCF) gründeten sich zum anderen Mitte der 1930er Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Regionen christliche Studentenbewegungen (MEC). Der entscheidende Durchbruch hin zu einer genuin lateinamerikanischen protestantischen Jugendorganisation gelang schließlich 1941 mit der Gründung der Lateinamerikanischen Vereinigung Evangelischer Jugend (ULAJE) in Lima. Deren Gründungskonferenz stand unter dem Titel „Mit Christus in eine neue Welt“ und war für die junge Generation nicht nur ein Zeichen gelingender innerprotestantischer Zusammenarbeit, sondern schärfte zunehmend auch ihr Bewusstsein für gesellschaftspolitische Fragen.53 Die Arbeit von ULAJE und MEC stellte für eine Vielzahl von jungen Lateinamerikanern einen entscheidenden Referenzpunkt in ihrer theologischen und politischen Sozialisation dar und brachte eine Reihe progressiver Kirchenführer und Theologen hervor, die sich insbesondere in den 1960er und 1970er Jahren in den internationalen ökumenischen Dialog einbrachten. Hierzu zählten u. a. der uruguayische Waldenser Waldo Galland, in den 1950er Jahren Lateinamerika-Sekretär und von 1961 bis 1968 Generalsekretär des WSCF,54 der Argentinier Mauricio L pez, Lateinamerika-Sekretär des WSCF ab Ende der 1950er Jahre bis 1963 sowie die beiden uruguayischen Theologen Julio de Santa Ana und Emilio Castro, die in den frühen 1970er Jahren in den Stab des ÖRK berufen wurden.55 Ausgehend von den Impulsen des CCLA und der Forderung zur Einrichtung einer lateinamerikanischen evangelischen Föderation in Havanna 1929, sowie angeregt durch die Aktivitäten der lateinamerikanischen Jugendorganisationen, fand im Jahr 1949 die erste Evangelische Lateinamerikanische Konferenz (CELA I) in Buenos Aires statt. Sie stand unter dem Vorsitz des argentinischen methodistischen Bischofs Sante Uberto Barbieri und wurde – wie bereits der Kongress in Havanna – ausschließlich von lateinamerikanischen Kirchen vorbereitet und durchgeführt.56 Das Hauptthema der Konfe52 Vgl. Mackay, Christ, 251–256; vgl. Bastian, Geschichte, 198. 53 Vgl. Odell, Wandel, 160. 54 Vgl. einführend: Galland, Pionierarbeit. Vgl. auch die Korrespondenz zwischen Galland und dem WSCF im Archiv des WSCF unter der Signatur AWSCF 213.15.108. Es wäre m. E. ein lohnendes Forschungsprojekt die Beziehungen zwischen Lateinamerika und dem WSCF in den 1940er und 1950er Jahren mit Hilfe der in Genf vorhandenen Archivalien herauszuarbeiten. 55 Siehe hierzu unten S. 193 f. und 214–240. 56 Vgl. Bastian, Geschichte des Protestantismus, 208 f.

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renz, an der nur 56 Delegierte aus 18 Kirchen aus anglikanischen, lutherischen, methodistischen, kongregationalistischen, baptistischen, reformierten, presbyterianischen, nazarenischen und pfingstlerischen Traditionen teilnahmen, war die Evangelisation Lateinamerikas sowie die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen protestantischen Gremien.57 Zwar ist die Kritik des Kirchenhistorikers Prien berechtigt, dass es sich um eine wenig repräsentative Konferenz des lateinamerikanischen Protestantismus handelte, da die dort vertretenen Kirchen vorrangig aus der Region des R o de la Plata und aus Brasilien stammten, und die Konferenz auch die gesellschaftlichen Probleme Lateinamerikas kaum zur Kenntnis nahm.58 Doch diese Kritik darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich bei CELA I um den ersten Versuch handelte, dem zerfaserten lateinamerikanischen Protestantismus zu einer institutionellen ökumenischen Einheit zu verhelfen und sich unabhängig von nordamerikanischen und europäischen Missionsgesellschaften zu konstituieren. Die zweite Evangelische Lateinamerikanische Konferenz (CELA II) fand 1961 in Lima statt, an der insgesamt 220 Vertreter aus 34 Konfessionen teilnahmen.59 Unter dem Titel „Christus, die Hoffnung für Lateinamerika“ rief die Konferenz zu einem stärkeren Engagement der Kirchen in sozialen Fragen auf und unterstrich auch die Bedeutung der Einheit der protestantischen Kirchen.60 Damit war die Konferenz wesentlich stärker als ihre Vorgängerkonferenz von den politischen und sozialen Umbrüchen der 1950er Jahre, die sich aus der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung der Länder ergaben, geprägt.61 Aufgrund ihrer politischen Haltung wurde die Konferenz sogar als ,kommunistisch‘ diffamiert.62 Unmittelbar vor dem Beginn von CELA II fanden in der Nähe von Lima in Huampan zwei Konsultationen statt, die sich als Vorbereitungstagungen verstanden, jeweils aber eigene Akzente setzten: Zum einen handelte es sich um die durch das Rapid Social ChangeProgramm des ÖRK hervorgerufene Konsultation für Kirche und Gesellschaft, die sich mit der sozialen Verantwortung der Kirchen angesichts des raschen sozialen Wandels in Lateinamerika beschäftigte und etwa 50 Teilnehmende zusammenbrachte. Aus dieser Konsultation ging die Bewegung für Kirche und Gesellschaft (ISAL) hervor, die für den globalen ökumenischen Dialog bis 1975 eine herausragende Rolle spielte.63 Die zweite Konsultation beschäftigte sich mit Fragen zur christlichen Erziehung und zog die Gründung 57 58 59 60 61 62

Sabanes Plou, Latin America, 565. Vgl. den Bericht von Foster Stockwell, Conference, 80. Vgl. Prien, Christentum, 326; Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 316; Prien, Geschichte, 925. Vgl. Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 316 f. Vgl. ebd. Vgl. zum soziopolitischen Hintergrund unten S. 53–60. Vgl. Sabanes Plou, Latin America, 566. Sabanes Plou gibt in ihrer Darstellung nicht präzise an, von wem diese Diffamierung ausging. Vermutlich stammte sie aus dem Umfeld des International Council of Christian Churches, vgl. Anm. 65. 63 Siehe hierzu ausführlich unten S. 91–112.

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der Lateinamerikanischen Kommission für Christliche Erziehung (CELADEC) nach sich.64 Während sich auf der einen Seite mit CELA II und den Konsultationen von ISAL und CELADEC ein Teil des lateinamerikanischen Protestantismus zunehmend sozialen, pädagogischen, politischen und ökonomischen Fragen zuwandte, standen hingegen auf der anderen Seite Vertreter eines evangelikal orientierten Protestantismus, die in der politischen Aktivität der Kirchen einen Verrat am Evangelium sahen. Prominent vertreten wurde diese biblizistisch-fundamentalistisch orientierte Perspektive durch den International Christian Council of Churches (ICCC) und seinen nordamerikanischen Gründer Carl McIntire.65 Der ICCC hielt parallel zu CELA II eine eigene Konferenz ab und kritisierte die „modernistische“ und „kommunistische“ Haltung der in Lima im ökumenischen Geist versammelten Kirchen.66 Dies beförderte in der öffentlichen Wahrnehmung die Spaltung des lateinamerikanischen Protestantismus in ein revolutionär-politisches und ein traditionalistisch-evangelikales Lager und machte das Ziel, ein gemeinsames ökumenisches Instrument zur Einheit des lateinamerikanischen Protestantismus zu schaffen, zu einem immer schwerer zu verwirklichenden Unterfangen. Trotz dieser Kontroversen fanden sich 1963 am Rande einer ISAL-Tagung in Rio de Janeiro Vertreter der wichtigsten ökumenischen Organisationen in Lateinamerika sowie Vertreter nationaler Kirchenräte zusammen, um über die Einrichtung eines kontinentweiten Organs zur Koordination ökumenischer Dialoge zu beraten. Die in Rio de Janeiro von den anwesenden Kirchenver64 Vgl. Weber, Kontinenten, 125. Vgl. ausführlich zur Geschichte von CELADEC: Costas, Theology, 177–198. 65 Der International Council of Christian Churches (Internationaler Rat christlicher Kirchen) wurde 1948 – nur wenige Tage vor der konstituierenden Vollversammlung des ÖRK – ebenfalls in Amsterdam gegründet und hat seither auch dort seinen Sitz. Begründer des ICCC war Carl McIntire (1906–2002), Pfarrer der konservativen US-amerikanischen Bible Presbyterian Church, der eine dezidiert anti-ökumenische Position vertrat. Den ÖRK und alle mit ihm verbundenen Kirchen bezichtigte McIntire des Modernismus und Kommunismus und kritisierte die ökumenisch offene Haltung der ökumenisch eingestellten Protestanten gegenüber dem römischen Katholizismus. Bis heute zählt das ICCC das apostolische Glaubensbekenntnis zwar zu seinen Grundlagen, vertritt darüber hinaus jedoch die Auffassung der Verbalinspiration der Bibel sowie die „Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit“ der Schrift. Damit macht sich der ICCC grundlegende christlich-fundamentalistische Ansichten zu eigen. Vgl. Geldbach, Rat, 572 f. 66 Vgl. Prien, Geschichte, 925. Vgl. auch den persönlichen Bericht von Paul Abrecht an Robert Bilheimer (16. 8. 1961), AÖRK 42.55.09. Darin berichtet Abrecht über die Anwesenheit von McIntire in Lima: „He has had several evening meetings to speak about the danger of ecumenism. Poor response and no press interest. He has issued leaflets attacking the conference in one of the evangelical churches. Yesterday he came to the restaurant where the conference takes its meals and boldly sat down with a couple of his lieutenants. Everyone stared and not a single person went over to speak with him. […] Afterwards Waldo Cesar and Sapeian spoke to him and asked him if he didn’t think that through discussion some of our differences could be worked out. He replied very brusquely, there is nothing to discuss, there is nothing in the Bible about ecumenism.“

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tretern unterzeichnete „Corcovado-Erklärung“ verpflichtete die nationalen Kirchenräte dazu, sich für die Schaffung eines ökumenischen Organs für die Einheit der protestantischen Kirchen einzusetzen. Daraus ging ein Jahr später die Vorläufige Kommission für Lateinamerikanische Evangelische Einheit (UNELAM) hervor.67 1965 hielt UNELAM seine erste konstituierende Sitzung ab und wählte den Brasilianer Benjamin Moraes zum Präsidenten und den Uruguayer Emilio Castro zum Generalsekretär.68 Die Kommission setzte sich aus Repräsentanten aller Mitgliedskirchen sowie aus den Präsidenten von ISAL, CELADEC und ULAJE zusammen.69 Die Herausforderung bestand für UNELAM darin, die verschiedenen protestantischen Strömungen angemessen zu vertreten, sich dabei aber nicht den fundamentalistischen, anti-ökumenischen Polemiken zu beugen. Hauptaufgabe von UNELAM war in den ersten Jahren die Vorbereitung und Durchführung der dritten Evangelischen Lateinamerikanischen Konferenz (CELA III), die nach einigen Hindernissen schließlich 1969 in Buenos Aires stattfand.70 Dem Theologen Orlando Costas zufolge förderte CELA III ein neues Bewusstsein des lateinamerikanischen Protestantismus zutage, das sich in dreifacher Weise artikulierte:71 Erstens stellte CELA III die sozialen Probleme Lateinamerikas in den Mittelpunkt und schuf außerdem unter den Delegierten ein Bewusstsein für die Unterentwicklung des Kontinents. Das Hauptthema der Konferenz lautete in Anlehnung an Röm 8,12 „Schuldner der Welt“ und wies die protestantischen Kirchen auf die Notwendigkeit hin, sich für strukturelle Veränderungen im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bereich einzusetzen. Dies war für die breit aufgestellte innerprotestantische Konferenz ein Novum. Zweitens waren in Buenos Aires Delegierte aller Richtungen des lateinamerikanischen Protestantismus vertreten. Insgesamt nahmen 43 Kirchen, kirchliche Einrichtungen und unabhängige Bewegungen teil – so viele wie noch nie zuvor in der Geschichte protestantischer Versammlungen in Lateinamerika. Unter ihnen befanden sich nicht nur Vertreter der lateinamerikanischen Jugend- und Studentenbewegungen, von ISAL und Gäste aus dem ÖRK – die sogenannten „Ecum nicos“, sondern auch eine große Anzahl von Evangelikalen und Vertreter von Pfingstkirchen („Evang licos“). Damit beförderte die Konferenz aber auch die Spannungen zwischen beiden Lagern. Drittens nahmen erstmals an einer innerprotestantischen Konferenz in Lateinamerika Vertreter der römisch-katholischen Kirche 67 Vgl. Costas, Theology, 114; Buss, Movimiento, 280. Der vorläufige Charakter von UNELAM wurde 1970 aufgehoben; vgl. Costas, Theology, 149. 68 Vgl. Sabanes Plou, Latin America, 567. 69 Brief von Luis Odell an Maurico L pez (2. 10. 1965), AÖRK 42.3.071/2. 70 Der ursprüngliche Tagungsort war Rio de Janeiro / Brasilien, jedoch zerschlugen sich die dortigen Vorbereitungen aufgrund des Militärputsches sowie Streitigkeiten zwischen evangelikalen Kirchenvertretern. Vgl. Buss, Movimiento, 280. Vgl. ausführlich zu CELA III: Costas, Theology, 85–108. 71 Vgl. im Folgenden: Costas, Theology, 86–92.

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teil. Grund für das steigende ökumenische Interesse seitens der römischkatholischen Kirche war das II. Vatikanische Konzil und dessen progressive Rezeption in Medell n 1968.72 Somit evozierte CELA III in den Worten von Costas „a new ecumenical awareness on the part of Protestant Christians, and thereby a totally new consciousness of the ecclesiastical realities of Latin America“73. Doch trotz der Hinwendung zu sozialen Fragen, der pluralen Repräsentation protestantischer Traditionen und der Teilnahme von Vertretern der römisch-katholischen Kirche führte CELA III dem lateinamerikanischen Protestantismus – allen voran UNELAM als seiner institutionellen Gestalt – die Schwierigkeiten ökumenischer Kooperation deutlicher denn je vor Augen.74 Emilio Castro war als Generalsekretär darum bemüht, die unterschiedlichen Interessen gleichermaßen zu berücksichtigen und galt als Integrationsfigur zwischen „Ecum nicos“ und „Evang licos“.75 Doch nach der Niederlegung seiner Ämter – bedingt durch die politische Repression in Uruguay – und dem Umzug Castros nach Genf im Jahr 1972 / 73, stellte sich zunehmend die Frage, inwiefern UNELAM den lateinamerikanischen Protestantismus angemessen repräsentierte. UNELAM berief daher für September 1978 unter der Überschrift „Einheit und Mission in Lateinamerika“ eine Versammlung von Kirchen in Lateinamerika ein, die in Oaxtepec / Mexiko stattfand. Dort kamen 194 Delegierte aus 110 Kirchen zusammen, darunter ein Viertel aus Pfingstkirchen, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit der evangelischen Kirchen zu prüfen.76 Dies war nach Einschätzung des Kirchenhistorikers Hans-Jürgen Prien ein „epochale[r] Schritt zur Bildung eines provisorischen lateinamerikanischen Kirchenrates“77. UNELAM wurde aufgelöst und die Delegierten einigten sich darauf, in den kommenden vier Jahren einen kontinentweiten Kirchenrat zu gründen, zu dessen Vorsitzenden der argentinische methodistische Bischof Federico Pagura gewählt wurde. Mit der Einsetzung des Lateinamerikanischen Kirchenrates (CLAI) im November 1982 in Huampan / Lima begann eine neue Ära ökumenischer Kooperation in Lateinamerika, die in den 1980er und 1990er Jahren insbesondere durch den Einsatz für Menschenrechte und für Frieden angesichts der Bürgerkriege in Nicaragua, El Salvador und Guatemala gekennzeichnet war. 72 Siehe hierzu unten S. 60–68. 73 Costas, Theology, 92. 74 Dies verstärkte sich durch die Einberufung des ersten lateinamerikanischen Kongresses für Evangelisation (CLADE) in Bogot 1969, zu dem unter der Ägide nordamerikanischer Evangelisten wie Billy Graham 920 Delegierte zusammen kamen. Vgl. Sabanes Plou, Latin America, 568; Bastian, Geschichte, 232 f. 75 So Julio de Santa Ana im Zeitzeugengespräch (5. 3. 2010). Zur Rolle von Emilio Castro in UNELAM vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 177–192. Zum Konflikt zwischen ISAL und UNELAM vgl. Brief von Hiber Conteris an Julio de Santa Ana (29. 1. 1965), AÖRK 24.2.037. 76 Vgl. Sabanes Plou, Latin America, 570; Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 324. 77 Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 324.

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Die seit den 1990er Jahren größte Herausforderung für den protestantischen Zusammenhalt in Lateinamerika, insbesondere für CLAI als institutionellem Ausdruck der Einheitsbestrebungen, besteht gegenwärtig in den wachsenden neuen religiösen Bewegungen in allen Teilen Lateinamerikas.78 Die Vielfalt der neo-pentekostalen und evangelikalen Strömungen belegen einerseits, dass der Protestantismus in Lateinamerika kein marginales Phänomen mehr darstellt, sondern sich im Laufe des 20. Jahrhunderts selbstbewusst zu einem genuinen Bestandteil religiösen / christlichen Lebens in Lateinamerika entwickelt hat. Andererseits erschwert die unüberschaubare Anzahl an Neugründungen evangelischer Kirchen die ökumenische Zusammenarbeit in Lateinamerika ebenso wie auf globaler Ebene und fordert die Bestrebungen zur Einheit des Protestantismus in Lateinamerika auf ein Höchstmaß heraus.79 1.4 Profile des lateinamerikanischen Protestantismus Angesichts seiner vielfältigen historischen Formen und Ausdrucksweisen ist es schwer, ein systematisches Bild des lateinamerikanischen Protestantismus zu zeichnen. Der argentinische Theologe Jos M guez Bonino (1924–2012) hat mit seinem 1995 auf Spanisch, 1997 auf Englisch erschienenen Buch „Rostros del Protestantismo Latinoamericano“ / „Faces of Latin American Protestantism“80 eine Typologie entworfen, die den Versuch unternimmt, die Entwicklung des lateinamerikanischen Protestantismus in historischer Perspektive nachzuzeichnen und zugleich die unterschiedlichen evangelischen Strömungen zu systematisieren. Der Methodist M guez Bonino gilt als einer der profiliertesten protestantischen Theologen Lateinamerikas, der die Entwicklung des lateinamerikanischen Protestantismus seit den 1950er Jahren aktiv begleitet, mitgestaltet und theologisch interpretiert hat. Er studierte Theologie in Buenos Aires und in Atlanta / USA und nahm bereits als junger Theologe an internationalen ökumenischen Konferenzen teil, etwa an der Weltmissionskonferenz in Willingen oder auch an der Konferenz von Glauben und Kirchenverfassung in

78 Vgl. Sabanes Plou, Latin America, 577–587, bes. 584 f. Vgl. Sch fer, Lateinamerika. 79 Die Entwicklung der Pfingstkirchen sowie das Wachstum evangelikaler Bewegungen in Lateinamerika stellen ein umfassendes eigenes Forschungsfeld dar und können im Rahmen dieser Studie nicht eingehender untersucht werden. Zur Ausbreitung der Pfingstbewegung in Lateinamerika vgl. die beiden einschlägigen Werke: Martin, Tongues; Stoll, Latin America. Im deutschen Sprachraum gilt der schweizerische Theologe Walter Hollenweger als unbestrittener Vorreiter der Beschäftigung mit der lateinamerikanischen, insbes. der brasilianischen Pfingstbewegung; vgl. Hollenweger, Enthusiastisches Christentum, 79–115; Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. 80 Vgl. M guez Bonino, Faces.

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Lund (beide 1952).81 Theologisch beeinflusst wurde M guez Bonino von der dialektischen Theologie Karl Barths, die ihn vor allem die politische Dimension der Theologie lehrte.82 Nach einer Tätigkeit als Jugendsekretär der argentinischen methodistischen Kirche ging M guez Bonino 1958 nach New York, wo er 1960 am Union Theological Seminary mit einer ökumenischen Arbeit unter dem Titel „A Study of Some Recent Roman Catholic and Protestant Thought on the Relation of Scripture and Tradition“ promovierte.83 Die während der Arbeit an der Dissertation entwickelte Expertise zum Katholizismus ermöglichte ihm – als einzigem Vertreter des lateinamerikanischen Protestantismus – die Teilnahme am Zweiten Vatikanischen Konzil zwischen 1962 und 1965. Als Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK repräsentierte Bonino dort den in den 1960er Jahren zu neuem Selbstbewusstsein erstarkten ökumenisch aufgeschlossenen Flügel des lateinamerikanischen Protestantismus und wurde 1975 auf der Vollversammlung des ÖRK in Nairobi zu einem der sechs Präsidenten gewählt. Die vier „Gesichter“ des lateinamerikanischen Protestantismus Das Werk „Faces of Latin American Protestantism“ geht auf eine Vorlesungsreihe am Theologischen Institut ISEDET in Buenos Aires im Jahr 1993 zurück, in welchem M guez Bonino die Entwicklung des lateinamerikanischen Protestantismus in vier Hauptströmungen unterteilt. Er bezeichnet sie als das liberale Gesicht, das evangelische Gesicht, das pfingstliche Gesicht und das Gesicht der Einwandererkirchen, die sich nicht nacheinander, sondern größtenteils überlappend ausgeprägt haben. Die den Ausführungen von M guez Bonino zugrundeliegende These ist dabei, dass alle vier Strömungen verschiedene Ausprägungen („masks“) der einen Geschichte und Identität des lateinamerikanischen Protestantismus sind.84 M guez Bonino hat damit erstmals eine Grundlage zur systematischen Darstellung der verschiedenen Facetten des lateinamerikanischen Protestantismus geschaffen, die für die historische und theologische Einordnung der unterschiedlichen protestantischen Strömungen in Lateinamerika hilfreich ist. Trotz der auf den ersten 81 Vgl. Davies, Faith, 19. 82 Vgl. ebd., 32–35. M guez Bonino verfasste eine Vielzahl an Büchern und Artikeln. Zu seinen bekanntesten Werken gehören: Doing Theology in a Revolutionary Situation (1975); dt.: Theologie im Kontext der Befreiung; Christians and Marxists (1976) und Faces of Latin American Protestantism (1997). Eine ausführliche, chronologisch geordnete Bibliographie ist abgedruckt in der systematisch-theologischen Biographie über M guez Bonino von Davies, Faith, 187–207. 83 Vgl. ebd., 20. 84 Vgl. das Vorwort in: M guez Bonino, Faces, ixf. Die Darstellung der vier Strömungen mündet am Schluss des Buches in zwei theologische Kapitel, mit denen M guez Bonino nach einem hermeneutischen Schlüssel zur Erklärung der Pluralität sucht. Dieser Schlüssel stellt für ihn die Trinität dar, die die von den lateinamerikanischen protestantischen Kirchen anzustrebende Einheit bereits anzeige. Vgl. ebd., x und 107–127.

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Blick schematisch wirkenden Klassifizierung zeichnet das Werk ein äußerst differenziertes Bild des lateinamerikanischen Protestantismus. Da das Werk bislang nur marginal rezipiert worden ist, werden die vier Gesichter des lateinamerikanischen Protestantismus zunächst im Folgenden ausführlicher referiert. In einem zweiten Schritt wird dann der Ertrag der von M guez Bonino entworfenen Typologie für den Untersuchungsgegenstand herausgestellt. (1) Das liberale Gesicht des lateinamerikanischen Protestantismus wurde durch die Aktivität der nordamerikanischen Missionsgesellschaften ab Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt und zeigte sich am klarsten auf dem Missionskongress in Panama 1916. Dieser Kongress wurde insbesondere von historisch „liberalen“ protestantischen Konfessionen der USA bestimmt – für M guez Bonino waren dies die von der Moderne geprägten Kräfte der Methodisten, Presbyterianer, Disciples of Christ und der American Baptist Convention.85 Ausdruck der liberalen Grundhaltung des Kongresses war insbesondere die (teilweise naive) Befürwortung des Panamerikanismus.86 Allerdings standen sich in Panama verschiedene, sich jeweils als „liberal“ bezeichnende theologische Positionen gegenüber: Sie reichten von liberal-aufgeklärten Ansichten der an den US-amerikanischen Eliteuniversitäten Yale oder Harvard gebildeten Theologen bis hin zu individualistisch-subjektiv geprägten Positionen von Vertretern der Erweckungsbewegungen. Außerdem konkurrierten zwei „liberale“ Demokratiemodelle miteinander: Das eine Modell verstand Demokratie als Schutzfunktion, die die maximale Selbstverwirklichung der Menschen anstrebte, und die im Staat den Garanten der Freiheit des Marktes und der Sicherheit der Menschen erkannte. Das andere Modell sah Demokratie als Prozess humanistischer Entwicklung, der jenseits der Akkumulation von Kapital die Entwicklung einer „besseren Generation“ zum Ziel hatte.87 Doch die Weltwirtschaftskrise 1929 und die damit verbundene Krise des Kapitalismus brachten nach M guez Bonino das liberale Projekt zum Scheitern.88 Durch den Einfluss der Social-Gospel-Bewegung bildete sich in Lateinamerika ab den 1930er Jahren eine neue Generation von Theologen und Missionaren heraus, die versuchte, das bisher „liberale Gesicht“ des Protestantismus demokratischer und sozialer zu gestalten. Sie sahen im Protestantismus einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus und qualifizierten ihn als „avant-garde of true democracy, socially progressive, modernizing, and participatory“89. Diese Generation stellte eine wichtige

85 86 87 88 89

Vgl. M guez Bonino, Faces, 6. Vgl. ebd., 10–12. Vgl. ebd., 15. Vgl. ebd., 17. Ebd., 18.

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Vorreiterrolle für die sich in den 1950er und 1960er Jahren ausprägende soziale Ausrichtung des lateinamerikanischen Protestantismus dar.90 (2) Das evangelische Gesicht des lateinamerikanischen Protestantismus kam M guez Bonino zufolge durch die nordamerikanische und britische Missionsbewegung nach Lateinamerika und zeichnete sich Ende des 19. Jahrhunderts insbesondere durch den individuellen Subjektivismus der nordamerikanischen Erweckungsbewegungen und deren anti-katholische Polemiken aus. Mit dem Wort „evang lico“ bezeichnete M guez Bonino – wie im deutschen Sprachgebrauch – zunächst die „evangelischen“ Kirchen im allgemeinen Sinn, aber er räumte ein, dass das Wort zugleich auch mit „evangelikal“ übersetzt werden könne.91 Geprägt war das „evangelische Gesicht“ daher besonders durch die nordamerikanische Frömmigkeit, in deren Zentrum die Bibel stand, „as a ,weapon‘ in the ,struggle against error‘ and as an indispensable tool for evangelization“92. Der Kongress von Panama 1916 war durch den nordamerikanischen Einfluss noch ganz von dieser pietistischen Haltung geprägt, doch löste sich das „evangelische Gesicht“ in den folgenden Jahrzehnten von diesem Einfluss. Im Zuge von Missionsbewegungen stieg die Anzahl von Protestanten in Lateinamerika ab den 1930er Jahren deutlich an und führte zu einer Ausdifferenzierung des Selbstverständnisses evangelischer Christen in Lateinamerika:93 Dazu gehörte, dass nun verstärkt die Zusammengehörigkeit von Protestantismus und bürgerlichem Liberalismus betont wurde und dass Sozialismus und Kommunismus innerhalb des Protestantismus als antireligiöse Bewegungen in Verruf gerieten. Außerdem sorgte auch das vermehrte Aufkommen sozialistischer und anarchistischer Gruppen sowie gewerkschaftlicher Vereinigungen für Glaubenskonflikte. Diese unübersichtliche Situation war nach M guez Bonino der Grund für den Einzug des evangelikalen Fundamentalismus in Lateinamerika, vertreten durch die Free Brethren und diverse fundamentalistische Bewegungen prämillenaristischer Prägung, wie Adventisten, Christian Alliance oder Evangelical Union. Einerseits wirkten sich M guez Bonino zufolge diese fundamentalistischen Strömungen durch Spaltungstendenzen, durch ihre pietistische Ethik oder doktrinäre Verzerrung negativ auf den lateinamerikanischen 90 Vgl. ebd. Zu dieser Generation protestantischer Theologen gehörten u. a. Alberto Rembao, Gonzalo B ez-Carmargo, Erasmo Braga, Jorge P. Howard, Samuel Guy Inman und John A. Mackay. 91 Vgl. ebd., viiif. und 27 f. (Fußnote 1). M guez Bonino lässt bewusst offen, welche Bedeutung von „evang lico“ er in seinem Text verwendet: „In this writing I have preferred to keep the equivocal nature of Latin American usage, hoping that contexts will allow the reader to determine the meaning.“ (Ebd., 28 [Fußnote 1].) In der folgenden Darstellung wird entsprechend vorrangig das Wort „evangelisch“ verwendet und nur an ausgewiesenen, eindeutigen Stellen das Wort „evangelikal“ benutzt. 92 Vgl. ebd., 31. 93 Vgl. im Folgenden: ebd., 41–44.

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Protestantismus aus. Andererseits bot er vielen Protestanten aber auch eine klare Antwort auf den Ausdruck des wahren Glaubens.94 Auf der evangelischen Konferenz CELA I in Buenos Aires im Jahr 1949 trafen diese unterschiedlichen evangelischen Positionen erstmals aufeinander und begannen miteinander in Dialog zu treten. Allerdings zeichnete sich angesichts der Vielfalt evangelischer Überzeugungen auch zunehmend eine Krise innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus ab.95 Die Spannung zwischen evangelisch traditionelleren Positionen sowie evangelikalen und fundamentalistischen Strömungen charakterisiert M guez Bonino zufolge bis in die Gegenwart die Zerrissenheit des „evangelische Gesichts“. (3) Das pfingstliche Gesicht des lateinamerikanischen Protestantismus entstand bereits Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Gründung der ersten methodistischen Pfingstkirche in Valparaiso / Chile im Jahr 1909 durch den methodistischen Missionar Willis C. Hoover. Allerdings macht M guez Bonino darauf aufmerksam, dass der traditionelle Protestantismus lange Zeit nicht bemerkt hätte, dass die Pfingstkirchen zu einer eigenständigen Größe innerhalb des lateinamerikanischen Protestantimus heranwachsen.96 Charakteristisch für die Theologie der lateinamerikanischen Pfingstkirchen sei ihr manichäisch-dualistisches Weltbild, ihre negativ-pessimistische Sicht auf den „alten Menschen“, der hohe Stellenwert der Pneumatologie und die durch den Heiligen Geist inspirierte Bibellektüre sowie das Bild einer kämpferischen Kirche, in die sich die Glaubenden ganz hineingeben und ihren persönlichen Interessen unterordnen.97 Einige Pfingstkirchen hätten sich M guez Bonino zufolge zwar auch sozialen und politischen Themen zugewendet, allerdings würde in den meisten Fällen der gelebte Glaube nicht mit politischer Aktivität verbunden.98 Während M guez Bonino versucht, die Theologie der Pfingstkirchen ausgewogen darzustellen, erhebt er jedoch an zwei Punkten grundlegende theologische Einwände: Zum einen kritisiert er den in den Pfingstkirchen ausgeprägten biblischen Fundamentalismus, der die Verbalinspiration und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift proklamiert, und fordert stattdessen, die Verbindung zwischen dem biblischen Text und der menschlichen Erfahrung bzw. Sprache stärker zum Tragen zu bringen.99 Zum anderen kritisiert M guez Bonino die der Pfingsttheologie eigene prämillenale Apokalyptik, die die Wiederkunft Jesu Christi in naher Zukunft erwartet. Der oft wiederholte Satz „Der Herr kommt bald“ verkomme zu einer leeren Formel

94 95 96 97 98 99

Vgl. ebd., 46–48. Vgl. ebd., 44 f. Vgl. ebd., 57. Vgl. ebd., 64 f. Vgl. ebd., 68. Vgl. ebd., 74 f.

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und verstelle den Blick darauf, dass bereits die christliche Gemeinde ein Zeichen des zu erwartenden Reiches Gottes darstellt.100 (4) Das vierte Gesicht in der Typologie des lateinamerikanischen Protestantismus überschreibt M guez Bonino zaghaft mit „An Ethnic Face of Protestantism?“101. Mit dem Fragezeichen verbindet er seine Unentschlossenheit hinsichtlich der Beantwortung der Frage, inwiefern die europäischen Einwandererkirchen (ethnic churches) eine authentische Erscheinungsform des lateinamerikanischen Protestantismus darstellen.102 Historisch belegt M guez Bonino, dass diese Kirchen auf den ersten drei protestantischen Kongressen 1916, 1925 und 1929 keine Rolle gespielt hätten und erst auf der ersten Evangelischen Lateinamerikanischen Konferenz 1949 in Buenos Aires durch die Waldenserkirche, die französischsprachige Kirche, die Mennoniten aus Paraguay und Beobachter der Deutschen Evangelischen Synode aus dem Gebiet des R o de la Plata eigenständig vertreten waren.103 Ihr Status unter den protestantischen Kirchen in Lateinamerika blieb unklar, da sie einerseits die „Staatskirchen“ ihrer Herkunftsländer vertraten, währenddessen sie in den Einwanderungsgebieten eher als „Freikirchen“ auftraten.104 In theologischer Hinsicht pflegten die Einwanderergemeinden in Lateinamerika daher einen stärker pietistisch geprägten Glaubensstil, als dies in ihrer lutherischen oder reformierten Heimat üblich gewesen wäre.105 Doch M guez Bonino kommt zu dem Schluss, dass die Einwandererkirchen ein konstitutiver Bestandteil des lateinamerikanischen Protestantismus sind – nicht im Sinne eines „,sealed package‘ but as an active participation that constantly generates in all of us the evangelical identity of that particular Latin American space where we are together“106. Die Typologie von Jos M guez Bonino zeigt deutlich, dass es sich beim lateinamerikanischen Protestantismus nicht um eine homogene Größe handelt. Vielmehr kennzeichnen den Protestantismus in Lateinamerika verschiedene Formen und Ausprägungen protestantischer Theologie und Frömmigkeit, die sich teils parallel, teils nacheinander, teils zirkulär entwickelt haben. Daraus lassen sich zusammenfassend drei Merkmale ableiten, die den lateinamerikanischen Protestantismus des 20. Jahrhunderts charakterisierten: Ein erstes Kennzeichen war die Pluralität der Ausdrucksformen und theologischen Überzeugungen des lateinamerikanischen Protestantismus, wie er sich nach M guez Bonino in den vier Gesichtern zeigte. Das zweite 100 101 102 103 104 105 106

Vgl. ebd., 76. Vgl. ebd., 79–106 (Hervorhebung – AS). Vgl. hierzu die Reflexionen im Vorwort: ebd., ix. Vgl. ebd., 84 f. Vgl. ebd., 91. Vgl. ebd., 95. Ebd., 106.

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Merkmal stellte die Suche nach einer genuin protestantischen Identität dar, einerseits in Abgrenzung zu den nordamerikanischen Missionsgesellschaften und europäischen Einwanderergemeinden, andererseits im Gegenüber zum römischen Katholizismus. Das dritte Kennzeichen des lateinamerikanischen Protestantismus war das Streben nach innerprotestantischer Einheit, denn trotz der vielfältigen Ausdrucksformen und teils sich widerstreitenden Positionen versuchten die protestantischen Christen zunächst durch CCLA, dann durch UNELAM und seit 1982 durch CLAI eine geschlossene protestantische Haltung zu demonstrieren. Doch die Suche nach der eigenen Identität und das Streben nach innerer Einheit angesichts der Pluralität führte innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus auch zu Brüchen und rief zahlreiche Konflikte hervor. Insbesondere die 1960er und 1970er Jahre, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen, stellten eine Krisenzeit für den Protestantismus in Lateinamerika dar. Nach M guez Bonino verlief die Krise in diesen beiden Jahrzehnten allerdings nicht entlang der verschiedenen evangelischen Konfessionen, sondern „cut through all denominations and even local congregations“107. Sie betraf vor allem das angespannte Verhältnis zwischen „Ökumenikern“ und „Evangelikalen“, d. h. zwischen Vertretern eines ökumenisch aufgeschlossenen, den gesellschaftspolitischen Umbrüchen zugewandten Protestantismus und evangelischen Christen, die sich eher auf die protestantische Frömmigkeit besannen. Die Spannung zwischen diesen beiden Lagern verschärfte sich im Laufe der 1960er Jahre zudem durch die Öffnung der römisch-katholischen Kirche für den ökumenischen Dialog. Folglich galt der Katholizismus nicht mehr als anti-evangelisch, sondern entwickelte sich für die Ökumeniker innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus zu einem verlässlichen Partner – was aus Sicht evangelikaler Christen einem Verrat am Evangelium gleichkam.108

107 Ebd., 45. Bereits 1972 konstatierte M guez Bonino eine „Identitätskrise, die heute das gesamte lateinamerikanische Christentum und das protestantische im besonderen erschüttert“ (M guez Bonino, Haltung, 2). 108 Vgl. M guez Bonino, Faces, 45.

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2. Die 1960er und 1970er Jahre in Lateinamerika Die 1960er und 1970er Jahre stellten in der Geschichte des lateinamerikanischen Kontinents eine überaus bewegte Zeit dar und markierten auf verschiedenen Ebenen eine Periode des Wandels, geprägt von Auf- und Umbrüchen, Widerständen und Neuanfängen. In der Politik wechselten sich Revolutionen und Militärdiktaturen ab, die Gesellschaft veränderte sich angesichts von Industrialisierung und Urbanisierung rasant und auf dem wirtschaftlichen Feld wurde die Abhängigkeit von den Industrienationen – vor allem von den USA – als zunehmend problematisch erkannt.109 Auch im kulturellen Bereich war ein Wandel auszumachen, der sich in der Literatur des Booms widerspiegelte oder sich auch in neuen musikalischen Ausdrucksformen wie der Bossa Nova zeigte. Das folgende Kapitel gewährt zunächst einen knappen Überblick über die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen in Lateinamerika in den 1960er und 1970er Jahren und skizziert in einem zweiten Schritt den Aufbruch und die Neuorientierung innerhalb der römisch-katholischen Kirche in Lateinamerika nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Durch diese historische Grundlegung wird die nachfolgende Untersuchung zum Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene nicht nur zeitgeschichtlich, sondern in Bezug auf den Katholizismus auch religionsgeschichtlich und theologisch verortet. 2.1 Die politische Situation in Lateinamerika zwischen Revolution und Diktatur Die politische Situation Lateinamerikas im 20. Jahrhundert ist eng mit dem Stichwort „Revolution“ verbunden. Allerdings ist der Begriff sehr ungenau und wird auf verschiedene Formen politischer Umbrüche angewendet, angefangen von den Unabhängigkeitskämpfen über Putsche und Staatsstreiche bis hin zu bewaffneten Volksaufständen. Wird unter Revolution der grundlegende Wandel eines politischen Systems und einer Gesellschaftsordnung verstanden110, so ereigneten sich in Lateinamerika im 20. Jahrhundert streng genommen insgesamt nur zwei Revolutionen: Die mexikanische Revolution im Jahr 1910 gegen die Herrschaft des seit 1876 regierenden Porfirio D az durch einen Volksaufstand und die kubanische Revolution im Jahr 1959 gegen 109 Eine radikale Stimme gegen die Unterdrückung und Ausbeutung des lateinamerikanischen Volkes war der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano mit seinem 1971 erschienenen Werk „Die offenen Adern Lateinamerikas“, in welchem er die Geschichte Lateinamerikas aus dependenztheoretischer Sicht darstellte, und das in kürzester Zeit weltweit zu einem lateinamerikanischen Bestseller avancierte. 110 Vgl. Nohlen, Revolution, 644–646.

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den Diktator Fulgencio Batista durch bewaffnete Rebellen unter der Führung von Fidel Castro.111 Die Revolutionen in Bolivien 1952 und in Nicaragua 1979 begannen zwar als revolutionäre Aufstände, jedoch konnten sich ihre Forderungen nicht dauerhaft etablieren. Dass sich dennoch die Rede von Lateinamerika als „Revolutionskontinent“112 gehalten hat, ist vor allem auf die Entwicklungen in den 1960er Jahren zurückzuführen, in denen sich die politische Linke im Geist der kubanischen Revolution radikalisierte und an politischer Bedeutung gewann. Sie einte der antiimperialistische und antikapitalistische Kampf gegen die Vormachtstellung der Vereinigten Staaten in Lateinamerika und nahm im Kontext des Kalten Krieges eine wichtige Rolle in der politischen und ideologischen Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion ein.113 Die kubanische Revolution stellte den Auftakt für diese Entwicklungen dar: Fidel Castro hatte mit seinen Gefährten bereits seit Beginn der 1950er Jahre versucht, das Batista-Regime zu stürzen. Nach einem gescheiterten Überfall auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba am 26. Juli 1953, der zunächst zur Verhaftung, schließlich aber zur Amnestie von Castro führte, zog sich die Guerilla im Jahr 1955 nach Mexiko zurück und bereitete sich ein Jahr auf den Gegenschlag vor.114 Hier stieß auch der argentinische Arzt Ernesto „Che“ Guevara zu den kubanischen Rebellen.115 1956 kehrte eine Einheit von rund 80 Guerilleros, die sich nun „Bewegung des 26. Juli“ nannte, nach Kuba zurück, wurde allerdings bei ihrer Landung auf der Insel von Regierungstruppen scharf angegriffen. Die 12 Überlebenden, darunter die Brüder Fidel und Raffll Castro sowie Che Guevara, zogen sich ins kubanische Hinterland zurück, wo sie in wenigen Monaten eine kleine Rebellenarmee aufbauten. Dieser gelang es, den geschwächten Diktator Fulgencio Batista Ende Dezember 1958 in die Flucht zu schlagen und die Macht zu übernehmen. Am 1. Januar 1959 rief Fidel Castro in Havanna den Sieg der Revolution aus.116 In den folgenden Monaten begann Castro als m ximo l der mit dem Aufbau eines sozialistischen Staates: Er setzte Agrarreformen durch, leitete die Verstaatlichung der kubanischen Wirtschaft ein und fuhr somit einen harten Konfrontationskurs gegenüber den USA.117 Dieser gipfelte in der Wiederaufnahme diplomatischer Bezie111 Vgl. Werz, Lateinamerika, 140. 112 Rinke, Geschichte (2010), 105. Vgl. Gallardo Maldonado / Guerra Vilaboy / Arana, Revoluciones Latinoamericanas del Siglo XX. Die Autoren dieses Bandes zählen neben der mexikanischen und der kubanischen Revolution auch die Sandinistische Revolution in Nicaragua zu den entscheidenen revolutionären Umbrüchen in Lateinamerika im 20. Jahrhundert. 113 Vgl. zur Bedeutung des Kalten Krieges für Lateinamerika: Brands, Cold War. 114 Vgl. Werz, Lateinamerika, 147. 115 Vgl. Rinke, Lateinamerika, 108. Vgl. zur Biographie Guevaras: Lahrem, Che Guevara; Niess, Che Guevara; Gonzalez, Ch Guevara. 116 Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen von Antonio Annino, Kuba, 512–522; Zeuske, Geschichte, 180–184; Werz, Lateinamerika, 146–150. 117 Vgl. Annino, Kuba, 521.

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hungen mit der Sowjetunion und einem Handelsabkommen zum Austausch von Zucker und Erdöl.118 Die Vereinigten Staaten unter Präsident Eisenhower reagierten ihrerseits mit einem Handelsembargo und dem Abbruch diplomatischer Beziehungen mit Kuba.119 Mit der gescheiterten US-amerikanischen Invasion in der Schweinebucht 1962, mit der die USA hofften, Castro stürzen zu können, geriet das sozialistische Projekt Castros zunehmend unter Druck. Castro holte sich wiederum Unterstützung aus Moskau und bat um die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba. Die Folge war „eine der schwersten Krisen des Kalten Krieges“120 im atomaren Kräftemessen zwischen den USA und der Sowjetunion, bei dem sich die USA durchsetzten und Nikita Chruschtschow ohne Castros Einwilligung zum Abzug der Raketen aus Kuba bewegen konnten. Trotz der turbulenten Anfangsjahre avancierte die kubanische Revolution zum Mythos und wurde zum Vorbild für revolutionäre Aufbrüche in Lateinamerika, wie etwa 1967 in Bolivien, für demokratisch-sozialistische Regierungen in Peru (1968–1975) und Chile (1970–1973) sowie für radikale linke Bewegungen und Guerilla-Aktivitäten, wie die Tupamaros in Uruguay oder die Montoneros in Argentinien.121 In Europa war die kubanische Revolution insbesondere für die Studentenproteste des Jahres 1968 anschlussfähig.122 Die 1960er und 1970er Jahre standen in Lateinamerika folglich stark unter dem Einfluss der kubanischen Revolution, stellten allerdings keine Phase wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Stabilität dar. Vielmehr befand sich der lateinamerikanische Kontinent in diesen Jahren auf allen drei Ebenen im Wandel. (1) Im wirtschaftlichen Sektor hatte die 1948 gegründete lateinamerikanische UN-Wirtschaftskommission CEPAL als Antwort auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in den 1950er Jahren das Modell der importsubstituierenden Industrialisierung durchgesetzt. Dieses Modell zeichnete sich dadurch aus, dass es sich von einem auf den Außenhandel orientierten Wirtschaftsansatz abwendete und die ,Entwicklung nach innen‘ beförderte. Dies hatte zur Folge, dass die Außenabhängigkeit der lateinamerikanischen Wirtschaft zurückging und die Binnenmärkte angekurbelt wurden.123 In vielen Ländern Lateinamerikas fiel dieser wirtschaftliche Aufschwung in die

118 119 120 121 122 123

Vgl. Rinke, Lateinamerika, 108. Vgl. McPherson, Ties, 48. Ebd., 110. Vgl. Greiner, Kuba-Krise; Spenser, Kubakrise. Vgl. Malinauskaite, Revolution, 34. Vgl. ebd., 36. Vgl. Frei, 1968, 124, 168 f., 213. Zwischen 1950 und 1980 nahm der industrielle Sektor jährlich um rund 5–6 % zu und übertraf damit sogar die Wachstumsraten westlicher Länder von rund 4 %. Vgl. Werz, Lateinamerika, 244 f.; Bernecker, Entwicklung, 58 f.; Bernecker / Tobler, Einleitung, 32. Führender Denker des importsubstituierenden Entwicklungsmodells war der argentinische Ökonom Raffll Prebisch, der CEPAL von 1948–1963 leitete; vgl. Werz, Lateinamerika, 248–253.

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Regierungszeit populistischer Regime124, wie etwa in Argentinien in die erste Präsidentschaftszeit von Juan Domingo Per n (1946–1955), in der das Land eine wirtschaftliche und industrielle Blütezeit erlebte. In den 1960er Jahren geriet das importsubstituierende Industrialisierungsmodell jedoch zunehmend in die Krise. Die Gründe hierfür lagen u. a. in den zu hohen Preisen der in Lateinamerika hergestellten Waren, der teilweise ineffizienten Produktion, vor allem aber in der Vernachlässigung des Agrarsektors, die den Unmut in der ländlichen Bevölkerung hervorrief.125 Außerdem waren die USA weiterhin daran interessiert, ihren Einfluss auf den Subkontinent zu erhöhen. John F. Kennedy setzte 1961 das reformistische Entwicklungsprojekt „Allianz für den Fortschritt“ ein, das Lateinamerika eine umfassende Wirtschaftshilfe gewähren und zugleich die Abkoppelung der lateinamerikanischen Wirtschaft vom Welthandel sowie die Ausbreitung des sozialistischen Modells der kubanischen Revolution verhindern sollte. Erklärtes Ziel war es, die Demokratisierung Lateinamerikas zu fördern, die wirtschaftliche Integration Lateinamerikas durch private Investitionen zu stärken, die Landwirtschaft zur reformieren sowie den Bildungssektor und das Gesundheitswesen auszubauen.126 Allerdings zeigte sich zunehmend, dass die „Allianz für den Fortschritt“ weniger an der Entwicklung Lateinamerikas, als vielmehr an der Eindämmung revolutionärer Aufbrüche interessiert war und sich zunehmend zu einer Strategie der „rein militärischen Guerillabekämpfung“127 entwickelte. Mit der Ermordung von Kennedy im November 1963 nahm auch das Interesse der USA an dem Entwicklungsprogramm ab. Das Ziel der Allianz – „die Bildung von gerechten, stabilen, demokratischen und dynamischen Gesellschaften“128– wurde letztlich nicht erreicht. (2) Durch den wirtschaftlichen Aufschwung in den 1950er und 1960er Jahren veränderte sich auch die Gestalt der lateinamerikanischen Gesellschaften und hatte einen umfassenden sozialen Wandel zur Folge. Am offensichtlichsten war das Bevölkerungswachstum um jährlich 2,72 %, das sich vor allem auf die bessere medizinische Grundversorgung zurückführen ließ.129 Die Folge waren umfassende Migrationsbewegungen, sowohl Auswanderungen – insbesondere in die USA – als auch Binnenwanderungen. Die größten Ströme verliefen vom Land in die Städte, wobei vor allem junge Menschen ihre ländliche Heimat verließen, um in der Stadt Arbeit zu finden. Frauen waren vorrangig in Dienstleistungszentren angestellt, während Männer überwiegend im Industriesektor arbeiteten.130 Die Urbanisierung schnellte in die Höhe und 124 125 126 127 128

Vgl. Werz, Lateinamerika, 245. Vgl. Rinke, Geschichte (2010), 102; Bernecker, Entwicklung, 59; Werz, Lateinamerika, 245. Vgl. Lehr, Allianz, 37; Rinke, Lateinamerika, 109 f. Bernecker / Tobler, Einleitung, 119. Eduardo Frei, Die Irrwege der „Allianz für den Fortschritt“, zit. n. Rinke, Geschichte (2009), 257. 129 Vgl. Rinke, Geschichte (2010), 103; Bernecker / Tobler, Einleitung, 40 f. 130 Vgl. Bernecker / Tobler, Einleitung, 42.

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erreichte in den 1950er Jahren einen Grad von bis zu 41 % – eine wahre Explosion, die selbst die europäischen Verstädterungsprozesse im 19. Jahrhundert übertraf.131 Metropolen wie Rio de Janeiro, S¼o Paulo, Mexiko-Stadt, Buenos Aires oder Lima wuchsen bis in die 1980er Jahre zu Mega-Cities heran, waren aber meist auf diese explosionsartige Urbanisierung nicht vorbereitet. In diesen Städten entstanden zum einen moderne Stadtteile, die sich in ihrer Architektur an westlichen Standards orientierten, auf der anderen Seite wuchsen allerdings auch Elendsviertel, die sich häufig zu sozialen Brennpunkten entwickelten.132 Die Ungleichheit zwischen dem großen Teil der Bevölkerung, der an und unter der Armutsgrenze lebte, einer zwar wachsenden, aber relativ kleinen Mittelschicht und einem sehr kleinen wohlhabenden Teil nahm im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre zu und wurde insbesondere durch neoliberale Reformen in den 1980er Jahren in vielen lateinamerikanischen Ländern verstärkt.133 (3) Neben den Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich vollzog sich in vielen lateinamerikanischen Ländern in den 1960er und 1970er Jahren außerdem eine politische „Wende“134, in welcher der Revolutionsgeist der 1950er Jahre zunehmend von autokratischen Regimen und Militärdiktaturen abgelöst wurde. Den Anfang machte Brasilien, wo im Jahr 1964 das Militär den Sozialdemokraten Jo¼o Goulart der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) aus dem Amt putschte. Ziel der Militärjunta war der Aufbau nationaler Sicherheit sowie die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes, deren Durchsetzung das Militär nicht zuletzt durch die Formulierung ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt) auf der Nationalflagge legitimiert sah.135 Es entwickelte sich schrittweise eine technokratische Militärdiktatur (1964–1985), die insbesondere zwischen 1969 und 1974 repressive Züge annahm und viele Brasilianer ins Exil trieb.136 Mit dem letzten Präsidenten der Militärdiktatur, General Jo¼o Batista Figueiredo (1979–1985), begann eine politische Öffnung und Transitionsphase, die 1985 zu Parlamentswahlen und 1988 schließlich zu einer neuen Verfassungsgebung führten.137 Auch in Peru übernahm das Militär die Macht (1968–1975), wobei es sich hier um ein sozialreformerisches Regime handelte, das sich erst nach und nach dem Stil konservativer Militärregierungen annäherte.138 Für besondere internationale Aufmerksamkeit 131 Vgl. ebd., 44. 132 Vgl. Rinke, Geschichte (2010), 104. 133 Vgl. ebd. Vgl. ausführlicher zu den Auswirkungen der Urbanisierung im 20. Jahrhundert: Potthast, Urbanisierung. 134 Bernecker / Tobler, Einleitung, 69. 135 Vgl. Rinke / Schulze, Geschichte, 167; Werz, Lateinamerika, 181. Der Schriftzug ordem e progresso ist seit Ausrufung der Republik 1889 bis in die Gegenwart Bestandteil der brasilianischen Nationalflagge; vgl. Rinke / Schulze, Geschichte, 115. 136 Vgl. Werz, Lateinamerika, 182. 137 Vgl. Rinke / Schulze, Kleine Geschichte Brasiliens, 173–185; Cammack, Brasilien, 1118–1153. 138 Vgl. Werz, Lateinamerika, 183–185; Kçnig, Geschichte, 667–676; Taylor, Peru, 793–801.

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sorgte darüber hinaus der Militärputsch in Chile am 11. September 1973, bei dem der Sozialist Salvador Allende aus dem Amt und in den Tod getrieben wurde und Augusto Pinochet eine bis 1989 andauernde Militärdiktatur errichtete.139 Für die vorliegende Arbeit sind insbesondere die Entwicklungen in Uruguay und Argentinien von Bedeutung. Uruguay galt in den 1930er und 1940er Jahren als am meisten entwickelter Sozialstaat in Lateinamerika und wurde aufgrund seiner europäischen Prägung und sozialstaatlichen Entwicklung oft auch als „Schweiz Lateinamerikas“ bezeichnet.140 Allerdings blieb das kleine südamerikanische Land von einer Militärherrschaft nicht verschont. Ab Mitte der 1950er Jahre verzeichnete Uruguay eine wirtschaftliche Krise, die in den Folgejahren zur sozialen Verunsicherung der Bevölkerung führte und schließlich die demokratischen Strukturen ins Wanken brachte.141 Im März 1972 übernahm der der konservativen Colorado-Partei angehörende Juan Mar a Bordaberry das Präsidentenamt und versuchte, Uruguay wirtschaftlich zu stabilisieren und sozial zu befrieden, allerdings ohne Erfolg. Widerstand gegen die technokratische und autoritäre Politik der Colorados formierte sich ab 1971 in der Frente Amplio (Breite Front), einem Bündnis verschiedener linker Bewegungen, Parteien und Organisationen sowie in den Guerilla-Aktivitäten der Tupamaros, deren Mitglieder allerdings zunehmend Opfer der Repressionen der konservativen Regierung wurden.142 Die New York Times sah Uruguay in dieser Zeit in einer der schlimmsten Krisen in der Geschichte des Landes: „Uruguay has emerged from its worst political crisis in four decades with heavy damage to the democratic system that was once the pride and envy of the Americas.“143 Mitte 1973 spitzte sich die Lage zu, als das Militär mit Hilfe von Bordaberry das Parlament auflöste, die Verfassung außer Kraft setzte und den Ausnahmezustand erklärte.144 Es folgte, wie in den Nachbarländern Argentinien und Brasilien, eine langjährige autoritäre Militärdiktatur (1973–1984), die zwar zunächst die Wirtschaft stabilisierte, aber den Niedergang der eigenen Industrie und eine stärkere wirtschaftliche Außenabhängigkeit und Auslandsverschuldung des Landes zur Folge hatte.145 Noch gravierender als in Uruguay war jedoch die politische Situation in Argentinien. Aus historischer Sicht stellte die argentinische Militärdiktatur (1976–1983) „die schlimmste Ausprägung des Staatsterrorismus innerhalb der neueren lateinamerikanischen Geschichte“146 dar. Nach der populistischen Ära Per ns geriet Argentinien ab Mitte der 1950er Jahre in eine wirt139 140 141 142 143 144 145 146

Vgl. Angell, Chile; Nohlen, Feuer; Friedmann, Chile. Vgl. Puhle, Diktatur, 19; Thimmel, Uruguay, 7. Vgl. Puhle, Uruguay, 992 f. Vgl. Fischer, Tupamaros. [Unbekannter Verfasser], Crisis in Uruguay. Vgl. Puhle, Uruguay, 995. Vgl. ebd., 998–1002. Werz, Lateinamerika, 189.

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schaftliche und gesellschaftliche Krise, von der sich das Land bis zum Ende der Militärdiktatur 1983 nicht erholte.147 1966 kam es zu einem ersten Militärputsch, bei dem General Juan Carlos Ongan a die Macht übernahm. Ziel des Putsches war es, nationale Sicherheit und Ordnung im Land nach dem Vorbild der brasilianischen Militärdiktatur zu etablieren.148 Allerdings formierte sich gegen die Politik Ongan as heftiger Widerstand unter der argentinischen Bevölkerung. Am einflussreichsten waren die Montoneros, ein 1973 gegründeter Zusammenschluss verschiedener linksperonistischer Bewegungen, sowie das Ej rcito Revolucionario Popular (Revolutionäre Volksarmee).149 Das Gewaltpotential dieser urbanen Guerilla-Gruppen, dem hauptsächlich Studenten angehörten, war äußerst hoch und führte das Land in der Konfrontation mit der vom Militär ausgehenden Gewalt an den Rand eines Bürgerkriegs.150 Mit der Rückkehr Per ns aus dem Exil im Jahr 1973 und seiner erneuten Wahl zum Präsidenten wuchsen die Hoffnungen auf Befriedung, doch konnte der 78-jährige Per n die Spannungen selbst innerhalb seines eigenen politischen Lagers nicht lösen. Sein Tod im Juni 1974 brachte seine dritte Ehefrau Isabel an die Macht, mit der das Land im politischen Chaos versank.151 Die Machtübernahme durch das Militär am 24. März 1976, die einen „Prozess der Nationalen Reorganisation“ einleiten sollte, wurde von der argentinischen Bevölkerung gleichgültig bis wohlwollend aufgenommen.152 Doch schon bald zeigte sich das repressive Gesicht der Militärdiktatur, die ihre Gegner – oppositionelle Politiker und Organisationen, Mitglieder von Gewerkschaften und Intellektuelle – gnadenlos ausschaltete. Zum „Vermächtnis“ der brutalen Diktatur, insbesondere unter der Herrschaft von General Jorge Rafael Videla (1976–1981), zählten mehr als 30.000 desaparecidos (Verschwundene), die zuvor von den Militärs verfolgt und gefoltert wurden.153 Die 1960er und 1970er Jahren markierten damit in der Geschichte Lateinamerikas eine Periode, die von wirtschaftlicher Stagnation, sozialen Unruhen und politischer Repression geprägt waren. Die „Doktrin der nationalen Sicherheit“ stellte die Ideologie der Militärregierungen dar, mit der sich die Militärs ihre führende Rolle in Staat und Gesellschaft sichern wollten.154 Die wirtschaftliche Misere ihrer Länder konnten sie damit jedoch nicht überwinden. Zwar stieg das Wirtschaftswachstum in einigen Ländern während der Militärdiktaturen an, doch war dies nur durch einen verstärkten Außenhandel 147 148 149 150 151 152 153 154

Vgl. Carreras / Potthast, Geschichte, 205–232. Vgl. Riekenberg, Geschichte, 166; Waldmann, Argentinien, 942. Vgl. Riekenberg, Geschichte, 168. Vgl. Werz, Lateinamerika, 188. Zu den Motiven der Gewaltbereitschaft der Studenten vgl. Riekenberg, Geschichte, 169. Vgl. Waldmann, Argentinien, 944. Vgl. Werz, Lateinamerika, 188. Zur Politik und Praxis des Verschwindenlassens in Argentinien vgl. Elsemann, Erinnerungen, 46–64. Vgl. Rinke, Geschichte (2009), 264; Werz, Lateinamerika, 190–192.

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etwa mit den USA möglich, der zugleich die Last der Auslandsschulden ansteigen ließ. Die gravierenden Verletzungen von Menschenrechten trugen zur Einschüchterung der jeweiligen Bevölkerung bei und trieben viele Lateinamerikaner ins Exil nach Europa und in die USA. Parallel dazu entstanden jedoch auch zunehmend soziale Bewegungen, die ihre Kritik an den Militärregierungen vorbrachten und für Menschenrechte eintraten.155 Auch innerhalb der protestantischen Kirchen nahm der Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen zu, wenngleich die Militärdiktaturen – etwa innerhalb der Evangelischen Kirche am R o de la Plata – von offizieller Seite nicht kritisiert wurden.156 2.2 Die katholische Kirche im Aufbruch: Vom Zweiten Vatikanischen Konzil nach Medell n 1968 Nicht nur die politische, wirtschaftliche und soziale Situation unterlag in den 1960er und 1970er Jahren gravierenden Umbrüchen und Veränderungen. Auch in der römisch-katholischen Kirche vollzog sich in dieser Zeit ein grundlegender Wandel: Die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) regten die lateinamerikanischen Bischöfe zu einer Kontextualisierung des Konzils an und führten zur Planung und Durchführung der Bischofskonferenz in Medell n / Kolumbien 1968. Diese ging aufgrund ihrer Gegenwartsnähe, methodischer Zielgerichtetheit und theologischer Profilierung als Meilenstein in die Geschichte des lateinamerikanischen Katholizismus ein und stellt bis heute den bedeutendsten Referenzpunkt lateinamerikanischer Theologie im 20. Jahrhundert dar.157 Der Wandel innerhalb der römisch-katholischen Kirche in Lateinamerika bahnte sich jedoch bereits in den 1950er Jahren an: Die in den 1920er Jahren gegründete Katholische Aktion, eine Laienbewegung, die katholische Christen zum sozialen, politischen und kirchlichen Engagement anregen sollte, erfuhr in Lateinamerika durch die Gründung von Jugend- und Arbeiterbewegungen einen Aufschwung. Es entstanden die Katholische Aktion in der Arbeiterschaft (ACO) und die Katholische / Christliche Arbeiterjugend (JOC) sowie studen155 So etwa die Bewegung der Madres de Plaza de Mayo (Mütter des Platzes der Mairevolution), die in Buenos Aires seit 1977 bis heute mit wöchentlichen Demonstrationen gegen das Verschwinden ihrer Angehörigen protestieren. Vgl. Asociaci n Madres de Plaza Mayo, http:// www.madres.org (Zugriff 12. 6. 2015). 156 Die Erforschung der Rolle der christlichen Kirchen in ihrem Verhältnis zur den lateinamerikanischen Militärdiktaturen stellt ein großes Desiderat dar. Für die Rolle der Evangelischen Kirche am R o de la Plata (IERP – Iglesia Evang lica del R o de la Plata, hierzu gehören die Kirchen in Argentinien, Uruguay, Paraguay) gibt die Studie von Claudia Häfner einen Ausblick auf die noch ausstehende Bearbeitung der Rolle der IERP in der argentinischen Militärdiktatur: H fner, Heimischwerdung, 351–365, bes. 359. Vgl. weiterführend zur Geschichte der IERP den kommentierten Quellenband: Zorzin, Memorias. 157 Vgl. u. a. Collet, Medell n; Galilea, Lateinamerika; Beozzo, Konzil; Schreij ck, Stationen.

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tische Vereinigungen, etwa die Katholische Jugend an Gymnasien (JEC) und die Katholische Universitätsjugend (JUC), die den sozialen und politischen Wandel in ihren Ländern aktiv begleiteten.158 1955 wurde angesichts der gesellschaftlichen Situation in Lateinamerika und der Suche der katholischen Kirche nach ihrer gesellschaftlichen Funktion und Verortung die erste gesamtlateinamerikanische Bischofskonferenz in Rio de Janeiro einberufen. Die lateinamerikanischen Bischöfe, die dort zusammenkamen, widmeten sich innerkirchlichen Themen wie dem Priestermangel, aber auch weltlichen Fragen, etwa der sozialen Aktivität von Katholiken oder ihrer Haltung zu modernen Medien. Außerdem wurde der Umgang mit neuen protestantischen Strömungen, wie den schnell wachsenden Pfingstkirchen, mit Freimaurern und Sekten thematisiert.159 Im Anschluss an die Bischofskonferenz gründete sich der ständige Lateinamerikanische Bischofsrat (CELAM) mit Sitz in Bogot / Kolumbien, der die Kontinuität zu den Ergebnissen der Konferenz halten und die Zusammenarbeit zwischen den regionalen Bischofskonferenzen stärken sollte.160 Auf Weltebene kündigte Papst Johannes XXIII. 1959 die Durchführung des Zweiten Vatikanischen Konzils an.161 Dieses Konzil, das in vier Sitzungsperioden zwischen 1962 und 1965 in Rom stattfand und nach dem Tod von Johannes XXIII. am 3. Juni 1963 von Papst Paul VI. fortgeführt wurde, sollte den „Übergang in ein neues Zeitalter“162 für die ganze Kirche gewährleisten. Die Leitlinie des Konzils war es, die „Zeichen der Zeit“163 zu lesen und damit zur Erneuerung der Kirche beizutragen. Nicht doktrinale Fragen und Lehrverurteilungen standen im Mittelpunkt des Konzils, sondern das aggiornamento (d. h. die Verheutigung) kirchlicher Lehren. Darunter wurde sowohl die Öffnung der römisch-katholischen Theologie zu gegenwärtigen weltlichen Themen und Fragestellungen (ad extra) verstanden, als auch die innere Erneuerung der Kirche (ad intra).164 Das Konzil war somit ein religiöses

158 Vgl. Goldstein, Armen, 65 f.; Dussel, Geschichte, 171 f.; Kçnig, Geschichte, 699. 159 Vgl. Lorschneider, Bedeutung, 11. Insgesamt nahmen an der Konferenz in Rio de Janeiro (CELAM I) 37 Erzbischöfe, 58 Bischöfe und zahlreiche Kardinäle teil, vgl. Meier / Strassner, Entwicklungslinien, 7. 160 Vgl. Meier / Strassner, Entwicklungslinien, 8. 161 Zu den Vorbereitungen des Konzils vgl. Wenzel, Geschichte, 14–17. 162 Alberigo, Konzilien, 561; vgl. Pottmeyer, Phase, 47. 163 „Ja Wir möchten Uns [sic!] die Forderung Christi zu eigen machen, die ,Zeichen der Zeit‘ (Matth. 16, 4) zu unterscheiden, und glauben deshalb, in all der großen Finsternis nicht wenige Anzeichen zu sehen, die eine bessere Zukunft der Kirche und der menschlichen Gesellschaft erhoffen lassen.“ (Apostolische Konstitution „Humanae salutis“, 225.) Die Wendung von der Erforschung der „Zeichen der Zeit“ wurde auch in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes (GS) aufgegriffen: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten.“ (GS 4. In: LThK2. Das Zweite Vatikanische Konzil, Bd. 3 (1968), 295.) 164 Vgl. Schatz, Vatikanum, 541; Wenzel, Geschichte, 16.

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„Weltereignis“165, das insbesondere durch eine umfassende mediale Berichterstattung in der breiten Öffentlichkeit auf reges Interesse stieß.166 An dem Konzil nahmen über 3.000 Bischöfe, Kardinäle, Theologen, Laien und Gäste aus aller Welt teil, darunter rund 600 Vertreter aus Lateinamerika.167 Als einziger protestantischer lateinamerikanischer Teilnehmer begleitete der methodistische Theologe Jos M guez Bonino das Geschehen in Rom. In einer Einschätzung vor dem Lateinamerika-Ausschuss des ÖRK im Juni 1964 unterstrich M guez Bonino die Relevanz des Konzils für die lateinamerikanischen Kirchen. In den Augen vieler lateinamerikanischer, aber auch französischer und deutscher Kommentatoren sei das Konzil, so M guez Bonino, „not least a Council for Latin America“168. Die lateinamerikanischen Bischöfe hätten vor allem die Frage der Armut der Kirche offen in die Sitzungen des Konzils eingebracht und sich dadurch Gehör verschafft.169 Einflussreich waren in diesem Zusammenhang insbesondere die beiden Bischöfe Dom H lder C mara, Weihbischof von Rio de Janeiro / Brasilien und Sekretär der brasilianischen Bischofskonferenz, und Manuel Larra n, Bischof von Talca / Chile und CELAM-Präsident. C mara hatte noch auf der ersten Sitzungsperiode eine Arbeitsgruppe zum Thema „Kirche der Armen“ eingerichtet, an der Vertreter aus Ländern aller fünf Kontinente (Japan, Indien, Kongo, Zentralafrika, Kanada, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Niederlande) teilnahmen. Diese Arbeitsgruppe lieferte wesentliche Impulse für die Entstehung der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, die zu den Schlüsseltexten des Zweiten Vatikanums gehört.170 Anliegen der Pastoralkonstitution war es, das Verhältnis von Kirche und Welt neu zu bestimmen, allerdings in der Weise, dass die Kirche zunächst primär auf die von außen an sie herangetragenen Fragen antwortete. Die theologische Aneignung weltlicher Fragen war dem Fundamentaltheologen Knut Wenzel zufolge das Neue von Gaudium et Spes: „Mit diesem Dokument deduziert das Konzil nicht eine kirchliche Lehre […], sondern es antwortet aus 165 166 167 168

Vgl. Nacke, Kirche, 59–64. Vgl. St dter, Blicke, 278–295. Vgl. Meier / Strassner, Entwicklungslinien, 8; Bachmann, Kirche. Jos M guez Bonino, The Impact of Vatican Council on Latin American Roman Catholicism and Protestantism. Vortrag auf der Latin American Working Party (11.–12. 6. 1964), 1, AÖRK 42.55.09. 169 Vgl. ebd., 3. 170 Vgl. Meier / Strassner, Entwicklungslinien, 8 f.; Moeller, Geschichte, 247. Einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Pastoralkonstitution übte darüber hinaus u. a. Lukas Vischer aus, der als Direktor der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK am Konzil teilnahm und den leitenden Bischof Emilio Guano auf eine Studie der ÖRK-Kommission zum Thema „Die Herrschaft Christi über die Kirche und über die Welt“ aufmerksam machte, an welcher der ÖRK seit 1956 arbeitete. Vgl. hierzu Wenzel, Geschichte, 174; Moeller, Geschichte, 251f.; Pesch, Konzil, 210 f. Vgl. auch den Zwischenbericht von Vischer nach der dritten Sitzungsperiode: Vischer, Session, 108–110. Zu Vischers Einschätzung der Bedeutung des Zweiten Vatikanums für den ökumenischen Dialog vgl. Vischer, World Council.

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der Situation der Frage heraus an die Welt oder der Welt, die sozusagen schon gefragt hat.“171 Dies stellte für die römisch-katholische Kirche eine bisher ungekannte Art theologischen Denkens und theologischer Praxis dar. Die Struktur der Pastoralkonstitution orientierte sich an dem Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“172: 1. Sehen (Analyse) – Einführung: Die Situation des Menschen in der heutigen Welt (GS 4–10) – hier nimmt die Konstitution zunächst die Welt im politischen, sozialen und kulturellen Wandel wahr; 2. Urteilen (Interpretation) – Erster Teil: Die Kirche und die Berufung des Menschen (GS 11–45) – hier entfaltet die Konstitution systematisch den Ort der Kirche in der Welt und die Anthropologie des Menschen; 3. Handeln (Aktion) – Zweiter Teil: Einige drängendere Probleme (GS 46–90) – hier stellt die Konstitution das Handeln der Kirche in weltlichen Fragen dar, etwa in Bezug auf Ehe und Familie, Wirtschaft, Politik und Frieden.173 Das Besondere von Gaudium et Spes bestand in der Erkenntnis, dass die Beschäftigung mit weltlichen Themen immer auch ekklesiologische Konsequenzen hat. Indem sich also die Kirche in der Pastoralkonstitution mit weltlichen Fragen befasste, konnte sie ihrer Bestimmung als Kirche in der Welt näherkommen. Für die Rezeption des Zweiten Vatikanums in Lateinamerika waren zwei Aspekte des Konzils von herausragender Bedeutung: Zum einen betraf dies die noch von Johannes XXIII. vorgebrachte Erwartung an das Konzil, die Haltung einer „Kirche der Armen“ anzunehmen.174 Doch auch selbst wenn diese Formulierung Eingang in die dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium fand (LG 8), so fehlte ihr auf dem Konzil jedoch die ekklesiologische Durchdringung.175 Die von Dom Helder C mara zu Beginn des Konzils einberufene Arbeitsgruppe „Kirche der Armen“ arbeitete daher intensiv an dem Thema weiter. Kurz vor Ende des Konzils am 16. November 1965 rief die Gruppe 40 Bischöfe in die Katakomben der Kirche Santa Domitilla zusammen, um sich dezidiert mit dem Thema „Kirche der Armen“ auseinander zu setzen.176 Die versammelten Bischöfe kamen überein, dass eine Hinwendung der Kirche zu den Armen auch die Kirche selbst verändern müsse, und unterzeichneten einen Pakt für eine „dienende und arme Kirche“. Mit ihrer Unterschrift verpflichteten sich die Bischöfe „in Armut zu leben, auf alle Symbole und Privilegien der Macht zu verzichten und die Armen ins Zentrum ihres 171 Wenzel, Geschichte, 177. 172 Dieser Dreischritt war erstmals in den 1920 Jahren von der Christlichen Arbeiterjugend formuliert worden und wurde von Papst Johannes XXIII. bereits in der Enzyklika Mater et Magistra (1961) aufgegriffen. Vgl. Mette, Sehen. 173 Der Text der Pastoralkonstitution ist abgedruckt in der gut lesbaren zweisprachigen Studienausgabe bei H nermann, Dokumente, 592–749. Vgl. zur Darstellung und Interpretation der einzelnen Textteile der Pastoralkonstitution: Wenzel, Geschichte, 179–205. 174 Vgl. Papst Johannes XXIII, Rundfunkbotschaft, 45. 175 Vgl. Sobrino, Kirche, 297. 176 Vgl. Arntz, Kirche, 302–304.

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Christentum und politische Entwicklungen in Lateinamerika im 20. Jhdt.

pastoralen Dienstes zu stellen“177. Dieser sog. „Katakombenpakt“, dem sich später weitere 500 Bischöfe anschlossen, wurde dem Papst übergeben, war aber kein offizielles Konzilsdokument. Für die lateinamerikanischen Kirchen stellte der Pakt allerdings einen wichtigen Referenzpunkt bei der Ausformulierung der befreiungstheologischen „Option für die Armen“ dar.178 Zum anderen wurde für die lateinamerikanischen Kirchen der in der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes entfaltete Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln wegweisend. Die lateinamerikanischen Bischöfe erkannten in dieser Methode ein angemessenes Instrument für die Verortung der Kirche in der lateinamerikanischen Realität. Bischof Manuel Larra n wandte sich daher vor Beginn der vierten und letzten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanums mit der Bitte an Papst Paul VI., das in Gaudium und Spes entwickelte Modell „Sehen – Urteilen – Handeln“ für den lateinamerikanischen Kontext zur Anwendung zu bringen und eine zweite Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe einzuberufen. Paul VI. folgte diesem Anliegen und schlug seinerseits den lateinamerikanischen Bischöfen vor, insbesondere das soziale Handeln in den Mittelpunkt der kirchlichen Pastoral zu stellen.179 Die zweite gesamtlateinamerikanische Bischofskonferenz (CELAM II) fand nach zweijähriger Vorbereitungszeit vom 24. August bis 6. September 1968 in Medell n / Kolumbien unter dem Titel „Die Kirche in der gegenwärtigen Umwandlung Lateinamerikas im Lichte des Konzils“ statt. Insgesamt nahmen an der Bischofskonferenz offiziell 181 Personen teil: 146 Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe, 20 Ordensleute und 15 Laien, dazu rund 120 Berater und Gäste.180 Ziel der Versammlung war es, ausgehend vom Zweiten Vatikanischen Konzil nun die „Zeichen der Zeit“ in Lateinamerika zu erkennen und als Kirchen auf den gesellschaftlichen Wandel zu reagieren. In der Botschaft der Konferenz riefen die Teilnehmer „alle Menschen guten Willens auf, an der Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit, an dieser Wandlungsaufgabe unserer Völker beim Anbruch eines neuen Zeitalters mitzuarbeiten“181. Die 16 Dokumente, die aus der Bischofskonferenz hervorgingen, orientierten sich an dem methodischen Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“, indem sie unter der Überschrift „Menschliche Entwicklung“ (Dokumente 1–5) zunächst die gesellschaftliche und soziale Situation in Lateinamerika in den Blick nahmen, daraus zweitens Überlegungen zur Pastoral unter der Überschrift „Verkün177 Sobrino, Kirche, 297 f. 178 Dem katholischen Theologen Norbert Arntz zufolge ist der „Katakombenpakt“ erst in jüngster Zeit (insbesondere im Zuge des 50-jährigen Gedenkens an den Beginn des Zweiten Vatikanums) wieder ins Bewusstsein der Theologie gerückt; vgl. Arntz, Kirche, 297. 179 Vgl. Meier / Strassner, Entwicklungslinien, 10. Bischof Larra n selbst erlebte die Bischofskonferenz nicht mit: Er starb bei einem Verkehrsunfall im Jahr 1966; vgl. Goldstein, Armen, 69. 180 Vgl. Dussel, Geschichte, 229; Smith, Emergence, 159. Unter den überwiegend männlichen Teilnehmern befanden sich nur 4 Ordensfrauen und 4 Laiinnen. 181 Adveniat, Dokumente, 11.

Die 1960er und 1970er Jahre in Lateinamerika

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digung und Glaubenswachstum“ (Dokumente 6–9) ableiteten und drittens konkrete Empfehlungen für „Die sichtbare Kirche und ihre Strukturen“ (Dokumente 10–16) gaben. Geprägt waren die Beschlüsse von Medell n vor allem durch die Haltung der „Option für die Armen“, die in nahezu allen Dokumenten thematisiert wurde.182 Das Dokument 14, das sich dezidiert mit der „Armut der Kirche“ befasste, unterschied zwischen materieller Armut, geistiger Armut und solidarischer Armut und rief die Kirchen dazu auf, die Haltung einer armen Kirche einzunehmen, die folgendermaßen charakterisiert sei: „Sie [eine arme Kirche] klagt den ungerechten Mangel der Güter dieser Welt und die Sünde an, die ihn hervorbringt. Sie predigt und lebt die geistige Armut als Haltung der geistigen Kindschaft und Öffnung zu Gott. Sie verpflichtet sich selbst zur materiellen Armut. […] Die Armut der Kirche und ihrer Mitglieder in Lateinamerika muß Zeichen und Verpflichtung sein, Zeichen des unschätzbaren Wertes des Armen in den Augen Gottes, und Verpflichtung zur Solidarität mit denen, die leiden.“183

Dieser „Option für die Armen“ folgend rief die Bischofskonferenz in Dokument 15 („Pastoral de conjunto“) zur regelmäßigen Überprüfung kirchlicher Strukturen auf und erstellte Leitlinien zur Erneuerung pastoraler Strukturen. Dazu zählte auch die Einrichtung und Förderung christlicher Basisgemeinschaften, die aus Sicht der Bischöfe Kernzellen zur Evangelisierung und zur menschlichen Entwicklung und Bildung darstellten.184 Ein weiteres virulentes Thema der Bischofskonferenz war das Thema „Frieden“. Ausgehend von der Enzyklika Populorum Progressio, in der Papst Paul VI. 1967 Entwicklung als neuen Namen für Frieden proklamierte185, wurde in Medell n Frieden in einem sehr umfassenden Sinn verstanden. Frieden bedeutete demnach nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern jegliche „Situation von Ungerechtigkeit“186, angefangen von Differenzen und Machtgefällen zwischen sozialen Klassen über internationale Spannungen und Formen des Neokolonialismus bis hin zu übersteigertem Nationalismus und Rüstungswetteifer zwischen lateinamerikanischen Ländern. Diese Formen der Ungerechtigkeit bezeichnete das Dokument als „institutionalisierte Gewalt“187, welcher Kirchen und Christen entschieden entgegentreten müssten. Wie der brasilianische Theologe Jos Oscar Beozzo rückblickend festhielt, verhinderte die Bischofskonferenz damit, Gewalt nur einseitig als Aufstand der Armen zu verstehen, sondern verwies erstmals auf die Problematik struktureller Gewalt wie Hunger, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder mangelnde 182 183 184 185 186 187

Vgl. Meier / Strassner, Entwicklungslinien, 12. Adveniat, Dokumente, 134 und 136. Vgl. ebd., 144. Populorum Progressio, Nr. 87. Adveniat, Dokumente, 27. Ebd., 35.

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Bildungsmöglichkeiten.188 Allerdings kritisierte die Bischofskonferenz auch die revolutionäre Gewalt, mit der Menschen gegen die strukturelle Unterdrückung ankämpften: Zwar sei sie oftmals gerechtfertigt, jedoch rufe sie immer auch neues Leid und Unrecht hervor.189 Aufgabe der Kirchen sei es, „all das, was gegen die Gerechtigkeit verstößt, und damit den Frieden zerstört, anzuklagen“ und die „Schaffung einer gerechten Sozialordnung“190 voranzutreiben. Mit diesen Forderungen und Einsichten kontextualisierte die Bischofskonferenz in Medell n die Ergebnisse des Zweiten Vatikanums, indem sie die Notwendigkeit des aggiornamento des Evangeliums für die lateinamerikanische Wirklichkeit unterstrich, ging aber zugleich über die offiziellen Beschlüsse des Konzils hinaus. Aus der Fokussierung auf die Themen Frieden, Gerechtigkeit und Armut resultierte eine dreifache Option der lateinamerikanischen Kirchen: eine Option für die Armen, eine Option für ganzheitliche Entwicklung und Befreiung aus struktureller Unterdrückung und eine Option für die Erneuerung pastoraler Strukturen in Form christlicher Basisgemeinden.191 Durch diese inhaltliche Orientierung sowie den methodischen Dreischritt „Sehen – Urteilen – Handeln“ stellte Medell n den Markstein in der Geschichte der lateinamerikanischen Theologie des 20. Jahrhunderts dar, an dem erstmals in umfassender Weise befreiungstheologische Ansätze artikuliert und diskutiert wurden.192 In den folgenden Jahren entfalteten sowohl katholische als auch protestantische Theologen diese Perspektive und machten die lateinamerikanische Befreiungstheologie zum Vorbild für kontextuelle Theologien in anderen Teilen der Welt.193

188 Vgl. Beozzo, Medell n, 38; Beozzo, Konzil, 233–238. 189 Vgl. Adveniat, Dokumente, 36. Ein Beispiel für revolutionäre Gewalt, die sich gegen die strukturelle Gewalt erhob, stellte die Radikalisierung des kolumbianischen Priesters Camilo Torres dar, der sich 1965 der Guerilla anschloss und wenig später von Regierungstruppen erschossen wurde. Vgl. Guzman Campos, Torres; Hochmann / Sonntag, Christentum; L ning, Torres. 190 Vgl. Adveniat, Dokumente, 36. 191 Vgl. Collet, Medell n, 29. 192 Vgl. Suess, Zeichen, 19. Zur Rezeption von Medell n vgl. weiterhin u. a. den Sammelband anlässlich des 35. Jahrestages von Medell n: Schreij ck, Stationen. Vgl. außerdem Lateinamerika-Nachrichten, Themenheft. 193 Als Hauptwerke der Theologie der Befreiung seitens römisch-katholischer Theologen gelten u. a.: Guti rrez, Theologie; Segundo, Liberation; Assmann, Opresi n; Boff, Charisma. Auf protestantischer Seite waren in den 1970er Jahren folgende Publikationen einflussreich: Alves, Theology; M guez Bonino, Theologie; Santa Ana, Nachricht. Vgl. einführend auch das hervorragende zweibändige Werk „Mysterium Liberationis“, in dem Grundbegriffe der Theologie der Befreiung von bedeutenden (katholischen) Befreiungstheologen vorgestellt werden: Ellacur a / Sobrino, Mysterium. Nach dem Vorbild der lateinamerikanische Befreiungstheologie entstanden in den 1970er und 1980er Jahren weitere Befreiungstheologien, wie die Feministische Theologie, die Black Theology, Minjung-Theologie, etc. Vgl. einführend: Rowland, Companion.

Die 1960er und 1970er Jahre in Lateinamerika

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Doch die Bischofskonferenz in Medell n war nicht der einzige Ort des Aufbruchs innerhalb der katholischen Kirche in Lateinamerika. In weitaus radikalerer Weise schlossen sich ab Ende der 1960er Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern Priester in linken Aktionsgruppen zusammen und forderten gemeinsam eine dezidiertere Teilnahme der katholischen Kirche am revolutionären Umbruch. Sie riefen die Bischöfe in ihren Ländern zum entschiedeneren Handeln gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung auf und forderten eine schnellere Umsetzung der Beschlüsse von Medell n. Zu diesen Gruppen gehörten u. a. die 1968 in Argentinien entstandene Bewegung „Priester der Dritten Welt“194 sowie die im gleichen Jahr gegründete Priesterbewegung ONIS (Oficina Nacional de Informaci n Social) in Peru.195 In Kolumbien hatten sich durch den Tod des Priesters Camillo Torres, der sich November 1965 der Guerilla angeschlossen hatte und wenige Monate später im Februar 1966 von Regierungstruppen erschossen worden war, 50 Priester in der Gruppe „Golconda“ zusammengeschlossen, um die Forderungen Torres’ mit den Beschlüssen von Medell n zu verbinden.196 Diese Gruppe bildete dann auch den Kern der 1972 gegründeten Bewegung „Priester für Lateinamerika“.197 Eine der in Europa am bekanntesten gewordenen linken lateinamerikanischen Priestergruppen war die 1971 in Chile gegründete Bewegung „Christen für den Sozialismus“, die das sozialistische Projekt Salvador Allendes aus kirchlicher Sicht unterstützte, nach dessen Sturz 1973 allerdings nur im Untergrund und im Exil weiterwirken konnte.198 Zusammenfassend gesehen befand sich die katholische Kirche und Theologie in Lateinamerika in den 1960er und 1970er Jahren in einem Aufbruch bisher ungekannten Ausmaßes. Durch das Zweite Vatikanische Konzil und dessen lateinamerikanischer Aneignung auf der Bischofskonferenz in Medell n 1968 war der Wille zur Veränderung auf allen Ebenen der Kirche eingezogen. Zum Aushängeschild dieses umfassenden Umbruchs entwickelte sich die Befreiungstheologie und die durch sie formulierte „Option für die Armen“. Allerdings schieden sich insbesondere an der Frage der Gewaltanwendung zur Aufrichtung gerechter Strukturen innerhalb der katholischen Kirche die Geister. Die Entstehung linker Priesterbewegungen in vielen lateinamerikanischen Ländern war ein Beispiel für die Radikalisierung eines Teils der katholischen Kirche, der in den 1970er Jahren allerdings zunehmend politischen Repressionen ausgesetzt war und von der kirchlichen Hierarchie letztlich nicht getragen wurde.

194 Movimiento Sacerdotes para el Tercer Mundo (MSTM). Vgl. Mallimaci / Gim nez B liveau, Argentinien, 421–424. 195 Vgl. Imhof / Strassner, Peru, 351 f. 196 Vgl. Dussel, Geschichte, 262–268. 197 Vgl. Frank, Kolumbien, 314. 198 Vgl. Strassner, Chile, 395 f. Zur Rezeption in Deutschland vgl. u. a. die Einführung von Sçlle, Christen.

Teil II Die Anfänge: Lateinamerika und der Ökumenische Rat der Kirchen 3. Die Integration Lateinamerikas in den ÖRK in den 1950er Jahren Lateinamerika war von der ökumenischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend ausgeschlossen.1 Erst mit der Gründung des ÖRK in Amsterdam 1948 begann die intensivere Zusammenarbeit zwischen dem lateinamerikanischen Protestantismus und der internationalen Ökumene. Allerdings war auch in der Gründungsphase des ÖRK das Interesse an den Entwicklungen in Lateinamerika beschränkt, da sich der ÖRK in dieser Zeit vorrangig dem Wiederaufbau Europas und der politischen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg widmete.2 Dies zeigte sich bereits in den Vorbereitungen der Amsterdamer Vollversammlung, als im Februar 1946 – nur wenige Monate nach Kriegsende – das vorläufige Komitee des Ökumenischen Rates zusammenkam. Es bestand aus Personen, die über den Zweiten Weltkrieg hinweg die Vision einer internationalen Kirchengemeinschaft aufrecht erhalten hatten, darunter zahlreiche bekannte Persönlichkeiten aus den europäischen Widerstandsbewegungen gegen den Nationalsozialismus, wie die beiden deutschen Pfarrer und Mitglieder der Bekennenden Kirche Martin Niemöller und Theophil Wurm, der Niederländer Hendrik Krämer und der lutherische Bischof Eivind Berggrav aus Norwegen.3 Sie einte die Vision eines friedlichen Europas, welche zwei Jahre später in Amsterdam mit dem Appell „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“4 bekräftigt wurde und sich zum Symbol der ökumenischen Bewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte.5 Dass es sich bei der Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948 um ein kirchliches Weltereignis mit europäisch-nordamerikanischem Akzent han1 Vgl. oben S. 36–40. 2 Vgl. zur Geschichte der ökumenischen Bewegung bis 1950 und zur Entstehung des ÖRK vgl. Visser ’t Hooft, Ursprung, bes. 65–70. Vgl. außerdem zur Einführung: A History of the Ecumenical Movement, Bd. 2 (1948–1968) sowie Bd. 3 (1968–2000); Elderen, Zeugnis; Frieling, Weg; Boyens, Rat; Link / M ller-Fahrenholz, Hoffnungswege; Dehn, Christentum; aus lateinamerikanischer Perspektive: Santa Ana, Ecumenismo, 221–258. 3 Vgl. die eindrücklichen Schilderungen bei: Visser ’t Hooft, Welt, 235–238. 4 Amsterdamer Dokumente, 64. 5 Vgl. zur Entwicklung einer ökumenischen Friedensethik die Ausführungen von Enns / von Twardowski, Ehre; vgl. ausführlich Enns, Ökumene.

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Lateinamerika und der Ökumenische Rat der Kirchen

delte, machte nicht zuletzt die Verteilung der Delegiertensitze deutlich: Von den 351 Delegierten kamen nur 52 Delegierte (15 %) aus den sogenannten „jungen Kirchen“, darunter vier Personen aus Lateinamerika.6 Als Mitgliedskirchen stellten die Kirchen aus Afrika, Asien und Lateinamerika in Amsterdam nur ein Viertel dar; bei der zweiten Vollversammlung in Evanston 1954 bildeten sie dann bereits ein knappes Drittel (30 %). Der Missionsdirektor der Berliner Missionsgesellschaft der DDR, Gerhard Brennecke, kommentierte diese Entwicklung positiv: Es könne kein Zweifel mehr daran bestehen, „wie sehr die Bruderkirchen aus Asien und Afrika heute ihren vollen und gleichberechtigten Platz in der Ökumene eingenommen haben“7. Allerdings war dieser Wunschgedanke in Evanston noch keinesfalls Realität, da trotz der langsam steigenden Anzahl von Mitgliedskirchen aus den nichtwestlichen Regionen der Dialog mit den Kirchen aus Europa und Nordamerika in keineswegs gleichberechtigter Weise stattfand. Die Situation in Lateinamerika ließ der Bericht noch völlig unbeachtet. Den entscheidenden Unterschied in der Wahrnehmung von Kirchen der Dritten Welt und ihrer Integration in den ÖRK machte erst die dritte Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi 1961.8 Sie war die erste Vollversammlung auf nicht-westlichem Boden und brachte die Perspektive der „jungen Kirchen“ – nicht zuletzt aufgrund der Integration des Internationalen Missionsrates in den ÖRK9 – deutlich zum Ausdruck. Die Anzahl der Mitgliedskirchen aus Afrika, Asien und Lateinamerika stieg auf 40 % und die Vertreter aus diesen Regionen machten nun insgesamt ein Viertel (25 %) aller Delegierten aus. Auch die lateinamerikanischen Kirchen nahmen in Neu-Delhi eine sichtbarere Position unter den Mitgliedskirchen und Repräsentanten innerhalb des ÖRK ein. Das folgende Kapitel skizziert zunächst die Repräsentation Lateinamerikas im ÖRK in dessen Gründungsphase und untersucht dann die Ursachen für die schrittweise Integration des lateinamerikanischen Protestantismus in die internationale Ökumene. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung des Studienprogramms „Rapid Social Change“, das die Vollversammlung des 6 Die Zahlen beruhen auf der statistischen Erhebung des DFG-Forschungsprojektes „Globales Christentum“ (2008–2011) und sind veröffentlicht in: Kunter / Schilling, Globalisierung, 342 f. Einziges vorbereitendes Mitglied der „jungen Kirchen“ für die Vollversammlung in Amsterdam war der indische Ökumeniker M. M. Thomas. Vgl. den Nachruf von Paul Abrecht auf M. M. Thomas: Abrecht, Memoriam. 7 Gr ber / Brennecke, Christus, 473. In dem von Heinrich Grüber und Gerhard Brennecke herausgegebenen Berichtband über die Vollversammlung in Evanston 1954 (Evangelische Verlagsanstalt Berlin) wurden die „drängende[n] Fragen“ Afrikas und Asiens allerdings lediglich unter der Rubrik „Streiflichter“ behandelt; vgl. ebd. 419–443. Zu Brenneckes ökumenisch-missionarischem Wirken vgl. Visser ’t Hooft, Brennecke; Althausen, Zeugnis; vgl. im Besonderen zu seiner Tätigkeit als Chefredakteur der evangelischen Zeitschrift „Die Zeichen der Zeit“: Bulisch, Presse, 65–74, u. ö. 8 Vgl. ausführlich Kunter / Schilling, Christ, 29–37. 9 Vgl. Wrogemann, Missionstheologien, 105 f.

Die Integration Lateinamerikas in den ÖRK in den 1950er Jahren

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ÖRK in Evanston 1954 eingesetzt hatte, um die gesellschaftspolitische Aktivität der Kirchen in der Dritten Welt zu stimulieren und diese zur verantwortlichen Teilnahme an den Umwälzungen in ihren Ländern aufzurufen. Es wird ausgeführt, inwiefern das Studienprogramm auch für die wachsende Aktivität Lateinamerikas im ÖRK in den 1960er Jahren verantwortlich war und wie sich dies auf die ökumenische Zusammenarbeit auswirkte. 3.1 Die Repräsentation Lateinamerikas in der Gründungsphase des ÖRK Da die lateinamerikanischen Kirchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an internationalen Konferenzen der ökumenischen Bewegung nur marginal beteiligt wurden, überrascht die geringe lateinamerikanische Repräsentanz in Amsterdam 1948 nicht. Nur vier Mitgliedskirchen aus dem lateinamerikanischen und karibischen Raum gründeten den ÖRK mit: die methodistische und die presbyterianische Kirche in Brasilien, die methodistische Kirche in Mexiko und die anglikanische Kirche von den westindischen Inseln. Aus diesen Kirchen waren auch nur vier Delegierte in Amsterdam anwesend, die jedoch nicht durch aktive Beteiligung oder eigene Beiträge hervortraten.10 Auch wenn die lateinamerikanischen Kirchen in der Gründungsphase des ÖRK weit weniger repräsentiert waren als die Kirchen aus Asien und Afrika, zeichnete sich bis in die 1960er Jahre hinein dennoch ein Zuwachs ab: In den 1950er Jahren wurden mit der Evangelischen Kirche lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (1950) und der Evangelischen Kirche am R o de la Plata in Argentinien, Uruguay und Paraguay (1956) zwei lutherische Kirchen mit deutschen Wurzeln als Mitglieder in den ÖRK aufgenommen, und mit der Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 kamen schließlich die presbyterianische Kirche in Trinidad und Tobago aus der Karibik sowie die ersten beiden lateinamerikanischen Pfingstkirchen hinzu: die Pfingstkirche von Chile und Pfingstkirchliche Mission in Chile.11 Auch innerhalb der programmatischen Arbeit rückte der lateinamerikanische Kontinent Anfang der 1950er Jahre in das engere Blickfeld des ÖRK: Die Abteilung für zwischenkirchliche Hilfe und Flüchtlingsdienst (Department of Inter-Church Aid and Service to Refugees – DICASR; ab 1960 Division of Inter-Church Aid, Refugee and World Service – DICARWS) unterstützte im Jahr 1950 insgesamt 50.206 Flüchtlinge, hauptsächlich orthodoxer und lutherischer Konfession, um aus Osteuropa, dem mittleren Osten und dem 10 Es handelte sich um Prof. Josue Cardoso d’Affonseca und Dr. Samuel Rizzo aus Brasilien, Bischof Eleazar Guerra aus Mexiko und Pfarrer G. Tonks von den westindischen Inseln. Als Vertreter der Methodist Missionary Society of Great Britain war außerdem von den westindischen Inseln Pfarrer Errol Stephen Montrose in Amsterdam anwesend, der jedoch keine selbstständige Kirche vertrat und daher in die Zählung nicht mit einbezogen wird. Vgl. die Teilnehmerlisten in: Who’s who, Assembly, 5–19. 11 Vgl. das Online-Handbuch zur RK-Mitgliedschaft.

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Lateinamerika und der Ökumenische Rat der Kirchen

arabischen Raum in die USA, nach Kanada, Australien sowie nach Südamerika zu emigrieren.12 Zur Koordinierung der Flüchtlingsarbeit in Südamerika richtete der ÖRK 1955 ein Büro für Flüchtlingsdienste in Rio de Janeiro ein – die erste sichtbare Aktivität des ÖRK in Lateinamerika.13 Der Zuwachs von Mitgliedskirchen sowie die ökumenische Flüchtlingsarbeit in der Region führten auch dazu, dass Lateinamerika auf der zweiten Vollversammlung des ÖRK in Evanston 1954 mit einem eigenen Beitrag zu Wort kam. Der methodistische Bischof Sante Uberto Barbieri aus Argentinien hielt am Rande der Vollversammlung im Besucherprogramm einen Vortrag zu „Crucial Situations in Latin America“14. Barbieri, Sohn einer italienischen Einwandererfamilie, hatte in den 1920er Jahren Theologie im brasilianischen Porto Alegre sowie an der Southern Methodist University in Dallas und der Emory University in Atlanta / USA studiert und war 1949 zum Bischof der methodistischen Kirche von Argentinien, Bolivien und Uruguay ernannt worden.15 Mit der Vollversammlung in Evanston begann auch sein internationales ökumenisches Engagement, zunächst in der repräsentativen Funktion als einer von sechs ehrenamtlichen Präsidenten des ÖRK und zwischen 1961 und 1968 als Mitglied im Zentral- und Exekutivausschuss. Gegenstand seines Vortrags in Evanston war die Religionsfreiheit der protestantischen Kirchen in Lateinamerika, die Barbieri durch die Vorherrschaft der römisch-katholischen Kirche grundlegend infrage gestellt sah. Er verstand die katholische Kirche als eine „anti-protestant force“16, die Lateinamerika als ihren naturgegebenen Besitz betrachte und massive Vorurteile gegenüber den protestantischen Kirchen hege. Die größte Anschuldigung seitens der römisch-katholischen Kirche gegen den Protestantismus bestand Barbieri zufolge darin, dass sie die Mitarbeiter der nordamerikanischen Missionsgesellschaften in Lateinamerika als ,Agenten des Imperialismus‘ brandmarke und es daher zu großen Verfolgungen von Protestanten käme.17 Die Perspektive weltweiter ökumenischer Zusammenarbeit, wie sie von Genf ausging, sei daher in der derzeitigen Situation in Lateinamerika noch undenkbar: „We regret to have to say these things in an hour when we would like to have a brotherly approach with every Christian in the world. But there is no hope of a common Christian front in the world, until the day when the Roman Catholic

12 Vgl. Murray, Service, 214. 13 Vgl. Hollenweger, Report for the Enlarged Latin American Working Party, Geneva, 24.–26. 7. 1969, 1, AÖRK 42.55.10. 14 Sante Uberto Barbieri, Crucial Situations in Latin America, AÖRK 32.17/07. 15 Die methodistischen Kirchen in diesen Ländern wurden erst 1965 unabhängig von den Missionskirchen in den USA. Vgl. zur Biographie Barbieris: Odell, Barbieri. 16 Barbieri, Crucial Situations in Latin America, 3, AÖRK 32.17/07. 17 Vgl. ebd., 3 f.

Die Integration Lateinamerikas in den ÖRK in den 1950er Jahren

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Church retraces her steps and extends to us the right hand of fellowship as brothers on equal terms.“18

Für Barbieri war die Versöhnung mit den römisch-katholischen Geschwistern das größte Anliegen des ökumenischen Dialogs, auch wenn er den protestantischen Kirchen hier nur eine beschränkte Handlungsfähigkeit zugestand. Erst wenn die konfrontative Haltung zwischen den beiden Konfessionen aufgelöst sei, könnten die Kirchen eine „common Christian front in the world“ bilden, so Barbieri. Mit seinem Vortrag kennzeichnete der argentinische Bischof die Vorherrschaft der römisch-katholischen Kirche in Lateinamerika erstmals als ökumenisches Problem, auf das die lateinamerikanischen Protestanten reagieren müssten. Allerdings konnten sie Barbieri zufolge aus eigener Kraft wenig zur Verbesserung der ökumenischen Beziehungen beitragen, sondern waren in erster Linie auf die Kooperationsbereitschaft der katholischen Geschwister angewiesen. Die weltweite ökumenische Gemeinschaft wurde in Evanston von lateinamerikanischen Vertretern wie Bischof Barbieri zwar als Ort des internationalen Austauschs verstanden, doch Erwartungen hinsichtlich einer Verbesserung der ökumenischen Situation vor Ort durch die internationale Ökumene wurden dabei nicht formuliert. Ebensowenig stand zu Beginn der 1950er Jahre im Fokus, welchen Beitrag die lateinamerikanischen Kirchen in die internationale Ökumene einbringen würden. Erst das durch die Vollversammlung in Evanston angestoßene Rapid Social ChangeProgramm änderte die Lage und führte zu einer stärkeren wechselseitigen Wahrnehmung der lateinamerikanischen protestantischen Kirchen und des ÖRK. 3.2 Das Studienprogramm „Rapid Social Change“ und seine Relevanz für Lateinamerika Ein Jahr nach der Vollversammlung in Evanston verabschiedete der Zentralausschuss des ÖRK in Davos / Schweiz 1955 ein dreijähriges ökumenisches Studienprogramm zur Analyse des raschen sozialen Wandels in Asien, Afrika und Lateinamerika und den sich daraus ergebenden Fragen für die Kirchen. Der Titel des Programms The Common Christian Responsibility towards Areas of Rapid Social Change. A Study of the Meaning of Responsible Emancipation19 war ein Ausdruck für das in Evanston formulierte Anliegen der Kirchen, das sozialethische Leitkonzept der „verantwortlichen Gesellschaft“, auf das sich die Kirchen bereits auf der ersten Vollversammlung in Amsterdam geeinigt hatten, nun auf den Weltmaßstab zu übertragen.20 Unter der ,gemeinsamen 18 Ebd., 6. 19 Vgl. Central Committee Davos 1955, 103. 20 Vgl. ausführlich zum Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ unten S. 127–131.

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Lateinamerika und der Ökumenische Rat der Kirchen

christlichen Verantwortung‘ wurde einerseits die Verantwortung des Westens gegenüber den „jungen Nationen“ verstanden, diese in ihrem Streben nach politischer Freiheit zu unterstützen, andererseits drückte diese Formulierung die Notwendigkeit aus, die Kirchen in Asien, Afrika und Lateinamerika zur größeren Eigenverantwortung angesichts der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche in ihren Ländern zu befähigen. Das folgende Kapitel untersucht, inwieweit das Rapid Social Change-Programm zur Integration des lateinamerikanischen Protestantismus in die internationale Ökumene beigetragen hat. Dabei wird zuerst das Anliegen und die Arbeitsweise des Studienprogramms vorgestellt, um in einem zweiten Schritt dann die Auswirkungen auf die lateinamerikanischen Kirchen zu prüfen. 3.2.1 Die ökumenische Verantwortung der Kirchen angesichts des raschen sozialen Wandels Als Gebiete raschen sozialen Wandels wurden in der ökumenischen Diskussion der 1950er Jahre die Kontinente Asien, Afrika und Lateinamerika bezeichnet. Im Zuge der Dekolonisationsprozesse der 1940er und 1950er Jahre war es insbesondere in den Ländern Asiens und Afrikas in kürzester Zeit zu grundlegenden Brüchen mit den bislang geltenden kolonialen Strukturen und Ordnungen gekommen.21 Die Bezeichnung „social changes“ bezog sich daher sowohl auf den politischen Wandel im Zuge der Unabhängigkeitsprozesse und die Bildung von Nationalstaaten als auch auf die wirtschaftliche Neuorientierung aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung und Technisierung sowie auf die damit einhergehenden grundlegenden sozialen und kulturellen Veränderungen der jeweiligen Gesellschaften.22 Mit dem Studienprogramm verfolgte der ÖRK zwei Ziele: Das erste Ziel war es, Christen und Kirchen in Asien, Afrika und Lateinamerika dazu zu befähigen, sich den Herausforderungen des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandels in ihren Gesellschaften bewusst zu werden und als Kirchen gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Die Grundentscheidung des Zentralausschusses in Davos lautete, das Studienprogramm in den Regionen unter „indigenous leadership”23 zu stellen und damit das Programm fest in den jeweiligen Regionen zu verankern. Das zweite Ziel des Studienprogramms bestand darin, dass sich die Christen des westlichen Kulturkreises ihrer eigenen Verantwortung in Bezug auf die Umbrüche in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas bewusst werden sollten. Ihre Aufgabe war es, die 21 Einführend zum Thema Dekolonisation aus globalgeschichtlicher und transnationaler Perspektive vgl. Kruke, Dekolonisation; vgl. darin bes. zum Verhältnis von Kirchen und Dekolonisation: Ludwig, Unabhängigkeitsbestrebungen, 73–98. Vgl. einführend zur Bedeutung der Dekolonisationsprozesse für den ÖRK: Kunter / Schilling, Christ, 28–37. 22 Vgl. Abrecht, Churches, 13. 23 Central Committee Davos 1955, 104.

Die Integration Lateinamerikas in den ÖRK in den 1950er Jahren

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Rolle der wirtschaftlichen und technischen Hilfe des Westens in den unterentwickelten Ländern in sozialer und geistlicher Hinsicht sowie im Blick auf die Etablierung einer Weltgemeinschaft zu untersuchen.24 Das Rapid Social Change-Programm legte somit den Blick darauf frei, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche der Gebiete raschen sozialen Wandels nicht als regionale Probleme, sondern als „world problems“25 wahrzunehmen. Das bedeutete, dass im ökumenischen Verständnis diese Regionen nicht sich selbst überlassen bleiben durften, sondern dass auch die westlichen Kirchen ihre Verantwortung im Hinblick auf die Entwicklung der Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas erkennen sollten. Um die ökumenische Tragweite dieses Ansatzes zu unterstreichen, stellte der Zentralausschuss in Davos die Debatte über die gemeinsame Verantwortung der Kirchen hinsichtlich des raschen sozialen Wandels unter die theologische Überschrift „Einheit der Menschheit“: „The problems of areas of rapid social change in Asia, Africa and Latin America must be seen as world problems. The social awakening of these countries has come about through the impact of western technology, education and religion; and the way in which the West responds will help to determine whether this awakening will find its creative fulfilment [sic!] in the development both of a better community life in Asia and Africa and of human solidarity.“26

An einer so verstandenen „verantwortlichen Gesellschaft in weltweiter Perspektive“ deutete sich jedoch bereits ein grundlegendes Problem des Studienprogramms an, denn der Erfolg des Programms hing – so das Verständnis des Zentralausschusses in Davos – noch immer vom Engagement und Einfluss der westlichen Kirchen ab: Die ,kreative Erfüllung‘ für die Aufrichtung neuer Gesellschaften in den dekolonisierten Gebieten war an das Wohlwollen des Westens gekoppelt. Das Studienprogramm war zunächst auf drei Jahre angelegt und wurde finanziell vor allem durch eine Spende des US-amerikanischen Unternehmers John D. Rockefeller Jr. in Höhe von 100.000 US $ ermöglicht.27 Nachdem aufgrund des großen Interesses vieler Kirchen weitere Spenden in Höhe von 150.000 US $ eingegangen waren, konnte das Programm auf insgesamt 5 Jahre ausgedehnt werden.28 Die internationale Koordination des Rapid Social Change-Programms lag bei der ÖRK-Studienabteilung „Kirche und Gesellschaft“ unter der Leitung des US-amerikanischen Theologen und Sozialethi24 25 26 27

Vgl. ebd., 105. Ebd., 104. Ebd. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 220. Rockefeller Jr. stand der ökumenischen Bewegung, insbesondere dem ÖRK, sehr wohlgesonnen gegenüber. Er ermöglichte u. a. den Kauf des Ch teau de Bossey, das seit 1946 als Ökumenisches Institut vielen Generationen ökumenische Bildung ermöglicht. Vgl. Chandler, Fathers, 80 und 83. 28 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Evanston, 53.

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kers Paul Abrecht; ihm stand der japanische Theologe Daisuke Kitagawa zur Seite, der sich später insbesondere durch Studien zu Afrika profilierte.29 Der niederländische Agrar- und Sozialwissenschaftler Egbert de Vries wurde zum Vorsitzenden des Arbeitsausschusses des Referats ernannt und unterstützte die Arbeit nicht nur durch die Vorbereitung von Tagungen und Sitzungen, sondern vor allem mit zahlreichen sozialethischen Beiträgen.30 Hauptgegenstand des Programms zum raschen sozialen Wandel waren insbesondere Konferenzen und Studientagungen auf internationaler, nationaler und regional-lokaler Ebene, die sich vier Themenbereichen widmeten. Unter der Überschrift „Responsible Citizenship“ wurden erstens die politischen Entwicklungen der dekolonisierten Gebiete im Zuge des nation-building erörtert. Besondere Aufmerksamkeit kam dabei der Frage nach der Bedeutung des Staates, der Rolle demokratischer Institutionen und Parteien zu. Zweitens wandte sich das Studienprogramm mit dem Thema „Village and Rural Life“ den Veränderungen im ländlichen Leben zu, insbesondere den veränderten familiären Bedingungen, den wirtschaftlichen und sozialen Strukturen von Dörfern sowie der Frage nach Bodenbesitzverhältnissen. An dritter Stelle stand das mit der wachsenden Industrialisierung einhergehende Problem der Verstädterung („The Problems of Urbanization“), das nicht nur die Loslösung von sozialen und kulturellen Traditionen zur Folge hatte, sondern auch große Probleme für Gesundheit und Bildung mit sich brachte. Viertens beschäftigte sich das Studienprogramm mit der Frage nach dem Einfluss ausländischer Unternehmen und internationaler Hilfe („The Impact of Foreign Enterprise and International Assistance“).31 In allen vier Themenbereichen ging es dabei nicht nur um die Analyse der jeweiligen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation, sondern konkret um die Frage nach der Rolle und Verantwortung von Christen und Kirchen angesichts der umfassenden Transformationsprozesse. Die Aufmerksamkeit der Programmarbeit konzentrierte sich zunächst vornehmlich auf Asien. Bereits vor der Vollversammlung in Evanston hatten zwei Konferenzen im thailändischen Bangkok 1949 sowie im indischen Lucknow 1952 stattgefunden, die sich dezidiert mit der nationalen Entwicklung in Südostasien befassten und gute Anknüpfungsmöglichkeiten für das Studienprogramm boten.32 Für den asiatischen Kontext war die Frage des nation29 30 31 32

Vgl. Kitagawa, Africa. Vgl. insbesondere der Auswertungsband: Vries, Man. Vgl. Central Committee Davos 1955, 105 f. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 182–199. Die ökumenische Studienkonferenz in Lucknow / Indien 1952 war eine von der Studienabteilung des ÖRK durchgeführte Konferenz, die sich mit der Frage beschäftigte, wie die politische Situation und die jeweils nationalen Entwicklungen der asiatischen Länder in die internationale ökumenische Diskussion eingeführt werden können. Dejung weist darauf hin, dass die in Lucknow 1952 identifizierten „Schlüsselprobleme der Länder Asiens” zu Schwerpunkten des Gesamtprogramms zum Rapid Social Change gemacht wurden (vgl. ebd., 223). Für die Vorbereitung und Annahme des Studienprogramms in Asien

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building und des damit einhergehenden Aufbaus demokratischer Gesellschaften das entscheidende Thema.33 Afrika stand weit weniger im Mittelpunkt des Studienprogramms, war aber aufgrund der sich in den 1950er Jahren noch vollziehenden Dekolonisationsprozesse und den sich daran anschließenden Fragen der Staatenbildung eng mit dem asiatischen Kontext verknüpft. Der Unterschied zu Asien bestand darin, dass der Kolonialismus in Afrika noch eine reale Größe darstellte, der dagegen in Asien bereits als weitgehend überwunden galt.34 Die Situation in Lateinamerika stellte hingegen einen Sonderfall dar, der sich grundlegend von Afrika und Asien unterschied: Der Kampf um die politische Unabhängigkeit lag in Lateinamerika schon über 100 Jahre zurück, so dass der Kontinent in den 1950er Jahren nun vor der Frage stand, wie nach der politischen auch die wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit gelingen könnte. Auch die europäischen Kirchen versuchten, sich inhaltlich in die Arbeit des Studienprogramms einzubringen, doch blieben sie hinter dem Anspruch des Programms weit zurück. Dies zeigte sich insbesondere an der 1958 im dänischen Odense stattfindenden europäischen Konsultation unter dem Titel „The specific European responsibilities in relation to Africa and Asia“. Diese stand noch ganz im Zeichen der Ausdehnung technischer Hilfsleistungen für Asien und Afrika und blendete dabei eine selbstkritische Überprüfung des Einflusses europäischer und nordamerikanischer Investitionen und Hilfsdienste in den weniger industrialisierten Regionen weitgehend aus.35 Den Höhepunkt des Studienprogramms bildete die internationale Studienkonferenz in Thessaloniki im Sommer 1959, auf der die Erträge des Programms zusammengefasst und auf ihre Umsetzung hin geprüft wurden. Die internationale Reichweite des Studienprogramms zeigte hier einen ersten Erfolg, denn von den insgesamt 146 Teilnehmenden kam die Hälfte aus Asien, Afrika und Lateinamerika, mehrheitlich Laien aus den Bereichen Wirtschaft, Bildung, Politik und Soziales.36 Diese Zusammensetzung ermöglichte aber vor allem, dass die drei Arbeitsgruppen zu den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Schwerpunkten der Konferenz fachgerecht besetzt werden konnten.37

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spielte insbesondere der indische Ökumeniker M. M. Thomas eine wichtige Rolle, der sich bereits im Vorfeld der Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948 kritisch mit dem westlichen Imperialismus auseinandergesetzt hatte. Vgl. Thomas, Lage, 84–95; vgl. dazu Dejung, Entwicklungskonflikt, 141–145. Vgl. Thomas, Churches. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Dejung, Entwicklungskonflikt, 240–256. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 261. Vgl. World Council of Churches, Responsibilities. Vgl. zur Einschätzung der Rolle der europäischen Kirchen auch Dejung, Entwicklungskonflikt, 226. Vgl. Bericht von Saloniki 1959, 257. Die Studienkonferenz in Thessaloniki gab damit bereits ein Beispiel für die sieben Jahre später stattfindende Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. Vgl. unten S. 132–159, bes. 133 f. Vgl. Bericht von Saloniki 1959, 257.

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Gegenstand der Debatten der ersten Arbeitsgruppe zum Thema „Der Mensch im Zeitalter des sozialen und kulturellen Strukturwandels“ waren die Umbrüche in Asien, Afrika und Lateinamerika im sozialen und kulturellen Bereich: der Umgang mit Technik, der Wert der Familie, die Rolle des christlichen Zeugnisses in der Erziehung, Probleme des Rassismus und die Sorge der Religionen für den Menschen. Die zweite Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der „Christliche[n] Verantwortung im politischen Leben“. Ein Schwerpunkt lag dabei auf dem Verhältnis von Staat und Religion, wobei die Aufgabe des Staates darin gesehen wurde, den Schutz der Religion zu gewährleisten und den Menschen Glaubensfreiheit zu ermöglichen.38 Darüberhinaus wurde die Bedeutung des Nationalismus in Asien und Afrika thematisiert. Der Bericht der Arbeitsgruppe sah einerseits im Nationalismus die Gefahr einer „idolhaften Verherrlichung der Nation“39, begrüßte andererseits aber die durch den Nationalismus betonte Würde des Menschen, die Freiheit der Person und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Allerdings dürfe der Nationalismus – bei aller Notwendigkeit zu politischer Unabhängigkeit und einem kritischen Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus – nicht zu einem „Geist des Isolationalismus“40 führen, sondern müsse internationale Abhängigkeiten und Kooperationen anerkennen. Die dritte Arbeitsgruppe stand unter der Überschrift „Christliche Verantwortung in der Entwicklung der Wirtschaft“ und beschäftigte sich mit dem wirtschaftlichen Wandel in Afrika, Asien und Lateinamerika, den die Gruppe sowohl auf innerstaatliche Ursachen als auch auf außerstaatliche / internationale Bedingungen zurückführte.41 Dabei zeigte sich die Arbeitsgruppe hinsichtlich der Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung in Asien, Afrika und Lateinamerika weitgehend optimistisch: Der Wandel gebe zu „großen Hoffnungen“ Anlass, „weil sich hier die Aussicht auf das so tief ersehnte neue Leben bietet, das auch kommen wird, sobald sich die Menschen der Forderung nach dem so notwendigen industriellen Wachstum stellen“42. Die Gefahren der wirtschaftlichen Entwicklung wurden vor allem im sozialen Bereich gesehen, etwa in der sozialen Entwurzelung von Menschen, in Traditionsabbrüchen und den seelischen Belastungen von Menschen im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung.43 Die Grundvoraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufbau lagen dem 38 39 40 41

Vgl. ebd., 281 f. Ebd., 290. Ebd., 291. Vgl. ebd., 295 f. Als innerstaatliche Ursachen für den Wandel galten die Überwindung von Armut und wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Westen, aber auch der schnelle Bevölkerungszuwachs. Außerstaatliche Gründe waren der Anschluss an den Weltmarkt, die Anhebung des Lebensstandards an den Westen sowie Herausforderungen im Zuge wirtschaftlicher und technischer Innovationen. 42 Ebd., 296. 43 Dem Problem der Urbanisierung widmete der Saloniki-Bericht einen eigenen Teil, zu dem jedoch keine gesonderte Arbeitsgruppe einberufen worden war. Vgl. ebd., 310–317.

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Arbeitsbericht zufolge in der Kapitalbildung und -ausnutzung, in einer verantwortungsbewussten Betriebs- und Wirtschaftsführung sowie in der Ausbildung einer fachlich geschulten Arbeitnehmerschaft.44 Die übergeordnete Frage der Arbeitsgruppen lautete, wie die Kirchen auf diese Situation des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbruchs reagieren können und müssen. Die Teilnehmer der Konferenz fanden dafür eindeutige Worte: „Es ist die Pflicht des einzelnen Christen und der Kirchen, auf die Seite Gottes zu treten, der im raschen sozialen Umbruch sein Werk vollbringt.“45 Die dieser Aussage zugrundeliegende theologische Grundüberzeugung war, dass Gott in dem sozialen und politischen Wandel seinen Heilsplan verwirkliche, an dem die Menschen als „Werkzeug Gottes“46 aufgefordert seien, mitzuwirken. Diese Teilnahme an Gottes Handeln in der Geschichte sollten die Kirchen dadurch ausüben, dass sie ihr prophetisches Wächteramt wahrnähmen und als „geistig[e] Ratgeber“47 Zeugnis über den christlichen Glauben ablegten. Konkret rief der Bericht die Kirchen dazu auf, sich auf politischer Ebene gegen jede Form von Antisemitismus, totalitären Strukturen und Rassismus zu stellen.48 Im Bereich der Wirtschaft sollten die Kirchen „den Geist der Versöhnung verkünden, wo soziale Spannungen und Haßgefühle herrschen“49, sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen und an der Aufrichtung eines neuen Arbeitsethos mitwirken. Der Konferenz in Thessaloniki kam innerhalb des Studienprogramms zum raschen sozialen Wandel deshalb eine so große Bedeutung zu, da es die erste ökumenische, international besetzte Konferenz war, die sich mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Folgen der Dekolonisierung in Afrika und Asien beschäftigte. Die Kirchen wollten ihre Verantwortung angesichts der sozialen und politischen Transformationsprozesse bestimmen, indem sie versuchten, die Idee der „verantwortlichen Gesellschaft“ auf den Weltmaßstab zu übertragen. Allerdings legt sich nach der Analyse der Studienergebnisse die Frage nahe, inwiefern tatsächlich von einer gemeinsamen ökumenischen Verantwortung der Kirchen angesichts des raschen sozialen Wandels gesprochen werden kann. Denn die Maßstäbe, nach denen die „verantwortliche Gesellschaft“ bestimmt wurde, waren doch im Wesentlichen sehr westlich geprägt. So wurde etwa im Bericht der Arbeitsgruppe, die sich mit dem wirtschaftlichen Wandel befasste, die Auffassung vertreten, dass die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in Zukunft das wirtschaftliche Niveau des Westens erreichen würden. Die Abhängigkeitstrukturen der „jungen Nationen“ von den westlichen Staaten wurden in dem Bericht hingegen nicht thematisiert. Der Ar44 45 46 47 48 49

Vgl. ebd., 301–306. Ebd., 277. Ebd. Ebd., 280. Vgl. ebd., 283. Ebd., 306.

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beitsbericht des Referats für Kirche und Gesellschaft hielt im Vorfeld der dritten Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 darum kritisch fest: „Die offensichtliche Selbstzufriedenheit des nominell christlichen Westens angesichts dieser Fragen dürfte nicht nur die Studienarbeit mehr als alles andere gerechtfertigt, sondern auch die Notwendigkeit herausgestellt haben, dass Wege und Mittel gefunden werden müssen, um das provinzielle und isolationistische Denken eines so grossen [sic!] Teils des christlichen Westens zu überwinden.“50

Obwohl also das Studienprogramm von seinem Ansatz her auf die globalen Auswirkungen des raschen sozialen Wandels hin ausgerichtet war, wurde das vom Zentralausschuss in Davos formulierte zweite Ziel des Studienprogramms, den Christen in den westlichen Ländern ihre Verantwortung gegenüber den sich in großen gesellschaftlichen Umbrüchen befindlichen Kontinenten der südlichen Hemisphäre bewusst zu machen, nur partiell erreicht: Zwar erweiterte sich mit dem Rapid Social Change-Programm der westliche Horizont ökumenischer Aktivitäten und schloss nun auch die Kontinente Asien, Afrika und Lateinamerika mit ein, allerdings blieb unbeantwortet, inwieweit der rasche soziale Wandel auch das westliche Selbstverständnis von weltweiter ökumenischer Zusammenarbeit veränderte.51 3.2.2 Die Aufnahme des Studienprogramms in Lateinamerika und die Rolle von Richard Shaull Das Rapid Social Change-Programm konzentrierte sich vor allem auf die Entwicklungen in Asien und Afrika. Lateinamerika wurde zwar in den Texten und Berichten aus der Zeit immer in der als Dritte Welt bezeichneten Trias Afrika, Asien, Lateinamerika mitgenannt, allerdings fehlten sowohl in dem Bericht der Konferenz von Thessaloniki 1959 als auch in den Auswertungsbänden von Paul Abrecht und Egbert de Vries detaillierte Erläuterungen zur Aufgabe der Kirchen hinsichtlich des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wandels in dieser Region.52 Wenn Paul Abrecht daher 1958 in einem 50 Ökumenischer Rat der Kirchen, Evanston, 55. 51 Der Bericht des Ausschusses für Kirche und Gesellschaft für die 3. Vollversammlung in NeuDelhi machte auf die Interdependenz zwischen der Arbeit in den westlichen Kirchen und den Kirchen in Asien und Afrika aufmerksam: „Die Studienarbeit hat weiter offenbart, dass die Kirchen unbedingt aufeinander angewiesen sind. Die Missionsarbeit kann heute in Asien und Afrika nicht weitergehen, es sei denn, dass es zwischen den Christen des Westens und den Christen in Asien und Afrika zu einem wirklichen Einvernehmen kommt. Aber diese Kirchen haben offensichtlich zu wenig Gelegenheit gehabt, sich zu treffen und sorgfältig die Fragen zu besprechen, die sie trennen oder die in der Kirche Spannungen und Konflikte auslösen.“ (Ökumenischer Rat der Kirchen, Evanston, 58.) 52 Während der Einfluss des ökumenischen Studienprogramms zum raschen sozialen Wandel in Asien und Afrika bereits Anfang der 1970er Jahre von dem Theologen Karl-Heinz Dejung ausführlich analysiert worden ist, ist die Aufnahme und Entwicklung des Programms im la-

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Zwischenbericht formulierte, dass das Rapid Social Change-Programm in Lateinamerika „nicht die Qualität der Arbeit in Asien und Afrika“53 erreicht habe, so ist dies auch als Hinweis darauf zu verstehen, dass Lateinamerika weitaus weniger im Fokus des Studienprogramms stand, als die anderen beiden Kontinente. Auch von lateinamerikanischer Seite her wurde diese Einschätzung geteilt, wie etwa einem Bericht der lateinamerikanischen Jugendorganisation ULAJE von 1956 zu entnehmen ist, in dem es hieß: „Latin America is still a virgin field as far as WCC is concerned.“54 Eine bedeutende Vermittlungsfigur zwischen dem vom ÖRK angestoßenen Rapid Social Change-Programm und dem lateinamerikanischen Kontext war der nordamerikanische reformierte Theologe und Missionar Richard Shaull.55 Dieser war nach dem Theologiestudium in Princeton – u. a. als Schüler von John Mackay, Emil Brunner, Joseph Hrom dka sowie später als Doktorand bei Paul Lehmann – von 1942 bis 1950 als Missionar in Kolumbien tätig, wo er vor allem soziale Projekte und Alphabetisierungsprogramme für Industriearbeiter und Jugendliche durchführte.56 Nach einer kurzen Rückkehr in die USA ging Shaull als Missionar der Presbyterianischen Kirche der USA im Jahr 1952 nach Brasilien, wo er bis 1962 am Theologischen Seminar der Universität Campinas Kirchengeschichte lehrte und eng mit der reformierten Jugendbewegung sowie der christlichen Studentenbewegung in Brasilien (UCEB) zusammenarbeitete.57 In diese Zeit fiel auch Shaulls Engagement auf internationaler ökumenischer Ebene. Paul Abrecht hatte Shaull gebeten, in Vorbereitung auf die Vollversamm-

53 54 55 56 57

teinamerikanischen Kontext hingegen bislang nur wenig systematisch aufgearbeitet. Ein sehr kurzer zeitgenössischer Überblick über die Entwicklung in Lateinamerika findet sich in: Abrecht, Churches, 19–21. Auch Dejung geht knapp auf die Rezeption des Studienprogramms in Lateinamerika ein: vgl. auch Dejung, Entwicklungskonflikt, 298–304. Das Hauptproblem an Dejungs Darstellung liegt allerdings darin, dass er die Rezeption des Rapid Social ChangeProgramms in Lateinamerika außerhalb des Kapitels über das Studienprogramm behandelt. Damit entsteht der Eindruck, dass das Programm in Lateinamerika keinen nennenswerten Einfluss gehabt habe. Anliegen des hier folgenden Kapitels ist es dagegen, die Entstehung eines gesellschaftspolitischen Bewusstseins innerhalb der protestantischen Kirchen in Lateinamerika dezidiert auf den Einfluss des Rapid Social Change-Programms zurückzuführen. Paul Abrecht, The Common Christian responsibility Toward Areas of Rapid Social Change. Progress Report 1955–1958 (Geneva 1958), zit. n. Dejung, Entwicklungskonflikt, 300. R. A. Dudley, Connections of the various divisions and departments of the World Council of Churches with Latin America, 14, AÖRK 24.2.012. Vgl. einführend: Santiago-Vendrell, Theology; Rold n, Teolog a. In Bezug auf Shaulls Mitarbeit im ÖRK, insbes. auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft vgl. Schilling, Existenz. Vgl. Santiago-Vendrell, Theology, 18–41. Vgl. ebd., 42–60. Zur Zusammenarbeit mit der UCEB vgl. insbes.: ebd., 67–76. Wie SantiagoVendrell überzeugend darstellt, war Shaull der erste nordamerikanische Missionar in Brasilien, der den spezifisch sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kontext Brasiliens als Ausgangspunkt für die Theologie ansah. Seine Beliebtheit unter den Studierenden ist u. a. auf diese sozialethische Dimension seiner Theologie zurückzuführen; vgl. ebd., 59. Vgl. zur Bedeutung Shaulls für die brasilianische Theologie: Galasso Faria, F .

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lung in Evanston 1954 einen Bericht über die soziale Verantwortung von Christen in Lateinamerika zu verfassen.58 Dieser knapp vierzigseitige Bericht, in welchem Shaull die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme Lateinamerikas und die Situation der protestantischen Kirchen aus der Perspektive Brasiliens in den frühen 1950er Jahren darstellte, ist der erste ausführliche Beleg für die Wahrnehmung des lateinamerikanischen Kontextes im ÖRK – auch wenn ihm in Evanston keine besondere Beachtung geschenkt wurde, sondern er nur intern Verwendung fand. Shaull beobachtete unter der lateinamerikanischen Bevölkerung eine große Hoffnungslosigkeit, die er zum einen auf die schnelle Industrialisierung und die daraus entstehenden sozialen Probleme (Verstädterung, mangelnde soziale Verantwortung, Unsicherheit unter den Arbeitern, Korruption, etc.) zurückführte, zum anderen aber auch auf die politische Krise, die durch Spannungen zwischen Militärregierungen, rechtsgerichteten politischen Bewegungen, populistischen Regierungen und kommunistischen Strömungen hervorgerufen würden.59 Für Shaull war folglich die soziale Revolution das einzig wirksame Instrument, um das Modell einer „verantwortlichen Gesellschaft“ in Lateinamerika zu etablieren. Diese sollte von politischen Bewegungen getragen werden: „Therefore, the possibility of a more responsible society depends essentially upon the development of political movements and institutions which can direct the social revolution and keep it within bounds. […] To a somewhat lesser degree the guidance of the social revolution in the direction of the responsible society depends upon the development of responsible and democratic group organizations in each country, especially labour unions, both of industrial workers and peasants.“60

Die Situation der protestantischen Kirchen stellte sich nach Shaull so dar, dass sie noch immer im Schatten einer ,dekadenten‘ römisch-katholischen Kirche stünden und sich daher nach wie vor in einer Minderheitensituation befänden.61 Durch die Missionsgesellschaften aus Nordamerika seien überwiegend konservative und pietistisch geprägte Glaubensüberzeugungen nach Lateinamerika gekommen, die wenig Verständnis für die Probleme der Gesellschaft aufbrächten. Demgegenüber sah Shaull nun aber insbesondere unter jungen Menschen das Bedürfnis wachsen, sich mit den Problemen des lateinamerikanischen Christentums und der Gesellschaft zu befassen.62 Da Shaull zufolge die protestantischen Kirchen in Lateinamerika bislang kaum über ihre gesellschaftliche Verantwortung nachgedacht hätten – und auch keine Literatur über die sozialen, ökonomischen und politischen Pro58 Vgl. Santiago-Vendrell, Theology, 62. 59 Richard Shaull, The Church and the problems of a responsible society in Latin America (1954), 1–7 und 8–18, AÖRK 24.2.012. 60 Ebd., 19 f. 61 Vgl. ebd., 26. 62 Vgl. ebd., 28 f.

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bleme aus christlicher Perspektive existiere –, basierten die Informationen seines Berichts in Vorbereitung auf die Vollversammlung in Evanston auf Antworten auf einen Fragebogen, den er an eine Reihe nicht näher spezifizierter Personen im lateinamerikanischen kirchlichen Kontext geschickt hatte.63 Die Fragen bezogen sich insbesondere auf das politische und soziale Interesse sowie auf die aktive politische Beteiligung der protestantischen Kirchen in den vorangegangenen Jahren, vor allem im Bereich der Industrieund Agrarwirtschaft. Außerdem fragte Shaull danach, wie in den lateinamerikanischen Kirchen der Ost-West-Konflikt wahrgenommen würde und welche Haltung die Christen demzufolge zum Kommunismus, zum Staatssozialismus und zum Pazifismus einnehmen würden.64 Aus Shaulls Zusammenfassung der Antworten geht hervor, dass die Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Themen innerhalb der Kirchen Mitte der 1950er Jahre noch sehr gering war, dass aber insbesondere unter jungen Menschen und Studenten das Interesse für diese Themen zu steigen schien.65 Vorreiterin im politischen Engagement war die methodistische Kirche am R o de la Plata (Argentinien und Uruguay), die sich mithilfe von Trainingsprogrammen für Pastoren, Laien und Jugendliche aktiv für ein aus christlicher Überzeugung verantwortliches Handeln in der Gesellschaft einsetzte.66 Genau auf diese jungen Menschen, wie Shaull sie in seiner Arbeit an der Universität und in der brasilianischen Studentenbewegung kennen gelernt hatte, setzte er seine Hoffnung und stellte die Vermutung auf: „It is quite possible that as this group develops, if it is able to find guidance and help here and in the wider Christian fellowship, it may exercise an increasing influence in the Church.“67 Während sich viele Protestanten politisch nicht eindeutig zuordnen ließen, befand sich nach Shaull unter den jungen Menschen und Studenten in Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien eine kleine Zahl, die mit der Sozialistischen Partei sympathisierten, da diese ihrer Ansicht nach eher den christlichen Vorstellungen entspräche.68 Doch Shaull räumte ein, dass sich die prosozialistischen Einstellungen nicht in einem stärkeren Bewusstsein für den Ost-West-Konflikt widerspiegelten: Zwar würden die Antworten zeigen, dass viele junge Menschen pazifistisch orientiert seien und teilweise auch kommunistische Ansichten verträten, doch reflektierten sie ihre Haltung nicht vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts. Shaull resümierte, dass die Studenten vielmehr eine dezidiert anti-amerikanische Haltung einnähmen, 63 Vgl. ebd., 29. Aus dem Bericht geht hervor, dass Shaull u. a. Antworten von Kirchenführern aus Argentinien, Brasilien, Mexiko und Uruguay erhalten hatte. Insgesamt ist diese Befragung zwar als nicht-repräsentativ einzuordnen, aber sie enthält dennoch wichtige Informationen über die Situation und politische Haltung der protestantischen Kirchen und Christen in Lateinamerika. 64 Vgl. ebd., 37. 65 Vgl. ebd., 30. Dies galt auch hinsichtlich der Aktivitäten für Landreformen, vgl. ebd., 36. 66 Vgl. ebd., 38. Vgl. Olivera, Caminos, 22–25. 67 Ebd., 33. 68 Vgl. ebd.

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denen gegenüber sie die Gefahren des Kommunismus als weniger gefährlich einstuften.69 Das Rapid Social Change-Programm stellte Shaull zufolge eine gute Möglichkeit dar, das politische und soziale Bewusstsein der protestantischen Kirchen in Lateinamerika zu stärken. Den Impuls des ökumenischen Studienprogramms aufnehmend fand daher in Kooperation mit der Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK vom 15. bis 19. November 1955 in S¼o Paulo / Brasilien eine Konsultation über die christliche Verantwortung in der Gesellschaft statt. Diese Konsultation war der erste lateinamerikanische Beitrag zu dem vom ÖRK angestoßenen Studienprogramm und gleichzeitig die erste ökumenische Konferenz in Brasilien. Zur Teilnahme an der Konsultation waren ursprünglich 65 führende Pastoren und Laien aus unterschiedlichen Traditionen des brasilianischen Protestantismus eingeladen, von denen jedoch auf Grund politischer Unruhen in S¼o Paulo schließlich nur etwa 40 Personen anreisten.70 Für Egbert de Vries, der gemeinsam mit dem Heidelberger Theologieprofessor Wilhelm Hahn für den ÖRK an der brasilianischen Studienkonferenz teilnahm, war die federführende Position Shaulls in der Studienkonferenz und der Gründung der Kommission für Kirche und Gesellschaft unübersehbar: „Dick Shaull undoubtedly has been the prime mover“71, resümierte de Vries in einem Brief an Paul Abrecht. Inhaltlich waren auf dieser regionalen Konferenz drei Themenbereiche maßgeblich: (1) die biblischen und theologischen Grundlagen der christlichen Beteiligung in der Gesellschaft, (2) die soziale und politische Situation in Brasilien und (3) die konkreten Handlungsmöglichkeiten der Kirchen.72 Damit war der Grundstein für die gesellschaftspolitische Arbeit der protestantischen Kirchen in Brasilien gelegt: Im Anschluss an die Konferenz gründete sich die „Kommission für Kirche und Gesellschaft“, die – angegliedert an den Evangelischen Bund in Brasilien – zum Vorbild für die Reflexion politischer und sozialer Anliegen im kirchlichen Kontext für andere lateinamerikanische Länder avancierte.73 Die Kommission legte die Weiterarbeit auf drei Themenbereiche fest: 1) Politisches Handeln, 2) Ländliche Probleme und 3) Industrie und Arbeiter. Zugleich vereinbarte sie eine enge Kooperation mit der Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK in Genf.74 69 70 71 72

Vgl. ebd., 37. Vgl. Brief von Egbert de Vries an Paul Abrecht (6. 12. 1955), 1, AÖRK 24.2.012. Ebd. Vgl. First Consultation on Christian Responsibility in Society. S¼o Paulo, Brazil (15.–19. 11. 1955). Appendix I, AÖRK 24.2.012. 73 Der Kommission gehörten folgende Personen an: Benjamin Moraes (Präsident), Robert Wisdom (Schatzmeister), Waldo C sar (Exekutivsekretär, gleichzeitig Jugendsekretär im Evangelischen Bund Brasiliens). Zur Unterkommission gehörten Alberto Mazoni, Committee on Orientation and Education for Political Action; Charles Clay, Chairman of the Committee on Rural Problems; Luis Carlos Weil, Committee on Industry and the Industrial Worker. Vgl. First Consultation on Christian responsibility in Society, 3, AÖRK 24.2.012. 74 Vgl. Brief von Egbert de Vries an Paul Abrecht (6. 12. 1955), 2, AÖRK 24.2.012. Vgl. zur Ent-

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Im Februar 1957 folgte eine zweite Konsultation mit rund 40 Delegierten aus sechs Konfessionen in Brasilien, die bereits durch ihren Titel „As igrejas e as r pidas transformaÅ es sociais“ [Die Kirchen und der rasche soziale Wandel] klar auf das Studienprogramm des ÖRK bezogen war.75 Waldo C sar, Exekutivsekretär der Kommission für Kirche und Gesellschaft und Jugendsekretär im Evangelischen Bund von Brasilien, begründete die Notwendigkeit dieser zweiten Konsultation mit dem weiterhin fehlenden Bewusstsein für die Beschäftigung mit politischen und sozialen Themen innerhalb der Kirchen: „The fact is that this mentality concerning church and rapid social change is completely unknown among laymen leaders and pastors in Brasil.“76 Im Zentrum der Studienkonferenz stand die Arbeit zu den drei Themenbereichen Politik, Industrie und Ländliches Leben – wobei Shaull zufolge die politische Arbeitsgruppe den größten Zulauf erhielt.77 Mit der Durchführung dieser zweiten Konsultation wurde deutlich, dass das Rapid Social Change-Programm in Brasilien auf eine Leerstelle aufmerksam gemacht hatte und die Kirchen anregte, gemeinsam über ihre öffentliche Verantwortung zu reflektieren und daraus Handlungsoptionen zu entwickeln. Jedoch zeigten sich nach und nach auch Probleme hinsichtlich der Durchführbarkeit des Studienprogramms in Brasilien: Denn Shaull zufolge war es nicht nur schwierig, Freiwillige zu finden, die die Arbeit verlässlich mit tragen würden, sondern die Studien erforderten auch finanzielle Mittel für administrative Aufgaben, für Veröffentlichungen, Reisen und Konferenzen, die er mit wenigstens 2500 US $ pro Jahr veranschlagte. Zudem benötigte die Arbeit umfangreiches schriftliches Material sowie die Expertise von Fachleuten zur inhaltlichen Profilierung der jeweiligen Arbeitsgruppen.78 Shaull hoffte, dass hier der ÖRK unterstützend wirken könnte. Nach dem erfolgreichen Anschub des Rapid Social Change-Programms in Brasilien durch Richard Shaull versuchte der ÖRK, nun auch Kirchen in an-

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wicklung der Diskussion um die soziale Verantwortung der Kirchen in Brasilien die ausführliche Erarbeitung von Hoff Jfflnior, Responsabilidade. Vgl. ebd., 4. An der Konferenz, die vom 4.–8. 2. 1957 in Campinas stattfand, waren folgende Konfessionen vertreten: Methodisten, Reformierte, Lutheraner, Unabhängige Reformierte, Freie Methodisten und Mennoniten. Richard Shaull hielt diesbezüglich in einem Brief an Paul Abrecht fest: „The number was both larger and more representative than the first time and included a greater number of persons in key positions in the Church and in political and industrial life. Unfortunately, no representative of the Department of Church and Society of the World Council of Churches could be present […].” (Vgl. Shaull, The Rapid Social Change Study in Brazil [Anhang zum Brief von Richard Shaull an Paul Abrecht am 7. 1. 1957], 2, AÖRK 24.2.012.) Brief von Waldo C sar an Paul Abrecht (7. 1. 1957), 2, AÖRK 24.2.012. Das Hauptaugenmerk dieser Gruppe lag auf der Entwicklung der brasilianischen politischen Institutionen und die Beteiligung von Christen in politischen Parteien. Vgl. Shaull, The Rapid Social Change Study in Brazil [Anhang zum Brief von Richard Shaull an Paul Abrecht am 7. 1. 1957], 3, AÖRK 24.2.012. Vgl. Brief von Richard Shaull an Paul Abrecht (13. 2. 1957) [Anhang], AÖRK 24.2.012.

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deren Ländern Lateinamerikas in das ökumenische Studienprogramm zum Rapid Social Change zu integrieren.79 Dies geschah noch im gleichen Jahr: Vom 31. Mai bis 3. Juni 1957 fand in Anlehnung an das brasilianische Modell in Montevideo / Uruguay eine Konsultation der Kirchen des Cono Sur zum Thema „Christian Responsibility in Areas of Rapid Social Change – Argentina, Chile, Uruguay“ statt, in dessen Vorbereitung sich Paul Abrecht stark einbrachte und an der er schließlich auch selbst teilnahm. Von lateinamerikanischer Seite wurde diese Konsultation maßgeblich von Jorgelina Lozada, der Generalsekretärin des evangelischen Kirchenbundes am R o de la Plata und ersten ordinierten Pfarrerin in Lateinamerika vorbereitet. Lozada gehörte zu den wenigen Frauen, die sich in Argentinien in leitender Funktion Ende der 1950er Jahre kirchenpolitisch engagierten. Ihre Spur verliert sich jedoch bereits mit der Gründung der Bewegung für Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika (ISAL), in der fast ausnahmslos Männer agierten.80 Neben Lozada war an der Vorbereitung auch der uruguayische Methodist Luis Odell beteiligt, einer der Mitbegründer der evangelischen Jugendorganisation ULAJE. 25 Repräsentanten aus Chile, Uruguay und Argentinien nahmen an dieser ersten ökumenischen Studienkonferenz in der La-Plata-Region teil und diskutierten die gegenwärtige soziale und politische Lage in diesen Ländern.81 Die Konsultation teilte sich in drei Gruppen auf, die zu den drei Hauptthemen des Studienprogramms – der politischen Situation, den Problemen der Industrie und Verstädterung sowie zur Situation in ländlichen Gebieten – arbeiteten. Der Bericht der ersten Gruppe stand unter der Überschrift „Responsible Citizenship“, der einem Schuldbekenntnis gleichkam: Die Teilnehmer bekannten („recognize“), dass die Kirchen ihrer Verantwortung für die politische und soziale Ordnung nicht genügend nachgekommen seien und den christlichen Glauben zu individualistisch verstanden hätten: „We have wanted to avoid the responsibility of analyzing what our faith involves in the political79 Vgl. Brief von Paul Abrecht an Jorgelina Lozada (3. 4. 1957), AÖRK 24.2.012. 80 Vgl. zur Person und Biographie von Jorgelina Lozada die biographische Darstellung von Staude Mart nez / Iglesias de Lugo, Lozada; vgl. außerdem ein Kurzportrait mit dem Titel „Jorgelina Lozada: Starting with the cornerstone” in: Hollander / WARC Mission project, Mission, 11. 81 Neben Jorgelina Lozada nahm nur noch eine weitere Frau an der Konsultation teil: Margarita V. de Oliver, Leiterin des sozialen Dienstes der Methodistischen Kirche in Argentinien. Vgl. La responsabilidad cristiana respecto a las areas que experimentan rapidos cambios sociales. Informe de la consulta realizada en Montevideo – Uruguay, AÖRK 24.2.012. Lozada selbst hielt einen Vortrag zum Thema „The Biblical Bases of Christian Social Responsibility“. Die beiden Theologen Emilio Castro (Uruguay) und D. P. Monti (Argentinien) fassten in einführenden Vorträgen die soziale und politische Situation in ihren jeweiligen Ländern zusammen. Der Student Jos Pulgar übernahm diese Aufgabe für den chilenischen Kontext. Weitere Vorträge wurden von folgenden Personen gehalten: Augusto Fern ndez Arlt:, „Catholicism as expressed in its political parties“; Enrique Regueira, „Communism“; Julio R. Sabanes, „Neo-Socialism“. Vgl. die Übersicht in: Christian Responsibility in Areas of Rapid Social Change. Report, AÖRK 24.2.012.

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social order, frequently escaping behind moralistic pretexts.“82 Entgegen diesem Verhalten sahen sich die Kirchen nun veranlasst, ihre Mitglieder zum politischen Handeln zu mobilisieren: „We must stimulate our members, and especially our youth, to participate in the political-social world through active Christian participation in civic, political, union movements, etc., and it is necessary that we support them with our prayers and all means within our reach.“83

Allerdings räumten die Verfasser des Berichts ein, dass gegenwärtig noch keine Methoden und Mittel zur Verfügung stünden, um diese Mobilisierung zu erreichen. Der Bericht der zweiten Gruppe beschäftigte sich mit „Large City Problems“, insbesondere mit den Konsequenzen der Industrialisierung, etwa den Problemen der Urbanisierung und dem Zusammenbruch familiärer Strukturen. Die Kirche müsse stärker für die Probleme der Arbeiterklasse eintreten und darüber die Spaltung zwischen der Kirche und der Arbeitswelt überwinden. Dazu sei es notwendig, „a) [to] stimulate its membership to specialize in economics, sociology, labor legislation, urbanism, industrial relations, etc. […]. b) [to] stimulate the active participation of Christians in union and management organizations […].“84

Über die Art und Weise, wie das Interesse unter Christen für diese Themen geweckt werden könnte, traf der Bericht jedoch keine Aussagen. Die dritte Gruppe widmete sich dem Thema „Rural Situation“ und stellte die veränderten Bedingungen in der Landwirtschaft infolge von Landreformen, aber auch im Zuge der Landflucht dar. Die Bedürfnisse der ländlichen Gebiete lagen vor allem in der Verbesserung der Infrastruktur, etwa für den Transport von Waren oder auch für einen besseren Zugang zu Bildungsangeboten für Kinder und Jugendliche. Der Bericht hob hervor, dass die Kirchen zu einer Verbesserung der ländlichen Situation beitragen könnten, indem sie sich z. B. an „farm schools“ beteiligten oder die Verbreitung des Evangeliums vorantrieben.85 Inwiefern allerdings das Verteilen von Bibeln, auf das der Bericht sehr ausführlich einging, die wirtschaftliche und soziale Situation in den ländlichen Gebieten verbessern könne, wurde in dem Bericht nicht näher ausgeführt. Mit der Konsultation in Montevideo hatten sich nun auch die Kirchen im Cono Sur den Themen des ökumenischen Studienprogramms angenähert, wobei sie die gesellschaftspolitischen Themen allerdings eher als Phänomene 82 Christian responsibility in areas of rapid social change: Argentina, Chile, Uruguay, 15, AÖRK 24.2.012. 83 Ebd., 16. 84 Ebd., 18. 85 Vgl. ebd., 19–21.

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des sozialen Wandels denn als strukturelle Probleme wahrzunehmen schienen. Die Erkenntnis der Konsultation in Montevideo lautete „[t]hat, as the work of this Consultation has shown, our churches are far behind in the study of the problems which, in our areas, lead to ‘rapid social change‘“86. Um die Arbeit fortzusetzen und zu intensivieren, forderten die Teilnehmer der Konsultation den Bund Evangelischer Kirchen am R o de la Plata und den Evangelischen Kirchenrat in Chile dazu auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen, „so that the study of Christian responsibility regarding the problems of our changing society may be continued and given a permanent nature“87. Wie bereits in Brasilien gründete sich daher im Anschluss an die Konsultation in Montevideo innerhalb des Evangelischen Kirchenbundes in Uruguay sowie in Buenos Aires jeweils eine Kommission für Kirche und Gesellschaft, die diese Aufgaben übernehmen sollte.88 Neben der Durchführung weiterer Konsultationen wurden die Kommissionen auch damit beauftragt, Publikationen zu den jeweiligen Themen zu veröffentlichen, um die Probleme und Debatten einem breiteren Interessentenkreis zugänglich zu machen. Den Anfang machte ein kleines spanischsprachiges Informationsheft mit dem Titel „Iglesia y Sociedad en Am rica Latina“ (Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika), das erstmals 1959 erschien und bereits innerhalb weniger Wochen ausverkauft war.89 Dieses Heft war nicht nur der Namensgeber der 1961 gegründeten Bewegung für Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika ISAL, sondern bildete auch den Vorläufer für die ab 1963 von ISAL herausgegebene Zeitschrift Cristianismo y Sociedad. 3.3 Das Ende der ökumenischen Isolation Lateinamerikas Noch auf der Vollversammlung in Evanston war die Beschäftigung des ÖRK mit dem lateinamerikanischen Kontext keineswegs selbstverständlich. Denn zum einen galt Lateinamerika – wie Bischof Barbieri in Evanston bedauernd festgestellt hatte – als vom Katholizismus dominierter Kontinent, in dem Fragen der weltweiten ökumenischen Zusammenarbeit kein Vorrang gegenüber Problemen der konfessionellen Verständigung eingeräumt wurden. Folgt man Barbieris Sicht, so waren durch die Vormachtstellung der römisch-katholischen Kirche die Voraussetzungen zur Durchführung des ökumenischen Studienprogramms in Lateinamerika deutlich eingeschränkt. Zum anderen 86 Ebd., 21. 87 Ebd. 88 Brief von Luis Odell an Paul Abrecht (29. 8. 1957), AÖRK 24.2.012. Zum Komitee in Uruguay gehörten: Emilio Castro (Präsident), Julio de Santa Ana (Sekretär), Augusto Fern ndez Arlt (Veröffentlichungen), Earl Smith (Schatzmeister), Wilfriedo Artffls, Humberto Perrach n und Luis Odell. Zur Entwicklung in Chile können anhand der Quellen keine näheren Aussagen getroffen werden. 89 Vgl. Odell, Church, 35.

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unterschied sich die Ausgangssituation für das Rapid Social Change-Programm in Lateinamerika erheblich vom asiatischen und afrikanischen Kontext. Denn die lateinamerikanischen Länder waren in den 1950er Jahren politisch bereits seit über 100 Jahren von den europäischen Kolonialmächten unabhängig und sahen sich weniger mit Fragen der Staatenbildung als mit Problemen der Industrialisierung und den daraus folgenden sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen konfrontiert. Während das Rapid Social Change-Programm insbesondere in Asien an die im Zuge der Dekolonisierung aufgekommenen Reflexionsprozesse über den gesellschaftspolitischen Wandel anknüpfen konnte, trug das Studienprogramm in Lateinamerika hingegen erst zur Ausprägung eines Bewusstseins für den sozialen Wandel innerhalb der protestantischen Kirchen bei. Vor diesem Hintergrund stellte der Arbeitsausschuss der Abteilung für Kirche und Gesellschaft in Vorbereitung auf die Vollversammlung in NeuDelhi 1961 darum das Ende der ökumenischen Isolation Lateinamerikas fest: „Churches in Latin America which have long been isolated from the ecumenical movement are ready to play a new role within it, and at the same time many Christian groups, especially Christian youth, are demanding that the church help them to discover answers to the complex and puzzling questions posed by changing society and the reformation of political life.“90

Für die Integration der lateinamerikanischen protestantischen Kirchen in die internationale Ökumene kam dem Rapid Social Change-Programm folglich eine Scharnierfunktion zu: Denn zum einen regten die Impulse aus Genf Einzelpersonen und –initiativen in Lateinamerika zu einer systematischeren und vernetzteren Auseinandersetzung zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft an, und zum anderen bildeten diese Aktivitäten eine Basis, von der aus die Zusammenarbeit zwischen dem ÖRK und Lateinamerika in den 1960er Jahren intensiviert wurde. Besondere Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Einrichtung der beiden Kommissionen für Kirche und Gesellschaft zu, die sich im Anschluss an die Konferenzen zum raschen sozialen Wandel in S¼o Paulo 1955 und Montevideo 1957 gebildet hatten. Die beiden Schlüsselfiguren für die Annahme des Rapid Social Change-Programms in Brasilien und in der Region des R o de la Plata waren Richard Shaull und Paul Abrecht. Bei Abrecht liefen auf der Seite des ÖRK die Fäden für die Koordination des Studienprogramms in Lateinamerika zusammen: Er förderte die eigenständige Arbeitsweise der Kommissionen für Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika und regte die Beschäftigung mit Themen des Studienprogramms auch in anderen Regionen Lateinamerikas an. Mit Richard Shaull stand Abrecht ein Theologe und 90 Work Book for the Assembly Committees (Neu-Delhi), 90. Die Kirchen der Karibik wurden in diesem Bericht nicht mit zu Lateinamerika gezählt, sondern gemeinsam mit der Region Pazifik unter der Rubrik „Faraway Islands“ behandelt; vgl. ebd., 91.

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strategischer Denker zu Seite, der umfassend mit der Situation in Lateinamerika vertraut war, um die Reflexion über das gesellschaftspolitische Engagement der Kirchen in der Region voranzutreiben. Im Cono Sur waren Jorgelina Lozada und Luis Odell die beiden Protagonisten für den Aufbau der Kommission für Kirche und Gesellschaft. Jedoch standen Lozada als Frau und Odell als Laie eher im Schatten von Shaull. So machte beispielsweise Shaull bei der Frage, wer die Herausgeberschaft für die Publikation „Iglesia y Sociedad“ übernehmen könne, Paul Abrecht unmissverständlich deutlich, dass er Bedenken hinsichtlich Odells theologischer Eignung und seiner Haltung zu sozialen Problemen hege.91 Der Name von Jorgelina Lozada tauchte in der Korrespondenz zwischen Shaull und Abrecht gar nicht erst auf. Daran zeigte sich auch die ambivalente Rolle Shaulls im Zusammenhang mit der Annahme des Rapid Social Change-Programms in Lateinamerika: Denn einerseits übernahm er eine wichtige Übersetzungsfunktion zwischen der internationalen ökumenischen Ebene und der lokalen Realität der Kirchen in Brasilien und im Cono Sur und trug dadurch entscheidend zur Sensibilisierung dieser Kirchen für gesellschaftspolitische Fragen in den späten 1950er Jahren bei. Andererseits hatte Shaull als Nordamerikaner jedoch eine bestimmte Vorstellung davon, wie das Rapid Social Change-Programm in Lateinamerika durchgeführt werden sollte. Selbst wenn Shaull später von seinen lateinamerikanischen Kollegen als „unbestrittener Mentor“92 und somit als inhärenter Teil des lateinamerikanischen Aufbruchs anerkannt wurde, war er dennoch eine Stimme von außen, der die Debatten mit seiner ihm eigenen gesellschaftspolitischen Missiologie beeinflusste.93 Im Gesamtkonzept tat sich damit jedoch ein Widerspruch auf: Denn das erklärte Ziel des Studienprogramms war es, sich mithilfe von „indigenous leadership“ einem kolonialen Missionsverständnis dezidiert entgegen zu stellen und die „jungen Kirchen“ zur Selbstbestimmung aufzurufen. Darauf wies nicht zuletzt der Untertitel des Programms – „Eine Studie zur Bedeutung verantwortlicher Emanzipation“94 – hin. Doch der emanzipatorische Impuls kam aus Genf und wurde zunächst nicht direkt von lateinamerikanischen Vertretern, sondern von zwei USAmerikanern – Abrecht und Shaull – lanciert. Erst allmählich übernahmen 91 Vgl. Brief von Richard Shaull and Paul Abrecht (7. 2. 1958), AÖRK 24.2.012. 92 Vgl. Cervantes-Ortiz, Entrevista. 93 Vgl. Santiago-Vendrell, Theology, 61–83. Santiago-Vendrell hat den Einfluss Shaulls in Brasilien ausführlich herausgearbeitet, allerdings vermisst man bei seiner Darstellung eine kritische Einschätzung des Wirkens Shaulls in Brasilien als nordamerikanischem Missionar. Offen bleibt darüber hinaus, wie sich Shaull die Beteiligung von Christen am gesellschaftlichen Wandel konkret vorstellte. Vgl. zur Kritik an Santiago-Vendrell: Str mpfel, Review. Es wäre lohnenswert, mithilfe von Quellen der Kommissionen für Kirche und Gesellschaft in Brasilien und am R o de la Plata die Rolle von Shaull in den 1950er und 1960er Jahren insbesondere in Bezug auf die Interdependenz mit den lateinamerikanischen Protagonisten genauer zu untersuchen. 94 Central Committee Davos 1955, 103 [„A Study of the Meaning of Responsible Emancipation“].

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Lateinamerikaner wie Waldo C sar, Jorgelina Lozada oder Luis Odell die Führung. Kritisch bleibt außerdem festzuhalten, dass das Rapid Social ChangeProgramm in Lateinamerika trotz seiner allgemeinen gesellschaftspolitischen Ausrichtung und der Identifizierung wichtiger Themenfelder wie verantwortliche Bürgerschaft, Industrialisierung und Urbanisierung in seiner Wirkung für die kirchlich-politische Praxis eher unbestimmt blieb. Ziel des Studienprogramms war es vor allem, das allgemeine Bewusstsein in den Kirchen für den sozialen Wandel zu schärfen, ohne dass dies jedoch zu konkreten politischen Forderungen an Regierungen geführt hätte. Eine stärkere „Politisierung“ des lateinamerikanischen Protestantismus erfolgte erst im Zuge der Gründung der Bewegung für Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika ISAL, mit der sich die lateinamerikanischen Kirchen schrittweise auch von den vorgegebenen Frage- und Themenstellungen des ÖRK lösten.

4. Protestantismus und sozialer Wandel in Lateinamerika – Die Bewegung Iglesia y Sociedad en Am rica Latina (ISAL) Eine zentrale Rolle in der Beschäftigung des lateinamerikanischen Protestantismus mit dem sozialen Wandel spielte ab Anfang der 1960er Jahre die ökumenische Bewegung für Kirche und Gesellschaft (Iglesia y Sociedad en Am rica Latina – ISAL), die nicht nur innerhalb Lateinamerikas ein wichtiges Integrationsinstrument verschiedener protestantischer Konfessionen darstellte, sondern dem lateinamerikanischen Protestantismus auch auf globaler ökumenischer Ebene Gehör verschaffte. ISAL war in den frühen 1960er Jahren der wichtigste protestantische Kooperationspartner des ÖRK in Lateinamerika, der sich mit qualifizierten und progressiven Beiträgen in die internationale ökumenische Diskussion einbrachte und vom ÖRK über viele Jahre hinweg finanzielle Unterstützung erhielt. Hinsichtlich der am Dialog aktiv beteiligten Personen ist festzustellen, dass viele der zunächst bei ISAL engagierten Lateinamerikaner auf internationalen Konferenzen des ÖRK auftraten und einige von ihnen sogar als Mitarbeiter in den Stab des ÖRK berufen wurden.95 Für die der Untersuchung zugrunde liegende Frage nach dem Einfluss des lateinamerikanischen Protestantismus im ÖRK ist daher die Wirkungsgeschichte von ISAL eine wichtige Säule. Dabei kommt es im Folgenden darauf an, zunächst die Entstehung von ISAL in den Horizont des lateinamerikanischen Protestantismus sowie der internationalen Ökumene einzubetten, um dann die Struktur sowie inhaltliche Entwicklung von ISAL nachzuvollziehen. 95 Dazu zählten Leopoldo Niilus, Julio de Santa Ana und aus dem weiteren Umfeld Emilio Castro; vgl. unten S. 191–244 (Kap. 8).

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Abschließend werden die theologischen Einflüsse beleuchtet, die die Arbeit von ISAL geprägt haben, und die Wechselwirkungen zwischen ISAL und dem ÖRK genauer untersucht.96 4.1 Die Gründung in Huampan 1961 Die Entstehung von ISAL ist aufs Engste mit der Durchführung des Rapid Social Change-Programms in Lateinamerika verbunden. Den entscheidenden Anstoß für die ISAL-Bewegung gab eine kleinere Veröffentlichung von 1959, die von einer Gruppe vormals führender Personen bei ULAJE und MEC unter dem Titel „Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika“ (Iglesia y Sociedad en Am rica Latina) herausgegeben worden war und sich mit der gesellschaftlichen Verantwortung von Christen angesichts des raschen sozialen Wandels beschäftigte. Zu diesem Personenkreis gehörte auch Luis Odell, der für die Entwicklung der Bewegung eine entscheidende Rolle spielte und von dem mehrere Zusammenfassungen über die Entstehung von ISAL erhalten sind.97 Mit der Veröffentlichung dieses Bulletins zeigte sich Odell zufolge, dass es unter den lateinamerikanischen protestantischen Christen ein großes Interesse daran gab, das Studienprogramm des ÖRK zum raschen sozialen Wandel nachhaltig in der Region zu verankern.98 Nach den ersten regionalen Konferenzen zum gesellschaftlichen Wandel in S¼o Paulo 1955, Campinas 1957 und Montevideo 1957 wurde daher in Zusammenarbeit zwischen dem evangelischen Bund Brasiliens und den evangelischen Kirchenbünden in Uruguay und Argentinien sowie in Kooperation mit dem Referat für Kirche und Gesellschaft des ÖRK die erste gesamtlateinamerikanische Konsultation für Kirche und Gesellschaft einberufen.99 Sie 96 Dieses Kapitel ist der Versuch, die komplexe Geschichte von ISAL zusammenzufassen und die für den ÖRK relevanten Aspekte hervorzuheben. Es wäre ein lohnenswertes Forschungsvorhaben, die Geschichte von ISAL in ihrer ganzen Tragweite aufzuarbeiten, das dann natürlich auch mit den noch verbliebenen Archivmaterialien aus Montevideo / Buenos Aires arbeiten müsste. Ein ISAL-Archiv existiert nach Aussage von Julio de Santa Ana nicht (E-Mail Korrespondenz mit der Verfasserin vom 1. 7. 2013). Erste Ansatzpunkte einer theologiegeschichtlichen Aufarbeitung der Geschichte von ISAL liefern die verschiedenen Beiträge in dem der Bewegung ISAL gewidmeten Themenheft der argentinischen Zeitschrift Teolog a y cultura 8 (2011), Nr. 13. Vgl. außerdem die Selbstzeugnisse von Santa Ana in: Santa Ana, Aporte; Cervantes-Ortiz, Entrevista. Für den deutschen Sprachraum ging bislang am ausführlichsten Karl-Heinz Dejung auf die Arbeit von ISAL ein, der sich in seiner Darstellung und Interpretation jedoch vornehmlich auf die zwei Konferenzen in Huampan (1961) und El Tabo (1966) beschränkte: Dejung, Entwicklungskonflikt, 296–321; vgl. auch Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 316–319. 97 Vgl. Odell, Church, 35; Odell, Wandel; Odell, The Latin American Commission on Church and Society. Origin, Definition, Objectives, AÖRK 42.55.09 (Vortrag auf der Enlarged Latin American Working Party in Genf, 1964). 98 Vgl. Ders., Church, 35. 99 Die Idee für die Konsultation wurde auf einer Konferenz des WSCF vom 16.–17. 7. 1960 in

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fand unmittelbar vor der zweiten Lateinamerikanischen Evangelischen Konferenz (CELA II) vom 23. bis 27. Juli 1961 in Huampan bei Lima / Peru statt und wurde federführend von Luis Odell (Uruguay), Waldo C sar (Brasilien) und Daniel Lur Villanueva (Argentinien) organisiert.100 Das Ziel der Konsultation war es, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit der protestantischen Kirchen zu eruieren und eine gemeinsame Strategie der Kirchen zur kirchlichen Verantwortung angesichts sozialer, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen zu erarbeiten. Die Konsultation verstand sich daher als eine Plattform für den Austausch der Kirchen über ihre jeweilige gesellschaftspolitische Arbeit und deren theologische Reflexion. Die Konsultation war mit knapp 50 Teilnehmenden zwar nur eine kleinere Konferenz, allerdings repräsentierten die Delegierten insgesamt 14 Konfessionen aus 17 Ländern Lateinamerikas und der Karibik.101 Das Hauptthema „Die soziale Verantwortung der Kirchen angesichts des raschen sozialen Wandels“ wurde in drei Themenkreisen aus sozialer, politischer und wirtschaftlicher Perspektive behandelt. Der Konsultation lag eine klare Analyse der lateinamerikanischen Situation zugrunde, welche auf die Unterentwicklung in der Bildung, die negativen Auswirkungen der Urbanisierung und Industrialisierung auf das soziale Leben, insbesondere in den Familien, die Säkularisierung sowie auf Armut und Unterernährung ein-

Straßburg zum Thema „The Life and Mission of the Church“ geboren, an der neben Paul Abrecht auch mehrere lateinamerikanische Studierende und junge Intellektuelle teilnahmen, wie Luis Odell, Emilio Castro, Jos M guez Bonino und Julio de Santa Ana. Vgl. die Doppelausgabe von Student World 54 (1961), Nr. 1–2. In dieser Doppelausgabe enthalten ist u. a. der Beitrag von M guez Bonino, Witness, 96–110. Für Santa Ana stand diese Konferenz am Beginn seiner weiterführenden Studien im Fach Sozialwissenschaften in Straßburg von 1960–1962; vgl. Cervantes-Ortiz, Entrevista. Vgl. auch das Zeitzeugengespräch mit Santa Ana (5. 3. 2010). 100 Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Encuentro, 12. Die ausführliche Dokumentation der Konsultation erschien 1961 unter dem Titel „Encuentro y desaf o“ (Begegnung und Herausforderung). Sie erschien in einer Auflage von 4000 Stück, vgl. Protokoll der Latin American Working Party (18. 6. 1963), 1, AÖRK 42.55.09. Die englische Übersetzung unter dem Titel „Christians and Social Change in Latin America“ dokumentierte nur die drei Hauptthemenbereiche der Konsultation und verzichtete auf die Details zur Organisation und Arbeitsweise sowie auf die Beschlüsse, vgl. Iglesiay Sociedad en Am rica Latina / World Council of Churches, Christians. 101 Auf der Teilnehmerliste sind 39 Teilnehmende, 3 Berater sowie 6 Beobachter aufgelistet. Die Teilnehmenden vertraten die folgenden Länder: Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Kuba, Chile, El Salvador, Guatemala, Honduras, Jamaika, Mexiko, Paraguay, Peru, Puerto Rico, Uruguay und Venezuela. Damit waren nur drei Länder Lateinamerikas und der Karibik (Ecuador, Nicaragua und die Dominikanische Republik) nicht vertreten. Die Teilnehmenden gehörten den folgende Konfessionen an: Evangelische Allianz Costa Rica, Amigos, Baptisten, Kongregationalisten, Jünger Christi, Anglikaner, Evangelische Kirche von Peru, Brüder, Lutheraner, Methodisten, Pfingstler, Presbyterianer, Reformierte, Armenier und Waldenser. Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Encuentro, 69 f.

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ging.102 Die ökonomische Abhängigkeit Lateinamerikas von der westlichen Welt wurde als ,ökonomischer Kolonialismus‘ angeprangert und unterstrich die Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Wandels, etwa mithilfe von Landreformen.103 Die übergeordnete Frage der Konsultation war jedoch, welche Rolle und Verantwortung die Kirche angesichts dieser schwierigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation habe. Dies wurde insbesondere von der zweiten Sektion unter der Überschrift „The prophetic influence of the Christian on political life in Latin America“ thematisiert, die das Handeln der Kirche biblisch-theologisch zu begründen versuchte und Wege der Partizipation der Kirche am politischen Leben und an den gesellschaftlichen Veränderungen aufzeigte. Dabei nahm die Sektion auch Impulse des Referats von Jos M guez Bonino auf, der bereits zu Beginn der Konsultation über die biblisch-theologischen Grundlagen kirchlichen Handelns gesprochen hatte.104 Aus dem Konsultationsbericht ging die theologische Grundüberzeugung hervor, dass Gott in jeder konkreten historischen Situation, im „hier und jetzt“ anwesend sei. Die Aufgabe der Kirche bestünde darin, an Gottes Handeln teilzunehmen: „In the light of what God is doing the only course for the Church is to contribute prophetically to the renewal of these traditional structures, wherever this is necessary.“105 Allerdings wurde eingeräumt, dass es nicht immer einsichtig sei, wo und wie Gott handle. Obwohl sich die Kirche zum Handeln herausgerufen fühle, dürfe sie sich nicht darüber hinweg täuschen „that God may change the course of His action, and begin to act in a different way“106. Aus dieser theologischen Grundposition leiteten die Teilnehmenden der Konsultation Konsequenzen für die Beteiligung der Kirchen am politischen Leben ab: Die Kirche als Institution dürfe sich nicht in die Politik einmischen, da hier die Gefahr einer Identifikation der Kirche mit dem Anliegen einer bestimmten politischen Gruppe zu hoch sei und das kirchliche Zeugnis beeinträchtigen würde. Vielmehr sei jeder einzelne Christ aufgerufen, sich politisch zu engagieren: „[T]he participation of the Church should be through each Christian exercising his duties as a citizen; the Church as an institution should not participate in politics.“107 Mit dieser Position lehnte sich die Konsultation implizit an die Theologie Karl Barths an und übernahm seine ablehnende Haltung gegenüber der Gründung christlicher Parteien.108 Denn 102 Vgl. Iglesiay Sociedad en Am rica Latina / World Council of Churches, Christians, 7, 9 f., 19. 103 Vgl. ebd., 19–22. 104 Vgl. M guez Bonino, Fundamentos. 105 Iglesia y Sociedad en Am rica Latina / World Council of Churches, Christians, 14. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Die Theologie Barths wurde innerhalb der Bewegung ISAL insbesondere in deren Gründungsphase rezipiert. In den darauffolgenden Jahren orientierte sich ISAL stärker an der

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Barth zufolge bedurfte die Kirche zur Umsetzung ihrer politischer Überzeugungen keiner christlichen Partei; vielmehr sollten Christen „im politischen Raum allein auftreten können, im Sinn der christlichen Richtung und Linie tätig und damit anspruchslose Zeugen der auch dort heilsamen Christusbotschaft“109 sein. Die politische Existenz der einzelnen Christen war für Barth das Grundmerkmal der Christengemeinde: „Die Christengemeinde liefere der Bürgergemeinde solche Christen, solche Bürger, solche im primären Sinn politische Menschen! In ihrer Existenz vollzieht sich dann ihre politische Mitverantwortung auch in der direktesten Form.“110

In dieser theologischen Linie stand auch die Konsultation in Huampan . Jos M guez Bonino, der selbst stark von der Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers geprägt war, forderte, dass sich die lateinamerikanische Kirche endlich zur Welt bekehren müsse.111 Die Konsultation folgte diesem Appell und sah den christlichen Beitrag zur Veränderung der lateinamerikanischen Situation darin, die politische Moral, z. B. im Kampf gegen Korruption, zu bewahren, sich gegen Diktaturen, Militarismus und Klerikalismus zu wenden, sowie einen ,konstruktiven Nationalismus‘ zu unterstützen, der auf wirtschaftliche Befreiung vom Imperialismus sowohl der USA als auch der Sowjetunion zielte.112 Im Blick auf die politische Ordnung hielt der Bericht von Huampan fest, dass weder Kapitalismus noch Kollektivismus aus christlicher Perspektive gutgeheißen werden könnten; stattdessen müssten die Kirchen für die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit eintreten: „In the biblical concept, social justice is the action of God demolishing everything which oppresses and enslaves man, making way for a new society in which human dignity shall be fully recognized.“113 In der Darstellung und Interpretation von Karl-Heinz Dejung beschritt die Konsultation damit einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der der Idee des „demokratischen Sozialismus“ am nächsten zu kommen schien.114 Allerdings wurde der demokratische Sozialismus als Zielvorstellung in Huampan nicht explizit benannt, sondern ließ sich nur anhand von Formulierungen wie dem Streben nach einer neuen, humaneren Gesellschaft ableiten.

109 110 111 112 113 114

Theologie Dietrich Bonhoeffers. Vgl. Cervantes-Ortiz, Entrevista. Auf die Barth-Rezeption innerhalb der Bewegung ISAL wird in der Sekundärliteratur vielfach hingewiesen, allerdings steht deren systematisch-theologische Aufarbeitung noch aus: Vgl. Santiago-Vendrell, Theology; Amestoy, Crisis, 20 f. Vgl. für erste Ausführungen unten S. 106–109. Barth, Christengemeinde, 81 (Nr. 34). Ebd. Vgl. den Verweis auf M guez Boninos Vortrag bei Santa Ana, Einfluß, 153. Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina / World Council of Churches, Christians, 15–17. Ebd., 17. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 302.

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Das Ergebnis der Konsultation von Huampan war die Einrichtung eines Rats für Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika, der damit beauftragt wurde, an den Themen weiterzuarbeiten, neue, regionale Kommissionen für Kirche und Gesellschaft zu gründen und die in Huampan begonnene Arbeit durch Austausch von Informationen und Veröffentlichungen weiterzuführen.115 In den Augen ihrer Protagonisten galt die Konsultation in Huampan folglich als „the first awakening to the profound significance of the Latin American revolution“116. In der Tat gelang es den protestantischen Kirchen mit der Konsultation erstmalig, sich öffentlich zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in Lateinamerika zu bekennen. Allerdings handelte es sich nach Einschätzung von Julio de Santa Ana dabei nur um eine „isolierte Minderheit unter den evangelischen Kirchen Lateinamerikas“117. Angesichts eines solchen Urteils ist es notwendig, die Zusammensetzung, die Arbeitsweise und das Selbstverständnis von ISAL genauer zu untersuchen. 4.2 Arbeitsweise und Selbstverständnis Die Konsultation in Huampan stellte die Weichen für die Gründung eines Rats für Kirche und Gesellschaft, der erstmals im Februar 1962 in S¼o Paulo zusammentrat. Sein Ziel war es „to stimulate awareness of the Christian responsibility for social questions, coordinate efforts of the participating groups, and encourage common ventures of study, action, and witness on particular social issues of concern to Christians throughout the Continent“118. In Kooperation mit den bereits bestehenden nationalen Kommissionen für Kirche und Gesellschaft in Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile und Venezuela rief der Rat ISAL ins Leben– „the first existing permanent organisation and an effective co-operative instrument in Latin America“119. Als Präsident von ISAL wurde der brasilianische Methodist Almir dos Santos berufen, Luis Odell wurde zum Generalsekretär (1961–1967) ernannt und erhielt in seiner Arbeit Unterstützung von seinem Landsmann Hiber Conteris und Gerardo Pet.120 Auf Odell folgten als Generalsekretäre Leopoldo Niilus (1968–1969), Julio de Santa Ana (1969–1972) und Oscar Bolioli (1972–1975). Das Büro von ISAL befand sich bis 1972 in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo, einem Sammlungsort sozialistisch gesinnter Intel115 116 117 118

Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Encuentro, 60. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Justice, 13. Santa Ana, Aporte, 13. Report from the Meeting of the Junta on Church and Society in Latin America – S¼o Paulo, 11.–13. 2. 1962, AÖRK 42.55.09. 119 M. L. [Mauricio L pez], Notes. Latin American Working Party (18. 6. 1963), AÖRK 42.55.09. Weitere Kommissionen sollten dem Protokoll zufolge in Bolivien, Peru, Kolumbien und Puerto Rico entstehen. 120 Vgl. Santa Ana, Aporte, 12.

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lektueller in den 1960er Jahren.121 Unter Christen war Montevideo bis in die frühen 1970er Jahre auch als „ökumenische Stadt“122 bekannt, da hier nicht nur die Büros von ISAL und UNELAM ansässig waren, sondern auch der Verlag Tierra Nueva, der eine Vielzahl linkspolitischer theologischer Schriften sowie die Zeitschrift Cristianismo y Sociedad herausgab. Die Arbeit des ISAL-Büros umfasste auf administrativer Ebene die Erstellung einer Kontaktdatenbank, die Einrichtung einer Bibliothek, die Beziehungspflege zu Forschungseinrichtungen und anderen Organisationen.123 Inhaltlich teilte sich die Arbeit von ISAL in zwei große Bereiche auf: Studien und Veröffentlichungen sowie soziale Aktionen und Projekte. Die tragende Säule waren die Publikationen, die einen breiten theologischen und politischen Reflexionsraum bildeten und das Ziel verfolgten, die Aufmerksamkeit der lateinamerikanischen Christen zum Thema der gesellschaftlichen Verantwortung der Kirchen zu steigern.124 Durch seine Veröffentlichungen erreichte ISAL eine breite akademische Anerkennung, auch seitens der katholischen Kirche.125 Ausgehend von dem Bulletin „Iglesia y Sociedad en Am rica Latina“, das 1959 erstmals erschienen war, publizierte ISAL ab 1963 die dreibis viermal jährlich erscheinende Zeitschrift Cristianismo y Sociedad, die sich zum Zentralorgan von ISAL entwickelte. Die Redaktionsleitung hatte Julio de Santa Ana inne, der darin von Hiber Conteris unterstützt wurde.126 Cristianismo y Sociedad spiegelte mit seinen Themen die vielfältigen Diskussionen der ISAL-Bewegung wider und ermöglichte somit auch Personen außerhalb Lateinamerikas an den Debatten innerhalb des lateinamerikanischen Pro121 So lebte etwa auch der Schriftsteller und Journalist Eduardo Galeano, Autor des epochalen Werks „Die offenen Adern Lateinamerikas“ (1971), in Montevideo. Er war von 1961–1964 stellvertretender Chefredakteur der sozialistischen Wochenzeitschrift Marcha und von 1964–1966 Herausgeber und Redakteur der linken Tageszeitung poca. Beide Zeitschriften hatten ihren Sitz in Montevideo und geben ein Beispiel für die intellektuelle Offenheit der Stadt, in die sich auch ISAL als ökumenisches Netzwerk gut einfügte. Vgl. zu Galeanos journalistischer Tätigkeit: Kovacic, Galeano, 103–128 und 155–184. 122 Vgl. Brief von Oscar Bolioli an Philip Potter (16. 10. 1974), AÖRK 42.3.072/4. 123 Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Encuentro, 63. 124 Vgl. [Unbekannter Verfasser], Intento, 117. 125 Prien, Lateinamerika, Bd. 1, 318, Fn. 21. 126 Vgl. Cristianismo y Sociedad 1 (1963), Nr. 1, 67. Mit dem Personalwechsel in der Leitung von ISAL Ende 1967 übernahm Julio Barreiro die Studien- und Veröffentlichungsarbeit von Hiber Conteris. Die Zeitschrift teilte sich zunächst in vier große Bereiche auf, in denen theologische, lateinamerikanische, internationale und sonstige Themen besprochen wurden. Ab der fünften Ausgabe (1964) war jeder Ausgabe ein Oberthema zugeordnet, zu welchem verschiedene Autoren aus theologischer oder sozial-/ gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive Artikel beisteuerten. Neben den thematischen Artikeln waren auch Konferenzberichte und Buchbesprechungen ein wichtiger Teil der Zeitschrift. Bis 1966 enthielt jede Ausgabe im letzten Teil einen von Luis Odell zusammenfassenden Überblick über die Arbeit von ISAL. Da es jedoch immer schwieriger zu werden schien, die vielfältigen nationalen Aktivitäten in einem Kurzbericht zu bündeln, wurde in der Folgezeit auf diese Zusammenfassungen verzichtet; vgl. Odell, [Bericht über ISAL] (8/1965), 118.

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testantismus teilzunehmen.127 Neben Cristianismo y Sociedad gab ISAL weitere kleinere Informationsblätter heraus128, veröffentlichte Bücher, übersetzte Studien aus anderen Sprachen (vornehmlich Englisch) ins Spanische und Portugiesische und sorgte für deren Verbreitung in Lateinamerika. Der zweite Schwerpunkt der Arbeit von ISAL waren soziale Projekte und die Arbeit mit Laien. Zu diesem Zweck wurde eine Konferenz 1963 in Rio de Janeiro einberufen, die unter dem Titel „Sozialer Dienst und Aktion“129 stand. Die Mitarbeiter von ISAL richteten ein Referat ein, das insbesondere Gemeinden in der Planung von konkreten sozialen Projekten unterstützen sollte.130 Außerdem bot ISAL Schulungen zur Ausbildung von Führungskräften und Gruppenleitern an.131 Die Reaktion auf die Schulungen war sehr positiv: „Viele von ihnen [den Teilnehmenden] sagten uns, dass sich ihnen eine neue Welt der Möglichkeiten sozialen Denkens und Handelns erschlossen hat.“132 In den folgenden Jahren gründeten sich in vielen Ländern Lateinamerikas – 127 Es handelte sich u. a. um folgende Themenschwerpunkte: Christliche Glaube und Marxismus (8/1965); Inter-amerikanische Beziehungen (11/1966); Der Einfluss der USA auf Lateinamerika (13/1967); Interne Migrationsströme in Lateinamerika (15/1968); Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung (21/1969); Theologie und Befreiung (24–25/1970); Die Kritik an der Gewalt in Lateinamerika (28/1971); Volksbildung (29–30/1972). Einen Überblick über die inhaltliche Ausrichtung von Cristianismo y Sociedad gibt: Ru z, Cristianismo. Ru z teilt die Zeitschriften inhaltlich in vier Perioden ein: 1) 1963–1967: Barthianischer Einfluss – Entwicklungstheologie und christlich-soziale Moral 2) 1966–1971: Von einer entwicklungspolitischen Perspektive zur Theologie der Gewalt und der Revolution 3) 1970–1976: Von der Kritik an der Entwicklungspolitik zur Entwicklung der Dependenztheorie. Formulierung der Theologie der Befreiung 4) 1975–1980: Von der elitären Befreiungstheologie zur Suche nach einer Ekklesiologie der Armen Die von Ru z getroffene Periodisierung entspricht in etwa den Etappen und Themen, die unten auf S. 100–106 genauer untersucht werden. 128 Die zwischen 1968 und 1973 erscheinenden Fichas de ISAL waren Informationsblätter, die monatlich zu gesellschaftspolitischen, theologischen und literarischen Themen herausgegeben wurden und eine Ergänzung zu Cristianismo y Sociedad darstellten. Sie wurden als ISAL Abstracts bis 1970 auch von Dwain Epps ins Englische übersetzt. Daneben gab es auch die Carta Latinoamericana, die ab 1965 gemeinsam von ISAL, ULAJE, MEC und CEC herausgegeben wurde. 129 Consulta Latinoamericana sobre Servicio y Acci n Social Cristiana en una Sociedad en R pida Transformaci n, 6.–11. 9. 1963. 130 Vgl. [Unbekannter Verfasser], Intento, 117. 1964 wurde das ISAL-Büro umstrukturiert: Luis Odell behielt die Position des Generalsekretärs, Hiber Conteris war verantwortlich für Studien und Publikationen, während Gerardo Pet den Bereich des sozialen Dienstes und Projekte sowie der Ausbildung von Führungskräften übernahm; vgl. Odell, [Bericht über ISAL] (4/1964), 49. 131 Der erste Kurs fand vom 15.–30. 9. 1964 zum Thema „Rasche Urbanisierung und Industrialisierung in Lateinamerika als Herausforderung für die Kirchen“ statt, an dem rund 25 junge Menschen aus Chile, Argentinien, Brasilien, Bolivien, Paraguay, Peru und Uruguay teilnahmen. Ein zweiter Kurs wurde für Februar 1965 zum Thema „Ländliches Milieu“ vorbereitet; vgl. ebd., 50; Odell, [Bericht über ISAL] (5/1964), 69. 132 Odell, [Bericht über ISAL] (6/1964), 65.

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etwa in Kolumbien, Bolivien und Puerto Rico – weitere nationale Räte für Kirche und Gesellschaft, die in ISAL miteinander verbunden waren. Das in Huampan artikulierte Ziel, innerhalb der protestantischen Kirchen ein Bewusstsein für die soziale, politische und wirtschaftliche Situation zu schaffen, wurde damit binnen weniger Jahre erreicht.133 Innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus besetzte ISAL Anfang der 1960er Jahre somit eine wichtige Leerstelle: Denn angesichts der Industrialisierung und Modernisierung der 1940er und 1950er Jahre veränderte sich die lateinamerikanische Gesellschaft rasant und ISAL bot den evangelischen Kirchen eine Plattform, um diesen gesellschaftlichen Wandel kritisch zu reflektieren. Unterstützt wurde ISAL in der Gründungsphase insbesondere durch die Evangelischen Kirchenbünde und -räte in Brasilien, Mexiko, Argentinien, Uruguay und Chile.134 Dennoch blieb ISAL strukturell weitgehend unabhängig von den kirchlichen Institutionen und bildete schließlich ein Netzwerk einer Vielzahl von linkspolitisch orientierten protestantischen Gruppen und Einzelpersonen. Damit ermöglichte ISAL eine ökumenische Zusammenarbeit innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus, wie es sie bis dahin in Lateinamerika noch nicht gegeben hatte.135 Doch die radikalen Ansprüche an die Veränderung von Kirche und Gesellschaft sowie die revolutionären Überzeugungen vieler ISAL-Mitglieder sorgten im Laufe der 1960er Jahre dafür, dass sich ISAL immer stärker zu einer die verfasste lateinamerikanische protestantische Kirche kritisierenden Bewegung entwickelte.136 Wie Julio de Santa Ana rückblickend selbstkritisch formulierte, handelte es sich bei ISAL nur um eine Minderheit innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus.137 Sie bestand hauptsächlich aus jungen, männlichen Intellektuellen – sowohl Theologen als auch Nicht-Theologen. Einige von ihnen hatten in Europa oder den USA studiert und wollten nun – beeinflusst durch die kubanische Revolution – als Christen zur radikalen Umgestaltung der Gesellschaft beitragen. Ein Großteil der engagierten ISAL-Mitglieder – wie etwa Oscar Bolioli, Jos M guez Bonino, Luis Odell, Julio de Santa Ana, Almir dos Santos – war methodistisch: ein Zeichen für den großen Einfluss der methodistischen Kirche in den lateinamerikanischen Jugendbewegungen, denen viele ISAL-Mitglieder zuvor angehört hatten, sowie für die soziale 133 Vgl. [Unbekannter Verfasser], Intento, 116. 134 Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina. Historia (Faltbroschüre), AÖRK 428.12.02.1. 135 Dies änderte sich mit der Gründung von UNELAM 1964. Zum Verhältnis von ISAL und UNELAM siehe unten S. 104 f. 136 Nach einem Bericht von Theo Tschuy sei die ab 1967 bestimmende Haltung von ISAL gewesen, dass nicht darauf gewartet werden solle, was die verfasste Kirche mache, sondern was einem das Gewissen sage: „In fact it was expected that during the next few years the tension with the church structures would vastly increase.“ (Tschuy, Travel Report (15. 1. 1968), 9, AÖRK 425.4.083.) 137 Vgl. Santa Ana, Aporte, 13.

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Ausrichtung von ISAL, die seit jeher ein Signum der methodistischen Tradition war.138 Der reformierte Theologe John Sinclair, der als US-amerikanischer Beobachter an einer der ISAL-Konferenzen teilnahm, äußerte sich in seinem Bericht erstaunt über die junge ISAL-Generation: „I was impressed by the caliber of delegates. They were definitely not a crosssection of the Latin American Protestant churches, but rather representative of the emerging educated second and third generation urban Protestant. […] Few had any grey hairs. Only a handful were beyond forty. They represented a generation which would probably have been lost from the church unless a movement like ISAL (Church and Society) had challenged them to thought and action. […] I relate usually to ‘the establishment’ in Latin American churches. Now I was observing another phenomenon – a new elite, largely of the ‘southern cone’ of South America from Bolivia, Chile, Argentina, Peru and Brazil […].”139

Es war diese junge, protestantische Elite, die sich ab der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 im ÖRK zunehmend Gehör verschaffte. Die Themen, die sie dort einbrachte, bildeten sich im Laufe der 1960er Jahre innerhalb der ISAL-Bewegung aus und galten in Genf dann als der Beitrag „des“ lateinamerikanischen Protestantismus – auch wenn es sich im eigentlichen Sinn nur um eine Minderheit innerhalb der lateinamerikanischen protestantischen Kirchen handelte. 4.3 Verantwortung – Revolution – Befreiung: Drei Etappen der ISAL-Bewegung In den ersten fünf Jahren hatte ISAL damit begonnen, Aufgabenfelder zu definieren und eine Struktur zu etablieren, die die Arbeit des Netzwerkes unterstützen sollte. Der Rat von ISAL stellte auf seiner zweiten Versammlung im Januar 1963 einen Studienplan auf, der die thematische Arbeit bis 1965 strukturierte und drei Themenfelder umfasste: 1) Die Beziehung zwischen Ideologie und Geschichte, 2) Die christliche Einstellung zu den Revolutionen in Lateinamerika und 3) Die christliche Gemeinschaft in einer Transformationsgesellschaft.140 Außerdem wurden die Vorbereitungen für eine zweite lateinamerikanische Konsultation für Kirche und Gesellschaft getroffen, die schließlich vom 12. bis 21. Januar 1966 in El Tabo (Chile) stattfand. Sie mar-

138 Vgl. zur Geschichte der methodistischen Kirche in Uruguay: Castro, Metodismo; Olivera, Caminos. 139 John Sinclair, Report on Latin America Church and Society Consultation (ISAL), Piri polis, Uruguay, 11.–17. 12. 1967 (22. 12. 1967), 1, AÖRK 428.12.02.1/13. 140 Vgl. Odell, [Bericht über ISAL] (2/1963), 62.

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kierte das Ende der Gründungszeit von ISAL und den Beginn einer neuen Periode, in der die Thematik der Revolution in den Vordergrund rückte.141 Während sich die erste Konsultation in Huampan vor allem auf die Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit Lateinamerikas konzentrierte, beschäftigten sich die Teilnehmenden in El Tabo zielgerichtet mit der Frage nach den Möglichkeiten kirchlichen Handelns angesichts des sozialen Wandels. 75 Delegierte – ordinierte Pfarrer, Theologen, Soziologen, Ökonomen, Pädagogen, Leiter von Arbeiterverbänden und Bauern – aus 15 verschiedenen Konfessionen nahmen an der Konsultation unter dem Titel „Amerika heute: Das Handeln Gottes und die Verantwortung des Menschen“ teil.142 Über Vorträge und Bibelstudien sowie durch die Arbeit in Kommissionen143 wurde das Thema umfassend behandelt. Als besonders wichtig wurde der intensive Dialog zwischen den Teilnehmenden hervorgehoben, der die ganze Atmosphäre der Konsultation ausgemacht habe.144 Die allgemeine Beobachtung der Konsultation war, dass sich die politische Entwicklung auf dem lateinamerikanischen Kontinent seit 1961 verschärft hatte, weswegen eine radikalere Haltung der Kirchen zu den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Problemen des Kontinents notwendig wurde.145 Die Gesellschaftsanalyse der Konsultation, die insbesondere in der Kommission III unter dem Titel „Krise und Revolution in den politischen Strukturen“ erarbeitet worden war, führte den Teilnehmenden die Abhängigkeit Lateinamerikas von den ökonomischen Interessen der westlichen Nationen vor Augen und klagte den politischen und wirtschaftlichen Imperialismus an, der den Menschen die Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen entziehe.146 Die Antwort auf die Probleme des lateinamerikanischen Kontinents sei nicht in Reformen oder in der Entwicklung zu finden, sondern allein in der Revolution, da es zweifelhaft sei „whether social changes can be effected within the established political order“147. Unter dem Schlagwort „Revolution“ wurde in El Tabo ein zielorientierter Prozess verstanden, der auf Humani141 Im Folgenden wird die von Santa Ana vorgenommene Periodisierung von ISAL übernommen; vgl. Santa Ana, Aporte. 142 Vgl. II Consulta latinoamericana de iglesia y sociedad „El Tabo“, 1, AÖRK 428.12.02.01/3. 143 Die 6 Kommissionen beschäftigten sich mit folgenden Themen: 1) Struktur der christlichen Gemeinschaft und Säkularisierungsprozess; 2) Soziale Gerechtigkeit und traditionelle Gesellschaft; 3) Krise und Revolution in den politischen Strukturen; 4) Alternativen zur Entwicklung; 5) Ideologie und Glaube in einer dynamischen Gesellschaft; 6) Autochthone Kulturen und Formen christlichen Lebens; vgl. ebd., 11. 144 Vgl. ebd., 8. 145 Zu den politischen Ereignissen der sich zuspitzenden Situation zählten u. a. die von der Kennedy-Regierung eingesetzte „Allianz für den Fortschritt“, der Militärputsch in Brasilien sowie die US-amerikanische Invasion in die Dominikanische Republik. Vgl. dazu auch oben S. 53–60. 146 Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Justice, 106–112. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 308 f. 147 Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Justice, 113.

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sierung und Partizipation ausgerichtet war.148 Konkret bedeutete dies: die Hebung des Lebensstandards der Menschen, die Partizipation der Menschen an politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen, die Suche nach authentischen Formen des gemeinschaftlichen Lebens, die verantwortliche Bewusstseinsbildung von Menschen hinsichtlich der historischen Entwicklung ihres Landes, die kreative Aneignung der eigenen Kultur sowie die Vermeidung zentralistischer Bürokratieformen durch die Einrichtung von Nachbarschaftsorganisationen, Räten und Kooperativen.149 Der Konsultationsbericht warnte davor, dass die Teilnahme von Christen an der Revolution zu einer Sakralisierung der Revolution führen könne. Die Kirche dürfe nicht darauf hoffen „to give a specifically ,Christian‘ impulse to this change or revolution“150. Vielmehr sei die Partizipation von Christen in bestehenden politischen Parteien und sozialen Bewegungen geboten sowie die Suche nach neuen politischen Ausdrucksformen. Die Gründung spezifisch christlicher Parteien – und darin folgte El Tabo der Konsultation in Huampan – sollte jedoch vermieden werden.151 Die wichtigste Aufgabe der Kirche sahen die Delegierten in der Bildung: „Knowing that political activity always entails struggle for power, the church should educate its members regarding the social and political situation in which they are involved. It should share its knowledge and its political and theological interpretation of the current situation and prevailing ideologies with individuals and political groups commonly concerned over the present injustice and searching for ways to change the order of things.“152

Im Unterschied zur Analyse der lateinamerikanischen Situation in Huampan ging es der Konsultation in El Tabo nicht mehr darum, das gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein von Christen angesichts der sozialen Herausforderungen zu stärken, sondern konkrete Wege zur Teilnahme der Kirche am revolutionären Wandel in Lateinamerika aufzuzeigen. ISAL sah sich als kirchliche Bewegung insbesondere zu der o. g. Bildungsaufgabe berufen und versuchte, durch Konsultationen, Veröffentlichungen und Projekte selbst an diesem Wandel mitzuwirken. Die in El Tabo herausgearbeiteten Positionen stellten einen ersten Höhepunkt in der Arbeit von ISAL dar, die nicht nur für den lateinamerikanischen Kontext, sondern auch für die internationale ökumenische Bewegung von großer Bedeutung waren. El Tabo kann in dieser Hinsicht als regionale Vor148 Hinsichtlich der theologischen Begründung der Revolution wurde die bereits in Huampan formulierte Grundaussage der Präsenz Gottes in der Geschichte wiederholt. Die in El Tabo maßgeblichen theologischen Beiträge stammten von Richard Shaull und Jos M guez Bonino. Vgl. dazu Dejung, Entwicklungskonflikt, 311–314. 149 Vgl. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Justice, 116. 150 Vgl. ebd., 118 f. 151 Vgl. ebd., 119. 152 Ebd., 123.

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bereitungskonferenz für die Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 angesehen werden.153 Auf lateinamerikanischem Boden mündeten die Diskussionen in eine dritte evangelische Konsultation für Kirche und Gesellschaft, die vom 11. bis 17. Dezember 1967 in Piri polis (Uruguay) durchgeführt wurde. Parallel zu dieser Konsultation fanden zwei weitere Tagungen statt, die sich einerseits mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft und andererseits mit der Rolle der Jugend in Lateinamerika befassten. Insgesamt waren 200 Teilnehmende in Piri polis versammelt, davon etwa 40 % Frauen im Alter von 25 bis 40 Jahren. Das Treffen stand unter der Koordination des Generalsekretärs von UNELAM, Emilio Castro und galt nach Einschätzung des Lateinamerikasekretärs des ÖRK Theo Tschuy als „the largest ecumenical meeting ever held in Latin America“154. Im Vordergrund der ISAL-Konsultation standen Fragen zur Weiterarbeit der Bewegung, wobei sich die Teilnehmenden auf vier Sektionen verteilten.155 Sektion I, die sich mit der Zukunft von ISAL befasste, stellte nach Auffassung von Tschuy „[t]he most sustained intellectual effort“156 dar. Der Sektionsbericht macht deutlich, dass hier über die Identität und das Ziel von ISAL gerungen wurde: Denn in dem Bericht wurde in Kontinuität zu den Konsultationen in Huampan und El Tabo betont, dass ISAL eine Bewegung zur kritischen Reflexion der lateinamerikanischen Realität sei, dass sich ISAL aber nicht als politische Bewegung oder Partei verstehen dürfe.157 Wichtig sei es, Reflexion und Aktion stärker miteinander zu verbinden, um zu einem kritischen Denken im Handeln zu gelangen.158 Diese kritisch-reflexive Aktion müsse zugleich in eine dialektische Beziehung mit der theologischen Reflexion treten, die auch politische und soziale Aspekte zu berücksichtigen habe.159 Selbstkritisch hielt der Bericht der ersten Sektion außerdem fest, dass ISAL vornehmlich Studierende, Intellektuelle und Akademiker anziehe. Angesichts der Tatsache, dass die Kirchen allerdings etwa zu 90 % aus Arbeitern und Bauern bestünden, müsse sich die Arbeit von ISAL stärker als bisher auf die 153 Vgl. ausführlich zum Einfluss der lateinamerikanischen Delegierten in Genf 1966 unten S. 132–159. 154 Tschuy, Travel Report (15. 1. 1968), 6, AÖRK 425.4.083. Die Teilnehmenden verbrachten die ersten beiden Tage gemeinsam und teilten sich anschließend in die drei Gruppen (ISAL, Frauen, Jugend) auf. An der ISAL-Tagung nahmen rund 80 Personen teil. 155 Sektion I: Zukünftige Strategie und Aktion von ISAL; Sektion II: Sozialer Dienst und Projekte; Sektion III: Organisation und Entwicklung der Gemeinschaft; IV: Interne Migration; vgl. Consulta de Piri polis. Informe de la III consulta latinoamericana, AÖRK 428.12.02.1/12. 156 Tschuy, Travel Report (15. 1. 1968), 10, AÖRK 425.4.083. Den Vorsitz der Sektion I hatte Gonzalo Castillo C rdenas, Leopoldo Niilus führte das Protokoll. 157 Vgl. Consulta de Piri polis. Informe de la III consulta latinoamericana, 2 f., AÖRK 428.12.02.1/ 12. 158 Vgl. ebd., 2. 159 Vgl. ebd., 4.

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städtischen ,Volksmassen‘ und Bauern beziehen.160 Hier trat nun erneut der Bildungsauftrag der Kirche in den Vordergrund, der bereits von der zweiten Konsultation in El Tabo gefordert wurde. Die Sektion rief dazu auf, unter den ,Volksmassen‘ ein Bewusstsein über die Strukturen der Unterdrückung und Ausbeutung anzuregen, das ihnen dazu verhelfen könne, sich aus ihrer Unterdrückung zu befreien. Die Konsultation in Piri polis empfahl daraufhin die Einsetzung eines Bildungsprogramms, das sich in den folgenden Jahren mit dieser Thematik befasste und Bildungsangebote in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern durchführte.161 Der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire, der in dieser Zeit bereits im Exil in Chile lebte, wurde als Berater des Programms gewonnen.162 Mit der Konsultation in Piri polis begann für ISAL eine neue Periode (1968–1971), in der weniger von Revolution als von Befreiung die Rede war. Wie Julio de Santa Ana rückblickend zusammenfasste, etablierte sich in dieser Zeit die Befreiungstheologie als theologische Grundhaltung der Arbeit von ISAL. Wichtige Denkanstöße kamen dabei von den beiden brasilianischen Theologen Rubem Alves, der 1968 als Schüler von Richard Shaull in Princeton promovierte, und Hugo Assmann.163 Der Primat der Praxis, d. h. die Vorordnung der Praxis vor die theologische Reflexion, der zu den grundlegenden Errungenschaften der Befreiungstheologie zählte, wurde auch für die Arbeit von ISAL immer wichtiger. Dies drückte sich vor allem durch die Arbeit innerhalb des Bildungsprogramms aus, das die von Freire angestoßene „eduaci n popular“ unterstützte.164 Die vierte lateinamerikanische Konsultation von ISAL in El aÇa / Peru 1971 legte dann auch den Schwerpunkt auf die Volksbildung und entwickelte Strategien, um diese stärker als bisher in die Arbeit von ISAL zu integrieren.165 In der Zeit, in der ISAL dezidiert befreiungstheologische Positionen vertrat, spitzte sich auch der Konflikt mit den kirchlichen Institutionen in Lateinamerika zu. Besonders deutlich zeigte sich dies in der Auseinandersetzung mit der vorläufigen Kommission für lateinamerikanische evangelische Einheit UNELAM. Die grundlegende Kritik von ISAL bestand darin, dass es in der vorläufigen Kommission insgesamt zu wenig Potential zur Einigung des la160 Vgl. ebd. 161 Das Programm trug den Namen „Bildung für soziale Gerechtigkeit“ (Educaci n para la justicia social – EPJS). 162 Vgl. Santa Ana, Aporte, 14. Santa Ana zufolge veröffentlichte ISAL in diesen Jahren ein Manuskript Freires mit dem Titel „Pedagogia del oprimido“, das ein Vorläufer seines weltbekannten Buches „Pädagogik der Unterdrückten“ war. 163 Vgl. Alves, Theology; Assmann, Opresi n. Assmanns Werk wurde von ISAL publiziert. Für Rubem Alves und Richard Shaull war ISAL ein wichtiger theologischer Referenzort, an dem sie ihre befreiungstheologische Perspektive entwickeln konnten. Beide Theologen können – je auf ihre Weise – als reformierte Wegbereiter der Befreiungstheologie angesehen werden: Vgl. Schilling, Existenz. 164 Vgl. Cervantes-Ortiz, Entrevista. 165 Vgl. Carvajal, Am rica latina.

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teinamerikanischen Protestantismus gäbe. So kritisierte beispielsweise Hiber Conteris die zu enge Zusammenarbeit von UNELAM mit den nationalen Kirchenbünden bzw. -räten, die eher zur Verstärkung der konfessionellen Grenzen, als zu deren ökumenischer Öffnung führten. Dieser „Super-Denominationalismus“166 habe zur Folge, dass die traditionellen protestantischen Kirchen die neuen, meist fundamentalistischen Bewegungen des lateinamerikanischen Protestantismus, ignorieren würden. Die Aufgabe von UNELAM bestand für Conteris jedoch genau darin, die evangelikalen und charismatischen Gruppen in die ökumenische Arbeit zu integrieren und sie in ihrer theologischen Reflexion zu unterstützen. Die seitens UNELAM erwogene Integration von ISAL in die vorläufige Kommission lehnte Conteris grundsätzlich ab.167 Der Konflikt zwischen beiden Organisationen setzte sich in den späten 1960er Jahren fort und zeigte sich u. a. auch auf der dritten evangelischen lateinamerikanischen Konferenz (CELA III). Nach Santa Ana führten die Spannungen zwischen UNELAM und ISAL Anfang der 1970er Jahre sogar so weit, dass Mitglieder von ISAL durch Vertreter von UNELAM denunziert und an die Behörden in Brasilien, Uruguay und Paraguay ausgeliefert worden seien.168 Diese spannungsreiche Zeit stellte den Beginn der vierten Periode von ISAL (1971–1975) dar, in der sich innerhalb der Bewegung für Kirche und Gesellschaft einerseits auf programmatischer Ebene das Bewusstsein für die Volksbildung vertiefte und andererseits auf struktureller Ebene die Repression insbesondere der uruguayischen Behörden gegenüber ISAL zunahm.169 Nach einem Anschlag auf das Privathaus von Julio de Santa Ana im August 1972 verschärfte sich die Situation auch für ISAL, so dass die Weiterarbeit nur eingeschränkt fortgeführt werden konnte. Santa Ana sah sich aufgrund der wachsenden Repression gezwungen, seine Arbeit als Generalsekretär bei ISAL zu beenden und Uruguay zu verlassen. Er ging ins Exil nach Genf, wo er beim ÖRK von 1972 bis 1982 zunächst als Studienleiter und später als Programmdirektor des Kirchlichen Entwicklungsdienstes arbeitete.170 Die verbleibenden Mitarbeiter von ISAL sahen sich in den folgenden Monaten dazu veranlasst „ISAL von der Landkarte verschwinden zu lassen, aber seine Tätigkeiten fortzuführen“171. Dies bedeutete, dass der Name ISAL ab Mitte Dezember 1973 nicht mehr in der Korrespondenz genannt werden durfte; Post oder Telegramme sollten konsequenterweise auch nicht mehr an 166 Hiber Conteris, [Offener Brief] (29. 1. 1965 [1966?]), 2, AÖRK 24.2.037. 167 Vgl. ebd., 3. 168 Vgl. Santa Ana, Aporte, 15. In einem Zeitzeugengespräch mit der Verfasserin am 5. 3. 2010 sagte Santa Ana, dass dies von Seiten ISAL u. a. die beiden Brasilianer Rubem Alves und Jether Ramalho betroffen habe. Diese Vermutung lässt sich mithilfe der Quellen weder bestätigen noch widerlegen. 169 Vgl. ebd. 170 Vgl. dazu ausführlich unten S. 214–227. 171 Santa Ana, Memorandum (5. 12. 1973), AÖRK 421.431.

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das bekannte Postfach adressiert, sondern an andere Adressen in Montevideo geschickt werden. Kompromittierende Unterlagen durften darüber hinaus überhaupt nicht nach Montevideo gelangen, sondern sollten nur noch an das argentinische ISAL-Büro nach Buenos Aires gesendet werden.172 Infolge der zunehmenden Repression durch die staatlichen Behörden in vielen Ländern Lateinamerikas sah sich ISAL 1975 gezwungen, seine Arbeit zu beenden. Die Konferenz in Alajuela (Costa Rica) im März 1975 übernahm das Erbe von ISAL und führte unter dem Namen ASEL (Acci n Social Ecum nica en Am rica Latina) die Arbeit – wenngleich unter anderen Schwerpunkten – fort.173 Die Zeitschrift Cristianismo y Sociedad konnte hingegen die Kontinuität der Bewegung für Kirche und Gesellschaft noch über mehrere Jahrzehnte bewahren.174 4.4 Theologische Einflüsse und ökumenische Wechselwirkungen ISAL verstand sich zwar als genuin lateinamerikanische Bewegung der Kirchen für gesellschaftspolitische Fragen, wurde allerdings stark von der theologischen und ökumenischen Entwicklung in Europa und Nordamerika beeinflusst. So wies die Bewegung insbesondere in den Anfangsjahren einen engen Bezug zu europäischer Theologie, Philosophie und sozialwissenschaftlichen Konzepten auf. Außerdem bestanden seit Gründung der Bewegung enge Verbindungen zur Arbeit des ÖRK. Die Wechselwirkungen, die sich daraus für die ökumenische Arbeit von ISAL ergeben haben, werden im Folgenden am Beispiel des theologischen Einflusses von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer und an den Verbindungen zwischen ISAL und dem ÖRK herausgearbeitet. 4.4.1 Der Einfluss der Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers Die theologische Arbeit von ISAL wurde in der Anfangsphase entscheidend von europäischer Theologie geprägt, insbesondere durch die Rezeption der Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers. Führende Theologen der Bewegung, wie Rubem Alves, Jos M guez Bonino und Julio de Santa Ana, aber auch Emilio Castro, der im weiteren Umfeld von ISAL stand, nahmen Gedanken dieser beiden deutschsprachigen Theologen auf und übertrugen ihre theologischen Entwürfe auf den lateinamerikanischen Kontext. Die Rezeption von Karl Barth in Lateinamerika setzte allerdings nicht erst 172 Vgl. ebd. 173 Vgl. Monterroso, Asel, 31. 174 Cristianismo y Sociedad erschien nach der Schließung von ISAL noch bis 1999, allerdings ab 1974 nicht mehr im hauseigenen Verlag, sondern in der argentinischen Editorial Tierra Nueva.

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mit der Gründung von ISAL ein. Sie begann bereits im Jahr 1938 und setzte sich von da ab kontinuierlich, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges insbesondere durch die Arbeit der lateinamerikanischen Studentengemeinden (MEC) fort.175 Castro studierte von 1953 bis 1954 bei Barth in Basel und war dessen erster lateinamerikanischer Student.176 Der brasilianische Theologe Alves beschäftigte sich in seiner frühen Theologie ausführlich mit Barths ,Paradigma der Humanisierung‘ und der Transzendentalität Gottes in seiner Dissertation „ATheology of Human Hope“ (1969).177 Und auch M guez Bonino setzte sich umfassend mit der Theologie Barths auseinander und verfasste 1986 ein ausführliches Vorwort zur ersten spanischen Übersetzung von Barths „Einführung in die evangelische Theologie“.178 Die bedeutendste Errungenschaft der Theologie Barths war für alle drei lateinamerikanischen Theologen die Wiederentdeckung und der Rückbezug der Theologie auf die Bibel als Offenbarung Gottes.179 Für Castro bestand das Verdienst Barths darin, dass er der lateinamerikanischen Theologie geholfen habe, „unsere gesellschaftlichen Erwartungen an biblischen Einsichten zu messen. Doch das Neue unseres Weges war, daß wir die biblischen Texte innerhalb der brennenden Probleme des Kampfes um soziale Befreiung in Lateinamerika lasen und um Orientierung befragten“180.

In der radikalen Kontextualisierung der biblischen Botschaft ging der lateinamerikanische Ansatz über Barth hinaus. Zwar hätte Barth Castro zufolge nichts gegen eine kontextuelle Bibelauslegung einzuwenden gehabt.181 Aber: „Was er nicht zuließ, war der Gedanke, den Kontext als Quelle der Offenbarung anzusehen. Die Offenbarung ereignet sich im Kontext und die Bibel ist der Maßstab derselben.“182 Die Bibel – so lernte Castro von Barth – ist das lebendige Wort, aus dem heraus Gott zu den Menschen in ihrem jeweiligen Kontext spricht.183 Als besonders relevante Themen der Theologie Barths 175 Vgl. Castro, Lage, 930 f. 176 Vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 106–114. 177 Vgl. Alves, Theology, 44–55 [Kap. The Barthian Paradigm: From the „No“ of Crisis to the „Yes“ of Election]. 178 M guez Bonino, Introducci n; vgl. Davies, Faith, 32. 179 Vgl. u. a. Barth, Wort; Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 114; Davies, Faith, 33; Alves, Theology, 53. 180 Zit. n. Linn, Castro, 8. 181 Vgl. zur Kontextbezogenheit von Barths Theologie die Interpretation von Michael Weinrich, der Barth konsequent als ,Kontexttheologen‘ ansieht: Weinrich, Katze, bes. 330; Weinrich, Zeitgenossenschaft, bes. 317 f. 182 Zit.n. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 118 (Übersetzung – AS). Vgl. Barth, Offenbarung. 183 Castro sah darin auch die Überwindung des fundamentalistisch-liberal / modernistischen Gegensatzes des lateinamerikanischen Protestantismus gegeben: „Man beseitigt den fundamentalistischen Rationalismus, der alles der objektiven Wirkung des Buchstabens beimißt, und man überwindet den modernen Humanismus, der alles der menschlichen Folgerung

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galten für die Lateinamerikaner die Gnadenlehre und seine Christologie. In seinem Vorwort zu Barths ,Einführung in die Theologie‘ hob M guez Bonino hervor, dass Barth den Menschen immer wieder auf seine Menschlichkeit zurückverweist und jegliche Anstrengungen des Menschen, sich selbst zum Gott zu erheben, ablehnt.184 Gott als den ,ganz Anderen‘ anzunehmen, der sich aber nicht vom Menschen abwendet, sondern mit den Menschen lebt – nicht neben oder über ihnen –, war die Quintessenz, die M guez Bonino aus Barths Werk zog.185 ISAL machte sich als kirchliche Bewegung insbesondere Barths Verständnis vom Verhältnis von Theologie und Politik zueigen, indem bereits auf der Gründungskonferenz in Huampan darauf hingewiesen wurde, dass Christen ihre politische Verantwortung wahrnehmen müssten, sie aber nicht der Versuchung der Etablierung einer christlichen Partei anheim fallen sollten.186 Neben Karl Barth galt für ISAL insbesondere Dietrich Bonhoeffer als wichtiger Impulsgeber. Die Einführung Bonhoeffers in den lateinamerikanischen Protestantismus ging u. a. auf Richard Shaull zurück, der während seiner Tätigkeit als Missionar in Brasilien die jungen lateinamerikanischen Theologen auf Seminaren der christlichen Studentenbewegung mit Texten von Bonhoeffer vertraut machte.187 Julio de Santa Ana, der sich stark von der Theologie Bonhoeffers leiten ließ, hielt im Rückblick fest: „Viele jener protestantischen Studenten und Führer, die durch Bonhoeffer in den 50er Jahren herausgefordert und inspiriert worden waren, fingen an, sich häufiger zu treffen und gemeinsam an der Entwicklung von ISAL zu arbeiten. Es war das Ziel der Bewegung, angesichts der Veränderungen, die in Lateinamerika ausgelöst worden waren, in den Mitgliedern der Kirche eine verantwortliche Haltung entstehen zu lassen.“188

Zu dieser jungen Theologengeneration gehörten neben Santa Ana, Jos M guez Bonino, und Rubem Alves auch Mauricio L pez, Gonzalo Castillo C rdenas und Hiber Conteris.189 Die wichtigsten Texte aus Bonhoeffers Werk waren in den 1950er und 1960er Jahren die „Nachfolge“, „Widerstand und Ergebung“ und die Fragmente der „Ethik“, die in diesen Jahren jeweils ins

184 185 186 187 188 189

freigibt, um das Lesen der Bibel als eine Begegnung mit dem Gott der Bibel erfahren zu dürfen.“ (Castro, Lage, 935.) Vgl. M guez Bonino, Introducci n, 17; vgl. auch Davies, Faith, 34 f. Vgl. Davies, Faith, 35. Iglesia y Sociedad en Am rica Latina / World Council of Churches, Christians, 14. Vgl. zum Verhältnis von Barth und der Befreiungstheologie: Hunsinger, Barth. Zur Rezeption Barths aus befreiungstheologischer Perspektive vgl. Plonz, Gewalten. Vgl. Santa Ana, Einfluss, 151 f.; Santiago-Vendrell, Theology, 52 f. Vgl. Santa Ana, Einfluss, 152. Vgl. ebd.

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Spanische übersetzt worden waren.190 Daraus ergaben sich Santa Ana zufolge drei Themen, die im Anschluss an Bonhoeffer wegweisend für den theologischen Diskurs innerhalb von ISAL wurden: a) Die Überwindung des Dualismus zwischen Kirche und Welt – dies bedeutete, sich als Christ in Lateinamerika aus dem Ghetto der Kirche zu befreien und in der Welt zu leben „als ob Gott nicht existierte“191 – b) Die Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Ideologien – dies bedeutete, in Anlehnung an Bonhoeffers Unterscheidung von den letzten und vorletzten Dingen, die Ideologie des Radikalismus einerseits und die Ideologie des Kompromisses andererseits zu verwerfen und durch den Glauben an Jesus Christus den Weg für die Begegnung Gottes mit den Menschen zu ebnen192 – und c) Die Bedeutung und Gestaltung der christlichen Nachfolge – dies bedeutete, am Ringen um einen verantwortlichen Widerstand gegenüber repressiven politischen Systemen teilzunehmen, im Wissen auf das Angewiesensein des Menschen auf den gnädigen Zuspruch Gottes.193 Angesichts dieses markanten theologischen Einflusses schrieb Santa Ana Bonhoeffers Theologie folglich eine ,mäeutische Funktion‘ für die Ausprägung der Befreiungstheologie Ende der 1960er Jahre zu, die die lateinamerikanischen Theologen „zur Formulierung eigener theologischer Konzepte und praktischer Zielsetzungen“194 anregte. Auch, wenn die jungen lateinamerikanischen Theologen an vielen Stellen über Bonhoeffer hinaus gingen, verhalf ihnen seine Theologie dazu, die theologischen und politischen Spannungen in Lateinamerika nicht durch einseitige, radikale Positionierungen aufzuheben, sondern die damit verbundenen Konflikte wahrzunehmen und auch aushalten zu können. 4.4.2 Wechselwirkungen zwischen ISAL und dem ÖRK Zwischen ISAL und dem ÖRK bestanden seit Anbeginn enge inhaltliche und personelle Verbindungen. Paul Abrecht, der das Referat für Kirche und Gesellschaft beim ÖRK leitete, war ein wichtiger Verbindungsmann, der seit der 190 Bereits 1954 erschien die „Nachfolge“ und Auszüge aus „Widerstand und Ergebung“; 1968 folgte die Übersetzung der „Ethik“. Vgl. Schoenborn, Nachfolge, 57. 191 Vgl. Santa Ana, Einfluss, 153–156; vgl. Bonhoeffer, Brief an Eberhard Bethge (16. 7. 1944). In: Bonhoeffer, Widerstand, 529–535. Das Zitat steht im Zusammenhang von Bonhoeffers Nachdenken über die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe. Dabei bezieht sich Bonhoeffer explizit auf die Lebensphilosophie Wilhelm Diltheys, vgl. W stenberg, Theologie, 142–145. 192 Vgl. Santa Ana, Einfluss, 157–160, vgl. Bonhoeffer, Dinge. Vgl. ausführlicher: Santa Ana, F , 12–14. 193 Vgl. Santa Ana, Einfluss, 160–163; vgl. Bonhoeffer, Gnade. 194 Santa Ana, Einfluss, 164. „In diesem Sinne können wir von einem Einfluß Bonhoeffers auf die Entwicklung der Theologie der Befreiung in Lateinamerika sprechen; ein Einfluß, der also als mäeutisch bezeichnet werden kann.“ (Ebd., 152.)

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Konferenz zum raschen sozialen Wandel in Montevideo 1957 regelmäßig nach Lateinamerika reiste und selbst auch auf der Gründungskonsultation von ISAL in Huampan anwesend war. Als ökumenisch orientierte Organisation, die sich mit Themen von Kirche und Gesellschaft befasste, war ISAL weltweit einzigartig, wie der erste Generalsekretär der Bewegung Luis Odell zusammenfasste: „The creation of ISAL represented the only instance in the world in which the Rapid Social Change study was translated into an ecumenical organization of a regional character with its own identity, exercising a transcendental influence in the Protestant world and making an impact in the Catholic context as well.“195

Doch nicht nur im Selbstverständnis, sondern auch aus der Sicht des ÖRK galt ISAL als „the most authentic ecumenical force in Latin America“196. Folglich bekam ISAL fortwährend auch finanzielle Unterstützung durch den ÖRK, v. a. für die Durchführung von Konsultationen, für die Studienarbeit sowie die Administration. Von der Abteilung für zwischenkirchliche Hilfe des ÖRK (DICARWS) erhielt ISAL beispielsweise in den Jahren 1963 und 1964 eine jährliche Zuwendung von 10.000 US $, die ab 1965 dann auf 12.500 US $ erhöht wurde.197 Zur Begründung hieß es in dem Bericht des DICARWS Divisional Committee: „It was felt that this creative and rapidly growing movement would in due course challenge the Latin American churches to new thinking on the impact of social revolution, development, and nation-building.“198 Der Einfluss von ISAL wurde innerhalb des ÖRK insbesondere im Zuge der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966 sichtbar, wo ISAL-Mitglieder wie Mauricio L pez oder Richard Shaull die auf den ISAL-Konsultationen reflektierten Themen wie Revolution, Humanisierung und Sozialismus in den globalen ökumenischen Diskurs eintrugen.199 Aber auch für die Ausprägung befreiungstheologischer Diskurse ab 1968 blieb ISAL durch seine Delegierten auf den internationalen ökumenischen Konsultationen von SODEPAX sowie durch ehemalige ISAL-Mitarbeiter im Stab des ÖRK ein wichtiger Impulsgeber und Referenzpunkt des lateinamerikanischen Protestantismus. Die personellen Verbindungen zwischen dem ÖRK und der ISAL-Bewegung begannen durch die Arbeit von Mauricio L pez, der von 1963 bis 1967 als Assistent Paul Abrechts im Referat für Kirche und Gesellschaft tätig war. 1969 wurde der zweite Generalsekretär von ISAL, Leopoldo Niilus, zum Direktor der CCIA nach Genf berufen, wenig später folgte ihm sein Mitarbeiter Dwain Epps, der seit 1967 als Freiwilliger – vermittelt durch das US-amerikanische 195 Odell, Church, 36. 196 Memorandum von Theo Tschuy an K. Waterman (2. 7. 1968), AÖRK 421.167. 197 Vgl. DICARWS Divisional Committee, New Ecumenical Developments in Latin America (November 1965), 3, AÖRK 42.3.071/2. Über die Zahlungen des ÖRK an ISAL nach 1965 liegen keine archivalischen Belege vor. 198 Ebd. 199 Vgl. Schilling, Sozialismus; vgl. unten S. 132–159.

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Freiwilligenprogramm Frontier Internship in Mission200 – bei ISAL arbeitete.201 Aufgrund der politischen Repression in Uruguay kam auch der auf Niilus folgende Generalsekretär von ISAL, Julio de Santa Ana, 1972 als Mitarbeiter in den Stab des ÖRK. Im gleichen Jahr ging Oscar Bolioli, der seit 1968 als Jugendsekretär im ÖRK tätig war, zurück nach Montevideo und Buenos Aires, wo er die Leitung von ISAL übernahm.202 Durch diese unterschiedlichen personellen Verbindungen war die Arbeit von ISAL innerhalb des ÖRK immer präsent; umgekehrt war auch für ISAL der ÖRK der entscheidende ökumenische Bezugspunkt außerhalb Lateinamerikas. Aufgrund der theologischen Einflüsse aus Europa, aber auch hinsichtlich der engen Beziehungen zum ÖRK stand für einige Kritiker infrage, inwiefern ISAL wirklich eine lateinamerikanische Bewegung für Kirche und Gesellschaft darstelle, oder ob sie nicht vielmehr den Interessen der europäischen und nordamerikanischen Ökumene folge. Besonders deutlich wurde diese Kritik von dem guatemaltekischen Theologe und Präsident der Evangelischen Allianz Jorge Monterroso geäußert, der ab 1972 gemeinsam mit Bolioli selbst in der Leitung von ISAL tätig war: Er beanstandete vor allem die zu starke europäische Ausrichtung von ISAL, die er durch das Übergewicht der traditionell europäisch geprägten Cono-Sur-Länder zustande kommen sah. Dieses europäische Gesicht des Cono Sur hätte auf allen Ebenen die Repräsentation der amerikanischen Völker nicht-angelsächsischer Herkunft monopolisiert.203 Monterrosos Kritik ist in verschiedener Hinsicht berechtigt: Denn in der Tat konzentrierte sich die Arbeit von ISAL – insbesondere in den Gründungsjahren – auf die Länder Argentinien, Uruguay, Brasilien und Chile. Verstärkt wurde dies dadurch, dass das ISAL-Büro seinen Sitz in Montevideo hatte und damit die Situation in der Region des R o de la Plata stärker vor Augen stand, als andere Teile Lateinamerikas. Auch die Protagonisten der ISAL-Bewegung waren durch ihre Studienaufenthalte in Europa und den USA stark von europäischer und nordamerikanischer Theologie und Denkart beeinflusst. Dass deshalb die Arbeit von ISAL zu theorielastig gewesen sei, bemängelte bereits 1967 auch John Sinclair in seinem Bericht über die ISALKonsultation in Piri polis: „There is in ISAL as most movements of this kind 200 Frontier Intership in Mission (FIM) war ein US-amerikanisches Freiwilligenprogramm der protestantischen mainline churches, das zwischen 1960 und 1974 139 junge, gesellschaftspolitisch aktive College- und Universitätsabsolventen für zwei Jahre in die „Dritte“ oder „Zweite“ Welt entsandte. Vgl. dazu das Forschungsprojekt an der School of Theology der Boston University: http://www.bu.edu/cgcm/scm-usa-project/frontier-internship-in-mission-project/ (7. 9. 2015). 201 Zeitzeugengespräch mit Dwain Epps (12. 3. 2010). 202 Vgl. Bolioli, Solidaridad. Bolioli bildete gemeinsam mit dem evangelikalen Theologen Jorge Monterroso und dem Jesuitenpater Pedro Negre das Leitungsteam von ISAL. 203 Vgl. Monterroso, Asel, 31.

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an intellectual bias and a lack of practical application.“204 Dennoch ist es wichtig anzuerkennen, dass ISAL im Laufe seiner Arbeit versucht hat, sowohl die regionale Fokussierung aufzuheben und sich mit den Problemen anderer Teile Lateinamerikas zu befassen, als auch die praktische Umsetzung seiner Arbeit zu intensivieren. Die Kritik von Monterroso weist darüber hinaus jedoch auch auf ein grundlegendes Problem in der weltweiten ökumenischen Wahrnehmung von ISAL hin: Denn ISAL wurde insbesondere seitens des ÖRK als „das“ authentische Gesicht des lateinamerikanischen Protestantismus wahrgenommen und als solches unterstützt.205 Zugespitzt ließe sich formulieren, dass ISAL die Repräsentation der lateinamerikanischen Kirchen in der internationalen Ökumene monopolisierte bzw. ISAL dieses Monopol zugespielt wurde. Dass es sich bei ISAL jedoch um eine Minderheit innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus handelte, die von sich aus keinen Anspruch auf eine umfassende Repräsentation desselbigen in der internationalen Ökumene erheben konnte, wurde dabei meist ausgeblendet.

5. Die Strukturierung und Professionalisierung der Arbeit zur Region Lateinamerika im ÖRK ab 1961 Die wachsende Aufmerksamkeit des ÖRK für die Entwicklungen in Lateinamerika im Zuge des Rapid Social Change-Programms führte ab dem Jahr 1961 – zeitgleich mit der Gründung von ISAL – zu einer klareren Einbettung der Arbeit zur Region Lateinamerika in die Strukturen des Weltkirchenrates. So kam es 1961 zur Gründung des Lateinamerika-Sekretariats, das die bestehenden Verbindungen zu den protestantischen Kirchen in Lateinamerika ausbaute und neue Kontakte knüpfte. Um die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Abteilungen des ÖRK zur Region Lateinamerika zu gewährleisten, wurde darüber hinaus ein lateinamerikanischer Arbeitsausschuss eingesetzt, der in unregelmäßigen Abständen mehrmals im Jahr zusammentrat. Ziel dieses Ausschusses war es, in Absprache mit dem Lateinamerika-Sekretariat eine einheitliche Strategie des ÖRK in Lateinamerika zu entwickeln. Im folgenden Kapitel werden zunächst die Arbeitsweise des LateinamerikaSekretariats und die Verbindungen mit anderen Abteilungen des ÖRK vorgestellt. Am Beispiel der Arbeit des lateinamerikanischen Arbeitsausschusses kann dann exemplarisch gezeigt werden, welche Themen den lateinamerikanischen Protestantismus in den 1960er Jahren beschäftigten und wie sich

204 John Sinclair, Report on Latin America Church and Society Consultation (ISAL) (22. 12. 1967), 1, AÖRK 428.12.02.1/13. 205 Vgl. Odell, Wandel, 163.

Strukturierung und Professionalisierung ab 1961

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die ökumenische Arbeit zur Region Lateinamerika kontinuierlich professionalisierte. 5.1 Das Lateinamerika-Sekretariat Das Lateinamerika-Sekretariat des ÖRK war in der Abteilung für zwischenkirchliche Hilfe (DICARWS) angesiedelt. Die Leitung des Sekretariats oblag von 1961 bis 1971 dem schweizerischen methodistischen Theologen Theo Tschuy, der zuvor mehrere Jahre in Chile gelebt hatte und daher mit dem lateinamerikanischen Kontext vertraut war.206 Tschuy war neben Paul Abrecht eine wichtige Person im Stab des ÖRK, der die Integration Lateinamerikas in den ÖRK maßgeblich vorantrieb. Ab Mitte des Jahres 1961, d. h. mit der Gründung von ISAL in Huampan , begann Tschuy damit, den lateinamerikanischen Kontinent systematisch zu bereisen und baute Kontakte zu den lateinamerikanischen Kirchen, den nationalen Kirchenräten sowie ökumenischen Organisationen auf.207 Als lateinamerikanischer Berater diente ihm der Argentinier Mauricio L pez, der seit 1963 im Referat für Kirche und Gesellschaft des ÖRK tätig war. Zu einer der Grundentscheidungen des Lateinamerika-Sekretariats gehörte die enge Verbindung zu ISAL, die sich insbesondere in der finanziellen Unterstützung des Netzwerks durch den ÖRK niederschlug. Der schweizerische Theologe und Missionswissenschaftler Walter Hollenweger, der ab 1965 in der Abteilung für Weltmission und Evangelisation des ÖRK tätig war und selbst über einschlägige lateinamerikanische Erfahrungen verfügte, begründete die Zusammenarbeit mit ISAL in einem 1969 veröffentlichten Bericht wie folgt: „It was felt that in view of the generally conservative mood of the Church in Latin America the WCC should help it to take issue with the social and political upheaval and that the Division of Inter-Church Aid should especially support those projects which would commit the Latin American Church to help change social structures.“208

Nach Hollenweger wurden im Jahr 1969 25 % der Mittel, die für Projekte in Lateinamerika vorgesehen waren, an ISAL bzw. mit ISAL verknüpfte Projekte vergeben. Diese enge Zusammenarbeit stieß in Lateinamerika jedoch nicht nur auf Beifall, da ISAL als revolutionäre Minderheit galt, die die Pluralität des lateinamerikanischen Protestantismus nicht ausreichend abbildete. Außerhalb des Lateinamerika-Sekretariats bestanden auch seitens der 206 Vgl. Tschuy, Explosives Lateinamerika, 10. 207 Vgl. DICARWS Divisional Committee, New Ecumenical Developments in Latin America (November 1965), 3, AÖRK 42.3.071/2. 208 Walter Hollenweger, Presencia del Consejo Mundial de las Iglesias en Am rica Latina. Report for the Enlarged Latin American Working Party, Geneva, 24.–26. 7. 1969, 2, AÖRK 42.55.10.

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Abteilung für Weltmission und Evangelisation (DWME) gute Kontakte zu Lateinamerika: So wurden z. B. durch den Theologischen Bildungsfonds (TEF) der Aufbau ökumenischer theologischer Seminare in Lateinamerika sowie die Gründung von Studienzentren, die den ökumenischen Dialog zu bestimmten Problemen der Region ermöglichen sollten, gefördert.209 Ein Stipendienfonds ermöglichte darüber hinaus lateinamerikanischen Studierenden ein Studium in Europa oder in den USA.210 Außerdem initiierte das DWME Ende der 1960er Jahre eine umfängliche Studie über den Pentekostalismus in Chile.211 Die lateinamerikanischen Kontakte der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung und der CCIA waren hingegen in den frühen 1960er Jahren noch wenig ausgeprägt und intensivierten sich erst nach der Vollversammlung in Uppsala: Eine prägende Figur war zum einen Jos M guez Bonino, seit 1961 Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, der die theologischen Diskussionen der Kommission vor allem in den frühen 1970er Jahren beeinflusste.212 Die CCIA berief 1969 den argentinischen Juristen und Generalsekretär von ISAL, Leopoldo Niilus, zu ihrem Direktor, der seinerseits ein neues Verständnis internationaler Kooperation in den ÖRK einbrachte.213 Damit war ISAL in vielen Abteilungen und Kommissionen des ÖRK auch personell repräsentiert. 5.2 Der lateinamerikanische Arbeitsausschuss Der lateinamerikanische Arbeitsausschuss (Latin American Working Party) war ein in unregelmäßigen Abständen zusammenkommendes beratendes Gremium des ÖRK, das sich hauptsächlich aus Mitarbeitern des ÖRK und Vertretern der ökumenischen Jugendverbände WSCF, YMCA und YWCA zusammensetzte. Je nach Themenschwerpunkt der Beratungen wurden darüber hinaus weitere Gäste in den Arbeitsausschuss eingeladen. Den Vorsitz des Ausschusses hatte Paul Abrecht inne, als Geschäftsführer war ihm Theo Tschuy beigeordnet. Von 1963 bis 1967 nahm Mauricio L pez die Position des stellvertretenden Geschäftsführers ein und wurde nach seinem Ausscheiden 209 Vgl. ebd., 2 f. Die ersten Studienzentren befanden sich in Mexiko, Buenos Aires und S¼o Paulo. 210 Von diesen Stipendien machten u. a. die beiden Anfang der 1970er Jahre in den Stab des ÖRK berufenen Uruguayer Emilio Castro (Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Basel) und Julio de Santa Ana (Studium der Sozialwissenschaft und Promotion in Straßburg) Gebrauch. Waldo C sar, Gründungsmitglied der brasilianischen Kommission für Kirche und Gesellschaft, erhielt vom ÖRK ein sechsmonatiges Stipendium (September 1957–Februar 1958), um am Ökumenischen Institut in Bossey zu studieren und auch in der Abteilung für Kirche und Gesellschaft in Genf mitzuarbeiten. Vgl. Abrecht, Latin America, Rapid Social Change Studies, AÖRK 42.3.071/1. 211 Vgl. Lalive d’Epinay, Movement. 212 Vgl. Pedroso Mateus, Bonino; K ssmann, Vision, 77–83. 213 Vgl. unten S. 195–200.

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aus dem ÖRK durch den Uruguayer Oscar Bolioli ersetzt, der von 1968 bis 1972 als Jugendsekretär im ÖRK arbeitete. Das Anliegen des Ausschusses war es, über die Grenzen der unterschiedlichen Abteilungen des ÖRK hinweg und in Kooperation mit anderen ökumenischen Organisationen über Belange der lateinamerikanischen Ökumene und die Beziehungen zwischen dem ÖRK und Lateinamerika zu beraten. Somit diente der lateinamerikanische Arbeitsausschuss als externer Ort des Austauschs und der Verständigung in einer Zeit, in der sich der Protestantismus in Lateinamerika einerseits angesichts des Aufbruchs in der römischkatholischen Kirche und andererseits im Hinblick auf evangelikale fundamentalistische Strömungen neu definieren musste. Die erste mit einem Protokoll dokumentierte Sitzung des Arbeitsausschusses fand im Oktober 1960 in Genf statt. Sie beschäftigte sich mit den lateinamerikanischen Konferenzen, CELA II und der Gründungsversammlung von ISAL, die für Juli 1961 in Lima und Huampan geplant worden waren, besprach Besuche von ÖRK-Mitarbeitern in Lateinamerika und verständigte sich über die Teilnahme von Lateinamerikanern an der Vollversammlung in Neu-Delhi 1961.214 In den folgenden Jahren entwickelte sich der Arbeitsausschuss zu einem wichtigen Forum, das bis 1964 mangels eines regionalen ökumenischen Rates in Lateinamerika auch über die ökumenischen Kooperationen innerhalb Lateinamerikas beriet. Ab der Gründung von UNELAM im Jahr 1964 befasste sich der Ausschuss dann insbesondere mit der ökumenischen Zusammenarbeit zwischen Lateinamerika und dem ÖRK. In den Jahren 1964 und 1969 fanden mehrtägige Ausschussitzungen statt (Enlarged Latin American Working Party), wo zusätzlich zu den Mitarbeitern aus Genf auch Gäste aus Lateinamerika eingeladen wurden.215 Anhand der Protokolle der regulären Ausschusssitzungen sowie der außerordentlichen Sitzungen der Jahre 1964 und 1969 lassen sich die Themen, mit denen sich der lateinamerikanische Arbeitsausschuss in den 1960er Jahren auseinandersetzte, in fünf Bereiche zusammenfassen: – Ökumenische Beziehungen in Lateinamerika – Sozialer Umbruch in Lateinamerika und die Rolle der Kirche – Beziehungen zwischen Nordamerika und Lateinamerika im kirchlichen sowie politischen und wirtschaftlichen Bereich – Information und Kommunikation zwischen Lateinamerika und dem ÖRK – Strategie des ÖRK in Lateinamerika

214 Vgl. Protokoll der Latin American Working Party (20. 10. 1960), AÖRK 42.55.09. 215 Diese mehrtägigen Ausschusssitzungen stießen auch über Genf hinaus auf große Resonanz. So veröffentlichte Tschuy einen Großteil der Vorträge der „Enlarged Latin American Working Party 1969“ in einer umfangreichen Publikation auf Deutsch und machte damit den lateinamerikanischen Diskurs über soziale Revolution und die Rolle der Kirche einer interessierten Leserschaft im deutschsprachigen Raum zugänglich. Vgl. Tschuy, Lateinamerika.

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Diese fünf Themenbereiche, die im Folgenden ausführlicher dargestellt werden, beschäftigten den Arbeitsausschuss unterschiedlich stark, so dass die Chronologie der Sitzungen nur eine untergeordnete Rolle spielt.

Ökumenische Beziehungen in Lateinamerika Angesichts der Pluralität des Christentums in Lateinamerika waren die ökumenischen Beziehungen in Lateinamerika in den 1960er Jahren äußerst gespannt. Dazu trug der mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einhergehende Aufbruch in der römisch-katholischen Kirche sowie ein wachsender AntiÖkumenismus auf Seiten protestantischer Kirchen bei.216 Die beiden protestantischen Theologen Jos M guez Bonino aus Argentinien und Rubem Alves aus Brasilien gehörten zu den Personen, die diese Situation beobachteten und ihre Analysen dem lateinamerikanischen Arbeitsausschuss zur Diskussion unterbreiteten. M guez Bonino war der einzige protestantische Vertreter aus Lateinamerika, der als Beobachter am Zweiten Vatikanum teilnehmen durfte.217 In seiner Analyse über die Auswirkungen des Konzils auf die lateinamerikanischen Kirchen stellte M guez Bonino eine wachsende Dialogbereitschaft seitens der katholischen Kirche fest, auf die die protestantischen Kirchen seiner Ansicht nach nicht hinreichend vorbereitet seien.218 Trotz des hohen Interesses an dem Wandel in der römisch-katholischen Kirche stünden viele Protestanten diesen Veränderungen eher skeptisch gegenüber. Auf römisch-katholischer Seite wiederum bestand nach M guez Bonino eine große Unsicherheit angesichts der Vielfalt des Protestantismus, die häufig zu einer scharfen Trennung zwischen „Kirchen“ und „Sekten“ führe und Missverständnisse provoziere. Dem Lateinamerikanischen Arbeitsausschuss empfahl M guez Bonino daher, sich verstärkt mit Fragen der ökumenischen Zusammenarbeit zu beschäftigen und danach zu fragen, wie in einer solchen Situation die christliche Einheit bezeugt werden könne. Rubem Alves warnte aus dem brasilianischen Kontext vor der Gefahr eines wachsenden Anti-Ökumenismus, der sich aus seiner Sicht insbesondere unter einigen protestantischen Kirchen manifestierte.219 Die Akzeptanz der römisch-katholischen Kirche bedeutete nach Alves für diese Kirchen der Verlust ihrer eigenen Identität, so dass oftmals „Ökumenismus“ als Synonym für

216 Vgl. für die Ausführungen zum International Council of Christian Churches (ICCC) oben S. 43. 217 Vgl. oben S. 60–67. 218 Vgl. im Folgenden: Jos M guez Bonino, The Impact of Vatican Council on Latin American Roman Catholicism and Protestantism. Vortrag auf der Latin American Working Party (11.–12. 6. 1964), AÖRK 42.55.09. 219 Vgl. im Folgenden: Rubem Alves, Ecumenism and the Churches in Brazil. Hintergrunddokument für die Enlarged Latin American Working Party (24.–26. 7. 1969), AÖRK 42.55.10. Rubem Alves nahm an der Ausschusssitzung jedoch selbst nicht teil.

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„Häresie“ verwendet werde.220 Eng verbunden mit der „anti-ökumenischen“ Tendenz in Lateinamerika war auch die Ausprägung fundamentalistischer Strömungen innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus. Nach Alves trug dazu insbesondere der nordamerikanische Einfluss, wie z. B. die Ablehnung ökumenischer Zusammenarbeit durch den US-Amerikaner Carl McIntire, bei.221 Auch in anderen Ländern Lateinamerikas war der Einfluss fundamentalistischer Strömungen innerhalb des Protestantismus sichtbar, wie u. a. in Mexiko.222 Sowohl M guez Bonino als auch Alves forderten mit ihren Analysen den ÖRK dazu auf, diese komplexe Situation ökumenischer Beziehungen in Lateinamerika ernst zu nehmen und in seine ökumenische Strategie für Lateinamerika einzubeziehen. Sozialer Umbruch in Lateinamerika und die Rolle der Kirche Ein grundlegendes Thema des lateinamerikanischen Arbeitsausschusses stellte die Analyse des sozialen Wandels in Lateinamerika dar. Einflussreich waren in diesem Zusammenhang die Beobachtungen und Analysen der Bewegung ISAL und seiner Mitglieder. Für die Sondersitzung des Arbeitsausschusses im Jahr 1969 wurde daher Julio de Santa Ana als Generalsekretär von 220 Die Sorge des Anti-Ökumenismus teilte auch der Präsident des Brasilianischen Kirchenbundes (CEB), Karl Gottschald, bei einem Besuch in Genf 1967, vgl. Protokoll der Latin American Working Party (15. 11. 1967), 1, AÖRK 42.55.06. Vgl. zum Anti-Ökumenismus in Brasilien ebenfalls die Karikatur der fundamentalistischen Kirchenzeitung O Presbiteriano b blico (Dezember 1967–April 1968, 10), die Walter Hollenweger als Deckblatt des Berichtes über die Enlarged Latin American Working Party 1969 wählte (vgl. Walter Hollenweger, Presencia del Consejo Mundial de las Iglesias en Am rica Latina. Report for the Enlarged Latin American Working Party, Geneva, 24. – 26. 7. 1969, AÖRK 42.55.10). Die Karikatur zeigt ein brennendes Haus, das mit „Conc lio Mundial de Igrejas“ (Ökumenischer Rat der Kirchen) überschrieben ist. Aus den Fenstern schauen verschiedene Personen, die die Situation unterschiedlich kommentieren: Eine Frau schreit „Feuer, Feuer“, eine andere Person versucht den Brand von innen zu löschen, eine dritte Person sitzt außerhalb des Hauses in einem Schaukelstuhl und verkündet, dass sie nicht wirklich ein Mitglied des ÖRK sei, eine vierte Frau fragt ängstlich, wohin sie gehen solle, wenn sie das Haus verlasse und eine fünfte Person meint, sie sehe kein Feuer. Die Bildunterschrift zitiert einen Vers aus der Offenbarung des Johannes: „Ich hörte eine Stimme aus dem Himmel, die sagte: Zieh von hier fort, mein Volk (Off 18,4). Biblizistischfundamentalistische Positionen dieser Art stellten die ökumenische Zusammenarbeit in Brasilien in den 1960er Jahren vor große Zerreißproben. 221 Vgl. Rubem Alves, Ecumenism and the Churches in Brazil. Hintergrunddokument für die Enlarged Latin American Working Party (24.–26. 7. 1969), 2, AÖRK 42.55.10. Vgl. zu Carl McIntire oben S. 43. 222 Vgl. Jorge Lara-Braud, The Challenge of Fundamentalism to the Ecumenical Movement in Mexico. Vortrag auf der Latin American Working Party (11.–12. 6. 1964), AÖRK 42.55.09; Raffll Macin, The Mexican Clergy in 1969. Vortrag auf der Enlarged Latin American Working Party (24.–26. 7. 1969), AÖRK 42.55.10. Der letztgenannte Beitrag enthielt neben einem Überblick über Strömungen und Tendenzen innerhalb des mexikanischen Protestantismus auch eine ausführliche Bibliographie.

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ISAL eingeladen, um einen Überblick über die sozialen und politischen Konflikte in Lateinamerika seit 1964 zu geben. Für Santa Ana waren die Themen, die die soziale Situation in Lateinamerika bestimmten, die Unterentwicklung, der Anstieg des ausländischen Kapitals, die kulturelle Überformung Lateinamerikas, der Eintritt Lateinamerikas in die weltweite Politik und das damit verbundene Ende des Mythos des Panamerikanismus, die Militarisierung der Gesellschaft, die Institutionalisierung von Gewalt, etwa in Militärschulen, sowie die Erschütterung der katholischen Kirche durch die sozialen Konflikte Lateinamerikas einerseits, und durch die Spannungen zwischen traditionellen und revolutionären Positionen innerhalb der Kirche andererseits. Die Konfliktsituation brachte Santa Ana auf die Formel: Entwicklung – Unterentwicklung, Unterdrücker – Unterdrückte. Santa Ana vermutete, dass sich die Widersprüche und Konflikte zwischen diesen Polen in Zukunft noch zuspitzen würden, und appellierte an den Arbeitsausschuss, sich verstärkt diesen Themen zuzuwenden und eine eindeutige Position einzunehmen.223 Ein weiterer Grundkonflikt, der die soziale Situation in Lateinamerika bereits seit den 1940er Jahren prägte und der auf den Ausschusssitzungen insbesondere von Vertretern der Jugendorganisationen angesprochen wurde, war die wachsende Kluft zwischen den Generationen. Sie spiegelte sich auch innerhalb der Kirchen wider: in der Spannung zwischen dem radikalen Veränderungswillen junger Intellektueller und Pastoren und dem Erhalt der bestehenden kirchlichen Strukturen seitens der älteren Generationen.224 Hinsichtlich des sozialen Wandels und der damit einhergehenden Konflikte galt die Bewegung ISAL als Instrument kirchlicher Erneuerung, das insbesondere in der jungen Generation an Einfluss gewann und vom ÖRK als Zeichen der Veränderung wahrgenommen wurde.225 Für den lateinamerikanischen Arbeitsausschuss blieb jedoch die Frage bestehen, wie er sich zu den konservativen Kräften innerhalb des Protestantismus verhalten sollte. Leonardo Franco, Lateinamerika-Sekretär des WSCF, riet dem ÖRK eindeutig dazu, die progressiven Minderheiten zu unterstützen und ihre Position auf Weltebene zu vertreten.226

223 Vgl. Julio de Santa Ana, Social and Political conflicts in Latin America since 1964. Vortrag auf der Enlarged Latin American Working Party (24.–26. 7. 1969), AÖRK 42.55.10. 224 Vgl. dazu Bolioli, Rebellion; Garcia, Universitätsstudent. 225 Vgl. das positive Resum e von Theo Tschuy und Mauricio L pez der ökumenischen Tage in Piri polis 1967: Protokoll der Latin American Staff Strategy Group (24. 1. 1968), AÖRK 42.55.06. 226 Vgl. Protokoll der Latin American Working Party (9. 5. 1968), AÖRK 42.55.06.

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Beziehungen zwischen Nordamerika und Lateinamerika im kirchlichen sowie politischen und wirtschaftlichen Bereich Ein Thema, das auf verschiedene Weise auf den Sitzungen des lateinamerikanischen Arbeitsausschusses verhandelt wurde, war das Verhältnis zwischen Nordamerika und Lateinamerika. In diesen Diskussionen spielten US-amerikanische Vertreter im Arbeitsausschuss eine wichtige Rolle. Das unabhängige, kirchenübergreifende Committee on Cooperation with the Churches in Latin America (CCLA) sowie der Church World Service (CWS) unterstanden beide dem National Christian Council der USA und sahen es als ihre Aufgabe an, die lateinamerikanischen Kirchenräte und andere organisierte kirchliche Gruppen in ihrer Arbeit zu unterstützen. Wie Betty Richardson, eine Mitarbeiterin des CWS, vor dem lateinamerikanischen Arbeitsausschuss 1964 erklärte, sei es für die Arbeit in Lateinamerika zentral, „that the churches in Latin America must themselves jointly determine and execute the programs of social service and social action“227. Diese hier geforderte Selbstbestimmung Lateinamerikas seitens der Kirchen stand auf politischer Seite jedoch durch die von den USA ausgehende lateinamerikanische Wirtschaftspolitik, etwa die „Allianz für den Fortschritt“ oder auch die Wirtschaftsblockade gegen Kuba, in Frage.228 Die Situation Kubas galt als Barometer der Beziehungen zwischen Nordamerika und Lateinamerika und wurde auch vom lateinamerikanischen Arbeitsausschuss intensiv verfolgt.229 Auf der Sondersitzung des Arbeitsausschusses 1969 verabschiedeten die Teilnehmenden eine Resolution, mit der die CCIA aufgefordert wurde, bei der US-amerikanischen Regierung zu bewirken, normale Beziehungen mit Kuba aufzunehmen, die Blockade gegen den sozialistischen Staat aufzuheben und die US-Militärbasis aufzulösen.230 Information und Kommunikation zwischen Lateinamerika und dem ÖRK Die Frage nach dem Informationsaustausch zwischen dem ÖRK und den lateinamerikanischen Kirchen spielte insbesondere Anfang der 1960er Jahre eine wichtige Rolle. Auf der Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 hatte die 227 Betty Richardson, The Church World Service relationship to inter-church service and social action in Latin America and the Carribbean. Vortrag auf der Latin American Working Party (11.–12. 6. 1964), AÖRK 42.55.09 (Hervorhebung – AS). 228 Vgl. zum Thema „Pax Americana“ und „Allianz für den Fortschritt“ die differenzierte Sicht des US-Amerikaners Stewart W. Herman, Recent Developments Affecting Pax Americana. Vortrag auf der Latin American Working Party (11.–12. 6. 1964), AÖRK 44.55.09. 229 Vgl. die Berichte der Kubaner Rafael Cepeda und Jorge Leon (Evangelischer Rat Kubas), Protokoll der Latin American Working Party (18. 6. 1963), 3 f., AÖRK 42.55.09 sowie den ausführlichen Reisebericht von Chiraputah Itty nach Kuba, Protokoll der Latin American Working Party (12. 12. 1966), AÖRK 42.55.06. 230 Memorandum von Theo Tschuy an Leopoldo Niilus (31. 7. 1969) mit beigefügter Resolution, AÖRK 42.55.06.

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Informationsabteilung des ÖRK auf die Notwendigkeit aufmerksam gemacht, Lateinamerika mehr als bisher mit ökumenischen Informationen und Material zu versorgen. Auch der lateinamerikanische Arbeitsausschuss hatte sich bereits im Vorfeld der Vollversammlung dafür ausgesprochen, größere Anstrengungen in Bezug auf die Veröffentlichung spanisch- und portugiesischsprachiger ökumenischer Materialien zu unternehmen.231 Der argentinische Bischof Sante Uberto Barbieri und der Generalsekretär von ISAL, Luis Odell, hatten bestätigt „that one of the main difficulties for the development of ecumenical relationships in Latin America is the complete absence of information about the ecumenical movement and the WCC in particular, in languages understandable to Latin American churches, while propaganda against the WCC and ecumenism is overabundant in these languages.“232

Aus diesen Forderungen entstand ein zweijähriges Informations- und Publikationsprojekt, das der ÖRK zwischen 1962 und 1964 durchführte, um den Informationsfluss von Genf nach Lateinamerika zu stärken. Das Projekt bestand darin, einen monatlichen ökumenischen Newsletter aus den Materialien des Ökumenischen Pressedienstes zu erstellen und einige längere Artikel mit besonderer Relevanz für Lateinamerika ins Spanische zu übersetzen. Außerdem sollten allgemeine Publikationen über den ÖRK auf Spanisch übersetzt und ein Buchfonds zur Publikation grundlegender christlicher Bücher eingerichtet werden. Als Etat stellte der ÖRK für die Dauer von zwei Jahren eine Summe von 21.500 US $ für die Verwaltungs- und Übersetzungskosten, die Veröffentlichungen sowie den Buchfonds bereit.233 Bereits im September 1962 äußerte sich ein Mitarbeiter des Stabs des ÖRK während einer Sitzung des lateinamerikanischen Arbeitsausschusses positiv über die Fortschritte im Bereich der spanischsprachigen Publikationen und regte auch die Übersetzung des Berichts der 3. Vollversammlung des ÖRK ins Spanische an.234 Auf derselben Sitzung legten die Teilnehmenden außerdem die offizielle Über-

231 Vgl. Outline of W.C.C. Programme – Latin America (1962–63). Prepared for Staff Working Party (11. 10. 1961), 3, AÖRK 42.55.09. 232 Project: Two Year Technical Information and Publications Project in Latin America (1962–1964) (März 1962), AÖRK 42.55.09. 233 Vgl. ebd., 3. Auf den Einwand, dass Lateinamerika damit eine gegenüber Asien und Afrika privilegierte Position einnehme, reagierte der Arbeitsausschuss mit der Begründung, dass die derzeitigen offiziellen Sprachen des ÖRK (Englisch, Französisch und Deutsch) in diesen Gebieten die lingua franca darstellten, während in Lateinamerika diese Sprachen nur in wenigen Teilen gesprochen würden. 234 Vgl. Protokoll der Latin American Working Party (26. 9. 1962), 3, AÖRK 42.55.09. Die Übersetzung des Berichts aus Neu-Delhi war die erste Übersetzung eines Berichts einer ÖRKVollversammlung ins Spanische und erschien im darauffolgenden Jahr; vgl. Habla Nueva Delhi.

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setzung des Namens des ÖRK ins Spanische fest: Consejo Mundial de Iglesias (Weltrat der Kirchen).235 Strategien des ÖRK in Lateinamerika Die Aufgabe des Lateinamerikanischen Arbeitsausschusses bestand darin, angesichts der Lateinamerika-relevanten Themen eine Strategie bzw. policy des ÖRK in Lateinamerika zu entwickeln. Diese sollte nach Ansicht des Direktors der Missionsabteilung, Philip Potter, den Mitgliedskirchen und Missionsgesellschaften in Europa und Nordamerika helfen, „to find new ways of confessing, living and witnessing the Faith in a revolutionary situation“236. Doch das Hauptproblem bestand für den ÖRK zunehmend darin, den unterschiedlichen protestantischen Positionen der lateinamerikanischen Mitgliedskirchen und angeschlossenen Organisationen gleichermaßen gerecht zu werden. Ein Protokoll einer Ausschusssitzung vom Mai 1968 formulierte das Problem treffend: „The WCC’s dilemma is based on the fact that while we fundamentally support the aspirations of the Church and Society movement and youth, we have to take into consideration the existing church structures which are basically conservative.“237

Aus dieser Problemstellung ging hervor, dass die starke Unterstützung der Aktivitäten von ISAL durch den ÖRK auch zur Verhärtung der ökumenischen Zusammenarbeit mit anderen kirchlichen Organisationen und nationalen Kirchenleitungen führte. Die Strategie des ÖRK, die aus den Protokollen des lateinamerikanischen Arbeitsausschusses abzulesen ist, war es daher, ökumenische Bildungsprogramme in Lateinamerika zu unterstützen und aufzubauen. Dazu gehörte nicht nur die Entscheidung, den Informationsfluss von Genf nach Lateinamerika durch spanischsprachige Publikationen zu erhöhen, sondern konkrete ökumenische Bildungsangebote für Christen in Lateinamerika zu stärken. Bereits 1961 schlug Mauricio L pez auf einer Ausschusssitzung die Einrichtung von Bossey Institutes in Latin America vor. Es handelte sich hierbei um ein- bis zweiwöchige ökumenische Seminare für Theologieprofessoren, Pastoren und Missionare zu verschiedenen ökumenischen und theologischen Fragen, die im Stil der am Ökumenischen Institut Bossey angebotenen Seminare durchgeführt werden, jedoch in Lateinamerika selbst stattfinden sollten. Diese Art von ökumenischen Seminaren galt als „the 235 Protokoll der Latin American Working Party (26. 9. 1962), 4, AÖRK 42.55.09. Auch wenn unter den Teilnehmenden die Einsicht überwog, das „ökumenisch“ das angemessenere Wort sei, hielt man sich – „for the time being“ – an die wörtliche Übersetzung aus dem Englischen (Consejo Mundial de Iglesias). Die Formulierung wurde nicht geändert und ist die bis heute gültige offizielle Übersetzung. 236 Philip Potter, Ecumenical dimensions of European missions and social work in Latin America. Vortrag auf der Latin American Working Party (11.–12. 6. 1964), AÖRK 42.55.09. 237 Protokoll der Latin American Working Party (9. 5. 1968), 2, AÖRK 42.55.06.

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best channel for stimulating ecumenical thinking in Latin America and for interpreting and explaining the nature of the World Council of Churches“238. Ein weiterer Bestandteil der ökumenischen Bildungsstrategie waren leadership trainings. Diese sollten insbesondere zwischen den unterschiedlichen Zugängen der lateinamerikanischen Kirchen und Organisationen zu sozialen Fragen und struktureller Veränderung vermitteln.239 Ein Schwerpunkt lag dabei auf der ökumenisch-theologischen Ausbildung von Führungspersönlichkeiten der Pfingstkirchen.240 Ein dritter Zugang zur Stärkung ökumenischer Bildung in Lateinamerika waren Stipendien für lateinamerikanische Studierende, die ihnen Studienaufenthalte in Europa und Nordamerika ermöglichen sollten. Der Lateinamerikanische Arbeitsausschuss drängte 1969 darauf, dass diese Stipendien nicht mehr durch persönliche Kontakte, sondern in Kooperation mit den lateinamerikanischen Jugendverbänden und ökumenischen Organisationen wie CELADEC, ISAL, MEC und ULAJE vermittelt werden sollten.241 Zusammenfassend gesehen war der Lateinamerikanische Arbeitsausschuss ein wichtiges Forum des ÖRK, das die Diskurse des lateinamerikanischen Protestantismus wie durch ein Brennglas reflektierte. Die Krise, in der sich der lateinamerikanische Protestantismus in den 1960er Jahren befand, machte es für den ÖRK dringlich, die lateinamerikanischen protestantischen Kirchen auf der Suche nach ihrer Identität und ihrer Rolle in der lateinamerikanischen Gesellschaft zu unterstützen sowie ihre ökumenische Grundhaltung zu fördern. Als Ort des Austauschs gelang es dem Arbeitsausschuss, mit europäischen, nordamerikanischen und lateinamerikanischen Vertretern ein weltweites ökumenisches Bewusstsein für die Situation der Kirchen in Lateinamerika zu schaffen und damit die Probleme und Konflikte der lateinamerikanischen Gesellschaft in die Mitte des ökumenischen Dialogs zu stellen. Zwar war der Handlungsspielraum des Arbeitsausschusses begrenzt, da er keine exekutive Funktion innerhalb des ÖRK wahrnahm. Doch durch seine Strategie, ökumenische Bildungsprojekte in Lateinamerika zu stärken und zunehmend spanisch- und portugiesischsprachige Publikationen zu veröffentlichen, trug der Arbeitsausschuss schon ab Anfang der 1960er Jahre 238 Protokoll Latin American Working Party (11. 10. 1961), 2, AÖRK 42.55.09. Vgl. Outline for W.C.C. Programme–Latin America (1962–63). Prepared for Staff Working Party (11. 10. 1961), 2, AÖRK 42.55.09. 239 Vgl. den Vorschlag von Theo Tschuy im Protokoll der Latin American Working Party (9. 5. 1968), 1, AÖRK 42.55.06. Die Notwendigkeit, ökumenische Führungspersönlichkeiten heranzubilden, war bereits 1963 von dem lateinamerikanischen Jugendverband ULAJE als eine Priorität benannt worden. Vgl. Protokoll der Latin American Working Party (21. 1. 1963), 2, AÖRK 42.55.09. 240 Vgl. Protokoll der Enlarged Latin American Working Party (24.–26. 7. 1969), Appendix III, AÖRK 42.55.10. 241 Protokoll Latin American Working Party (23. 9. 1969), AÖRK 42.55.06.

Zwischenbilanz

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dazu bei, ökumenische Bildung als Schlüssel zur Überwindung von Konflikten anzuerkennen und die ökumenische Zusammenarbeit auf regionaler und weltweiter Ebene zu professionalisieren.

6. Zwischenbilanz Nur sehr zaghaft begannen sich die ökumenischen Beziehungen zwischen dem ÖRK und Lateinamerika in den 1950er Jahren auszubilden. Ökumene war im Bewusstsein der protestantischen Kirchen in Lateinamerika in dieser Zeit stark an die Akzeptanz und Zusammenarbeit mit der römisch-katholischen Kirche gebunden, allerdings fühlten sich die Protestanten durch die Dominanz der römisch-katholischen Kirche in Lateinamerika stark an den Rand gedrängt. Kirchenführer wie Bischof Barbieri sahen daher keine Möglichkeit, ökumenische Beziehungen in Lateinamerika aufzubauen, bevor nicht die römisch-katholische Kirche ihrerseits den protestantischen Geschwistern die Hand entgegenstreckte und sie aus ihrem Schattendasein herausführte. Dieses primär auf den interkonfessionellen Dialog ausgerichtete Grundverständnis von Ökumene wandelte sich jedoch mit dem Beginn des Rapid Social Change-Programms des ÖRK ab 1955: Das Studienprogramm lenkte die Aufmerksamkeit der lateinamerikanischen Kirchen auf die sozialen und gesellschaftspolitischen Umbrüche ihres Kontinents und regte sie dazu an, ihre Rolle und Verantwortung als Christen verstärkt in Bezug auf diesen Wandel wahrzunehmen. Durch die Vermittlung des nordamerikanischen Missionars Richard Shaull gelang es dem ÖRK, drei Konferenzen in S¼o Paulo, Campinas und Montevideo durchzuführen, die den von dem Studienprogramm ausgehenden Impuls aufnahmen. Die Folge war die Einrichtung von zwei Kommissionen innerhalb der Evangelischen Kirchenbünde in Brasilien und am R o de la Plata, welche die Arbeit zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft kontinuierlich fortsetzen sollten. Damit löste sich zumindest ein Teil des lateinamerikanischen Protestantismus von einem eingegrenzten Ökumenebegriff, der sich ausschließlich durch die Beziehungen zur römischkatholischen Kirche definierte; auch das gesellschaftspolitische Engagement wurde nun als integrativer Teil ökumenischer Arbeit verstanden. Dem Rapid Social Change-Programm kam somit eine doppelte Scharnierfunktion zu: Zum einen sorgte es für die schrittweise Integration Lateinamerikas in den ÖRK; zum anderen wertete diese Integration in die Weltökumene das Selbstbewusstsein des lateinamerikanischen Protestantismus insbesondere gegenüber der römisch-katholischen Kirche auf. Auch aus Sicht des ÖRK bedeutete die Annahme des Rapid Social ChangeProgramms in Lateinamerika einen großen Erfolg. Paul Abrecht, der für die Implementierung des Studienprogramms verantwortlich war, schrieb im Januar 1960 in einem Memorandum enthusiastisch an Visser ’t Hooft: „Our

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enterprise in South America is booming.“242 An diesem Satz lässt sich nicht nur Abrechts Erleichterung ablesen, dass das Studienprogramm neben Asien und Afrika nun auch in Lateinamerika angekommen war; vielmehr verweist die Formulierung „our entreprise is booming“ auch deutlich auf die Kraftanstrengungen, die aus Abrechts Sicht von Genfer Seite aus zur Annahme des Studienprogramms in Lateinamerika notwendig gewesen waren. Doch der Boom ließ sich vom ÖRK nicht lange kontrollieren: Mit der Gründung von ISAL im Sommer 1961 begann eine neue Phase in den ökumenischen Beziehungen zwischen dem ÖRK und dem lateinamerikanischen Protestantismus, in der die Kirchen die Impulse aus Genf zunehmend mit eigenen Themen ergänzten. Dazu gehörten neben der Beschäftigung mit dem sozialen und politischen Umbruch auf dem lateinamerikanischen Kontinent insbesondere die interkonfessionellen Beziehungen, sowohl zur römisch-katholischen Kirche als auch zu fundamentalistisch-evangelikalen Strömungen, sowie die Beziehungen nach Nordamerika. Ein wichtiges Forum des internationalen ökumenischen Austauschs stellte dabei der lateinamerikanische Arbeitsausschuss im ÖRK dar. Die Vertreter der lateinamerikanischen Kirchen forderten dort, den ökumenischen Aufbruch in Lateinamerika mithilfe von spanischsprachigen Publikationen und innovativen Bildungsangeboten stärker zu unterstützen. Die frühen 1960er Jahre waren in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem ÖRK und Lateinamerika folglich von einem neuen Selbstbewusstsein der protestantischen Kirchen – insbesondere im Cono Sur – geprägt. Durch Mauricio L pez bestand ein enger Kontakt nach Lateinamerika, der sich allerdings vorrangig auf die Aktivitäten von ISAL konzentrierte. Dadurch intensivierte sich zwar einerseits die ökumenische Zusammenarbeit zwischen dem ÖRK und Lateinamerika, andererseits verengte sich jedoch auch der Blick der internationalen Ökumene auf den linkspolitischen Teil des lateinamerikanischen Protestantismus. Die Haltung der Kirchen zu gesellschaftspolitischen Themen wurden dadurch Fragen der konfessionellen Verständigung übergeordnet. Der in den folgenden beiden Kapiteln zu entfaltende Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene widmet sich genau diesem Teil des lateinamerikanischen Protestantismus, der sich – angeregt durch das Rapid Social Change-Programm – ab Anfang der 1960er Jahre der internationalen Ökumene öffnete und sich mit eigenen theologischen Impulsen insbesondere in den ökumenischen Diskurs zu sozialethischen Themen einbrachte. Es handelt sich daher nur um einen Ausschnitt des lateinamerikanischen Protestantismus, der allerdings auf internationaler Ebene auf eine breite Rezeption stieß.

242 Memorandum von Paul Abrecht an Willem A. Visser ’t Hooft und Robert Bilheimer (15. 1. 1960), AÖRK 24.2.012.

Teil III Der lateinamerikanische Boom in der internationalen Ökumene 7. Der lateinamerikanische Einfluss in den 1960er Jahren Die Suche nach einer die Kirchen verbindenden und verbindlichen Sozialethik stellte eines der größten Anliegen und Herausforderungen der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts dar. Das Leitthema der ökumenischen Sozialethik besteht bis heute in der ökumenisch reflektierten sozialen und politischen Verantwortung von Christen und dem Auftrag der Kirche in der Welt.1 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellten sich die großen Fragen nach der Ordnung der Gesellschaft und dem Zusammenleben der Menschen in Würde, Freiheit und Gerechtigkeit insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg. Die ökumenische Bewegung versuchte in dieser Zeit nicht nur, sich zu institutionalisieren, sondern auch auf Tagungen und Konferenzen ihre sozialethische Position in ökumenischer – d. h. interkonfessioneller und internationaler – Perspektive zu schärfen und ihre Verantwortung angesichts einer sich zunehmend modernisierenden und säkularisierenden Gesellschaft zu bestimmen. Erste wegweisende Impulse hinsichtlich einer ökumenischen Sozialethik gab bereits 1925 die Weltkonferenz für Praktisches Christentum unter dem Vorsitz des schwedischen Erzbischofs Nathan Söderblom. Die Konferenz stand unter dem direkten Einfluss der anglo-amerikanischen Social-Gospel-Bewegung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ausgehend vom Leben und Handeln Jesu das soziale Bewusstsein und Engagement unter Christen förderte und deren nordamerikanische Vertreter wie Walter Rauschenbusch vor allem die Immanenz des Reiches Gottes betonten und meist über dessen transzendente Bedeutung stellten.2 Demgegenüber positionierten sich vor allem europäisch-lutherisch geprägte Vertreter der „Zwei-Reiche-

1 Vgl. Gabriel / Papaderos / Kçrtner, Perspektiven; Eberle / Asmus, Sozialethik. Vgl. auch die Zusammenfassung von Hebblethwaite, Sozialethik. 2 Während Rauschenbusch als theologischer Vordenker der Social-Gospel-Bewegung eher zurückhaltend in Bezug auf eine absolute Gleichsetzung zwischen dem Anbruch des Reiches Gottes und dem Aufbau einer neuen Gesellschaft war, machten sich radikal-sozialistische Theologen wie George D. Herron und Harry F. Ward diese Perspektive eher zueigen. Vgl. Ritschl, Gospel; Rauschenbusch, Christianity. Zur Entstehung und Entwicklung der Social-Gospel-Bewegung vgl. auch die Dissertation von Visser ’t Hooft, Background.

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Lehre“ gegen eine Vereinnahmung des Reiches Gottes.3 Dies hatte zur Folge, dass die Konferenz nur allgemeingültige Aussagen über die Rolle der Kirche in der Welt treffen konnte, wie ein Auszug aus der Schlusspredigt Nathan Söderbloms verdeutlicht: „,The state of the world to-day [sic!] once more calls for the aid of the Christian spirit, not only as a judge and a healer, but as a guide. Whilst men and nations in their distress of fear run hither and thither seeking safety where the experience of centuries shows there is no refuge, it is the duty of the Church to rally them to a confidence in the inner light and its attending moral courage, so that they may walk with firm confidence in the ways of the Spirit which are the ways of both honour and life.‘“4

Die weltweite wirtschaftliche Depression ab 1929 und das Aufkommen totalitärer Regime in Europa Anfang der 1930er Jahre forderten den neu gegründeten Ökumenischen Rat für Praktisches Christentum heraus, die Verantwortung der Kirchen in der Welt deutlicher als bisher zu bestimmen. Die zweite Weltkonferenz in Oxford 1937 stand daher unter dem Leitthema „Kirche, Volk und Staat“ und äußerte sich eindeutig gegen eine „metaphysische oder religiöse Legitimation staatlicher Ordnungen“5. Während der Staat für Gerechtigkeit, Ordnung und Sicherheit eintreten sollte, wurde die Aufgabe der Kirche darin gesehen, „Gottes Willen zu verkündigen und den Staat zur Verantwortung vor Gott zu mahnen“6. Der schottische Theologe Joseph H. Oldham, der zu den einflussreichsten Gründungsvätern der ökumenischen Bewegung zählt, und der spätere Generalsekretär des ÖRK Willem A. Visser ’t Hooft trugen maßgeblich zu der klaren Sprache der Oxforder Konferenz bei und sorgten auch über die schwierigen Jahres des Krieges für Kontinuität im ökumenischen Sozialdenken.7 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und unter dem Eindruck der politischen Neuordnung in Europa begann die ökumenische Bewegung in Anknüpfung an die in den 1920er und 1930er Jahren diskutierten sozialethischen Ansätze sowie in Vorbereitung auf die Gründungskonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 mit der Ausarbeitung des sozialethischen Leitkonzepts „verantwortliche Gesellschaft“. Dieses prägte den ÖRK bis in die 1960er Jahre hinein und war angesichts der globalen Öffnung des ökumenischen Dialogs ab 1961 zunehmend kritischen Anfragen ausgesetzt.

3 Vgl. ausführlich zur Geschichte und den theologischen Grundlagen der Bewegung für Praktisches Christentum: Weisse, Christentum. 4 Sçderblom, Sermon, 17. 5 Raiser, Religion, 308. 6 Ebd., 309. Vgl. Sektion II „Kirche und Staat“. In: Oxford-Bericht, 116–157, bes. 133–138. 7 Vgl. Robra, Tradition, 24. Vgl. zu Oldhams bedeutender Rolle in Oxford: Potter, Oldham, 177 sowie die ausführliche Biographie von Clements, Faith.

Der lateinamerikanische Einfluss in den 1960er Jahren

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An dieser Stelle setzt das nun folgende Kapitel an, das die spannungsreiche Suche einer die Kirchen weltweit verbindenden ökumenischen Sozialethik von der Gründung des ÖRK bis zum Ende der 1960er Jahre nachzeichnet und analysiert. Dabei wird das erste Unterkapitel zunächst die sozialethische Leitidee des ÖRK, die „verantwortliche Gesellschaft“, konzeptionell vorstellen und seine Bedeutung für die Nachkriegsökumene herausarbeiten. Das zweite Unterkapitel befasst sich mit der Infragestellung der „verantwortlichen Gesellschaft“ auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 durch Vertreter der Dritten Welt unter der Federführung lateinamerikanischer Delegierter. Weitere Anfragen an das als „zu westlich“ wahrgenommene sozialethische Denken ereigneten sich im Kontext des vom ÖRK und der römisch-katholischen Kirche gemeinsam getragenen Ausschusses für Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden (SODEPAX), dem sich das dritte Unterkapitel widmet. Auch hier hatte die Kritik lateinamerikanischer Vertreter einen entscheidenden Einfluss auf die Formulierung sozialethischer Standards – in diesem Fall: des ökumenischen Entwicklungsverständnisses. Damit ist die doppelte Zielstellung dieses Kapitels bereits umrissen, dem es einerseits darum geht, die Entwicklung der ökumenischen Sozialethik, ihre Abbrüche und Neuausrichtungen zwischen 1948 und 1969 nachzuvollziehen, und das andererseits die der Untersuchung zugrundeliegende Leitfrage nach dem Einfluss Lateinamerikas auf die ökumenischen Debatten exemplarisch herausstellen will. 7.1 Die „verantwortliche Gesellschaft“ als sozialethisches Leitkonzept 1948–1966 Die Gemeinschaft der Kirchen, die sich in Amsterdam 1948 zur Gründung des ÖRK zusammen fand, war unmittelbar von den Spannungen zwischen den beiden Machtblöcken der USA und der Sowjetunion betroffen und musste, wenn sie sich wirklich als „Weltrat der Kirchen“ konstituieren wollte, ihr gesellschaftspolitisches Selbstverständnis angesichts dieser aufbrechenden Bipolarität definieren.8 Für die Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Situation sowie für die daraus resultierenden kirchlichen Aufgaben war Joseph Oldham – wie bereits elf Jahre zuvor in Oxford – eine prägende Figur. In seinem Text in Vorbereitung auf die Gründungsversammlung des ÖRK konstatierte er eine gesellschaftliche Krise, derer sich die Kirchen nicht entziehen könnten und auf die sie antworten sollten. 8 Zur Vorgeschichte und Gründungsphase des ÖRK vgl. Visser ’t Hooft, Ursprung; A History of the Ecumenical Movement, Bd. 1. Zur Geschichte des ÖRK ab den 1950er Jahren vgl. A History of the Ecumenical Movement, Bd. 2, darin insbes. Kr ger, Life; A History of the Ecumenical Movement, Bd. 3; Elderen, Zeugnis; Sens, Rat. Zur Ökumene in den Konflikten des Kalten Krieges vgl. Joppien, Rat; Kunter, Kirchen.

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Der lateinamerikanische Boom in der internationalen Ökumene

Die Krise beschrieb Oldham als „Krisis des Menschen“, die er darin sah, dass die Menschen durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt „eine völlig neue Fähigkeit gewonnen [haben], ihre Umgebung zu formen und sich selbst zu wandeln“9. Diese Krise führe den Menschen zu einem „Verlust seines wahren Seins“10. Damit verbunden sah Oldham eine kulturelle und soziale Krise der westlichen Gesellschaften, die auch zunehmend die Grundlagen der Kulturen in Asien und Afrika bedrohten.11 Für die Kirche ergebe sich daraus die Aufgabe theologisch und praktisch auf diese Krisen zu antworten: erstens, indem sie die Kunst des Zusammenlebens in kleinen Gruppen, z. B. in Familien, demonstriere, zweitens indem sie eine christliche Lehre von Arbeit entwerfe, die sich insbesondere auf die Praxis des industriellen Lebens stütze und drittens, indem sie die Gesellschaft in ethischen Themen berate und damit zu einer kollektiven Entscheidungsfindung beitrage.12 Die vierte Aufgabe der Kirche bestand nach Oldham in ihrer politisch unabhängigen Haltung in Bezug auf das politische Kräftemessen zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Es sei nicht die Aufgabe der Kirchen, Menschen politische Entscheidungen vorzuschreiben, sondern ihnen „zu einem Verständnis der allgemeinen Prinzipien zu verhelfen, von denen christliches Handeln geleitet sein muß“13. Solche Prinzipien oder Leitbilder hatte Oldham bereits in Oxford 1937 als „mittlere Axiome“ definiert, d. h. als „Zwischenaxiome“, die zwischen den biblischen Grundsätzen einerseits und den gesellschaftlichen Fragestellungen und Bedingungen andererseits vermitteln sollten: „Sie sind ein Versuch, die Richtung zu bestimmen, in der der christliche Glaube sich in einer besonderen Gesamtlage auswirken muß. Sie binden nicht für alle Zeiten, sondern sie sind vorläufige Umschreibungen der Art von Lebensführung, wie sie in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen von Christen gefordert wird.“14

Das Grundprinzip, das Oldham in Vorbereitung auf die Amsterdamer Weltkonferenz im Sinne eines mittleren Axioms einführte, bezeichnete er als „verantwortliche Gesellschaft“, die auf der Freiheit der Menschen und ihrem Gehorsam gegenüber Gott basiere und den Menschen motiviere, aus freiem 9 Oldham, Gesellschaft, 150. 10 Ebd., 155. 11 Die Abwesenheit von Lateinamerika an dieser Stelle weist erneut darauf hin, dass Lateinamerika bis in die frühen 1960er Jahre nicht im Blickfeld der internationalen Ökumene war. Der Grund hierfür liegt u. a. in der sich von Asien und Afrika unterschiedenen historischen und kulturellen Entwicklung des iberoamerikanischen Kontinents. Vgl. zum Ausschluss Lateinamerikas aus der frühen internationalen ökumenischen Bewegung ausführlich oben S. 36–40 sowie S. 80–91 zur Integration Lateinamerikas in den ÖRK in den 1950er Jahren. 12 Vgl. Oldham, Gesellschaft, 157–170. 13 Ebd., 182. 14 Oldham / Visser ’t Hooft, Kirche, 200. Das Problem der mittleren Axiome wird ausführlich behandelt bei Kosmahl, Ethik, 55–108. Vgl. auch Dejung, Entwicklungskonflikt, 94; Stierle, Chancen, 29 f.; Robra, Sozialethik, 102.

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Gewissen heraus zu handeln.15 Alle vier zuvor identifizierten Aufgabenbereiche der Kirche, d. h. ihre sozial-kulturelle, wirtschaftliche, kollektivsittliche und politische Aufgabe als Antwort auf die gesellschaftliche Krise, wurden von Oldham in diesem Prinzip zusammengefasst. Die Sektion III der Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam zum Thema „Die Kirche und die Unordnung der Gesellschaft“ übernahm den von Oldham geprägten Begriff der „verantwortlichen Gesellschaft“ als Zielvorstellung für die gesellschaftliche Aufgabe der Kirche und definierte diese wie folgt: „Der Mensch ist geschaffen und berufen, ein freies Wesen zu sein, verantwortlich vor Gott und seinem Nächsten. […] Eine verantwortliche Gesellschaft ist eine solche, in der Freiheit die Freiheit von Menschen ist, die sich für Gerechtigkeit und öffentliche Ordnung verantwortlich wissen, und in der jene, die politische Autorität oder wirtschaftliche Macht besitzen, Gott und den Menschen, deren Wohlfahrt davon abhängt, für ihre Ausübung verantwortlich sind.“16

Diese Definition beschrieb das Verhältnis des Menschen zu Gott und zu seinem Nächsten als eine von gegenseitiger Verantwortung geprägte Beziehung, aus der sich die Verantwortung der Kirchen für das gesellschaftliche Zusammenleben in politischer Freiheit17, sozialer Gerechtigkeit und öffentlicher Ordnung ableitete. Hinsichtlich der sozialen Funktion der Kirche hielt der Sektionsbericht fest, dass die Kirche den größten Beitrag zur Erneuerung der Gesellschaft leisten könne, wenn sie sich selbst innerlich erneuere.18 Obwohl dies eine bedeutende Erkenntnis innerhalb des Sektionsberichts darstellte, zog der Bericht daraus keine praktischen Konsequenzen für das Leben der Kirche. Vergleicht man diesbezüglich den Amsterdamer Sektionsbericht mit dem ihm vorausgegangenen Text zur „verantwortlichen Gesellschaft“ von Oldham, so fällt auf, wie viel konkreter Oldham bereits die Erneuerung der Kirchen ins Auge gefasst hatte. Denn Oldham hatte erkannt, dass sich die Kirchen angesichts der menschlichen und gesellschaftlichen Krise sowohl in ihrer Theologie als auch in ihren Methoden erneuern müsste: 15 Vgl. Oldham, Gesellschaft, 183. 16 Amsterdamer Dokumente, 50. Nur wenige Tage später wurde am 10. 12. 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Lukas Vischer sah zwischen beiden eine Parallelität: „Das Konzept der ,verantwortlichen Gesellschaft‘ war in gewissem Sinne das ergänzende Gegenstück zur Erklärung der Menschenrechte. […] Art. 21 spricht ausdrücklich vom Recht auf eine demokratische Ordnung der Gesellschaft. Eine ,verantwortliche Gesellschaft‘ baut auf diesem Recht auf.“ (Vischer, Gesellschaft, 25.) 17 Zu dieser Freiheit gehörte beispielsweise auch die politische Freiheit der Menschen, „ihre Regierungen zu kontrollieren, zu kritisieren und zu wechseln“ (Amsterdamer Dokumente, 50; vgl. auch Oldham, Gesellschaft, 188 f.). 18 Vgl. Amsterdamer Dokumente, 54. Als Beispiel für die innere Erneuerung im Sinne einer Umkehr im Denken führt der Sektionsbericht das Thema des Rassismus an: „Gerade hier hat die Kirche jämmerlich versagt, wo sie sich das rassische Vorurteil, das sich in der Welt breitmacht, zu eigen gemacht und dann durch ihre Praxis geheiligt hat.“ (Ebd., 54.)

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„Es muß eine Erweiterung der christlichen Denkkraft eintreten, die begreift, daß der Bereich menschlicher Freiheit ausgedehnter ist, als man annahm. Die großen christlichen Lehren von Schöpfung, Sünde und Erlösung müssen in diesem viel weiteren Zusammenhang erneut durchdacht werden.“19

Am Beispiel der christlichen Lehre von der Arbeit zeigt sich, wie sich Oldham zufolge das sozialethische Denken der Kirchen ändern müsse: Zum einen stellte Oldham die Praxis, die der theologischen Reflexion über Arbeit vorausgehen müsse, in den Vordergrund. Zum anderen sah Oldham nicht notwendigerweise Theologen, sondern Laien – Männer und Frauen in weltlichen Berufen – als Subjekte der theologischen Reflexion: „Neue Mittel müssen ersonnen werden, um Laien beiderlei Geschlechts zu ermutigen, sich in ihren weltlichen Berufen in christlichem Gehorsam mit den Problemen herumzuschlagen, die sie in ihrem Tagewerk antreffen.“20

Mit seinem Entwurf war Oldham der Definition einer „verantwortlichen Gesellschaft“, wie sie in Amsterdam formuliert worden war, weit voraus. Denn er bezog die Wirkung des sozialethischen Konzepts nicht nur auf die Stabilität und Ordnung für Staat und Gesellschaft, sondern reflektierte insbesondere ihre Rückwirkung auf das kirchliche Leben. Durch die Betonung der Praxis und die hervorgehobene Rolle der Laien stellte Oldham bereits 1948 bedeutende Kriterien einer ökumenischen Sozialethik heraus, die allerdings erst ab Mitte der 1960er Jahre mit der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft – unter dem Einfluss lateinamerikanischer Vertreter – zunehmend in den Fokus der ökumenischen Diskussion rückten. Das Konzept einer „verantwortlichen Gesellschaft“, das der Sektionsbericht III in Anlehnung an Oldhams Ausführungen in Amsterdam 1948 formuliert hatte, blieb allerdings in den folgenden Jahren nicht einfach als Status quo bestehen. Denn die Dekolonisationsprozesse in Asien Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre machten es notwendig, das sozialethische Konzept an die neuen Realitäten anzupassen. So konnte die „verantwortliche Gesellschaft“ nicht mehr ausschließlich als Alternative zwischen Kapitalismus und Kommunismus verstanden werden, sondern musste nun auch auf ihre Bedeutung für die „jungen Nationen“ geprüft werden. Die 2. Vollversammlung des ÖRK in Evanston 1954 entwickelte daher das Konzept der „veranwortlichen Gesellschaft“ unter der Frage seiner weltweiten Bedeutung weiter. Bereits in der Vorbereitung auf die Vollversammlung hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, „dass nationale, wirtschaftliche und politische Stabilität, Gerechtigkeit und Freiheit von der wirtschaftlichen und politischen Stabilität der ganzen Welt abhängig sind“21. Unter Verweis auf die Ergebnisse der ökumenischen Studienkonferenz in Lucknow 1952 bestätigte die Vollversammlung in Evanston 19 Oldham, Gesellschaft, 152. 20 Ebd., 166. 21 Oekumenische Centrale in Frankfurt, Schriften, 8 f.

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die Notwendigkeit, dass sich die Kirchen eingehend mit den „Weltprobleme [n]“22 der Kirchen in Asien und Afrika befassen müssten und sahen die fortschreitende Abhängigkeit als Schlüsselproblem der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit: „Gegenseitige wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit globalen Ausmaßes bedeuten eine neue Dimension in der Aufgabe, eine verantwortliche Gesellschaft zu schaffen […].“23 Das Prinzip der „verantwortlichen Gesellschaft“ wurde daher um die Formulierung „in weltweiter Sicht“24 ergänzt. Damit erfuhr das sozialethische Leitkonzept des ÖRK zwar inhaltlich eine Erweiterung, verblieb aber noch maßgeblich in den ethischen Wertmaßstäben der westlichen Kirchen, die mit der „verantwortlichen Gesellschaft“ nun die Aufrichtung von sozialer Ordnung, Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden weltweit anstrebten.25 Die von den Dekolonisationsprozessen ausgehenden gesellschaftspolitischen Veränderungen wurden demzufolge seit Evanston zwar mitgedacht, implizierten aber noch keine Anfrage an die Dominanz westlichen Denkens. Das Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ in weltweiter Sicht hielt sich bis in die 1960er Jahre hinein, doch setzte sich im ÖRK zunehmend die Überzeugung durch, die ökumenische Sozialethik an die sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen und zu diesem Zweck eine ökumenische Weltkonferenz einzuberufen. „We need a new Oxford!“ lautete daher die Parole der Abteilung für Kirche und Gesellschaft im ÖRK in Anspielung auf die 2. Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Oxford 1937.26 Mit einer solchen Konferenz sollten die Fragen christlicher Sozialethik und deren theologischen Grundlagen überprüft und der weltweite Kontext als Maßstab christlichen Handelns einbezogen werden.

22 Evanston Dokumente, 88. Als „Weltprobleme“ nannte der Bericht 1. die Notwendigkeit zur Etablierung politischer Institutionen, 2. die Bodenreform, 3. die industrielle Entwicklung, 4. die Bevölkerungsexplosion und 5. das Problem der anhaltenden Abhängigkeit der unterentwickelten Länder von den Industrienationen; vgl. ebd., 88–90. 23 Ebd., 90. 24 Vgl. Sektion III: Soziale Fragen. Verantwortliche Gesellschaft in weltweiter Sicht. In: Evanston Dokumente, 77–90 und 209–231. 25 Ausdruck einer so verstandenen „verantwortlichen Gesellschaft in weltweiter Sicht“ war das Rapid Social Change-Programm, das den politischen und sozialen Wandel in Asien, Afrika und Lateinamerika analysierte und den Kirchen ihre Verantwortung angesichts dieses Umbruchs vor Augen führen sollte. Vgl. ausführlich oben S. 73–80. 26 Zeitzeugengespräch mit Karl-Heinz Dejung (8. 7. 2010). Dieser Ausruf geht Dejung zufolge auf ein Gespräch zwischen Paul Abrecht und Visser ’t Hooft zurück. Vgl. Kunter / Schilling, Christ, 38.

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Der lateinamerikanische Boom in der internationalen Ökumene

7.2 Die Theologie der Revolution – eine lateinamerikanische Alternative zur „verantwortlichen Gesellschaft“ (Genf 1966) Während die Vollversammlung in Evanston bereits versuchte, weltweite Perspektiven in die ökumenische Arbeit einzubeziehen, gelang der globale Durchbruch im ökumenischen Denken erst im Verlauf der 1960er Jahre. Bereits die dritte Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 – die erste Vollversammlung des ÖRK in einem nicht-westlichen Kontext – zeigte durch die Integration des Internationalen Missionsrates in den ÖRK und der Aufnahme von 23 neuen Mitgliedskirchen aus Asien, Afrika und Lateinamerika sowie durch die 1961 beginnende Mitgliedschaft der russisch-orthodoxen Kirche im ÖRK einen Aufbruch aus der europäisch-nordamerikanischen protestantisch geprägten Ökumene der Nachkriegszeit.27 Damit stand aber auch das in der Gründungszeit des ÖRK entstandene Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ als sozialethischer Basis des ÖRK an einem Scheidepunkt, da es in der Perspektive der „jungen Kirchen“ als von westlichen Theologen entwickeltes und westlich-liberale Theologie widerspiegelndes Konzept galt. Den entscheidenden Impuls für eine grundlegende Infragestellung des Konzepts der „verantwortlichen Gesellschaft“ seitens Vertreter der Dritten Welt gab die Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft, die vom 12. bis 26. Juli 1966 in Genf stattfand. Diese Konferenz gilt als Wendepunkt in der Geschichte des ÖRK hinsichtlich der globalen Repräsentation, der bisherigen universalen theologischen Grundüberzeugungen sowie der sozialethischen Ausrichtung.28 Sie markiert damit eine Zäsur sowohl im Hinblick auf theologische als auch strukturelle Fragen in der internationalen Ökumene. An der Konferenz in Genf nahmen unter dem Titel „Christen leben in der technischen und gesellschaftlichen Revolution unserer Zeit“29 insgesamt 420 Menschen aus aller Welt teil, um angesichts des weltweiten sozialen und technischen Wandels gemeinsam „den Standort christlicher Verantwortung zu umreißen und den Kirchen wie dem einzelnen Christen neue Perspektiven und Impulse für eine vollmächtigere und wirksamere Ausrichtung ihres Zeugnisses zu vermitteln“30. Das Ziel der Weltkonferenz bestand also einerseits darin, die Rolle der Kirchen in einer säkularen und technisierten Welt im globalen Maßstab neu zu 27 Vgl. ausführlich dazu: Kunter / Schilling, Christ, 21–28. Vgl. den Berichtband Neu-Delhi 1961. 28 Vgl. Raiser, Übergang, 105; Abrecht, Development, 250–259; Raiser, Perspectives; Kunter / Schilling, Christ, 37–48. 29 Der Titel lautete auf Englisch: „Christians in the Technical and Social Revolutions of our Time“. Der hier verwendete Plural „Revolutions“ wurde nicht ins Deutsche übernommen. Dass die Kritik an der Theologie der Revolution insbesondere von deutscher Seite so stark war, kann u. a. auch auf das eindimensionale Revolutionsverständnis zurückgeführt werden. Vgl. zur Rezeption der Theologie der Revolution in Deutschland unten S. 251–255. 30 Hanfried Krüger, Vorwort. In: Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 7.

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bestimmen, und andererseits darin, die Theologie für nicht-theologische Diskurse und die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus Politik, Wirtschaft, Rechtswissenschaft, Naturwissenschaft, Soziologie etc. zu öffnen. Diese doppelte Zielsetzung spiegelte sich auch in der Zusammensetzung der 338 offiziellen Delegierten wider: Denn anders als auf bisherigen ökumenischen Weltkonferenzen stellten die 180 Laien in Genf über die Hälfte der Delegierten, darunter Politiker, Beamte, Geschäftsleute, Wissenschaftler und Experten aus Politik, Wirtschaft und Sozialwesen sowie Arbeiter und Gewerkschaftsvertreter.31 Gemeinsam mit den 158 Theologen, Kirchenvertretern, Pfarrern und Theologieprofessoren suchten sie nach Wegen, eine geistige und soziale Basis für ein zukünftiges Programm der Kirchen und des Lebens in einer Weltgemeinschaft zu schaffen. Inhaltlich teilte sich die Arbeit der Weltkonferenz in vier Sektionen auf: 1) wirtschaftliche Entwicklung in weltweiter Sicht, 2) Wesen und Auftrag des Staates in einer Zeit des Umbruchs, 3) Strukturen internationaler Zusammenarbeit – Friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Weltgemeinschaft und 4) Mensch und Gemeinschaft in sich wandelnden Gesellschaftsformen. Daneben gab es drei Arbeitsgruppen zu übergeordneten Themen wie Revolution, Sozialethik und Kirche in der Gesellschaft, die die Arbeit der Sektionen miteinander verknüpften und inhaltlich vertieften.32 Neben der interdisziplinären Zusammensetzung der Weltkonferenz war im Zuge der Vorbereitungen der Konferenz auch die Notwendigkeit erkannt worden, verstärkt Vertreter aus Asien, Afrika und Lateinamerika einzuladen. So hatte der Zentralausschuss des ÖRK bereits 1965 auf seiner Sitzung in Enugu / Nigeria beschlossen: „Im Blick auf die Zukunft legen wir besonderen Wert auf eine afrikanische, asiatische, suedamerikanische und nahoestliche Beteiligung, mehr als es bei frueheren Konferenzen je der Fall war. Dies scheint uns im Blick auf deren Einfluss und auf die Notwendigkeit, fuer einen echten Dialog zwischen den Nationen die rechten Grundlagen zu schaffen, gerechtfertigt.“33

Diese Entscheidung machte sich die Weltkonferenz in Genf ausdrücklich zu eigen und so handelte es sich um die erste Konferenz des ÖRK, in der das Verhältnis zwischen den 146 „westlichen“ Delegierten und den 147 Vertretern aus Asien, Afrika, Lateinamerika und dem Mittleren Osten sogar paritätisch war.34

31 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 20. 32 Vgl. ebd., 25–29. Die Bericht der Sektionen und Arbeitsgruppen sind vollständig in dem Berichtband abgedruckt: vgl. ebd., 109–263. 33 Zentralausschuss Nr. 16, Enugu, Januar 1965, Weltkonferenz fuer Kirche und Gesellschaft 1966. Empfehlungen zur Teilnehmerliste, AÖRK 243.05.1. 34 Hinzu kamen 45 Delegierte aus den Ostblockstaaten. Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 15 und 20.

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Neu war auf der Weltkonferenz außerdem, dass neben den Kirchen aus Afrika und Asien nun auch die Kirchen aus Lateinamerika und der Karibik selbstverständlich zu den „jungen Kirchen“ hinzugezählt wurden und mit insgesamt 42 Delegierten aus 15 Ländern auf der Konferenz repräsentiert waren. Die ausschließlich männlichen Delegierten kamen aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, der Dominikanischen Republik, El Salvador, Guatemala, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Peru, Puerto Rico, Trinidad, Uruguay und Venezuela.35 Diese starke lateinamerikanische Präsenz auf der Genfer Weltkonferenz stellte insofern eine Besonderheit dar, als Lateinamerika auf internationalen ökumenischen Konferenzen bislang nur bescheiden vertreten war. Die Hauptursache dafür, dass die lateinamerikanischen Delegierten in Genf stärker als die Vertreter Asiens und Afrikas als einheitliche Gruppe wahrgenommen wurden, lag in den Aktivitäten der Bewegung ISAL. Denn ISAL sorgte seit 1961 nicht nur innerhalb Lateinamerikas für einen Aufbruch im Protestantismus, sondern pflegte auch enge personelle und strukturelle Verbindungen mit dem ÖRK.36 In Vorbereitung auf die Genfer Weltkonferenz hatte ISAL im Januar 1966 seine zweite große Konsultation in El Tabo / Chile abgehalten und die lateinamerikanische Perspektive auf das Genfer Konferenzthema hin ausgearbeitet. Knapp ein Drittel aller lateinamerikanischen Delegierten in Genf hatte bereits ein halbes Jahr zuvor an der ISAL-Konsultation teilgenommen, so dass diese lateinamerikanische Perspektive nun von mehreren Personen durch Vorträge und Diskussionsbeiträge in die Arbeit der Weltkonferenz einfloss.37 Die folgende Analyse der Genfer Weltkonferenz konzentriert sich ausschließlich auf die Beteiligung der lateinamerikanischen Delegierten und auf die von ihnen ausgehenden Impulse für die internationale ökumenische Arbeit.38 Der Ausgangspunkt ist die Rolle Lateinamerikas in der Vorbereitung der Konferenz, bevor dann der Blick auf die Ereignisse in Genf gerichtet wird. Das Hauptanliegen der Untersuchung ist es, den Einfluss lateinamerikanischer Positionen auf die ökumenische Sozialethik anhand der Infragestellung des Konzepts der „verantwortlichen Gesellschaft“ herauszuarbeiten.

35 Vgl. Teilnehmerliste. In: ebd., 274–280. 36 Vgl. zur ausführlichen Darstellung der Entstehung und Etappen der Bewegung ISAL oben S. 91–112. 37 Participantes latinoamericanos en la consulta El Tabo y La Conferencia Mundial, AÖRK 24.2.037. 38 Damit wird ein seit langem bestehendes Forschungsdesiderat aufgegriffen, denn auf die hervorgehobene Rolle der Lateinamerikaner in Genf wurde in der Sekundärliteratur vielfach hingewiesen, ohne dass sie bisher ausführlich dargestellt worden wäre. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 291; Raiser, Übergang, 97; K ssmann, Vision, 105 (Fußnote).

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7.2.1 Die Vorbereitung der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft und die Rolle Richard Shaulls Bereits in der Vorbereitung der Weltkonferenz versuchte die Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK in Genf die Perspektive Lateinamerikas stärker als bisher zum Tragen zu bringen. Ein wegweisender Schritt war in diesem Zusammenhang die Berufung des Argentiniers Mauricio Amilcar L pez in den Stab des ÖRK. L pez wurde 1919 geboren, studierte in den 1940er Jahren Philosophie und Literatur an der Universidad Nacional de Cuyo in San Rafael / Provinz Mendoza und war während seines Studium stark in der Arbeit der lateinamerikanischen Studentenbewegung engagiert. Ab 1955 arbeitete er als Lateinamerika-Sekretär beim Christlichen Weltstudentenbund (WSCF) in Genf und verfügte daher über ein großes Netzwerk an Verbindungen zu Studierenden und jungen Intellektuellen in ganz Lateinamerika.39 In dieser Funktion hatte er auch die Gründung von ISAL intensiv mit begleitet und war selbst an deren konstituierender Konferenz in Huampan beteiligt.40 Die Pflege von Freundschaften und Netzwerken war für L pez ein wesentlicher Bestandteil seines ökumenischen Selbstverständnisses, das ihn somit auch für die neue Aufgabe im weltweiten kirchlichen Netzwerk des ÖRK qualifizierte.41 Der Generalsekretär des ÖRK, Visser ’t Hooft, war Anfang der 1960er Jahre in Genf auf den umtriebigen Lateinamerikaner aufmerksam geworden und hatte ihn selbst gebeten, an der Seite Paul Abrechts die Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf mit vorzubereiten. Dabei sollte L pez vor allem den Kontakt zu den Kirchen in Lateinamerika und ihre Teilnahme an der Weltkonferenz stärken.42 L pez nahm diese Anfrage an und begann 1963 als erster Lateinamerikaner seine Tätigkeit im Stab des ÖRK.43 Nach fünf Jahren beendete er 1968 diese Arbeit und ging zum Studium an die Pariser Sorbonne. 1973 kehrte L pez als Direktor der Universidad Nacional de San Luis nach Argentinien zurück. 1977 wurde er aus ungeklärten Umständen von der Gruppe Comando de Operaciones T ctico (COT) entführt und Opfer der brutalen Gewalt der argentinischen Militärdiktatur.44 Das Menschenrechtsbüro für Lateinamerika des ÖRK (HRROLA) verfolgte das Verschwinden von L pez mit großer Anteilnahme und verurteilte seine Ermordung scharf.45 39 Vgl. die wenigen Angaben zur Biographie von L pez bei: Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 202, Fußnote 183; Harper, Acompanhamento, 53; Santa Ana, L pez. 40 Iglesia y Sociedad en Am rica Latina, Encuentro, 69. 41 Santa Ana, L pez, XIf. 42 Vgl. Brief von Willem A. Visser ’t Hooft an Mauricio L pez (1. 10. 1962), AÖRK 42.2.026. 43 Er war im Zeitraum vom 15. 4. 1963–30. 4. 1968 in der Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK angestellt. 44 Quintero P rez / Sintado, Pasio´n, 202 (Fußnote 183). 45 Zur Geschichte des Human Rights Resources Office for Latin America (HRROLA) vgl. Harper,

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Die lateinamerikanische Perspektive in den Vorbereitungsbänden Während der ersten beiden Jahre von L pez’ Tätigkeit in der Abteilung für Kirche und Gesellschaft stand die Konzeptionierung von vier Vorbereitungsbänden im Vordergrund, die im Vorfeld der Weltkonferenz erscheinen sollten.46 Wie der Herausgeber des ersten Vorbereitungsbandes, John Bennett, in seinem Vorwort erklärte, war es das Anliegen aller Vorbereitungsbände neue Stimmen aus der ökumenischen Bewegung zu Gehör zu bringen. In der Vorbereitungszeit sei dies mit dem Begriff „enlarging the conversation“47 umschrieben worden, was Bennett zufolge auch die theologische Stimmung spürbar veränderte: „It is a mood of greater hope for man’s historical future that has often been present in ecumenical circles, certainly a mood that is ready for radical changes. Some of the chapters emphasize the necessity of the reality of social revolution. There is a mood of expectancy in churches in new nations that have only recently achieved their independence.“48

Auch Mauricio L pez war der Auffassung, dass die Genfer Weltkonferenz nicht nur den sozialethischen, sondern auch den geographischen Horizont der Konferenz von Oxford 1937 erweitern müsste. Daher stelle die Dritte Welt eine gewichtige Komponente für die Weltkonferenz dar.49 So sorgte L pez dafür, dass auch einige lateinamerikanische Beiträge in die Vorbereitungsbände aufgenommen wurden. Von insgesamt 80 Beiträgen waren dies jedoch nur sechs Artikel – eine „verwerfliche Ziffer“50, wie er in einem Brief an den uruguayischen methodistischen Theologen Emilio Castro zugab. Die angefragten Autoren aus Lateinamerika – neben Emilio Castro waren dies der reformierte Theologe Gonzalo Castillo C rdenas und der Soziologe Orlando Fals Borda aus Kolumbien, der argentinische methodistische Theologe Julio Rub n Sabanes sowie der US-amerikanische Theologe und Missionar Richard Shaull – sahen in der Veröffentlichung ihrer Beiträge eine große Chance, die derzeitige Situation des sozialen Wandels in Lateinamerika intensiv zu erörtern. Castillo C rdenas hob in der Zusage für seinen Beitrag hervor, wie notwendig diese Art von Studien für Lateinamerika sei. Doch nicht nur für den lateinamerikanischen Kontext waren die Beiträge relevant, sondern sie sensibilisierten auch die ökumenische Weltgemeinschaft im Vorfeld für die wesentlichen Themen der lateinamerikanischen Kirchen und Gesellschaft.

46 47 48 49 50

Acompanhamento, 53. Vgl. zum Fall Maurico L pez auch die Dokumente des Human Rights Resources Office for Latin America (HRROLA), AÖRK 429.03.17/10. Bd. 1: Bennett, Ethics; Bd. 2: Matthews, Government; Bd. 3: Munby, Growth; Bd. 4: Vries, Man. Bennett, Foreword. In: Bennett, Ethics, 17. Ebd., 18. Vgl. Brief von Mauricio L pez an Emilio Castro (20. 2. 1964), AÖRK 243.06.2.2. Ebd.

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Mauricio L pez selbst bezeichnete in seinem Artikel die gegenwärtige Zeit als die „dritte Kolonisierung“ Lateinamerikas durch die USA im Namen von Demokratie und freier Marktwirtschaft und beschrieb die daraus resultierende soziale Spannung innerhalb des Kontinents wie folgt: „There was, on the one hand, a minority that possessed all the wealth, lived and thought la Europea, was educated, cultured and democratic. On the other, there was the great mass of the urban and rural population – underfed, illiterate and illhoused, which began to be aware of its condition and to be awakened to a revolutionary frame of mind that no one could check.“51

Ein Vorbild für das wachsende Bewusstsein der sozialen Unterschiede innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaft sah L pez in der kubanischen Revolution, die er als „the most important social and political event in Latin America in this century“52 einordnete. Ein weiteres wichtiges Thema der lateinamerikanischen Gesellschaft sprach der Soziologe Orlando Fals Borda an: Sein Beitrag stellte die Auswirkungen der Urbanisierung Lateinamerikas in den Mittelpunkt und betonte, dass in der Stadt die Säkularisierung deutlicher spürbar sei, als in ländlichen Gebieten. Fals Borda kritisierte insbesondere, dass die Gottesdienstpraxis nicht mehr der Zeit entspräche und aktualisiert werden müsse und forderte von den Kirchen, auf den mit der Verstädterung einhergehenden sozialen und technologischen Wandel zu reagieren.53 Die übergeordnete Aufgabe der Kirche sei es jedoch den Bewohnern der Stadt einen neu entworfenen „ethischen Code“ zu geben, der Würde und Freiheit als Rahmenbedingungen für Technologie und Säkularität aufstelle und eine verantwortliche Entwicklung in sozialer Gerechtigkeit gewährleiste.54 Auch Fals Bordas Landsmann Gonzalo Castillo C rdenas konstatierte innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus das Fehlen einer Theologie christlich-sozialer Verantwortung. Den Grund für diese Entwicklung sah Castillo C rdenas u. a. im Aufkommen neuer protestantischer „Sekten“, die zwar das Evangelium verkündeten und einen starken Zusammenhalt schafften, dabei aber gesellschaftliche Probleme ausblendeten.55 Ausgehend von der Frage „Was heißt es, in der heutigen Lebenslage Lateinamerikas ein Christ zu sein?“56 entwickelte Castillo C rdenas drei Handlungsanweisungen für die Kirchen: Erstens müsse die Kirche die Zweiteilung von christlichem Glauben 51 52 53 54 55

L pez, Dynamics, 154. Ebd., 157. Vgl. Fals Borda, Revolution, 110. Vgl. ebd., 112. Vgl. Castillo C rdenas, Herausforderung, 188 f. Der Beitrag von Castillo C rdenas war der einzige lateinamerikanische Beitrag, der in den einbändigen deutschsprachigen Vorbereitungsband übernommen worden war, welcher eine Auswahl der Beiträge der vier englischsprachigen Vorbereitungsbände enthielt. 56 Ebd., 189.

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und Gesellschaft aufgeben und Jesus Christus als Herrn über ganz Lateinamerika anerkennen, sie müsse zweitens Partei für die Armen ergreifen und drittens zur Humanisierung der weltlichen Gesellschaft beitragen.57 Die Mission der Kirche lag nach Castillo C rdenas demnach in der Erfüllung ihrer dreifachen Funktion: ihrer auf dem Alten Testament beruhenden prophetischen Funktion, ihrer gesellschaftspolitischen Funktion, in der „der Christ verantwortlich in der Mitte des Geschehen steht“58 sowie in der humanisierenden Funktion der Kirche, die sich um die „Unversehrtheit der Menschen“59 bemüht. Der Beitrag von Julio Sabanes konzentrierte sich auf das biblische Verständnis von Gemeinschaft, war also ebenso wie der Beitrag von Castillo C rdenas ekklesiologisch verankert, ging aber nicht von der gesellschaftspolitischen Situation Lateinamerikas aus, sondern von der biblischen Bedeutung des Begriffs koinonia, und legte diesen in Anlehnung an Bonhoeffers Sanctorum Communio aus.60 Schließlich war auch Emilio Castro gebeten worden, sich mit einem Artikel an der Vorbereitung der Weltkonferenz zu beteiligen. Castro, der bereits auf der 3. Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi als Vertreter Lateinamerikas auf dem Podium stand und der seitdem in Lateinamerika insbesondere durch Auftritte im Fernsehen populär geworden war,61 setzte sich in seinem Beitrag mit dem Verhältnis von sozialem Wandel und Bekehrung, d. h. dem inneren Wandel des Menschen, auseinander. Dabei warnte er davor, beide Begriffe dualistisch gegenüber zu stellen, denn Jesu Aufforderung zur Umkehr erfordere ein radikales Umdenken des bestehenden Lebens, in der Christen nicht nur in eine neue Beziehung mit Jesus Christus, sondern auch mit ihren Nachbarn treten.62 Castro folgerte, dass somit die Verkündigung des Evangeliums nicht als isoliert von sozialen Problemen betrachtet werden dürfe und dass auch der soziale Wandel die Möglichkeit zur Bekehrung nach sich ziehen könne.63 Aus diesen fünf knapp umrissenen Beiträgen lässt sich – trotz ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung – bereits eine eindeutige Tendenz ablesen: die sozialen Veränderungen, der sogenannte „rapid social change“, stellten Christen in Lateinamerika stärker als je zuvor vor die Frage nach dem 57 58 59 60

Vgl. ebd., 192 f. Ebd., 193. Ebd., 194. Vgl. Sabanes, Understanding. Aus dem Beitrag von Sabanes lässt sich keine dezidiert lateinamerikanische Perspektive ableiten, da er den koinonia-Begriff zunächst biblisch entfaltet und schließlich auf Bonhoeffers Gemeinschaftsbegriff bezieht. Anders ging dagegen Richard Shaull, wie unten ausführlich dargestellt, mit dem Begriff koinonia um, in welchem er den Ausgangspunkt und das Ziel revolutionären Handelns von Christen sieht. Vgl. unten S. 138 und 141–143. 61 Vgl. zur Biographie Castros die Ausführungen unten S. 228–231. 62 Vgl. Castro, Conversion, 353. 63 Vgl. ebd., 365 f.

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Ort der Kirche in der Gesellschaft. Mit der Betonung der verantwortlichen Haltung von Christen und ihrem Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft entsprachen die lateinamerikanischen Artikel in den Vorbereitungsbänden für die Genfer Weltkonferenz dabei in weiten Teilen der Analyse von ISAL, wie sie auf ihrer Gründungskonferenz in Huampan 1961 formuliert worden war.64 Die Anlehnung an ISAL leitet sich auch aus der personellen Überschneidung ab, da alle sechs Autoren bereits Beiträge in der von ISAL herausgegebenen Zeitschrift Cristianismo y Sociedad publiziert hatten und vier von ihnen sogar zum Redaktionskreis (Junta Editorial) der Zeitschrift gehörten, unter ihnen auch Mauricio L pez.65 Dieser konnte daher in der Vorbereitung der Genfer Weltkonferenz mit der Junta Editorial auf eine lateinamerikanische Referenzgruppe zurückgreifen, die jedoch nicht nur die Vorbereitungsbände beeinflusste, sondern auch auf der Weltkonferenz wortstark zu hören war. Richard Shaulls erster Entwurf einer Theologie der Revolution Richard Shaull nahm unter den „lateinamerikanischen“ Autoren eine hervorgehobene Rolle ein: einerseits, da er als Nordamerikaner nur indirekt Teil von ISAL, d. h. „kein organisches Mitglied der Bewegung“66 war, und andererseits, da er bereits seit Mitte der 1950er Jahre mit der Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK im Zusammenhang des Rapid Social ChangeProgramms kooperierte. Shaull wurde von seinen lateinamerikanischen Kollegen als „unbestrittener Mentor“67 der ISAL-Bewegung bezeichnet und galt als einer der bedeutendsten Vordenker des Netzwerks.68 Dies zeigte sich nun auch in seinem Beitrag in Vorbereitung auf die Genfer Weltkonferenz, in dem er über den Konsens der verantwortlichen Haltung von Christen in der Gesellschaft hinausging und den Begriff „Revolution“ zum Postulat christlichen Handelns erhob: „Es gibt nur einen Weg der Verantwortung, und der führt durch die Revolution hindurch, was auch immer dahinter liegen mag.“69 Dabei sah Shaull den Revolutionsbegriff durchaus ambivalent, da er auf der einen Seite für Gerechtigkeit und Befreiung stünde, auf der anderen Seite jedoch auch zu neuen Formen von Unterdrückung führen könne.70 In seinem Beitrag erörterte Shaull nun die Voraussetzungen und Grundlagen der „Theologie der 64 Vgl. oben S. 92–96. 65 Neben Mauricio L pez waren Julio Rub n Sabanes, Orlando Fals Borda und Richard Shaull Mitglieder des Redaktionskreises. Der ständige Redaktionskreis bestand aus Augusto Fern ndez Arlt als Präsident, Julio de Santa Ana als Verantwortlicher Herausgeber, Hiber Conteris als Chefredakteur, Luis Odell als Administrator und Waldo C sar als Beisitzer. Erstmals wurde die so zusammengesetzte „Junta Editorial“ erwähnt in: Cristianismo y Sociedad 1 (1963), H. 1, 1. 66 Rold n, Entrevista, 58 (Übersetzung – AS). 67 Cervantes-Ortiz, Entrevista. 68 Vgl. einführend zu Shaull die Biographie von Santiago-Vendrell, Theology. Zur Kritik an der Biographie vgl. die Rezension der Verfasserin: Str mpfel, Review. 69 Shaull, Revolution, 119. 70 Vgl. ebd., 120.

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Revolution“ – eine Terminologie, die von Shaull in dieser Weise zwar nicht explizit verwendet wurde, die aber in der Wirkungsgeschichte immer wieder mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurde.71 Shaulls Ausgangsposition lautete, dass sich in der lateinamerikanischen Gesellschaft zwei verschiedene Positionen zeigten: einerseits die Erkenntnis, dass die Gesellschaft von Grund auf verändert werden müsse, und andererseits die Tatsache, dass diejenigen, die die wirtschaftliche und politische Macht besäßen, einen gesellschaftlichen Wandel herbei zu führen, eher daran interessiert seien, den Status quo – und damit ihren eigenen Machtanspruch – aufrecht zu erhalten.72 Das Christentum galt nach Shaull traditionell als Bewahrer der Ordnung und lief daher Gefahr, zum „Sammelbecken all derer zu werden, die den Wandel fürchten“73. Shaull sah die Säkularisierung als Motor für revolutionäre Veränderung; zwar werde dadurch die Autorität der Kirche untergraben, doch diese Situation könne nach Shaull der Kirche helfen, sich aus dem Status quo zu befreien und sich zu einer revolutionären Kraft zu entwickeln. Den theologischen Ursprung der Revolution begründete Shaull in dreifacher Weise mit der biblischen Geschichte: Erstens hob er den eschatologischen Charakter des biblischen Zeugnisses hervor, demzufolge Gott gleichermaßen als Schöpfer und Lenker von Natur und Gesellschaft verstanden würde und dessen geschichtliches Handeln sich auf ein Ziel zu bewege. Zweitens verwies Shaull auf den revolutionären Charakter des biblischen Messianismus, der bereits im Alten Testament in der Tradition der großen Propheten angelegt sei und im Magnifikat der Maria (Lk 1) wieder aufgenommen werde. Drittens komme in der Bibel der dynamisch-geschichtliche Charakter von Gottes Handeln in der Welt zum Ausdruck, der auf die Transformation der Welt abziele.74 Hierbei knüpfte Shaull an Augustins Ausführungen im seinem Werk De Civitate Dei an, das vom Zusammenbruch des Römischen Reiches geprägt gewesen sei und daher ähnliche Fragen aufwürfe, wie sie sich gegenwärtig für lateinamerikanische Christen stellten. Shaull verstand im Anschluss an Augustin historische Ereignisse als Teil des Weges der göttlichen Vorsehung (Providentia Dei), der „vom Kommen seines Königsreiches, vom Wirken des 71 Vgl. die beiden, in Deutschland erschienenen grundlegenden Sammelbände zum Thema: Feil / Weth, Diskussion; Rendtorff / Tçdt, Theologie. Der Begriff „Theologie der Revolution“ wurde nicht von Shaull geprägt, sondern geht auf die Formulierung des evangelischen Theologen Martin Schröter (1918–1991) auf der Allchristlichen Friedenskonferenz 1964 der CFK in Prag zurück. In Anlehnung an Schröter hielt der Schlussbericht der Friedenskonferenz fest: „Was uns wahrscheinlich nottut, ist eine ,Theologie der Revolution‘.“ (Feil / Weth, Diskussion, 292.) Die Notwendigkeit einer theologischen Reflexion revolutionärer Umbrüche in Lateinamerika formulierte auch der kubanische Theologe Adolfo Ham bereits 1964 auf der Latin American Working Party in Genf: vgl. Adolfo Ham, Towards a Theological Interpretation of the Latin American Social Revolution (1964), AÖRK 42.55.09. 72 Vgl. Shaull, Revolution, 117 f. 73 Ebd., 121. 74 Vgl. ebd., 122 f.

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Heiligen Geistes in der Welt und von der Bewegung der Geschichte hin zu ihrer letzten Bestimmung verläuft“75. Auf diesem Weg stünden das irdische und das ewige Reich – „[o]bschon im Konflikt miteinander […], untrennbar vermischt‘“76 – nebeneinander; ihr Ziel sei das Streben nach Frieden. Für das irdische Reich sei der politische Kampf eine wichtige Realität, der zur „Erneuerung und zur Rekonstruktion menschlichen Lebens“77 beitrage – mit anderen Worten: zur Aufrichtung einer neuen sozialen Ordnung. Damit war Shaull bei dem Hauptgegenstand seiner Ausführungen angekommen: Er forderte die christliche Gemeinschaft (koinonia) auf, sich am revolutionären Prozess zu beteiligen und darin an Gottes Handeln in der Welt teilzunehmen, denn: „Nur in ihrem Zentrum [der Revolution] können wir beobachten, was Gott tut, und verstehen, wie der Kampf um die Humanisierung sich bestimmt, und als Agenten der Versöhnung dienen.“78 Die Dynamik des revolutionären Prozesses bestand Shaull zufolge in der Verschränkung von Gottes Handeln und der Antwort des Menschen, sei es in Form der Ablehnung oder in der Teilnahme am revolutionären Wandel. Doch während der revolutionäre Kampf in der Perspektive des Menschen hauptsächlich als Kampf für Gerechtigkeit angesehen werde, gehörten Gerechtigkeit und Versöhnung für Gott zusammen. Dies bedeute ein „ständiges Bemühen um Versöhnung widerstreitender Interessen und Wiederherstellung zerbrochener Beziehungen“79. Die Aufrichtung der christlichen koinonia und das Leben in christlicher Gemeinschaft war für Shaull das Ziel revolutionären Handelns. Sie spiegelte sich nach Shaull in einer neuen Ordnung wider, die Gottes Geschenk an seine Welt ist. Diese eschatologische Hoffnung mache den Menschen frei, ohne Angst zu leben: „Je mehr wir an einer Gemeinschaft teilhaben, die im Kampf gegenwärtig ist und von dieser Hoffnung lebt, desto mehr werden wir fähig sein, dem Zusammenbruch gegenwärtiger Strukturen ohne Furcht zu begegnen und in einer Weise zu handeln, die auf die Gestalt der kommenden Dinge hinweist.“80

Shaull wandte sich abschließend der Frage zu, woran sich Christen in ihren ethischen Entscheidungen orientieren könnten. Die Berufung auf das Naturrecht wies er mit der Begründung ab, dass es mit einer allgemein gültigen Definition versuche, Prinzipien und Regeln für die ideale Gesellschaft zu formulieren. Angesichts der Forderung nach einer neuen Ordnung könne sich diese Tradition nicht mehr halten. Notwendig sei es, wie bereits in Brasilien geschehen, eine „Kontext-Ethik“ zu entwickeln, die sich nicht aus dem Naturrecht ableite, sondern aus dem Zusammentreffen von Gottes Handeln und 75 76 77 78 79 80

Ebd., 124. Ebd. Ebd., 125. Ebd., 128. Ebd., 131. Ebd., 133.

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dem Streben des Menschen nach Ordnung und Frieden in der jeweiligen geschichtlichen Situation. Die Gemeinschaft der Christen als koinonia war auch hier wieder für Shaull der Referenzrahmen und Zielpunkt: „Anleitung zur Gestaltung der Strukturen kann nicht auf irgendeiner allgemeinen rationalen Wertsetzung, sondern muß auf Teilnahme an der Koinonia beruhen, wo durch Wort, Sakrament und Verbundenheit die konkrete Gestalt von Gottes humanisierendem Tun in der Welt sichtbar wird.“81

Den christlichen Beitrag an den revolutionären Zielen sah Shaull in drei spezifischen Elementen: in der Vergebung, die den Christen frei mache, für seinen Nächsten einzutreten, in der Gerechtigkeit, mit der er sich für die Machtlosen einsetze, und in der Versöhnung, die alle Differenzen zwischen Menschen transformiere. Am Wichtigsten sei jedoch die „Grundhaltung des Vertrauens und der Hoffnung“ sowie eine „schöpferische Vorstellungskraft“82 angesichts der jeweils konkreten historischen Situation, mit der sich Christen wirkungsvoll in den revolutionären Prozess einbringen könnten. Die in dieser Weise skizzierte Theologie der Revolution setzte einen deutlichen Akzent im Vorbereitungsband für die Genfer Weltkonferenz. Zwar ging sie von der lateinamerikanischen Situation aus, war aber keineswegs nur auf sie beschränkt, sondern erhob den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Die revolutionäre Utopie, die Shaulls Ausführungen zugrunde lag, sah die Aufrichtung einer neuen sozialen Ordnung als das vordringlichste Ziel revolutionären Handelns. Diese neue Ordnung sollte nicht auf dem Prinzip des Naturrechts aufgebaut sein, sondern einer Ethik folgen, die von dem jeweiligen historischen Kontext ausgeht. Die christliche Koinonia sollte die Gemeinschaftsform dieser neuen Ordnung bilden, wo Menschen versöhnt miteinander einen neuen Lebensstil aufbauen, in gegenseitiger Vergebung und im Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Shaulls revolutionäre Utopie erhielt in dem Vorbereitungsmaterial für die Weltkonferenz einen prominenten Platz: Sie eröffnete den ersten Vorbereitungsband und steckte damit nicht nur das Feld der christlichen Sozialethik in einem weiten Bogen ab, sondern stellte auch die nachfolgenden Beiträge in das Licht revolutionären Wandels.83 Kritisch äußerte sich der Niederländer Max Kohnstamm zu Shaulls Papier, welches er als „terribly abstract and uncessarily

81 Ebd., 136. 82 Ebd., 137 f. 83 Aus der Korrespondenz zwischen Shaull und Abrecht geht hervor, dass Shaull mit der ursprünglichen Zuordnung seines Beitrags im zweiten Vorbereitungsband nicht zufrieden war. Daraufhin schlug Abrecht Shaull vor, einen Beitrag zum Thema „Future Tasks of Ecumenical Social Thinking“ zu schreiben: „I think the chapter in the Theology volume will give you more opportunity to share your thinking on the new lines for ecumenical study on social questions, in the light of the revolutionary situation in so many countries.“ (Brief von Paul Abrecht an Richard Shaull (9. 12. 1963), AÖRK 243.06.2.4.)

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[sic!] difficult“84 bezeichnete. Er wage zu bezweifeln, dass er auf der gleichen Wellenlänge wie Shaull liege. In seinem Vortrag vor der Weltkonferenz plädierte Kohnstamm für den langsamen Wandel und friedlicher Veränderung politischer Strukturen im gegenseitigen Einvernehmen.85 In der Gegenüberstellung der Positionen von Kohnstamm und Shaull zeigte sich somit auch das für Genf charakteristisch gewordene Problem: die Konfrontation zwischen der Vorstellung einer langsamen, prozessualen und friedlichen Veränderung und der Forderung eines radikalen revolutionären Wandels. 7.2.2 Das Lateinamerika-Plenum und die Kritik an der „verantwortlichen Gesellschaft“ Die lateinamerikanischen Stimmen in dem Vorbereitungsband waren zwar nur wenige, ebneten aber den Weg für eine stärkere Beteiligung lateinamerikanischer Christen an der Weltkonferenz. Der uruguayische Soziologe Hiber Conteris, Mitarbeiter im Studiensekretariat und späterer Vizepräsident von ISAL, hatte in seiner Korrespondenz mit Mauricio L pez im Vorfeld der Weltkonferenz die Vermutung geäußert, dass die Entwicklungen in Lateinamerika eine besondere Relevanz für den internationalen Kontext haben könnten. Jedoch befürchtete er, „dass die Probleme unserer Kirchen und unserer Gesellschaft nur sekundär gegenüber den Problemen erscheinen könnten, die zur Zeit die Gesamtheit der entwickelten Länder beunruhigen“86. Doch in Anbetracht der mit großem Selbstbewusstsein vorgetragenen lateinamerikanischen Beiträge auf der Weltkonferenz, blieben diese Bedenken unbegründet. Selbst in der Presse wurde die Dominanz der lateinamerikanischen Delegation positiv gewürdigt. Insbesondere in Bezug auf den Aufbau einer sozialen Ordnung und dem damit in Zusammenhang stehenden Aufbruch in der Kirche, „geben die Südamerikaner den Ton an“87, berichtete der Journalist Simon de Dardel in der schweizerischen Kirchenzeitung La vie protestante von der Konferenz. Und er fuhr enthusiastisch fort: „In einem entchristlichten Europa […] hat man schon seit Langem vorausgesagt, dass das Evangelium zurückkehren würde, in der Weise eines Boomerang, ausgehend von den jüngst evangelisierten Kontinenten. Und siehe da! Genau das passiert jetzt. Die Propheten unserer Zeiten kommen aus Lateinamerika.“88

Analog zu den biblischen Propheten seien die „lateinamerikanischen Propheten“ wortgewandt und trügen in ihrem Herzen die Sorge des Volkes Gottes, d. h. der Masse der Armen und Leidenden. Sie fürchteten keine Konflikte mit 84 85 86 87 88

Brief von Paul Abrecht an Richard Shaull (16. 12. 1964), AÖRK 243.06.2.4. Vgl. Kohnstamm, Friede, 100–103. Brief von Hiber Conteris an Mauricio L pez (9. 12. 1965), AÖRK 24.2.037. Dardel, Retour, 1 (Übersetzung – AS). Ebd.

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den Institutionen und Autoritäten und manch einer von ihnen scheute auch keine Gewalt, so der Journalist Dardel weiter. Dass die Lateinamerikaner stärker als die Teilnehmenden aus Asien und Afrika wahrgenommen wurden, lag auch darin begründet, dass das reguläre Programm der Weltkonferenz ein eigenes Lateinamerika-Plenum vorsah, das sich mit dem Thema „Christentum und revolutionäre Veränderung in Südamerika“ befasste.89 Auf dieser Sondersitzung entfaltete sich erstmals konzentriert die lateinamerikanische Perspektive auf internationaler ökumenischer Ebene. Revolution als Aufbau einer neuen Sozialstruktur Auf der Plenarsitzung zu Lateinamerika sprachen drei Redner aus verschiedenen Perspektiven über den revolutionären Wandel in Lateinamerika und die Rolle der Kirchen in der lateinamerikanischen Gesellschaft: der brasilianische Wirtschafts- und Politikwissenschaftler C ndido Mendes de Almeida, der uruguayische Soziologe Hiber Conteris und der kolumbianische Theologe Gonzalo Castillo C rdenas, der bereits durch seinen Beitrag in dem ersten Vorbereitungsband bekannt war. Das Ziel dieser Beiträge war es, die Teilnehmer der Weltkonferenz über die gesellschaftspolitische Situation Lateinamerikas zu informieren und Handlungsmöglichkeiten für die Kirchen aufzuzeigen. Die drei Redner zeichneten dabei ein Bild des lateinamerikanischen Kontinents, das vor allem von Spannungen und Mehrdeutigkeiten geprägt sei. Mendes de Almeida hob in seinem Beitrag die strukturelle Ambivalenz Lateinamerikas in Bezug auf die Entwicklungsproblematik hervor. Hier zeigten sich zwei, in Spannung zueinander stehende soziale Kräfte: die eine Seite, die einen evolutionären Wandel bei gleichzeitigem Machterhalt der herrschenden Klasse anstrebe, und die andere Seite, die erkannt habe, „dass die Situation eine wahrhaft neue Form geschichtlicher Veränderung notwendig macht [e]“90, die sich für die Beseitigung kolonialer Strukturen und die Aufrichtung einer neuen Sozialstruktur einsetze. Mendes de Almeida vertrat die Position, dass ein qualitativer Wandel nicht nur durch Veränderung der Machtstrukturen gewährleistet werden könne, sondern dass es „eines gleichzeitigen und 89 Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 271. Die Plenarsitzung fand am 16. 7. 1966, 16 Uhr statt. Vorsitzender dieses Plenums war der japanische Präsident der Internationalen christlichen Universität Tokio, Nobushige Ukai. Es ist davon auszugehen, dass auch hier Mauricio L pez sowie Richard Shaull Schlüsselfiguren für die Integration dieses Plenums in das Gesamtprogramm der Weltkonferenz waren. Über die Hintergründe des Zustandekommens dieses Lateinamerika-Plenums gibt es keine gesicherten Informationen und auch die Frage, weshalb es analog zu dem Lateinamerika-Plenum keine Sondersitzung zur Situation der Kirchen in Asien und Afrika gab, muss an dieser Stelle offen bleiben. Einen großen Einfluss auf das Programm der Weltkonferenz hatte neben Mauricio L pez Paul Abrecht als Leiter der Abteilung für Kirche und Gesellschaft, der große Sympathien für die junge lateinamerikanische Bewegung ISAL hegte. 90 Mendes de Almeida, Die strukturelle Ambivalenz Lateinamerikas, 2, AÖRK 243.12.1.5.

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untereinander verbundenen wirtschaftlichen politischen Übergangs“91 bedürfe – der Revolution. Allerdings räumte Mendes de Almeida ein, dass die Revolution immer zuerst ein Luxus reicher Staaten sei, da sie Fachkräfte erfordere, aktive und produktive Arbeiter sowie ein funktionierendes System sozialer Beziehungen.92 Die Entstehung einer Volkskultur (bras. cultura popular) war für Mendes de Almeida eine Reaktion auf den sozialen Wandel: „Dahinter steht der Ruf an alle, gegen die Kolonialverhältnisse Front zu machen […]. ,Bewusstseinsbildung‘ (conscientization) bildet das fundamentale Element dieser Kultur.“93 Dies bedeutete, dass das Volk selbst, und nicht die herrschende Klasse, Träger des nationalen Aufbaus sei. Hiber Conteris nahm den Gedankengang von Mendes de Almeida auf und entwickelte ihn auf philosophisch-soziologischer Ebene fort. Er bezeichnete die Ausbildung eines Bewusstseins über die gelebte Wirklichkeit als Ideologie. Dabei setzte er sich von einem negativ konnotierten Ideologiebegriff ab, nach der Ideologie eine systemstabilisierende Glaubensüberzeugung darstelle,94 und lehnte sich in seinen Ausführungen an die Definition des französischen Philosophen und Soziologen Armand Cuvillier an, demzufolge Ideologie die Bewusstwerdung über die historische und gesellschaftliche Wirklichkeit sei: „Folglich ist eine Ideologie ein dynamischer Ausdruck, der seinen Ursprung in einem Prozess der Reflektion (Bewusstheit) hat und durch die Vorherrschaft des Wirklichen (ein System von veränderlichem Zusammenhang) charakterisiert ist.“95

In Bezug auf Lateinamerika hob Conteris die „verwickelte und zerfaserte Natur lateinamerikanischer Ideologien“96 hervor, die auf den europäischen Denkarten des Marxismus, Positivismus, Liberalismus oder Nationalismus aufbauten und sich mit genuin lateinamerikanischen Elementen, z. B. einheimischen Traditionen und Emanzipationsbewegungen von Kolonialstrukturen, vermischten. Somit stellten Ideologien für Conteris nie ein abstraktes, statisches Denkgebäude dar, sondern seien dynamisch und stünden daher immer im direkten Zusammenhang mit der politischen Praxis.97 Die Funktion der politischen Ideologien lag Conteris zufolge zunächst darin, die soziale und politische Situation des Kontinents zu analysieren, d. h. Ideologien „bieten sich […] als Diagnose dar und schlagen infolgedessen eine Therapie vor“98. Diese sei je nach politischer Orientierung unterschiedlich und reiche vom Aufbau der Technokratie als Ziel des politisch rechten Flügels bis hin zum 91 92 93 94 95 96 97 98

Ebd., 2. Vgl. ebd., 7. Ebd., 10. Vgl. Strasen, Ideologie, 269. Hiber Conteris, Das Angebot der Ideologien und die politische Dynamik, 3, AÖRK 243.12.1.4. Ebd., 4. Vgl. ebd., 6. Ebd., 7.

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Aufbau eines sozialistischen Staats seitens der politisch Linken. Nach Diagnose und Therapievorschlag würde dann im dritten Schritt versucht, die Ideologien in die politische Praxis umzusetzen. Auch hier sah Conteris zwei sich widerstreitende Gruppen gegenüber: die den Status quo erhaltenden Ideologien der Entwicklung und die revolutionären Ideologien im Geist des Marxismus.99 Conteris lobte insbesondere den Beitrag des Marxismus für die wirtschaftliche, politische und soziale Analyse Lateinamerikas und warb dafür, die von Marx postulierte klassenlose Gesellschaft nicht als reine Utopie zu betrachten: „Sie stellt eine Sehnsucht und ein mögliches Ziel dar, und jede Form politischen Handelns in Lateinamerika, die den biblischen Begriff der sozialen Gerechtigkeit ernstnimmt, muss zugeben, dass der Marxismus das wissenschaftliche Instrumentarium geliefert hat, um eine Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Schichtung in der gegenwärtigen Gesellschaft durchzuführen“.100

Daraus leitete sich für Conteris auch die Haltung für Christen angesichts des sozialen Wandels ab: Christen dürften nicht meinen, bereits die Antwort auf die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Probleme in sich zu tragen, denn dann würde sich das Christentum auf eine Stufe mit den politischen Ideologien stellen und selbst zu einem – christlichen – Wertesystem avancieren. Für Conteris war dagegen die Wahrung der Freiheit des Glaubens Kennzeichen eines verantwortlichen Christseins: Der Christ sei aufgefordert, „seine politische und soziale Verantwortung im Rahmen der Wahrheit und der vollkommenen Freiheit, von der Jesus Christus selbst gesprochen hat, zu übernehmen“101. Dadurch würde christlicher Glaube nicht mit einer bestimmten Ideologie identifiziert und der Christ wäre frei, „in Freiheit das System an Vorstellungen zu wählen, das seiner eigenen historischen und sozialen Situation und seinem Grad an politischer Verantwortlichkeit entspricht“102. Conteris verstand somit die politischen Ideologien als notwendige Voraussetzungen einer realitätsbezogenen Gesellschaftsanalyse, warnte jedoch davor, sich als Christ ganz in den Dienst dieser Ideologien stellen zu lassen: „[I]ndem er [der Christ] nämlich im Voraus diese Begrenzung und Unzulänglichkeit aller Ideologien anerkennt, vermeidet er die Gefahr des Dogmatismus, der Unfehlbarkeit und des ,Messianismus‘ des politischen Kampfes.“103

Diese hier klar artikulierte kritische Perspektive auf Ideologien gehörte für Conteris zum Grundverständnis von Christen, wurde in der Rezeption der 99 100 101 102 103

Vgl. ebd., 8. Ebd., 9. Ebd., 10. Ebd. Ebd.

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lateinamerikanischen Beiträge auf der Weltkonferenz in dieser Weise jedoch kaum gewürdigt. Der dritte Vortrag innerhalb des Lateinamerika-Plenums kam von Gonzalo Castillo C rdenas. Er stellte inhaltlich viele Bezüge zu seinen beiden Vorrednern her, setzte jedoch als Theologe den Schwerpunkt auf die Frage nach den Konsequenzen des sozialen Wandels für die lateinamerikanischen Kirchen.104 Wie Mendes de Almeida vertrat auch Castillo C rdenas die Meinung, dass Lateinamerika von Spannungen durchzogen sei und hob insbesondere die „kulturelle Ambivalenz“ des Kontinents hervor. Sie bestünde darin, dass ein privilegierter Teil der Kultur westlich geprägt sei, während der andere Teil der Kultur synkretistisch sei, d. h. indianische, afrikanische und westliche Elemente in sich vereint habe. Diese Situation erzeuge Spannungen zwischen dem Überleben religiöser, westlicher Institutionen und christlicher Freiheit, zwischen Individualismus und sozialer Solidarität. Castillo C rdenas stellte fest, dass die Christen sich zunehmend dieser Ambivalenzen bewusst seien und es folglich die Aufgabe der Kirche sei, „mit allen Teilen der Gesellschaft, mit allen Menschen, selbst mit scheinbaren Widersachern, zusammenzuarbeiten, die auf der Suche sind nach einer sozialen und wirtschaftlichen Ordnung, die jedem zugute kommt, die alle auf eine höhere Stufe hebt und die zu einer Entwicklung der Nation im Rahmen sozialer Gerechtigkeit führt.“105

Jedoch war für Castillo C rdenas ebenso klar wie für seine beiden Vorredner, dass dieser Wandel nicht durch evolutionäre Veränderung, sondern durch einen revolutionären Umbruch herbeizuführen ist, und zitierte in seinem Vortrag einen Absatz aus dem Abschlussbericht der ISAL-Konsultation in El Tabo: „Revolution ist […] ein Werkzeug, eine soziale Ordnung herzustellen, die es erlaubt, daß die Nächstenliebe nicht nur gelegentlich oder vorübergehend und nur an einigen wenigen [sic!] geübt wird, sondern ständig an der Majorität unserer Nächsten. Deshalb ist die Revolution nicht nur erlaubt, sondern obligatorisch für jene Christen, die in ihr den einzigen Weg sehen, auf dem sie das Gebot der Nächstenliebe erfüllen können.“106

Mit der Parteinahme für die Revolution stellte sich jedoch auch das Problem der Gewaltanwendung. Castillo C rdenas sah, dass hier zwei Mythen aufeinander trafen: der Mythos von der schmerzlosen, friedlichen Veränderung und der Mythos vom ländlichen Guerillakrieg.107 Zwar betonte er, dass Christen 104 Mendes de Almeida – selbst römisch-katholischer Christ – ging nur am Rande auf die Rolle des Katholizismus in Lateinamerika ein, der es scheue, seine Privilegien als Staatsreligion aufzugeben. Vgl. ebd., 9. 105 Castillo C rdenas, Christen, 146. 106 Ebd., 148. 107 Vgl. ebd., 149.

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aufgerufen seien, im Kampf um eine neue soziale Ordnung nach Alternativen zu beiden Mythen zu suchen, jedoch machte er hier keine konkreten Vorschläge. Die hier ausführlich wiedergegebenen Vorträge von C ndido Mendes de Almeida, Hiber Conteris und Gonzalo Castillo C rdenas auf dem Lateinamerika-Plenum gingen alle davon aus, dass Lateinamerika von Spannungen durchzogen sei, die eine Revolution nötig machten. Während Mendes de Almeida die strukturelle und wirtschaftliche Ambivalenz, insbesondere die „semantische Kluft“108 zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden als Ausgangspunkt für revolutionäre Veränderung sah, arbeitete Hiber Conteris in seinem Vortrag die Funktion und Rolle politischer Ideologien für den sozialen und politischen Wandel heraus. Castillo C rdenas hob die kulturelle Ambivalenz Lateinamerikas in Bezug auf seine Geschichte und die Vielfalt von Ethnien hervor und fragte nach der daraus resultierenden Rolle von Christen im revolutionären Kampf. Trotz der unterschiedlichen Perspektiven stimmten die drei Redner darin überein, dass ein grundlegender sozialer Wandel nicht durch eine evolutionäre Entwicklung zustande kommen könne, sondern eine solche immer nur den Erhalt des Status quo befördern würde. Der Aufbau einer neuen Sozialstruktur bedürfe einer revolutionären Entwicklung, die auch die Erneuerung des bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systems nach sich ziehe. Notwendig dafür sei eine Bewusstseinserweiterung des Volkes als Trägerin der Revolution. An diesem Punkt waren nach Castillo C rdenas vor allem auch die Christen gefragt: Er verstand sie als Teil der Gesellschaft, die sich aus christlicher Freiheit konstruktiv in den revolutionären Prozess mit einbringen müssten und aus dieser Haltung christlicher Verantwortung ihren humanistischen Auftrag erfüllen könnten.109 Der Konflikt um das Verständnis der „verantwortlichen Weltgesellschaft“ Inwiefern die Wahrnehmung dieser christlichen Verantwortung den radikalen Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung erfordere, löste unter den Teilnehmenden der Weltkonferenz eine breite Diskussion aus.110 Willem A. Visser ’t Hooft hatte in seinem Eingangsreferat dafür plädiert, an den in Amsterdam 1948 geprägten Leitbegriff der „verantwortlichen Gesellschaft“ anzuknüpfen und ihn auf den weltweiten Maßstab zu übertragen. Seine Forderung lautete: „Wir brauchen eine neue Exegese dessen, was die „verantwortliche Gesellschaft“ in unserer Zeit bedeutet.“111 Damit räumte er auch ein, dass der Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung an seine Grenze gekommen war und angesichts der sich zunehmend globalisierenden ökume108 109 110 111

Mendes de Almeida, Die strukturelle Ambivalenz Lateinamerikas, 5, AÖRK 243.12.1.5 Vgl. Castillo C rdenas, Christen, 146. Vgl. im Folgenden auch die Darstellung bei Kunter / Schilling, Christ, 40–46. Visser ’t Hooft, Aufgabe, 38.

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nischen Bewegung nun neu interpretiert werden müsste. Während der Schwerpunkt in Amsterdam 1948 auf dem Aufbau und Erhalt der jeweiligen nationalen wirtschaftlichen Gerechtigkeit lag, kam es für Visser ’t Hooft gegenwärtig darauf an, die wirtschaftliche Gerechtigkeit nicht als nationales, sondern als weltweites Problem zu erkennen und einen radikalen strukturellen Wandel der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen herbeizuführen.112 Folglich müsste, so die Forderung von Visser ’t Hooft an die Weltkonferenz, ein Bewusstsein für eine „verantwortliche Weltgesellschaft“ entstehen, „in der jede Nation sich für das Wohl aller anderen verantwortlich fühlt“113. Die „neue Exegese“ der „verantwortlichen Gesellschaft“ lautete zusammengefasst: „Verantwortliche Menschen nehmen in verantwortlicher Weise an einer Weltgesellschaft teil, in der alle Verantwortung für das gemeinsame Wohl übernehmen.“114 Im Mittelpunkt dieses neuen Verständnisses stand die gegenseitige Solidarität und Verantwortung für das Wohlergehen von Menschen, „wo immer sie leben“115. Visser ’t Hooft betonte in seiner Ansprache, wie wichtig es sei „von den langfristigen Aufgaben der Ökumene“116 her zu denken und sich nicht in kleinteiligen Problemen zu verlieren. Doch auf der Weltkonferenz blieb dieses Plädoyer für die Einheit der Menschen als solidarischer und verantwortlicher Weltgesellschaft eine Utopie. Kritik an Visser ’t Hoofts Rede wurde vor allem von Delegierten aus Afrika, Asien und Lateinamerika auf der Plenarsitzung zum Thema „Politische und wirtschaftliche Dynamik neuerwachter Völker“ artikuliert. Sie sahen in dem Konzept der „verantwortlichen Weltgesellschaft“ den Erhalt westlicher Normen und Ordnungen und befürchteten somit die Fortschreibung kolonialer Strukturen, in denen der Aufbau einer Weltgesellschaft weiterhin an westliche Werte gekoppelt sei. Aus Lateinamerika kam der argentinische Ökonom Raffll Prebisch zu Wort, der als Generalsekretär der UNCTAD die Rolle internationaler Organsiationen thematisierte und nüchtern feststellte: „[W]ir sind sehr, sehr weit entfernt von einer echten internationalen Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern“117. Den Hauptgrund sah Prebisch darin, dass die entwickelten und unterentwickelten Länder unterschiedliche Vorstellungen davon hätten, wie die wirtschaftliche und soziale Veränderung aussehen solle. Um die wirtschaftliche Entwicklung in Ländern wie Lateinamerika anzukurbeln, müsse die Handelslücke dieser Länder durch einen besseren Zugang zum Markt der Industrieländer, durch Exporte von Halbfabrikaten und Fertigwaren und durch finanzielle Transfers der Industrieländer geschlossen werden.118 Doch 112 113 114 115 116 117 118

Vgl. ebd., 38 f., 40. Ebd. (Hervorhebung – AS). Ebd., 41. Ebd., 39. Ebd., 41. Prebisch, Dynamik, 57. Vgl. ebd., 59.

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auch von innen müssten die Kapitalinvestitionen steigen, z. B. im Bereich der technischen Entwicklung, die hohes Kapital und gute Arbeitskräfte erfordere. Prebisch schien damit genau das ökonomische Pendant zu Visser ’t Hooft zu sein, indem er dafür plädierte, „ein starkes Gefühl der Verantwortung für die Entwicklungswelt“ auszubilden: „Die Zeit drängt. Eine neue Politik muss formuliert werden, und Sie, meine Damen und Herren, können eine Menge dazu tun, im Geiste dieser Konferenz auf diese neue Politik hinzuarbeiten.“119 Eine wesentlich kritischere Position gegenüber dem Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ und der internationalen Zusammenarbeit nahmen dagegen der nigerianische Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist Bola Ige und Richard Shaull ein. Ige hob in seinem Beitrag insbesondere das Bedürfnis und Recht der „jungen Nationen“ nach kultureller und nationaler Selbstbestimmung innerhalb der jeweils eigenen Grenzen hervor, das nicht nur hinsichtlich der kolonialen Vergangenheit erforderlich sei, sondern auch deswegen, da diese in zunehmender Weise in die ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges einbezogen würden.120 Bola Ige stellte sich nicht grundsätzlich gegen die Idee einer „verantwortlichen Weltgesellschaft“, kritisierte aber, dass darin den Interessen der „jungen Nationen“ nicht genügend Beachtung geschenkt werde: „Das politische Motiv der neuen Nationen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist demnach, unser eigenes Interesse zu vertreten, wobei wir unseren Beitrag und unsere Verantwortung für das Gemeininteresse der Menschheit nicht vergessen. Die politischen Bedürfnisse und Wünsche der neuen Nationen zielen auf eine Welt ab, in der jedermann in den Genuß wirklichen Friedens und wirklicher Freiheit kommen kann.“121

Verantwortung, Frieden und Freiheit seien zwar schon seit Amsterdam 1948 bekannte Stichworte zur Beschreibung der „verantwortlichen Gesellschaft“, doch Ige forderte eine neue Interpretation dieser Begriffe: Wirklichen Frieden und wirkliche Freiheit könne es nur geben, wenn der Neokolonialismus, wenn Armut und Rassismus überwunden würden.122 In der chinesischen Kulturrevolution sah Ige ein Vorbild für einen gelungenen gesellschaftlichen Aufbruch: „nationalistisch, militant, wirtschaftlich unabhängig und gleichzeitig kompromisslos in ihrer Verpflichtung für die Freiheit und volle Emanzipation der Nationen von Afrika, Asien und Lateinamerika“123. Revolution sei daher die einzige Möglichkeit, soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen nachhaltig zu bewirken. An die Christen richtete er abschließend die Frage:

119 120 121 122 123

Ebd., 61. Vgl. ebd., 66 f. Ebd., 67. Vgl. ebd., 67 f. Ebd., 69.

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„Verstehen wir wirklich die bewegenden Kräfte? Wollen wir wirklich eine neue Ordnung für die gesamte Menschheit schaffen, unbeeinflußt von unseren Vorurteilen der Macht und der kulturellen Überlegenheit?“124

Ige ließ diese Fragen zunächst offen – im Bewusstsein, dass die Weltkonferenz Antworten darauf finden musste. Während Ige Visser ’t Hoofts Rede vor allem auf politischer Ebene kritisierte, entfaltete Richard Shaull in seinem Beitrag eine deutliche theologische Kritik am Konzept der „verantwortlichen Weltgesellschaft“ und manifestierte damit seine bereits im Vorbereitungsband dargelegte Position. Für Shaull bestand kein Zweifel daran, dass Christen an der Aufrichtung einer neuen sozialen Ordnung beteiligt sein müssten, denn sie seien durch „Gottes Erlösungswerk in der Geschichte“ dazu aufgerufen, an der Transformation der Gesellschaft mitzuwirken.125 Den Begriff der „Verantwortung“ koppelte Shaull an die „Revolution“, d. h. an die Erneuerung der Geschichte – und nicht an den Erhalt bestehender Ordnungen. Da jedoch auch die traditionelle Form der Revolution im Sinne einer totalen Umwälzung der Gesellschaftsordnung nicht mehr realisierbar sei, müsse es das Ziel sein, eine „neue Strategie für die Revolution“126 zu suchen. Nur durch kleine Veränderungen könne das bestehende System nachhaltig unter Druck gesetzt werden, so Shaull. Er prägte hierfür den Begriff der „permanenten Revolution“127, die sich an die militärische Strategie der Guerilla anlehnen sollte. Dabei schloss Shaull auch die Anwendung von Gewalt nicht aus: „Es kann wirklich einzelne Situationen geben, in denen nur die Drohung oder der Gebrauch von Gewalt eine Wandlung einleiten können. Wichtig ist nicht, ob die Gewalt geächtet ist, sondern ob ihre Anwendung, wenn sie absolut notwendig ist, der Strategie eines permanenten Kampfes für begrenzte Wandlungen in der Gesellschaft angepaßt ist, oder ob sie, wie so oft in der Vergangenheit, im Rahmen des totalen Krieges und des totalen Umsturzes der Gesellschaftsordnung stattfindet.“128

Gewalt war demnach für Shaull nur dann gerechtfertigt, wenn sie zur gesellschaftlichen Transformation beitrug – nicht jedoch, wenn sie dem Erhalt von Herrschaftsstrukturen und totalitären Machtsystemen diente. Die Aufgabe der Kirche und der Theologie sah er darin, Menschen zu ermutigen, die revolutionäre Verpflichtung anzunehmen und zugleich eine „Ethik der Revolution“ auf der Basis der jüdisch-christlichen Tradition zu schaffen. Nach Shaull bestand die Grundlage der ökumenischen Sozialethik in der „radikalen Histo-

124 125 126 127 128

Ebd. Vgl. Shaull, Herausforderung, 91. Ebd., 94. Ebd., 95. Ebd.

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risierung all unseres Denkens“129, was dazu führe, dass Werte und Prinzipien immer kontextbezogen reflektiert werden müssten: „Ich verstehe es so, daß eine ethische Klärung und Zielsetzung nur dann erreicht werden kann, wenn Werte umgesetzt werden in spezifische soziale Ziele, spezifische menschliche Bedürfnisse und spezifische technische Möglichkeiten und Prioritäten. Keine Gruppe von abstrakten Prinzipien oder Ideen, wie die der verantwortlichen Gesellschaft, wird uns hier helfen, wenn uns diese Aufgabe der Umsetzung nicht gelingt, die immer wieder in veränderten Situationen getan werden muß.“130

Mit dieser Haltung setzte sich Shaull entschieden von Visser ’t Hoofts Vision der „verantwortlichen Weltgesellschaft“ ab, da diese nicht auf die konkrete historische Situation verschiedener Kontexte reagieren und folglich auch keine Erneuerung der Theologie hervorbringen könne. Denn Shaull zufolge erforderte eine neue Sprache des Glaubens die „Präsenz und Beteiligung an denjenigen Stellen in der Welt, an denen Gott am dynamischsten wirksam ist“131. Die revolutionäre Herausforderung an Kirche und Theologie bestand folglich in der Teilnahme des Menschen an Gottes veränderndem Handeln in der Geschichte. In der Gegenüberstellung von Visser ’t Hoofts Vision einer Weltgesellschaft einerseits sowie der revolutionären, auf Selbstbestimmung und Neuordnung ausgerichteten Haltung von Bola Ige und Richard Shaull andererseits zeigten sich zwei verschiedene Perspektiven auf den globalen Wandel in den 1960er Jahren und der daraus resultierenden Verantwortung der Kirchen. Für den ökumenischen Visionär Visser ’t Hooft bestand spätestens seit der Integration des Weltmissionsrates in den ÖRK auf der Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 die Notwendigkeit, ökumenische Themen in ihrer globalen Dimension zu verstehen und zu gestalten. Nicht mehr die geteilte Welt in Ost und West sollte den ökumenischen Diskurs dominieren; vielmehr nahm Visser ’t Hooft durch den zunehmenden Einfluss der „jungen Kirchen“ nun die eine Welt als Ausgangspunkt und Herausforderung für christlich verantwortliches Handeln wahr. So folgerichtig daher die Forderung nach einer „verantwortlichen Weltgesellschaft“, an deren Aufrichtung Christen einen wichtigen Anteil haben sollten, zu sein schien, ignorierte sie jedoch die Spannungen, die sich zunehmend zwischen den Ländern des Südens und den Ländern des Nordens aufbauten. Die Kritik von Bola Ige und Richard Shaull an dem Leitkonzept der „verantwortlichen Weltgesellschaft“ bestand daher genau darin, dass es ein zu harmonisches Bild der Weltgemeinschaft zeichne und die bestehende soziale Ordnung der westlichen Gesellschaften auf den weltweiten Kontext übertragen wolle – ungeachtet der historischen Bedingungen in Afrika, Asien und 129 Ebd., 98. 130 Ebd. 131 Ebd., 99.

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Lateinamerika. In diesen Kontexten hatte die kulturelle, politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung die oberste Priorität, die Shaull zufolge nur durch eine permanente Revolution Gestalt gewinnen konnte. Das Ziel war die Aufrichtung einer neuen sozialen Ordnung, wo Menschen miteinander in wirklichem Frieden und Freiheit leben konnten, wie Bola Ige gefordert hatte. So sehr sich diese beiden Perspektiven auch voneinander unterschieden, zeigten sie jedoch, dass die von Visser ’t Hooft postulierte „verantwortliche Weltgesellschaft“ nicht in ihrer Zielvision infrage gestellt war. Denn beide Seiten sahen die Christen in der Verantwortung, sich gesellschaftlich zu engagieren, Solidarität mit ihrem Nächsten zu üben und sich weltweit für wirtschaftliche Gerechtigkeit einzusetzen. Der Konflikt entzündete sich vielmehr an der Frage, auf welche Weise weltweiter Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit erreicht werden könnten: Hier stand der Forderung nach dem kontinuierlichen Aufbau einer „verantwortlichen Gesellschaft“ in globaler Perspektive das Postulat eines radikal gesellschaftlichen Umbruchs in Form einer permanenten Revolution gegenüber. Das Hauptproblem bestand für die Vertreter der „jungen Staaten“ darin, dass westliche Werte und ethische Prinzipien auf den Weltkontext übertragen werden sollten, ohne den spezifischen Bedürfnissen und historischen Bedingungen der „jungen Nationen“ Beachtung zu schenken. Die von Visser ’t Hooft vorgetragene Hoffnung auf Einheit der Menschheit in einer Weltgesellschaft wurde somit durch die beginnende Offenlegung des Nord-Süd-Gegensatzes erschüttert. 7.2.3 Der lateinamerikanische Einfluss auf das Gesamtergebnis der Konferenz Nicht zahlenmäßig, aber wortgewaltig und überzeugungsstark brachten sich die lateinamerikanischen Vertreter in die Genfer Weltkonferenz ein. Auch für den US-amerikanischen Theologen Harvey Cox war der unvergesslichste Teil der Weltkonferenz „the intellectual and spiritual cogency of the Latin Americans“132. Ihre Positonen flossen konstruktiv in den Gesamtzusammenhang der Konferenz ein: So richtete beispielsweise die Weltkonferenz einen Appell an Christen in aller Welt, sich in Zukunft verstärkt mit vier Themenbereichen zu beschäftigen: Dazu zählten der verantwortliche Gebrauch moderner Technik, die grundlegende Veränderung im Verhältnis zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen, friedliche Lösungen für kriegerische Auseinandersetzungen sowie die Frage nach der Funktion des Rechtes zur Aufrichtung einer gerechten politischen und sozialen Ordnung. Einen Aufruf zur Weltrevolution enthielt dieser Appell erwartungsgemäß nicht. Doch er forderte Christen weltweit dazu auf, sich für einen Wandel in der Gesellschaft einzusetzen und räumte ein, dass die Kirchen eine radikale und revolutionäre Position als Teil der christlichen Tradition anerkennen „und ihr einen be132 Cox, Geneva.

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rechtigten Platz im Leben der Kirche und in der gegenwärtigen Diskussion über die soziale Verantwortlichkeit einräumen“133 müssten. Deutlichere Spuren als in dem von allen Teilnehmenden verabschiedeten Appell hinterließen dagegen einige lateinamerikanische Positionen in den Berichten der Sektionen sowie in den Ergebnissen der drei Arbeitsgruppen. Die von Hiber Conteris dargelegte Forderung nach einem neuen Verständnis von Ideologien wurde im Bericht der Sektion II aufgenommen: Der Bericht verwies zunächst auf den Verlust der prägenden Kraft der Ideologien134, definierte dann aber in Anlehnung an Conteris die Ideologie wertneutral als eine „theoretische und analytische Gedankenstruktur, die einem erfolgreichen Handeln zugrunde liegt, um einen revolutionären Wandel in der Gesellschaft zu verwirklichen oder ihren Status quo zu stützen und zu rechtfertigen”135. Schließlich forderte der Sektionsbericht Christen dazu auf, sich stärker als bisher mit dem Thema der Ideologien auseinanderzusetzen, insbesondere im Dialog mit Nichtchristen und Marxisten.136 Auch die Anerkennung der Gestalt des Nationalismus im Sinne einer „neue [n] Freiheit von den früheren kolonialen Strukturen”137 ist ein Ergebnis der Diskussionen in Genf, das jedoch nicht nur von lateinamerikanischen Vertretern, wie Gonzalo Castillo C rdenas, sondern insbesondere auch von Teilnehmern der dekolonisierten Staaten aus Afrika und Asien vorgebracht wurde.138 Weniger deutlich positionierten sich die Delegierten zum Thema Revolution, das bereits im Titel der Weltkonferenz angelegt war. Zwar bestätigte die theologische Arbeitsgruppe, die sich mit den sozialethischen Implikationen des technischen und sozialen Wandels beschäftigte, dass Revolution ein Thema der Zeit sei, fügte jedoch einschränkend hinzu, dass auch Revolutionen unter dem Gericht Gottes stünden und von ihnen nicht das Heil der Welt zu erwarten sei.139 Sowohl eine eindeutige Definition des Revolutionsbegriffs als auch die theologische Fundierung des revolutionären Wandels, wie sie insbesondere von Richard Shaull vorgetragen und gefordert worden war, blieb in den Berichten der Sektionen und Arbeitsgruppen aus.140 „Revolution“ war für die Weltkonferenz kein Thema, dass alle Länder gleichermaßen betraf, son133 Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 268. 134 Vgl. ebd., 251 (14a). 135 Ebd., 254 (24). Auf die Parallele zwischen Conteris’ Ideologiebegriff und dem Sektionsbericht verweist auch: Rendtorff, Aufbau, 63. 136 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 259 (43). 137 Ebd., 162. 138 Vgl. Die Beiträge von Bola Ige und M. M. Thomas in: Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 63–69 und 70–83. 139 Vgl. Theologische Probleme in der Sozialethik. Bericht der Arbeitsgruppe B. In: Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 251 (15b) und 253 (20). 140 Auf die uneindeutige Verwendung des Revolutionsbegriff machten bereits in der zeitnahen Rezeption der Weltkonferenz die deutschen Theologen Ernst Feil und Rudolf Weth aufmerksam: vgl. Feil / Weth, Diskussion, 294.

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dern wurde als eine von den Entwicklungsländern vorgebrachte Herausforderung verstanden, auf die die entwickelten Nationen reagieren müssten. So sah etwa der Sektionsbericht III („Strukturen internationaler Zusammenarbeit“) die „revolutionäre Stimmung“141 ausschließlich als Realität der Entwicklungsländer an und verstand darunter die Bewusstwerdung für politische Angelegenheiten in diesen Ländern. Die Aufgabe der entwickelten Länder sah der Bericht darin, die Entwicklungen in der Dritten Welt aufmerksam zu beobachten und gegebenenfalls zu unterstützen. Dass die revolutionäre Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika jedoch auch ein Umdenken in der westlichen Welt nach sich ziehen müsste und der revolutionäre Wandel sich auf die globalen Strukturen auswirke, wie Bola Ige und Richard Shaull gefordert hatten, wurde in den Sektionsberichten der Weltkonferenz nicht reflektiert. Ein Thema, das insbesondere in der Rezeption der Ergebnisse der Weltkonferenz kontrovers diskutiert wurde, war das Verhältnis von Revolution und Gewalt. Jedoch stellte dieses Problem in den Texten der Weltkonferenz kein vordergründiges Thema dar.142 Auch in den Beiträgen der lateinamerikanischen Delegierten stand die Gewaltfrage nicht im Zentrum, wenngleich sie natürlich angesprochen wurde. Am deutlichsten positionierte sich Richard Shaull in seinem Beitrag im Vorbereitungsband, in dem er Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung revolutionärer Ideen anerkannte.143 Doch die Weltkonferenz erteilte dieser Haltung eine deutliche Absage: Die höchste Priorität müsse gewaltloses Handeln haben und Gewalt dürfe nur „als eine ,letzte Möglichkeit‘ betrachtet werden, die nur in außergewöhnlichen Situationen gerechtfertigt ist”144. Insofern blieb die Weltkonferenz hinter den Forderungen aus Lateinamerika zurück. Dass die lateinamerikanischen Positionen in Genf zwar wichtige Impulse für das Selbstverständnis kirchlichen Handelns in einer Zeit der gesellschaftlichen Neuordnung lieferten, sich aber letztlich nicht durchsetzen konnten, zeigte sich auch am bleibenden Einfluss des sozialethischen Leitkonzepts der „verantwortlichen Gesellschaft“. Zwar betonte der Sektionsbe141 Vgl. ebd., 194 (84). 142 Zu diesem Befund kommt auch der Historiker Christian Widmann: vgl. Widmann, Wandel, 157. Allerdings bleibt in seiner Studie die Frage unbeantwortet, weshalb insbesondere in der deutschen Rezeption der Theologie der Revolution das Gewaltthema so eng mit der Genfer Weltkonferenz verknüpft wurde. Überblickt man die deutsche Rezeption der Weltkonferenz, so lässt sich feststellen, dass sich diese fast ausschließlich auf das Thema der Theologie der Revolution und der Frage nach der Anwendung von Gewalt konzentriert hat. Damit wurde vor dem Hintergrund der 1968er Studentenbewegung eine zutiefst deutsche Problemstellung an die Weltkonferenz herangetragen, die sich dort jedoch in diesem Maß nicht bestätigt fand. Vgl. ausführlich zur Rezeption der Theologie der Revolution in Deutschland unten S. 251–253. 143 Vgl. den Beitrag im Vorbereitungsband Shaull, Herausforderung, 95. In seinem Vortrag vor der Weltkonferenz bezog sich Shaull nicht ausdrücklich auf einen gewaltsamen revolutionären Umbruch. 144 Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 171 (85).

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richt II, der sich mit dem „Wesen und Auftrag des Staats in einer Zeit des Umbruchs“ befasste, dass Christen ihre Verantwortung zur Beteiligung am politischen Leben stärker wahrnehmen müssten, bediente sich dabei jedoch der seit 1948 geläufigen Terminologie: „Er [der Christ] strebt eine verantwortliche Gesellschaft an, in der es eine wirkliche Achtung der Menschen, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit für alle und eine angemessene Begrenzung der Macht gibt.“145

Doch obwohl der Begriff „verantwortliche Gesellschaft“ in diesem Sektionsbericht wörtlich übernommen wurde, erfuhren die dem Leitkonzept zugrundeliegenden Grundthemen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Macht inhaltlich eine Neuausrichtung: Wahrung der Menschenrechte, Gerechtigkeit für alle und eine Begrenzung von Macht waren nun die neuen Koordinaten des sozialethischen Prinzips der weltweiten Ökumene. Selbstkritisch verwies der Sektionsbericht außerdem darauf, dass die Kirchen zu oft den Status quo vertreten und sich notwendigen Veränderungen entgegengestellt hätten.146 Damit nahm die Weltkonferenz einige Anstöße aus dem lateinamerikanischen Lager auf, machte sich jedoch die Forderungen einer radikalen neuen sozialen Ordnung, wie sie etwa Shaull mit der Theologie der Revolution antizipiert hatte, nicht zu eigen. Vielmehr beschritt sie einen Mittelweg, dessen übergeordneter Gedanke das Wohl aller Menschen war.147 Der lateinamerikanische Einfluss auf die Weltkonferenz in Genf verlief somit auf mehreren Ebenen: Zunächst ist festzuhalten, dass die Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft die erste ökumenische internationale Konferenz des ÖRK war, auf der sich lateinamerikanische Vertreter erstmals selbstbewusst zu Wort meldeten und dabei weithin übereinstimmende Analysen machten. Ein wesentliches Verdienst der lateinamerikanischen Vertreter war es dabei, die ökumenische Weltkonferenz für die lateinamerikanische Wirklichkeit und die bestehenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Probleme des Kontinents zu sensibilisieren. Damit machten sie auf die unterschiedlichen Kontexte aufmerksam, die in der ökumenischen Bewegung zusammen kamen, und forderten eine kontextspezifische Ethik ein – jenseits von allgemeingültigen Prinzipien oder Normen, wie sie sich etwa im Konzept der „verantwortlichen (Welt-)Gesellschaft“ niederschlugen. Die Notwendigkeit eines revolutionären Wandels begründeten sie nicht zuletzt mit dem revolutionären Gehalt des Evangeliums – ein Argument, das jedoch in Bezug auf die Frage nach der Legitimierung von gewaltsamen Aktionen nicht unangefochten blieb. Außerdem gehörte der Dialog mit Ideologien und anderen Weltanschauungen, z. B. dem Marxismus, für die lateinamerikanischen Vertreter notwendig zu einem Dialog zwischen Kirche und Gesellschaft. 145 Ebd., 166. 146 Vgl. ebd., 167. 147 Vgl. ebd., 163 und 166.

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Dass die Lateinamerikaner in der kirchlichen Berichterstattung über die Weltkonferenz als „Propheten“ wahrgenommen wurden148, ist insbesondere darauf zurück zu führen, dass sie eine harsche Gesellschaftskritik ausübten und dabei auch die Kirche nicht mit Kritik verschonten. In ihren Beiträgen trugen sie ihre Vorstellungen einer gerechten, selbstbestimmten Gesellschaft vor, frei von wirtschaftlicher, politischer und kultureller Abhängigkeit, und appellierten an die Teilnehmenden der Weltkonferenz, sich an Gottes veränderndem Handeln in der Welt zu beteiligen. Doch auch wenn ihre Beiträge aufrüttelnd wirkten und das sozialethische Leitkonzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ Risse bekommen hatte: Die lateinamerikanischen Vertreter vermochten es nicht, dieses Konzept nachhaltig durch eine Theologie der Revolution zu ersetzen. Beide Konzepte blieben zunächst unverbunden nebeneinander bestehen. 7.2.4 Das Ende der Theologie der Revolution Die Diskussion um die Theologie der Revolution wurde insbesondere in Deutschland intensiv verfolgt und weitergeführt,149 stellte aber auf internationaler Ebene eher einen Übergangsdiskurs in der ökumenischen Sozialethik dar.150 Die Hauptkritik an der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft lautete, dass sie den theologischen Fragen, die sich aus der Theologie der Revolution ergaben, zu wenig Bedeutung beigemessen hatte.151 Um dieses Defizit auszugleichen und die in Genf formulierten Anfragen an die bisherige ökumenische Sozialethik zu diskutieren, fand vom 17. bis 22. März 1968 eine theologische Konsultation in Sagorsk bei Moskau statt, die gemeinsam von dem Referat für Kirche und Gesellschaft und dem Sekretariat für Glauben und Kirchenver-

148 Vgl. Dardel, Retour. 149 Vgl. unten S. 251–253. 150 Bereits zur Vollversammlung des ÖRK 1968 in Uppsala wurde der Begriff „Revolution“ durch die Formulierung „Erneuerung“ ersetzt, wie sich am Motto der Vollversammlung zeigte: „Siehe, ich mache alles neu“ (Off 21,5). Der Theologe Reinhard Frieling interpretierte dies als Rücknahme der radikalen Sprache von Genf und als „vorsichtigere“ Annäherung an die ökumenischen Probleme der Zeit (vgl. Frieling, Ökumene, 62; Frieling, Weg, 84; Frieling, Aufbrüche, 178). Die Quellen bestätigen diese Interpretation jedoch nicht, denn die Vollversammlung war durch ihren Status als höchstem entscheidungsgebenden Gremium des ÖRK dazu herausgefordert, die ökumenischen Diskurse der vergangenen Jahre aufzunehmen und in die programmatische Arbeit zu integrieren. In dieser Weise war die Vollversammlung also nicht auf Vorsicht bedacht, sondern darauf, für die ökumenische Sozialethik eine Sprache zu finden, die von der Mehrheit der Mitgliedskirchen mitgetragen werden konnte. Vgl. ausführlich zur Vollversammlung in Uppsala: Schilling, 1968. 151 Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 376 f.

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fassung durchgeführt wurde. Mithilfe dieser Konsultation sollten die Unstimmigkeiten in Bezug auf die Theologie der Revolution geklärt werden.152 Bevor sich die Konsultation mit den theologischen Bedingungen und Begründungsmustern revolutionären Handelns befasste, versuchte sie zunächst eine begriffliche Schärfung des Revolutionsbegriffs. Die Erklärung der Sagorsker Konsultation wies an erster Stelle auf die Notwendigkeit eines pluralistischen Gebrauchs des Wortes Revolution hin, da darunter verschiedene Verständnismöglichkeiten zusammengefasst seien.153 Der Begriff Revolution lasse drei Bedeutungsebenen erkennen: erstens, Revolution als Wandel der politischen und wirtschaftlichen Macht und die Beteiligung des Volkes an der Entscheidungsgewalt, zweitens, Revolution als Bruch mit gesellschaftlichen Strukturen und Gewohnheiten, die insbesondere durch den Wandel in der Technik hervorgerufen werden kann, und drittens, Revolution als Protest von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen gegen ihre Ausgrenzung.154 Theologisch begründete die Konsultation Revolution in erster Linie als ein erwachendes Bewusstsein der Menschenwürde. Es sei die Pflicht von Christen, sich mit den Menschen zu identifizieren und zu solidarisieren, die nach sozialer Gerechtigkeit suchen und Strukturen dafür aufbauen wollen. Dabei müsste insbesondere auch darauf geachtet werden, dass die Frage von Ordnung nicht über die Bedeutung der Gerechtigkeit gestellt werde. Insgesamt verstand die Konsultation Revolution aus theologischer Perspektive als weltlichen Versuch, „im Rahmen der Geschichte die von Gott verheißene eschatologische Erneuerung aller Dinge anzudeuten“155. Der Bezug auf die Eschatologie verwies einerseits darauf, dass Menschen durch die Verheißungsbotschaft zum eigenen Handeln motiviert werden, und andererseits auf die bereits gegenwärtige Erfüllung der Verheißung durch Jesus Christus. In der Erklärung der Sagorsker Konsultation wurde dies als Freiheit verstanden, sich konstruktiv und kritisch mit revolutionären Tendenzen auseinander zu setzen. Hinsichtlich der Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung revolutionärer Ziele hielt die Erklärung der Sagorsker Konsultation fest, dass Gewalt „ein Versagen der menschlichen Fähigkeit, durch Wort und Überzeugung evolutionär zu wirken“156 darstelle und Zerstörung, Grausamkeit und Bitterkeit 152 Vgl. ausführlicher dazu: ebd., 376–380. Bezüglich der Wahl des Ortes dieser Konsultation lassen sich keine gesicherten Informationen nachweisen. Da die russisch-orthodoxe Kirche in die Vorbereitung der Genfer Weltkonferenz 1966 kaum eingebunden war, ist anzunehmen, dass es dem ÖRK nun darum gelegen war, russische Theologen und Geistliche mit dem sozialethischen Diskurs von Genf vertraut zu machen. Vermutlich wurde der Kontakt nach Sagorsk über den stellvertretenden Direktor des Sekretariats für Glauben und Kirchenverfassung, Fr. Vitaly Borovoy, hergestellt. 153 Erklärung der Sagorsker Konsultation 1968: Theologische Fragen im Bereich von „Kirche und Gesellschaft“. In: Feil / Weth, Diskussion, 307. 154 Vgl. ebd., 308–310. 155 Ebd., 310. 156 Ebd., 311.

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verursache. Daher müsse jede Gewaltanwendung moralisch kontrolliert und auf ein Minimum reduziert werden. Trotz der vielfältigen Erklärungsversuche und theologischen Differenzierungen des Revolutionsbegriffs blieb die Frage offen, wie sich die christliche Legitimierung revolutionären Handelns zum bisherigen Leitkonzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ verhalte. Die Konsultation hielt dazu fest: „Wir meinen, daß die ökumenische Idee der verantwortlichen Gesellschaft noch immer von Bedeutung für die Strukturen ist, die nach dem revolutionären Umschwung geschaffen werden, wenn es notwendig wird, Macht und Technik verantwortlich zu gebrauchen und eine ständige Erneuerung der Strukturen ohne Zerstörung der Ordnung zu gewährleisten.“157

Zugleich warnte die Erklärung davor, dies als Begründung zum Erhalt des Status quo misszuverstehen. Denn die radikale Änderung der bestehenden sozio-ökonomischen und politischen Weltsysteme bleibe nach wie vor dringend. Das Verdienst der Konsultation von Sagorsk war es, die Theologie der Revolution und die Idee der „verantwortlichen Gesellschaft“ nicht als entgegengesetzte sozialethische Konzepte, sondern als sich gegenseitig bereichernde Ansätze anzusehen. Doch hob diese Wahrnehmung die Konkurrenz zwischen beiden Konzepten nicht auf. Um die Einheit des ökumenischen Sozialdenkens nicht weiter auf die Probe zu stellen, entschied sich die Konsultation für die Weiterverwendung der Terminologie „verantwortliche Gesellschaft“ und versuchte, die radikalen Anfragen und Ideen der Theologie der Revolution in das bestehende Konzept zu integrieren. Als Zielvision formulierte sie „die Schaffung neuer Ordnungen auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Wohlfahrt“158. Der von den Vertretern der Theologie der Revolution geforderte Bruch mit bestehenden Strukturen war damit nicht erreicht. Aber diese radikalen Forderungen machten es notwendig, dass der ÖRK seine bisherigen sozialethischen Leitvorstellungen auf den Prüfstand stellte. Die Theologie der Revolution zeigte sich folglich als ein einflussreicher und zugleich begrenzter Übergangsdiskurs für die ökumenische Sozialethik. 7.3 Die Theologie der Entwicklung und die Arbeit des ökumenischen Ausschusses für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden (SODEPAX) Der Konflikt zwischen den Kirchen aus den Entwicklungsländern und den entwickelten Ländern war erstmals auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 offen zu Tage getreten. Die von den lateinamerikanischen Delegierten vertretene Theologie der Revolution stieß zwar auf große 157 Ebd. 158 Ebd., 312.

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Resonanz, konnte sich als theologisches Konzept im ÖRK jedoch nicht durchsetzen. So blieb die Frage bestehen, welche Rolle die Kirchen auf dem Weg zu einer gerechteren Weltgesellschaft spielen und welches theologische Verständnis die Kirchen diesbezüglich ihrer ökumenischen Zusammenarbeit zugrunde legen könnten. Im Anschluss an die Diskussionen der Sektion III der Genfer Weltkonferenz rückte daher in den folgenden Jahren die Entwicklungsthematik in das Zentrum ökumenischer Debatten. Die Suche nach einer Theologie, die das veränderte globale Bewusstsein der Kirchen aufnahm und auch auf die Spannungen zwischen den Kirchen der Dritten Welt und den Industrienationen einging, war jedoch nicht nur ein Anliegen der im ÖRK vertretenen Kirchen, sondern auch der römisch-katholischen Kirche. Nach den beiden Enzykliken Mater et Magistra zur Soziallehre der Kirche sowie Pacem in terris zu den Menschenrechten von Papst Johannes XXIII. veröffentlichte sein Nachfolger Papst Paul VI. 1967 die Enzyklika Populorum progressio, die sich mit der Frage der weltweiten Gerechtigkeit und Entwicklung befasste.159 Sie verfolgte das Ziel, insbesondere die Entwicklungsländer in der Überwindung sozialer Ungerechtigkeit zu unterstützen und kritisierte einen ökonomisch geprägten Entwicklungsbegriff „zugunsten eines ganzheitlichen Verständnisses […], das außer der politischen und wirtschaftlichen auch die soziale und die personal-religiöse Dimension umfaßt“160. Wie in keiner Verlautbarung zuvor zog die Enzyklika die unmittelbare Verbindung zwischen Entwicklung und Frieden mit der bekannt gewordenen Formulierung „Entwicklung, der neue Name für Frieden“161 und forderte zu „tiefgreifenden Reformen der gegenwärtigen Lebensverhältnisse“162 auf. Die Enzyklika spiegelte somit die sich seit dem Zweiten Vatikanum vollziehende Öffnung Roms zu Themen der Gegenwart wider, die auch eine zunehmende Offenheit gegenüber dem ökumenischen Dialog mit Genf nach sich zog. Bereits im letzten Jahr des Konzils begegneten sich Vertreter der römischkatholischen Kirche und des Ökumenischen Rat der Kirchen auf offizieller Ebene zu einer ersten gemeinsamen Konsultation über soziale und internationale Angelegenheiten. Sie fand im März 1965 unter dem Titel „Church in the Modern World“ in Genf statt und bildete den Auftakt zu einer engen ökumenischen Kooperation über Fragen zu Gesellschaft, Entwicklung und Frieden in den 1960er und 1970er Jahren.163 Die Rolle Lateinamerikas in diesem Zusammenhang näher zu beleuchten ist aus zwei Gründen ein interessantes Unterfangen. Denn erstens hatte sich seit der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft Lateinamerika als ernst159 160 161 162 163

Populorum Progressio. Hilpert, Populorum, 426. Vgl. Populorum Progressio, Nr. 87. Ebd., Nr. 81. Vgl. An Introduction to SODEPAX, 1, AÖRK 4201.5.1.1.

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zunehmender Akteur im internationalen ökumenischen Dialog etabliert und damit begonnen, eine eigene Perspektive in die Debatten einzubringen, die sich in den folgenden Jahren noch deutlicher artikulieren sollte. Zweitens stellte Lateinamerika hinsichtlich der engeren Zusammenarbeit zwischen dem ÖRK und der römisch-katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein Bindeglied für protestantische und römisch-katholische Positionen dar. Das Anliegen der folgenden Darstellung und Analyse der Arbeit des Ausschusses für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden (SODEPAX) zwischen 1968 und 1969 ist daher, den lateinamerikanischen Einfluss auf die ökumenische Arbeit des Ausschusses herauszuarbeiten und in den Verlauf des Diskurses über die ökumenische Sozialethik in den 1960er Jahren einzuordnen. 7.3.1 Das Experiment SODEPAX Drei Monate nach Veröffentlichung der Enzyklika Populorum Progressio kam es im Juni 1967 auf Einladung des ÖRK-Generalsekretärs Eugene Carson Blake und des Präsidenten der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax Kardinal Maurice Roy zur Gründung eines Ausschusses, der als „exploratory body“164 die Frage der Zusammenarbeit der Kirchen zur Förderung von sozialer Gerechtigkeit, Entwicklung und Frieden eruieren sollte.165 Der Findungsausschuss sah für die gemeinsame Studienarbeit und Aktivitäten drei Themenbereiche vor: erstens die theologische Verständigung über Gerechtigkeit und Liebe in Geschichte und Gesellschaft, zweitens der Vergleich und die Ausarbeitung einer globalen Entwicklungsstrategie, und drittens die Auseinandersetzung über die Frage nach der Würde des Menschen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene. Zu allen drei Themenbereichen sollten Gruppen mit sechs bis zwölf Personen die begonnene Arbeit fortsetzen. Maßgabe war dabei, dass der ökumenische, interkonfessionelle Charakter auch in den Arbeitsgruppen erhalten bleiben müsse: „It is the conviction of the Standing Exploratory Group that its work must be ecumenical at every level, for issues of Church and Society, Justice, Development and Peace are at the heart of the concerns of all the churches. […] In its work it [the Standing Exploratory Group] will strive for the unity of Christians which Christ wills. It is hoped that all its work will be inspired by this vision.“166 164 Ebd., 1. 165 Teilnehmer dieser ersten Zusammenkunft waren von römisch-katholischer Seite: Msgr. Joseph Gremillion, Msgr. Pio Laghi, J r me Hamer, Henri de Riedmatten, Vittorino Veronese und Auguste Vanistendael. Den ÖRK vertraten: Max Kohnstamm, Paul Abrecht, John Bennett, Erzbischof Vitaly Borovoy, Axel von dem Bussche, Richard Fagley, Dominique Micheli, Samuel Parmar, Philip Potter und Lukas Vischer. Vgl. Report of the Meeting of the Standing Exploratory Group on Church and Society, Justice, Development and Peace, Geneva, 18.–20. 6. 1967, 1, AÖRK 4201.2.9/11. 166 Ebd., 11.

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Im Januar 1968 gründete sich schließlich aus dem Findungsausschuss der gemeinsame Ausschuss der römisch-katholischen Kirche und des ÖRK für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden – SODEPAX (Society, Development, Peace / Pax) – ein aus damaliger Sicht „unique instrument of ecumenical collaboration“167. Das Generalsekretariat von SODEPAX befand sich im Ökumenischen Zentrum in Genf und stand unter der Leitung des US-amerikanischen Jesuitenpaters George Dunne, unterstützt durch die Co–Vorsitzenden Msgr. Joseph Gremillion, Sekretär der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax, sowie dem reformierten Niederländer Max Kohnstamm, Vizepräsident des Aktionskomitees für ein vereinigtes Europa. Das Mandat des Ausschusses war zunächst auf sechs Monate begrenzt, denn SODEPAX galt zunächst nur als Experimentierfeld auf dem Weg zur „Errichtung einer besseren Welt und einer humaneren Gesellschaft“168. Doch der vorläufige Ausschuss bestand die Bewährungsprobe: Die Vollversammlung in Uppsala 1968 beauftragte SODEPAX mit einem dreijährigen Studien- und Bildungsprogramm zu Fragen von Bildung, Entwicklung und Menschenrechten sowie mit einem theologischen Studienprogramm zu den Themen Entwicklung und Frieden.169 Trotz dieses umfangreichen Auftrags unterstrich die Vollversammlung, dass es sich bei SODEPAX weiterhin um einen Ausschuss „ad experimentum“170 handle. Im Hintergrund stand die Befürchtung, dass es zu Doppelstrukturen und zu einer Verselbstständigung der Arbeit des Ausschusses kommen könne. SODEPAX wollte daher keine Einzelprojekte durchführen, sondern vielmehr durch seine Arbeit die Kirchen zum Handeln motivieren, und verstand sich als „Katalysator, der danach strebt, im Bereich der sozialen Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt schöpferisches Denken zu wecken und Aktivitäten anzuregen“171. Die enge Zusammenarbeit der beiden Dachorganisationen wirkte sich sowohl auf internationaler als auch auf lokaler Ebene positiv aus. Durch die Veröffentlichung von Broschüren, Büchern und der ab 1973 regelmäßig erscheinenden Zeitschrift Church Alert war es möglich, Informationen zwischen der internationalen, regionalen und lokalen Ebene zu teilen.172 Internationale Aufmerksamkeit zog SODEPAX insbesondere durch seine Studien Money in a Village World und Patterns of poverty auf sich, da diese einen kritischen Blick auf die von den Vereinten Nationen ausgerufene zweite Entwicklungsdekade freilegten.173 Auf lokaler 167 Ecumenism in Crisis. Bericht von IDOC (6. 3. 1972), 8, AÖRK 4201.5.1. 168 Informationsbrosch re vom Ausschuss f r Gesellschaft, Entwicklung und Frieden, 3. 169 Vgl. Bericht des Ausschusses für Grundsatzfragen I. In: Bericht aus Uppsala, 188. 170 Ebd., 187 (Hervorhebung im Original). 171 An Introduction to SODEPAX, 6, AÖRK 4201.5.1.1. 172 Chirapurath I. Itty, Some Lessons from SODEPAX experience, 4, AÖRK 4201.5.1. 173 Vgl. ebd., 3. Vgl. Committee on Society, Development and Peace, Money; Elliott, Patterns. Die erste Entwicklungsdekade wurde 1961 von der UNO ausgerufen, die zweite Dekade folgte 1970. Das Ziel der Dekaden war es, eine internationale Strategie für die Ent-

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Ebene wirkte sich SODEPAX beispielsweise positiv auf den Nordirlandkonflikt aus. Auch wenn die Vermittlungsmöglichkeiten zwischen Protestanten und Katholiken dort sehr gering waren, galt SODEPAX als authentische ökumenische Stimme.174 Trotz des Erfolgs und großen Zuspruchs, den SODEPAX in den ersten Jahren in Bezug auf Entwicklungs- und Friedensfragen erhielt, nahm die Frage nach der Identität und dem Status von SODEPAX bereits während des ersten Mandats zwischen 1968 und 1971 einen immer größeren Raum ein. Die Kritik lautete, dass sich SODEPAX als „third entity“175 zwischen dem Vatikan und dem ÖRK etabliere und damit die Arbeit der beiden Institutionen zunehmend in Frage stelle. Tatsächlich war unklar, wieviel Gewicht die Stimme von SODEPAX habe und wie unabhängig sich der Ausschuss von den beiden Trägerorganisationen machen dürfe. Selbst der Generalsekretär des ÖRK, Eugene Carson Blake, vertrat diesbezüglich keine eindeutige Position und sah die Funktion von SODEPAX „somewhere between legislation and advice“176. Das fehlende klare Mandat über die Entscheidungshoheit und Autorität von SODEPAX trug im Laufe der 1970er Jahre zu erheblichen Konflikten in Bezug auf das Selbstverständnis von SODEPAX bei. Nach den ersten drei Jahren wurde das Mandat 1971 zwar um weitere drei Jahre verlängert, allerdings unter neue Bedingungen gestellt, indem das Budget von 378.000 $ (1971) auf 75.000 $ (1972) gekürzt wurde.177 Die folgenden drei Mandate178 von SODEPAX waren einerseits von den drastischen Einsparmaßnahmen geprägt, andererseits aber auch von der wachsenden Kluft zwischen dem Vatikan und dem ÖRK, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass die in Uppsala naheliegende Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche im ÖRK eher eine Illusion als eine ernstzunehmende Realität darstellte.179 Insofern spiegelte der Bedeutungsverlust von SODEPAX ab Mitte der 1970er Jahre auch die Beziehungen

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wicklungsländer zu entwerfen, allerdings wurden die angestrebten Globalziele nur bedingt erreicht. Vgl. Nohlen, Entwicklungsdekade, 218 f. Itty, Some Lessons from SODEPAX experience, 3, AÖRK 4201.5.1. Ecumenism in Crisis. Bericht von IDOC (6. 3. 1972), 6, AÖRK 4201.5.1. Opening Remarks of Dr. Eugene Carson Blake at the annual meeting of the Committee on Society, Development and Peace at the Ecumenical Institute Bossey (o. J.), 7, AÖRK 4202.049. Vgl. ebd., 9. Bis 1978 erhielt SODEPAX finanzielle Unterstützung von verschiedenen christlichen Organisationen, musste sich allerdings in den letzten drei Jahren bis 1980 allein von den Zuwendungen der beiden Trägerorganisationen finanzieren. Dadurch wurde die Handlungsfähigkeit im Vergleich zu den ersten Jahren, wo SODEPAX Zuwendungen von säkularen Stiftungen, wie der Ford-Stiftung und der Internationalen Stiftung Humanum, erhielt, deutlich eingeschränkt. Vgl. Itty, Some Lessons from SODEPAX experience, 7 f., AÖRK 4201.5.1. Vgl. auch Boyens, Rat, 129. 2. Mandat von 1972–1975, 3. Mandat von 1976–1978, 4. Mandat von 1978–1980. Die Leitung des Generalsekretariats oblag immer einem römisch-katholischen Geistlichen. Vgl. Lucal, SODEPAX. Auf der Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 galt es nur noch als seine Frage der Zeit, dass die römisch-katholische Kirche Mitglied im ÖRK werde. Vgl. den Vortrag des Jesuitenpaters Roberto Tucci. In: Bericht aus Uppsala, 341–351; vgl. Schilling, 1968, 103 f.

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zwischen Rom und Genf wider.180 Zum Ende des Jahres 1980 wurde das „Experiment SODEPAX“ schließlich eingestellt – ein Verlust für die ökumenische Zusammenarbeit auf internationaler Ebene und zugleich ein Beispiel für die Vorordnung struktureller Probleme vor der inhaltlichen Konvergenz in Entwicklungs- und Friedensfragen.181 7.3.2 Die Ausdifferenzierung des Entwicklungsverständnisses (Beirut 1968 / Montreal 1969) Die Rolle von SODEPAX als kritisches Forum ökumenischer Debatten hatte sich zwar nur in seinem ersten Mandat bewährt, trug aber in dieser Zeit entscheidend zur Verständigung zwischen römisch-katholischen und protestantischen Christen unterschiedlicher kultureller Herkunft bei. Inhaltlich beschäftigte sich SODEPAX in seinen Anfangsjahren vor allem mit der Frage, was unter „Entwicklung“ verstanden werden könne und welche Aufgabe den Kirchen daraus erwachse. Innerhalb von eineinhalb Jahren entspann sich 1968 / 1969 eine kontroverse Diskussion, in der das westliche Entwicklungsverständnis durch Vertreter der Dritten Welt vehement infrage gestellt wurde. Die lateinamerikanischen Vertreter sorgten dabei in den Debatten nicht nur für pointierte Kritik, sondern brachten aus ihrem Kontext ein alternatives Verständnis von Entwicklung ein, das die ökumenische Arbeit nachhaltig prägte. Verantwortung für Entwicklung (Beirut 1968) Zur ersten „Konferenz für weltweite Zusammenarbeit in Entwicklungsfragen“, die SODEPAX einberief, fanden sich vom 21. bis 27. April 1968 in Beirut über 60 Experten zusammen, um über Entwicklung als ökumenische Herausforderung für die Kirchen zu diskutieren. Der amtierende Generalsekretär von SODEPAX, George Dunne, erklärte die Bedeutung und Reichweite der Versammlung für die christlichen Kirchen in einer Presseerklärung im Vorfeld der Konferenz:

180 „Though SODEPAX was created to foster ecumenical relations between the Roman Catholic Church and the World Council of Churches, it can be said that often it was not more than a mirror of the existing relationship. SODEPAX came into being in 1968 because the general ecumenical climate was very good and optimistic. Later, when the climate began to change, it had its adverse effect on the functioning of SODEPAX. […] In other words, SODEPAX was as much a consequence or victim of the changing ecumenical climate as its cause.“ (Itty, Some Lessons from SODEPAX experience, 7 f., AÖRK 4201.5.1); vgl. Boyens, Rat, 171 f. 181 Eine umfassende ökumenische Darstellung der Geschichte von SODEPAX aus Perspektive des ÖRK und des Vatikans ist ein nach wie vor noch ausstehendes Projekt. Vgl. Stransky, SODEPAX; Lucal, SODEPAX; Land, SODEPAX; K ssmann, Vision, 114–117; Stierle, Chancen, 292–339.

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„[F]or the first time Protestant and Orthodox churches and the Roman Catholic Church are joining forces and pooling resources in a world-wide campaign to awaken mankind to a realization that an increasing chasm divides the rich from the poor, and to quicken the Christian conscience to a sense of responsibility and of moral obligation.“182

Dunne hob hervor, dass die Versammlung somit nicht nur einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zur Einheit der Christen darstelle, sondern auch zur Umsetzung der in der Enzyklika Populorum progressio und auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 formulierten Ziele beitrage. Die deutschsprachige katholische Zeitschrift Herder-Korrespondenz fasste die Zielstellung noch weiter: Sie sah das Anliegen der Konferenz darin, dass sich die Kirchen an der Schwelle zur zweiten Entwicklungsdekade (1970–1980) in Beirut zusammengefunden hatten, um „nach den Grundprinzipien einer geordneten Welt zu suchen und nach dem Beitrag der christlichen Kirchen zu dieser Neuordnung zu fragen“183. Damit schien die Perspektive der „verantwortlichen Gesellschaft“ implizit wieder als Deutungshorizont auf, denn zu der von Dunne genannten Verantwortlichkeit und moralischen Verpflichtung der Kirchen angesichts des Auseinanderdriftens von arm und reich trat hier nun noch die Frage der Ordnung in einer sich zunehmend globaliserenden Welt hinzu. Der Fokus der Konferenz lag auf der Verantwortung der Kirchen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung. In seinem Vorwort zu dem englischsprachigen Berichtband räumte Dunne ein, dass das Entwicklungsproblem äußerst vielschichtig sei, dass die Konferenz aber gebeten wurde, ihr Augenmerk auf die ökonomischen Faktoren als wichtigstes Teilproblem des Entwicklungskonflikts zu richten.184 Diese Entscheidung entwickelte sich später zu einem Hauptkonfliktpunkt in der Rezeption der Ergebnisse von Beirut. Unter den insgesamt 64 Teilnehmenden befanden sich weltweite Vertreter christlicher Kirchen, eine Vielzahl von Experten der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, wie etwa die Wirtschaftswissenschaftlerin Barbara Ward, der indische Ökonom Samuel Parmar oder der ehemalige Pariser Professor für Wirtschaftswissenschaft Andr Philip. Auch der Vorsitzende der Konferenz, der Niederländer Jan Tinbergen, war Ökonom. Außerdem waren eine Reihe von Vertretern internationaler Organisationen eingeladen, die u. a. die Vereinten Nationen und ihre Unterorganisationen, wie die UNESCO, die FAO, die OECD, sowie die Weltbank repräsentierten. Sie schienen nach Einschätzung von Philip Land, Wirtschaftsprofessor an der Gregoriana in Rom und Mitglied der Päpstlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, die 182 Presseerklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen (26. 3. 1968): „International Economists to participate in World Council / Roman Catholic Conference“, AÖRK 4201.2.9./12. 183 Dams, Überlegungen, 279. 184 George H. Dunne, Foreword. In: Munby, World Development, ix.

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Überzeugung zu teilen „that somehow the churches could contribute to development and make their work easier“185. Anders als bei der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf stellten die Teilnehmer aus Asien, Afrika und Lateinamerika nicht einmal ein Drittel der Anwesenden dar und waren folglich – insbesondere im Hinblick auf das Konferenzthema – unterrepräsentiert.186 Aus Lateinamerika nahmen vier Personen an der Konferenz in Beirut teil: Leonardo Franco, Lateinamerika-Sekretär des Christlichen Studentenweltbundes in Genf, Horacio Godoy, Direktor des Aktionskomitees für lateinamerikanische Integration, der zugleich zum Leiter einer der vier Arbeitsgruppen der Konferenz berufen worden war, Raffll Prebisch, Generalsekretär der UNCTAD187 und Paulo de Tarso Santos, Leiter des Institute of Training and Agrarian Reform Research in Santiago de Chile.188 Die Kontinuität zu den Forderungen aus Genf hätte allein Prebisch gewährleisten können, da von den anderen Lateinamerikanern keiner außer ihm zur Konferenz nach Beirut eingeladen worden war. Doch die lateinamerikanischen Repräsentanten traten in Beirut – anders als auf der Genfer Weltkonferenz – nicht als Einheit in Erscheinung. Zwar ließen die Vorträge von Horacio Godoy und Paulo de Tarso Santos klar den lateinamerikanischen Kontext erkennen, jedoch äußerten sie hinsichtlich des Einflusses der USA oder Europas auf die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas keine oder nur schwache Bedenken.189 185 Land, SODEPAX, 42. 186 Vgl. die Liste der Teilnehmenden im Anhang I. In: Beirut-Bericht, 59–69. 187 Raffll Prebisch hielt auf der Konferenz einen Kommentar zur zweiten UNCTAD-Konferenz in Neu-Delhi 1968, der allerdings nicht im Archiv des ÖRK hinterlegt ist. Vgl. den Beleg im Tagungsprogramm, AÖRK Box CCPD „Beirut 1968“. Karl-Heinz Dejung macht in seiner Studie darauf aufmerksam, dass Prebisch aus Protest gegen das Scheitern von UNCTAD II seinen Posten als Generalsekretär 1969 niederlegte. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 384. 188 Diese Einsicht widerlegt die Aussage von Margot Käßmann, in Beirut hätten keine Lateinamerikaner teilgenommen. Vgl. K ssmann, Vision, 114 f. (Fußnote 58). Mit dieser Aussage verband Käßmann, dass sich in Beirut ein paternalistisches Entwicklungsverständnis der Industrienationen, das auf Wachstum ausgerichtet war („alte Perspektive“), ungestört entfalten konnte. Die vorliegende Studie kann durch einen differenzierteren Blick auf die Rolle Lateinamerikas im ÖRK diesem Schwarz-Weiß-Denken widersprechen. 189 Der Vortrag von Horacio Godoy stellte eine Analyse und Vorschau der wirtschaftlichen Integration Lateinamerikas zwischen 1955–1967 dar; vgl. Horacio Godoy, Summary: The Integration of Latin America: Diagnosis and Prognosis, AÖRK CCPD „Beirut 1968“. Godoy hob hervor, dass die Gründung von Handelsorganisationen, wie der Latin American Free Trade Organisation (LAFTA) und des Central American Common Market (CACC), die lateinamerikanische Integration in den Welthandel seit Mitte der 1950er Jahre beförderte, bei gleichzeitig steigender Abhängigkeit von den US-amerikanischen und europäischen Märkten. Die Gründe für die Ungleichheit der wirtschaftlichen Situation blieben in Godoys Beitrag jedoch weitgehend unreflektiert. Das Ziel der lateinamerikanischen Integration müsse es sein, „to turn this dependency into a more equitable interdependency“ (ebd., 2, para. 3.1.5). Den Wandel von einem ungleichen Abhängigkeitsverhältnis zu wechselseitig gerechten Beziehungen sah Godoy nur durch eine Stärkung der internationalen Kooperation gegeben. Einen kritischeren Blick warf dagegen Paulo de Tarso Santos auf die lateinamerikanische Entwicklung; vgl. Paulo de

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Die Ergebnisse der Beiruter Entwicklungskonferenz wurden in einem offiziellen Bericht veröffentlicht.190 Im ersten Teil („Das christliche Interesse“) legte der Bericht die Gründe für das Engagement von Christen in Entwicklungsfragen offen. Die sozialethische Grundlage bildete implizit das Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“: „[W]ir sind nicht nur als Personen für andere Menschen verantwortlich, sondern auch für die politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die Armut, Unrecht und Gewalt hervorbringen. Unsere Verantwortung hat heute eine neue Dimension, weil dem Menschen jetzt die Macht gegeben ist, die Ursachen des Übels zu beseitigen, wo er vorher nur die Symptome bekämpfen konnte.“191

Das Verantwortungsbewusstsein, das hier zum Tragen kam, verband sich mit der Hoffnung, den Wohlstand und die Reichtümer der Welt zu teilen und damit zur „echte[n] menschlichen[n] Entwicklung“192 in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht beizutragen. In der theologischen Interpretation lehnte sich die Konferenz in Beirut an die theologische Orientierung der Genfer Weltkonferenz 1966 an: Die Teilnehmenden teilten die Überzeugung, dass Gott in der Entwicklung am Werk sei und nun die Menschen auffordere, „mit ihm, miteinander und mit allen an diesem Werk beteiligten Menschen zu arbeiten, gleich welcher Überzeugungen sie sind“193. Die Vision, die sie in der Teilnahme an Gottes Handeln leitete, war eine andere Welt, in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Besitzenden und Besitzlosen und zum Wohl aller Menschen.194 Vor dem Hintergrund dieser christlich begründeten Vision einer gerechten Welt analysierte der zweite Teil des Berichts das Entwicklungsproblem („Die Situation“). Die Entwicklungsaufgabe stellte sich dem Bericht zufolge als komplexes Gebilde dar, die wirtschaftliche, soziale, politische, kulturelle und weitere Faktoren gleichermaßen berücksichtigen müsse und nur durch ge-

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Tarso Santos, Summary: Common Christian Concern. Summary, 5, AÖRK CCPD „Beirut 1968“. Er war von 1963–1964 Bildungsminister der brasilianischen Regierung unter Jo¼o Goulart und in dieser Funktion eng mit dem Volkspädagogen Paulo Freire verbunden, dessen Alphabetisierungsmethode und -programm er unterstützte. Tarso Santos war hinsichtlich der Entwicklungsfähigkeit Lateinamerikas wesentlich pessimistischer als Godoy und sah den Weg aus der Unterentwicklung nur durch eine befreiende Bildungspolitik gegeben. Diese richtete sich für ihn nicht nur an den technologischen, sondern auch an den sozialen Wandel und würde einen kritischen Blick auf traditionelle Strukturen ermöglichen. Durch die christlichen Schulen hätten die Kirchen nach Tarso Santos die Möglichkeit und die Aufgabe, nach alternativen sozialen Systemen zu suchen und einen neuen Humanismus zu befördern. Vgl. Beirut-Bericht. Ebd., 15 f. Explizit wurde die Formulierung der „verantwortlichen Gesellschaft“ erst wieder auf der zweiten SODEPAX-Konferenz in Montreal 1969 aufgenommen, wo von der „Vision einer verantwortlichen Weltgemeinschaft befreiter Menschen“ die Rede war. Vgl. unten S. 174–178. Ebd., 17. Ebd., 19 f. Vgl. ebd., 21 f.

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meinschaftliches Handeln zwischen den entwickelten Ländern und Entwicklungsländern zu erreichen sei. Als hinderlich für die Entwicklung benannte der Bericht das schwache Interesse der Bevölkerung in den Entwicklungsländern an politischen Veränderungen und der damit einhergehenden Ausbildung von Sonderinteressen, die oftmals sinnvolle Entwicklungsmaßnahmen – wie Bodenreformen und Industrialisierung – behinderten.195 Die entwickelten Länder stünden vor allem vor dem Problem, dass sie die Entwicklungsproblematik noch nicht als politisches Problem anerkennen – und somit u. a. der Frage von Rüstungsausgaben nachordnen würden. Trotz dieser Kritik schloss die Beschreibung der Situation in einem unvergleichlichen Fortschrittsoptimismus: Die „Schaffung eines befriedigenden Lebensstandards“196 in den unterentwickelten Ländern erfordere Jahrzehnte, sei jedoch eine zu lösende Aufgabe, die unter großen Anstrengungen erreicht werden könne. Im dritten Teil legte der Bericht der Beiruter Konferenz seine „Entwicklungsstrategie“ offen. Die Zielvorgabe müsse es sein, die Wachstumsrate der Entwicklungsländer auf jährlich 6 % des Bruttosozialprodukts zu erhöhen, wobei die Konferenz die Verantwortung, dieses Ziel zu erreichen, in erster Linie bei den Entwicklungsländern selbst sah.197 Als zu entwickelnde Bereiche benannte der Bericht u. a. die Landwirtschaft, Ernährung, Industrie, demographische Entwicklung und Erziehung. Internationale Organisationen sollten dafür sorgen, zu prüfen, inwiefern die Entwicklungsprogramme auch multilateral durchgeführt werden könnten.198 Auf Seite der entwickelten Länder hob der Bericht hervor, dass die Entwicklungsarbeit als Hilfe zur Selbsthilfe in Umfang und Qualität entscheidend gesteigert werden müsse.199 Als Zielvorgabe stellte die Konferenz in Beirut dabei die Forderung auf, dass die Industrieländer den offiziellen Transfer ihrer Mittel in die Entwicklungsländer auf 1 % ihres Bruttosozialprodukts erhöhen sollten. Damit schloss sich die Konferenz in Beirut der zweiten Konferenz der UNCTAD an, die diese Vorgabe aufgestellt hatte.200 Der vierte Teil des Berichts wandte sich schließlich dezidiert der „Rolle der Kirchen“ angesichts des Entwicklungsproblems zu. Die Aufgabe der Kirchen bestand einerseits darin Bürger heranzubilden, „die an der Entwicklung der entstehenden Weltgemeinschaft arbeiten“201; andererseits müssten die Kirchen vor allem ihre politische Handlungsfähigkeit stärken und als „Lobby195 196 197 198 199 200

Vgl. ebd., 25 f. Ebd., 27. Vgl. ebd., 28 f. Vgl. ebd., 41. Vgl. ebd., 37. Die zweite Welthandelskonferenz wurde von den Ökonomen in Beirut insgesamt sehr kritisch gesehen: vgl. insbesondere den Beitrag von Parmar, Implications. Dazu ausführlich: Stierle, Chancen, 297–302. Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 384–386. 201 Beirut-Bericht, 45.

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isten“202 Druck auf Parlamentarier und lokale Volksvertreter ausüben. Die Ausbildung eines Bewusstseins für Bürgerschaft sowie die Stärkung internationaler Zusammenarbeit seien Kennzeichen dieser Lobbyarbeit. Dieser Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden könne nur ökumenisch geschehen; in diesem Punkt seien die Kirchen anderen internationalen Organisationen schon weit voraus, denn: „Sie sind bereits internationale Gesellschaften, die Grenzen überschreiten und etwas vom Wesen der Gemeinschaft vorwegnehmen, noch ehe diese ihre gesetzlichen Formen gefunden hat“203. Damit hatte sich SODEPAX auch selbst legitimiert, denn die grenzüberschreitende Funktion des Ausschusses zeigte sich einerseits in seiner überkonfessionellen Gestalt, und andererseits in seinem Streben nach einer die nationalen Grenzen überschreitenden Weltgesellschaft, deren Bürger in Nächstenliebe „für das Wohl und den Frieden der ganzen Menschheitsfamilie“204 eintreten. Als ein Ausschuss, der das Handeln der Kirchen untereinander koordinieren und ihre Beziehungen zu internationalen Organisationen stärken sollte, schien SODEPAX für die internationale Zusammenarbeit der Kirchen unentbehrlich, so dass die Konferenz am Schluss die Empfehlung an die römisch-katholische Kirche und den ÖRK aussprach, SODEPAX „zu einem ständigen Instrument ökumenischer Zusammenarbeit zu machen“205. Die Konferenz in Uppsala machte sich wenige Monate später diese Empfehlung zu eigen, auch wenn sie weiterhin auf den experimentellen Status des Ausschusses verwies. Um die Kritik, die der Beiruter Konferenz wenig später insbesondere aus Lateinamerika entgegengebracht wurde, einordnen zu können, werden im Folgenden die wichtigsten Aspekte des der Konferenz zugrunde liegenden Entwicklungsverständnisses zusammengefasst. Dabei wird deutlich, dass der Entwicklungsbegriff der Beiruter Konferenz nicht so einseitig war, wie er im Nachhinein gern gesehen wurde.206 Als Determinanten des Entwicklungsprozesses galten zunächst die alle Bereiche der Gesellschaft umfassende Modernisierung, der wachsende Prozess der Industrialisierung und Agrarwirtschaft sowie die wirksame internationale Zusammenarbeit. Der der Konferenz innewohnende Fortschrittsoptimismus wurde mit der parallel verlaufenden Entwicklung der europäischen Länder im 19. Jahrhundert begründet und suggerierte, dass die Frage nach dem Anschluss der Entwicklungsländer an

202 Ebd., 51 und 53. 203 Ebd., 56. 204 Ebd., 58. Zur grenzüberschreitenden Funktion von SODEPAX vgl. ausführlich unten S. 256–260. 205 Ebd., 57. 206 Vgl. die Darstellung bei K ssmann, Vision, 114 f. Etwas weniger dualistisch sind die Ausführungen bei Dejung, Entwicklungskonflikt, 382–384 und Rudersdorf, Entwicklungskonzept, 232–235.

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das Niveau der entwickelten Länder nur eine Frage der Zeit sei.207 In dieser Hinsicht blieb die Konferenz von Beirut in der Tat hinter den Erkenntnissen der Genfer Weltkonferenz zurück, wie Karl-Heinz Dejung kritisierte.208 Doch wurde der Entwicklungsbegriff nicht auf seine rein ökonomische Bedeutung reduziert; vielmehr erkannte die Beiruter Konferenz, dass der Entwicklungsbegriff neben den wirtschaftlichen auch soziale, politische und kulturelle Faktoren einbeziehen müsse.209 Das Ziel des Entwicklungsprozesses bestand aus christlicher Perspektive in der „Befreiung des Menschen für den volleren Gebrauch seiner gottgegebenen Kräfte“210 – eine Formulierung die sich nicht in den in der Sekundärliteratur einseitig als wachstumsorientierten Entwicklungsbegriff fügen will. Vielmehr lässt sich an dieser Zielformulierung bereits der Horizont erkennen, in dem sich die Konferenz von Beirut verstand. Die folgenden SODEPAX-Konferenzen in Montreal und Cartigny waren folglich Ausdifferenzierungen des bereits in Beirut angelegten ökumenischen Entwicklungsverständnisses der Kirchen. Die dependenztheoretische Kritik aus Lateinamerika Die schärfste Kritik an der Beiruter Entwicklungskonferenz kam – wie unten zu zeigen sein wird – aus Lateinamerika, doch nicht nur von dort wurde die Konferenz kritisiert. Auch europäische und nordamerikanische Stimmen meldeten Bedenken gegenüber dem in Beirut vertretenen Entwickungsverständnis an. Der in allen Beiträgen übereinstimmende Hauptkritikpunkt lautete, dass die Konferenz in Beirut eine zu traditionelle, westliche Sicht auf das Entwicklungsproblem eingenommen habe. In einer von SODEPAX zusammengestellten Übersicht der Kritik an Beirut heißt es: „The experts relied upon at Beirut proceed through traditional established channels and traditional centres [sic!] of research. These tell the developing world what their development ought to be: but the thinking is done dominantly by the West.“211

Die Kritik richtete sich insbesondere an die Verwendung der Begriffe „unterentwickelt“ und „entwickelt“, die von der Konferenz einfach übernommen worden seien. Daraus leitete sich aus Perspektive der Kritiker die Notwendigkeit ab, das westliche Entwicklungsverständnis zu entmythologisieren – eine Aufgabe, der sich SODEPAX bislang entzogen hätte.212 Der Vertreter des 207 Vgl. Beirut-Bericht, 27; Rudersdorf, Entwicklungskonzept, 233. 208 Vgl. Dejung, Entwicklungskonflikt, 389. 209 Vgl. Beirut-Bericht, 23. Berechtigt ist die Kritik insofern, als die soziale, politische und kulturelle Dimension der Entwicklung nicht in gleichem Maß Gegenstand der Diskussionen darstellte. 210 Beirut-Bericht, 23. 211 Critcisms of the Beirut Report, 3, AÖRK 4202.053. 212 Vgl. ebd.

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Vatikans bei den Vereinten Nationen, Henri de Riedmatten, der selbst an der Beiruter Konferenz teilgenommen hatte, kritisierte die auf eine jährliche Wachstumsrate von 6 % reduzierte Entwicklungsstrategie. Riedmatten verstand dies als eine Einengung des Entwicklungsbegriffs, den er aus christlicher Sicht wesentlich weiter gefasst sehen wollte – eine Notwendigkeit, die zwar im Bericht von Beirut bereits erkannt, aber noch nicht umgesetzt worden war.213 Ein weiterer Kritikpunkt stellte sich insbesondere vor dem Hintergrund des Kalten Krieges als interessant dar: Ein Theologiestudent des Ökumenischen Instituts in Bossey, Bill Ritchie, fragte nach der Rolle der sozialistischen Länder im Entwicklungsprozess, auf die im Bericht nicht eigens eingegangen worden war. Angesichts der Teilnahme nur eines Delegierten aus Osteuropa214 stellte Ritchie die universale Bedeutung der Ergebnisse von Beirut für Christen in Frage. Die lateinamerikanische Kritik an der Beiruter Konferenz, auf die bereits in der Sekundärliteratur vielfach verwiesen worden ist215, reiht sich somit in eine Vielzahl kritischer Kommentare ein. Eine herausragende Stellung kam ihr nur hinsichtlich ihrer dependenztheoretischen Zuspitzung zu. Ähnlich wie bei der Genfer Weltkonferenz entstand die lateinamerikanische Kritik im Umkreis der Bewegung ISAL, von der jedoch kein Vertreter an der Konferenz in Beirut teilgenommen hatte. Hier kann ein Grund für eine verzerrte Wahrnehmung der Diskussionen in Beirut gesehen werden, denn wie bereits Wolfram Stierle in seiner wirtschaftsethischen Untersuchung nachgewiesen hat, traf die ISALKritik die Forderungen der Beiruter Konferenz nur bedingt.216 Federführend in der Kritik an der Beiruter Konferenz war der Uruguayer Julio de Santa Ana, Vizepräsident von ISAL und verantwortlich für die Öffentlichkeits- und Dokumentationsarbeit der Bewegung.217 Er wies die „ultraconservative developmentism positions taken by the Beirut Conference“218 schroff zurück, da diese die strukturelle Frage der Unterentwicklung ver-

213 Vgl. ebd., 4. 214 Es handelte sich dabei um Erzpriester Jakov Ilitch, einen Vertreter des Moskauer Patriarchats. Vgl. die Liste der Teilnehmenden im Anhang I. In: Beirut-Bericht, 64. 215 Vgl. die übereinstimmende Darstellungen bei Dejung, Entwicklungskonflikt, 390 und Rudersdorf, Entwicklungskonzept, 262–264; Zaugg-Ott, Entwicklung, 69 f. Die fundierte Studie von Wolfram Stierle setzt sich bislang als einziger wissenschaftlicher Text auch kritisch mit der lateinamerikanischen Position auseinander; vgl. Stierle, Chancen, 314 f. 216 Vgl. ebd., 315. 217 Die ISAL-Kritik wurde in der von SODEPAX zusammengestellten, mehrseitigen Zusammenfassung der kritischen Rückmeldungen zur Beirut-Konferenz an erster Stelle ausführlich zitiert. Verfasser dieser Kritik war dem Kommentar der Zusammenfassung zufolge Julio de Santa Ana. Ein längerer Beitrag von Santa Ana, in der er die Beiruter Konferenz kritisierte, erschien in der von ISAL herausgegebenen Zeitschrift Cristianismo y Sociedad: Santa Ana, Cristianos; engl. erschienen unter dem Titel: Santa Ana, Christians. Im Folgenden wird aus der englischsprachigen Version zitiert. 218 Santa Ana, Christians, 7.

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nachlässigen würden. Unter Berufung auf das Konzept des desarrollismo219 lautete die Hauptkritik von ISAL an der Beiruter Konferenz, dass sie den Entwicklungsprozess interpretiert habe als „continuous, progressive advance from archaic and traditional forms through modernization to well-being“220. Durch Bildung und Technologie könne, so der Bericht aus Beirut, die Entwicklung und Modernisierung der unterentwickelten Länder garantiert werden – für ISAL ein Beispiel für westlichen Paternalismus und den Erhalt neoliberaler Ideologie. Die Möglichkeit, Veränderung durch Revolution zu erreichen, sei in Beirut nicht zur Sprache gekommen – in dieser Hinsicht sei die Weltkonferenz in Genf 1966 wesentlich weiter gewesen.221 ISAL forderte SODEPAX dazu auf, sich nicht hinter Worthülsen wie „menschliche Würde“ und „Freiheit“ zu verstecken, sondern den Imperialismus als Übel anzuprangern. Die abschließende Empfehlung von ISAL lautete, sich die marxistische Analyse zu eigen zu machen: „In respect to this failure of the neo-liberalistic Beirut Report to see the positive role in history of social warfare, we must go back to recognize in Marx a valid method of investigation in the social sciences. Otherwise the Churches will continue to produce more Beirut reports.“222

Die Einschätzung, dass sich in Beirut ein traditionell westliches, neoliberales Wirtschaftsmodell durchsetzen konnte, wurde in der ISAL-Kritik auf den Umstand zurückgeführt, dass einfach ein Entwicklungsmodell auf die Entwicklungsländer übertragen werden sollte, „without even consulting Africans, Asians and Latin Americans“223. Diese Kritik war jedoch nicht zutreffend.224 Zwar stimmte die Beobachtung, dass nicht genügend Vertreter der Entwicklungsländer an der Beiruter Konferenz partizipieren konnten, doch wie oben am Beispiel der lateinamerikanischen Teilnehmer gezeigt werden konnte, waren diese in die Diskussionen der Konferenz klar integriert. Das Problem, 219 Beim Konzept des desarollismo (zu span.: „desarollo“ – Entwicklung) handelte es sich um eine Entwicklungsstrategie der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL), die eine „Entwicklung nach innen“ und wirtschaftliche Autonomie anstrebte, indem sie die lateinamerikanische Wirtschaft zu stärken versuchte, durch Belebung des Binnenmarktes und unter weitestgehendem Verzicht auf ausländische Importe. Vgl. Nuscheler, Desarollismo, 185. 220 Criticisms of the Beirut Report: ISAL, 1, AÖRK 4202.053. 221 Vgl. ebd. Santa Ana sah den Grund für den Erfolg der modernistischen, anti-revolutionären Haltung von Beirut darin, dass sie auf sozialen Wandel zielte, dabei jedoch jede Form von Gewalt – die möglicherweise mit einer Revolution einhergehen könnte – von vornherein ausschloss. Vgl. Santa Ana, Christians, 7. 222 Criticisms of the Beirut Report, 2, AÖRK 4202.053. 223 Ebd., 1. 224 Zu diesem Ergebnis kam auch die (unbekannte) Person, die die verschiedenen kritischen Kommentare zum Beirut-Bericht zusammen gestellt hatte; vgl. Criticisms of the Beirut Report, 5, AÖRK 4202.053. Karl Heinrich Rudersdorf gibt in seiner Studie über das Entwicklungskonzept des ÖRK als Autor dieser Zusammenfassung Philip Land an; vgl. Rudersdorf, Entwicklungskonzept, 263.

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das mit dieser Kritik angesprochen wurde, lag tiefer: Es handelte sich um die Frage nach der Repräsentation der Dritten Welt im internationalen Kontext. ISAL vertrat radikale, auf der marxistischen Analyse aufbauende revolutionäre Positionen, mit denen die Bewegung – wie bereits auf der Weltkonferenz in Genf – auf die globale ökumenische Diskussion einwirken wollte. Weniger radikale lateinamerikanische Positionen, wie sie in Beirut etwa von Horacio Godoy oder Paulo de Tarso Santos artikuliert wurden, schienen daher aus der Perspektive von ISAL das Anliegen der Dritten Welt bzw. Lateinamerikas nicht genügend vertreten zu haben.225 Durch die Kritik von ISAL wurde deutlich, dass die Beiruter Konferenz nicht daran interessiert war, den auf der Genfer Weltkonferenz 1966 aufgebrochenen Konflikt zwischen Vertretern der Industrienationen und der Entwicklungsländer unnötig zu schüren. Stattdessen legte sie den Schwerpunkt darauf, nach Wegen und Möglichkeiten der internationalen und ökumenischen Zusammenarbeit in Entwicklungsfragen zu suchen und danach zu fragen, welche Herausforderungen sich diesbezüglich für die Kirchen ergeben würden. Unklar war jedoch nach welchen Regeln diese internationale Zusammenarbeit stattfinden sollte. Die lateinamerikanische Kritik wies darauf hin, dass SODEPAX hier offenbar den zweiten vor dem ersten Schritt machte: Denn wenn die internationale Zusammenarbeit in Entwicklungsfragen gestärkt werden sollte, mussten aus der Perspektive von ISAL zuerst gemeinsame Richtlinien der entwickelten Länder und der Entwicklungsländer aufgestellt werden, wie die Kirchen dem Entwicklungsproblem begegnen könnten. Da die erste SODEPAX-Konferenz mehrheitlich aus Vertretern der nördlichen Hemisphäre bestand, gab es für ISAL keinen Zweifel, dass sich in Beirut ein westliches, paternalistisches Entwicklungsverständnis durchgesetzt hatte. Somit wurde die Beiruter Entwicklungskonferenz zur Zielscheibe der hauptsächlich von ISAL geprägten lateinamerikanischen Entwicklungs- und Imperialismuskritik, die jedoch für die Kirchen nur bedingt zutraf, und in die sich eine Reihe anderer Enttäuschungen über die internationale Entwicklungspolitik mischte.226 225 Träfe diese Interpretation zu, würde ISAL zumindest einer Person wie Paulo de Tarso Santos, der sich für einen Bildungsbegriff im Sinne der Freire’schen Methode der conscientizażo einsetzte, nicht gerecht. Interessant ist auch die überzeugend dargelegte These von Wolfram Stierle, dass sich die Position des indischen Ökonomen Samuel Parmar in Beirut wirtschaftspolitisch kaum von der Perspektive des niederländischen Ökonomen Jan Tinbergen unterschied. Vgl. Stierle, Chancen, 302. Die Kritik von ISAL, die Dritte Welt sei nicht angemessen vertreten gewesen, erscheint daher unbegründet. Die weiterführende Frage ist, ob der Kritik von ISAL hier nicht eine Verengung des Verständnisses von Dritter Welt und ihren Repräsentanten zugrunde lag, indem sie die Position der Dritten Welt vornehmlich daran messen wollte, inwiefern sie sich die marxistische Imperialismuskritik zu eigen macht. 226 Dies ist besonders gut aus dem Artikel von Julio de Santa Ana zu entnehmen, der die Konferenz in Beirut zum Anlass nahm, um die verfehlte Politik der UN-Entwicklungsdekade, der Allianz für den Fortschritt, der II. UNCTAD Konferenz in Neu-Delhi sowie der römisch-katholischen

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Die Vision einer verantwortlichen Gesellschaft befreiter Menschen (Montreal 1969) Die Folge der Kritik an Beirut war, dass SODEPAX ein Jahr später eine Studientagung einberief, mit dem Ziel „das vorausgegangene SODEPAX-Dokument über Entwicklungsfragen zu prüfen“227. Diese Tagung fand vom 9. bis 12. Mai 1969 im kanadischen Montreal statt und sollte die in und nach Beirut aufgeworfenen Fragen vertiefen. Der Generalsekretär von SODEPAX, George Dunne, erklärte im Vorwort des Tagungsberichts, dass der Bericht eine „andere Perspektive“ auf die bereits in Beirut artikulierten Probleme werfe: „Er ist also eine Ergänzung zum Beirut Bericht und tut ihm keinen Abbruch. Er ist eine neue Phase des fortlaufenden SODEPAX-Prozesses. Die Suche geht weiter. Das Experiment wird fortgesetzt.“228 Anders als es die Interpretation der Theologin Margot Käßmann glauben machen will, kam es in Montreal nicht zu einem „Bruch“ mit den Ergebnissen von Beirut, sondern zu einem differenzierteren Verständnis von Entwicklung, das die Kritik an Beirut konstruktiv aufnahm.229 Der Jesuit Philip Land, Wirtschaftsprofessor an der Gregoriana in Rom, leitete aus den kritischen Rückmeldungen auf den Beirut-Bericht zwei Fragen ab, denen sich die Teilnehmenden in Montreal stellen müssten: „1. Did we miss anything essential at Beirut? 2. Are there any fundamental challenges that we must meet?“230 Eine der größten Herausforderungen lag für Land in der Bestimmung dessen, was Entwicklung sei. Davon ausgehend eröffneten sich drei

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Kirche zu kritisieren. Die Weltkonferenz für Entwicklungsfragen in Beirut passte genau in das Schema des Erhalts ungerechter Strukturen. Vgl. Santa Ana, Christians. Montreal-Bericht, 9. Ebd. Vgl. K ssmann, Vision, 116. Die Kontinuität zwischen den Konferenzen in Beirut und Montreal ist erstmals durch Wolfram Stierle herausgearbeitet worden, der sich mit dieser Position insbesondere von der Arbeit von Margot Käßmann absetzte. Diese sah, unter Berufung auf die Vorarbeiten von Karl Heinrich Rudersdorf und Karl-Heinz Dejung, zwischen Beirut und Montreal einen „Bruch“, der eine neue Phase im ökumenischen Entwicklungsverständnis einleitete: einen „Perspektivenwechsel“ von einem Entwicklungsverständnis, das auf Fortschritt und Wachstum aufbaue, hin zu einem Entwicklungsverständnis, das Befreiung in den Mittelpunkt stellt. In Beirut, so Käßmann, konnte sich das „Entwicklungsverständnis der Industrienationen bzw. die ,alte Perspektive‘ […] fast ungestört artikulieren […]. In Montreal kam es […] zu einer Konfrontation zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern. Letztere führten den Begriff der ,Befreiung‘ ein, und forderten radikalen strukturellen Wandel [sic!], bei dem auch Gewalt nicht auszuschließen sei. Die Kritik am Beiruter Entwicklungsmodell war unüberhörbar. Dennoch blieb es letzten Endes auch in Montreal bei dem Versuch, diese Kritik in die eigenen Konzeptionen einzubauen, ohne diese selbst völlig in Frage zu stellen.“ (K ssmann, Vision, 114 und 115 f.) Stierle legt überzeugend dar, dass aus wirtschaftstheoretischer Sicht Montreal direkt an die Ergebnisse von Beirut anknüpfte. Vgl. Stierle, Chancen, 312–321, bes. 320. Diese Ansicht teilt auch die vorliegende Arbeit. Philip Land, Issues to be raised in Montreal in response to reactions to Beirut, AÖRK 4202.048.

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Problemfelder: erstens, die Hinderungsgründe für Entwicklung und die damit im Zusammenhang stehenden Fragen von Macht und dem Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, zweitens, die Frage danach, was überhaupt „entwickelt“ werden müsse, und drittens eine Auseinandersetzung mit der insbesondere aus Lateinamerika kommenden Überzeugung, dass Entwicklung nur durch radikale – auch gewaltsame – Veränderungen herbeizuführen sei.231 Der Blick auf die Ergebnisse der Montrealer Konferenz zeigt, dass sie genau um diese Themen kreiste. Eingeladen waren 40 Entwicklungsexperten und Vertreter internationaler, staatlicher sowie kirchlicher Organisationen, wobei auch hier die Dritte Welt mit neun Vertretern deutlich unterrepräsentiert war. Aus Lateinamerika nahmen drei Personen an der Tagung teil: zwei Vertreter von ISAL, der Hauptkritiker der Beiruter Konferenz Julio de Santa Ana und der bereits durch die Genfer Weltkonferenz bekannte Gonzalo Castillo C rdenas, sowie der argentinische Ökonom Cecilio Morales als Vertreter der interamerikanischen Entwicklungsbank. Somit gab es keine Kontinuität zwischen den lateinamerikanischen Teilnehmern in Beirut und Montreal. Den Auftakt der Studientagung bildete eine Diskussion über die Reaktionen auf den Bericht aus Beirut. Neben Philip Land war Julio de Santa Ana gebeten worden, seine Kritik nochmals vorzutragen, da sie als eine der profiliertesten und wegen ihrer marxistischen Haltung zugleich als eine der umstrittensten Positionen galt. Santa Ana entfaltete seine Position vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Situation in Lateinamerika (u. a. Allianz für den Fortschritt, CEPAL) und den damit im Zusammenhang stehenden politischen Folgen. Seine Kritik setzte genau hier ein: Der Bericht aus Beirut lasse diese politischen Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung außer Acht. Anstelle des Begriffs „Entwicklung“ verwies Santa Ana unter Berufung auf die Bischofskonferenz in Medell n 1968 auf „liberation“. Darunter verstand Santa Ana: „[I]t is not with development plans that we are going to solve our problems, but with a real radical change of our situation.“232 Ein radikaler Wandel in den unterentwickelten Ländern könnte nur durch politische Aktionen und strukturelle Veränderungen erreicht werden, durch Revolution. Santa Ana stimmte dem Bericht aus Beirut zu, dass Erziehung und Bildung wichtig für die Entwicklungsprozess seien, doch nur, wenn sie als „liberating education“233 verstanden werde. Castillo C rdenas ging in der sich anschließenden Diskussion auf Santa Anas Ausführungen ein und unterstützte dessen Forderung nach einer befreienden Entwicklungshilfe mit der Frage: „[H]ow can we find ways to give aid that does not perpetrate dependency?“234 Das

231 Vgl. ebd. 232 Transkript der Diskussion in Montreal 1969, Tape #2, Friday, 5/9, Montreal 1969, 2–56, AÖRK 4202.069. 233 Ebd., 2–58. 234 Ebd., 2–63.

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Grundproblem des Entwicklungskonflikts bestand für Castillo C rdenas in dem Dualismus von Abhängigkeit und Herrschaft.235 Philip Land, der in seinem einführenden Beitrag die Reaktionen auf die Beirut-Konferenz zusammenfasste, räumte ein, dass es sich bei dem Bericht um einen Kompromiss gehandelt habe: „I don’t believe, there was anybody there who was satisfied with what we had done. The compromises were obviously there […].“236 Die Differenzen zwischen den einzelnen Teilnehmern seien sehr groß gewesen und spiegelten sich dann auch in der umfassenden Kritik wider. Damit stand für die Studientagung in Montreal die Aufgabe fest, den Beirut-Bericht zu prüfen und „Richtlinien für die Behandlung der immer in neuer Form aufbrechenden Entwicklungsprobleme vorzuschlagen“237. Am deutlichsten zeigte sich die Suche nach einem Konsens in dem Bemühen, den Begriff Entwicklung neu zu definieren.238 Der Bericht der Studientagung in Montreal überschrieb dann auch das Ziel der Entwicklungshilfe mit „Solidarität und Gegenseitigkeit“ und begründete diese Formulierung mit dem Verzicht auf Vokabular, das „paternalistische Herrschaftsstrukturen“239 perpetuiere. Im Vordergrund der Entwicklungskritik sah die Konferenz das Mächteverhältnis zwischen arm und reich, das nur durch gegenseitige Kooperation und Zusammenarbeit ausgeräumt werden könne. In Anknüpfung an die Kritik an der Beirut-Konferenz von Santa Ana kamen die Teilnehmenden der Studientagung in Montreal überein, dass es politische Situationen geben könne, in denen Reformen nichts nützten und radikale Umbrüche notwendig seien, wie in Südafrika oder Lateinamerika. Als Aufgabe der christlichen Gemeinschaft benannte der Bericht: erstens, die Beziehungen zu den Mächtigen zu prüfen, zweitens, den gesellschaftlichen Wandel zu analysieren und drittens, den „Opfern der Unterdrückung […] mit Sympathie, Unterstützung und Ermutigung [zu] begegnen“240. Dieser Kodex entsprach implizit dem bereits auf der Bischofskonferenz in Medell n artikulierten methodischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln.241 Entwicklung wurde in Montreal nun nicht mehr ausschließlich als Prozess des Wachstums und der Modernisierung verstanden, sondern mit Humanisierung gleichgesetzt, die zugleich eine Demokratisierung, d. h. die Partizipation und Beteiligung verschiedener Gruppen und Ebenen an dem Entwicklungsprozess, beinhaltete.

235 236 237 238

Vgl., ebd., 2–64 f. Ebd., 2–38. Montreal-Bericht, 14. Vgl. Abschnitt II. Neudefinition des Begriffs „Entwicklung“ und einiger verwandter Probleme. In: Montreal-Bericht, 17–19. 239 Ebd., 17. 240 Ebd., 18. 241 Vgl. Goldstein, Armen, 70 f.

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Als Desiderat hielten die Teilnehmenden die theologische Klärung des Entwicklungsbegriffs fest.242 Ein weiterer Abschnitt ging auf die Probleme der Entwicklungs-„Hilfe“ ein.243 Die Kontinuität zu dem Beirut-Bericht war evident, denn der dort gemachte Vorschlag, 1 % des Bruttoinlandsprodukts der entwickelten Länder als Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen, wurde bekräftigt. Auch die Frage nach dem Verhältnis von Entwicklungs- und Rüstungsausgaben stand weiterhin auf der Agenda. Neu war in Montreal die Forderung, die Hilfsprogramme bi- und multilateral aufzustellen. Dies galt insbesondere auch für die kirchliche Hilfe, die verstärkt überkonfessionell organisiert sein sollte.244 An die Adresse von SODEPAX waren daher zwei konkrete Vorschläge gerichtet: zum ersten die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur „Entnationalisierung und Multilateralisierung“ der Entwicklungsprogramme der Kirchen und zum zweiten „die Schaffung eines ökumenischen Weltfonds für Entwicklungshilfe“245. Mit diesen Mitteln versuchte SODEPAX eine Balance zwischen den Ergebnissen des Beirut-Berichts und den Forderungen seiner Kritiker herzustellen. In Bezug auf die unterschiedlichen Entwicklungsbereiche erweiterte der Montreal-Bericht die in Beirut genannten Teilbereiche und stellte dazu differenzierte Überlegungen auf. Neue Themen waren u. a. die Verschmutzung des Lebensraums als Gegenstand der Entwicklungshilfe anzuerkennen, die Verstädterung und ihre Implikationen für die Arbeitswelt, die Verantwortung der Familie in Bezug auf das Bevölkerungswachstums sowie Möglichkeiten zum Ausgleich von Schulden und Zinsen.246 Der Montreal-Bericht postulierte in seiner Schlussbemerkung, „dass die gegenwärtige Sozial- und Wirtschaftsordnung nicht geeignet ist, den immer stärker werdenden drängenden Problemen gerecht zu werden“247. Von den zwei Alternativen, dem Erhalt des Status quo in Form oppressiven Machterhalts einerseits und dem Einsatz für eine gerechte und menschlichere Gesellschaft andererseits, könnten Christen nur für die zweite Option eintreten. Als Zielvorgabe setzte der Montreal-Bericht die „Vision einer verantwortlichen Weltgemeinschaft befreiter Menschen“248 – eine Vision in Gestalt einer Kompromissformel, die versuchte, allen Seiten gerecht zu werden: denen, die wie Santa Ana die radikale Neugestaltung und Veränderung politischer und wirtschaftlicher 242 Diese erfolgte ein halbes Jahr später auf der theologischen Konferenz von SODEPAX in Cartigny 1969. Vgl. unten S. 178–187. 243 Vgl. Abschnitt III. Kritik der Strukturen, Formen und Ziele der „Hilfe“. In: Montreal-Bericht, 20–24. 244 Vgl. ebd., 22. 245 Ebd., 23. 246 Vgl. ebd., 25–29. Vgl. zu den Kontinuitäten und Diskontinuitäten mit dem Beirut-Bericht: Stierle, Chancen, 319 (Fußnote 896). 247 Montreal-Bericht, 30. 248 Ebd.

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Strukturen forderten und Befreiung zum Maßstab von Entwicklung erhoben, sowie denen, die der Idee einer „verantwortlichen Gesellschaft“ im Weltmaßstab anhingen, wie sie Visser ’t Hooft in Genf 1966 und Uppsala 1968 formuliert hatte. Die „Vision einer verantwortlichen Weltgemeinschaft befreiter Menschen“ zeigte sowohl das Bestreben, an bereits vorhandene Leitgedanken anzuknüpfen und als auch den Willen, neue Impulse aufzunehmen. Ob in Montreal damit jedoch ein wirklicher Konsens zwischen den unterschiedlichen Positionen erreicht werden konnte, muss bezweifelt werden, denn die Radikalität der Forderungen der lateinamerikanischen Teilnehmenden fand in dieser Weise keinen Eingang in das Dokument. Die Theologie der Revolution, die sich in dem Beitrag von Julio de Santa Ana noch ein letztes Mal zu Wort zu melden schien, galt auf internationaler Ebene bereits als überholt, so dass weder die marxistische Analyse noch der revolutionäre Duktus in den Montreal-Bericht übernommen wurden. Dennoch blieb die lateinamerikanische Kritik nicht folgenlos: Sie nahm eine „KatalysatorFunktion“249 hinsichtlich der Ausdifferenzierung des Entwicklungsverständnisses ein. Damit ermöglichte sie zum einen die Revision der Ergebnisse von Beirut und forderte zum anderen zur theologischen Durchdringung des Entwicklungsverständnisses auf. 7.3.3 Von der Theologie der Entwicklung zur ökumenischen Artikulation der Theologie der Befreiung (Cartigny 1969) In Anlehnung an die Ergebnisse der Studientagung in Montreal legte das SODEPAX-Komitee auf einer Arbeitssitzung Anfang Juni 1969 Prioritäten für die Weiterarbeit von SODEPAX fest. Die SODEPAX-Regionalgruppe für Lateinamerika und die Karibik schlug drei Themen vor: a) Erziehung für Entwicklung, b) die Auseinandersetzung über Strukturen und c) Theologie, „insbesondere die Suche nach einer ,Theologie der Befreiung‘ und nicht nach einer Theologie der Revolution, die auf dem Kontinent ein überholtes Konzept darstellt“250. Die Notwendigkeit, sich verstärkt mit theologischen Fragen zu beschäftigen, war in Montreal offensichtlich geworden und wurde auch von der theologischen Arbeitsgruppe von SODEPAX, die seit September 1968 bestand251, unmissverständlich artikuliert: Theologische Anliegen dürften nicht als „top dressing“ verstanden werden, „which may or may not be added to the ongoing work of SODEPAX which can thus be theoretically conceived without them. They have to be woven into the whole“252. 249 Stierle, Chancen, 316. 250 R union du Comit , Bossey, juillet 1969, groupe regional. Rapport du groupe regional pour l’Amerique Latine et le Caraibes [sic!] (5. 7. 1969), AÖRK 4202.049 (Übersetzung – AS). 251 Ronald Preston, The Theological Working Group (5. 6. 1969), AÖRK 4202.049. 252 Ebd., 3.

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Für das Jahr 1969 plante SODEPAX eine eigenständige internationale Konsultation, die sich mit dem Verhältnis von Theologie und Entwicklung befassen sollte. Das Anliegen dieser Konsultation sollte es sein, Richtlinien für eine zukünftige theologische Reflexion über die Entwicklungsthematik zu erstellen sowie für SODEPAX eine theologische Grundlage zur Begründung christlichen Handelns zu erarbeiten.253 Sie fand schließlich vom 17. bis 22. November 1969 in Cartigny in der Nähe von Genf statt.254 28 römischkatholische, orthodoxe, anglikanische und protestantische Theologen nahmen daran teil, von denen etwa die Hälfte aus Europa stammte. Asien war mit vier, Afrika mit einem und Lateinamerika mit zwei Vertretern anwesend. Insofern blieb die Konsultation im Hinblick auf die Teilnehmenden weit hinter dem von der Vorbereitungsgruppe gefassten Anspruch zurück, „to pay particular attention to non-European membership“255. Das Ziel der theologischen Konsultation bestand hauptsächlich darin, in ökumenischer Zusammensetzung über die Methoden und die theologischen Fragen zu reflektieren, die durch das Entwicklungsproblem entstanden waren.256 Die folgende Analyse der Konsultation von Cartigny nimmt zum einen die Frage nach angemessenen Methoden einer Theologie der Entwicklung in den Blick und konzentriert sich zum anderen auf den Beitrag der beiden lateinamerikanischen Vertreter Gustavo Guti rrez und Rubem Alves, die auf der Suche nach der Theologie der Entwicklung die Theologie der Befreiung entdeckten. Das Ringen um angemessene Methoden Das Ziel der Konsultation war es nicht, eine Theologie der Entwicklung an sich zu erarbeiten, sondern Raum für kritische Reflexion zu schaffen.257 Der Titel 253 Vgl. Minutes of the Theological Working Group of the Joint Committee on SODEPAX (25. 2. 1969), AÖRK 4202.045. 254 Die Vorbereitungsgruppe, zu der u. a. der aus der Karibik stammende Philip Potter gehörte, hatte ursprünglich die karibische Insel Trinidad als Tagungsort vorgeschlagen, um die Präsenz von SODEPAX in Lateinamerika / Karibik zu erhöhen und die Entwicklungsbemühungen in der Region zu unterstützen. Aufgrund finanzieller Engpässe sowie Bedenken der römischkatholischen Kirche, dass Trinidad ein zu ausgefallener Ort sei und daher das öffentliche Interesse zu hoch sein könnte, konnte diese Idee nicht umgesetzt werden. Vgl. Preston, The Theological Working Group (5. 6. 1969), 2, AÖRK 4202.049. 255 Minutes of the Theological Working Group of the Joint Committee on SODEPAX (29. 1. 1969), 2, AÖRK 4202.045. Unter den Teilnehmern befand sich keine einzige Frau. 256 George H. Dunne, Forword. In: Cartigny Report, i. Im Unterschied zu den vorangegangenen SODEPAX Konferenzen und Tagungen verabschiedete die Konsultation jedoch keine Botschaft oder Konsenstext. Der Cartigny Report umfasst lediglich eine Sammlung der verschiedenen Vorbereitungspapiere, denen persönliche Zusammenfassungen und Stellungnahmen einzelner Teilnehmer voran gestellt sind. 257 Als Vorbereitungsmaterial hatte SODEPAX eine umfangreiche Bibliographie zusammengestellt, mit Hilfe derer sich die Teilnehmenden – sofern sie Zugang zu den Dokumenten hatten (auch dies wieder ein Problem für nicht-westliche Teilnehmende) – inhaltlich vorbereiten konnten. Vgl. Committee on Society, Development and Peace, Theology.

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der Veröffentlichung lautete daher auch recht unbestimmt: „In Search of a Theology of Development. A SODEPAX Report“, denn in der Tat legte die Konsultation kein in sich geschlossenes Konzept einer Theologie der Entwicklung vor. Der kanadische Priester und Theologieprofessor Bernard Lambert hielt diesbezüglich in seiner persönlichen Zusammenfassung der Konsultation fest: „The theology of development can only be regarded as a theology in the making, a theology ,in process‘. […] In this ,theology in the making‘ there will be more than one view and in these views the emphasis will vary according to whether they come from developed countries or from developing countries.“258

Damit unterstrich Lambert nicht nur den Prozesscharakter der theologischen Debatte um Entwicklung, sondern auch die Vielfältigkeit der Ansätze und Methoden der Konsultation. Für ihn kristallisierten sich aus den Vorbereitungspapieren und Beiträgen in Cartigny sechs Zugänge heraus, die für eine Theologie der Entwickung konstitutiv sein könnten: a) die Ethik bzw. Moraltheologie, b) die Spiritualität bzw. die asketische oder mystische Lebensweise, c) die Pastoraltheologie, die an die theologische Tradition anknüpft und die Verkündigung ins Zentrum stellt, d) die prophetische Theologie, die das Reich Gottes verkündigt und zur Befreiung aus ungerechten Strukturen aufruft, e) die Systematische Theologie, die durch Vermutungen, Rückschlüsse und dialektisches Denken versucht, ein klares, wissenschaftliches Verständnis von Entwicklung aufzustellen, und f) die Ökumenische Theologie, die sich offen für Christen anderer Konfessionen und Nicht-Christen zeigt.259 Die Diskussion in Cartigny lief Lambert zufolge auf die Frage hinaus, wie eine Theologie der Entwicklung – von der irrtümlicherweise angenommen worden war, dass es sie bereits gäbe260 – in bestehende theologische Konzepte eingeordnet werden könnte. Hier standen sich seiner Ansicht nach zwei Positionen gegenüber: Die eine Seite versuchte die Theologie der Entwicklung in das traditionelle theologische Gefüge als eine weitere ,Genitivtheologie‘ einzuordnen, während die andere Seite die Theologie der Entwicklung als Bedeutungshorizont der Theologie im Allgemeinen verstand.261 258 Lambert, Report, 46. 259 Ebd., 39 f. Der deutsche Theologe Paul Löffler, der zu der Zeit als Professor für Ökumene an der Near East School of Theology in Beirut, Libanon, tätig war, übernahm in seinen Überlegungen die von Lambert vorgeschlagene Klassifikation weitestgehend, erkannte aber die spirituelle und ökumenische Dimension als keine eigenständigen Zugänge an, da sie in den anderen Dimensionen implizit enthalten seien. Löffler unterschied insgesamt nur vier theologische Zugänge zur Theologie der Entwicklung: die Ethik, die Seelsorge, die Prophetie und die Systematik; vgl. Löffler, Eine kritische Beurteilung der bei der Tagung in Cartigny zur Anwendung gekommenen Methoden, 8, AÖRK 4202.047. Es handelt sich hierbei um das deutsche Original der im Cartigny Report abgedruckten Übersetzung; Löffler, A Critical Evalution of the Methods used by the Cartigny Consultation. In: Cartigny Report, 26–35. 260 Vgl. Lambert, Report, 37. 261 Vgl. ebd., 40 f. Lambert ordnete den beiden Perspektiven namentlich keine Vertreter zu.

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Doch anders als bei den vorangegangenen Konferenzen und Tagungen von SODEPAX ging es der Konsultation in Cartigny nicht darum, einen Konsens zwischen den unterschiedlichen Positionen zu erzielen, sondern verschiedene Zugänge und Methoden gleichermaßen zur Sprache zu bringen und als „Versuchsstation“262 die Zukunft ökumenischer Debatten zu antizipieren. Für den deutschen, zur Zeit der Konferenz jedoch in Beirut dozierenden Theologen Paul Löffler bestand die Vorreiterrolle der Konsultation in Cartigny darin, die Vielfalt von Methoden als wünschenswertes Ziel ökumenischer Konferenzen zu etablieren, dabei aber immer auch ihre Möglichkeiten und Grenzen zu überprüfen. So warnte Löffler davor, die Pluralität der Zugänge einfach nur „als eine wirre und unlogische Verwendung der Methoden“263 zu missverstehen, und empfahl, dass jeder Ansatz Auskunft über klar erkennbare Kriterien geben müsse: über die methodologischen Voraussetzungen, über die Rolle der Theologie im Entwicklungsdiskurs und über die Definition von Entwicklung an sich. Doch so vielversprechend die methodische Offenheit zu sein schien, gelang es der Konsultation in Cartigny nicht, sich auf eine Arbeitsdefinition von „Entwicklung“ zu einigen. Somit blieb der Entwicklungsbegriff ein „blanket-term used to cover a whole series of interdependet concepts: liberation, humanization, growth, unfolding renewal, transfiguration, etc.“264. Dies bedeutete aber auch, dass die Konsultation allein über die Methodenfrage der inhaltlichen Bestimmung einer Theologie der Entwicklung nicht näher kam. Die ökumenische Artikulation der Theologie der Befreiung Ein Vorschlag zur Klärung, wie die Theologie der Entwicklung inhaltlich zu bestimmen sei, ging aus den beiden lateinamerikanischen Beiträgen zur Konsultation hervor. Der römisch-katholische Priester und Theologe Gustavo Guti rrez und der reformierte Theologe Rubem Alves stellten in Cartigny zwei Ansätze einer Theologie der Befreiung vor, die sich für sie aus dem Ringen um die Suche nach einer Theologie der Entwicklung ergeben hatten und die die ökumenische Theologie in den nachfolgenden Jahren entscheidend beeinflussten. Bedeutend an der Konstellation Guti rrez – Alves war nicht nur, dass zwei lateinamerikanische Theologen unabhängig voneinander statt von „Entwicklung“ von „Befreiung“ sprachen, sondern auch, dass sie dies konfessionsübergreifend taten. Gustavo Guti rrez legte mit seinem Vorbereitungspapier „The Meaning of Development (Notes on a theology of liberation)“265 eine Kurzfassung seiner

262 263 264 265

Löffler, Kritische Beurteilung, 9, AÖRK 4202.047. Ebd., 10. Lambert, Report, 37. Guti rrez, Development.

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1971 als „Theologie der Befreiung“266 erschienenen theologischen Befreiungskonzeption vor. Für den peruanischen Theologen war der Begriff „Entwicklung“ unzureichend, um die Hoffnungen und Sehnsüchte zum Aufbau einer gerechten und brüderlichen Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. In ökonomischer Perspektive bedeutete Entwicklung für Guti rrez in erster Linie wirtschaftliches Wachstum, d. h. die Anhäufung von Reichtum.267 Diesem kapitalistischen Verständnis setzte er ein humanistisches Verständnis von Entwicklung entgegen: Entwicklung als umfassender sozialer Prozess, der ökonomische, soziale, politische und kulturelle Aspekte gleichermaßen einbezog, und sich – anstelle auf wirtschaftliches Wachstum – auf den Menschen beziehe: „This humanist approach places the concept of development in a broader, historical context, in which mankind is seen as shouldering responsibility for its own destiny. This involves a change in perspective which we should prefer to designate by the term liberation.“268

Diesen „Perspektivenwechsel“, der die Befreiung des Menschen zum Ziel hatte, führte Guti rrez mithilfe einer dependenztheoretischen Kritik am Developmentalismus (desarollismo) aus.269 Dieses in den 1950er Jahren entstandene Konzept verstand Entwicklung als kontinuierlichen Modernisierungsprozess, der die Interessen großer internationaler Akteure und ihrer nationalen Verbündeten unterstützte. Die Folge für die lateinamerikanischen Länder bestand nicht nur in einer wachsenden wirtschaftlichen Dependenz von anderen Ländern, sondern auch in einer sozialen, politischen und kulturellen Abhängigkeit.270 Guti rrez zufolge hatte der Begriff „Entwicklung“ eine negative Konnotation erhalten, die eine Rede von der „Befreiung“ überwinden könnte: „[L]iberation expresses more clearly both the aspirations of oppressed peoples and the completeness of a perspective in which man is seen not as a passive factor but as agent of history.“271 Theologisch ergab sich für Guti rrez daraus die Frage, in welchem Verhältnis die eschatologische Dimension der Erlösung zum historischen Prozess menschlicher Emanzipation steht. In Anlehnung an die These der „nouvelle chr tient “272 des französischen Philosophen Jacques Maritain, nach der Christen Verantwortung für die Gestalt(ung) der Welt übernehmen sollten, sah Guti rrez insbesondere die

266 Guti rrez, Theologie; als span. Original erschienen unter dem Titel: Teolog a de la liberaci n (1971). 267 Vgl. Guti rrez, Development, 122. 268 Ebd., 122 f. 269 Vgl. ebd., 123. 270 Die lateinamerikanische Wirtschaftskommission CEPAL befürwortete diese Entwicklungsstrategie. Vgl. Nuscheler, Desarrollismo, 175. 271 Ebd., 125. 272 Maritain, Humanisme.

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Aufgabe von Laien darin, sowohl für den Aufbau der Kirche als auch der Welt zu sorgen. „In building the world the layman will endeavour, together with other people (Christians and non-Christians) to construct a society that is more just and more human, in the knowledge that by helping to construct it he is creating a society in which man is able to respond freely to the call of God.“273

Dieser Ruf überwinde nicht nur die alte theologische Unterscheidung von Kirche und Welt, sondern führe den Menschen auch einer neuen Bestimmung in der Geschichte zu; denn – so das geschichtstheologische Verständnis von Guti rrez – die Aufrichtung einer gerechten Gesellschaft entspreche der Aufrichtung des Reiches Gottes: „Or, to use more familiar terms: participation in the task of liberating man is already, in a way, a work of salvation.“274 Diese Haltung erforderte aber auch eine neue Präsenz der Kirche in Lateinamerika und die Erneuerung kirchlicher Strukturen. Für Guti rrez war es die Aufgabe der Kirche, in prophetischer Weise die Ungerechtigkeiten der lateinamerikanischen Gesellschaft anzuklagen und eine Kirche der Armen zu werden, d. h. in Solidarität mit den Unterdrückten zu stehen.275 Nur indem die Kirche in Lateinamerika einen wirklich eigenen Standpunkt entwickle, könne sie sich von kolonialem Denken befreien.276 Darin lag für Guti rrez dann auch die Authentizität der Mission der Kirche, die für ihn davon abhing, ob es der Kirche gelinge, die Funktion sozialer Kritik, die politischer Theologie inne wohne, zu übernehmen. Mit diesem Konzept einer den Menschen, die Gesellschaft und die Kirche befreienden Theologie stand Guti rrez nicht allein. Auch für den reformierten Theologen Rubem Alves aus Brasilien, der engagiertes Mitglied der ISALBewegung war, stand das Thema der Befreiung im Mittelpunkt seines Nachdenkens über eine Theologie der Entwicklung.277 Alves ging davon aus, dass angesichts der Krise der traditionellen theologischen Sprache eine neue Sprache gefunden werden müsse, die angemessener auf das Entwicklungsproblem antworten könne. Das Problem bestand nach Alves in der Vorstel273 Guti rrez, Development, 129. 274 Ebd., 133. 275 Vgl. ebd., 141 f. Guti rrez bezog sich hier auf die Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“ (8.) des Zweiten Vatikanischen Konzils sowie auf die Ergebnisse der Bischofskonferenz in Medell n, insbes. die Ausführungen unter der Überschrift „Armut der Kirche“. Zum Wortlaut der Schriften vgl. Denzinger, Enchiridion, 1100–1102 sowie 1272 f. 276 Vgl. ebd., 142. 277 Vgl. Alves, Theology (Cartigny 1969). Der Beitrag von Rubem Alves auf der Konsultation in Cartigny entsprach einer Kurzfassung seiner in einer Monographie ausgearbeiteten und 1969 veröffentlichten Theologie der Befreiung. Sie erschien auf Anraten des Verlegers unter dem Titel „A Theology of Human Hope“ (Corpus: Washington D.C., 1969); vgl. Robra, Tradition, 27; Dussel, Church; Smith, Emergence, 254 (Anm. 44). Die folgenden Ausführungen zu Alves’ befreiungstheologischer Perspektive sind aufgenommen und weitergeführt in: Schilling, Existenz, bes. 326–329.

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lung, dass Unterentwicklung als Vorstufe von Entwicklung angesehen werde, die durch Industrialisierung und Modernisierung überwunden werden könne. Wie Guti rrez argumentierte Alves dependenztheoretisch gegen diese Auffassung und sah Entwicklung und Unterentwicklung als miteinander verwobene Prozesse an: „[D]evelopment and underdevelopment, far from being successive phases of the same developmental process, are rather interdependent poles of a same structure, in which underdevelopment is both caused by and cause of development, and development is the cause of and depends on underdevelopment.“278

Alves bezeichnete die Perspektive, die Unterentwicklung als rein ökonomisches Problem betrachtete, als Sprache des „utopischen Technologismus“279. Diesem Verständnis zufolge würden ökonomische Analysen auf höchstem technischen Niveau durchgeführt; die Partizipation von Menschen sei dabei ausgeschlossen, da der Mensch in diesem Denksystem als passives, konsumierendes Wesen betrachtet werde.280 Die andere Sprache, die dieses Denken aufbrach, nannte Alves „radikaler Utopismus“281. Sie baute auf der anthropologischen Voraussetzung auf, dass der Mensch die Welt gestalte und humane Lebensbedingungen schaffen wolle. Den Prozess der Humanisierung stellte Alves zugleich als politischen und kreativen Prozess dar: „as conscious and free activity for the creation of a new tomorrow“282. Dieser Prozess kam Alves zufolge nie an sein Ende – im Gegenteil: die permanent offene Zukunft war das Kennzeichen einer Gesellschaft mit radikaler Utopie. Die Aufgabe der Christen bestand für Alves in der „Unterscheidung der Geister“– d. h. die Unterscheidung zwischen dem Geist des radikalen Utopismus als Geist der Freiheit und des Glaubens, und dem Geist der Unfreiheit und des Besitzes (Mt 4,8 f.).283 Die biblische Sprache war für den reformierten Theologen der Referenzpunkt dafür, die wahre Sprache des Glaubens zu finden: „Our outline of the ‘spirit’ of biblical language serves as the critical element for us to ‘discern the Spirit’. Our task is to discover where and how the Spirit is groaning today and to help human communities to transform the wordless groaning into articulate and conscious speech. This is the new language we are looking for.“284

278 279 280 281 282 283 284

Alves, Theology (Cartigny 1969), 88. Ebd., 88. Vgl. ebd., 85 f. Ebd., 88. Ebd., 87. Vgl. ebd., 88. Ebd., 83.

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Indem sich der Mensch diese neue Sprache zu Eigen mache, beginne er, sich selbst zu befreien.285 Die ekklesiologischen Konsequenzen, die Alves aus dieser Analyse zog, waren radikal, denn er ging davon aus, dass die Sprache, die eine Gemeinschaft spricht, den Geist und das Gedächtnis dieser Gemeinschaft bestimmt. Dies bedeutete ekklesiologisch, dass nicht alles, was Kirche genannt werde, auch die Gemeinschaft der Glaubenden sei und dass im Umkehrschluss einiges von dem, was nicht Kirche sei, den Geist Gottes in sich trage. Alves sah darin nicht nur die Möglichkeit, einen neuen Zugang zum Verständnis von Kirche zu erlangen, sondern auch die Notwendigkeit, die Grundlage ökumenischer Einheit neu zu bedenken.286 Mit ihrer Prämisse der Befreiung und Freiheit des Menschen setzten Gustavo Guti rrez und Rubem Alves neue Maßstäbe für theologisches Denken, die durch die Suche nach einer Theologie der Entwicklung nicht in den Blick kommen konnten. Wichtigstes Kriterium der Theologie der Befreiung war die kritische Reflexion traditioneller theologischer Rede und die Etablierung einer neuen Sprache, die Sprache der Humanisierung und Befreiung. Damit vollzog sich auch innerhalb des ökumenischen Diskurses eine „anthropologische Wende“287, die den Menschen als Subjekt der Geschichte in das Zentrum theologischer Reflexion stellte. Technologische Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum wurden mithilfe der Dependenztheorie als Hindernisse für den Befreiungsprozess des Menschen und den Aufbau einer gerechten Gesellschaft interpretiert. Mit der Hinwendung zum Menschen änderte sich auch das ekklesiologische Verständnis von einer Kirche der Hierarchien und Eliten zu einer Kirche der Armen, in Solidarität mit den Marginalisierten und Unterdrückten. Die von Guti rrez und Alves mit unterschiedlichen Schwerpunkten entworfene Skizze einer Theologie der Befreiung blieb auf der Konsultation in Cartigny allerdings nicht unwidersprochen. Einer der schärfsten Kritiker am befreiungstheologischen Modell war der Jesuit und Ökonom Philip Land, der jedoch nicht in erster Linie die theologischen Voraussetzungen und Konsequenzen des befreiungstheologischen Entwurfs in Frage stellte. Denn die Kontextbezogenheit theologischer Reflexion über Entwicklungsfragen war für ihn unbestritten und auch die Suche nach einem „neuen Menschen“ erklärte Land als notwendig, auf der Suche der Welt nach ihrer Bestimmung.288 Seine Kritik betraf vielmehr die Wirtschaftstheorie des befreiungstheologischen Ansatzes. Dabei kritisierte er nicht – wie anzunehmen wäre – die Dependenztheorie als grundlegend falschen Zugang zum Entwicklungsproblem, sondern die den lateinamerikanischen Beiträgen zugrunde liegende Ideolo285 Die Befähigung zu einer eigenen Sprache und der Aufbruch aus der „Kultur des Schweigens“ ist auch bei Paulo Freire die maßgebliche Methode der Befreiung. Vgl. Freire, Pädagogik. 286 Vgl. ebd., 90. 287 Vgl. Eicher, Wende. 288 Vgl. Land, Observations, 54 und 56.

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gie.289 Indem die lateinamerikanischen Theologen den wirtschaftlichen Fragen den geringsten Stellenwert im Entwicklungsprozess zubilligten, würden sie ökonomische Grundwahrheiten verraten, denn die Verbesserung von Ernährung, Kleidung, Medizin und Bildung hinge, so Land, in großem Maße von der Produktivität des wirtschaftlichen Systems ab.290 Im mangelnden ökonomischen Realitätssinn lag daher für Land das Problem, die Theologie der Befreiung als alternatives Konzept zu einer Theologie der Entwicklung zu akzeptieren. Die theologische Konsultation von Cartigny ging als „Meilenstein“ in die ökumenische Geschichtsschreibung ein.291 Die herausragende Bedeutung der Konferenz lag darin, dass sich die Teilnehmer trotz der methodologischen Differenzen und unterschiedlichen Verständnisweisen des Entwicklungsbegriffes auf einige Grundsätze theologischer und ökumenischer Arbeit einigen konnten. Übereinstimmung bestand darin, Kontextabhängigkeit und Interdisziplinarität als Kriterien theologischer Reflexion anzuerkennen. Neu war außerdem, dass erstmals die Vielfalt verschiedener Methoden nicht kritisiert wurde, sondern ein besonderes Kennzeichen ökumenischer Arbeit darstellte. Durch die positive Bestimmung von Kontext, Interdisziplinarität und Pluralität der Methoden ebnete die Konsultation von Cartigny den Weg zu den ökumenischen Diskussionen der frühen 1970er Jahre, in denen diese Themen einen immer größeren Stellenwert einnahmen. Das noch ein halbes Jahr zuvor in Montreal aufgenommene Motiv „verantwortliche Gesellschaft“ spielte in Cartigny keine Rolle mehr – zu unterschiedlich schienen die Positionen zu sein, was unter „Verantwortung“ angesichts des Entwicklungsproblems verstanden werden könne. Nach Einschätzung des stellvertretenden SODEPAXSekretärs Charles Elliott stellte nun das Streben nach Humanisierung „the least unsatisfactory leit-motif“292 der Konsultation dar – auch dies ein zu 289 Vgl. ebd., 54 f. Land räumte sogar ein, dass er vermutlich eine ähnliche dependenztheoretische Grundannahme entwickelt hätte, wenn er aus Lateinamerika stammen würde. Vgl. ausführlich zur ökonomischen Kritik von Land an der Position der lateinamerikanischen Befreiungstheologie: Stierle, Chancen, 325–328. 290 Vgl. Land, Observations, 57. 291 Vgl. K ssmann, Vision, 125; Stierle, Chancen, 323. Nicht zutreffend ist die von Käßmann vorgebrachte Aussage, dass die Konsultation „erstmals die unterschiedlichen Entwürfe einander wirklich gegenüber gestellt“ (125) habe. Ihre Argumentation beruht auf der These, dass mit Cartigny der „Perspektivenwechsel“ zwischen einer „alten“ (westlichen) und einer „neuen“ (globalen, die Sicht der Dritten Welt einbeziehenden) Perspektive im ökumenischen Entwicklungsverständnis eingesetzt habe. Jedoch kam es in Cartigny nicht zu einer Gegenüberstellung verschiedener Entwicklungskonzepte, sondern vielmehr zu einem Austausch über methodische Zugänge zu Entwicklungsproblemen. Abgesehen von der klaren Positionierung der lateinamerikanischen Vertreter mit dem Konzept der Theologie der Befreiung kann nicht allgemein von einer Konfrontation zwischen alter und neuer Perspektive gesprochen werden. 292 Elliott, Critique, 23.

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Beginn der 1970er Jahre wichtiger ökumenischer Diskurs.293 Uneinigkeit bestand jedoch bis zuletzt über die Frage nach dem Grund, dem Inhalt und der Zielrichtung von Entwicklung. Der Vorstoß der beiden Lateinamerikaner, Entwicklung durch Befreiung zu ersetzen, stieß zwar nicht hinsichtlich der theologischen Interpretation, aber in Bezug auf die wirtschaftliche Orientierung auf Kritik und konnte daher keinen Konsens unter den Teilnehmenden herstellen. 7.3.4 Die Bedeutung von SODEPAX für den ökumenischen Dialog Das bedeutendste Merkmal von SODEPAX kann wohl darin gesehen werden, dass der Ausschuss ab 1968 auf unterschiedlichen Ebenen einen Austausch zwischen verschiedenen Positionen und Überzeugungen ermöglichte und anregte. Dieser „singularly dialogic process“294 zeigte sich in erster Linie in dem Dialog zwischen Katholiken, Protestanten und Orthodoxen.295 Die überkonfessionelle Arbeitsweise von SODEPAX stellte dabei zwar den Ausgangspunkt der Gespräche dar, galt aber nie als Ziel an sich. Entsprechend lag das Augenmerk der Arbeit von SODEPAX nicht so sehr auf der Förderung der Einheit der Christen; vielmehr war der Ausschuss bestrebt, „to promote the humanization of life in justice, peace and love“296. Damit ist bereits ein zweiter Aspekt des dialogischen Prinzips von SODEPAX angesprochen: die Verständigung über Fragen und Probleme der Entwicklung. Erstmalig in der Geschichte der ökumenischen Bewegung bot sich mit SODEPAX eine ökumenische Plattform, die sich dezidiert mit der Entwicklungsthematik beschäftigte und die in der Zeit der Entwicklungsdekaden ein Referenzpunkt der Kirchen für Fragen zur Entwicklungsproblematik darstellte. Doch die Konferenztrilogie297 zu Fragen der weltweiten Entwicklung und deren theologischer Begründung in Beirut (April 1968), Montreal (Mai 1969) und Cartigny (November 1969) brachte nicht nur den Willen der Kirchen zur Verständigung zum Ausdruck, sondern forderte auch ihre Konfliktbereitschaft heraus. Bezeichnenderweise verliefen die Konfliktlinien in Bezug auf die Frage der Entwicklung nicht zwischen den Konfessionen, sondern zwischen unterschiedlichen kulturellen Herkünften und politischen Überzeugungen. Dies zeigte sich insbesondere im Ringen um eine Theologie der Entwicklung, wie sich der Inder Chirapurath Itty, von 1969 bis 1979 Direktor der CCPD, erinnerte: 293 Vgl. The Humanum Studies; Raiser, Prozeß. 294 Land, SODEPAX, 40. 295 An den drei Entwicklungskonferenzen nahmen jedoch kaum orthodoxe Vertreter teil, so dass ihre Dialogbereitschaft im Hinblick auf das „Experiment SODEPAX“ nicht letztgültig bestätigt werden kann. 296 Land, SODEPAX, 46 (Hervorhebung im Original). 297 Vgl. ebd., 40.

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„It [Cartigny] revealed the fact that on an issue like development there is hardly any theological difference between the position of the Roman Catholic Church and member churches of the WCC. That does not mean that at Cartigny there were no theological divisions and debates. There were. But these did not arise from confessional backgrounds, but from geographical and ideological backgrounds.“298

Das tragende Beispiel hierfür war die von dem römisch-katholischen Theologen Guti rrez und dem reformierten Theologen Alves formulierte Theologie der Befreiung, die von Philip Land wegen ihrer ideologischen Sicht auf ökonomische Probleme stark kritisiert wurde. Und auch die Kritik an der Konferenz in Beirut basierte nicht auf konfessionellen Verschiedenheiten, sondern primär auf politischen, ideologischen und kulturellen Divergenzen. Das Desiderat der SODEPAX-Konferenzen 1968 / 1969 bestand somit darin, dass sie den unterschiedlichen kulturellen und kontextuell geprägten Entwicklungsverständnissen von Anbeginn nicht genügend Aufmerksamkeit entgegenbrachten, sondern dass die Suche nach Übereinstimmung und Konsens insbesondere bei den ersten beiden Konferenzen in Beirut und Montreal überwog. Die kritischen Positionen aus Lateinamerika, wie sie im Umkreis von ISAL, insbesondere in Montreal von Julio de Santa Ana und Gonzalo Castillo C rdenas vertreten worden waren, trugen in erheblichen Maß dazu bei, die ausgewogene Repräsentation von entwickelten Ländern und Entwicklungsländern sowie die Kontextualität von Begründungszusammenhängen als signifikante Maßstäbe für ökumenische Dialoge einzufordern. Die theologische Konsultation in Cartigny setzte gegenüber den zwei vorangegangenen Tagungen insofern einen neuen Akzent, als sie die Pluralität der Zugänge, Methoden und kulturellen Hintergründe ausdrücklich zum Gegenstand ihrer theologischen Reflexion machte – auch wenn Vertreter der westlichen Ökumene hier die Mehrheit stellten. Wenngleich SODEPAX seine Stellung über 1980 hinaus nicht behaupten konnte, bleibt festzuhalten, dass der Ausschuss in seiner Anfangsphase nicht nur einen Raum der Reflexion über Entwicklungsfragen darstellte, sondern insbesondere ein Ort offen ausgetragener Konflikte war.299 Dies machte SODEPAX einerseits angreifbar und trug möglicherweise auch zu seiner Schwächung bei, andererseits zeigte sich damit bereits Ende der 1960er zum ersten Mal die Authentizität ökumenisch geführter Dialoge. 7.4 Zwischenbilanz Die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Wiederaufbaus Europas machten es für die Kirchen dringlich, die weltweite ökumenische Zusammenarbeit auf eine sozialethische Grundlage zu stellen. Mit dem Konzept der 298 C. I. Itty, Some Lessons from SODEPAX experience, 5, AÖRK 4201.5.1. 299 Vgl. hierzu ausführlich unten S. 256–260.

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„verantwortlichen Gesellschaft“ einigten sich die Delegierten der Amsterdamer Vollversammlung 1948 auf ein Modell, das den verantwortlichen Gebrauch menschlicher Freiheit als Eintreten für Gerechtigkeit und öffentliche Ordnung verstand. Diese Formulierung stand allerdings ganz im Geist der die Vollversammlung prägenden Polarität zwischen Ost und West und der Frage, wie sich der ÖRK zwischen Kommunismus und Kapitalismus (kirchen-)politisch positioniert. Die Vollversammlung lehnte beide Zugänge unter Berufung auf deren ideologischen Gehalt ab und forderte die Christen auf, „neue schöpferische Lösungen zu suchen, die es nicht zulassen, daß Gerechtigkeit und Freiheit sich gegenseitig zerstören“300. Die „verantwortliche Gesellschaft“ sollte als mittleres Axiom den Zwischenraum zwischen Kapitalismus und Kommunismus im Sinne eines Dritten Weges definieren – was die Delegierten in Amsterdam auch überzeugte. Doch je mehr in den 1950er und 1960er Jahren innerhalb des ÖRK das Bewusstsein wuchs, eine den Ost-West-Konflikt übergreifende, weltweite Gemeinschaft von Kirchen zu sein, desto stärker geriet das Amsterdamer Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ ins Wanken. Die Vollversammlung in Evanston hängte an die „verantwortliche Gesellschaft“ den Zusatz „in weltweiter Sicht“ an, doch deren Verständnis unterlag weiterhin der westlichen Deutungskompetenz. Auch die Kritik der Delegierten der Dritten Welt auf der Weltkonferenz in Genf 1966 und die alternative lateinamerikanische Konzeption einer Theologie der Revolution vermochten es nicht, die „verantwortliche Gesellschaft“ abzulösen. Vielmehr diente sie dazu, das Konzept inhaltlich den Forderungen nach gerechten Strukturen und dem Wohl aller Menschen anzupassen, die auf der Vollversammlung in Uppsala 1968 zu der Formulierung führte, „ein Bewußtsein für die Beteiligung an einer weltweiten ,verantwortlichen Gesellschaft‘ mit Gerechtigkeit für alle zu schaffen“301. Die Entwicklungsdiskussion innerhalb von SODEPAX und die lateinamerikanische Kritik, dass auf der Konferenz in Beirut Entwicklung mit Wachstum gleichgesetzt und nicht als Befreiungsprozess zu verstanden worden sei, führte in Montreal 1969 schließlich dazu, das bestehende sozialethische Konzept in eine „Vision einer verantwortlichen Gesellschaft befreiter Menschen“302 münden zu lassen. Die Fülle der Formulierungen, die das Grundkonzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ seit 1954 beständig ergänzten, macht die Frage dringlich, inwiefern sich der ÖRK die jeweils damit im Zusammenhang stehende Kritik wirklich zu eigen gemacht hat. Nach Einschätzung des Theologen und Ökumenikers Martin Robra handelte es sich bei der Erweiterung des Konzepts der „verantwortlichen Gesellschaft“ nur um einen Anpassungsmechanismus: 300 Die Kirche und die Unordnung der Gesellschaft. Bericht der Sektion III. In: Amsterdamer Dokumente, 54. 301 Angenommener Bericht der Sektion III: Wirtschaftliche und soziale Weltentwicklung. In: Bericht aus Uppsala, 46. 302 Montreal-Bericht, 30.

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„Das Muster ist eindeutig: der alte Orientierungsrahmen wird erweitert, um die neuen Fragestellungen zu integrieren.“303 Allerdings bleibt damit die Frage bestehen, inwieweit dieser erweiterte Orientierungsrahmen den durch die Kritik aufgebrochenen Konflikten Rechnung trug. Die Analyse der Debatten auf der Genfer Weltkonferenz wie auf den SODEPAX-Konferenzen verweisen auf die Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität in der ökumenischen Sozialethik Ende der 1960er Jahre: Denn während die Berichte der verschiedenen Konferenzen vor allem auf Kontinuität im sozialethischen Denken ausgerichtet waren, brachte insbesondere die lateinamerikanische Kritik die Spannungen und Divergenzen innerhalb des ökumenischen Dialogs zutage. So galt aus lateinamerikanischer Perspektive – analog zur Kritik am Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ auf der Genfer Weltkonferenz 1966 – das in Beirut entfaltete Entwicklungsverständnis als Ausdruck der westlichen Ökumene, dessen Übertragung auf den Weltmaßstab als Paternalismus gebrandmarkt wurde. Der Konflikt entzündete sich daran, dass die lateinamerikanischen Kritiker die universale Gültigkeit des sozialethischen Leitkonzepts der „verantwortlichen Gesellschaft“ infrage stellten und dieser Position einen durch die gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen Lateinamerikas kontextuell geprägten Ansatz entgegenhielten. Dieser zielte nicht auf ökumenische Konvergenz, sondern betonte vielmehr die Notwendigkeit, Kontextualität und Pluralität als Maßstäbe im globalen ökumenischen Diskurs zu etablieren. Allerdings muss für eine abschließende Beurteilung des Konfliktes die Validität der lateinamerikanischen Kritik geprüft werden, der ÖRK habe mit seiner sozialethischen Grundhaltung westliches Denken perpetuiert. Mit Blick auf die Formulierungen der Amsterdamer Vollversammlung kann der Vorwurf der Lateinamerikaner insofern nachvollzogen werden, als das Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ eine Möglichkeit zur verantwortlichen und demokratischen Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg darstellte und als solches westlich-liberalem Denken folgte.304 Doch hinsichtlich der ursprünglichen Ausformulierung des Konzepts der „verantwortlichen Gesellschaft“ durch Joseph H. Oldham lassen sich erstaunliche inhaltliche Übereinstimmungen mit der zwanzig Jahre später formulierten Kritik der Lateinamerikaner feststellen. Denn Oldham hatte bereits 1948 auf die „Krisis des Menschen“ und den „Verlust des wahren Menschseins“ aufmerksam gemacht und damit die Notwendigkeit erkannt, sich stärker als bisher dem Menschen in seinen sozialen Bezügen zuzuwenden. Die Antwort 303 Robra, Sozialethik, 104. 304 Vgl. Huber, Kirche, 559. Huber hebt auch hervor, das der Begriff Verantwortung in Amsterdam im Sinne der Verantwortung des Christen vor Gott verstanden wurde, weshalb es schwierig erschien, das Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ als Basis für die Zusammenarbeit von Christen und Nichtchristen, z. B. im Kontext Asien, zu erheben. In Lateinamerika spielte dieses Problem aufgrund der weitestgehenden homogenen religiösen Verbreitung des Christentums keine erhebliche Rolle.

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der Kirche auf die soziale und kulturelle Krise der Nachkriegszeit bestand für Oldham in der Erneuerung kirchlicher Strukturen, d. h. in der Veränderung ihrer Methoden in Bezug auf das soziale Zusammenleben, in der von der kirchlichen Praxis ausgehenden theologischen Reflexion sowie darin, die Position von Laien in der kirchlichen Arbeit zu stärken. Diese Aspekte besaßen auch für die lateinamerikanischen Kritiker des Konzeptes der „verantwortlichen Gesellschaft“ einen hohen Stellenwert. Ohne sich dessen bewusst zu sein, knüpften sie teilweise inhaltlich an Oldhams Vision einer „verantwortlichen Gesellschaft“ an und verliehen seinen Forderungen eine neue, vom lateinamerikanischen Kontext ausgehende Sprache. Wovon sie sich in ihrer Kritik jedoch distanzierten, war die Formulierung „mittlerer Axiome“, die über Kontexte und Zeiten hinweg als allgemein gültige Prinzipien anerkannt werden könnten. Richard Shaull stellte daher dem sozialethischen Grundprinzip der „verantwortlichen Gesellschaft“ die Vorstellung einer permanenten Revolution gegenüber, und auch Alves und Guti rrez betonten den prozessualen Charakter von Humanisierung und Befreiung und wandten sich damit gegen eine zu allen Zeiten und an allen Orten gleichermaßen gültige Sozialethik. Die Spannung zwischen der Welt der „verantwortlichen Gesellschaft“ und der Welt der Revolution und Befreiung blieb also zunächst bestehen. Bis zur Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 hielt sich diese Spannung weitgehend aufrecht und wurde erst mit der programmatischen „Suche nach einer gerechten, partizipatorischen und überlebensfähigen Gesellschaft“ konstruktiv aufgelöst.305 Auf dem Hintergrund der konfliktiven Auseinandersetzungen der 1960er Jahre begann somit in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine die unterschiedlichen Kontexte einbeziehende ökumenische Diskussion über die Gestaltung einer Gesellschaft nach christlichen Werten, die nun auch die bislang nicht verhandelte ökologische Frage mit aufnahm, und schließlich in den 1980er Jahren in die Initiierung des Konziliaren Prozesses mündete.306

8. Exil und Befreiung: Lateinamerikanische Perspektiven im Stab des ÖRK (1969–1975) Der lateinamerikanische Boom im ÖRK begann mit dem selbstbewussten Auftreten lateinamerikanischer Theologen auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 und setzte sich in den späten 1960er Jahren durch die aktive lateinamerikanische Beteiligung an den SODEPAX-Konferenzen fort. Seinen Höhepunkt erreichte der Boom mit der Berufung von vier Lateinamerikanern in den Mitarbeiterstab des ÖRK zwischen 1969 und 1972. 305 Vgl. hierzu: K ssmann, Vision, 218–226; Raiser, Übergang, 99–111. 306 Vgl. Kunter, Hoffnungen, 37–40; Brown, Unzufriedenheit, 63–81.

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Hierzu zählten der argentinische Jurist Leopoldo Niilus, der brasilianische Volkspädagoge Paulo Freire sowie die beiden uruguayischen Theologen Julio de Santa Ana und Emilio Castro.307 Sie wurden stärker als die Mitarbeiter anderer Kontinente als Einheit wahrgenommen und haben die inhaltliche Arbeit des ÖRK in allen Programmeinheiten nachhaltig beeinflusst.308 Die folgenden biographischen Profile zeichnen zunächst den Weg dieser vier Personen bis zu ihrer Berufung in den Stab des ÖRK nach und beleuchten dann ihren jeweiligen Beitrag für die internationale ökumenische Arbeit. Die Analyse lässt sich dabei von zwei Perspektiven leiten, welche die Biographien miteinander verbindet: Zum einen die Tatsache, dass sich alle vier Lateinamerikaner in Genf im Exil befanden; zum anderen bestand eine Gemeinsamkeit zwischen den Personen darin, dass sie eine dezidiert befreiungspädagogische bzw. befreiungstheologische Perspektive in den ÖRK eintrugen. Das biographische Profil zu Leopoldo Niilus stellt im Gegensatz zu den Profilen von Freire, Santa Ana und Castro insofern einen Sonderfall dar, als von und über ihn nur wenig inhaltliche Aussagen und Quellen vorliegen. Daher wird er, der im Jahr 1969 als erster der vier Lateinamerikaner nach Genf gekommen ist und dessen Berufung in den Stab des ÖRK von vielen Widerständen begleitet wurde, nur in dem einführenden Kapitel ausführlicher vorgestellt. Die Darstellung der biographischen Profile folgt einem weitestgehend einheitlichen Schema: 1. knapper Überblick über die Biographie, 2. Hintergrund für die Berufung in den Stab des ÖRK, 3. Darstellung der jeweiligen Tätigkeit, 4. Auswirkungen der Mitarbeit auf den ökumenischen Diskurs der frühen 1970er Jahre unter besonderer Beachtung des Einflusses der Befreiungstheologie. Dadurch wird jedoch nicht nur die jeweils individuelle Perspektive herausgestellt, sondern auch die inhaltliche Ausrichtung von vier bedeutenden Arbeitseinheiten des ÖRK nachgezeichnet – der Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten (CCIA), der Abteilung für 307 Im weiteren Sinn gehört auch der argentinische Theologe Jos M guez Bonino in die Reihe der einflussreichen Lateinamerikaner im ÖRK. M guez Bonino war seit 1968 Mitglied im Zentralausschuss des ÖRK und spielte eine bedeutende Rolle in der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung. 1975 wurde er zu einem der sechs regionalen Präsidenten des ÖRK gewählt, war jedoch zu keiner Zeit Mitarbeiter im Stab des ÖRK. 308 In der mündlichen Überlieferung hat sich bis heute die Bezeichnung „Latin American Mafia“ als Beiname für die Gruppe lateinamerikanischer Mitarbeiter im Stab des ÖRK gehalten, die in den 1970er Jahren die Zügel des ÖRK fest in den Händen gehalten haben soll; vgl. die übereinstimmenden Aussagen in den Zeitzeugengesprächen mit Julio de Santa Ana (5. 3. 2010), Dwain Epps (12. 3. 2010) und Karl-Heinz Dejung (8. 7. 2010). Auch wenn die Bezeichnung aus historischer Perspektive überhöht scheint, bringt sie dennoch zwei Facetten der Mitarbeit von Lateinamerikanern im ÖRK zum Vorschein: Erstens verweist der Ausdruck auf die gute Vernetzung dieser Personen, insbesondere mit der lateinamerikanischen Bewegung ISAL, und verdeutlicht zweitens, dass es sich dabei um eine weitgehend homogene Gruppe gehandelt hat, die eine klare Position vertrat, konkrete Forderungen stellte und diese versuchte in der Programmarbeit des ÖRK durchzusetzen.

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ökumenische Aktivität (DEA), der Kommission für Kirchlichen Entwicklungsdienst (CCPD) sowie der Kommission für Weltmission und Evangelisation (CWME). Für alle vier Abteilungen kann für die späten 1960er und frühen 1970er Jahre ein Prozess der Neuorientierung festgestellt werden. Hinsichtlich des zeitlichen Rahmens beschränkt sich die Auswertung der Quellen und die Analyse auf die ersten Jahre der jeweiligen Mitarbeit und geht damit nicht über das Jahr 1975 hinaus. Diese zeitliche Eingrenzung legt sich aus zwei Gründen nahe: Denn zum einen wird damit die Zeit zwischen der Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 und der Vollversammlung in Nairobi 1975 in das Zentrum gerückt, die als eine Phase der Reorientierung und Überprüfung der Strukturen des ÖRK galt und in der sich innerhalb des Weltkirchenrates ein „Perspektivenwechsel“ vollzog.309 Zum anderen steht damit die Gründungsphase der Befreiungstheologie stärker im Vordergrund, die für alle vier lateinamerikanischen Mitarbeiter den theologischen Referenzpunkt darstellte. 8.1 Die ersten Lateinamerikaner im Stab des ÖRK in den 1960er Jahren Durch die intensiven Bemühungen der Abteilung für Kirche und Gesellschaft, das Rapid Social Change-Programm in Lateinamerika zu verankern, und im Zuge der Gründung des Lateinamerika-Sekretariats im Jahr 1961 rückte der lateinamerikanische Kontinent stärker ins Bewusstsein der Arbeit des ÖRK. Dies äußerte sich nicht nur durch zahlreiche Reisen des Lateinamerika-Sekretärs Theo Tschuy in die Region, sondern zeigte sich auch darin, dass der ÖRK nun auch lateinamerikanische Mitarbeiter in Genf einstellte. Die ersten Lateinamerikaner kamen in den frühen und mittleren 1960er Jahren in den Stab und waren Wegbereiter für die Integration lateinamerikanischer Perspektiven in die Arbeit des Weltkirchenrates in den 1970er Jahren. 8.1.1 Wegbereiter Eine Schlüsselrolle hinsichtlich der Öffnung des ÖRK für ökumenische Beiträge und Themen aus Lateinamerika spielte der Argentinier Mauricio Amilcar L pez. Sein Name wird in vielen Darstellungen nur am Rande erwähnt, doch hat er wie kein anderer Mitarbeiter dazu beigetragen, die Perspektive Lateinamerikas in den 1960er Jahren im ÖRK zu verankern. Er kam 1963 als Mitarbeiter in die Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK und unterstützte Paul Abrecht in der Vorbereitung der Weltkonferenz in Genf 1966. Durch seine enge Verbindung zu den lateinamerikanischen Studierenden309 Vgl. Raiser, Übergang, 99 f. Ausführlich hat Margot Käßmann diesen „Perspektivenwechsel“ zwischen 1969–1975 in ihrer Dissertation erarbeitet: vgl. K ssmann, Vision, 122–170.

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verbänden des WSCF und zu ISAL sowie durch persönliche Freundschaften gelang es ihm, viele Lateinamerikaner an der Genfer Konferenz 1966 zu beteiligen.310 Indem er dazu beitrug, linkspolitsche lateinamerikanische Intellektuelle in die bis dahin vorrangig nordamerikanisch-europäisch geprägte Ökumene einzuführen, bereitete er den Weg für den wachsenden Einfluss Lateinamerikas im ÖRK in den frühen 1970er Jahren. Als weiterer Vorläufer kann neben L pez auch der Uruguayer Oscar Bolioli gesehen werden, der noch vor der Vollversammlung des ÖRK in Uppsala in den Stab des ÖRK berufen wurde. Der methodistische Pfarrer arbeitete von 1968 bis 1972 als Exekutivsekretär in der Jugendabteilung des ÖRK und leitete in der Nachfolge von L pez auch den lateinamerikanischen Arbeitsausschuss.311 Zwar konnte er im ÖRK keine so strategische Funktion wie L pez für sich in Anspruch nehmen, half aber insbesondere die Beziehungen zwischen dem ÖRK und den lateinamerikanischen Jugendverbänden zu stärken. Bolioli kehrte 1972 nach Lateinamerika zurück und übernahm die Leitung von ISAL, wo er sich insbesondere für Menschenrechtsfragen engagierte.312 Aus geographischer Perspektive könnte auch Philip Potter als Wegbereiter der wachsenden lateinamerikanischen Mitarbeit im ÖRK gesehen werden. Denn der von der Insel Dominica stammende Karibe arbeitete bereits zwischen 1958 und 1961 als Direktor der Jugendabteilung im ÖRK und kehrte nach einer Referententätigkeit für die Methodist Missionary Society in London im Jahr 1967 als Direktor der Abteilung für Weltmission und Evangelisation wieder nach Genf zurück. Doch trotz seiner karibischen Herkunft gab sich der englischsprachige Potter nie als Lateinamerikaner aus, wie der spätere Generalsekretär des ÖRK Konrad Raiser bemerkte,313 und pflegte seinerseits auch keine engeren Kontakte zur Bewegung ISAL. Nach Visser ’t Hooft wurde Philip Potter viel eher als „als Mann der Dritten Welt“314 gesehen. Damit meinte er, dass Potter sich nicht als Vertreter eines spezifischen Kulturraums verstanden wissen wollte, sondern dass er vielmehr in kontinentübergreifender, ökumenischer Weite das Anliegen der nicht-westlichen Regionen und Kirchen in der ökumenischen Weltgemeinschaft vertrat.315 In diesem Sinn hat er gewiss auch die wachsende Beteiligung von Lateinamerikanern im ÖRK befürwortet, aber nicht strategisch unterstützt. 310 Vgl. oben S. 135–139 und 143. 311 Vgl. Excutive Committee Tulsa / USA, 27.–30. 1. 1969, Document No. 8, AÖRK 38.0011. Zum Hintergrund des lateinamerikanischen Arbeitsausschusses vgl. oben S. 114–123. 312 Vgl. Bolioli, Solidaridad, 120 f. 313 Zeitzeugengespräch mit Konrad Raiser (29. 1. 2010). Der Grund hierfür liegt wohl primär darin, dass die englischsprachigen Teile der Karibik nicht zum lateinamerikanischen Kulturraum gezählt werden, obwohl sie in Bezug auf die Kolonialgeschichte und die politische Prägung viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Vgl. G rtner, Lateinamerika. 314 Willem A. Visser ’t Hooft, Statement about Philip Potter, zit. n. Enns, Potter, 355. 315 Vgl. zur Biographie Potters: Jagessar, Life; M ller-Rçmheld, Potter; Enns, Potter; Wind, Potter.

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8.1.2 Die Berufung von Leopoldo Niilus trotz Widerständen Der argentinische Jurist Leopoldo Niilus war der erste Lateinamerikaner, der eine bedeutende Leitungsfunktion im ÖRK übernehmen sollte. Er wurde 1969 als Direktor der CCIA nach Genf berufen, allerdings stieß seine Nominierung auf heftige Widerstände von Seiten einiger Kommissions- und Stabsmitglieder der CCIA. Leopoldo Juan (Leopold-Johannes) Niilus stammte aus einer estnischen Familie und wurde am 19. Januar 1930 in Tallinn geboren.316 Seine Eltern, Jaan Eduard Niilus und Meta Kiris, flohen mit der Familie während des zweiten Weltkriegs 1944 nach Schweden und siedelten 1948 nach Argentinien über. Niilus begann mit dem Studium der Rechtswissenschaften an der Juristischen Fakultät der Nationaluniversität Buenos Aires und engagierte sich bereits während seines Studiums in der christlichen Studentenbewegung Argentiniens (MEC argentino). Als deren Präsident kam er in Kontakt mit der internationalen Ökumene, insbesondere mit dem internationalen studentischen Dachverband World Student Christian Federation (WSCF). Dieses Engagement war für ihn – wie bereits vor ihm auch für Mauricio L pez – der Ausgangspunkt und das Lernfeld für ökumenische und politische Aktivitäten. Von 1966 bis 1967 übernahm Niilus in der Nachfolge von Julio de Santa Ana die Leitung des christlichen Studienzentrums am R o de la Plata (Centro de Estudios Cristianos del R o de la Plata) und wurde im folgenden Jahr zum Generalsekretär von ISAL gewählt. Aufgrund seiner Berufung zum Direktor der CCIA emigrierte er mit seiner Frau Malle Reet Veerus 1969 nach Genf und wurde dort erneut zum Exilanten: Denn durch seine politische Arbeit im ÖRK und seine kritische Haltung gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in Argentinien war es für ihn während seiner zwölfjährigen Amtszeit nicht mehr möglich nach Argentinien einzureisen.317 1982 legte Niilus seine Arbeit als Direktor der CCIA nieder und übernahm bis 1995 die Leitung des Büros für internationale ökumenische Beziehungen des Kirchenrates des Mittleren Ostens in Genf. Als entscheidende Verdienste sah er nach eigener Aussage seine Beteiligung an den Friedensverhandlungen im Sudan 1972 an sowie an dem Osloer Abkommen 1990, das den Friedensprozess in Guatemala einleitete.318 Die Berufung von Niilus zum Direktor der CCIA stand inmitten eines umfassenden Restrukturierungsprozesses der Kommission.319 Der langjährige 316 Die folgenden Angaben basieren auf einer von Niilus persönlich erstellten Kurzbiographie (im Bestand der Verfasserin) sowie aus biographischen Angaben am Ende eines von Niilus verfassten Artikels: vgl. Niilus, Bemühungen, 248. 317 Zeitzeugengespräch mit Leopoldo Niilus (17. 3. 2010). 318 Vgl. ebd. 319 Vgl. Albers, ÖRK. Der Theologe Christian Albers erarbeitet derzeit eine Dissertation zur Globalisierung des ökumenischen Menschenrechtsdiskurses in den 1970er Jahren, in welcher

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Direktor der Abteilung für internationale Angelegenheiten, der US-amerikanische Lutheraner Frederick Nolde, der die Gründungsphase der CCIA entscheidend geprägt hatte, befand sich kurz vor der Pensionierung, und auch der Vorsitzende der Kommission, Sir Kenneth Grubb, schied aus seiner Position aus. Durch den steigenden Einfluss von Kirchen der Dritten Welt im ÖRK und das damit einhergehende wachsende Bewusstsein über die globalen Verflechtungen politischer Konflikte wurde es für die CCIA ab Mitte der 1960er Jahre dringlich, auch die diplomatischen Beziehungen zu globalisieren und sich damit von ihrer bislang dominierenden nordamerikanisch-europäisch Prägung zu lösen. Kritik an der westlichen Orientierung der CCIA hatte es bereits 1967 auf einer Strategiekonferenz des ÖRK über die Zukunft der CCIA in Den Haag u. a. vom WSCF gegeben: Dessen Sekretär für politische Angelegenheiten Bruce Douglass kritisierte die CCIA als eine „all too obviously a Western, white, middleaged, liberal institution“320, der es insbesondere an Repräsentanten aus sozialistischen Ländern und Ländern der Dritten Welt fehle, aber auch an jüngeren Mitgliedern. Auf der Suche nach einem Nachfolger für Nolde schien Niilus aus Sicht des WSCF ein geeigneter Kandidat zu sein, denn in seiner Person verband sich die Möglichkeit einer stärkeren Beteiligung von Personen aus sozialistischen Ländern und Ländern der Dritten Welt (Estland und Argentinien), das Bestreben, mehr Laien in die Arbeit der CCIA zu integrieren (Jurist), sowie die Beziehungen zu anderen ökumenischen internationalen Organisationen (etwa zum WSCF) zu stärken. Auch Eugene Carson Blake, der den ÖRK erst seit kurzer Zeit als dessen zweiter Generalsekretär führte und es als seine Aufgabe verstand, den Weltrat der Kirchen in eine repräsentative globale und moderne Organisation zu überführen, war von Niilus’ Person und Kompetenzen überzeugt.321 Er forcierte daher seine Berufung als Direktor der Kommission für internationale Angelegenheiten, stieß dabei jedoch auf Widerstand innerhalb der sog. „alten Garde“ der CCIA.322 Im Vorfeld des Exekutivausschusses des ÖRK in Tulsa / Oklahoma (USA) Ende Januar 1969, wo eine Entscheidung über die Besetzung des Amtes fallen sollte, kam es zu harten Auseinandersetzungen zwischen Blake und den Kommissionsmitgliedern sowie den Mitarbeitern der CCIA. Die Vorbehalte gegen die Berufung von Niilus bestanden einerseits darin, dass Niilus mit 39 Jahren als noch zu jung für die Position des Direktors der CCIA gehalten wurde und andererseits darin, dass Kritiker, wie etwa der Leiter der Londoner

er ausführlich auf den Wandel innerhalb der CCIA eingeht. Die Dissertation wird von Prof. Dr. Hans-Richard Reuter an der Universität Münster betreut. 320 Memorandum von Bruce Douglass an Leopoldo Niilus (ohne Datum, Aktenzeichen 2967.4.67), 2, AÖRK 428.01.08.1. 321 So auch Dwain Epps im Gespräch mit der Verfasserin (12. 3. 2010), Genf. 322 Vgl. Albers, ÖRK, 201.

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Außenstelle der CCIA, Alan Booth, ihn auf internationalem Parkett als zu wenig kompetent einschätzten: „My feeling is that if you get a man like Niilus you will simply find, on age grounds as well as on grounds of different experience, that it is incredibly difficult for him to work with us. That won’t be either his fault or our fault but I feel it will be inevitable. You can’t teach old dogs new tricks and you can’t get a young and dedicated to believe that they have much to learn from their elders.“323

Außerdem kritisierte Booth offen Blakes subjektive und offensive Haltung in der Besetzung des Postens.324 Im Hintergrund dieser Kritik stand jedoch eine klare Ablehnung der Neuausrichtung der CCIA, denn Niilus verkörperte eine neue Generation, mit der sich ein politischer Kurswechsel ankündigte: Als Mitglied und ehemaliger Generalsekretär der Bewegung ISAL stand er für eine marxistische Kapitalismuskritik, die die wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd dependenztheoretisch zu erklären versuchte. Er sah in der Abhängigkeit Lateinamerikas von den USA eine wachsende Gefahr für die internationale Stabilität und befürwortete daher die revolutionäre Befreiung des lateinamerikanischen Volkes als notwendigen Schritt für die Einheit der Welt.325 Theologisch berief sich der Jurist Niilus dabei auf die Tradition des Exodus, die dazu diene, „to understand what is real liberation of man, what revolution and a genuinely open human history mean“.326 Diese befreiungstheologische, marxistisch inspirierte Position in internationalen Angelegenheiten war für langjährige Mitarbeiter der CCIA suspekt; Booth befürchtete gar den Bedeutungsverlust der politischen Arbeit der CCIA.327 Auf der Sitzung des Exekutivausschusses in Tulsa rief vor allem Niilus’ estnische Herkunft die Kritiker auf den Plan: Denn zum einen sahen die Vertreter des Ostblocks, wie der russisch-orthodoxe Metropolit Nikodim, in der angestrebten Berufung eines Esten einen „Affront gegen die Sowjetunion“328. Zum anderen sprach sich aber sogar von lateinamerikanischer Seite der Präsident der Lutherischen Kirche in Brasilien (IECLB), Karl Gottschald, 323 Memorandum von Alan Booth an Richard Fagley (13. 1. 1969), AÖRK 428.11.02.6. 324 Vgl. Brief von Alan Booth an Eugene Carson Blake (5. 2. 1969), AÖRK 428.11.02.6. 325 „When the problem is put in terms of the liberation of man and not simply in terms of economic development or material well-being, a situation of harmony can be worked out not only for the Americas but for the whole world.“ (Niilus, Future, 57.) 326 Als Beispiel für einen Text mit stark marxistischer Ausrichtung vgl. Niilus, Exodus as the Genesis of Revolution, 3, AÖRK 996.4. Dieser Text wird von Gerhard Besier als Beleg dafür angegeben, dass Niilus „eifrig die Befreiungstheologen rezipierte“ (Besier, Protestantismus, 556.). Allerdings zeigt sich bei genauerer Analyse, dass sich Niilus – außer einem Verweis auf Rubem Alves – in diesem Text ausschließlich auf Gedanken von Harvey Cox, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Pierre Furter, Ernst Bloch, Karl Marx und Che Guevara bezog, und damit nicht auf die Befreiungstheologie an sich, sondern auf die marxistische Philosophie. 327 Vgl. Brief von Alan Booth an Ulrich Scheuner (22. 1. 1969), AÖRK 428.11.02.6. 328 Vgl. hierzu Boyens, Rat, 144. Vgl. auch Zeitzeugengespräch mit Dwain Epps (12. 3. 2010).

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gegen die Neubesetzung des Postens durch Niilus aus, da er ihn aufgrund seiner estnischen Herkunft nicht genuin als Lateinamerikaner anerkennen wollte und somit das Argument, einen Direktor aus der Dritten Welt zu wählen, entkräftete. Nach einer langen Diskussion ergab die Abstimmung in Tulsa schließlich ein Unentschieden von 4 Stimmen für und 4 Stimmen gegen Niilus, das die Moderation des Staffing Committees, Pauline Webb, als Zünglein an der Waage zugunsten von Niilus entschied.329 Um die Vorbehalte gegen Niilus jedoch nicht ganz abzuweisen, wurde er vorerst für eine Probezeit von 2 Jahren eingestellt.330 Im Gegensatz zu den Befürchtungen hinterließ er in den ersten offiziellen Treffen mit dem Leiter der New Yorker Außenstelle der CCIA, Richard Fagley, und dem Vorsitzenden der Kommission, Ulrich Scheuner, ein durchweg positives Bild; beide waren von seiner Offenheit und Expertise beeindruckt.331 Damit schien der Konflikt aufs Erste beigelegt, doch insbesondere die Beziehung zwischen Alan Booth und Niilus blieb angespannt – v. a. im Blick auf die Schließung des Londoner CCIABüros. „Rather with ,fear and tremble‘“332 nahm Niilus die Wahl zum neuen CCIA-Direktor an. Entgegen der Kritik, dass mit der Besetzung durch Leopoldo Niilus die CCIA ihren professionellen Charakter verlieren und ihre Rolle und Bedeutung in der internationalen Politik einbüßen würde,333 sah Niilus hingegen seine Position nicht als von der bisherigen Arbeit der Kommission losgelöst, sondern versuchte, seine Vorstellungen von der zukünftigen Rolle der CCIA mit deren Zielen, wie sie in der Verfassung festgehalten waren, zu vereinen. Die Hauptaufgabe der CCIA bestand daher für Niilus weiterhin darin, den ÖRK, dessen Mitgliedskirchen sowie christliche Partnerorganisationen vor den Vereinten Nationen, deren Unterorganisationen und anderen internationalen Organisationen zu vertreten. Diese Repräsentationsfunktion mit dem Ziel Jesus Christus in der Welt zu bezeugen, war für ihn die wichtigste Aufgabe der CCIA.334 Für die Arbeit der Kommission ergaben sich nach Niilus zwei Handlungsebenen: Zum einen sollten Studien- und Reflexionsprozesse eingeleitet werden, in denen auch die theologische Reflexion nicht zu kurz komme, zum 329 Vgl. den Bericht über das Treffen des Exekutivausschusses im vertraulichen Brief von Richard Fagley an Ulrich Scheuner (31. 1. 1969), AÖRK 428.11.02.5. 330 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Zentralausschuss (1969), 151. 331 Vgl. Brief von Richard Fagley an Ulrich Scheuner (10. 2. 1969), AÖRK 428.11.02.5; Brief von Ulrich Scheuner an Elfan Rees (10. 2. 1969), AÖRK 428.11.02.5. 332 Brief von Leopoldo Niilus an Eugene Carson Blake (24. 2. 1969), AÖRK 428.11.02.6. 333 Diese Kritik wurde v. a. von Alan Booth und dem Schweizer Pfarrer Dominique Micheli formuliert. Beide verließen kurz nach dem Amtsantritt von Niilus die CCIA. Booth übernahm das Direktorat von Christian Aid in Großbritannien und Micheli übernahm eine Position im Internationalen Roten Kreuz. Für weitere personelle Veränderungen in der CCIA zwischen 1969 und 1972 vgl. Fagley / Epps, A Brief History of the CCIA, 34 f. Vgl. dazu auch Albers, ÖRK. 334 Vgl. Niilus, Some tentative general reflections about CCIA future action, AÖRK 428.04.13/7.2.3.

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anderen sprach er sich für die Durchführung konkreter Aktionen aus: „To being [sic!] with, we should be clear that true testimony implies, dialectically, reflection, action and prophetic judgment or voice.“335 Niilus betonte die Zusammengehörigkeit von Wort und Tat, die er an dem Wort „vocation“ (Berufung) verdeutlichte. In diesem Begriff würde die Bedeutung von „voice“ und „action“ miteinander verschmolzen: „God’s voice is a special gift to his people and it is a liberating voice incarnated in action.“336 Die CCIA dürfe sich daher nicht allein damit begnügen, Erklärungen zu verfassen, sondern müsse in christlicher Verantwortung ihrer Berufung nachkommen und für Menschen am Rand der Gesellschaft eintreten, den Schwachen und Unterdrückten eine Stimme geben und diese so für Gottes Freiheit sensibilisieren.337 Damit begann Niilus Grundsätze, die wenige Jahre später Kennzeichen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie wurden – etwa die Verbindung von Praxis und Theorie oder die Option für die Armen – gleich zu Beginn seiner Amtszeit in die internationale Arbeit der CCIA zu integrieren. Hinsichtlich des strukturellen Selbstverständnisses der Kommission forderte er, dass die CCIA ihre Monopolstellung in Bezug auf internationale Beziehungen aufgeben müsse und eher eine koordinierende Funktion zwischen den Programmeinheiten innerhalb des ÖRK einnehmen sollte.338 Für die Restrukturierung und Neuausrichtung der CCIA in den 1970er Jahren war die Neubesetzung der Leitungsposition mit Leopoldo Niilus folglich entscheidend: Denn durch seine Erfahrungen als Generalsekretär von ISAL setzte er viele neue inhaltliche Impulse und methodische Akzente und konnte mit seinem früheren ISAL-Kollegen, dem US-Amerikaner Dwain Epps, zusätzlich einen jungen Mitarbeiter für Menschenrechtsfragen im ÖRK gewinnen. Dieser stärkte Niilus’ Position als Direktor der CCIA gegen Widerstände und brachte ebenfalls seine Erfahrungen aus der lateinamerikanischen Bewegung ISAL in die Arbeit des ÖRK ein.339 Damit war der Grund dafür gelegt, dass sich die CCIA in den folgenden Jahren verstärkt Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika zuwandte340 – eine Haltung, die nicht nur 335 Niilus, A blueprint of future action and strategy for the Commission of the Churches on International Affairs of the World Council of Churches, 2, AÖRK 428.04.13/7.2.3. 336 Niilus, Some tentative general reflections about CCIA future action, AÖRK 428.04.13/7.2.3. 337 Vgl. ebd., 3 u. 8. 338 Vgl. Niilus, A blueprint of future action and strategy for the Commission of the Churches on International Affairs of the World Council of Churches, 9, AÖRK 428.04.13/7.2.3. 339 Epps war von 1967 bis 1969 als Freiwilliger der Frontier Internship in Mission bei ISAL tätig und arbeitete in diesem Zeitraum eng mit Niilus als Generalsekretär von ISAL zusammen. Nachdem Niilus zum Direktor der CCIA berufen worden war, rief er Epps zur Unterstützung als Mitarbeiter nach Genf. Entgegen der Darstellung von Armin Boyens war Niilus im ÖRK nicht selbst für Menschenrechtsfragen zuständig, sondern hatte diese Aufgabe seinem Mitarbeiter Epps übertragen. Vgl. Boyens, Rat, 207 f.; vgl. auch Albers, ÖRK, 201. 340 Unterstützt wurde dieses Engagement vor allem durch das Human Rights Resources Office for Latin America (HRROLA), das 1973 nach dem Putsch in Chile eingerichtet wurde. Leiter dieses lateinamerikanischen Menschenrechtsbüros innerhalb des ÖRK war der US-Amerikaner

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auf positives Echo stieß. Denn wie der Kirchenhistoriker Armin Boyens kritisiert, richtete der ÖRK seine ganze Aufmerksamkeit auf Lateinamerika und vernachlässigte darüber die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion. Leopoldo Niilus habe in dieser Hinsicht, so Boyens These, zur „Vertuschung von Menschenrechtsverletzungen“341 beigetragen, anstatt umfassend gegen sie anzugehen.342 So sehr Boyens Kritik an einem mangelnden Menschenrechtsengagement des ÖRK in den Ländern des Ostblocks auch zutreffen mag,343 so wenig stimmt sein pauschalisierendes Urteil, die Wahl von Leopoldo Niilus habe dazu beigetragen, dass sich der ÖRK nicht mehr mit Menschenrechtsverletzungen auseinandergesetzt hätte. An dieser Debatte zeigt sich vielmehr, dass ab den späten 1960er Jahren die Perspektive des Kalten Krieges, die seit seiner Gründung die Arbeit des ÖRK dominierte, durch die Perspektive der Dritten Welt – im Fall von Niilus insbesondere Lateinamerikas – erweitert wurde. Niilus stand dabei, wie Dwain Epps formulierte, für einen „Third World political approach“344, der dezidiert die Fragen und Probleme der Länder der Dritten Welt in der Vordergrund rückte. Dass die CCIA darüber den Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion zu wenig Beachtung schenkte, ist die Kehrseite der Medaille und darf nicht verschwiegen werden. Doch die Kontroverse zeigt, wie schwierig es war, die Aufgabe und Handlungsweise der CCIA global auszurichten und gleichzeitig die Kontinuität zur bisherigen Arbeit zu gewährleisten. Niilus befand sich in dieser Spannung bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 1981. 8.2 Paulo Freire: Von der Freiheit pädagogischen Handelns Die zehnjährige Mitarbeit des brasilianischen Volkspädagogen Paulo Freire im ÖRK zwischen 1970 und 1980 gehört zu den herausragenden Kapiteln der Geschichte des ÖRK: Freire galt als der bekannteste Befreiungspädagoge des 20. Jahrhunderts und wurde in der Erziehungswissenschaft daher bereits in die Reihe der „Klassiker der Pädagogik“345 eingereiht. Für sein Werk wurde er zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnet und auch nach seinem Tod 1997 wird bis heute an Freires Konzept einer befreienden Bildung in verschiedenen Diszi-

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Charles Harper. Eine wissenschaftliche Untersuchung über die Rolle und Wirkung von HRROLA steht noch aus. Vgl. als erste Annäherung an die Bedeutung des Büros die narrativ und teilweise assoziativ gehaltene Zusammenstellung von Harper, Acompanhamento. Boyens, Rat, 208. Vgl. im Folgenden die Ausführungen bei Albers, ÖRK, 204 (Fußnote 77). In ähnlicher Weise argumentiert auch Richter, Protestantismus, 422. Vgl. die Einschätzung von Raiser, Widerstand, 26. Vgl. auch die differenzierte Zusammenfassung bei Kunter, Kirchen. Zeitzeugengespräch mit Dwain Epps (12. 3. 2010). Tenorth, Dewey. Zur Kritik an dieser Bezeichnung vgl. Stauffer, Pädagogik, 231.

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plinen angeknüpft.346 Seine Tätigkeit im ÖRK scheint jedoch im Laufe der Jahrzehnte zunehmend in Vergessenheit geraten zu sein, denn kaum eine Darstellung nimmt Bezug auf seine pädagogische Arbeit im Genfer Weltkirchenrat, die für Freire als Zeit im Exil jedoch eine bedeutende Lebens- und Schaffensperiode darstellte.347 Das folgende Kapitel widmet sich diesem Desiderat und fragt einerseits danach, welche Bedeutung die Exilssituation für die befreiungspädagogische Arbeit Freires hatte und andererseits, welche Impulse von Freire in die ökumenische Arbeit eingetragen wurden. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf der Anfangsphase von Freires Mitarbeit bis 1975.348 8.2.1 Biographischer Hintergrund349 Paulo Freire wurde am 19. September 1921 in Recife im Nordosten Brasiliens geboren. Im Alter von zehn Jahren zog er mit seiner Familie aus ökonomischen Gründen infolge der Weltwirtschaftskrise nach Jaboat¼o um, einer kleineren Stadt unweit von Recife. Nach der Schule studierte Freire von 1943 bis 1947 Rechtswissenschaften in Recife, interessierte sich aber schon bald für Pädagogik, wofür es zu der Zeit jedoch keinen eigenen Studiengang gab. 1959 promovierte er und arbeitete kurze Zeit als Anwalt in Recife. Anfang der 1960er Jahre begann Freire mit ersten Erwachsenenbildungsprojekten im Rahmen der „Bewegung für Volkskultur“ und wurde 1963 vom brasilianischen Präsidenten Jo¼o Goulart zum Präsidenten der Nationalen Kommission für

346 Als Beispiele aus dem Bereich der Kulturwissenschaften seien hier genannt: Messerschmidt, Weltbilder, 54–59; Gaber / Kçbberling / Otto, Manager der Marginalität, 132–151. 347 Als wichtigste Darstellung von Freires Mitarbeit im ÖRK ist der biographische Überblick von Werner Simpfendörfer zu nennen: Simpfendçrfer, Freire. Simpfendörfer fasste darin viele wichtige Aspekte des ökumenischen Wirkens Freires zusammen, verzichtete aber – vermutlich aufgrund der Lesbarkeit – auf Anmerkungen und Verweise, so dass viele Zitate nicht überprüft werden können. Vgl. außerdem: Simpfendçrfer, Profile. Auf die Mitarbeit Freires im ÖRK ist auch die brasilianische Veröffentlichung von Andreola / Ribeiro ausgerichtet, die jedoch weniger wissenschaftlich orientiert ist: Andreola / Bueno Ribeiro, Andarilho. Von den wenigen religionspädagogischen und theologischen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Freire sind vor allem die Beiträge von Martin Bröking-Bortfeldt hervorzuheben: BrçkingBortfeldt, Ökumene, 116–123; Brçking-Bortfeldt, Impulse. Allerdings lässt BrökingBortfeldt an manchen Stellen eine kritische Haltung in der Auseinandersetzung mit Freire vermissen. 348 Das Kapitel lehnt sich inhaltlich an eine bereits veröffentlichte Studie der Verfasserin zum Einfluss Freires auf das Konzept des ökumenischen Lernens an: Str mpfel, Lernen. 349 Sowohl in der Selbsteinschätzung Freires als auch in der Rezeption seines Werks spielt seine Biographie eine große Rolle. Eine ausführliche, kritische Beurteilung der Bedeutung von Freires Biographie für sein Werk liefert: Stauffer, Pädagogik, 155–179. Zur Biographie Freires vgl. außerdem Araffljo Freire / Macedo, Reader, 1–44, bes. 12–26; McLaren / de Lissovoy, Freire; Schreiner, Einführung, 17 f.

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Volkskultur berufen.350 Im Laufe dieses Jahres begannen in ganz Brasilien Alphabetisierungskampagnen, die auf nationaler Ebene von Freire koordiniert wurden. Der Militärputsch unter General Mour¼o Filho im März 1964 führte dazu, dass das nationale Alphabetisierungsprogramm bereits zum 31. März 1964 eingestellt wurde.351 Drei Monate später wurde Freire von den Militärs verhaftet und floh nach 70 Tagen Gefängnis im September desselben Jahres ins Exil nach Bolivien. Als es im November 1964 auch dort zu einem Staatsstreich kam, floh Freire nach Chile, wo er bis 1969 blieb. Dort arbeitete er in verschiedenen Funktionen, u. a. am Institut für Agrarreform und als Bildungsexperte der UNESCO. Zwischen 1967 und 1968 verfasste er das Buch „Pädagogik der Unterdrückten“, das später das Hauptwerk seiner Pädagogik wurde. Ein Ruf der Universität Harvard brachte ihn für ein halbes Jahr als Gastprofessor in die USA, bevor er Anfang 1970 ins Exil nach Genf als Sonderberater des Bildungsbüros des ÖRK ging. Die demokratische Öffnung Brasiliens, die mit der Wahl von Jo¼o Baptista de Oliveira Figueiredo zum Präsidenten 1979 in Brasilien begann, ermöglichte Freire 1980 die Rückkehr aus dem Exil. In den folgenden Jahren lehrte er an der staatlichen Universität Campinas (UNICAMP) sowie der katholischen Universität in S¼o Paulo (PUC) und arbeitete zeitweilig für die Bildungskommission der brasilianischen Arbeiterpartei „Partido dos Trabalhadores“ (PT), deren Mitglied er seit 1979 war. Außerdem widmete er sich verstärkt dem Schreiben.352 Er starb am 2. Mai 1997 in S¼o Paulo. Für sein Werk wurde er zu Lebzeiten mit 28 Ehrendoktoraten353 ausgezeichnet. 8.2.2 Im ökumenischen Exil Von seiner insgesamt sechzehnjährigen Exilzeit nimmt Freires Mitarbeit im ÖRK den größten Zeitraum ein. Die folgenden Ausführungen stellen die Hintergründe für die Berufung Freires dar, erläutern seinen Status als Sonderberater und verbinden diese mit seinen Reflexionen über die Lehren des Exils. Berufung zum Sonderberater für Erwachsenenbildung Die Berufung Freires in den Stab des ÖRK erfolgte in einer Zeit pädagogischer Neuorientierung. Die vom Leiter für Bildungsplanung der UNESCO, Philip Coombs, Ende der 1960er Jahre diagnostizierte „Weltbildungskrise“ war 350 Vgl. Stauffer, Pädagogik, 160. 351 Vgl. Rinke / Schulze, Geschichte, 167. 352 Sein letztes Werk veröffentlichte Freire 1996 unter dem Titel „Pedagogia da Autonomia“, das bis 2006 eine Auflage von 800.000 Exemplaren hatte. In deutscher Übersetzung liegt das Werk erstmalig seit 2008 vor: Vgl. Freire, Autonomie. 353 Vgl. Stauffer, Pädagogik, 164. Schreiner beziffert die Zahl der Ehrendoktoren mit 23; vgl. Schreiner, Einführung, 18.

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Ausdruck einer weit reichenden gesellschaftlichen Debatte über Ziele, Methoden und Akteure von Bildung.354 Diese weltweite Krise – in Deutschland seit 1964 bereits bekannt unter dem Stichwort ,Bildungskatastrophe‘355 – äußerte sich Coombs zufolge in den steigenden Anforderungen an das Bildungssystem angesichts der sich wirtschaftlich, technologisch und sozial verändernden Gesellschaft und sei daher „nicht nur eine Bildungskrise, sondern eine Krise, die die gesamte Gesellschaft und die Wirtschaft einschließt“356. Angesichts dieser kritischen Situation begann der ÖRK seine Arbeit im Bereich christlicher, aber auch allgemeiner Bildung und Erziehung auszubauen. Die Vollversammlung in Uppsala 1968 beschloss die Einrichtung eines Büros für Bildungsfragen, dessen Aufgabe es sein sollte, das Bildungsthema stärker in der Programmarbeit des ÖRK zu verankern, die Bildungsangebote in den Mitgliedskirchen zu stärken und die Zusammenarbeit mit internationalen Bildungsorganisationen, wie der UNESCO, sowie mit der römisch-katholischen Kirche zu fördern.357 Ein weiteres Anliegen war es, den Zusammenschluss des ÖRK mit dem Weltrat für Christliche Erziehung vorzubereiten.358 Das Büro für Bildungsfragen war innerhalb der Abteilung für ökumenische Aktivität (DEA) unter der Leitung des deutschen Theologen Ernst Lange angesiedelt. Das Team des Bildungsbüros bestand aus dem US-amerikanischen Theologen William B. Kennedy, der als Exekutivsekretär für allgemeine Fragen christlicher Erziehung zuständig war, dem deutschen Theologen Werner

354 Vgl. Coombs, Weltbildungskrise. Auf die Bedeutung dieses Buches verwies auch Werner Simpfendörfer in den Erinnerungen an seine Zeit als Mitarbeiter im ÖRK: „[Das Buch offenbarte] die katastrophale Lage der Bildungsarbeit in der ganzen Welt, vor allem in den Entwicklungsländern. Keine Erweiterung des bisherigen Schulsystems, sondern radikale Erneuerung der Bildung wurde gefordert.“ (Werner Simpfendörfer, Erfahrungen der Genfer Jahre. 3 Sendungen im SDR, November 1975. Ordner VIII: Das Volk aus aller Welt Zungen, Nachlass Simpfendörfer, Hinterzarten.) 355 Vgl. Picht, Bildungskatastrophe. 356 Coombs, Weltbildungskrise, 22. Als Ursachen für die Disparität zwischen den Bildungssystemen und den Gesellschaften benannte Coombs das zunehmende Streben nach Bildung, den Mangel an Ressourcen und die Trägheit der Bildungssysteme, die nur langsam auf die neuen Anforderungen reagieren könnten, selbst wenn die Ressourcen ausreichten; vgl. Coombs, Weltbildungskrise, 18; Lange, Vorwort, 8 f. 357 Vgl. Bericht aus Uppsala, 389; Ökumenischer Rat der Kirchen, Zentralausschuss (1969), 259 f. 358 Der Weltrat für christliche Erziehung (WCCE) ging aus der weltweiten Sonntagsschulbewegung des späten 19. Jh. hervor und stellte eine der bedeutendsten Laienbewegungen für Bildungsarbeit im 20. Jh. dar. Der WCCE kooperierte eng mit dem ÖRK und wurde schließlich 1971 in den ÖRK integriert, wo das Büro für Bildungsfragen die Arbeit des Weltrates übernahm. Vgl. Kennedy, World Council. Zur Geschichte und Entwicklung der ökumenischen Bildung vgl. Becker, History.

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Simpfendörfer als Sekretär für theologische Bildung und Ausbildung sowie Paulo Freire als Sonderberater mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung.359 Unsicher ist, auf wessen Vorschlag hin Freire zur Mitarbeit nach Genf eingeladen wurde. Er selbst vermutete, dass „some Latin American progressive people“360, wie Leopoldo Niilus oder Oscar Bolioli, auf seine Berufung hingewirkt hätten. Im Februar 1969 – nur wenige Wochen nach der Wahl von Niilus zum Direktor der CCIA – erhielt Freire eine offizielle Einladung von Ernst Lange, ab September desselben Jahres im neu gegründeten Büro für Bildungsfragen den Bereich der „basic adult education“ aufzubauen.361 Dieser Brief überschnitt sich allerdings mit dem Angebot einer Gastprofessur an der Harvard-Universität. Freire entschied sich zunächst von April bis Dezember 1969 in Harvard zu lehren und informierte Lange darüber, dass er erst Anfang 1970 mit der Arbeit im Bildungsbüro beginnen könne. Nachdem Freire die Zustimmung des ÖRK erhalten hatte, auch ein halbes Jahr später als geplant nach Genf zu kommen, schrieb er an Ernst Lange einen zweiten Brief, in dem er sich vergewissern wollte, dass dieser über seine politische Grundhaltung informiert sei: „Sie müssen wissen, daß ich mich entschieden habe. Meine Sache, das ist die Sache der Armen auf dieser Erde. Sie müssen wissen, daß ich mich für Revolution entschieden habe.“362 359 Eine Anekdote über die Erstbegegnung von Ernst Lange und Paulo Freire ist wie folgt überliefert: „[…] [D]as nunmehr komplette ,Büro für Bildungsfragen‘ zog sich zu einer ProgrammKlausur auf eine Hütte im Südschwarzwald zurück, wo tiefer Schnee lag. Ernst Lange hatte versprochen, dazuzustoßen. Er wollte das endlich zustande gekommene Büro beim Entwurf seines Programms beraten. Vor allem wollte er den berühmten Kollegen aus Recife im Nordosten Brasiliens persönlich kennenlernen. In einem Dorfrestaurant begegneten sich die beiden zum ersten Mal. Es war ein bewegender Augenblick. Paulo Freire war wie verzaubert. ,This is a fantastic man!‘ raunte Freire seinen beiden Kollegen zu, als Ernst Lange für einen Augenblick den Raum verließ, ,we must get him on our staff!‘ Die beiden anderen klärten ihn auf: ,He is our boss, Paulo!‘ Von diesem Moment an ist die Freundschaft zwischen beiden besiegelt […].“ (Simpfendçrfer, Lange, 222 f.) Freire beschreibt diese Begebenheit fast identisch in einem Brief an Heinz-Jürgen Joppien: „I said to him [William Kennedy]: ,You should invite this extraordinary man to work with us. He is an excellent intellectual.‘ Fraternally, with a kind smile, Kennedy told me: ,Paulo, this man is our Director. He is Ernst Lange who invited you to come to the office.‘ It was not, probably, the first or the last time I did things like that…“ (Brief von Paulo Freire an Heinz-Jürgen Joppien (13. 1. 1992), Privatarchiv Ulrich Becker, Hannover.) 360 Brief von Paulo Freire an Heinz-Jürgen Joppien (13. 1. 1992), Privatarchiv Ulrich Becker, Hannover. 361 Ernst Lange war von Anbeginn an der Berufung Freires beteiligt. In einem Brief richtete Lange bereits im Januar 1969 an Christian Lalive d’Epinay, Leiter des chilenischen Bildungsinstituts ESCEAL, die Anfrage, ob dieser Freire für geeignet hielte, eine Tätigkeit beim ÖRK zu übernehmen; vgl. Brief von Lange an Lalive d’Epinay (9. 1. 1969), AÖRK 423.067. Der Briefwechsel zwischen Freire und Lange konnte dagegen im Archiv des ÖRK nicht ausfindig gemacht werden. Eine Aussage Freires weist auf den Verlust dieser Korrespondenz hin: „Unfortunately, I lost the copy of my letter as well as his answer in which he reconfirmed the invitation.“ (Brief von Paulo Freire an Heinz-Jürgen Joppien (13. 1. 1992), Privatarchiv Ulrich Becker, Hannover.) 362 Zit. n. Simpfendçrfer, Freire, 153. Dieses Zitat ist bei Simpfendörfer nicht belegt, wurde aber

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Es war wohl dieses Bekenntnis zur Revolution, das im Zentralausschuss des ÖRK im August 1969 für Unstimmigkeiten in Bezug auf die Berufung Freires sorgte: Wieder war es der Präsident der IECLB, Karl Gottschald, der sich als Mitglied im Exekutivausschuss, wie bereits ein halbes Jahr zuvor bei Leopoldo Niilus, gegen die Einstellung Freires aussprach und die Rücknahme seiner Berufung forderte.363 Doch der Ausschuss setzte sich über Gottschalds Einwand hinweg und berief Freire zum Sonderberater für Bildungsfragen.364 Obwohl Ernst Lange davor warnte, Freire durch die Bezeichnung „Sonderberater“ von der restlichen Arbeit des Büros für Bildungsfragen abzukoppeln, hatte Freire dennoch einen Sonderstatus im Mitarbeiterstab des ÖRK. Dieser zeigte sich erstens in der Finanzierung seiner Stelle: In den ersten vier Jahren wurde seine Tätigkeit durch den Haushalt des Bildungsbüros, d. h. aus Mitteln des ÖRK finanziert, doch schon 1974 schien die Fortsetzung von Freires Arbeit aufgrund von niedrigeren Beiträgen einiger Mitgliedskirchen und der Wertminderung des US-Dollars nicht mehr gesichert. Daher wandte sich der schwedische Missionsrat an das schwedische Entwicklungsministerium SIDA und beantragte, jährlich 170.000 CHF für Freires Arbeit zur Verfügung zu stellen, sowie 70.000 CHF für Projekt- und Forschungsarbeiten.365 Die Unterstützung durch SIDA ermöglichte es Freire bis zum Jahr 1980 als Sonderberater im ÖRK zu arbeiten.366 Seine Sonderrolle zeigte sich zweitens darin, dass Freire weitgehend unabhängig von der Arbeit im ÖRK agieren und eigene Schwerpunkte in seiner Arbeit setzen konnte. Der Hauptbestandteil seiner Tätigkeit waren Reisen in alle Teile der Welt. In unzähligen Seminaren und Workshops an Universitäten

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immer wieder zitiert: vgl. [Unbekannter Verfasser], 27; Brçking-Bortfeldt, Impulse, 27. An eine ähnliche, aber weniger revolutionäre Formulierung, erinnerte sich Freire später: „Thus, I spoke about the ,raison d‘Þtre‘ for my choice for the poor, the oppressed people and classes. I finished the letter saying to him that after reading my letter he could feel free for confirming the invitation he had made to me or not.“ (Brief von Paulo Freire an Heinz-Jürgen Joppien (13. 1. 1992), Privatarchiv Ulrich Becker, Hannover.) Vgl. Simpfendçrfer, Freire, 154. Das Motiv Karl Gottschalds, gegen die Einstellung von Freire Widerspruch einzulegen, ist bei Simpfendörfer nicht belegt. Auch in den Unterlagen des Exekutivausschusses sowie im Protokoll des Zentralausschusses finden sich hierzu keine Hinweise. Die Bezeichnung von Freires Tätigkeit im ÖRK als „Berater“ (consultant) hatte sich bereits sehr früh durchgesetzt, um der Kritik gegen die Einstellung eines römisch-katholischen Mitarbeiters seitens einiger Mitgliedskirchen vorzubeugen und um die Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche nicht unnötig zu belasten. Vgl. Brief von Ernst Lange an William Kennedy (15. 4. 1969), AÖRK 423.067. Brief des Schwedischen Missionsrats an die Swedish International Development Authority (SIDA) (28. 8. 1974), AÖRK (ohne Nummerierung). Eine Kopie des Dokuments befindet sich in den Unterlagen der Verfasserin. Über die Beweggründe von SIDA, Freire zu finanzieren, liegen keine gesicherten Daten vor. Eine Einschätzung des schwedischen Historikers Björn Ryman verweist darauf, dass SIDA in den 1970er und 1980er Jahren in Befreiungsbewegungen in Lateinamerika und Afrika über den ÖRK unterstützt hat (Korrespondenz mit der Verfasserin am 22. 9. 2009).

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und Kirchen konnte er daher seine Bildungstheorie international verbreiten und Anknüpfungsmöglichkeiten für europäische und nordamerikanische Bildungskonzepte diskutieren. Außerdem wurde er von verschiedenen Regierungen als Berater für die jeweilige nationale Bildungspolitik angefragt.367 Bis Ende 1974 reiste Freire hauptsächlich innerhalb Europas und nur vereinzelt nach Lateinamerika, Afrika, Asien, Australien / Ozeanien und Nordamerika.368 Ab 1975 war Afrika – insbesondere die seit 1974 unabhängig gewordenen portugiesischen Kolonien – das Hauptziel seiner Reisen, wo er Bildungsministerien in der Entwicklung von Alphabetisierungsprogrammen unterstützte. Bis 1980 reiste Freire insgesamt zehn Mal nach Guinea-Bissau und auf die kapverdischen Inseln sowie sieben Mal nach Sao Tom und Pr ncipe und nach Angola. Die Beurteilung des Erfolgs seiner Alphabetisierungsprogramme in diesen Ländern fällt im Rückblick allerdings ambivalent aus.369 Freire galt als äußerst eigenständiger und unabhängiger Mensch, der neben seinen Reisen nur wenig Interesse an der institutionellen Arbeit im ÖRK zu haben schien.370 Auch Werner Simpfendörfer kam in seinem Porträt über Freire zu diesem Ergebnis, legte die Tatsache allerdings positiv aus: „Nur einem verweigerte er sich prinzipiell und widerspenstig: der Lieblingsbeschäftigung der Bürokratie, die auch in Genf ins Kraut schoss – dem unaufhör367 Kontakte zu Regierungen bestanden mit Chile (1971–1972), Tansania (1971–1972), Indien (1973), Argentinien (1973), Portugal (1974), Guinea-Bissau (1975–1980), S¼o Tom (1975–1979), Costa Rica (1977), Nicaragua (1979), Grenada (1979–1980), Ecuador (1979); vgl. Report on the work of Paulo Freire: visits, meetings and contacts 1970–1980, AÖRK 992.1.1/02. 368 So bereiste Freire beispielsweise zwischen 1970 und 1974 die Kontinente in folgender Häufigkeit: Europa: 43, Lateinamerika / Karibik: 9, Nordamerika: 5, Afrika: 4, Asien: 1, Australien / Ozeanien: 3. Bis 1980 verachtfachten sich seine Besuche in Afrika; vgl. ebd. 369 Martin Stauffer belegt eindrücklich, dass zwischen Freires Theorie einer kritischen Bewusstseinsbildung und seiner Praxis als Leiter von Alphabetisierungsprogrammen große Widersprüche bestanden. Das Ergebnis von Stauffers umfassender Auseinandersetzung mit den Alphabetisierungskampagnen in Brasilien, Chile, Guinea-Bissau, Grenada, S¼o Tom und Pr ncipe, Mozambik, Angola und Nicaragua ist ernüchternd: „Weder in Brasilien noch in Guinea-Bissau, Grenada oder anderswo verrichtete Freire eigentliche Alphabetisierungsarbeit; vielmehr kaprizierte er sich auf Beratungstätigkeiten – vorzugsweise in Form von Fernbehandlungen, die durch Beurteilungen von Alphabetisierungsmaterialien, Vorträge, Besuche und Gespräche mit Projektbeteiligten angereichert wurden.“ (Stauffer, Pädagogik, 79–154; hier: 146 f.) Auch Freires Genfer Kollege Werner Simpfendörfer zog im Rückblick eine kritische Bilanz gegenüber Freires Alphabetisierungserfolg: „Auffallend ist, daß Paulo keine einzige Kontroverse erwähnt oder gar verarbeitet. […] [Weder] das Scheitern seiner Arbeit in Tansania und vor allem in Guinea-Bissau, der er ja ein besonderes Buch gewidmet hat, werden erwähnt oder der Versuch gemacht, sie selbstkritisch zu hinterfragen. Hier wirkt sich das totale Fehlen jeder Konflikt-Struktur aus: der große Narrator vermeidet sie.“ (Werner Simpfendörfer, Paulo Freire im Abendlicht (1994). Ordner III: Artikel, Referate, Predigten I, Nachlass Simpfendörfer, Hinterzarten.) 370 So die Einschätzung von Ulrich Becker (Zeitzeugengespräch am 28. 4. 2009), zu einer ähnlichen Bewertung kommt Björn Ryman (Korrespondenz mit der Verfasserin am 9. 10. 2009). Beide kritisierten die mangelnde Transparenz in Freires Tätigkeit als Sonderberater.

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lichen Karussell der Sitzungen, Koordinationsbesprechungen, Verwaltungsberatungen. Ihn davon abzuschirmen, ihm diese zu ersparen, das war eine unserer wichtigsten Aufgaben, um ihn für Wichtigeres frei zu halten.“371

An dieser apologetischen Einschätzung über die Bedeutung von Freires Tätigkeit für den ÖRK zeigte sich einmal mehr Freires Sonderstatus im Stab des ÖRK, der von seinen Kollegen mitgetragen oder sogar verteidigt wurde. Auch sein Kollege William Kennedy betonte, dass der ÖRK einen gewichtigen Anteil am internationalen Renommee Freires hatte: „The World Council of Churches […] has provided him with a good base for his activity, a team of colleagues with whom he works well, basic support which frees him to choose engagements without consideration of fees, and contacts with numerous frontier and liberation movements around the world.“372

Doch nicht nur Freire hat von der Arbeit persönlich profitiert, sondern auch der ÖRK selbst, wie William Kennedy unterstrich – „internally in its programmes and in the access he has brought to the world of education“373. Der ÖRK, so lässt sich zusammenfassen, bot Freire eine Plattform, um international wirken zu können und stellte ihn damit von anderen Verpflichtungen weitgehend frei. Rückblickend erklärte Freire, dass seine Entscheidung, nicht länger in Harvard als Professor zu arbeiten, sondern ins Exil nach Genf zu gehen, richtig gewesen war. Denn: „Der ÖRK bot mir eine weltweit wirkende Stelle an, nicht die Sphäre einer Universität, sondern der ganzen Welt.“374 Exilerfahrung Auf seine Exilzeit in Genf nahm Freire in seinen späteren Schriften immer positiv Bezug.375 Sie war „eine der besten [Zeiten], die ich in meinem Leben hatte, trotz der Entfernung von meinem Land, meinen Wurzeln, meinem Volk“376. Diese positive Interpretation seines Exils lag in der Freiheit begründet, sich den eigenen Themen uneingeschränkt zu widmen zu können, aber auch darin, „ohne Angst zu leben“377. Dennoch gab Freire zu erkennen, dass es für ihn eine große Herausforderung war, die Spannung zwischen der Heimat und dem Exilort auszuhalten: 371 Simpfendçrfer, Freire, 156. 372 William Kennedy, zit. n. einem Brief des Schwedischen Missionsrats an die Swedish International Development Authority (SIDA) (28. 8. 1974), AÖRK (ohne Nummerierung). 373 Ebd. 374 Freire, Lernen, 121. 375 Zu Freires Reflexion über das Exil geben folgende Schriften Auskunft: Freire, Lehrer, 205–232; Freire, Schule, 59–65; Freire, Lernen, 117–135. An diesem Beispiel lässt sich auch Stauffers Kritik gut verdeutlichen, Freire habe seine Gedanken und Texte immer wieder veröffentlicht, wobei der Erkenntnisgewinn gleich geblieben sei; vgl. Stauffer, Pädagogik, 156. 376 Freire, Lehrer, 218. 377 Ebd.

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„Exilanten müssen lernen mit dieser Spannung zurechtzukommen, ohne einerseits ihre ursprüngliche Herkunft zu verleugnen […] und andererseits ohne ihre geborgte Umgebung zurückzuweisen. Wenn sie sich so verhalten können, dann wird ihre Zeit des Wartens im Exil, des aktiven Wartens, für sie eine Zeit der Hoffnung werden.“378

Als Zeit „des aktiven Wartens“ ist nicht nur Freires Tätigkeit als Sonderberater des ÖRK zu verstehen, sondern auch die Aktivitäten des IDAC (Instituto de Ażo Cultural), ein Forschungs- und Aktionszentrum für Fragen von Erziehung und Bildung, das er 1972 gemeinsam mit einer Gruppe von Exil-Brasilianern in Genf ins Leben rief und zu dessen Präsident er gewählt wurde. Das IDAC bot Freire zum einen die Möglichkeit, sich mit anderen brasilianischen Exilanten über die Erfahrungen im Exil auszutauschen, zum anderen ergaben sich vielfältige Kooperationsmöglichkeiten mit seiner Tätigkeit im ÖRK, u. a. bei der Durchführung der Alphabetisierungskampagne in Guinea-Bissau.379 Das Genfer Exil entwickelte sich für Freire immer mehr zum ökumenischen Exil, da sein Wirkungsradius nicht auf den Bereich der Schweiz begrenzt blieb, sondern durch seine Reisen die „ganze bewohnte Erde“ (oikoumene) umfasste. Außerdem war Freire der erste römisch-katholische Mitarbeiter im Stab des ÖRK – auch dies ein bedeutendes ökumenisches Signal in Zeiten der Annäherung zwischen ÖRK und der römisch-katholischen Kirche.380 8.2.3 Freires befreiungspädagogische Impulse für den ÖRK Im gleichen Jahr, in dem Freire nach Genf kam, erschien sein Buch „Pädagogik der Unterdrückten“ in der Originalausgabe. Es wurde in den folgenden Jahren in 17 Sprachen übersetzt und erhielt rasch den Status eines pädagogischen Kultbuches.381 Die deutsche Ausgabe, die 1971 erschien, verweist eindeutig auf Freires Arbeitszusammenhang im ÖRK: Ernst Lange, der Leiter der Abteilung für ökumenische Aktivität und Freund Freires, verfasste ein ausführliches Vorwort und Werner Simpfendörfer, sein Kollege im Bildungsbüro bis 1972, übertrug die Schrift ins Deutsche. Insbesondere das Vorwort von Lange trug zum Bekanntwerden von Freires Schrift in Deutschland bei, da dieses die 378 Freire, Lernen, 119. 379 Die Zusammensetzung und inhaltliche Ausrichtung des IDAC ist nicht schlüssig dokumentiert. Vgl. Stauffer, Pädagogik, 162, Fn. 11. Neben den Alphabetisierungskampagnen in Guinea-Bissau, war das IDAC offensichtlich an der Arbeiterbildung im Rahmen der Gewerkschaftsbildung in Italien zwischen 1972 und 1974 beteiligt, an feministischer Bildungsarbeit in der Schweiz sowie an Versuchen zur Neustrukturierung von Schulen; vgl. Freire u. a. (Hg.), Vivendo e aprendendo. ExperiÞncias do IDAC em educażo popular (S¼o Paulo: Livraria Brasiliense, 1980), zit. n. Freire, Lehrer, 207. 380 Vgl. Zur Anwendung des Begriffs „ökumenisches Exil“ auf die ökumenische Lernerfahrung Freires vgl. meine Ausführungen in: Str mpfel, Lernen, 44–47. 381 Vgl. Stauffer, Pädagogik, 235.

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wesentlichen Aussagen Freires zusammenfasste und kontextualisierte. Doch obwohl zwei Theologen an der Übersetzung des Werks und an der Einleitung in die Gedanken Freires beteiligt waren, wurde Freire erst spät und selten in der Theologie systematisch rezipiert. Dabei ist auch festzustellen, dass die Impulse, die Freire der Theologie gegeben zu haben schien, mit den Einsichten von Ernst Lange verwechselt wurden.382 Bildung als Praxis der Freiheit Ausgelöst durch seine Alphabetisierungskampagnen in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas kam Freire zur Hauptthese der „Pädagogik der Unterdrückten“: Nicht die Bildungsunfähigkeit der Menschen, sondern autoritative Herrschaftsverhältnisse seien für den weit verbreiteten Analphabetismus von Menschen verantwortlich. Es habe sich eine „Kultur des Schweigens“383 ausgebildet, die die Abhängigkeit der „Unterdrückten“ von den „Unterdrückern“ nähre und durchbrochen werden müsse. Die zentrale Frage für Freire lautete: „Wie können die Unterdrückten als gespaltene, unechte Wesen an der Entwicklung einer Pädagogik ihrer Befreiung mitwirken?“384 Bereits an dieser Fragestellung wird die Grundlage deutlich, von der Freire in seinem pädagogischen Ansatz ausging: die Einteilung der Menschen in Unterdrücker und Unterdrückte, Opfer und Täter, Subjekt und Objekt, etc. Diese Dichotomien voraussetzend entwickelte Freire die Vision einer befreienden Bildung, in der sich Menschen aus der Passivität befreien und zu Subjekten ihres eigenen Handelns werden. Der befreiende Bildungsprozess war nach Freire – im Gegensatz zur domestizierenden Bildung – mit der Aktivität des Lernenden verbunden und begann mit der Reflexion, d. h. einem vorher gewonnenen Bewusstsein über die eigene Lebens- und Lernsituation. Für diesen Prozess prägte Freire den Begriff conscientizażo und verstand darunter „den Lernvorgang, der nötig ist, um soziale, politische und wirtschaftliche Widersprüche zu begreifen und um Maßnahmen gegen die unterdrückerischen Verhältnisse der Wirklichkeit zu ergreifen“385. Indem Menschen mit diesem, zunächst inneren, Befreiungsprozess beginnen würden, hörten sie auf, die Welt als gegeben und statisch zu betrachten, sondern würden in ihr eine veränderbare und dynamische Welt erkennen.386 Auf diese 382 Vgl. Brçking-Bortfeldt, Impulse, 35–38. Unter der Überschrift „Paulo Freires Einfluss auf das religionspädagogische Konzept des ökumenischen Lernens“ findet sich kein einziges direktes Zitat von Freire, sondern der Autor rekurriert ausschließlich auf die Einleitung von Ernst Lange. Es stellt sich die Frage, ob an dieser Stelle tatsächlich von „Paulo Freires Einfluss“ die Rede sein kann oder ob es sich nicht vielmehr um eine sich selbstständig entwickelnde Denkleistung Ernst Langes im Anschluss an Freire handelt. 383 Lange, Einführung, 10. 384 Freire, Pädagogik, 36. 385 Ebd., 25. 386 Freire, The Political „Literacy Process“, 11, AÖRK 992.1.1/08. Die deutsche Übersetzung

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Weise könne es Freire zufolge den Menschen gelingen, ihr kritisches Bewusstsein zu schärfen und das „politische Analphabetentum“387 zu überwinden. Nach Freires Selbsteinschätzung lag in dieser befreienden Bildungspraxis auch der Beitrag, den er für die Arbeit im ÖRK leistete: „[E]very time I have time and space to act as an educator my main preoccupation is to develop, in different ways, critical consciousness. This is how I see this question and maybe it is the result of my four years of work at the World Council.“388

Vergleicht man diese Aussage mit dem vehement vertretenen Bekenntnis zur Revolution vor Antritt seiner Tätigkeit beim ÖRK, so lässt sich feststellen, dass Freire weit weniger radikal gewesen ist, als er anfänglich suggerierte. Es ist vor allem Ernst Lange zu verdanken, dass er Freires befreiungspädagogischen Impuls aufgenommen und in den deutschen – und damit europäischen – Kontext eingeführt hat. Durch sein Vorwort zu Freires „Pädagogik der Unterdrückten“ verschaffte er den Lesern nicht nur einen hermeneutischen Zugang zu Freires Werk, sondern systematisierte Begriffe, die in Freires Werk sonst eher indifferent erscheinen. Dies lässt sich besonders gut am Begriff „Revolution“ verdeutlichen, den Freire mit „Liebe“ und „Vermenschlichung“ beschreibt.389 Lange interpretierte die revolutionäre Veränderung im Anschluss an Freire als Konsequenz des Lernens und spezifizierte sie als „die immer neue Umwälzung, der immer neue Auszug aus dem Status quo“390.

Ökumenisches Lernen: Die Wechselwirkungen zwischen Freires Bildungskonzept und dem ÖRK Es wäre zu kurz gegriffen, den Wandel in der Bildungsarbeit des ÖRK allein mit der Mitarbeit von Freire im Stab des ÖRK begründen zu wollen. Freire revolutionierte nicht die Bildungsarbeit des ÖRK, sondern kam zu einem Zeitpunkt in den Stab des ÖRK, in der sich ein ökumenischer Bildungsbegriff herauszubilden begann, in den sich sein Konzept einer befreienden Bildungspraxis problemlos einfügte. Diese Gleichzeitigkeit lässt sich beispielsweise an der ersten internationalen Tagung des Büros für Bildungsfragen verdeutlichen, die unter dem Thema „Die Weltbildungskrise und der Beitrag der Kirche zu ihrer Überwindung“ im Mai 1970 in Bergen / Holland statt-

387 388 389 390

verzichtet leider auf die in diesem Kontext wichtigen Wörter „static“ und „dynamic“, vgl. Freire, Alphabetisierung, 41. Freire, Alphabetisierung, 38. Transcript of Paulo Freire’s speech to the Consultation at Cartigny, 28. 10. 1974, 4, AÖRK 992.1.1/14. Vgl. Freire, Pädagogik, 73. Lange, Einführung, 23.

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fand.391 Der Titel „Bildung – ganz!“ wies auf den Ansatz und Anspruch der Tagung hin, Bildung als einen den Menschen in all seinen Lebensbezügen betreffenden Lernprozess zu verstehen, der nicht nur auf das Lernen in der Schule reduziert werden dürfe. Ernst Lange, der gemeinsam mit den Mitarbeitern des Bildungsbüros die Tagung vorbereitet hatte, entwickelte in seinem Vorwort zur Tagungsdokumentation Kriterien, die er als entscheidend für den ganzheitlichen Bildungsbegriff ansah, und wies dabei auf die Bedeutung von Freires „Erziehung als ,Praxis der Freiheit‘, als Einübung der Selbstbestimmung, als ,Schule der Emanzipation‘“392 für die Diskussionen hin. In den folgenden Jahren arbeitete das Büro für Bildungsfragen an diesem ganzheitlichen Zugang zum Thema Bildung weiter, das Ende der 1970er Jahre unter dem Namen „ökumenisches Lernen“ bekannt wurde.393 Doch auch der Kontext des ÖRK und die Zusammenarbeit mit Kollegen verschiedener konfessioneller und kultureller Hintergründe hinterließ Spuren in Freires Nachdenken über Bildungs- und Lernprozesse. Dabei erweiterte sich sein eigenes Verständnis von Ökumene, von der er vorher befürchtet hatte, sie sei „eine Art Allianz zur Erhaltung des Status quo […], eine Allianz zwischen Katholiken und Protestanten um die Welt ruhig zu halten“394. Er begann Ökumene zu verstehen als „Suche nach der Einheit in der Vielfalt der Menschen und Völker, die vermittelt werden müssen durch die Welt“395 und die Andersdenkende einschließe. Im Laufe seiner Mitarbeit im ÖRK stieß er dabei zunehmend auf die Frage nach der theologischen Relevanz seiner Bildungspädagogik bzw. deren Anschlussfähigkeit an die Theologie. Der ÖRK strahlte für ihn eine authentische Lernatmosphäre aus, in der er einen Prozess politischer Alphabetisierung initiieren konnte.396 Dies bedeutete, dass Freire auch die Kirche als Erprobungsfeld seiner befreienden Erziehung wahrnahm und dadurch Ansätze für eine ökumenische Ekklesiologie in befreiungstheologischer Perspektive entwickelte. Dabei übertrug Freire seine Grund391 Mit dieser Tagung leistete das Bildungsbüro zugleich einen Beitrag zum 1970 von der UNESCO ausgerufenen Internationalen Bildungsjahr. Bereits 1967 forderte der UNESCO-Bildungsexperte Philip Coombs die Ausrufung eines solchen internationalen Bildungsjahres; vgl. Coombs, Weltbildungskrise, 203. 392 Ökumenischer Rat der Kirchen, Bildung, 11. Lange verwies allerdings auch auf die Probleme dieses Ansatzes: das Problem der Kleinkinder, die immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern stünden, das Problem der Umerziehung der Eltern, die Frage nach der Finanzierung einer „Schule der Emanzipation“ sowie die Spannung zwischen Emanzipation und notwendiger Spezialisierung. Mit dieser problemorientierten Perspektive ging Lange weit über Freire hinaus; dieser hatte sich nie kritisch mit den Grenzen des Konzeptes der conscientizażo auseinandergesetzt. 393 Vgl. Becker, History, 4 f. Für eine umfassendere Darstellung der Dokumentation „Bildungganz!“ als Vorläufer des ökumenischen Lernens und dem Einfluss Paulo Freires vgl. Str mpfel, Lernen. Zum Konzept des ökumenischen Lernens vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Lernen; Asmus, Lernen. 394 Freire, Erziehung, 111. 395 Ebd., 112. 396 Vgl. Brçking-Bortfeldt, Ökumene, 121.

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annahme, Erziehung könne nie neutral sein, nicht nur auf die kirchliche Bildungsarbeit, sondern auf das Wesen der Kirche an sich. Wer den Standpunkt der Neutralität verteidige, der nehme „einen politischen Standpunkt ein, der zwangsläufig die Machteliten gegen die Massen begünstigt“397, schrieb er 1974 in einem Aufsatz über den Zusammenhang zwischen der befreienden Bildungspraxis und der Praxis der Kirche. Freire forderte, dass die Kirche eine „utopische“, d. h. prophetische Haltung einnehmen müsse, indem sie enthumanisierende Strukturen verwerfe und für Menschen eintrete, „denen keine echte Chance gegeben ist, in Freiheit zu sprechen und zu leben“398. Er forderte, dass die Kirche sich nicht damit zufrieden geben dürfe, eine bloße Zuflucht für Unterdrückte zu sein, sondern dass sie zur Befreiung aus den Strukturen der Abhängigkeiten beitragen müsse.399 Den wenigen Aussagen, die Freire über die Ökumene und ökumenische Bewegung gemacht hat, ist zu entnehmen, dass er in ihr genau das Potential einer solchen utopischen Lerngemeinschaft sah, die seiner Bildungstheorie zugrunde lag. Insofern wäre es zu kurz gegriffen, Freires Einfluss auf die Ökumene darauf zu beschränken, dass er das „Menschenrecht auf Bildung“ als zentrales ökumenisches Handlungs- und ethisches Wertkriterium in die ökumenische Bewegung eingeführt habe, wie der Religionspädagoge Martin Bröking-Bortfeld hervorhob.400 Mit seinem Bildungsbegriff, der Neutralität ablehnte, appellierte Freire vielmehr an die prophetische Haltung der Kirchen – und damit auch an die Haltung des ÖRK – und forderte sie zur entschiedenen Parteinahme für Unterdrückte und Ausgegrenzte auf. Dieser Impuls einer theologischen Interpretation der conscientizażo wurde insbesondere auch von den lateinamerikanischen Kollegen im ÖRK aufgenommen und weiterentwickelt.401 Die Mitarbeit von Freire im ÖRK kann daher nicht nur einseitig als Integration des befreiungspädagogischen Ansatzes in die Arbeit des ÖRK gesehen werden, sondern muss vielmehr als Prozess von Wechselwirkungen verstanden werden, im Zuge dessen sich Freire auf die ökumenische Wirklichkeit des ÖRK eingelassen hat und die ihn dazu brachte, sowohl sein eigenes Verständnis von Ökumene zu erweitern als auch die theologischen Anknüpfungsmöglichkeiten des Konzeptes der conscientizażo auszuarbeiten.

397 398 399 400 401

Freire, Nachworts, 113. Freire, Zeugnis, 80. Vgl. ebd., 84. Vgl. Brçking-Bortfeldt, Impulse, 30. Vgl. Castro, Revolution, 54 f. Als Beispiel einer allgemeineren Rezeption von Freires Bildungskonzept im ÖRK kann die Studie zu „Herrschaft und Abhängigkeit“ angeführt werden; vgl. CCPD, Chains, 53–55. Vgl. ausführlich unten S. 222–226.

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8.2.4 Zusammenfassung Ohne Zweifel zählte Paulo Freire – damals wie heute – zu den weltweit prominentesten Mitarbeitern im Stab des ÖRK. Vor der Hintergrund der Analyse seiner ökumenischen Tätigkeit lassen sich Rückschlüsse auf Ausrichtung des ÖRK Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre ziehen. So kam erstens mit Freire ein Experte aus der Dritten Welt in den Stab des ÖRK, der seit den frühen 1960er Jahren eine weltweit anerkannte Persönlichkeit in Bezug auf Alphabetisierungskampagnen war. Bereits seit der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 setzte der ÖRK zunehmend auf Expertenwissen aus der Dritten Welt und versuchte darüber die ökumenisch-theologische Arbeit mit Erkenntnissen aus Soziologie, Ökonomie und Politik zu ergänzen.402 Die Berufung Freires in den Stab des ÖRK passt in diese Linie, wobei die Pädagogik bzw. ökumenische Bildung als eigenständiges Arbeitsfeld neu wahrgenommen wurde. Zweitens war Freire der erste römisch-katholische Mitarbeiter im ÖRK auf der Ebene der Programmreferenten. Dieser Tatsache kam insofern eine besondere Bedeutung zu, als sich Ende der 1960er Jahre die Zusammenarbeit zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem ÖRK intensivierte. Mit der Einstellung Freires signalisierte der ÖRK auch gegenüber der römischkatholischen Kirche eine große Offenheit, auch wenn Freire in seiner Arbeit nie explizit als deren Vertreter auftrat, sondern sich ausschließlich mit seiner pädagogischen Expertise in die ökumenische Arbeit einbrachte. Drittens gewährte der ÖRK Freire einen Sonderstatus, der nur wenigen Stabsmitgliedern zukam. Wie kaum ein anderer Mitarbeiter erhielt Freire viele Freiräume, was sich vor allem in der sehr eigenständig organisierten Tätigkeit als Sonderberater, seiner hohen Reisetätigkeit und den geringen Verpflichtungen in Bezug auf die ökumenische Gremienarbeit widerspiegelte. Von dieser Situation profitierten beide Seiten: Der ÖRK konnte durch Freires zahlreichen Reisen Kontakte in den Regionen aufbauen, zu denen er bislang keinen oder nur wenige Kontakte hatte, etwa in Westafrika. Freire wiederum nutzte den ÖRK als Plattform, um seine befreiungspädagogischen Ideen weltweit zu verbreiten. Dies tat er freilich nicht uneigennützig, denn es ging Freire oft wohl mehr darum, seinen eigenen Bekanntheitsgrad zu erweitern, als sich als Vertreter des ÖRK verstanden zu wissen. Viertens kam mit Paulo Freire der erste Lateinamerikaner in den Stab des ÖRK, der eine dezidiert befreiungspädagogische Perspektive in die internationale ökumenische Arbeit eintrug. Damit beförderte er die schrittweise Integration befreiungstheologischer Impulse in die Arbeit des ÖRK, die sich als ökumenische Grundhaltung bis Mitte der 1970er Jahre durchsetzte. 402 Vgl. oben S. 132–159.

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Im Blick auf Freires Beitrag für die ökumenische Bildungsarbeit bleibt schließlich kritisch festzuhalten, dass er diese nur ansatzweise selbst reflektierte. Stattdessen übernahm Ernst Lange an vielen Stellen die Übersetzungsfunktion der Freire’schen Befreiungspädagogik und schuf zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für die theologische Bildungsarbeit des ÖRK und das ökumenische Lernen. 8.3 Julio de Santa Ana: Von der Entwicklung zur Befreiung Julio de Santa Ana gehört zu den protestantischen Befreiungstheologen aus Lateinamerika, die den ÖRK nachhaltig in seiner Arbeit geprägt haben. Als Studienkoordinator der Commission of the Churches’ Participation in Development (CCPD)403 und als deren späterer Direktor trug Santa Ana viele Impulse aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie in die ökumenische Arbeit ein – insbesondere die ökumenische „Option für die Armen“. Da sein Leben und Werk bislang wenig rezipiert wurde404, liefert die folgende Darstellung – ohne den Anspruch erheben zu wollen, mit dem vorliegenden Kapitel eine umfassende Biographie oder erschöpfende Interpretation seiner Theologie vorzulegen – einen kurzen biographischen Überblick über seine Person, die Hintergründe für seine Mitarbeit im ÖRK sowie exemplarisch eine inhaltliche Skizze seiner Studienarbeit in Genf. Für die Analyse spielt, wie bereits bei Leopoldo Niilus und bei Paulo Freire, die Frage nach dem ökumenischen Exil ebenso eine Rolle wie die Frage, in welcher Weise Santa Ana in seiner Tätigkeit als Studienkoordinator befreiungstheologische Perspektiven in die internationale ökumenische Diskussion eingebracht hat. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Studie zu „Herrschaft und Abhängigkeit“ untersucht, die in Vorbereitung auf die 5. Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 entstanden ist.

403 Der englische Name der Kommission spiegelt m. E. das Anliegen und den Auftrag der Kommission besser wider als die deutsche Übersetzung „Kommission für Kirchlichen Entwicklungsdienst“, so dass im Folgenden die englische Bezeichnung verwendet wird. Diese Ansicht vertritt auch Margot Käßmann; vgl. K ssmann, Vision, 132, Fußnote 51. 404 Der Verfasserin sind keine einschlägigen wissenschaftlichen Abhandlungen über Santa Anas Biographie oder Werk bekannt. Im deutschsprachigen Raum fand Santa Ana v. a. im Zusammenhang mit der ökumenischen Entwicklungsdiskussion Erwähnung: vgl. K ssmann, Vision, 175–217; Zaugg-Ott, Entwicklung, 214–230. Eine Biographie über Santa Ana, die sowohl die politischen Umstände in Lateinamerika / Uruguay als auch die theologischen Reflektionen Santa Anas thematisiert und ihn als sozialistisch-marxistischen Theologen der Dritten Welt vorstellt, wäre ein äußerst lohnenswertes Unterfangen. Dabei müsste nicht nur seine Mitarbeit im ÖRK, sondern auch seine Rolle in der CFK beleuchtet werden.

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8.3.1 Biographischer Hintergrund Julio de Santa Ana wurde am 2. Juli 1934 in Montevideo / Uruguay geboren und wuchs dort auf. Durch seine Eltern kam Santa Ana bereits früh mit gesellschaftspolitischen Fragen in Berührung: Seine Mutter arbeitete als Grundschullehrerin; sein Vater war in der Fleischindustrie und später als Kaufmann tätig und aktives Mitglied in verschiedenen Gewerkschaften.405 Nach der Schule studierte Santa Ana von 1952 bis 1956 Theologie in Buenos Aires und arbeitete im Rahmen des Studiums von 1954 bis 1955 als Vikar der methodistischen Kirche von Montevideo. Währenddessen studierte er außerdem Philosophie an der Universität Montevideo. Nach dem Studium arbeitete Santa Ana als Lehrer und unterrichtete drei Jahre an einem Gymnasium in Montevideo sowie an dem Technischen Institut des südamerikanischen Verbands des CVJM.406 Seine Entscheidung, nach dem Studium nicht als Pastor, sondern als Lehrer zu arbeiten, lag darin begründet, dass er die Kirchen in zu starker Abhängigkeit zu den USA sah. Er vermisste das Eintreten der Kirche für die Anliegen der Armen und kritisierte ihre „antiperonistische“ Haltung: „Peron und vor allem seine Frau Evita wurden von den Armen unterstützt, weil sie ihre Rechte anerkannten und ihren Status in der Gesellschaft erhöht hatten. […] Die meisten protestantischen Kirchen in Argentinien und den Nachbarstaaten waren mit den USA verbunden und hatten eine stark antiperonistische Einstellung. Ich hatte aber erkannt, daß wir wahrnehmen mußten, daß die Armen auf der Seite von Peron standen.“407

Im Jahr 1958 heiratete Santa Ana Violaine, mit der er gemeinsam 3 Kinder hatte. Ein Stipendium des ÖRK ermöglichte ihm von 1960 bis 1962 ein weiterführendes Studium in Sozialwissenschaften in Straßburg, wo er außerdem promovierte.408 Nach seiner Rückkehr aus Straßburg nahm Santa Ana seine Lehrertätigkeit für kurze Zeit wieder auf, wurde aber schon im Januar 1963 zum Direktor des christlichen Studienzentrums Centro de Estudios Cristianos del R o de la Plata 405 Vgl. die Aussage von Julio de Santa Ana in der Korrespondenz mit der Verfasserin am 1. 7. 2013. 406 Curriculum Vitae of Julio de Santa Ana, AÖRK 428.12.02.2. 407 Santa Ana, Armen, 502. Juan Domingo Per n gilt in der Geschichtsschreibung als ein ambivalenter Politiker, dessen politische Haltung von Sympathien mit faschistischen Strömungen bis zur Unterstützung von linken Gewerkschaften reichte. In seiner ersten Präsidentschaftszeit von 1946–1951 / 1951–1955 verfolgte Per n eine ausgeprägte nationalistische Politik, in der er sich jedoch stark für soziale Belange der Arbeiterklasse einsetzte und die Industrialisierung des Landes vorantrieb. Vgl. Waldmann, Peronismus; Prutsch, Populismen. 408 Das Thema seiner Dissertation lautete: „The Notion of Historical Crisis and Change of Religious Faiths in the Thought of Ortega y Gasset“; vgl. Curriculum Vitae of Julio de Santa Ana, AÖRK 428.12.02.2.

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in Montevideo berufen. Dieses Studienzentrum der Kirchen in Uruguay und Argentinien war das erste seiner Art in Lateinamerika409 und führte verschiedene Studienarbeiten zur Rolle der Kirchen in der Gesellschaft sowie zahlreiche Seminare durch.410 Außerdem unterhielt es enge Kontakte zum Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf. Für Santa Ana boten sich durch die Leitung des Studienzentrums vielfältige Möglichkeiten internationaler Begegnung und des ökumenischen Austauschs. Die Arbeit im Studienzentrum war aufs Engste mit der Arbeit der ökumenischen Bewegung ISAL verknüpft, an der Santa Ana seit Anfang an partizipierte, zunächst von 1963 bis 1966 als Herausgeber der Zeitschrift Cristianismo y Sociedad, in der er selbst viel publizierte, und ab Januar 1968 als Vizepräsident von ISAL, wo er für die Abteilung Dokumentation und Information zuständig war. 1969 wurde Santa Ana schließlich als Nachfolger von Leopoldo Niilus zum Generalsekretär von ISAL ernannt.411 Theologisch beschäftigte ihn in den 1960er Jahren vorrangig die Frage nach der Beteiligung der Kirchen am revolutionären Prozess der lateinamerikanischen Gesellschaft sowie der christlich-marxistische Dialog.412 In diesem Zusammenhang ist auch seine Mitgliedschaft in der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) hervorzuheben, als deren Internationaler Sekretär er 1964 berufen wurde. Nach der Zerschlagung des Prager Frühlings im August 1968 trat er jedoch von diesem Amt zurück und beendete die Zusammenarbeit mit der CFK.413 Die zunehmend repressive Politik der Militärregierung in Uruguay Anfang der 1970er Jahre erschwerten die kirchliche und politische Arbeit von ISAL und zwangen Santa Ana dazu, 1972 ins Exil nach Genf zu fliehen. Nach seiner Rückkehr nach Lateinamerika im Jahr 1983 arbeitete er zehn Jahre als stellvertretender Direktor am Ökumenischen Zentrum für Evangelisation und Volksbildung in S¼o Paulo / Brasilien. 1994 kehrte er als Berater des ÖRK nach Genf zurück und lehrte als Professor am Ökumenischen Institut in Bossey. Heute lebt Santa Ana im Ruhestand mit seiner Frau Violaine in Genf. 8.3.2 Auf dem Weg ins ökumenische Exil Zehn Jahre lebte Julio de Santa Ana im Exil in Genf – eine Zeit, die ihn nicht nur persönlich geprägt hat, sondern in der er an Themen, die ihm im lateiname409 410 411 412 413

Vgl. Minutes of the Latin American Working Party (8. 10. 1963), 3, AÖRK 42.55.09. Vgl. Curriculum Vitae of Julio de Santa Ana, AÖRK 428.12.02.2. Vgl. ebd. Vgl. u. a. Santa Ana, Wurzeln; Santa Ana, Präsenz. So Julio de Santa Ana im Zeitzeugengespräch mit der Verfasserin (5. 3. 2010). Diese Selbstaussage steht den nicht ausreichend belegten Notizen von Armin Boyens und Gerhard Lindemann entgegen, dass Santa Ana von 1968–1971 stellvertretender Vorsitzender des Fortsetzungsausschusses des Internationalen Sekretariats der CFK gewesen sei; vgl. Boyens, Rat, 268; Lindemann, Sauerteig, 770 und 779.

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rikanischen Kontext wichtig geworden waren, weiterarbeiten und Aspekte seiner Arbeit bei ISAL in die internationale Diskussion einbringen konnte. Im Folgenden werden die Hintergründe beleuchtet, die Santa Ana ins Exil getrieben haben, sowie die Auswirkungen des Exils auf seine Person untersucht. Die Flucht ins Exil als Folge von Repressionen in Uruguay Die schleichende Machtübernahme durch die Militärregierung von Juan Mar a Bordaberry erschwerte die politische Arbeit von zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie Kirchen und Gewerkschaften in Uruguay deutlich. Verhöre und kürzere Inhaftierungen waren Mittel der nationalen Sicherheitskräfte, um autonome politische Organisationen zu schwächen und einzuschüchtern. Für Santa Ana spitzte sich die Lage im März 1972 zu, als durch einen Bombenanschlag sein Haus stark zerstört wurde. Unter ständiger Beobachtung stehend wurde er wenige Monate später am Morgen des 28. August 1972 von den Fuerzas Conjuntas414 verhaftet, gefangen genommen und gefoltert, kam aber nach kurzer Zeit auf nationalen und internationalen Druck hin wieder frei.415 Aufgrund der unsicheren Situation und der ständigen Bedrohung jederzeit wieder – und dann für längere Zeit – verhaftet zu werden, floh Santa Ana gemeinsam mit seiner Frau am 8. Oktober 1972 ins Exil nach Genf. Santa Ana hatte bereits mehrmals zuvor Angebote erhalten, im Stab des ÖRK mitzuarbeiten, die er aber aufgrund der Verpflichtungen in Uruguay abgelehnt hatte. Nach seiner Inhaftierung bot ihm der ÖRK Anfang September 1972 sofort mehrere Tätigkeitsfelder an: im Antirassismusprogramm, im Bildungsbüro und im Bereich des kirchlichen Entwicklungsdienstes (CCPD). Santa Ana entschied sich für die Stelle bei der CCPD, da er dort glaubte seine Fähigkeiten am Besten einbringen zu können, auch wenn er hoffte, bald nach Lateinamerika zurückkehren zu können.416 Der ÖRK hatte die zunehmende Repression der uruguayischen Regierung aufmerksam verfolgt, auch wenn er sich bis Oktober 1972 nicht öffentlich zu den Menschenrechtsverletzungen geäußert hatte. Denn im Genfer Stab befürchtete man durch eine unmittelbare Intervention die Situation der uruguayischen Kirchen und von Einzelpersonen zu verschlechtern. Die Strategie des ÖRK war es, sich nicht selbst aus Genf an die Behörden in Uruguay zu wenden, sondern die Sorge um die Verletzung von Menschenrechten durch kleinere ökumenische Delegationen zum Ausdruck zu bringen. Im Juni 1972 waren daher drei US-amerikanische Kirchenvertreter, William P. Thompson, Thomas J. Liggett und Eugene L. Stockwell, im Auftrag des ÖRK nach Uruguay 414 Die Fuerzas Conjuntas (Vereinigte Kräfte) waren eine übergeordnete militärische Einheit, die das uruguayische Militär und die Polizei umfasste. 415 Vgl. Memorandum von Dwain Epps an Blake (4. 9. 1972), AÖRK 42.3.072/2; Santa Ana, Armen, 503. 416 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Julio de Santa Ana (23. 3. 2010).

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gereist, um sich über die Menschenrechtsverletzungen zu informieren und der protestantischen Gemeinschaft in Uruguay die Solidarität des ÖRK zu übermitteln. Gegenüber der uruguayischen Regierung forderte die Delegation insbesondere die Wiedereinführung der seit April 1972 ausgesetzten persönlichen Freiheits- und Bürgerrechte und die damit einhergehende Gewährung von Menschenrechten.417 Mit der Verhaftung und Freilassung von Julio de Santa Ana Ende August 1972 wurde für den ÖRK jedoch die Notwendigkeit deutlich, sich auch offiziell zu den Menschenrechtsverletzungen in Uruguay zu äußern. Allerdings – so geht aus einer internen Korrespondenz hervor – befürchteten die Mitarbeiter der CCIA, durch eine offizielle Stellungnahme des ÖRK die persönliche Situation von Santa Ana zu verschärfen. So schrieb Dwain Epps, der Santa Ana noch von seiner Arbeit bei ISAL her kannte, im September 1972: „A W.C.C. action at this time might be interpreted by the police as a reaction to the ,Santa Ana affair‘ and thus further prejudice his situation.“418 Zugleich räumte Epps ein, dass der ÖRK öffentlichen Druck auf die Regierung in Montevideo ausüben wolle, sollten die seit April 1972 ausgesetzten persönlichen Rechte bis Ende September von der Regierung nicht wieder eingesetzt werden. Einer solchen Erklärung des ÖRK stand nach Santa Anas Ausreise aus Uruguay nichts mehr im Weg: Der noch amtierende Generalsekretär Eugene Carson Blake wandte sich gemeinsam mit seinem Nachfolger Philip Potter im Oktober 1972 mit einem Brief an den uruguayischen Präsidenten Juan Mar a Bordaberry, in welchem sie die Wiedereinführung der persönlichen Freiheitsund Bürgerrechte forderten. Sie appellierten in ihrem Schreiben an das christliche Empfinden des Präsidenten und forderten „die Wiederherstellung der Sicherheitsleistungen, die die uruguayische Verfassung den im Land lebenden Menschen zusichert“419. Zugleich brachten sie mit ihrem gemeinsamen Brief zum Ausdruck „that a change of General Secretary does not mean a changing in the interest of the WCC on the Uruguayan situation“420. Für die Kirchen in Uruguay stellte dies ein wichtiges Zeichen der Solidarität dar. 417 Report to the World Council of Churches regarding the current situation in Uruguay (7. 7. 1972), AÖRK 42.3.088. In ihrem Bericht an den ÖRK wiesen die Kirchenvertreter auf „a serious and widespread violation of basic human rights“ hin und forderten vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen die Gemeinschaft der Kirchen des ÖRK auf, sowohl der uruguayischen Regierung ihre tiefe Sorge über die Verletzung der Menschenrechte zum Ausdruck zu bringen als auch die Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Internationale Vereinigung Demokratischer Juristen in Belgien, die US-amerikanische Regierung und Kirchen sowie die Päpstliche Kommission Justitia et Pax von ihrer Sorge in Kenntnis zu setzen und sie zur Solidarität aufzurufen. 418 Brief von Dwain Epps an Eugene Stockwell, Thomas Liggett und William Thompson (12. 9. 1972), AÖRK 42.3.072/2. 419 Brief von Eugene Carson Blake und Philip Potter an Juan Mar a Bordaberry (27. 10. 1972), AÖRK 42.3.072/2. 420 Memorandum von Oscar Bolioli an Eugene Carson Blake und Philip Potter (20. 10. 1972), AÖRK 42.3.072/2.

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Exilerfahrung In der Korrespondenz mit Freunden aus Lateinamerika ließ Santa Ana Zweifel erkennen, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, Uruguay zu verlassen. Allerdings überwog für ihn die Einsicht, dass das Exil der richtige Schritt gewesen sei, da ihm niemand hätte zusichern können, „dass das Erlebte sich nicht wiederholen würde, mit noch größeren Erschwernissen. Warum hätten wir dableiben sollen?“421 Sein katholischer Freund und Kollege Hugo Assmann, der seit 1971 als Studiensekretär bei ISAL arbeitete, bestärkte Santa Ana in dieser Sicht: „Du hast die beste Lösung gefunden: ausreisen.“422 Santa Ana hoffte, dass das Exil in Genf nicht lange andauern würde, auch wenn er sich bewusst war, dass eine Rückkehr nach Uruguay unter den politischen Bedingungen der Zeit nicht möglich gewesen wäre.423 Über seinen Tätigkeitsbereich schrieb er nach einem Monat beinahe lustlos an Assmann: „Ich muss einige Studien durchführen, die später zu ,Papieren‘ werden, zum Beispiel ,Theologische Reflexion über das Verhältnis von Herrschaft und Abhängigkeit‘, etc. Außerdem muss ich in einigen Programmen über ,Bildung für die Entwicklung‘ in Europa, den USA und einigen Ländern Afrikas teilnehmen. In Lateinamerika besteht bisher der einzige Kontakt mit der ,Britischen Karibik‘… Wie Du siehst, es ist nichts, wovon man schwärmen müsste.“424

Im Vergleich mit ISAL fehle der Arbeit in Genf „Fleisch und Blut“. Womit er sich im ÖRK hauptsächlich beschäftige, seien Papiere, Sitzungen und Worte. Im Gegensatz dazu sei die Arbeit bei ISAL voll Leben, Dynamik und Aktionen. Er hoffe, dass er in Zukunft stärkeren Kontakt zu den anderen im ÖRK arbeitenden Lateinamerikanern, wie Paulo Freire, bekäme, um mit ihnen zusammen zu arbeiten.425 Außerdem sei es ihm wichtig, den direkten Kontakt zu Lateinamerika über Briefe und Begegnungen zu erhalten, um besser über die politischen Entwicklungen informiert zu sein.426 Neben dieser kritischen Haltung zur ökumenischen Arbeitsweise in Europa schätzte Santa Ana jedoch die Gemeinschaft der Mitarbeitenden im ÖRK sehr, 421 Brief von Julio de Santa Ana an Mauricio L pez (27. 11. 1972), AÖRK 435, CCPD Latin America (Übersetzungen aus dem Spanischen hier und im Folgenden – AS). 422 Brief von Hugo Assmann an Julio de Santa Ana (26. 10. 1972), AÖRK 435, CCPD Latin America. 423 Vgl. Brief von Julio de Santa Ana an Gustavo Guti rrez (6. 12. 1972), AÖRK 435, CCPD Latin America. 424 Brief von Julio de Santa Ana an Hugo Assmann (8. 11. 1972), AÖRK 435, CCPD Latin America. 425 Vgl. Brief von Julio de Santa Ana an Pedro Negre (8. 11. 1972) und an Edir Cardoso (9. 11. 1972), AÖRK 435, CCPD Latin America. 426 Über europäische Medienberichte über Lateinamerika, insbesondere der französischen Tageszeitung Le Monde, zeigte er sich enttäuscht, da er diese als sehr rechtsorientiert wahrnahm; vgl. Brief von Julio de Santa Ana an Hugo Assmann (8. 11. 1972), AÖRK 435, CCPD Latin America.

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da sie ihm half, sich von der politischen Verfolgung in Uruguay zu erholen. Rückblickend hielt er fest: „Als ich meine Arbeit in der Entwicklungsabteilung des ÖRK aufnahm, waren meine Frau und ich gebrochene Menschen, besonders die Folterungen verfolgten mich bis in die Träume. Ich brauchte mehr als zwei Jahre um mich davon zu erholen. Meine Kolleginnen und Kollegen im ÖRK waren in dieser Zeit eine ,healing community‘, eine heilende Gemeinschaft, für mich.“427

Santa Ana lebte insgesamt elf Jahre im Exil in Genf – eine Zeit, in der er sich zunehmend an die internationale ökumenische Welt und deren bürokratische Arbeitsweise gewöhnte. Das ökumenische Exil ermöglichte ihm einerseits aus der Fremde an den befreiungstheologischen Themen, die ihm in Lateinamerika wichtig geworden waren, weiterzuarbeiten und gab ihm durch die Zuwendung Genfer Kollegen andererseits den Halt und die Unterstützung, die er nach der Verfolgung in Uruguay brauchte. 8.3.3 Santa Anas befreiungstheologische Impulse für die Commission on the Churches’ Participation in Development (CCPD) Zwei Wochen nach seiner Ankunft in Genf begann Julio de Santa Ana bereits mit seiner Tätigkeit als Studienkoordinator und Kontaktperson für Lateinamerika bei der CCPD des ÖRK. In die Arbeit im ÖRK konnte Santa Ana insbesondere seine Erfahrungen als Leiter des Studienzentrums in Montevideo, als Generalsekretär von ISAL sowie als Herausgeber der Zeitschrift Cristianismo y Sociedad einbringen. Die CCPD unterhielt bislang zu Lateinamerika kaum Kontakte, so dass Santa Ana diese gezielt aufbauen konnte. Von 1979 bis 1982 übernahm er in Nachfolge des Inders Chirapurath I. Itty die Leitung der CCPD.428 Hintergrund und Entstehung der CCPD Die CCPD wurde 1970 ins Leben gerufen, um die Entwicklungsdebatte innerhalb der Kirchen zu stärken und die ökumenische Entwicklungsarbeit zu 427 Santa Ana, Armen, 503. 428 Eine Übersicht über die Arbeit der CCPD gibt Zaugg-Ott, Entwicklung, 125–158. Mit seiner Dissertation lieferte Kurt Zaugg-Ott erstmals einen Überblick über die Entwicklungsdiskussion im ÖRK zwischen 1968 und 1991. Zwar enthält die Studie wichtige Einsichten über die ökumenische Entwicklungsdebatte und ihren Verlauf in der zweiten Hälfte des 20. Jh., doch arbeitet sich der Verfasser dabei vornehmlich chronologisch an Konferenzen und Studienprogrammen ab. Dadurch gehen systematische Zusammenhänge im Blick auf die Entwicklungsdiskussion verloren. Archivmaterialien aus dem großen Bestand des ÖRK wurden nicht verwendet, deren Konsultation möglicherweise manch einer ungenauen Interpretation hätte vorbeugen können.

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koordinieren. Die Entwicklungsdiskussion beschäftigte den ÖRK zwar schon seit seiner 2. Vollversammlung in Evanston 1954, doch die Notwendigkeit zu einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema „Entwicklung“ trat besonders in den 1960er Jahren angesichts der Auswirkungen der Dekolonisationsprozesse und dem damit verbundenen sozialen Wandel in der Dritten Welt zutage. Auf internationaler Ebene rief die UNO 1960 eine Entwicklungsdekade aus, deren Ziel es war, die „Entwicklungsländer“ innerhalb von zehn Jahren an das wirtschaftliche Niveau und den Lebensstandard der „entwickelten Länder“ anzuheben.429 In der ökumenischen Diskussion begann mit der Weltkonferenz in Genf 1966 eine spannungsreiche Debatte um den Entwicklungsbegriff. Auf der einen Seite wurde als vorrangiges Ziel die wirtschaftliche Anpassung der Entwicklungsländer an das Niveau der Industrienationen definiert. Die Gegenposition, die sich in den folgenden Jahren auch im ÖRK durchsetzte, sah Entwicklung nicht auf Entwicklungsländer reduziert, sondern forderte eine Verschränkung von wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Befreiung, die eine Erneuerung der Strukturen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zur Folge haben sollte.430 Der Beschluss zur Einsetzung eines kirchlichen Entwicklungsdienstes wurde schließlich auf der Vollversammlung in Uppsala 1968 getroffen: Die Delegierten appellierten an den ÖRK, die Fragen „wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung zur vorrangigen Aufgabe“431 des Weltkirchenrates zu erklären. Einen Beschluss des Zentralausschusses432 aufnehmend, berief der ÖRK vom 26. bis 31. Januar 1970 eine „Weltkonferenz über ökumenische Unterstützung für Entwicklungsprojekte“ in Montreux (Montreux I) ein, die von einem Planungsausschuss mit Vertretern der großen Arbeitseinheiten des ÖRK vorbereitet wurde.433 Für die Betrachtung der Entwicklungsdebatte kam dieser Konferenz insofern eine hervorgehobene Stellung zu, als sie den Beginn einer neuen Perspektive auf das Entwicklungsproblem markierte.434 Entwicklung wurde hier im breitesten Sinn als ein Zusammenspiel vom Streben nach sozialer Gerechtigkeit, Selbstverantwortung und wirtschaftlichem Wachstum verstanden435 – ein Verständnis, dass grundlegend für die Arbeit der CCPD wurde. Das Ziel der Weltkonferenz, „eine Struktur zu schaffen, die eine möglichst 429 430 431 432 433

Vgl. Nohlen, Entwicklungsdekade, 218 f.; Dejung, Entwicklungskonflikt, 290 f. Vgl. oben S. 159–188, bes. 174–187. Bericht aus Uppsala, 55. Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Zentralausschuss (1969), 89–98, bes. 98. Es handelte sich um Vertreter der Abteilung für Weltmission und Evangelisation, der Abteilung für ökumenische Aktivität, des Referats für Kirche und Gesellschaft und der Abteilung für Zwischenkirchliche Hilfe, Flüchtlings- und Weltdienst. Vgl. Gruber, Fesseln, 8. 434 In ihrer Dissertation stellte Margot Käßmann für die Zeit zwischen 1969 und 1975 im ÖRK einen Perspektivenwechsel auf das Entwicklungsproblem fest, wobei sie Montreux I als Ausgangspunkt für die neue Perspektive auf den Entwicklungsdiskurs sah; vgl. K ssmann, Vision, 122–170, bes. 126–131. 435 Vgl. hierzu den grundlegenden Vortrag in Montreux von Parmar, Entwicklungsprozeß.

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weitgehende Zusammenarbeit zwischen christlichen Organisationen und Kirchen gestattet, einschließlich jener Kirchen, die gegenwärtig nicht dem Ökumenischen Rat der Kirchen angehören“436, fand sich in dem Aufruf zur Schaffung einer eigenen Kommission wieder. Vom Exekutivausschuss wurde dieser Aufruf in seiner Sitzung vom 16. bis 20. Februar 1970 angenommen und die Einrichtung der CCPD veranlasst: „Hauptanliegen der Kommission ist es, den Kirchen zu helfen sich an Entwicklungsaufgaben zu beteiligen. CCPD versteht Entwicklung als einen Befreiungsprozess mit drei eng verflochtenen Zielen, nämlich Gerechtigkeit, Selbstverantwortung und Wirtschaftswachstum, wobei Gerechtigkeit den Vorrang hat.“437

Die Aufgabe der CCPD war es, Studien zu Entwicklungsfragen auszuarbeiten (study and research section) und dadurch zur umfassenden Bildung in Entwicklungsfragen beizutragen (development education), Informationen zur Entwicklungsarbeit für andere Abteilungen des ÖRK und die Mitgliedskirchen bereitzustellen (provision of documentation and information), die Kirchen in ihrer Projekt- und Programmarbeit zu unterstützen (provision of technical services) sowie den ökumenischen Entwicklungsfonds zu verwalten.438 Im Hinblick auf die ökumenische Entwicklungsarbeit kam der CCPD – in Abstimmung mit dem Ausschuss SODEPAX – innerhalb des ÖRK also eine doppelte Koordinationsfunktion zu: Zum einen förderte die Kommission konkret die Bildung lokaler, nationaler und regionaler Entwicklungsgruppen und unterhielt enge Kontakte mit ihnen, zum anderen koordinierte sie die Zusammenarbeit mit den Mitgliedskirchen, Hilfswerken, Kirchen, die kein Mitglied im ÖRK waren sowie – in Verbindung mit der CCIA – den Regierungsstellen. Der Studienprozess zu Herrschaft und Abhängigkeit In welcher Weise Julio de Santa Ana die Arbeit des ÖRK beeinflusst hat, zeigt sich an den Studienarbeiten, die unter seiner Federführung entstanden sind. Exemplarisch gehört hierzu die Studie zu „Herrschaft und Abhängigkeit“ 436 Blake, Konferenz, 25. 437 CCPD Arbeitsbericht Nr. 1 (1971–1972), 1. 438 Vgl. Gruber, Fesseln, 147; Ten Crucial Years. The Second Development Decade and the Task of the Churches (1970), AÖRK 435, CCPD 1971–1975. Der ökumenische Entwicklungsfonds speiste sich aus den Einnahmen, die über den Appell an die Kirchen, 2 % ihrer Gesamteinnahmen für Entwicklungsprogramme zu Verfügung zu stellen, beim ÖRK eingingen. Der Entwicklungsfonds war darauf ausgerichtet Abhängigkeitsstrukturen aufzubrechen „in creating new types of relationships between donors and receivers according to the principles of justice, self-reliance and participation in the exercise of power“. Die Empfänger konnten die finanziellen Mittel eigenständig verwalten und innerhalb eines zwischen Gebern und Nehmern festgesetzten Gesamtrahmens frei einsetzen. Vgl. Report of the Commission on the Churches’ Participation in Development 1970–1976, 33.

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(„Domination and Dependence“), dessen Durchführung der CCPD-Ausschuss auf seiner Kommissionssitzung in Albano im Juni 1973 in Auftrag gab.439 Das Anliegen der Studie war es, die Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern zu untersuchen. Angesichts der vorfindlichen Konstellation von Herrschaft und Abhängigkeit zielte die Studie darauf theologisch zu reflektieren, welche Formen christlichen Handelns und der Beteiligung der Kirchen hinsichtlich dieser Situation nötig seien.440 Dabei befand sich die Studie zwar auf einer Linie mit den Ergebnissen der CCPD-Konstitutionstagung in Montreux 1970 und übernahm deren Entwicklungsbegriff als Interrelation von Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und Selbstverantwortung, ging aber weit über die sozialpolitische Definition des Entwicklungsbegriffs hinaus: Im Zentrum stand nun vor allem die ekklesiologische Frage nach der Verantwortung der Kirchen im Entwicklungsprozess, aus der die Studie sodann Konsequenzen für die kirchliche Praxis ableitete. Bei der Studie handelte es sich um einen Konsultationsprozess in mehreren Etappen: Der vom Mitarbeiterstab der CCPD vorbereitete Textentwurf wurde an etwa 200 Personen und Gruppen geschickt, mit der Bitte, diesen zu kommentieren. Im Oktober 1974 fand ein Workshop mit 12 Teilnehmenden im Ökumenischen Institut Bossey statt, wo der Entwurf und das Thema ausführlich diskutiert wurden. Nach einer nochmaligen Überarbeitung wurde die Studie 1975 unter dem Titel „To Break the Chains of Oppression“ veröffentlicht. Die Hauptverantwortung für das Verfassen der Studie lag bei Julio de Santa Ana. Aus einer Aufstellung über seine Tätigkeiten als Studienkoordinator geht hervor, dass er intensiv an dem Entwurf arbeitete, die Diskussion innerhalb der CCPD vorantrieb, die Reaktionen auf die Studie aufnahm und den Workshop in Bossey vorbereitete. Schließlich war es auch seine Aufgabe, die Studie vor der Vollversammlung in Nairobi 1975 zu veröffentlichen.441 Der Titel der Studie wies einen klaren Bezug zur Dependenztheorie auf, die die Unterentwicklung der Dritten Welt als einen seit der Kolonialzeit historisch gewachsenen Prozess verstand, der die „Einbindung der Entwicklungsländer in den von den kapitalistischen Staaten beherrschten Weltmarkt“442 zur Folge habe. Im Gegensatz zu diesem Verständnis der Dependenztheorie reduzierte die CCPD-Studie die Abhängigkeits- und Herrschaftsstrukturen jedoch nicht nur auf ökonomische Faktoren, sondern verwies auch auf politische und kulturelle Dependenzen – etwa auf das Ver-

439 Vgl. CCPD, Chains, vii. 440 Vgl. ebd. 441 Vgl. Tentative Time-Schedule and Tasks – 1973 / 1974 (5. 9. 1973), AÖRK 435, CCPD Domination and Dependence. Aus dem Arbeitsplan geht hervor, dass Santa Ana mehrere Wochen ausschließlich für die Arbeit an der Studie vorsah. 442 Bachinger, Entwicklung, 124.

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hältnis von Eliten und Armen oder auf den Verlust der je eigenen kulturellen Identität.443 Dwain Epps, der den Entwurf von Santa Ana gelesen und kommentiert hatte, stellte bereits im Juni 1973 fest, dass die Studie zu Herrschaft und Abhängigkeit die erste Untersuchung der CCPD sei, die das Entwicklungsproblem aus der Perspektive der strukturellen politischen Abhängigkeit betrachte.444 Die Studie argumentierte, dass zur Überwindung dieser Abhängigkeit ein grundlegender Strukturwandel notwendig sei, der damit beginnen müsse, dass die Menschen ihre Selbstverantwortung erkennen und wahrnehmen: „Our goal is a new economic and social order making it possible for all to achieve a type of development which promotes self-reliance and is based on solidarity, allowing each group to choose the kind of lifestyle which corresponds to its social and cultural ideals.“445

Um dieses Ziel zu erreichen, stellte die Studie drei Faktoren für den Wandel heraus: Zuerst müsse sich unter den „Unterdrückten“ ein klares Bewusstsein für ihre Situation herausbilden. Dabei berief sich die Studie ausdrücklich auf Paulo Freires Methode der conscientizażo, die nicht auf einen individuellen, sondern auf einen dialogisch und gemeinschaftlich angelegten Bewusstseinsprozess zielte, und unterstrich, „that the process of becoming aware must be a collective one”446. Daraus ergab sich zweitens die Forderung, dass sich die unterdrückten Menschen in Gruppen organisieren müssten und nicht vereinzelt auftreten dürften. Die Studie plädierte für die Bildung eines „international movement of the poor“447, dessen Aufgabe es sei, die Strukturen der Herrschaft zu durchbrechen und Ungerechtigkeit anzuklagen. Die praktische Umsetzung dieses Bewusstwerdungsprozesses müsse drittens durch die Beteiligung an politischen Aktivitäten wie Streiks, Bündnissen, friedliche Demonstrationen und Veröffentlichungen von Informationen erfolgen.448 Für die Kirchen stellte sich anschließend die Frage, wie sich diese Analyse auf die Theologie auswirke. Eine wichtige Erkenntnis der Studie war, dass Theologie immer auf den jeweiligen Kontext bezogen werden müsse, denn erst durch die Verschränkung der verschiedenen Kontexte könne ein Verständnis davon entstehen wie Gott in der Geschichte handle. Da eine solche Gegenüberstellung jedoch nicht ohne Konflikte ablaufe, sei es die ökumenische Aufgabe der Kirchen, zwischen den Kontexten zu vermitteln und einen Dialog zwischen ihnen zu initiieren: 443 Vgl. CCPD, Chains, 17 f. 444 Vgl. Memorandum von Dwain Epps an Julio de Santa Ana (4. 6. 1973), AÖRK 435, CCPD Domination and Dependence. 445 CCPD, Chains, 46. 446 Ebd., 53. 447 Ebd., 48. 448 Vgl. ebd., 54 f.

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„The new ecumenical task is to seek out the points of convergence between different socio-cultural and theological contexts which have taken a stand for social justice and against poverty and underdevelopment“449.

Außerdem müsse sich in den Kirchen ein stärkeres Bewusstsein zur Teilnahme am Kampf zur Überwindung von Unterdrückung und Armut herausbilden. Dies erfordere von den Kirchen das Bemühen „to adopt a new life-style in which poverty is taken up in order to overcome it“450. Weiterhin sollten die Kirchen das Anliegen unterstützen, eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen sowie Bildungsprogramme für die Entwicklung zu stärken. Zusammengefasst lässt sich die Studie über „Herrschaft und Abhängigkeit“ als deutlicher Vorstoß der CCPD für eine befreiungstheologische „Option für die Armen“ deuten – und zwar einerseits, indem die Studie hervorhob, dass die Armen und Unterdrückten diejenigen sind, die Veränderungen des Systems bewirken können und andererseits, indem die Studie ausdrücklich die Verpflichtung der Kirchen betonte, in Solidarität mit den Armen zu leben.451 Aus dieser Fürsprache für die Armen resultierte auch die ausdrückliche Ablehnung des kapitalistischen Systems, das viele Widersprüche in der Gesellschaft und Ungleichheiten hervorrufe. Ob – und wenn ja, welche Form des Sozialismus dagegen von den Kirchen befürwortet werden könne, hielt die Studie am Ende hin offen: „[I]f capitalism is unacceptable to the Christian conscience struggling for social justice, it is the dimension of the Kingdom which will determine what kinds of socialism can point out the road towards the goal God plans for us. Because we

449 Ebd., 64. 450 Ebd., 69 (Hervorhebung – AS). An dieser Stelle verwies die Studie explizit auch auf die auf der ökumenischen Konsultation in Montreux 1974 gestellte Frage: „[W]e need to ask the ecclesiological question whether the Church can be the Church if it is not identified with the poor.“ (Montreux 1974, 45.) Vgl. zum Hintergrund und Verlauf der Konsultation K ssmann, Vision, 151–161. 451 Vgl. Report of the Commission on the Churches’ Participation in Development 1970–1976, 15 f.; vgl. auch Zaugg-Ott, Entwicklung, 147–154, bes. 152–154. Die Argumentation von Kurt Zaugg-Ott ist nicht stringent, wenn er einerseits an dem Studiendokument inhaltlich nichts Neues erkennen kann und andererseits feststellt, dass die Studie eine nie zuvor gekannte „Radikalität und Einseitigkeit“ (ebd., 152) im Blick auf ihre politische Analyse an den Tag lege. Zugleich treffen einige von ihm gemachte Annahmen nicht auf die Studie zu. So versucht Zaugg-Ott die Studie bspw. als „Aktions-Reflexions-Dokument“ zu lesen und suggeriert in einem Exkurs, dass der ÖRK eine solche Aktions-Reflexions-Methode in seine Arbeit eingeführt habe (vgl. ebd., 73–77). Dabei kommt er unweigerlich zu falschen Schlussfolgerungen, etwa, dass bei einer Studienarbeit auf internationaler Ebene „zwangsläufig die konkrete ,Aktion‘ zu kurz“ komme (ebd., 152). In seiner Kritik an der Studie zu Herrschaft und Abhängigkeit beschränkt sich Zaugg-Ott insbesondere auf die ideologische Debatte zwischen Sozialismus und Kapitalismus, verliert dabei allerdings das eigentliche Anliegen der Studie – die Offenlegung von Herrschafts- und Abhängigkeitsstrukturen und die Forderung nach einem Umdenken in den Kirchen – aus dem Blick.

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must recognize that the term socialism covers a vast range of possibilities, and not all are acceptable to the conscience of faith.”452

Diese Gegenüberstellung von Kapitalismus und Sozialismus rief kritische Kommentare zu dem Studienbericht hervor, insbesondere aus den USA.453 James Grant und James Howe, der Präsident und ein Mitarbeiter des Overseas Development Council, einer US-amerikanischen Forschungseinrichtung für Entwicklungsfragen, forderten, diese politischen „labels (and the entire ideological apparatus pertaining to each)“ aus dem Diskurs über Entwicklung herauszuhalten: „The subject is too important to let it become infected with the virus of ideology.“454 In ihrer Kritik verwarfen die beiden Autoren vor allem den dependenztheoretischen Blick auf die USA als einer Kolonialmacht und betonten dagegen, dass der Süden bereits arm gewesen sei, bevor er kolonisiert wurde bzw. den Handel mit dem Norden begann.455 An dieser Kritik zeigt sich, wie sehr die Studie die Perspektive der Dritten Welt auf Entwicklungsfragen ausdrückte und wie radikal diese Sicht in den Augen einiger Vertreter des Nordens zu sein schien. Eindeutig trug die Studie dabei die befreiungstheologische Handschrift von Julio de Santa Ana. Er hatte bereits auf den Konferenzen von SODEPAX den Entwicklungsbegriff scharf kritisiert und trug nun diese dependenztheoretische Perspektive in die Studienarbeit der CCPD und in den internationalen ökumenischen Diskurs ein. Obwohl die Studie noch nicht die offizielle Position des ÖRK widerspiegelte, stellte sie einen wichtigen Vorstoß zur befreiungstheologischen Orientierung des ÖRK nach der Vollversammlung in Nairobi 1975 dar. 8.3.4 Zusammenfassung Mit Julio de Santa Ana kam 1972 ein weiterer lateinamerikanischer Theologe in den Stab des ÖRK, für den die Befreiungstheologie die Grundlage seines theologischen Selbstverständnisses darstellte. Die Bewegung ISAL stellte ihm den Raum zur Verfügung, um bereits in den 1960er Jahren diese befreiungstheologische Perspektive auszubilden. Mit der Flucht ins Exil nach Genf verließ Santa Ana zwar räumlich ISAL, aber es war ihm nun möglich, die in Lateinamerika behandelten Themen in den internationalen Kontext zu tragen und daran weiter zu arbeiten. Am Beispiel von Santa Ana lässt sich ein terminologisch und inhaltlich wichtiger Wechsel in der theologischen Debatte der frühen 1970er Jahre beobachten: Während Santa Ana in seiner Arbeit für ISAL in den 1960er Jahren 452 CCPD, Chains, 78. 453 Diese sind im Anhang des Studienbericht unter der Überschrift „Reactions from the West“ abgedruckt. 454 Grant / Howe, Critique, 109. 455 Vgl. ebd., 105.

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vor allem die Frage nach der Beteiligung der Kirchen am revolutionären Prozess in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte, rückte für ihn ab Anfang der 1970er Jahre die Frage des Verhältnisses von Entwicklung und Befreiung und die Auswirkungen auf die Theologie und die kirchliche Praxis in den Vordergrund. Entwicklung im politischen Sinne verstand Santa Ana als Befreiungsprozess, d. h. als das Bemühen „von Strukturen loszukommen, die auf interner und externer Herrschaft aufgebaut sind“456. Dies verlangte aus Santa Anas Sicht einerseits die Beteiligung der Menschen, die ein Bewusstsein über ihre Situation und kollektive Selbstständigkeit erlangen müssten. Andererseits erkannte er, dass auch die Theologie in den Befreiungsprozess eingebunden werden müsse. Die Folge sei eine Neubestimmung der Theologie, die sich nun als Theologie ganz im Kontext politischen und sozialen Wandels begreife – als „Reflexion über den Glauben und seine Bedeutung für den Kampf gegen Armut und für Gerechtigkeit, zu der man sich verpflichtet hat“457. Die Studie über Herrschaft und Abhängigkeit war die erste Veröffentlichung der CCPD, in der sich die Entwicklungsdiskussion des ÖRK mit den theologischen Gedanken Santa Anas verschränkte. Wichtig ist anzuerkennen, dass die CCPD nicht eine tabula rasa war, in die Santa Ana seine Theologie eingraviert hätte. Es handelte sich seit Anbeginn seiner Tätigkeit vielmehr um eine dynamische Wechselwirkung zwischen der ökumenischen Entwicklungsdebatte und den Ansätzen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Die „Option für die Armen“, die Santa Ana so vehement vertrat, entwickelte sich vor allem in der Zeit nach der Vollversammlung in Nairobi zu einem wichtigen Bestandteil der Arbeit der CCPD und bildete über den Studienprozess „Die Kirche und die Armen“ auch den Schwerpunkt seiner weiteren Tätigkeit im ÖRK.458

456 Santa Ana, Entwicklung, 96. 457 Ebd., 94. Vgl. Santa Ana, Christian, 6–17. 458 Die Studie bestand aus insgesamt 3 Bänden, die sich aus exegetischer, historischer und ekklesiologischer Perspektive mit dem Thema Armut bzw. der „Option für die Armen“ befasste. Die Untersuchung der tragenden Rolle von Julio de Santa Ana für diesen Studienprozess wäre ein lohnendes Unterfangen. Bd 1: Santa Ana, Nachricht (engl. Good news to the poor); Bd. 2: Santa Ana, Separation; Bd. 3: Santa Ana, Church. Vgl. dazu K ssmann, Vision, 175–187. Santa Ana distanzierte sich später von einem allzu romantischen Bild der Armen: „Wenn wir die Armen romantisieren, könnten wir sagen, daß sie Träger der Evangelisation werden, aber sie bringen als solche noch nicht die Gute Nachricht. […] Das Evangelium ist eine Gute Nachricht für die Armen, aber nicht die Gute Nachricht von den Armen. […] In Genf hatte ich noch geglaubt, daß die Armen die Kirchen und die Welt evangelisieren könnten, aber wenn wir realistisch sind, müssen wir uns zum Beispiel fragen, ob die Revolutionen der letzten 200 Jahre Revolutionen der Armen waren. Das lässt sich weder von der russischen noch von der algerischen oder der kubanischen Revolution sagen.“ (Santa Ana, Armen, 504.)

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8.4 Emilio Castro: Der Beginn der Weltmission Die Mitarbeit von Emilio Castro beim ÖRK wird zumeist mit seiner Tätigkeit als Generalsekretär (1985–1992) in Verbindung gebracht. Doch Castro kam bereits 1973 als Direktor der CWME in den Stab des ÖRK und verhalf dem ins Wanken geratenen „klassischen“ Missionsverständnis zu einer neuen Deutung. In einer Hommage an Castro erklärte der niederländische Missionswissenschaftler Johannes Verkuyl: „[T]he appointment of Emilio Castro as director of CWME was another very important step towards the ,full‘ discovery of Latin America by the ecumenical movement and conversely of the ecumenical movement by Latin America.“459

Somit gehört die Ernennung Castros zum Direktor der CWME selbstverständlich in die Reihe von Berufungen lateinamerikanischer Theologen und Intellektueller in den Stab des ÖRK seit den späten 1960er Jahren. Das folgende biographische Profil fragt nach dem spezifischen lateinamerikanischen Beitrag von Castro für den ÖRK und stellt ihn als einen Theologen vor, der bewegt durch die Anfragen der ökumenischen Diskussion im Anschluss an die Weltmissionskonferenz in Bangkok 1972 / 73 zunehmend ein eigenständiges Verständnis von Mission und von der Funktion der Kirche für die Gesellschaft ausbildete. Dabei wird wie bei den vorangegangenen biographischen Profilen die Frage erörtert, inwiefern der ÖRK für Castro zum ökumenischen Exil geworden ist. Außerdem wird untersucht, in welcher Weise sein Missionsverständnis von befreiungstheologischen Grundsätzen durchdrungen ist.460 8.4.1 Biographischer Hintergrund Als sechstes von neun Kindern wurde Emilio Castro am 2. Mai 1927 in Montevideo / Uruguay geboren.461 Er wuchs in eine katholische Arbeiterfa459 Verkuyl, Castro, 106. 460 Grundlegend für die folgende Analyse ist u. a. die 2006 erschienene Biographie von Carlos Sintado und Manuel Quintero P rez, die auf zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Emilio Castro basiert; vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n. Wegweisend für die Darstellung ist darüber hinaus der von Orlando Costas veröffentlichte Artikel, der sich mit Castros Missionsverständnis auseinandersetzt: Costas, Thought. Daneben ist noch eine theologische Abschlussarbeit von Ninomiya, Missiologie (1980) erwähnenswert. Sie zeichnet sich insbesondere durch eine umfassende Bibliographie Castros Werk bis 1980 aus, stellt Castros missionstheologischen Ansatz jedoch zu holzschnittartig dar. Angesichts dieser Forschungssituation wäre eine umfassende Darstellung von Castros Theologie wünschenswert, die sein Denken in den weiteren Horizont der Befreiungs- und ökumenischen Missionstheologie stellt. 461 Ursprünglich waren es 10 Geschwister, jedoch starb eine Schwester noch vor ihrer Geburt. Zur Biographie Castros vgl. Linn, Castro; Gassmann, Castro; Quintero P rez / Sintado, Pasi n.

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milie hinein: Sein chilenischer Vater arbeitete als Polsterer und war Mitglied in der Gewerkschaft, seine Mutter siedelte mit 17 Jahren aus Spanien in den Cono Sur über und war als Krankenschwester in Buenos Aires tätig, wo sie wenig später ihren zukünftigen Mann kennenlernte. Obwohl die Familie Castro ursprünglich römisch-katholisch geprägt war, entwickelten die Kinder Interesse für die in der Nachbarschaft gelegene methodistische Gemeinde; Emilio Castro konvertierte als Jugendlicher mit 15 Jahren zum Methodismus.462 Seine Kindheit und Jugend prägten Castro daher in zweifacher Hinsicht: Durch die gewerkschaftliche Tätigkeit seines Vater wurde einerseits sein politisches Interesse geweckt und durch den Kontakt zur methodistischen Gemeinde wuchs andererseits sein ökumenischer Horizont. Beide Perspektiven wurden für seinen weiteren Lebensweg bestimmend.463 1944 begann Castro seine theologische Ausbildung an der Theologischen Fakultät (FET) in Buenos Aires und studierte dort bis 1950.464 Während des Studiums wurde er 1948 in die methodistische Kirche Uruguay ordiniert und begann nach dem Studienabschluss seine pastorale Tätigkeit in zwei kleineren uruguayischen Orten.465 Die Castro bereits in seiner theologischen Abschlussarbeit beschäftigende Frage nach dem Verhältnis von Christentum und Säkularisierung lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Theologie Karl Barths. 1953 / 54 ermöglichte ihm ein Stipendium des ÖRK bei Barth in Basel zu studieren – ein Jahr, das ihn theologisch insofern nachhaltig prägte, als er lernte, die Wirklichkeit einer säkularen Gesellschaft nicht als Infragestellung Gottes zu interpretieren, sondern umgekehrt Gott als den ganz Anderen zu verstehen, „who, in the incarnation of the Eternal Word, had challenged the world“466. Die Rückkehr nach Lateinamerika führte Castro zuerst nach Bolivien, wo er drei Jahre als Pfarrer tätig war. 1957 kehrte er schließlich mit seiner Familie zurück nach Montevideo als Pfarrer der zentralen methodistischen Kirche in Uruguay. Seine Hauptaufgabe lag in der pastoralen Tätigkeit.467 Nur wenige Jahre später kam Castro in Lateinamerika in einflussreiche ökumenische Positionen: 1965 wurde er zum Koordinator und Generalse-

462 Vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 33 f., 41–49. 463 Vgl. ebd., 20 f. 464 Dass Castro Theologie studieren durfte, empfand er als großes Privileg, das er nach eigener Aussage zuerst seinen älteren Geschwistern verdankte, die sich schon sehr früh um den Unterhalt der Familie kümmerten und ihm dadurch das Studium ermöglichten; vgl. ebd., 34. 465 Vgl. ebd., 90. 466 Vgl. Costas, Thought, 87. Die Idee, in Europa zu studieren, entstand nach Aussage von Castro in einem Gespräch mit dem US-amerikanischen methodistischen Theologen Harold Bosley; vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 100. 467 In diesen Jahren entstanden die Predigten, die Castro auch als Buch veröffentlichte: Conciencia. Viele seiner lateinamerikanischen Freunde schätzten Castro insbesondere wegen seiner seelsorgerlichen Fähigkeiten und seiner Begabung zu predigen; vgl. M guez Bonino, Castro, 113. Auch Julio de Santa Ana unterstrich diese Rolle im Zeitzeugengespräch am 5. 3. 2010.

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kretär von UNELAM gewählt.468 Von 1966 bis 1969 stand er parallel dazu der Südamerikanischen Vereinigung Theologischer Hochschulen (ASIT) vor und übernahm in der Zeit von 1970 bis 1972 die Präsidentschaft über die methodistische Kirche in Uruguay. Die Zusammenarbeit mit dem ÖRK begann mit der 3. Vollversammlung in Neu-Delhi 1961, zu der Castro von der methodistischen Kirche in Uruguay delegiert worden war. Nach seiner Rückkehr berichtete er im Fernsehen über seine Erfahrungen, woraus eine längere Tätigkeit im Fernsehen für verschiedene Programme entstand.469 Auch in den folgenden Jahren nahm Castro an mehreren internationalen Konferenzen des ÖRK teil: So hielt er etwa auf der Weltmissionskonferenz in Mexiko-City 1963 sowie auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 jeweils die Eröffnungspredigt.470 Außerdem nahm Castro als „well-known ecumenical leader in Latin-America“471 an der 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 als Berater teil.472 Neben der ökumenischen Tätigkeit im ÖRK engagierte sich Castro wie auch Julio de Santa Ana auf internationaler Ebene bei der CFK, auf deren 2. Allchristlicher Friedensversammlung in Prag 1964 er einen Vortrag zum Thema „Hunger und wirtschaftliche Unabhängigkeit“ hielt. Auf dieser Versammlung wurde er außerdem zum stellvertretenden Präsidenten der CFK gewählt, eine Position, die er bis 1969 – wenige Monate nach der Zerschlagung des Prager Frühlings – inne hatte.473 Ende 1972 nahm Castro die Berufung zum Direktor der Kommission für Weltmission und Evangelisation des ÖRK in Genf an und siedelte mit seiner Familie in die Schweiz. Nach zehnjähriger Amtszeit kehrte Castro kurzzeitig nach Lateinamerika zurück, um seine Doktorarbeit zu beenden und das Rektorat der theologischen Hochschule in Buenos Aires zu übernehmen. Doch bereits 1985 wurde Castro als Nachfolger von Philip Potter zum Generalsekretär des ÖRK gewählt und ging zurück nach Genf. Nach seiner Pen468 Statement by the Provisional Commission for Evangelical Unity in Latin America, AÖRK 421.418, CWME Directors office, 11. Das Anliegen von UNELAM war es, ein sichtbares Zeichen für die Einheit der evangelischen Kirchen in Lateinamerika zu setzen und auf die Bildung eines regionalen lateinamerikanischen Kirchenrates hin zu arbeiten. Die „provisorische Kommission“ wurde erst 1982 durch die Gründung von CLAI abgelöst. Vgl. oben S. 40–46, bes. 45. 469 Castro begann bei Canal 10 als Teilnehmer in der Sendung „Conozca su derecho“ („Kennen Sie Ihr Recht“) und erhielt aufgrund des großen Erfolges schließlich bei Canal 4 eine eigene Sendung, die er „MaÇana ser n ellos“ („Morgen werden sie es sein“) nannte und die sich vornehmlich an Jugendliche richtete; vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 152–156; 160 f. 470 Vgl. Linn, Castro, 12. Castros Predigt auf der Weltkonferenz in Genf 1966 zu 1. Kor. 1, 18–2, 3 ist abgedruckt in: Ökumenische Diskussion II/3 (1966), 123–125. 471 Memorandum von Paul Abrecht / Theo Tschuy an S.E.G.: „Latin America’s representation at Uppsala“, AÖRK 34.23/1. Allerdings nahm Castro in Uppsala nicht an der Arbeit der Sektion II (Erneuerung in der Mission), sondern an der Sektion III (Wirtschaftliche und soziale Weltentwicklung) teil. 472 Vgl. Bericht aus Uppsala, 434. 473 Das internationale Sekretariat der Christlichen Friedenskonferenz, Dokumente und Nachrichten, 56 f. Vgl. Linn, Castro, 25.

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sionierung 1992 blieb Castro in Genf und verstarb im April 2013 nach langer Krankheit in seiner Heimatstadt Montevideo. 8.4.2 Zwischen Berufung und ökumenischem Exil Emilio Castro war der vierte Lateinamerikaner, der innerhalb von 3 Jahren in die programmatische Arbeit des ÖRK berufen wurde. Obwohl seine zehnjährige Amtszeit von 1973 bis 1983 als Direktor der CWME meist hinter seine spätere Tätigkeit als Generalsekretär des ÖRK zurücktrat, war sie sowohl für Castro persönlich als auch für den ÖRK eine äußerst prägende Zeit. Seiner Berufung nach Genf folgte er – anders als Paulo Freire oder Julio de Santa Ana – zunächst ganz freiwillig, konnte in formaler Hinsicht den Exilstatus aber schließlich doch nicht umgehen. Berufung zum Direktor der Kommission für Weltmission und Evangelisation Emilio Castro war seit der Weltmissionskonferenz in Mexiko-Stadt 1963 eng mit der Abteilung für Weltmission und Evangelisation (DWME) des ÖRK verbunden. Die Abteilung wurde 1961 im Zuge der Integration des Internationalen Missionsrates in den ÖRK auf der Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 gegründet und hatte angesichts der Dekolonisationsprozesse in Asien und Afrika eine Neuausrichtung der Mission zur Folge. Mit ihrem Hauptthema „Mission in Six Continents“ ließ die Weltmissionskonferenz in Mexiko das bisherige Missionsverständnis hinter sich: Mission wurde folglich nicht mehr im Sinne der Missionierung der (restlichen) Welt durch die europäischen und nordamerikanischen Missionsgesellschaften verstanden, sondern als Weltmission, d. h. als Mission der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche in allen Teilen der Erde.474 Diese neue Sicht auf Mission teilte auch Philip Potter, der 1967 zum Direktor der Missionsabteilung des ÖRK gewählt worden war. In dieser Funktion war Potter nicht nur für die Sektion II („Erneuerung in der Mission“)475 der Vollversammlung in Uppsala 1968 und die dort beschlossene Einführung einer Kommission für Weltmission und Evangelisation476 zuständig, sondern auch mit der Vorbereitung der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1972 / 73 befasst. Potter verhalf dem ÖRK dazu, Mission im Horizont der ganzen 474 Vgl. M ller-Kr ger, Kontinenten. Dieser Wandel im Missionsverständnis fand auch seinen Niederschlag in der Veränderung des Namens der missionswissenschaftlichen Zeitschrift von „International Review of Missions“ (Plural) in „International Review of Mission“ (Singular) im Jahr 1969; vgl. Larsson / Castro, Missions, 125. 475 Vgl. den Sektionsbericht II in: Bericht aus Uppsala, 26–36. 476 Die Kommission für Weltmission und Evangelisation wurde in Uppsala analog zu der bereits bestehenden Kommission für Glauben und Kirchenverfassung gebildet und sollte die Arbeit des Internationalen Missionsrates im ÖRK lebendig halten. Vgl. Bericht aus Uppsala, 484 f.

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oikoumene wahrzunehmen und erneuerte auch die Arbeitsmethoden der DWME / CWME477, wie sich am Beispiel der Weltmissionskonferenz in Bangkok eindrücklich zeigte.478 Als sich Potter 1972 in der Wahl zum dritten Generalsekretär in der Nachfolge von Blake gegen Lukas Vischer durchsetzte, hinterließ er eine sich noch im Umbruch befindliche Missionsabteilung, die bereit für einen Neuanfang war. Emilio Castro war durch seine vielfältigen internationalen und regionalen ökumenischen Erfahrungen ein aussichtsreicher Kandidat für die Neubesetzung des Postens. Auf dem Zentralausschuss des ÖRK in Utrecht 1972 wurde er gebeten, sich für die Leitung der Missionsabteilung in der Nachfolge von Philip Potter zur Verfügung zu stellen.479 Castro sagte ohne langes Zögern zu und trat sein Amt als Direktor der CWME am 1. Januar 1973 auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok an.480 Exilerfahrung Das Angebot für den ÖRK zu arbeiten erreichte Emilio Castro in einem Moment, in dem die Repressionen in Uruguay zunehmend auch auf die Kirche trafen und viele Pfarrer und Theologen ins Exil trieben. Die politischen Spannungen zwischen der Guerillabewegung der Tupamaros und der uruguayischen Regierung beeinflussten auch Castro in seiner Arbeit als Präsident der methodistischen Kirche und verlangten von ihm sich einerseits loyal den Pfarrern gegenüber zu verhalten, die sich den Tupamaros verpflichtet fühlten, und andererseits den Konflikt durch Einseitigkeit nicht noch zu stimulieren. Jedoch hatte seine politische Haltung keine so gravierenden Auswirkungen auf seine Person wie bei Julio de Santa Ana.481 Wie Castro immer wieder betonte, geschah seine Ausreise nach Genf freiwillig und stellte keine Flucht ins Exil dar: „Was mich betrifft, so bin ich nicht ins Exil gegangen, da ich mich in diesem Moment in Gefangenschaft oder so etwas in der Art hätte befinden müssen. Doch ich fühlte, dass meine Anwesenheit das Leben der Kirche ein wenig belastete. Somit war es vernünftig das Land zu verlassen.“482

477 Im Zuge der Restrukturierung des ÖRK im Jahr 1971 wurde die Abteilung für Weltmission und Evangelisation (DWME) in Kommission für Weltmission und Evangelisation (CWME) umbenannt. Vgl. Potter / Matthey, Mission, 787. 478 Vgl. zur Funktion Potters als Direktor der CWME: Enns, Potter, 363–367; Jagessar, Life. 479 Vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 230. 480 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Zentralausschuss (1973), 106. Castro wurde mit Wirkung vom 1. 1. 1973 vom Exekutivausschuss in Bangalur für drei Jahre zum Direktor für Weltmission und Evangelisation ernannt. 481 Castro unterstützte in seiner Anfangsphase sogar das 1971 gegründete linke Parteienbündnis Frente Amplio; vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 219 f. 482 Ebd., 230 (Übersetzungen aus dem Spanischen hier und im Folgenden – AS).

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Um dem Eindruck zu wehren, er würde ins Exil gehen, war für Castro auch eine öffentliche Verabschiedung vor seiner Ausreise von großer Bedeutung.483 Außerdem schrieb er als Generalsekretär von UNELAM einen offenen Brief an die Mitgliedskirchen, in dem er sie über sein Ausscheiden informierte und die bisherige ökumenische Arbeit von UNELAM resümierte. In diesem Brief begründete Castro seinen Weggang damit, dass es dem christlichen Gehorsam entspräche, die Einladung des ÖRK anzunehmen.484 Damit untermauerte er, dass er seine Leitungsfunktion bei UNELAM freiwillig zugunsten der Tätigkeit im ÖRK aufgab. Doch so wenig sich Castro als Exilant verstanden wissen wollte, holte ihn dieser Status kurz nach seiner Einreise in Genf trotzdem ein: Denn kurz nachdem er mit seiner Familie in Genf eingetroffen war, musste er seinen uruguayischen Pass verlängern. Da dieser 1973 nicht mehr vom Schweizer Konsulat selbst verlängert werden konnte, sondern zu diesem Zweck nach Montevideo geschickt werden musste, kam es zu Verzögerungen. Castro erhielt seinen Pass acht Jahre lang nicht zurück und lebte in dieser Zeit als Staatenloser mit einer Schweizer Aufenthaltsgenehmigung, die ihm seine Auslandsreisen ermöglichte.485 Er bekam seinen Pass erst im Zuge einer UNKommission für Menschenrechte in Genf im Jahr 1979 wieder, bei dem sein Fall als Beispiel für Menschenrechtsverletzungen in Uruguay herangezogen wurde.486 Es ist anzunehmen, dass Castros Passentzug in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für den ÖRK stand, der seit 1972 die Menschenrechtsverletzungen in Uruguay offiziell verurteilte. Insofern lebte Castro in der Zeit zwischen 1973 und 1979 unwillentlich als ökumenischer Exilant in Genf. 8.4.3 Castros Beitrag zu einem erneuerten ökumenischen Missionsverständnis Emilio Castros Mitarbeit im ÖRK und seine sich dort ausprägende Missionstheologie muss im Kontext des sich wandelnden Missionsverständnisses innerhalb der ökumenischen Bewegung gesehen werden. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Weltmissionskonferenz in Bangkok, die einen entscheidenden Perspektivenwechsel für das Missionsverständnis nach sich zog und an deren theologischer Interpretation Castro als neuer Direktor der CWME federführend beteiligt war. 483 „Als ich wegging, taten wir das in offener Weise mit einer öffentlichen Verabschiedung in der Kirche und mit über 100 Personen, die mich am Flughafen verabschiedeten. Ich wollte zeigen, dass ich nicht floh, sondern der Einladung des Ökumenischen Rates der Kirchen folgte.“ (Ebd., 232.) 484 Vgl. Offener Brief von Emilio Castro (November 1972), AÖRK 435, CCPD Latin America. 485 Vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 264. 486 Vgl. Linn, Castro, 28.

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Die Weltmissionskonferenz in Bangkok 1972 / 73 als Beginn einer neuen Ära Die Bezeichnung „Mission in six continents“ deutete bereits 1963 auf einen grundlegenden Wandel im ökumenischen Missionsverständnis hin. Dennoch bedurfte es weiterer zehn Jahre, bis die Reichweite dieses neuen Ansatzes erkannt und umgesetzt wurde. Unter dem Thema „Salvation Today“ bzw. „Das Heil der Welt heute“487 kamen vom 27. Dezember 1972 bis 12. Januar 1973 rund 300 Teilnehmende aus 69 Ländern in der thailändischen Hauptstadt Bangkok zusammen und diskutierten über die missionarische Aufgabe der Kirche und den Strukturwandel in der Mission. Während 1963 in MexikoStadt noch die Kirchen aus Europa und Nordamerika in der Überzahl waren488, lag der Schwerpunkt in Bangkok auf der Perspektive der Kirchen aus der Dritten Welt: Über die Hälfte der Delegierten kam aus Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas und bestimmte mit ihren Anfragen und Impulsen die Konferenz.489 Eine Besonderheit der Konferenz bestand darin, dass sie – anders als bisher üblich – nicht vorrangig in Plenarsitzungen abgehalten wurde, sondern gruppenorientiert arbeitete. Neben dem Arbeitsbericht des noch amtierenden Direktors Philip Potter hielt nur der Vorsitzende des Zentralausschusses, M. M. Thomas, eine Hauptansprache zum Konferenzthema.490 Alle anderen Themen wurden in Kleingruppen diskutiert, wodurch verhindert wurde, „dass nordatlantische Teilnehmer mit langen Redebeiträgen die Plenumsdebatten dominierten“491. Die inhaltliche Debatte konzentrierte sich in den drei Sektionsgruppen auf die Themenkreise „Kultur und Identität“, „Heil und soziale Gerechtigkeit“ und „Erneuerung der Kirchen in der Mission“. Die erste Sektion machte darauf aufmerksam, dass Theologie immer aus einem spezifischen Kontext 487 Schon an der vom englischen Titel abweichenden deutschen Übersetzung des Konferenzthemas lässt sich ablesen, wie unterschiedlich die Erwartungen an die Konferenz gewesen sein müssen. Während die deutsche Version sich auf das „Heil der Welt“ konzentrierte, war das englische Original unter der schlichten Überschrift „Salvation Today“ viel weiter gefächert und umfasste das Heil der Welt ebenso wie das Heil des Menschen und der Kirche. 488 Von den insgesamt rund 200 Teilnehmenden in Mexiko waren 97 stimmberechtigte Delegierte. Davon kamen 30 aus Europa, 23 aus Nordamerika, 3 aus Australien, 10 aus Lateinamerika, 22 aus Asien und 9 aus Afrika, d. h. rund 42 % der stimmberechtigten Delegierten kam aus Ländern der Dritten Welt und 58 % aus Industrienationen. Vgl. Verzeichnis der Teilnehmer bei der Vollversammlung der CWME. In: M ller-Kr ger, Kontinenten, 232–236. 489 Eine ÖRK-Presseerklärung sprach von 52 % Delegierten aus der Dritten Welt, vgl. „Final News Round-Up” (ohne Datum), AÖRK 272.009. 490 Vgl. Potter, Mission; Thomas, Bedeutung. 491 Kunter, 1972/3, 3. Das Konzept der Konferenz wurde insbesondere von dem Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus scharf kritisiert: „Die Ankündigung des Themas von Bangkok ,Heil heute‘ erweckte bei uns die Hoffnung, daß dies eine hervorragende Gelegenheit bieten würde, diese zentralen biblischen Anliegen auf einer höchst repräsentativen Ebene zu besprechen. Aber die Anlage dieser Konferenz, d. h. ihre Aufgliederung in viele kleine Gruppen, von denen man keine Stellungnahme und Berichte erwartet, hat es wieder unmöglich gemacht, diese Fragen zu einer Klärung zu führen.“ (Beyerhaus, Bangkok, 180.)

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heraus artikuliert werde. Auch der Dialog der Religionen, der durch den thailändischen Kontext besonders ins Bewusstsein der Konferenz getreten war, wurde daher zu einem wichtigen Thema dieser Sektion.492 Die zweite Sektion legte ihr Augenmerk darauf, das Heil nicht nur in seiner individuellen, sondern insbesondere in seiner politischen Dimension zu verstehen, d. h. im Kampf für wirtschaftliche Gerechtigkeit, im Kampf um die Menschenwürde und in der Solidarität mit den Menschen.493 Diese politische Dimension des Heilsbegriffs wurde vor allem angesichts des Vietnamkrieges, der wenige hundert Kilometer entfernt Tausende von Opfern forderte, deutlich formuliert.494 Die dritte Sektion wies auf die ekklesiologische Perspektive des Heils hin und unterstrich, dass sich die Kirche nicht als alleinige Spenderin des Heils verstehen dürfe, sondern dass sie selbst heilsbedürftig sei. Die Mission wirke also nicht allein in die Welt hinein, sondern schließe die innere Erneuerung der Kirche mit ein.495 Entlang der Diskussionen um ein erneuertes Missionsverständnis in Bangkok prägten sich vor allem zwei Konfliktlinien aus: Zum einen entwickelte sich das Verhältnis zwischen Vertretern des Nordens und des Südens in Bangkok zu einem „sharp clash of passionate convictions“496. Viele Delegierte aus Mitgliedskirchen der Dritten Welt fühlten, dass die Delegierten aus Europa und Nordamerika ihre eigene Agenda durchsetzen wollten und nahmen daher eine äußerst aktive Rolle auf der Weltmissionskonferenz ein. Mit ihrer Forderung nach einem Moratorium, das die Entsendung westlicher Missionare stoppen und die Übertragung von Finanzmitteln aussetzen sollte, artikulierten die Vertreter der Dritten Welt deutlich ihr Selbstbestimmungsrecht.497 Zum anderen ging mit der Fokussierung auf die politische Dimension des Heils die Kritik konservativer Evangelikaler aus den USA und Deutschland einher, die in der Weltmissionskonferenz zu sehr die „horizontalen“ Themen vertreten sahen. Der Einwand lautete, dass hier Evangelisierung mit Humanisierung verwechselt bzw. gleichsetzt werde.498 Damit entwickelte sich die 492 Vgl. den Bericht der Sektion I „Kultur und Identität“. In: Potter, Heil, 181 f. und 186–188. 493 Vgl. den Bericht der Sektion II „Heil und soziale Gerechtigkeit“. In: Potter, Heil, 198. 494 Während der Konferenz entstand sogar die Idee, mit einer Abordnung der Konferenz in Hanoi eine Solidaritätskundgebung durchzuführen, wozu es letztlich jedoch nicht kam. Vgl. Quintero P rez / Sintado, Pasi n, 245. 495 „Eine Kirche, die anderen das Evangelium der Befreiung bringt, muß zunächst selbst von allem befreit werden, was ihre wahre Selbstverwirklichung beeinträchtigt oder sie ihrer wirklichen Verantwortung enthebt. ,Das Heil der Welt heute‘ bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Kirchen die Freiheit erlangen, innerhalb ihres eigenen Wirkungsbereichs ihr wahres Selbst zu entfalten.“ (Bericht der Sektion III „Erneuerung der Kirchen in der Mission“. In: Potter, Heil, 215.) 496 Presseerklärung „Final News Round-Up“ (ohne Datum), AÖRK 272.009 Bangkok, Conference Documents. 497 Vgl. Bericht der Sektion III „Erneuerung der Kirchen in der Mission“. In: Potter, Heil, 216 f. 498 Die schärfste Kritik kam von dem Tübinger Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus. Vgl. Beyerhaus, Bangkok. Vgl. auch Kunter / Schilling, Christ, 55.

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Weltmissionskonferenz zum Scheidepunkt zwischen „Evangelikalen“ und „Ökumenikern“.499 Der Beginn von Castros Tätigkeit als Direktor der CWME fiel genau in den Zeitraum der Weltmissionskonferenz in Bangkok. Während Philip Potter als scheidender Direktor die Eröffnungsansprache hielt, fasste Castro am Ende den Ertrag der Missionskonferenz mit folgenden Worten zusammen: „We are at the end of a missionary era and at the very beginning of the world mission.“500 Diese neue Ära zeichnete sich für ihn dadurch aus, dass es keine klare Linie mehr zwischen äußerer (foreign mission) und innerer Mission (home missionary activities) gebe.501 Daraus folgerte Castro die Notwendigkeit einer stärkeren Kooperation zwischen den Kontinenten, die sich nicht wie bisher in der Unterstützung der armen durch die reichen Länder äußerte, sondern die sich vor allem in der aktiven Rolle der früheren Missionsländer widerspiegeln sollte. Diese würden nun ihrerseits den westlichen Kirchen helfen, ihre missionarische Aufgabe in den eigenen säkularisierten Gesellschaften zu verstehen und auszuüben. Die Westmission war daher für Castro mit der Weltmissionskonferenz in Bangkok an ihr Ende gekommen: „We are at the end of the westernization of the Church and are going through a process in which in a multiplicity of different identities the Church universal will appear.“502 Das Moratorium, das in Bangkok verabschiedet wurde und einen einstweiligen Entsendungsstopp finanzieller und personeller Ressourcen von Europa und Nordamerika in die ehemaligen Missionsgebiete forderte, verstand Castro als Mittel um die bisherigen missionarischen Beziehungen, die damit verbundenen Abhängigkeiten und die jeweilige missionarische Praxis kritisch zu prüfen: „It [the Moratorium] does mean freedom to reconsider present engagements and to see whether a continuation of what we have been doing for so long is the right style of mission in our day.“503 Castro war davon überzeugt, dass dieser Reflexionsprozess auf beiden Seiten, d. h. sowohl in den Kirchen, die Missionare ausgesandt, als auch in den Kirchen, die die Missionare empfangen haben, stattfinden müsse. Keineswegs dürfe das Moratorium als Abbruch der Beziehungen verstanden werden, als ob sich die Kirchen der Dritten Welt von den früheren Missionskirchen isolieren wollten. Hingegen 499 Vgl. Kunter / Schilling, Christ, 56. Als Ausdruck der Trennung zwischen Ökumenikern und Evangelikalen galt der Lausanner Kongress für Weltevangelisation 1974; vgl. Wrogemann, Missionstheologien, 119–141. 500 Emilio Castro hatte diesen Satz am Ende der Abschlusskonferenz geprägt; vgl. „Final News Round-Up“ (ohne Datum), AÖRK 272.009. In einem Rückblick auf die Weltmissionskonferenz formulierte Castro den Satz folgendermaßen: „[W]e have seen the end of one missionary era; we are beginning a new one in which the idea of world mission will be fundamental.“ (Castro, Bangkok, 140.) 501 Vgl. im Folgenden: Castro, Bangkok, 140–142. 502 Vgl. ebd., 142. Auch der Journalist Girock setzte in der Zeit seinen Bericht über die Weltmissionskonferenz unter die Überschrift „Das Heil der Heiden. Am Ende abendländischchristlicher Vorherrschaft“. 503 Castro, Moratorium, 119 f.

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kam es für Castro nun darauf an, die geistliche Beziehung zwischen beiden Seiten zu stärken – durch Fürbittgebete, gegenseitige Besuche, persönliche Begegnungen sowie durch das Teilen von Erfahrungen.504 Mission als Teilnahme am befreienden Handeln Gottes In seinen Texten, die er bis 1983 in seiner Funktion als Direktor der CWME veröffentlichte, bezog sich Emilio Castro immer wieder auf die Debatten von Bangkok. Durch die Interpretation der Ergebnisse der Weltmissionskonferenz in Bangkok begann er nach und nach ein eigenes Missionsverständnis auszubilden, mit dem er die missiologische Arbeit des ÖRK prägte. Dies geschah vor allem in zahlreichen Artikeln und Kommentaren, die an verschiedenen Stellen veröffentlicht wurden, sowie in den Editorials der Zeitschrift International Review of Mission (IRM), die er ab April 1973 herausgab.505 Den Höhepunkt seiner Tätigkeit im ÖRK bildete die Arbeit an der ökumenischen Erklärung „Mission und Evangelisation“, die 1982 vom Zentralausschuss angenommen wurde und über drei Jahrzehnte die Grundlage der missionstheologischen Arbeit des ÖRK darstellte.506 Sein Missionsverständnis hat Castro während seiner Mitarbeit beim ÖRK an keiner Stelle zusammenhängend dargestellt.507 Erst seine Dissertation, die er 1985 – zwischen seinen Verantwortlichkeiten als Direktor von CWME und nachfolgend als Generalsekretär des ÖRK – auf Englisch veröffentlichte, war der Versuch, seine Missionstheologie zu systematisieren und mit der ökumenischen Debatte zu verknüpfen.508 Der Ausgangspunkt für Castros Missionsverständnis war es, Mission als Missio Dei zu verstehen: „Mission belongs to the very fundamentals of our faith in God who in himself is missionary.“509 Mission dürfe daher nicht als menschliche Anstrengung verstanden werden, sondern als göttlicher Wille, an dem der Mensch durch seinen Glauben Anteil nimmt. Ziel der Mission sei die Erfüllung von Gottes Schalom, der auf die Erneuerung der Schöpfung und die Errichtung eines dauerhaften Friedens zielt.510 Um die Teilnahme der Kirche an Gottes Mission zu spezifizieren, bediente sich Castro christologischer Kriterien und interpretierte die missionarische 504 Ebd., 119. 505 Vgl. Wieser, Editorial, 135. 506 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen / Evangelisches Missionswerk, Mission. 2012 veröffentlichte der ÖRK eine neue Missionserklärung: Together Towards Life. 507 Zu diesem Urteil kam bereits 1984 Costas, Thought, 86, 90, et passim. 508 Vgl. Castro, Freedom. 509 Castro, Mission, 359 f. Damit machte sich Castro das Missionsverständnis der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 zu eigen. Vgl. Eine Erklärung über die missionarische Berufung der Kirche (Willingen 1952). In: Margull, Sendung, 95–100. Vgl. ausführlich zum Konzept und Problemstellung der Missio Dei: Flett, Witness, 35–77. 510 Vgl. Castro, Revolution, 43.

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Aufgabe der Kirche analog zu Christus’ dreifachem Amt als Prophet, Priester und König. Die prophetische Aufgabe der Kirche entwickelte Castro unter Berufung auf Freires Konzept der conscientizażo: Sie bestand für ihn darin, dass sich die Kirche mit den Armen identifiziere, ein kritisches Bewusstsein über gesellschaftliche Strukturen der Abhängigkeit und Unterdrückung entwickle und die bestehenden Strukturen durch theologische Kritik in Frage stelle.511 In ihrer priesterlichen Funktion lag für Castro die Aufgabe der Kirche darin, den Menschen mit Gott und die Menschen untereinander zu versöhnen, d. h. Frieden zu stiften mit Gott und den Mitmenschen. Orte dieser Begegnung waren für Castro u. a. der Gottesdienst und die Evangelisierung.512 Das königliche Amt Christi fand nach Castro seine Entsprechung in der Aufgabe der Kirche als Dienerin. In dieser Funktion sei die Kirche dazu aufgerufen, die Leiden der Menschen anzunehmen und sie in ihrer Hoffnung zu stärken.513 Allerdings räumte Castro ein, dass die Kirche ihre prophetische, priesterliche und dienende Funktion nicht zu allen Zeiten und an allen Orten in gleicher Weise sichtbar werden lassen könne.514 Neben der christologischen Verankerung des Missionsbegriffs kam es für Castro darauf an, das missionarische Handeln der Kirche auf den jeweiligen historischen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Kontext zu beziehen und daraus Aufgabenfelder für die Mission zu entwickeln: „What should be recognized for Vietnam as the priority in mission is peace; the priority for Northern Ireland is reconciliation in justice; the priority for Southern Africa is racial equality; the priority for Latin America will be liberation from dependency.“515

Damit übernahm Castro einige Grundannahmen und Formulierungen der Weltmissionskonferenz in Bangkok516, spitzte ihre Bedeutung jedoch noch zu, in dem er die Themen Frieden, Versöhnung in Gerechtigkeit, Rassengleichheit und Befreiung aus Abhängigkeit zu den vorrangigen Missionsfeldern (,mission priorities‘) der Kirche deklarierte. In dieser Weise zeigte Castro eine Möglichkeit auf, Mission neu zu verstehen: als politische Aufgabe und Teilnahme am befreienden Handeln Gottes. Im Hinblick auf die geforderten neu zu entwerfenden Strukturen der Mission benannte er schließlich zwei wesentliche Faktoren: Erstens müsse die lokale Gemeinde ihre Verantwortlichkeit für die Mission vor Ort erkennen und ausüben – wobei sie sich als Teil der universalen christlichen Gemeinschaft 511 Vgl. ebd., 50–57, bes. 54–56. 512 Vgl. ebd., 58–65, bes. 62. 513 Vgl. ebd., 66–74. Castro verwendete hier bewusst den Begriff des Dienens, „because I understand it as the best way to describe the royal character of Jesus Christ according to the Gospel and the best way to present a model of action and life for the Christian Church“ (vgl. ebd., 66). 514 Vgl. Costas, Thought, 94. 515 Castro, Mission, 360. 516 Vgl. Bericht der Sektion II: Heil und soziale Gerechtigkeit. In: Potter, Heil, 199.

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verstehen sollte. Zweitens dürften die Kirchen nicht mehr vor konfessionellen Schranken Halt machen bzw. sich gegenseitig als Konkurrenz ansehen: „[I]n the age of ecumenism […] the support of whoever can best bring that witness is more important than sustaining our denominational loyalties.“517 Das Bewusstsein für die lokale Verortung der Kirche und die Anerkennung ihrer Kontextualität gehörten für Castro folglich zu den Grunddimensionen seines Missionsverständnisses. 8.4.4 Zusammenfassung Mit Emilio Castro kam ein weiterer lateinamerikanischer Theologe in den Stab des ÖRK, der die ökumenische Arbeit in Genf nun auf dem Gebiet der Missionsarbeit wesentlich prägte. Anders als für Freire oder Santa Ana hatte die Exilsituation für Castro nur eine untergeordnete Bedeutung, über die er sich selbst nicht äußerte. Allerdings hielt der französische Theologe und frühere stellvertretende Moderator der CWME, Jacques Maury, in einer Rückschau über die Arbeit Castros fest, dass dieser die Bedeutung des Exils vor allem in seiner geistlichen Dimension erkannte: „He has made clear that the ,theology of exile‘, of which we have heard a great deal in recent years, is not just another intellectual game but an expression for the benefit of all of the spiritual experience of so many of our brothers and sisters who are living in that tragic situation today.“518

Jedoch hat Castro sein Nachdenken über die Exilsituation selbst nie öffentlich gemacht. Die Leitung der CWME übernahm Castro zu einer Zeit, in der sich das Missionsverständnis des ÖRK im Umbruch befand. Dreh- und Angelpunkt war die Weltmissionskonferenz in Bangkok, die das Verhältnis zwischen den früheren Missionskirchen und den entsendenden Kirchen neu bestimmte. Als lateinamerikanischer Theologe nahm er diese Impulse auf und sorgte mit seinen theologischen Reflexionen dafür, die Interpretation von Bangkok nicht nur der Deutung der westlichen Kirchen zu überlassen, sondern die Perspektive der Dritten Welt auch über Bangkok hinaus im ÖRK zu verankern. Das Verständnis von Mission und Evangelisierung als befreiendem Prozess aus unterdrückerischen Strukturen kann als eines seiner größten Verdienste in der Arbeit der CWME angesehen werden.519 Einflussreich war Castro auch als Brückenbauer zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen und Traditionen.520 So versuchte er im seit 517 518 519 520

Castro, Editorial, 396. Maury, Appreciation, 121. Vgl. Costas, Thought, 97. Vgl. Gassmann, Castro, 3; Verkuyl, Castro, 108.

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der Weltmissionskonferenz in Bangkok angespannten Verhältnis zwischen „Ökumenikern“ und „Evangelikalen“ zu vermitteln und bemühte sich auch um die Integration orthodoxer Perspektiven in die ökumenische Missionsdebatte. Die Einheit der Kirche war folglich die Zielperspektive seines missionarischen und ökumenischen Denkens und Handelns, auch wenn ihm die Vermittlung dieser Positionen nur ansatzweise gelang. 8.5 Zwischenbilanz Mit Leopoldo Niilus, Paulo Freire, Julio de Santa Ana und Emilio Castro kamen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre vier Lateinamerikaner in den Stab des ÖRK, die eine dezidiert lateinamerikanische Perspektive in alle drei Programmabteilungen des Weltkirchenrates einbrachten: Castro im Bereich der Programmeinheit I „Glauben und Zeugnis“, Santa Ana und Niilus in der Programmeinheit II „Gerechtigkeit und Dienst“ und Freire in der Programmeinheit III „Bildung und Erneuerung“.521 Sowohl in Bezug auf den Hintergrund ihrer Berufung in den Weltkirchenrat als auch hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung ihrer Arbeit weisen die biographischen Profile der vorgestellten Lateinamerikaner drei Gemeinsamkeiten auf: 1) Sie repräsentierten im ÖRK eine südamerikanische, männliche Elite; 2) sie befanden sich in Genf im ökumenischen Exil; 3) sie brachten Grundüberzeugungen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie in die Arbeit des ÖRK ein. Ad 1) Alle vier Lateinamerikaner stammten aus dem Süden des Kontinents: Niilus aus Argentinien, Castro und Santa Ana aus Uruguay und Freire aus Brasilien. Insbesondere die drei Vertreter des Cono Sur repräsentierten einen Teil des linksintellektuellen Spektrums Lateinamerikas, das traditionell stark von europäischer Kultur und europäischem Denken beeinflusst war. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft absolvierten alle vier ein Studium in Lateinamerika: Freire und Niilus studierten Jura, Castro und Santa Ana Theologie. Das Stipendienprogramm des ÖRK ermöglichte zudem Castro und Santa Ana einen Studien- bzw. Promotionsaufenthalt in Europa (Basel / Straßburg). Während ihres Studiums in den 1940er und 1950er Jahren war vor allem für die drei jungen Männer aus dem Cono Sur der Kontakt zur lateinamerikanischen Studentenbewegung (MEC) wegweisend. Hier machten sie erste ökumenische Erfahrungen und kamen in Kontakt mit anderen politisch aufgeschlossenen jungen Christen. Die Arbeit von ISAL, die sich aus der studentischen Arbeit des MEC in Lateinamerika entwickelt hatte und in die alle vier Lateinamerikaner unterschiedlich stark involviert waren – sei es durch die Tätigkeit als Generalsekretäre von ISAL (Niilus / Santa Ana) oder durch Publikationen und die Teilnahme an Konferenzen (Castro / Freire) – 521 Vgl. die Übersicht der Struktur des ÖRK (1971–1991) in: Elderen, Zeugnis, 194.

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bildete einen bedeutenden Referenzpunkt für ihr christliches Selbstverständnis, der sie später auch in Genf miteinander verband. Auch die Mitarbeit in der lateinamerikanischen Sektion der CFK war für Niilus, Castro und Santa Ana eine gemeinsame ökumenische Erfahrung.522 Dass sich unter den in den ÖRK berufenen Lateinamerikanern keine Frau befand, ist ein Signum der kirchlichen Strukturen der Zeit, denn auch in der Arbeit von ISAL waren kaum Frauen vertreten. Die einzige Ausnahme bildete Jorgelina Lozada, die als Theologin und erste ordinierte Pastorin in Lateinamerika Ende der 1950er Jahre in der Abteilung „Kirche und Gesellschaft“ der Evangelischen Kirche am R o de la Plata mitarbeitete. Als Intellektuelle523 prägten die vier Lateinamerikaner den theologischen und gesellschaftlichen Diskurs zwischen 1940 und 1970 in Lateinamerika entscheidend mit und repräsentierten vor diesem Hintergrund im Stab des ÖRK eine relativ junge524, männliche Bildungselite, die Themen der Unterdrückung, Armut, Abhängigkeit und Befreiung in der globalen ökumenischen Arbeit des ÖRK zur Sprache brachten. Ad 2) Eine zweite Gemeinsamkeit der vier vorgestellten Lateinamerikaner liegt darin, dass ihre Mitarbeit im ÖRK unter dem Vorzeichen des Exils stand. Der Begriff des Exils verweist auf die unfreiwillige und erzwungene Trennung einer Person aus einer Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlt, und signalisiert damit „eine durchaus signifikante funktionale Störung der betreffenden Gesellschaft, des politisch-sozialen Bezugsystems […], die unter bestimmten Umständen ,Exil‘ als (allein verbleibende) Reaktion auslöst“525. Im Exil zu 522 Die Mitarbeit von Lateinamerikanern in der CFK ist bislang noch nicht eigens untersucht worden und stellt ein lohnendes Forschungsgebiet dar. Interessant wäre es dabei, insbesondere die theologischen Konvergenzen und Divergenzen im Verständnis von Sozialismus / Marxismus zwischen „Zweiter“ und „Dritter“ Welt herauszuarbeiten sowie die ökumenischen Verbindungen zwischen der CFK und dem ÖRK zu untersuchen. Vgl. hierzu die Ansatzpunkte bei Mor e, Allies. Nach Martin Greschat übertraf die CFK die Genfer Ökumene in Bezug auf die Beteiligung von Vertretern der jungen Kirchen; vgl. Greschat, Protestantismus, 374 f. Zum Verhältnis von CFK und ÖRK vgl. Lindemann, Sauerteig. 523 Vgl. zum Begriff des Intellektuellen: Said, Götter. Für Said ist der „Intellektuelle ein Individuum […], das die Fähigkeit besitzt, eine Botschaft, eine Sicht, eine Haltung, Philosophie oder Meinung in der Öffentlichkeit zu repräsentieren, zu verkörpern und zu artikulieren. […] Der Intellektuelle handelt auf der Grundlage universeller Prinzipien, die besagen, daß, wo es um Freiheit und Gerechtigkeit geht, alle Menschen von den Weltmächten und Staaten akzeptable Verhaltensnormen erwarten dürfen und daß, wo diese Normen absichtlich oder unabsichtlich verletzt werden, diese Verletzungen bezeugt und mutig bekämpft werden müssen.“ (Ebd., 17.) 524 Zum Zeitpunkt ihrer Berufung waren alle vier Lateinamerikaner jünger als 50 Jahre: Santa Ana war 38 Jahre, Niilus war 39 Jahre, Castro war 45 Jahre und Freire war 48 Jahre alt. 525 Stammen, Exil, 54. Grundsätzlich weist Stammen in seinem Aufsatz auf einen wichtigen Unterschied der Begrifflichkeiten hin: „Exil“ beruht ausschließlich auf Fremdbestimmung, während „Emigration“ die eigene Entscheidung voraus geht. Dennoch ist m. E. diese Unterscheidung zu kurz gegriffen. Eine Exilsituation entsteht auch dann, wenn die Rückkehr der betroffenen Person aufgrund von Lebensgefährdung nicht mehr erfolgen kann. Insofern kann eine Person, die in das selbstgewählte Exil emigriert ist, trotzdem zum Exilanten werden, da sie

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leben führt bei den betroffenen Personen häufig dazu, dass das Nicht-Leben in der Heimat – verbunden mit der meist schwierigen Adaption an die neue Umgebung – als sehr schmerzvoll empfunden wird. Dennoch gilt insbesondere für viele Intellektuelle die Zeit des Exils als eine bedeutende Lebens- und Schaffensperiode.526 Während Paulo Freire und Julio de Santa Ana den ÖRK aufgrund der politischen Verfolgung in Brasilien und Uruguay selbst als Ort des Exils wählten, entstand der Exilstatus für Leopoldo Niilus und Emilio Castro erst durch ihre Mitarbeit im Weltkirchenrat. Denn obwohl beide zunächst freiwillig aus Argentinien bzw. Uruguay nach Genf emigrierten, wurde ihnen von den staatlichen Behörden ihrer Heimatländer die uneingeschränkte Einreise in ihr Heimatland verweigert. Damit wurden sie nachträglich zu Exilanten, denen die Rückkehr in ihre Heimat nicht ohne Weiteres möglich war. Das Genfer Exil, dass die vier Lateinamerikaner teilten, soll inhaltlich jedoch noch spezifiziert werden, indem es als ökumenisches Exil bezeichnet wird. Dieser Begriff verweist auf drei Dimensionen: Erstens bot der ÖRK den vier exilierten Lateinamerikanern einen konfessionsübergreifenden Wirkungsraum. Dies zeigte sich besonders an der Offenheit des ÖRK, mit Paulo Freire den ersten römisch-katholischen Mitarbeiter in den Stab zu berufen. Aber auch für Niilus, Santa Ana und Castro stellte die interkonfessionelle Zusammenarbeit im ÖRK eine neue Erfahrung dar, da sie bislang in vorrangig protestantisch geprägten Kreisen in Lateinamerika tätig waren. Zweitens befanden sich die Exilanten in Genf in einer internationalen, interkulturellen Gemeinschaft, in die sie eine dezidiert lateinamerikanische Perspektive eintrugen und welche sie im Dialog mit Personen aus anderen kulturellen Kontexten verhandelten. Drittens stellte der ÖRK als Ort des Exils eine geistliche „heilende Gemeinschaft“ dar, welche Santa Ana zufolge die Exilanten in der inneren Aufarbeitung ihrer politischen Verfolgung unterstützte. Das ökumenische Exil als Ort des transkonfessionellen und -kulturellen Dialogs sowie der geistlichen Bestärkung stellte trotz der individuell unterschiedlichen Exilerfahrung somit eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen den vier Lateinamerikanern im Stab des ÖRK dar. Ad 3) Eine dritte Gemeinsamkeit in der Mitarbeit der Lateinamerikaner bestand schließlich darin, dass der ÖRK ihnen einen internationalen Wirkungsraum zur Entfaltung ihrer befreiungstheologischen Positionen zur Verfügung stellte.527 nicht ohne Leib und Leben zu riskieren wieder in ihre Heimat zurückkehren kann. Vgl. hierzu ebd., 56. 526 Vgl. Said, Reflections, 173. 527 Im Folgenden wird nur auf die Positionen von Freire, Santa Ana und Castro verwiesen, da deren befreiungspädagogische bzw. -theologische Grundhaltung in den biographischen Profilen eingehend besprochen wurden. Obwohl Niilus’ Position sich inhaltlich nicht grund-

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Eine wichtige Grundlage stellte hierbei das von Freire in Brasilien entwickelte befreiungspädagogische Konzept der conscientizażo dar, das er durch seine Position als Sonderberater für Bildungsfragen und der damit verbundenen hohen Reisetätigkeit weltweit verbreitete und im ÖRK als Leitbegriff ökumenischen Lernens etablierte.528 Auch Santa Ana nutzte seine Position als Studiendirektor der CCPD dafür, seine in den 1960er Jahren innerhalb der Bewegung für ISAL ausgearbeiteten theologischen Überzeugungen zum Verhältnis von Revolution, Entwicklung und Befreiung auf internationaler Ebene zu verankern. Im Anschluss an seine Kritik an den westlichen, wachstumsorientierten Entwicklungsbegriff der SODEPAX-Konferenz in Beirut 1968 formulierte Santa Ana diese Kritik in der Studie „Herrschaft und Abhängigkeit“ aus. Dabei verstand er Entwicklung als anhaltenden Befreiungsprozess, der nicht nur auf die Bewusstseinsbildung und Befreiung der sich in struktureller Abhängigkeit befindlichen Menschen ausgerichtet sei, sondern auch eine Neuorientierung von Theologie und kirchlicher Praxis nach sich ziehen müsse. Santa Anas theologische Reflexionskraft trug entscheidend dazu bei, dass sich die „Option für die Armen“ insbesondere ab der Vollversammlung in Nairobi 1975 zu einem wichtigen Referenzpunkt ökumenischer Theologie entwickelte.529 Schließlich brachte auch Emilio Castro in seine Arbeit als Direktor der CWME eine befreiungstheologische Sicht ein, indem er das seit den 1950er Jahren in der Ökumene diskutierte Konzept Missio Dei mit den Einsichten der lateinamerikanischen Befreiungstheologie verband. Christliche Mission bedeutete für Castro die Teilnahme von Christen am befreienden Handeln Gottes, die sich je nach Kontext in unterschiedlicher Weise ausdrücke. Diese kontextuell geprägte, befreiungstheologische Perspektive integrierte Castro auch in die 1982 unter seiner Federführung entstandene Missionserklärung, die zu einem Konsensdokument internationaler ökumenischer Missionstheologie wurde.530 Hinsichtlich der Integration dieser befreiungstheologischen Perspektiven in die Arbeit des ÖRK markierte die fünfte Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 mit ihrem Hauptthema „Jesus Christus befreit und eint“ einen ersten Höhepunkt. Insbesondere die Sektion IV: Erziehung zur Befreiung und sätzlich von diesen drei Personen unterscheidet, ist jedoch seine befreiungstheologische Orientierung aus den Quellen nur ansatzweise nachweisbar. 528 Vgl. hierzu meine ausführliche Darstellung in: Str mpfel, Lernen. Auch Santa Ana und Emilio Castro beriefen sich in ihren Studien auf die Freire’sche Methode der Bewusstseinsbildung und integrierten sie in ihre befreiungstheologischen Arbeiten. Vgl. die unter der Federführung von Santa Ana herausgegebene Studie zu „Herrschaft und Abhängigkeit“: CCPD, Chains, 53–55. Auch Emilio Castro bezog sich in seiner befreiungstheologischen Entfaltung des Missionsauftrags der Kirche explizit auf Freires Konzept der conscientizażo: vgl. Castro, Revolution, 54–56. 529 Vgl. die Trilogie von Santa Ana, Nachricht; Santa Ana, Separation; Santa Ana, Church. 530 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen / Evangelisches Missionswerk, Mission.

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Gemeinschaft und die Sektion V: Strukturen der Ungerechtigkeit und der Kampf um Befreiung thematisierten in neuer Weise die Notwendigkeit einer befreienden Erziehungspraxis, die Beachtung der Kontextualität von Theologie sowie die Verantwortung der Kirchen in Bezug auf Menschenrechte, Sexismus und Rassismus.531 Ein grundlegender Beitrag für diese Neuausrichtung ökumenischer Arbeit entstand durch die Mitarbeit von Niilus, Freire, Santa Ana und Castro in den verschiedenen Programmeinheiten des ÖRK. Bis Anfang der 1980er Jahre vertieften sie die befreiungstheologische Orientierung des ÖRK, wenngleich sich die Kontroversen um die Reichweite kontextueller Theologie und die Befreiungstheologie in diesen Jahren zuspitzten.

531 Vgl. Bericht aus Nairobi 1975, 58–70 (Bericht der Sektion IV) und 74–96 (Bericht der Sektion V).

Teil IV Ökumenisch-hermeneutische Konsequenzen 9. Die Wechselwirkungen zwischen Lateinamerika und dem ÖRK als Modell ökumenischer Transkontextualität Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus erfolgte in einer Zeit eines grundlegenden Umbruchs in der internationalen Ökumene: Der ÖRK wandelte sich in den 1960er und 1970er Jahren von einer von westlichen Werten und westlicher Theologie geprägten Institution zu einer alle Teile der Welt repräsentierenden, professionell agierenden Organisation, in der die Kirchen der Dritten Welt zunehmend ihre Themen auf die ökumenische Agenda setzten und damit die Gestalt des ökumenischen Dialogs nachhaltig veränderten.1 Der nun folgende abschließende Teil fasst die grundlegenden Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Untersuchung zum lateinamerikanischen Boom in der internationalen Ökumene zusammen und fragt nach den ökumenisch-hermeneutischen Konsequenzen, die sich aus den Wechselwirkungen zwischen dem lateinamerikanischen Protestantismus und dem ÖRK ergeben. Die Ausführungen gehen dabei von der Grundannahme aus, dass es sich beim Einfluss lateinamerikanischer Theologie im ÖRK nicht um einen einseitigen Prozess der Repräsentation handelte, im Zuge dessen ein in sich geschlossenes, homogenes theologisches Konzept in die Arbeit des ÖRK eingetragen wurde, sondern dass sich die lateinamerikanischen Positionen in einem Wechselspiel zwischen globalen ökumenischen Dialogen und der gesellschaftspolitischen und kirchlichen Situation in Lateinamerika herausgebildet haben. Die Verwobenheit zwischen dem lateinamerikanischen und dem internationalen ökumenischen Kontext wird folglich vorausgesetzt. Weichenstellung: Von der Transkulturalität zur Transkontextualität Die theoretische Grundlage für das folgende Kapitel ist das bereits in der Einleitung eingeführte Konzept der Transkulturalität, das davon ausgeht, dass Kulturen keine homogenen Entitäten darstellen, sondern immer im Wandel begriffen sind. In der Begegnung von Kulturen finden Hybridisierungsprozesse statt, die kulturelle Grenzen überschreiten und durch Aneignung und

1 Vgl. Kunter / Schilling, Christ.

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Abgrenzung zur Ausprägung neuer Identitäten führen.2 In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand ist allerdings fraglich, inwiefern der Begriff der Kultur und folglich der Transkulturalität eine angemessene bzw. weiterführende Deutungskategorie darstellt. Denn auch wenn die Kulturwissenschaften nach dem cultural turn Abschied von einem homogenen Kulturbegriff genommen haben, der sich auf Begriffe wie Volk, kulturelle Reinheit, Rasse und Nation stützt, und ,Kultur‘ folglich nur im Plural verstanden werden kann, so bleibt die Frage bestehen, inwiefern die Verwendung des Begriffes nicht trotzdem das Bild einer in sich geschlossenen Entität perpetuiert.3 Mit Blick auf den ÖRK ist weiter zu fragen, ob der Kulturbegriff überhaupt für die Arbeit einer internationalen Organisation anschlussfähig ist, oder ob nicht die unterschiedlichen konfessionellen und kulturellen Identitäten sowie die verschiedenen theologischen Vorstellungen, die im ÖRK aufeinandertreffen, angemessener unter dem Begriff des Kontextes zusammengefasst werden können und der ökumenische Dialog folglich als transkontextuelle Begegnung bezeichnet werden kann. In der Theologie ist im Zuge der Herausbildung eigenständiger, nicht westlich geprägter Theologien in Afrika, Asien und Lateinamerika seit den 1970er Jahren der Begriff des Kontextes und der Kontextualität zunehmend in das Zentrum systematischer und missionswissenschaftlicher Arbeit gerückt.4 Der Missions- und Religionswissenschaftler Andreas Feldtkeller versteht Kontextualität als einen Ausdruck für die „wechselseitige Bezogenheit, in der die Theologie zu ihrem Kontext Stellung nimmt und Impulse zu dessen Veränderung gibt“5. Kontextuelle Theologien wie etwa die lateinamerikanische Befreiungstheologie, die afro-amerikanische / südafrikanische Black Theology oder die asiatische minjung-Theologie nehmen daher den jeweils spezifischen kulturellen Kontext zum Ausgangspunkt ihrer theologischen Analyse und stellen diese partikulare Perspektive in den universalen Horizont der Theologie.6 2 Vgl. Welsch, Transkulturalität. 3 Vgl. zum Kulturbegriff im Konzept der Transkulturalität: Gippert / Gçppe / Kleinau, Einführung, 10–13. Zum Wandel des Kulturbegriffs vgl. Bçhme, Cultus; N nning, Kulturwissenschaft. 4 Vgl. einführend in die ,local theologies‘: Schreiter, Abschied. Vgl. außerdem K ster, Einführung, 53–109; Pears, Theology. Prägend für einen kontextuellen Zugang zur Theologie war die Gründungsversammlung der Vereinigung von Dritte-Welt-Theologen in Daressalam 1976 (EATWOT), die sich dezidiert von der Vorherrschaft westlicher Theologie abgrenzte und nach der Bedeutung des kulturellen Kontextes für die je eigene Theologie fragte. Vgl. K ster, Einführung, 154–186; Nehring / Tielesch, Theologie, 44. 5 Feldtkeller, Kontextualität, 1643. 6 Wie der Theologe Christoph Dahling-Sander überzeugend darstellt, „entpuppt sich [damit] jeder vermeintliche Universalismus der Theologie als kontextueller Universalitätsanspruch. […] Von daher steht nicht die Alternative von kontextueller und universaler Theologie zur Debatte, sondern die Alternative von expliziter Reflexion der Kontextualität etwa im Rahmen einer Darlegung der Entdeckungszusammenhänge hinsichtlich theologischer Erkenntnisse oder eine Verweigerung dieser gegenüber.“ (Dahling-Sander, Rezeption, 84.)

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Für den US-amerikanischen katholischen Theologen Robert Schreiter, der sich eingehend mit der Spannung von Partikularität / Lokalität und Universalität / Globalität innerhalb der Theologie beschäftigt, ist die Schlüsselaufgabe kontextueller Theologie „die Beachtung von Identität in einer globalisierten Welt“7. Diese zunächst sehr allgemein gehaltene Grundbestimmung verweist darauf, dass es in der Auseinandersetzung mit einem spezifisch kontextuellen theologischen Entwurf nicht allein darum gehen kann, dessen kontextuelle Eigenheiten / Besonderheiten wahrzunehmen und herauszustellen. Vielmehr verweist der Begriff der Kontextualität auf die globalen (theologischen) Verflechtungen, auf deren Hintergrund sich die jeweilige kontextuelle Identität entfalten kann.8 Mit dem Begriff der Transkontextualität ist daher im Gegenüber zur Transkulturalität insofern eine weiterführende Terminologie gegeben, als sie die gegenseitige Bezogenheit der unterschiedlichen Kontexte konstruktiv aufnimmt und eine analytische Kategorie zur Beschreibung des Aufeinandertreffens unterschiedlich kontextuell geprägter Kirchen, Konfessionen und theologischer Strömungen im internationalen ökumenischen Zusammenhang darstellt. Auf globaler Ebene wurde der Begriff bereits 2010 von dem chilenischen Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, Martin Junge, verwendet. In einem Grußwort vor dem deutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes definierte Junge den ökumenischen Dialog und Austausch von Christen und Kirchen als transkontextuelle Begegnung: „Natürlich leben die Kirchen des Lutherischen Weltbunds in einer Vielzahl von Kontexten. Christus ist immer schon in allen diesen Kontexten. Wenn wir also den Weg für den Lutherischen Weltbund finden wollen, dann müssen wir sehr genau darauf hören, was Christen und Kirchen in diesen Kontexten sagen. Das ist eine besondere Aufgabe, die uns gestellt ist. Dieses Aufeinanderbeziehen von unterschiedlichen Kontexten nennen wir ,transkontextuell‘. In einer ,transkontextuellen‘ Begegnung ist nicht ein Kontext wichtiger als der andere. Zum Beispiel ist der westliche Kontext nicht derjenige, der den anderen seine Methoden aufdrängt. Jeder Kontext wird in seiner Besonderheit Ernst [sic!] genommen. Und in dieser transkontextuellen Begegnung entsteht etwas Neues.“9

An dieser Definition wird deutlich, dass die Terminologie ,Kontext‘ den Kulturbegriff transzendiert: Denn mit Blick auf die ökumenische Zusammenar7 Schreiter, Katholizität, 144. 8 Schreiter bezeichnet kontextuelle Theologien wie die Befreiungstheologie, die feministische und ökologische Theologie sowie die Theologie der Menschenrechte als „globale theologische Strömungen“, die Fehler im globalen System entlarven und Möglichkeiten zu deren Überwindung aufzeigen. Um das Ineinander-Verwobensein von Partikularität und Universalität dieser globalen theologischen Strömungen aufzuzeigen, prägt Schreiter den Begriff der „neuen Katholizität“, die sich durch Ganzheit, Fülle und kommunikativen Austausch auszeichnet und sowohl Gleichheit als auch Differenz einschließt; vgl. Schreiter, Katholizität, 203–226. 9 Junge, Grußwort.

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beit von Kirchen schließt die transkontextuelle Begegnung sowohl den kulturellen Austausch als auch den konfessionellen Dialog mit ein und schafft damit ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Ausgangspositionen der jeweiligen Akteure. Wie die feministische Theologin Eske Wollrad herausgearbeitet hat, geht es einer transkontextuell geprägten Theologie jedoch nicht allein um die Herausbildung von etwas Neuem. Vielmehr sei es ihr Anliegen, sich den Differenzaspekt zwischen den Kontexten bewusst zu machen. Transkontextualität, so Wollrad, stelle die historischen, politischen und strukturellen Differenzen zwischen den verschiedenen Kontexten in den Mittelpunkt und halte somit „Differenz und Relation, Partikularität und Universalität in einer dynamischen Spannung“10. Die Aufgabe einer transkontextuell orientierten Theologie sei es folglich, sich immer wieder den Ort bewusst zu machen, von dem aus gesprochen wird, und dadurch das Bewusstsein für die differierenden Positionen der Kontexte wach zu halten und diese auszuhandeln. In Bezug auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand verweist der Begriff ökumenische Transkontextualität folglich auf die Verwobenheit zwischen Lateinamerika und dem ÖRK und zeigt dabei die Vielfalt und Differenz der verschiedenen kulturellen, konfessionellen und theologischen Kontexte auf. Die folgenden drei Unterkapitel beleuchten die in der vorangegangenen zeitgeschichtlichen Analyse herausgearbeiteten Wechselwirkungen zwischen Lateinamerika und dem ÖRK in den 1960er und 1970er Jahren und stellen diese als Modell transkontextueller ökumenischer Begegnung vor. Dabei werden zugleich Kriterien ökumenischer Transkontextualität entwickelt. Zunächst werden die globalen theologischen Verflechtungen, die zwischen Lateinamerika und dem ÖRK bestanden haben, beschrieben und daran gezeigt, dass der lateinamerikanische Einfluss im ÖRK nicht die eindimensionale Repräsentation eines in sich geschlossenen theologischen Konzepts darstellte, sondern ein vielschichtiger Prozess der Rezeption, Aneignung und Neuformulierung theologischer Themen und Fragen war. In einem zweiten Schritt wird dann der ÖRK in seiner Funktion als internationale Organisation beleuchtet und gezeigt, inwiefern er zu einem Ort des Verhandelns, der Überschreitung von Grenzen und der Eröffnung neuer Räume geworden ist. Abschließend wird die Frage erörtert, welche Rolle dem Streben nach Einheit angesichts der Pluralität und Differenz kultureller und kirchlicher Kontexte zukommt und wie dies das ökumenische Selbstverständnis beeinflusst.

10 Vgl. Wollrad, Ästhetisierung, 65.

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9.1 Globale theologische Verflechtungen Bereits zu Beginn der Vollversammlung in Nairobi 1975 machte der amtierende Generalsekretär Philip Potter in seinem Rechenschaftsbericht auf die globalen Zusammenhänge aufmerksam, in denen sich der ÖRK befand: „Wir erkennen den globalen Charakter und die Verflechtung der großen Fragen unserer Welt, sind uns aber gleichermaßen der Tatsache bewußt, dass es auch eine entschlossene Bewegung in die andere Richtung gibt. Überall wächst das regionale und nationale Bewußtsein.“11

Um eine gerechte und friedliche Weltgemeinschaft aufbauen zu können, müsste daher, so Potter, die globale Perspektive mit den lokalen Problemen verknüpft werden. In der Globalgeschichte wird dieser Prozess als entanglement bezeichnet: Die sich gegenüberstehenden Entitäten werden dabei allerdings nicht als bereits bestehende, in sich geschlossene Einheiten betrachtet, sondern bilden sich nach Definition der Historiker Sebastian Conrad und Andreas Eckert erst „im Kontext der globalen Zirkulation“12 aus. Dass die globalen Entwicklungen auf der Ebene des ÖRK nicht losgelöst von den regionalen und lokalen Prozessen in den Mitgliedskirchen betrachtet werden können, sondern dass sich diese gegenseitig bedingen, zeigt sich exemplarisch am Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene. Dem Konzept des entanglement folgend handelte es sich nicht um eine einseitige Einflussnahme seitens der lateinamerikanischen Kirchen, sondern um einen Prozess von Wechselwirkungen, die zur Ausprägung neuer theologischer Konzepte, zur Wahrnehmung von Differenzen und dem Entstehen eines globalen ökumenischen Bewusstseins führten. Bereits die Rezeption und punktuelle Aneignung der Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers innerhalb der Bewegung ISAL geben ein anschauliches Beispiel für die theologische Verwobenheit zwischen Europa und Lateinamerika.13 Die Verflechtungen zwischen der globalen ökumenischen Ebene und dem regionalen lateinamerikanischen Kontext können vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Analyse konkret anhand von zwei Beispielen aufgezeigt werden: erstens der Rezeption und Aneignung des Rapid Social Change-Programms in Lateinamerika und der daraus folgenden Neuformulierung einer Theologie der Revolution und zweitens der rückwirkenden Rezeption der Theologie der Revolution außerhalb Lateinamerikas am Beispiel Deutschlands. 11 Bericht des Generalsekretärs Dr. Philip A. Potter. In: Bericht aus Nairobi 1975, 260. 12 Conrad / Eckert, Globalgeschichte, 23. Zur Verwendung des Begriffs „Zirkulation“ in der interkulturellen Theologie vgl. Sundermeier, Theologie, 67. 13 Vgl. ausführlich oben S. 106–109.

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(1) Die Aneignung des Rapid Social Change-Programms in Lateinamerika und die Neuformulierung einer lateinamerikanischen Theologie der Revolution Das von der Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK ab 1955 durchgeführte Studienprogramm „Rapid Social Change“ verfolgte das Ziel, die Kirchen in Asien, Afrika und Lateinamerika auf den sozialen, politischen und ökonomischen Wandel in ihren Kontexten aufmerksam zu machen und sie in ihrer Rolle und Verantwortung als gesellschaftspolitische Akteure in ihren Gesellschaften zu unterstützen.14 Anders als in Afrika und Asien traf das Studienprogramm in Lateinamerika auf keine etablierten gesellschaftspolitisch orientierten Strukturen innerhalb der Kirchen und wurde zunächst nur partiell durch drei Konferenzen 1955 in S¼o Paulo und 1957 in Campinas sowie Montevideo aufgenommen. Doch es zeigte sich, dass die beiden Konferenzen auf eine Leerstelle aufmerksam gemacht hatten, die zur Gründung von Kommissionen für Kirche und Gesellschaft in Brasilien und im Cono Sur führten und die Kirchen zur ökumenischen Zusammenarbeit in Bezug auf soziale und gesellschaftspolitische Fragen anregte. Eine wichtige inhaltliche Brücken- und Übersetzungsfunktion zwischen dem Programm in Genf und in Lateinamerika übernahm dabei der US-amerikanische Missionar und Theologe Richard Shaull.15 Die weitreichendste Konsequenz – und damit der Höhepunkt der Aneignung des Rapid Social Change-Programms in Lateinamerika – stellte die Gründung der kontinentweiten Bewegung für Kirche und Gesellschaft ISAL in Huampan 1961 dar, die bis 1975 lateinamerikanische protestantische Kirchen und engagierte Christen verschiedener Länder in ihrem gesellschaftspolitischen Handeln miteinander vernetzte. Dabei emanzipierte sich ISAL jedoch zunehmend von dem vom Rapid Social Change-Programm vorgesehenen Grundsatz der christlichen Verantwortung der Kirchen gegenüber dem sozialen Wandel. Im Zentrum stand für die lateinamerikanischen Christen vielmehr die Teilnahme der Kirchen an der gesellschaftlichen Revolution, die sie auch theologisch zu begründen versuchten. Die Perspektive der Revolution stellte für Theologen wie Richard Shaull die Möglichkeit zur umfassenden gesellschaftlichen Veränderung dar, an der die Kirchen federführend beteiligt sein sollten, wohingegen das vom ÖRK entworfene sozialethische Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ eher die Bewahrung der gegenwärtigen politischen Situation in Lateinamerika zu bedeuten schien. Die so entstandene Theologie der Revolution war die kontextuelle Perspektive, welche die lateinamerikanischen Teilnehmer auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966 selbstbewusst in den globalen ökumenischen 14 Die folgenden Ausführungen beziehen sich direkt auf die Analyse in Kap. 3 und 4 der vorliegenden Arbeit. Vgl. dort auch weiterführende Literatur. 15 Vgl. oben S. 81–84 sowie Santiago-Vendrell, Theology, 61–83.

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Diskurs einbrachten.16 Sie galt in Genf als genuin lateinamerikanischer Beitrag für die ökumenische Diskussion um gesellschaftliche Verantwortung. Dass diese Perspektive jedoch erst durch den Impuls des Rapid Social ChangeProgramms des ÖRK entstanden war und somit ein Resultat der Verwobenheit zwischen dem globalen ökumenischen und dem lokalen lateinamerikanischen Kontext darstellte, wurde dabei noch nicht erkannt. (2) Die Rezeption der Theologie der Revolution in Deutschland Die Theologie der Revolution wurde auf internationaler Ebene nur etwa zwei Jahre intensiv diskutiert und hatte bereits vor der Vollversammlung in Uppsala 1968 ihr Ende erreicht.17 In Deutschland wurde die Theologie der Revolution allerdings erst ab diesem Jahr systematisch von einer breiteren theologischen und kirchlichen Öffentlichkeit rezipiert, denn das Konzept der Revolution erhielt vor allem durch die Studentenproteste 1968 eine stärkere Aufmerksamkeit18: Die Studenten waren ganz von dem Gedanken einer gesellschaftsverändernden Revolution getragen und sahen in dem aus Lateinamerika stammenden Entwurf eine theologische Deutungsmöglichkeit für die eigene revolutionäre Situation.19 Für die Rezeption der Theologie der Revolution in Deutschland wurden insbesondere zwei Publikationen bedeutend: zum einen der von dem Heidelberger Ethiker Heinz Eduard Tödt und dem Münsteraner Theologen Trutz Rendtorff 1968 herausgegebene Band mit Analysen und Materialien zur Theologie der Revolution, zum anderen die im April 1969 erschienene „Diskussion um die ,Theologie der Revolution‘“, in dem die beiden Herausgeber Ernst Feil und Rudolf Weth eine Vielzahl protestantischer und römisch-katholischer Beiträge aus Deutschland und dem internationalen Kontext veröffentlichten, die das „Für“ und „Wider“ der Theologie der Revolution diskutierten.20 Daneben äußerten sich Theologen und kirchenleitende Personen auch in zahlreichen Kommentaren in Zeitungen und Zeitschriften zum Thema: Während Theologen wie Helmut Gollwitzer und Jürgen Moltmann zu den Befürwortern der Theologie der Revolution zählten und diese theologisch 16 Vgl. die Ausführungen oben S. 132–159. 17 Vgl. hierzu oben S. 157–159. 18 Der Historiker Christian Widmann führt in seiner Untersuchung zur politisch motivierten Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren eine Vielzahl von Belegen an, dass die Theologie der Revolution auch bereits unmittelbar nach der Weltkonferenz in Genf in Deutschland rezipiert worden sei, allerdings räumt er ein, dass sich erst im Frühjahr 1967 ein breiteres mediales Interesse an dem Thema fand; vgl. Widmann, Wandel, 94–117, bes. 102. 19 Im Folgenden werden nur die Kontroversen in der Bundesrepublik skizziert. In der DDR stieß die Theologie der Revolution in der kirchlichen Öffentlichkeit auf ein wesentlich geringeres Echo. Federführend in der Diskussion um Kirche und Revolution war hier der Methodist und CFK-Mitglied Carl Ordnung. Vgl. Ordnung, Christen. 20 Vgl. Tçdt / Rendtorff, Theologie; Feil / Weth, Diskussion. Vgl. ausführlicher zur Rezeption der Theologie der Revolution auf dem deutschen Buchmarkt: Widmann, Wandel, 252–261.

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zu begründen versuchten, beantwortete der Berliner Bischof Otto Dibelius die Frage, ob die christlichen Kirchen revolutionär werden sollten, bereits 1966 mit einem klaren „Nein“: „Gott bewahre uns vor einer ,Theologie der Revolution‘, wie man sie in Genf gefordert hat! Der Ausverkauf der geistlichen Substanz der Kirche an die Welt hat in diesem Jahrhundert derartige Fortschritte gemacht, daß es dieses letzten Siegels wahrlich nicht mehr bedarf.“21

In der theologischen Kontroverse in Deutschland ging es vor allem um zwei Streitpunkte: zum einen um die Frage nach der Erkennbarkeit des Handelns Gottes in der Geschichte und zum anderen um die Frage nach der Anwendung von Gewalt. In Bezug auf das erste Thema hatte Richard Shaull in Genf die Position vertreten, dass das Erlösungswerk Gottes die Menschen dazu aufrufe, sich für einen gesellschaftlichen Wandel einzusetzen und darin am Heilshandeln Gottes teilzunehmen.22 Doch gegen diese Haltung regte sich in Deutschland sowohl von evangelischer wie von katholischer Seite Widerstand: Die Theologen Otto Dibelius und Ernst Feil kritisierten, dass die Kirchen mit ihrem revolutionären Handeln meinen könnten, Gottes Willen direkt zu vollziehen.23 Auch Heinz Eduard Tödt stellte in Frage, dass die messianischen Elemente der biblischen Botschaft so interpretiert werden könnten, „als ob sie Anweisungen zu gesellschaftlichem Handeln enthielten“24. Für ein positives Verständnis von Revolution warben hingegen die beiden systematischen Theologen Jürgen Moltmann und Helmut Gollwitzer. Moltmann, der 1967 die Professur für Systematische Theologie in Tübingen angetreten hatte, hielt den Kritikern entgegen, dass es gerade aus der messianischen Tradition zu einer „Wiedergeburt des christlichen Glaubens in der revolutionären Gegenwart“25 kommen könne. Und für Gollwitzer gehörte Revolution sogar zum Wesen des Christentums: Denn er verstand das Reich Gottes selbst als „die alle anderen Veränderungen übertreffende Revolution“26 und sah in ihr die Verheißung, die revolutionär in die Gegenwart hineinwirke. Der zweite Streitpunkt in Bezug auf die Theologie der Revolution bestand in der Frage nach der Legitimierung von Gewalt zur Durchsetzung revolutionärer Ziele. Dieses Thema wurde zwar auch in Genf kontrovers diskutiert, stand aber nicht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Theologie der Revolution. Vielmehr handelte es sich um ein Problem, das durch die Rezeption der Weltkonferenz in Deutschland erst nachträglich stark gemacht 21 22 23 24 25 26

Dibelius, Kirchen, 2. Vgl. Shaull, Herausforderung, 99. Vgl. Dibelius, Kirchen; Dibelius, Nein, 640; Feil, Theologie, 131. Tçdt, Revolution, 38. Moltmann, Gott, 70. Gollwitzer, Revolution, 45.

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wurde.27 In der deutschen Diskussion standen sich zwei Positionen diametral gegenüber: Trutz Rendtorff und Heinz Eduard Tödt vertraten die Ansicht, dass mit dem Thema zum Umgang mit Gewalt die „Kardinalfrage“28 traditioneller christlicher Ethik gestellt sei und gewalttätiges revolutionäres Handeln immer nur eine „ultima ratio“29 darstellen könne. Helmut Gollwitzer kritisierte an dieser Haltung, dass es dabei nicht um eine grundsätzliche Ablehnung von Gewalt gehe, sondern allein um die Ablehnung von Gewalt zur Durchsetzung revolutionärer – d. h. bestehende Strukturen verändernder – Interessen. Gegnern der Theologie der Revolution wie Otto Dibelius warf Gollwitzer damit vor, einseitig pazifistisch zu sein: „Verwerfung der Revolution mit Berufung auf die christliche Verwerfung der Gewalt ist Heuchelei, solange aus der gleichen Begründung nicht auch die Verwerfung von Krieg und Militärwesen folgt. Wer in der Frage der Revolution pazifistisch argumentiert, in der Frage des Militärs aber nicht, enthüllt seine Argumentation als Ideologie der herrschenden Klassen.“30

An der Kontroverse um die Gewaltfrage zeigte sich deutlich, dass die durch die Genfer Weltkonferenz ausgelöste Debatte um die Theologie der Revolution die theologischen Lager in Deutschland spaltete: Während die Kritiker befürchteten, dass durch die Theologie der Revolution das gewalttätige Potential einer sich zunehmend radikalisierenden Studentenschaft nun auch theologisch legitimiert würde, sahen die Sympathisanten mit der Theologie der Revolution eher einen theologischen Reflexions- und Resonanzraum für gesellschaftspolitische Veränderungen gegeben. Eine Versöhnung dieser beiden Lager gab es indes nicht.31 Die beiden Beispiele zur Aneignung des Rapid Social Change-Programms in Lateinamerika und zur Rezeption der Theologie der Revolution in Deutschland veranschaulichen die Verwobenheit zwischen dem lateinamerikanischen 27 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell, 170 f. Die Untersuchung von Christian Widmann zur Gewaltproblematik interpretiert die Weltkonferenz genau aus dieser deutschen Perspektive und identifiziert daher „Gewalt“ als zentrales Thema der Konferenz (vgl. Widmann, Wandel, 78–160). Damit bleibt jedoch das eigentliche Thema der Genfer Weltkonferenz unterbestimmt, die sich mit den sozialen Auswirkungen der Dekolonisation für die Dritte Welt einerseits und der Bedeutung der Säkularisierung, Pluralisierung, Technisierung der westlichen Länder andererseits befasste. In Genf 1966 kam erstmals der Nord-Süd-Konflikt in der Ökumene zum Ausdruck, der sich allerdings nicht vorrangig an der Frage der Gewaltanwendung entzündete, sondern vor allem an der Frage nach dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen der Dritten Welt. Vgl. Kunter / Schilling, Christ, 37–48. 28 Rendtorff, Aufbau, 64 f. 29 Tçdt, Revolution, 40. 30 Gollwitzer, Revolution, 61. 31 Auch in der Rezeption des Antirassismusprogramms des ÖRK, das 1969 vom Zentralausschuss des ÖRK eingesetzt wurde, zeigte sich im westdeutschen Diskurs eine vergleichbare Fokussierung auf das Gewaltthema: vgl. Tripp, Fromm, insbes. 60–67 und 78–80.

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Kontext und dem ÖRK als Institution bzw. der weiteren internationalen Ökumene. Mit der Rezeption des Rapid Social Change-Programms bildete sich in Lateinamerika eine kontextbewusste, gesellschaftspolitisch engagierte Strömung innerhalb des lateinamerikanischen Protestantismus heraus, die sich zunehmend als eigenständig gegenüber europäischen und nordamerikanischen Denkzusammenhängen und institutionellen Bezügen verstand. Mit ISAL gründete sich in den frühen 1960er Jahren eine linkspolitische kirchliche Bewegung, welche die Suche nach der genuin lateinamerikanischen protestantischen Identität und deren Ausdrucksformen in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen stellte. Die Artikulation der Theologie der Revolution war ein Ergebnis dieses Reflexionsprozesses: Sie reagierte auf den gesellschaftlichen Wandel Lateinamerikas in den 1960er Jahren, indem sie das Thema Revolution theologisch verarbeitete, und stellte dieses Konzept auf der Genfer Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft als lateinamerikanische Antwort auf den raschen sozialen Wandel vor. Diese Perspektive dominierte als lateinamerikanischer Beitrag die theologische Debatte in Genf, konnte sich als sozialethisches Konzept zur Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft im internationalen ökumenischen Diskurs jedoch nicht durchsetzen. In Deutschland verlief die Diskussion um die Angemessenheit eines solchen theologischen Konzepts kontrovers und förderte die Differenzen zwischen den verschiedenen theologischen Lagern in den Jahren der Studentenproteste deutlich zutage. Die exemplarisch herausgestellten globalen theologischen Verflechtungen verweisen damit auf drei Ebenen ökumenischer Transkontextualität: Die verschiedenen Rezeptions- und Aneignungsprozesse unterstreichen erstens das entanglement und die globale Zirkulation theologischer Konzepte. Zweitens zeigt sich an den beiden Beispielen die Ausbildung multipler Identitäten32: Das Rapid Social Change-Programm war konstitutiv für den linkspolitischen Flügel des lateinamerikanischen Protestantismus (ISAL), der in der globalen ökumenischen Wahrnehmung der Weltkonferenz in Genf allerdings als genuin ,lateinamerikanisch‘ galt. Dies machte die Ungleichzeitigkeit von selbstbeschreibender und zugeschriebener Identität offensichtlich. Auch in Deutschland spaltete die theologische Einschätzung und Bewertung der Theologie der Revolution die theologischen Lager und machte die verschiedenen theologischen Identitäten sichtbar. Mit der Betonung der Differenz ist schließlich der dritte Aspekt ökumenischer Transkontextualität benannt. Denn „Identitäten“, so der Erlanger Religions- und Missionswissenschaftler Andreas Nehring, „sind im Prozess, und konstituieren sich im jeweiligen Kontext und je nach politischen, sozialen und religiösen Umgebungen unterschiedlich. Die Differenz zu etwas anderem ist dabei notwendige Bedingung für jede Ausbildung von Identität, sei es dass das Andere nun begehrt 32 Vgl. Nehring, Partikularismus, 87 f.

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oder abgelehnt wird.“33 Diese Differenz äußert sich immer in der Gegenüberstellung zwischen zwei oder mehreren Identitäten: Die Bewegung ISAL entstand als revolutionäre Bewegung im Gegenüber zu den einerseits liberalen und andererseits fundamentalistischen Strömungen des lateinamerikanischen Protestantismus; die Theologie der Revolution gewann vor allem als Gegenüber zum Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“ an ökumenischer Brisanz; und die mit der Theologie der Revolution verbundene Frage nach der Gewaltanwendung wurde vor allem angesichts der sich zunehmend radikalisierenden Studentenbewegung in Deutschland kontrovers diskutiert. Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene stellte somit einen transkontextuellen Prozess dar, der durch die Zirkulation theologischer Konzepte und das Aushandeln von Differenzen zur Ausbildung multipler Identitäten beigetragen hat. 9.2 Überschreitung von Grenzen und Eröffnung neuer Räume Ein weiteres Merkmal ökumenischer Transkontextualität ist ihr grenzüberschreitender Charakter. Der ÖRK gibt dafür ein einschlägiges Beispiel: Denn bereits seit seiner Gründung 1948 verband er protestantische, anglikanische und orthodoxe Kirchen und kirchliche Organisationen miteinander, die überwiegend aus Europa und Nordamerika stammten, und erweiterte seine ökumenische Ausrichtung in den 1960er und 1970er Jahren um eine Vielzahl von Mitgliedskirchen aus Asien, Afrika und Lateinamerika.34 Bis heute stellt der ÖRK als internationale Organisation ein „Forum internationalen Austauschs“35 dar und trägt damit entscheidend zur Vernetzung und Verhandlung unterschiedlicher kultureller und konfessioneller Positionen bei. Zur genaueren Bestimmung der Funktion des ÖRK als globaler Organisation ist das von dem indischen Literatur- und Kulturwissenschaftler Homi Bhabha entworfene Konzept des „Dritten Raums“ („third space“)36 weiterführend. Bhabhas Anliegen ist es, mit diesem Ansatz den Verhandlungsspielraum zwischen entgegengesetzten Polen – etwa zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, zwischen Entwicklung und Unterentwicklung, etc. – zu definieren. Allerdings geht Bhabha, anders als die postkolonialen Darstellungen von Frantz Fanon37 oder Edward Said38, mit seinem Konzept über die Konstruktion binärer Oppositionsstrukturen hinaus, indem er die Ambiva33 34 35 36 37

Ebd., 88. Vgl. die graphische Darstellung in: Kunter / Schilling, 336–341. Maul, Organisationen, 22. Vgl. Bhabha, Space, 207–221; Bhabha, Verortung, bes. 55–58. Vgl. Fanon, Verdammten. Fanon legte in dem 1961 erschienenen Werk seine Sicht des algerischen Unabhängigkeitskrieges dar und stellte ihn in den weiteren Horizont von Dekolonisation und kolonialer Unterdrückung. Vgl. die kritische Re-Lektüre von Fanon bei Eckert, Predigt. 38 Vgl. Said, Orientalism. Vgl. einführend: do Mar Castro Varela / Dhawan, Said.

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lenzen und kulturellen Differenzen zwischen diesen Polen aufzeigt.39 Es entsteht Bhabha zufolge ein hybrider „Zwischenraum“, in dem die verschiedenen Positionen und Differenzen offengelegt und verhandelt werden. In ihrem Vorwort zu Bhabhas Die Verortung der Kultur macht die Zürcher Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen darauf aufmerksam, welches Potential in dem Konzept des „Dritten Raumes“ steckt: Es beendet die Ära der Repräsentationen und Homogenitäten und verweist auf die pluralen Identitäten, auf die Neuschreibung von Geschichte, auf die Entdeckung des Anderen. Damit wird die kulturelle Differenz zum Leitmotiv der Ausbildung von Identitäten.40 Im Anschluss an Bhabhas Konzept des „third space“ können aus der vorangegangenen zeitgeschichtliche Analyse zwei solcher „Zwischenräume“ hervorgehoben werden, in denen kulturelle Differenzen ausgetragen wurden, die aber zugleich auch einen Raum für die Ausbildung neuer Identitäten und theologischer Konzepte darstellten. In dieser Hinsicht wird erstens der Ausschuss für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden (SODEPAX) interpretiert und zweitens der ÖRK als Ort des Exils vorgestellt. (1) SODEPAX als ökumenischer „Zwischenraum“ Die Einrichtung von SODEPAX als gemeinsamem Ausschuss des ÖRK und des Vatikan zum Thema Gesellschaft, Entwicklung und Frieden war ein Meilenstein für den ökumenischen Dialog der 1960er und 1970er Jahre: Denn erstmals in der Geschichte begegneten sich innerhalb von SODEPAX Vertreter der römisch-katholischen Kirche und der Mitgliedskirchen des ÖRK auf Augenhöhe, um die globalen politischen Herausforderungen miteinander zu diskutieren und daraus Konsequenzen für das Handeln der Kirchen abzuleiten.41 Der Ausschuss SODEPAX, der seinen Sitz im ökumenischen Zentrum in Genf hatte, entwickelte sich in der Zeit seines Bestehens zwischen 1968 und 1980 zu einem die Konfessionen und kulturellen Grenzen überschreitenden „Zwischenraum“, in dem insbesondere die Differenzen der verschiedenen kulturellen Systeme offen debattiert und verhandelt wurden.42 Bereits die erste SODEPAX-Konferenz in Beirut 1968 bezeichnete christliche Gemeinschaften und Kirchen als „internationale Gemeinschaften, die Grenzen überschreiten und etwas vom Wesen der Gemeinschaft vorwegnehmen, noch ehe diese ihre gesetzlichen Formen gefunden hat“43. Gemeinsam mit anderen religiösen und weltlichen Organisationen könnten sie somit 39 40 41 42

Vgl. do Mar Castro Varela / Dhawan, Bhabha, 85–87; vgl. Bhabha, Verortung, 52–54. Vgl. Bronfen, Vorwort, XI; Bhabha, Verortung, 52 f. Vgl. hierzu ausführlich oben S. 159–188. Vgl. zur hier und im Folgenden entfalteten These von SODEPAX als ökumenischem Zwischenraum meine Ausführungen in: Schilling, Ökumene. 43 Beirut-Bericht, 56.

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„Grundlagen einer funktionierenden Weltordnung“44 legen und zur Koordination der verschiedenen Akteure entscheidend beitragen. Im Zentrum der Arbeit von SODEPAX stand das Problem der weltweiten Entwicklung, das in Beirut 1968 insbesondere in ihrer wirtschaftlichen Dimension diskutiert wurde. Zwar wurden auch die sozialen, politischen und kulturellen Faktoren als wichtige Determinanten eines umfassenden Entwicklungsverständnisses benannt, standen aber noch nicht im Vordergrund der Debatte. Die Ergebnisse der Beiruter Konferenz erfuhren in der Rezeption insbesondere aus dem Umfeld der lateinamerikanischen Bewegung ISAL, namentlich von Julio de Santa Ana, eine scharfe Kritik.45 Der dadurch aufgebrochene Konflikt betraf zwei Ebenen: Erstens stand durch die Kritik an einem vornehmlich wirtschaftlich orientierten Entwicklungsbegriff die Frage im Raum, wer in einem globalen Diskurs, wie dem ökumenischen, die Deutungshoheit über ein bestimmtes Entwicklungsverständnis habe. Aus Santa Anas Sicht war die Konferenz in Beirut ausschließlich an westlichen Entwicklungsmaßstäben orientiert und hatte deshalb bewusst die Perspektive der Dritten Welt außen vor gelassen. Dass diese Kritik jedoch nicht uneingeschränkt zutraf, zeigte sich beispielsweise daran, dass in Beirut vier Vertreter aus Lateinamerika anwesend waren, von denen sich zwei – Horacio Godoy und Paulo de Tarso Santos – auch an der Diskussion beteiligten, ohne jedoch eine Polarität zwischen dem Entwicklungsverständnis des Westens und der Dritten Welt direkt zu thematisieren. Im Anschluss daran war zweitens durch Santa Anas Kritik die Frage gestellt, wer die Dritte Welt im ökumenischen Diskurs angemessen vertrete. Für Santa Ana war die Frage der Repräsentation der Dritten Welt an eine dezidiert anti-imperialistische, dependenztheoretische Haltung gebunden, die eine weniger polarisierende Perspektive, wie sie in Beirut etwa von Godoy vorgetragen worden war, nicht als repräsentativ anerkannte. Die Verhandlung des Konfliktes geschah auf der Folgekonferenz von SODEPAX in Montreal 1969, zu der Santa Ana und der bereits von der Weltkonferenz in Genf bekannte Gonzalo Castillo C rdenas als Vertreter Lateinamerikas eingeladen wurden. Als Ziel der globalen Entwicklungsbemühungen einigte sich die Konferenz auf die Formulierung, als Christen eine „verantwortliche Weltgesellschaft befreiter Menschen“46 zu schaffen, die sich für die Aufrichtung einer gerechten und menschlicheren Gesellschaft einsetzen sollte. Allerdings handelte es sich bei dieser Zielperspektive lediglich um eine Kompromissformel, welche die Radikalität der Kritik von Santa Ana nicht teilte. Zwar erhielt der Begriff der Befreiung in Montreal Eingang in den ökumenischen Diskurs um Entwicklung, wurde aber in Kontinuität zu dem Konzept der „verantwortlichen Weltgesellschaft“ verstanden, und nicht, wie 44 Ebd. 45 Vgl. hierzu ausführlich oben S. 170–173. 46 Montreal-Bericht, 30.

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von Santa Ana und Castillo C rdenas gefordert, als eine radikal veränderte Sicht auf die Entwicklungsproblematik und als Motor für revolutionäre gesellschaftliche Veränderungen. Punktuelle Lösungsansätze zur Beilegung des Konfliktes und zur Integration der lateinamerikanischen Perspektive der Befreiung in den globalen ökumenischen Diskurs erfolgten erst auf der theologischen Konferenz von SODEPAX in Cartigny 1969. Maßgebend war hierfür die Methodologie der Konferenz, die sich nicht zum Ziel setzte, einen Konsens zwischen allen Beteiligten zu erreichen, sondern als „Versuchsstation“47 verschiedene theologische Zugänge zum Entwicklungsproblem nebeneinander zu stellen. Die Offenlegung der Pluralität der verschiedenen theologischen Ansätze, die Entwicklung entweder als Humanisierung, Befreiung, Wachstum oder als Erneuerungsprozess interpretierten, war folglich das Ergebnis der Konferenz in Cartigny. Damit verabschiedete sich SODEPAX von dem Bemühen, sich auf ein universal geltendes Verständnis von Entwicklung einigen zu müssen und verwies stattdessen auf die Kontextabhängigkeit theologischer Reflexion. Diese kontextuelle Perspektive war 1969 innerhalb der Theologie noch ganz neu, setzte sich aber in den 1970er Jahren zunehmend als Maßstab globaler ökumenischer Diskurse durch.48 Durch die Deutung der Arbeit von SODEPAX als transkontextuellem „Zwischenraum“ kann folglich die Wirkungsweise des ökumenischen Ausschusses auf verschiedenen Ebenen deutlicher bestimmt werden: Erstens bot SODEPAX einen „Zwischenraum“ zwischen dem ÖRK und der römisch-katholischen Kirche, in der die beiden kirchlichen Institutionen erstmals zu den Themen gesellschaftliche Verantwortung, Entwicklung und Frieden zusammenarbeiteten und sich über ihre unterschiedlichen theologischen Zugänge zu diesen Themen austauschten. Somit war der Ausschuss ein Experimentierfeld des ökumenischen Dialogs. Doch anders als bei bisherigen ökumenischen Ausschüssen zeigte sich innerhalb der Debatten von SODEPAX deutlich, dass die Konfliktlinien nicht primär zwischen den Konfessionen, sondern zwischen den verschiedenen kulturellen Kontexten und politischen Überzeugungen verliefen. SODEPAX zeichnete sich als „Zwischenraum“ zweitens dadurch aus, dass in dem Ausschuss kulturelle Konflikte verhandelt wurden – ein zentrales Anliegen von Bhabhas Theoriebildung.49 Die Konflikte betrafen in erster Linie

47 Vgl. Löffler, Kritische Beurteilung der bei der Tagung in Cartigny zur Anwendung gekommenen Methoden, 9, AÖRK 4202.047. 48 Vgl. insbesondere die Darstellung über die 1976 gegründete Vereinigung von Dritte-WeltTheologen EATWOT bei K ster, Einführung, 154–186. 49 Unter Verhandlung versteht Bhabha die Artikulation entgegengesetzter Positionen, nicht deren Aufhebung: „Mittels des Begriffs der Verhandlung versuche ich, die Aufmerksamkeit auf die Struktur der Iteration zu lenken, welche die Form politischer Bewegungen bestimmt, die versuchen, widerstreitende (antagonistic) und einander entgegengesetzte (oppositional) Elemente

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die Gegenüberstellung zwischen einem westlich geprägten, am Wachstum orientierten Entwicklungsverständnis auf der einen Seite und einer an Befreiung orientierten dependenztheoretischen Perspektive aus Lateinamerika auf der anderen Seite. Doch es blieb nicht bei der Feststellung dieser Polarität; vielmehr wurden in den Diskussionen innerhalb von SODEPAX diese eindeutigen Repräsentationsmuster durchbrochen, denn es gab auch auf lateinamerikanischer Seite Vertreter, wie etwa Horacio Godoy, die eher den Fortschrittsgedanken des Entwicklungsbegriffs favorisierten, und auf der Seite der Europäer Befürworter eines am Konzept der Befreiung angelehnten Entwicklungsverständnisses, wie etwa Jürgen Moltmann.50 SODEPAX als Ort der transkontextuellen Begegnung und Verhandlung verweist somit auf die Hybridität des ökumenischen Dialogs, die die Spannung zwischen den verschiedenen Polaritäten offenlegt und die Annahme eindimensionaler Repräsentationsverhältnisse zerstört.51 Daran anknüpfend stellte SODEPAX als „Zwischenraum“ drittens auch theologische Homogenitäten infrage und beförderte die Neubildung theologischer Konzepte. Diese Perspektive wurde insbesondere durch den theologischen Diskurs in Cartigny 1969 gestärkt: Zum einen stellte die Konferenz die Kontextbezogenheit von Theologie heraus, wie es bislang noch auf keiner ökumenischen Konferenz geschehen war. Zum anderen bot die Konferenz dem reformierten Theologen Rubem Alves und dem römisch-katholischen Theologen Gustavo Guti rrez ein konfessionsübergreifendes Forum, ihre unabhängig voneinander entwickelten Gedanken zu einer Theologie der Befreiung vorzutragen. Die SODEPAX-Konferenz in Cartigny 1969 war folglich der erste Ort einer ökumenischen Entfaltung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie.52 Somit öffnete SODEPAX als ökumenischer „Zwischenraum“ in wenigen Jahren viele Fenster – als Ort des Dialogs, des Konflikts, der Infragestellung von Homogenitäten sowie in der Ausbildung neuer theologischer Konzepte. Doch die Periode, in der SODEPAX einen solchen für die ökumenische Zusammenarbeit zukunftsweisenden „Zwischenraum“ einnahm, war nur von kurzer Dauer. Bereits Anfang der 1970er Jahre ließ die Unabhängigkeit von SODEPAX gegenüber dem ÖRK einerseits und dem Vatikan andererseits beide Seiten befürchten, dass sich der Ausschuss verselbständigte und zu einer „third entity“53 – auf Bhabha übertragen: zu einem „third space“ – entwickelte. Die Krise, in die SODEPAX aufgrund dieses Verdachts geriet, wurde 1972 von

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ohne die erlösende Rationalität der Aufhebung oder Transzendenz zu artikulieren.“ (Bhabha, Verortung, 39.) Vgl. do Mar Castro Varela / Dhawan, Bhabha, 94. Vgl. Jürgen Moltmann, Die christliche Theologie der Hoffnung und ihre Beziehung zur Entwicklung, AÖRK 4202.045. Zum Begriff Hybridität vgl. Bhabha, Verortung, 165–171; do Mar Castro Varela / Dhawan, Homi K. Bhabha, 93 f. Vgl. oben S. 178–187, bes. 181–186. Ecumenism in Crisis. Bericht von IDOC (6. 3. 1972), 5, AÖRK 4201.5.1.

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dem internationalen Nachrichtendienst IDOC als „crisis of identification“ charakterisiert: „The churches could not follow the dynamic, perhaps prophetic, pace of SODEPAX, hence they could not recognize themselves in it.“54 Die Arbeit von SODEPAX wurde folglich eingeschränkt, so dass die beiden Trägerorganisationen den Prozess der ökumenischen Erneuerung, der von dem Ausschuss in seiner Gründungsphase ausging, nach 1972 nicht fortführten, sondern SODEPAX bis zu seiner Einstellung 1980 nur noch die Rolle einer Verwaltungsstelle („reference agency“) einnahm.55 Das transformative Potential, das SODEPAX als ökumenischer „Zwischenraum“ entfaltet hatte, wurde damit abgebrochen. (2) Der ÖRK in den 1970er Jahren als Ort ökumenischen Exils Das Konzept des „Zwischenraums“ trifft jedoch nicht nur auf SODEPAX zu, sondern stellt auch eine Deutungsmöglichkeit für die Funktion des ÖRK als Ort des Exils dar: So wurde der ÖRK in den 1970er Jahren Anlaufstelle für vier Lateinamerikaner, die zwischen 1969 und 1983 ihr Exil in Genf verbrachten. Darüberhinaus verstand sich aber auch die ökumenische Gemeinschaft nach dem Aufbruch der 1960er Jahre selbst als exiliert. Einen wichtigen Referenzpunkt für das theologische Selbstverständnis des ÖRK lieferte dabei das biblische Exodus- und Exilsmotiv, das ab 1974 verstärkt aufgegriffen und theologisch entfaltet wurde. Für die Kulturwissenschaftlerin Alfrun Kliems ist Homi Bhabhas Konzept des „third space“ für die Beschreibung von Prozessen der Migration und des Exils deshalb sinntragend, „weil es die unselige Lösung des Dazwischen überdenkt, denn Begriffen wie Dazwischen, wie Zwischenraum und in-between-situation hängt die negative Konnotierung der Ausweglosigkeit oder des Eingeklemmtseins an. Im Verständnis des Postkolonialismus meint der Dritte Raum einen positiv besetzten Raum der Aushandlung, einen Raum der Interferenz, des Zusammenspiels, der Übersetzung und Überschneidung.“56

Wird der ÖRK im Folgenden als ein solcher „Zwischenraum“ interpretiert, so soll dies genau auf das diesem Ansatz inhärente Potential der Neuschaffung von Identitäten und Ausbildung neuer theologischer Konzepte hinweisen. Für Leopoldo Niilus, Paulo Freire, Julio de Santa Ana und Emilio Castro übernahm der ÖRK in den 1970er Jahren die Schutzfunktion des Exils. Während Freire und Santa Ana aufgrund der Repression in ihren Heimatländern Brasilien und Uruguay explizit ins Exil nach Genf gingen, entwickelte sich für Niilus und Castro dagegen der ÖRK eher implizit zu einem Exilort, da 54 Ebd., 9. 55 Vgl. ebd. 56 Kliems, Transkulturalität, 31 f.

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sie in Lateinamerika nicht direkter politischer Verfolgung ausgesetzt waren, sondern zunächst nach Genf emigrierten. Indem Niilus jedoch von den argentinischen Behörden die Rückkehr nach Argentinien verweigert wurde und Castro nach seiner Ankunft in der Schweiz kein neuer uruguayischer Reisepass ausgestellt wurde und er somit als staatenlos galt, stellte Genf auch für sie den Ort ihres Exils dar.57 Wie der postkoloniale Literaturtheoretiker Edward Said beschreibt, löst die Exilssituation bei den Exilanten ambivalente Reaktionen aus. Einerseits wird das Nicht-Leben in der Heimat – verbunden mit der meist schwierigen Adaption an die neue Umgebung – als sehr schmerzvoll empfunden.58 Auf der anderen Seite gelte für viele Intellektuelle die Zeit des Exils auch als eine bedeutende Lebens- und Schaffensperiode, der sie durchaus „auch Positives abgewinnen“ könnten und die „sogar Privilegien bereithält“59. Diese positive Seite des Exils liegt für Said darin, dass Exilanten Dinge niemals isoliert betrachten, sondern in der doppelten Perspektive des Herkunftslandes und des Ortes des Exils. Said kommt zu der Konklusion: „Wenn man in der Lage ist, dieses Schicksal nicht als Deprivation, als etwas, was zu beklagen wäre, zu erfahren, sondern als Freiheit, als einen Entdeckungsprozeß […] – dann bereitet dieses Schicksal einen einzigartigen Genuß.“60

Im Anschluss an Saids Überlegungen kann folglich der ÖRK als „Zwischenraum“ interpretiert werden, in welchem die vier lateinamerikanischen Exilanten zu Vermittlern zwischen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und der ökumenischen Weltgemeinschaft wurden. In diesem „Zwischenraum“ waren sie nicht an den Rand gedrängte exilierte Intellektuelle, sondern trugen entscheidend zur Neubildung und Ausprägung einer kontextuell geprägten und befreiungstheologisch inspirierten ökumenischen Theologie bei. Wie die einzelnen biographischen Profile aufgezeigt haben, war der ÖRK auch immer ein Ort von Konflikten zwischen divergierenden Positionen. Doch die Terminologie des „Zwischenraums“ trifft nicht nur auf die lokale Bezeichnung des ÖRK als Ort des Exils zu, sondern stellt gleichzeitig auch eine theologische Deutungskategorie nach dem ökumenischen Aufbruch der 1960er Jahre dar. So beschrieb Philip Potter, der dritte Generalsekretär des ÖRK, in seiner Schlussrede auf der Vollversammlung in Nairobi 1975 die Aufbruchsstimmung von Uppsala rückblickend als „eine Haltung des Exodus“: „,Siehe, ich mache alles neu!‘, war damals unser Leitwort. Wir zogen aus, die Strukturen der Gesellschaft, die Beziehungen zwischen den Menschen und besonders zwischen den Rassen zu verändern.“61 Auch der brasilianische 57 58 59 60 61

Vgl. zur Unterscheidung zwischen Exil und Emigration: Stammen, Exil, 56. Vgl. Said, Reflections, 173. Vgl. Said, Götter, 63. Ebd., 66. Potter, Wüste, 299.

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Theologe Rubem Alves, der in den 1960er Jahren ein engagiertes Mitglied der Bewegung ISAL war, verwendete 1974 in einem Aufsatz die Metapher des Exodus zur Beschreibung der Situation der 1960er Jahre: „This generation once believed that we were at a turning point in history, that a new world was being born. We felt like pilgrims in the Exodus on our way to the Promised Land.“62

Doch Alves räumte ein, dass diese Aufbruchstimmung aufgrund einer fehlenden Vision von der Zukunft der Menschen einem Gefühl der Frustration gewichen sei63 – eine Haltung, die auch Philip Potter teilte, denn durch den Aufbruch seien die unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen über die ökumenische Weggemeinschaft erst recht deutlich geworden: „In den letzten 10 Jahren waren wir tief engagiert in der Frage der Befreiung von allen Formen von Unterdrückung und Entfremdung. Wir fragten nach Befreiung im persönlichen, geistlichen, wirtschaftlichen und politischen Bereich und in den Beziehungen von Mann und Frau. […] Und all diese Gegensätze, die uns auf unserem langen Weg zu schaffen machten, haben uns spüren lassen, dass wir miteinander in Konflikten stehen, dass wir alle verwirrt, frustriert, enttäuscht sind – und wir sind es wirklich –, weil unsere Vorstellungen und Illusionen in Widerspruch geraten sind zur Wirklichkeit Gottes und zu Seiner Welt.“64

Diese Situation der Frustration und Enttäuschung über die Uneinigkeit prägte nach Potter die frühen 1970er Jahre. Eindrückliche Beispiele für diese theologischen Spannungen innerhalb des ÖRK waren die Kontroversen auf der Konferenz von Glauben und Kirchenverfassung in Löwen 1971 oder auch auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1972 / 73.65 Für die globale Ökumene lässt sich diese Phase der Ernüchterung theologisch als der Übergang vom Exodus in eine Zeit des ökumenischen Exils deuten. Philip Potter sah die Situation der ökumenischen Gemeinschaft analog zum Exodus des Volkes Israel aus Ägypten (Ex 12) und der sich anschließenden Wüstenerfahrung (Ex 16 ff.), in der sich Israel nicht auf seine eigene Kraft, sondern nur auf Gottes Führung verlassen konnte. In seiner Rede vor der Vollversammlung in Nairobi hielt Potter fest, dass die Zeit des Aufbruchs, des Exodus vorbei sei: „1975, in dieser Versammlung, befinden wir uns in der Wüste. Wir sind das wandernde Gottesvolk, in der Tat herausge-

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Alves, Seed, 556. Vgl. ebd., 554. Potter, Wüste, 299. Zu der in dieser Untersuchung nicht näher beleuchteten Kontroverse zur Kontextualität von Theologie zwischen dem Argentinier Jos M guez Bonino und dem orthodoxen Theologen John Meyendorff in Löwen 1971 vgl. den ausführlichen Beitrag von Pedroso Mateus, Bonino. Zu den Spannungen auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok vgl. Kunter, 1972/3; Kunter / Schilling, Christ, 51–56.

Ökumenische Transkontextualität

263

rufen als ein Bundesvolk – unterwegs zum Ziel des verheißenen Landes.“66 Rubem Alves teilte diese Auffassung, spitzte die Aussage aber noch zu, indem er ausdrücklich auf die Exilsituation der ökumenischen Gemeinschaft aufmerksam machte und zugespitzt formulierte: „We are exiles in a Captivity, and it is unlikely that we shall ever see the Promised Land. This is the source of our frustration.“67 Für beide war die ökumenische Gemeinschaft an eine Wegkreuzung gekommen: Die Aufbruchstimmung von Uppsala gehörte der Vergangenheit an und die ökumenische Orientierungslosigkeit angesichts kultureller, politischer und theologischer Konflikte sowie die mangelnde sichtbare Einheit der Kirchen stand nun im Vordergrund. Doch in gleicher Weise wie für das Volk Israel die Wüstenzeit nach dem Auszug aus Ägypten oder auch die Zeit der babylonischen Gefangenschaft eine Zeit der inneren Erbauung, der Besinnung auf Gott und der Stärkung des Zusammenhalts war, erkannten Potter und Alves in der Wüsten- / Exilerfahrung auch eine Chance für Erneuerung. Denn das Exil, so formulierte Alves, könne nur dann eine fruchtbare Zeit sein, wenn es als Zeit der Neuausrichtung angenommen werde. Es sei keine Zeit des Erntens, sondern des Säens: „In the larger sense, captivity is not a time of birth. […] But it can be a time of conception. If ours is not the harvest season, it may well be a time for sowing.“68 Dadurch könne aus einer frustrierten Generation eine Generation der Hoffnung wachsen. Noch stärker als Alves verstand Potter die Wüstenzeit als eine Zeit der geistlichen Erneuerung. Es sei keine gottlose Zeit, sondern eine Zeit der tiefen Glaubenserkenntnis und der Neubildung der ökumenischen Gemeinschaft: „[W]enn wir auf unserer Wüstenwanderung zusammenstehen, miteinander leben und leiden in tiefer Spiritualität und Hoffnung, und wenn wir in dieser Hoffnung auch handeln und den Sinn für die Realitäten dieser Welt entwickeln, dient uns all dies zur Auferbauung des Glaubens in der Wüste. Wir haben Durchblicke tiefer Glaubenserkenntnis gewinnen können. Wir wissen, dass wir mit solcher Glaubenserkenntnis nicht unter uns bleiben können. Denn wir treffen in der Wüste noch viele andere Menschen: Menschen anderer lebendiger Glaubensweisen, mit anderen oder auch gar keinen Weltanschauungen. Wir können nicht an ihnen vorbeigehen. Der Dialog, zu dem wir berufen sind, fordert unsere ganze Existenz heraus zum Miteinander-Leben und Miteinander-Streiten auf der Suche nach Gemeinschaft.“69

Für Potter und Alves erreichte damit die ökumenische Gemeinschaft im „Zwischenraum“ der Wüste, des Exils eine neue Qualität: Denn für sie rief die 66 67 68 69

Potter, Wüste, 299. Alves, Seed, 556. Ebd., 563. Potter, Wüste, 300 f.

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Ökumenisch-hermeneutische Konsequenzen

Erfahrung der Konflikte und Spannungen die Kirchen dazu auf, sich unter Gottes Führung als Gemeinschaft auf dem Weg zur sichtbaren Einheit zu sammeln. Im Mittelpunkt stand die Hoffnung auf eine neue Dimension des ökumenischen Dialogs angesichts kultureller, konfessioneller oder religiöser Verschiedenheiten. 9.3 Die Einheit der Kirche als Ausdruck von Vielfalt und Differenz Die Reflexionen von Potter und Alves über die Situation der ökumenischen Gemeinschaft Mitte der 1970er Jahre weisen auf ein ökumenisches Grundproblem hin, das sich in dieser Zeit erstmals so konkret herauskristallisierte. Einerseits sprach aus ihren Ausführungen eine zunehmende Ernüchterung und Frustration angesichts kultureller, theologischer und konfessioneller Verschiedenheiten, andererseits hielten beide an der Hoffnung auf Einheit der ökumenischen Gemeinschaft fest.70 Das hiermit aufgeworfene Problem besteht in der Frage, wie die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt der Kirchen theologisch verstanden werden kann und welches Verständnis von Ökumene sich aus dieser Spannung ableiten lässt.71 Zwar gehört die „Einheit der Kirche“ zu den grundlegenden ökumenischen Zielvorstellungen72, aber es bleibt eine offene Frage, wie diese Einheit inhaltlich bestimmt wird. Die unterschiedlichen Einheitsmodelle, die unter den Begriffen „organische Union“, „korporative Union“, „versöhnte Verschiedenheit“, „konziliare Gemeinschaft“ oder „Koinonia“ firmieren, gehen dabei von unterschiedlichen Grundvoraussetzungen aus und setzen jeweils andere Akzente, stehen aber alle für das Bemühen der Theologie, der Realität der voneinander getrennten Kirchen konstruktiv die Vision der durch Christus gegebenen Einheit entgegenzusetzen.73 Das Modell des Neutesta70 Damit wird die These der Historikerin Hedwig Richter widerlegt, der ÖRK hätte in den 1960er und 1970er Jahren die Zielvorstellung christlicher Einheit zugunsten sozialethischer Themen aufgegeben (vgl. Richter, Protestantismus, 434). Die christliche Einheit wurde nicht, wie Richter behauptet, durch die Hinwendung zu revolutionären Aktionsprogrammen „vereitelt“; vielmehr stellte sich in diesen Jahren die grundsätzliche Frage, wodurch sich denn diese christliche Einheit auszeichne. Dieses Problem wurde insbesondere auf der Konferenz der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung in Löwen 1971 zum Thema „Einheit der Kirche – Einheit der Menschheit“ artikuliert (vgl. den Bericht und die theologische Reflektion über die Konferenz von Lange, Utopie; zur zeitgeschichtlichen Einordnung von Löwen 1971 und zu Langes „ökumenischer Utopie“ vgl. Brown, Globalization). Auch die o. g. Beiträge von Potter und Alves verweisen darauf, dass sie die Einheit der Kirche nicht als etwas Gegebenes betrachteten, sondern als eine Verheißung Gottes ansahen, um deren sichtbare Gestalt im ökumenischen Dialog gerungen werden muss. 71 Vgl. Kçrtner, Ökumene, 22–31. 72 Vgl. Meyer, Zielvorstellungen, 13 f. 73 Zu den versch. Einheitsmodellen vgl. den enzyklopädischen Überblick von Hardt, Einheit, 1164. Vgl. zur ausführlichen Darstellung der Modelle der Einigung Meyer, Zielvorstellungen, 88–173.

Ökumenische Transkontextualität

265

mentlers Oscar Cullmann „Einheit durch Vielfalt“ unterscheidet sich insofern von den anderen Einheitsmodellen und ist daher eigens hervorzuheben, als er bereits 1986 ganz bewusst die Vielfalt und Diversität zum konstitutiven Bestimmungselement des ökumenischen Dialogs erhob.74 Einheit bedeutet nach Cullmann nicht Uniformität, sondern ist Ausdruck der vielfältigen Geistesgaben und Charismen, die zum Aufbau der christlichen Gemeinschaft notwendig sind.75 Der Aspekt der Vielfalt wurde in jüngster Zeit auch von dem Wiener Systematiker Ulrich Körtner betont, wobei für ihn insbesondere die Differenz im Zentrum einer ökumenischen Hermeneutik steht: „Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich bei der Einheit der Kirche um die Einheit einer unaufhebbaren Differenz, d. h. um eine paradoxe Einheit. Sie ist nicht uniforme Einheit, sondern eine in sich differente und komplexe Gemeinschaft.“76

Körtner sieht mit dem Differenzmodell die Möglichkeit gegeben, das Problem der Einheit der Kirche nicht statisch, sondern dynamisch zu verstehen und damit auch die eschatologische Perspektive der Ekklesiologie neu ins Bewusstsein zu rufen.77 Allerdings ist bei allen hier genannten Einigungsmodellen festzustellen, dass sie vorrangig auf die konfessionelle Einheit abzielen und kulturelle Differenzen zwischen den Kirchen sowie ihre kontextuellen Bezüge weitgehend außer Acht lassen. Der Bochumer Systematiker Michael Weinrich macht in seiner ökumenischen Ekklesiologie auf die Gefahr eines kontextunabhängigen Strebens nach kirchlicher Einheit aufmerksam und schließt von daher eine „überregionale Gleichgestaltigkeit der Kirche“ aus: „Die in den unterschiedlichen Kontexten begründete Vielfalt wird von unserer Sehnsucht nach Einheit selbst in der ökumenischen Bewegung weithin viel zu harmlos und unproblematisch eingeschätzt, weil man sich über die Reichweite der geographischen, historischen und sozio-ökonomischen Konstitutionsbedingungen für die konkrete Gestalt der Kirche und ihrer Theologie viel zu wenig im klaren ist.“78

Zwar räumt Weinrich ein, dass die Betonung der Kontextualität auch leicht zur Dominante gegenüber dem Bekenntnis zu Jesus Christus werden könne und sich hier partikulare Interessen über die universale Bestimmung der Kirche stellen könnten, doch dieses Problembewusstsein ändert nichts an seinem grundlegenden Argument: „Das Zeugnis der Kirche ist nie raum- und zeitlos,

74 75 76 77 78

Vgl. Cullmann, Einheit. Vgl. ebd., 56–58; vgl. Meyer, Zielvorstellungen, 161. Vgl. Kçrtner, Ökumene, 30. Vgl. ebd., 34 und 42 f. Weinrich, Kirche, 80.

266

Ökumenisch-hermeneutische Konsequenzen

sondern es bekommt erst darin seine konkrete Lebendigkeit, daß es ,zeitgenössisch‘ wird.“79 Ausgehend von diesem dynamischen Einheitsbegriff, der weniger die Homogenität und Universalität als vielmehr die Differenz und Kontextbezogenheit in den Mittelpunkt der Frage nach der Einheit der Kirche rückt, soll nun die Reichweite einer transkontextuellen Perspektive auf den ökumenischen Dialog hin verdeutlicht werden. Leitend hierfür sind die oben entwickelten Kriterien ökumenischer Transkontextualität: entanglement, Differenz, Grenzüberschreitung und Ausbildung multipler Identitäten. (1) Die transkontextuelle Perspektive auf die Einheit der Kirche macht erstens auf die globalen theologischen Verflechtungen aufmerksam, in denen sich der ökumenische Dialog abspielt. Die Einheit der Kirche kann nur als Einheit von verschiedenen Kontexten verstanden werden, die miteinander verwoben sind. Kein Kontext ist dem anderen über- oder untergeordnet und erst in dem Bewusstsein ihrer Verflochtenheit sind sie Ausdruck für das gemeinsame Streben nach kirchlicher Einheit. Konkret zeigt sich die Notwendigkeit, diese globalen theologischen Verflechtungen anzuerkennen, beispielsweise im Umgang mit kirchlichen Partnerschaften. (2) Zweitens stellt die transkontextuelle Perspektive auf die Einheitsdiskussion den konfliktiven Charakter des ökumenischen Dialogs heraus. Wie Jos M guez Bonino bereits 1982 ausgeführt hat, nimmt die Suche nach kirchlicher Einheit genau in diesem Punkt ihren Ausgang: „Die Oikoumene […] [ist] auf allen Ebenen (der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen) konfliktgeladen […], und diese Konfliktlast (mehr als die Ost-West-Spannung) muß von seiten [sic!] eines echten Ökumenismus im Rahmen der wirklichen Oikoumene als zentrale Achse für die Definition der Problematik und für die Suche nach Lösungen betrachtet werden.“80

Die transkontextuelle Perspektive auf ökumenische Prozesse zeigt, dass im ökumenischen Dialog ein „Zwischenraum“ entstehen kann, innerhalb dessen die miteinander in Konflikt stehenden Positionen aufeinandertreffen und ausgehandelt werden. Die kirchliche Einheit ist dabei keine statische Größe, sondern die Zielperspektive dieses dynamischen Aushandlungsprozesses zwischen den verschiedenen Kontexten. (3) In ihrer grenzüberschreitenden Funktion verweist die transkontextuelle Perspektive drittens auf den Aspekt der Identitätsbildung im ökumenischen Dialog. Denn erst durch die Begegnung mit dem Anderen entsteht ein Be-

79 Ebd., 81. 80 Vgl. M guez Bonino, Einheit, 335. Diesen Aspekt hebt auch Emilio Castro als wichtigen Beitrag von M guez Bonino für die ökumenische Bewegung hervor, vgl. Castro, Contribuci n, 45. Die Konflikte sieht M guez Bonino als „menschliche Konflikte“ an, „die die eschatologische Einheit zwar verbergen, aber nicht zerstören können“ (M guez Bonino, Einheit, 336).

Ökumenische Transkontextualität

267

wusstsein für Differenz, an der sich die je eigene kulturelle, konfessionelle und theologische Identität klarer herausbilden kann. Das Modell ökumenischer Transkontextualität trägt somit einige wichtige Kriterien in den Diskurs um die theologische Bestimmung der Einheit der Kirche ein. Entscheidend ist, dass ein solcher, von postkolonialem Denken beeinflusster Diskurs eher die Brüche, das Fragmentarische und die Differenzen in der Suche nach kirchlicher Einheit zum Ausdruck bringt als deren Uniformität oder Homogenität. Damit soll Einheit als ökumenische Zielvorstellung keinesfalls aufgegeben werden, aber sie stellt sich in dieser Perspektive als zutiefst menschliches Bemühen dar, das unter dem eschatologischen Vorbehalt steht. Dies ist einer der zentralen Gedanken, den M guez Bonino bereits 1982 formuliert hat: „Im Glauben dürfen wir die eschatologische Einheit fordern. Aber diese Aussage bietet in sich keinerlei Sicherheit für die reale Einheit in der Geschichte.“81 Die Aufgabe der Kirchen besteht folglich darin, die Hoffnung auf diese eschatologische Einheit wach zu halten und die Vielfalt der Zugänge auf diese Hoffnung hin anerzuerkennen. Die transkontextuelle Perspektive auf den ökumenischen Einheitsdiskurs fordert dabei die Kirchen heraus, die auf dem Weg auftretenden Konflikte nicht als kirchentrennend zurückzuweisen, sondern als konstitutive Elemente des Ringens um kirchliche Einheit anzuerkennen.

81 M guez Bonino, Einheit, 336.

Schlussbetrachtung Die vorliegende Studie beschäftigte sich mit dem Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den 1960er und 1970er Jahren. Im Zentrum standen dabei vor allem die Wechselwirkungen zwischen den protestantischen Kirchen und Christen aus Lateinamerika und dem ÖRK. Die Präsenz des ÖRK in Lateinamerika hat einerseits das Bewusstsein der Kirchen in Lateinamerika gestärkt, sich mit gesellschaftspolitischen Themen in ihrem Kontext zu beschäftigen, andererseits haben Christen aus Lateinamerika die Arbeit des ÖRK in diesen Jahren mit ihren kontextuellen theologischen Beiträgen bereichert und herausgefordert. Dieser Boom stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der sich seit der Vollversammlung in Neu-Delhi 1961 vollziehenden Globalisierung des ÖRK, in der sich der ÖRK von einer vorrangig nordamerikanisch-europäisch geprägten Institution zu einer alle Kontinente repräsentierenden Organisation entwickelte.1 Zur Entwestlichung des ÖRK trugen insbesondere die Vertreter der Kirchen der Dritten Welt bei, unter denen die Repräsentanten aus Lateinamerika in den langen sechziger Jahren insofern eine hervorgehobene Position einnahmen, als sie sowohl innerhalb ökumenischer Konferenzen als auch im Stab des ÖRK – stärker als Vertreter aus Asien und Afrika – als Einheit wahrgenommen wurden. Die neue Perspektive, welche aus Lateinamerika in die internationale ökumenische Arbeit eingetragen wurde, lässt sich mit den drei Stichworten Revolution, Exil und Befreiung zusammenfassen. Die Theologie der Revolution war die theologische Antwort auf den sozialen Wandel in Lateinamerika und stellte auf der Genfer Weltkonferenz 1966 den ersten sichtbaren Ausdruck einer von ihrem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext ausgehenden lateinamerikanischen protestantischen Theologie dar. Auch das ökumenische Exil warf ein neues Licht auf die internationale ökumenische Arbeit: Denn dass sich der ÖRK zu Beginn der 1970er Jahre zum Ort des Exils für die vier Lateinamerikaner Leopoldo Niilus, Paulo Freire, Julio de Santa Ana und Emilio Castro entwickelte, war keine strategische Entscheidung des ÖRK, sondern folgte aus der Notwendigkeit, den Lateinamerikanern einen Zufluchtsort anzubieten, an dem sie ihre theologische / pädagogische Arbeit fortführen konnten. Die Stärkung und Ausbildung befreiungstheologischer Konzepte war schließlich die dritte Perspektive, die auf den lateinamerikanischen Einfluss im ÖRK zurückging. Sie zeigte sich in der Annahme des Ansatzes der befreiungspädgogischen Bewusstseinsbildung Paulo Freires, in 1 Vgl. Kunter / Schilling, Globalisierung.

270

Schlussbetrachtung

der Neubestimmung des Entwicklungsbegriffs, der auf Befreiung statt auf Wachstum orientiert war, sowie in der Ausbildung einer ökumenischen „Option für die Armen“. Allerdings hat die zeitgeschichtliche Untersuchung auch gezeigt, dass sich nicht alle drei Perspektiven im internationalen ökumenischen Dialog gleichermaßen durchsetzen konnten: Die Theologie der Revolution galt in Genf zwar als Alternative zum bisher gültigen Leitkonzept der „verantwortlichen Gesellschaft“, doch zögerte die ökumenische Weltgemeinschaft, Revolution zum allumfassenden Maßstab sozialethischen Handelns zu machen. Die Perspektive des Exils und der Befreiung waren hingegen theologische Ansätze, die der ÖRK zunehmend in die eigene Arbeit integrierte und die insbesondere auf der Vollversammlung in Nairobi 1975 eine wichtige Rolle einnahmen. Allerdings sind mit einer solchen Beschreibung des zunehmenden Einflusses lateinamerikanischer Perspektiven im ÖRK zwei grundsätzliche Probleme verbunden: Erstens repräsentierten die lateinamerikanischen Stimmen im ÖRK hinsichtlich der in Kapitel 1 vorgestellten Pluralität des lateinamerikanischen Protestantismus nur einen kleinen Teil, nämlich jenen, der sich den gesellschaftspolitischen Fragen und dem globalen ökumenischen Diskurs öffnete. Dieser Teil stammte überwiegend aus dem Umfeld der links-intellektuellen Bewegung ISAL, die sich insbesondere mit marxistisch und sozialistisch inspirierten Gesellschaftsanalysen und der sich daraus speisenden befreiungstheologischen Perspektive in die Arbeit des ÖRK einbrachte. Dem ÖRK trug dies die Kritik ein, einseitig linkspolitisch zu agieren und etwa den Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika durch das Programm HRROLA eine höhere Aufmerksamkeit zu schenken, als denen in Mittel- und Osteuropa.2 So zutreffend diese Kritik auch ist, statuiert sie einen sozialismusfreundlichen Linkskurs des ÖRK, der allerdings in historischer Perspektive so eindeutig nicht zu fassen war: Denn gerade das Verständnis von Sozialismus unterschied sich zwischen Lateinamerika und der Sowjetunion grundlegend und wies insbesondere in den 1970er Jahren eine große Vielfalt an Zugängen und Interpretationen auf, die alle im ÖRK zusammen kamen.3 Zweitens sorgte der „Boom lateinamerikanischer ,Befreiungstheologie‘“4, wie Jos M guez Bonino die theologische Entwicklung der 1970er Jahre in Lateinamerika bezeichnete, auch zu einer Exotisierung und Idealisierung lateinamerikanischer Theologie. Dies stellt eine Parallele zum Boom in der lateinamerikanischen Literatur dar; denn dem Literaturwissenschaftler Michael Rössner zufolge führte die Epoche des Boom „zu einer sehr einseitigen Rezeption der lateinamerikanischen Literatur, die unter einer teils exotisti2 Vgl. Lefever, Weltkirchenrat, 100–104; Boyens, Rat, 190–208 et al.; Richter, Protestantismus, 423–427. 3 Vgl. Kunter / Schilling, Christ, 62 f; Str mpfel, Sozialismus, 231–233. 4 M guez Bonino, Wahrheit, 442 (Hervorhebung im Original).

Schlussbetrachtung

271

schen, teils ausschließlich politischen Perspektive rezipiert und auf diese festgelegt wurde“5. Gleiches ist auch für die ökumenische Rezeption der lateinamerikanischen Theologie festzustellen: Weniger politisch orientierte Strömungen, etwa evangelikale oder pfingstliche Perspektiven aus Lateinamerika, und damit verbundene Frage- und Problemstellungen wurden im ökumenischen Diskurs der 1960er und 1970er Jahre noch weitgehend ausgeblendet. Fragt man hingegen nicht nur danach, welche theologischen Themen und Konzepte durch den lateinamerikanischen Protestantismus in die internationale Ökumene eingetragen wurden, sondern blickt man aus globalgeschichtlicher und postkolonialer Perspektive auf die Wechselwirkungen zwischen dem ÖRK und Lateinamerika, so wirft die zeitgeschichtliche Analyse auch ein neues Licht auf die ökumenische Hermeneutik und die Bedeutung des ökumenischen Dialogs. Das im vierten Teil der Untersuchung entwickelte Modell der ökumenischen Transkontextualität geht von der Verwobenheit der verschiedenen Kontexte aus, die sich gegenseitig durchdringen und beeinflussen. Dies bedeutet, dass die verschiedenen (kulturellen, politischen, konfessionellen und theologischen) Kontexte immer im Austausch und in Verhandlung miteinander stehen, dass kein Kontext dem anderen über- oder untergeordnet ist, sondern dass sich erst durch die Bezogenheit der verschiedenen theologischen Ansätze etwas Neues ausbilden kann. In der zeitgeschichtlichen Analyse zeigte sich dies besonders deutlich an den Aushandlungsprozessen auf den SODEPAX-Konferenzen: Das Neue bestand in Cartigny 1969 nicht darin, dass sich die Kommission den befreiungstheologischen Ansatz von Gustavo Guti rrez und Rubem Alves vollständig zueigen gemacht hätte, sondern darin, dass sie die Kontextualität theologischer Aussagen, die Notwendigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit und die methodische Vielfalt erstmals zum Maßstab eines gelingenden ökumenischen Dialogs erhoben hat. Nicht die Suche nach einem Konsens, sondern die Anerkennung kontextuell bedingter Differenzen stand hier im Mittelpunkt. Damit ergibt sich aber auch eine neue Sicht auf das Verständnis der Einheit der Kirche: Denn wenn diese die biblisch begründete Zielvorstellung der Ökumene ist (Joh 17,21), so kann es aus transkontextueller Perspektive nicht darum gehen, die Suche nach Einheit mit dem Streben nach Harmonie gleichzusetzen. Vielmehr gerät eine „transkulturelle, transkonfessionelle und dynamische Einheit“6 in den Blick, welche die Differenzen zum Ausgangspunkt nimmt und den Prozess des Verhandelns bereits als konstitutiven Bestandteil der Suche nach Einheit der Kirche versteht. Der ökumenische Dialog ist – sowohl auf globaler wie lokaler Ebene – der „Zwischenraum“, an dem diese Aushandlungsprozesse geführt und ausgetragen werden können. Erst 5 Eine Parallele dazu stellte der Boom in der lateinamerikanischen Literatur dar; vgl. Rçssner, Literatur, 23. 6 Jahnel, Ökumene, 29.

272

Schlussbetrachtung

wenn Ökumene als ein solcher offener Kommunikationsprozess verstanden wird7, kann es ihr gelingen, das ihr inhärente Konfliktpotential konstruktiv zu wenden, die Vielfalt als Voraussetzung für eine lebendige Gemeinschaft anzuerkennen und sich in diesem Bewusstsein für Gottes Zukunft zu öffnen, in der die Einheit der Kirche zu ihrem Ziel kommen wird.

7 Vgl. Raiser, Tradition, 435.

Summary Revolution, Exile and Liberation. The Boom of Latin American Protestantism in the international ecumenical movement in the 1960s and 1970s The present study analyzes from a church historical and theological perspective the impact of Latin American Protestantism and its distinct theology within the World Council of Churches (WCC) in the 1960s and 1970s. This period marks a decisive turning point in the history of the WCC: It is the beginning of a globalization process leading the World Council from a mainly European / North American oriented institution into a modern and global organization. Churches from the so-called “Third World” gained influence within the international ecumenical movement and profoundly changed its agenda including new perspectives on themes like development, liberation, human rights and racism.1 In the ecumenical movement, Latin America was generally regarded as a Catholic continent. Thus, the World Missionary Conference in Edinburgh 1910 had not decided on a specific missionary strategy for Latin America as it had for Africa or Asia. Even so, this image of an “abandoned continent” (John Mackay) changed within the second half of the 20th century, when social changes like the growth of population, industrialization and urbanization began to arouse much interest within some parts of the Protestant churches in Latin America, particularly in the Southern Cone. This is the time when the ecumenical awakening – the “boom” – of Latin American Protestantism begins.2 The outstanding think tank and ecumenical point of reference was ISAL (Iglesia y Sociedad en Am rica Latina) – an ecumenical network of theologians and lay people who reflected the role of churches in society. Founded in 1961, the goal of ISAL was to call Latin American churches into ecumenical cooperation regarding the rapid social, political and economic changes on the continent. Thematically, ISAL worked through studies and publications (such as the magazine Cristianismo y Sociedad) on one hand, and through social action and project work on the other. Consisting of theologians like Richard Shaull, Jos M guez Bonino, Rubem Alves and Julio de Santa Ana ISAL was a strong, yet small network of left wing intellectuals trying to bring socialist ideals to the Protestant churches in Latin America and to integrate a Protestant perspective from that continent into the international ecumenical movement. 1 Cf. Kunter / Schilling, Globalisierung. 2 The term „boom“ refers to the „boom“ of Latin American literature in the 1960s and the development of the so-called nueva novela and adopts it to the field of theology.

274

Summary

By sharing a global historical and postcolonial approach, this study identifies transnational entanglements between Latin America and the World Council and looks at the specific contribution Latin American churches and individuals made to the globalization of the WCC. The main characteristics of the “boom” of Latin American Protestantism within the WCC are developed in three themes: Revolution, Liberation, and Exile. 1) At the World Conference for Church and Society in Geneva 1966 theologians from Latin America like Richard Shaull and Gonzalo Castillo C rdenas introduced the idea of a “theology of revolution” to the international ecumenical movement. This revolutionary utopia called into question the existing model of the “responsible society” to address the socio-ethical commitment of Christians and urged the ecumenical movement to participate in the radical establishment of a new social order. 2) The Latin American plea for revolution was only the kick-off for the integration of Latin American perspectives into the work of the WCC. In the years following the Geneva conference in 1966, the center of attention shifted from revolution towards humanization and liberation through the influence of Latin American theologians. One focal point became the work of the Joint Commission on Society, Development and Peace (SODEPAX) between the World Council and the Pontificial Commission Justitia et Pax. Its aim was to establish a joint strategy of the churches regarding world development. The Latin American participants at the SODEPAX conferences in 1968 / 69, like the Uruguayan Methodist theologian Julio de Santa Ana, however, strongly criticized the paternalistic and hegemonic understanding of the term development. According to Santa Ana, a new comprehension of development should lead to solidarity and justice and show a humanizing and liberating effect for the people. In this way, SODEPAX was the first ecumenical platform starting an open and critical discourse on oppression and dependency and thus introducing liberation as a new measure for the process of world development. 3) The dimension of the newly emerging liberation theology was not only introduced at ecumenical conferences and consultations but became an inherent part of the work of the WCC through Latin American staff members. Between 1969 and 1973 four leading Latin American intellectuals joined the WCC staff in Geneva, the majority of whom were also closely connected to the network of ISAL. Paulo Freire, the famous Brazilian educator and leader of alphabetization programs joined the Office of Education as special consultant; Leopoldo Niilus, an Argentinian lawyer became Director of the Commission of the Churches on International Affairs (CCIA); Julio de Santa Ana, a Methodist theologian from Uruguay became study coordinator in the Commission on Churches’ Participation in Development (CCPD); and the likewise Methodist theologian Emilio Castro from Uruguay joined the WCC as Director of the Commission on World Mission and Evangelism (CWME). They all fled from repressive military dictatorships in Brazil, Uruguay and Argentina, seeking

Summary

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exile in Geneva. The exile allowed them to continue their thematic work, but also to share their thoughts on liberation theology with the global ecumenical community. Hermeneutically, the study interprets the boom of Latin American Protestantism as model of ecumenical transcontextuality. It analyzes the global theological entanglements between Latin America and the WCC and argues that the Latin American influence cannot be understood as a way of a single-tracked representation but that it involved a complex process of ecumenical reception, appropriation and restatement of theological themes and questions. In postcolonial terminology, the World Council of Churches as an international organization became a “third space” (Homi Bhabha), where theological and cultural differences were articulated and negotiated. As space “in-between”, it opened the way for the integration of new theological perspectives into the global ecumenical movement, but at the same time it became a place for the clash of different theological contexts and opinions. This led to a new understanding within the global community of churches, where contextual and cultural disparities exceeded the denominational differences and thus challenged the search for unity in a new way.

Abkürzungsverzeichnis ACO

Acci n Cat lica Oper ria – Katholische Aktion in der Arbeiterschaft AÖRK Archiv des Ökumenischen Rates der Kirchen, Genf ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland / Erstes Deutsches Fernsehen ASEL Acci n Social Ecum nica en Am rica Latina – Soziale ökumenische Aktion in Lateinamerika ASIT Asociaci n de Seminarios e Instituciones Teol gicas – Südamerikanische Vereinigung Theologischer Hochschulen AWSCF Archiv des Christlichen Studentenweltbundes, Genf CACC Central American Common Market CCIA Commission of the Churches on International Affairs CCLA Comit de Cooperaci n en Am rica Latina – Komitee für missionarische Zusammenarbeit in Lateinamerika CCPD Commission on the Churches’ Participation in Development CEB Confederażo Evang lica do Brasil – Evangelischer Kirchenbund in Brasilien CEC Centro de Estudios Cristianos del R o de la Plata – Christliches Studienzentrum am R o de la Plata CELA Conferencia Evang lica Latinoamericano – Evangelische Lateinamerikanische Konferenz CELADEC Comisi n Evang lica Latinoamericana de Educaci n Cristiana – Evangelische Kommission Lateinamerikas für christliche Erziehung CELAM Consejo Episcopal Latinoamericano – Lateinamerikanischer Bischofsrat CEPAL Comisi n Econ mica para Am rica Latina y el Caribe – UNWirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik CFK Christliche Friedenskonferenz CLADE Congreso Latinoamericano de Evangelizaci n – Lateinamerikanischer Kongress für Evangelisation CLAI Consejo Latinoamericano de Iglesias – Lateinamerikanischer Kirchenrat CVJM Christlicher Verein Junger Männer / Menschen (ab den 1970er Jahren) CWME Commission on World Mission and Evangelism (bis 1971 DWME) CWS Church World Service DEA Division of Ecumenical Action

278 DEKT DFG DICARWS DICASR DWME EATWOT EKD EKHN ELN ESCEAL FAO FEST FET FIEU GS HRROLA IBCG ICCC IDAC IECLB IERP ILO IMC IRM ISAL ISEDET JEC JOC JUC KEK LAFTA

Abkürzungsverzeichnis

Deutscher Evangelischer Kirchentag Deutsche Forschungsgemeinschaft Division of Inter-Church Aid, Refugee and World Service Department of Inter-Church Aid and Service to Refugees Division on World Mission and Evangelism (ab 1971 CWME) Ecumenical Association of Third World Theologians Evangelische Kirche in Deutschland Evangelische Kirche in Hessen und Nassau Ej rcito de Liberaci n Nacional – Nationale Befreiungsarmee (Kolumbien) Estudios Sociol gicos del Cristianismo Evang lico en Am rica Latina – Institut für soziologische Studien des evangelischen Christentums in Lateinamerika Food and Agriculture Organization of the United Nations Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Heidelberg Facultad Evang lica de Teolog a, Buenos Aires – EvangelischTheologische Fakultät, Buenos Aires (später: ISEDET) Federaci n de Iglesias Evang licas del Uruguay – Evangelischer Kirchenbund in Uruguay Pastoralkonstitution Gaudium et Spes Human Rights Resources Office for Latin America Internationalen Bundes Christlicher Gewerkschaften / Weltverband der Arbeitnehmer International Council of Christian Churches Instituto de Ażo Cultural – Forschungs- und Aktionszentrum für Fragen von Erziehung und Bildung Igreja Evang lica de Confiss¼o Luterana no Brasil – Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien Iglesia Evang lica del R o de la Plata – Evangelische Kirche am R o de la Plata Internationale Arbeitsorganisation International Missionary Council International Review of Mission(s) Iglesia y Sociedad en Am rica Latina – Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika Instituto Superior Evang lico de Estudios Teol gicos, Buenos Aires – Hochschule für Evangelische Theologie, Buenos Aires (vorher: FET) Juventud Estudiantil Cat lica – Katholische Jugend an Gymnasien Juventud Oper ria Cat lica – Katholische Arbeiterjugend Juventud Universit ria Cat lica – Katholische Universitätsjugend Konferenz Europäischer Kirchen Latin American Free Trade Organisation

Abkürzungsverzeichnis

MdB MDiv MEC

279

Mitglied des Deutschen Bundestags Master of Divinity Movimiento Estudiantil Cristiano (argentino) – Christliche Studentenbewegung (in Argentinien) MEDH Movimiento Ecum nico por los Derechos Humanos – Ökumenische Bewegung für Menschenrechte in Argentinien MSTM Movimiento Sacerdotes para el Tercer Mundo – Bewegung der Priester für die Dritte Welt OAS Organisation Amerikanischer Staaten OECD Organization for Economic Co-operation and Development ONIS Oficina Nacional de Informaci n Social – Nationales Informationsbüro, Peru ÖRK Ökumenischer Rat der Kirchen PCUSA Presbyterian Church USA PT Partido dos Trabalhadores – Brasilianische Arbeiterpartei PUC Pontif cia Universidade Cat lica de S¼o Paulo – Päpstliche Katholische Universität in S¼o Paulo S.E.G. Staff Executive Group SEK Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SDR Süddeutscher Rundfunk SIDA Swedish International Development Cooperation Agency SODEPAX Ausschuss für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden des ÖRK und der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax (Society, Development, Peace / Pax) TEF Theological Education Fund UCEB Uni¼o Crist¼ do Estudantes do Brasil – Christliche Studentenbewegung in Brasilien UCMS United Christian Missionary Society ULAJE Uni n Latinoamericano de Juventudes Evang licas – Lateinamerikanische Vereinigung der evangelischen Jugend UNCTAD United Nations Conference on Trade and Development UNELAM Comisi n Provisional Pro Unidad Evang lica Latinoamericana – Provisorische Kommission für Evangelische Einheit in Lateinamerika UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization UNICAMP Universidade Estadual de Campinas – Staatliche Universität von Campinas UNO United Nations Organization USA United States of America WARC World Alliance of Reformed Churches WCCE World Council of Christian Education WSCF World Student Christian Federation YMCA Young Men’s Christian Association YWCA Young Women’s Christian Association

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c) Mündliche und schriftliche Auskünfte Ulrich Becker, 15. 4. 2009 (Hannover). Emilio Castro [Interview über Carlos Sintado], 1. 3. 2011 (Genf). Dwain Epps, 12. 3. 2010 (Genf). Karl-Heinz Dejung, 8. 7. 2010 (Frankfurt am Main). Charles Harper, 3. 3. 2010 (Genf). Albert van den Heuvel, 16. 5. 2011 (Amsterdam). Jürgen Moltmann, 16. 3. 2011 (Tübingen). Leopoldo Niilus, 17. 3. 2010 (Genf). Konrad Raiser, 29. 1. 2010 und 6. 7. 2011 (Berlin), 1. 11. 2010 (Arnoldshain). Bjorn Ryman, 22. 9. 2009 Julio de Santa Ana, 5. 3. 2010 und 23. 3. 2010 (Genf).

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Personenregister Das Personenregister enthält alle im Haupttext und in den Anmerkungen der Studie genannten Personen, außer Autorennamen. Die Biogramme wurden für Personen der Zeitgeschichte sowie für die in der Studie ausführlicher diskutierten WissenschaftlerInnen zusammengestellt unter besonderer Berücksichtigung ihrer Tätigkeit in den 1960er und 1970er Jahren. Die zusammengefassten Informationen basieren größtenteils auf Quellen theologischer und ökumenischer Lexika, Sammelbänden sowie auf fundierten Internetrecherchen. Die mit einem * gekennzeichneten Personen sind ausführlich vorgestellt bei Kunter / Schilling, Globalisierung der Kirchen, 344–368. Personen, die im Personenlexikon Braun / Gr nzinger aufgeführt sind, werden lediglich mit ihren Lebensdaten genannt. Abrecht, Paul Robert* 43, 70, 74, 76, 80 f., 84–86, 88–90, 93, 109 f., 113 f., 123 f., 131 f., 135, 142–144, 161, 193, 230 geb. 9. 12. 1917 Cincinnati, gest. 21. 5. 2005 Genf US-amerikanischer Theologe und Sozialethiker, 1944 Dozent für Theologie an der Baptist Divinity School, Berkeley, anschließend Dozent für christliche Sozialethik in New York, 1949–1983 Mitarbeiter im ÖRK, ab 1954 Leiter der Abteilung Kirche und Gesellschaft und in dieser Funktion von 1955–1961 Koordinator des Studienprogramms Rapid Social Change. Allende, Salvador 58, 67 geb. 26. 6. 1908 Valpara so, gest. 11. 9. 1973 Santiago de Chile Chilenischer Arzt und Politiker, ab 1933 Mitglied der Sozialistischen Partei und Anführer der Koalition Unidad Popular, 1970–1973 demokratisch gewählter Präsident Chiles, 1973 Sturz durch Militärputsch und Tod. Alves, Rubem* 18, 66, 104–108, 116 f., 179, 181, 183–185, 188, 191, 197, 259, 262–264, 271, 273 geb. 15. 9. 1933 Boa EsperanÅa, gest. 19. 7. 2014 Campinas Brasilianischer reformierter Theologe, Pädagoge und Psychoanalytiker, nach Theologiestudium in Campinas und New York Veröffentlichung der Dissertation „Theology of Human Hope“ (1969), Mitglied im Netzwerk ISAL und Vordenker der protestantischen Befreiungstheologie, Teilnehmer an der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1972 / 73, ab den 1980er Jahren verstärkte Hinwendung zur Psychoanalyse. Arlt, Augusto Fern ndez 86, 88, 139 Chilenischer lutherischer Theologe, Mitglied der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Uruguay und dort verantwortlich für Veröffentlichungen, ab 1963 Mitglied des Redaktionskreises der Zeitschrift Cristianismo y Sociedad, später Generalsekretär von UNELAM. Artffls, Wilfriedo 88 Mitglied der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Uruguay.

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Assmann, Hugo 66, 104, 219 geb. 22. 7. 1933 Ven ncio Aires, gest. 22. 2. 2008 Piracicaba Brasilianischer röm.-kath. Theologe und Mitbegründer der Theologie der Befreiung, 1951–1960 Studium der Philosophie und Soziologie in Brasilien sowie der katholischen Theologie an der Gregoriana in Rom, ab 1971 ISAL Studiensekretär in Chile, Mitbegründer von EATWOT. B ez-Camargo, Gonzalo 49 geb. 13. 11. 1899 Oaxaca, gest. 31. 8. 1983 Mexiko-Stadt Methodistischer Theologe und Autor. Barbieri, Sante Uberto 41, 72 f., 88, 120, 123 geb. 1902, gest. 13. 2. 1991 Methodistischer Theologe, Sohn einer italienischen Einwandererfamilie, Theologiestudium in Brasilien sowie an der Southern Methodist University und Emory University in Atlanta, 1949–1970 Bischof der Methodistischen Kirche von Argentinien, Bolivien und Uruguay, internationales ökumenisches Engagement als erster lateinamerikanischer Präsident des ÖRK (1954–1961), anschließend bis zu seiner Pensionierung 1970 Mitglied im Zentral- und Exekutivausschuss des ÖRK. Barreiro, Julio 97 geb. ?, gest. 2005. Uruguayischer Soziologe und Methodist, Mitbegründer von ISAL und dort verantwortlich für Studien- und Veröffentlichungsarbeit, Mitbegründer der Ökumenischen Bewegung für Menschenrechte in Argentinien (MEDH). Barth, Karl 47, 94 f., 106–108, 229, 249 geb. 10. 5.1886 Basel, gest. 10. 12. 1968 Basel [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 27.] Batista, Fulgencio 54, 57 geb. 16. 1. 1901 Kuba, gest. 6. 8. 1973 Spanien Kubanischer Politiker und Diktator von 1940–1944 und 1952–1958, Sturz durch die Kubanische Revolution 1958 und Flucht ins spanische Exil. Becker, Ulrich 29, 203–206, 211 geb. 1930 Halle / Saale Evangelischer Theologe und Religionspädagoge, seit 1964 Professor für Theologie und Religionspädagogik in Hannover, 1977–1985 Direktor der Erziehungsabteilung des ÖRK in Genf. Bennett, John Coleman* 136, 161 geb. 1902, gest. 27. 4. 1995 US-amerikanischer evangelischer Theologe und führender Denker der christlichen Ethik („Social Gospel“), seit 1937 engagiert in der internationalen ökumenischen Bewegung, Mitglied des Planungskomitees zur Vorbereitung der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948, ab 1954 stellv. Vorsitzender der Abteilung Kirche und Gesellschaft im ÖRK, Autor des ersten Vorbereitungsbandes zur Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966 „Christian Social Ethics in a Changing World“, Mitglied von SODEPAX. Berggrav, Eivind Josef 69 geb. 25. 10. 1884 Stavanger, gest. 14. 1. 1959 Oslo Norwegischer lutherischer Bischof, 1937–1951 Präses der Norwegischen Kirche und

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aktives Mitglied der Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung, 1944 Verhaftung durch die Gestapo, 1945 Flucht aus dem Arrest, Mitglied des Vorbereitungskomitees zur ersten Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam, 1950–1954 einer der sechs Präsidenten des ÖRK Bergoglio, Jorge Maria / Papst Franziskus 15 f. geb. 17. 12. 1936 Buenos Aires 1958 Eintritt in den Jesuitenorden, 1969 Priesterweihe, 1998 Berufung zum Erzbischof von Buenos Aires, 2001 Ernennung zum Kardinal, 2013 Wahl zum ersten Papst aus Lateinamerika. Bhabha, Homi 19 f., 25, 255 f., 258–260, 275 geb. 1949 Mumbai Indischer Literatur- und Kulturwissenschaftler und führender postkolonialer Theoretiker der Gegenwart. Blake, Eugene Carson* 16, 161, 163, 196–198, 217 f., 222, 232 geb. 7. 11. 1906 St. Louis / Missouri, gest. 31. 7. 1985 Stamford / Connecticut US-amerikanischer presbyterianischer Theologe und Generalsekretär des ÖRK, nach Theologiestudium und Pfarrtätigkeit von 1951–1966 Generalsekretär der Vereinigten Presbyterianischen Kirche in den USA sowie von 1954–1957 Präsident des Nationalen Kirchenrates der USA, ab 1954 Mitglied im Zentral- und Exekutivausschuss des ÖRK, Engagement in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, 1966–1972 zweiter Generalsekretär des ÖRK. Bloch, Ernst 197 geb. 8. 7. 1885 Ludwigshafen am Rhein, gest. 4. 8. 1977 Tübingen Deutscher Philosoph, 1948–1957 Professor für Philosophie an der Universität Leipzig, 1957 Zwangsemeritierung, 1961 Übersiedelung in die Bundesrepublik, ab 1961 Gastprofessor in Tübingen, 1967 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bolioli, Oscar 96 f., 99, 111, 115, 118, 194, 204, 218 Uruguayischer methodistischer Theologe, 1968–1972 Jugendsekretär im ÖRK, anschließend Generalsekretär von ISAL, 1974–1979 Präsident der Evangelisch-methodistischen Kirche in Uruguay, 1984–2002 Direktor der Abteilung für Lateinamerika und die Karibik sowie Leiter des Church World Service des National Council of Churches in den USA. Bonhoeffer, Dietrich 95, 106, 108 f., 138, 249 geb. 4. 2. 1906 Breslau, gest. 9. 4. 1945 KZ Flossenbürg [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 41.] Booth, Alan 197 f. Britischer Theologe und Pfarrer der methodistischen Kirche in England, 1957–1970 Leiter der Londoner Geschäftsstelle der CCIA. Bordaberry, Juan Maria 58, 217 f. geb. 17. 6. 1928 Montevideo, gest. 17. 7. 2011 Montevideo Uruguayischer Politiker und Diktator, 1972–1976 Präsident Uruguays. Borovoy, Vitali 158, 161 geb. 18. 1. 1916 Belarus, gest. 7. 4. 2008 Russisch-orthodoxer Erzpriester und Professor für Kirchengeschichte, 1962–1965 Beobachter des II. Vatikanum, Delegierter der russisch-orthodoxen Kirche auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966, 1966–1972 stellv. Direktor

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sowie bis 1985 Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, 1985–1995 Sekretär für außerkirchliche Beziehungen des Moskauer Patriarchats. Braga, Erasmo de Carvalho 37, 49 geb. 23. 4. 1877 Rio Claro, gest. 11. 5. 1932 Nit roi Brasilianischer reformierter Theologe und Pädagoge, Teilnehmer am Panamakongress der christlichen Kirchen 1916 und theologischer Vordenker des Pan-Amerikanismus. Brennecke, Gerhard 70 geb. 5. 1. 1916, gest. 14. 5. 1973 Berlin Evangelischer Theologe, 1947–1969 Chefredakteur der DDR-Zeitschrift „Die Zeichen der Zeit“ und Direktor der Berliner Missionsgesellschaft, 1950–1951 Missionsreise durch Südafrika, Herausgeber des Berichtbandes der 2. Vollversammlung des ÖRK in Evanston 1954. Brunner, Emil 81 geb. 23. 12. 1889 Winterthur, gest. 6. 4. 1966 Zürich [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 46.] Bussche, Axel von dem 161 geb. 24. 4. 1919 Braunschweig, gest. 26. 1. 1993 Bonn Deutscher Offizier und Widerstandskämpfer, Beteiligung an den Vorbereitungen des Attentats vom 20. Juli 1944, ab 1964 Geschäftsführer des Deutschen Entwicklungsdienstes und Mitglied im Präsidium des DEKT, 1968 Teilnehmer auf der 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala, Mitglied von SODEPAX. Calvin, Johannes 33 geb. 10. 7. 1509 Noyon, gest. 27. 5. 1564 Genf Genfer Reformator, 1536 Erstveröffentlichung der Institutio Christianae Religionis (Unterricht in der christlichen Religion). C mara, Dom Helder 62 f. geb. 7. 2. 1909 Fortaleza, gest. 27. 8. 1999 Recife Brasilianischer Erzbischof von Olinda und Recife, einflussreicher lateinamerikanischer Vertreter auf dem II. Vatikanum, Begründer der ersten Basisgemeinden in Brasilien und einer der berühmtesten Vertreter der Befreiungstheologie, aufgrund seiner politischen Haltung auch als „roter Bischof“ bekannt. C rdenas, Gonzalo Castillo* 103, 108, 136–138, 144, 147 f., 154, 175 f., 188, 257 f., 274 Kolumbianischer presbyterianischer Theologe und Religionssoziologe, Mitglied des Netzwerks ISAL, lateinamerikanischer Vertreter auf der Weltmissionskonferenz des ÖRK in Mexiko 1963, Redner auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. Castro, Emilio* 24, 29, 39, 41, 44 f., 86, 88, 91, 93, 100, 103, 106–108, 114, 136, 138, 192, 212, 228–233, 236–244, 260 f., 266, 269, 274 geb. 2. 5. 1927 Montevideo, 6. 4. 2013 Montevideo Uruguayischer methodistischer Theologe und Pfarrer, 1944–1950 Studium der Evangelischen Theologie in Buenos Aires, Ordination 1948, 1953 / 54 Studienaufenthalt bei Karl Barth in Basel, 1965 Wahl zum Generalsekretär von UNELAM, 1966–1969 Vorsitzender der südamerikanischen Vereinigung theologischer Hochschulen, 1970–1972 Präsident der Methodistischen Kirche in Uruguay, 1973 Übersiedelung nach Genf, 1973–1983 Direktor der CWME, 1984 Promotion, 1985–1992 Generalsekretär des ÖRK.

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Castro, Fidel 54 f. geb. 13. 8. 1926 Bir n / Kuba Kubanischer Revolutionär und Politiker. 1959–2008 Staatspräsident Kubas. C sar, Waldo 84 f., 91, 93, 114, 139 geb. 1922 Natural de Resende, gest. 3. 6. 2007 Rio de Janeiro Brasilianischer Theologe und Soziologe, 1957 Stipendiat am Ökumenischen Institut Bossey, in den 1950er und 1960er Jahren Jugendsekretär der CEB sowie Exekutivsekretär der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Brasilien. Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 55 geb. 15. 4.1894 Kalinowka, gest. 11. 9. 1971 Moskau Sowjetischer Politiker, 1953–1964 Erster Parteisekretär der KPdSU, 1958–1964 Ministerpräsident der UdSSR, 1964 Amtsenthebung. Clay, Charles 84 Mitglied der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Brasilien. Conteris, Hiber* 45, 96–98, 105, 108, 139, 143–146, 148, 154 geb. 1933 Uruguayischer Soziologe und Schriftsteller, 1953–1959 Studium der Philosophie und Literatur in Buenos Aires, 1968 Promotion an der Sorbonne, Mitglied des Netzwerks ISAL und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Cristianismo y Sociedad, Redner auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966, Veröffentlichung zahlreicher Dramen. Coombs, Philip 202 f., 211 geb. 1915 Holyoke / Massachusetts, gest. 15. 2. 2006 Chester / Connecticut US-amerikanischer Bildungsexperte, 1963–1968 Leiter für Bildungsplanung der UNESCO in Paris. Cox, Harvey Gallagher* 153, 197 geb. 19. 5. 1929 Malvern / Pennsylvania US-amerikanischer baptistischer Theologe, Studium der Geschichte, Theologie und Religionsphilosophie, 1965 Veröffentlichung von „The Secular City“, 1965–2009 Professor für Theologie an der Harvard University, Teilnahme an der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. Cuvillier, Armand 145 geb. 3. 10. 1887 Paris, gest. 23 .4. 1973 Paris Französischer Philosoph, Journalist und Soziologe. d’Affonseca, Josue Cardoso 71 Mitglied der Methodistischen Kirche von Brasilien, einer von vier lateinamerikanischen Teilnehmern an der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam. d’Epinay, Christian Lalive 114, 204 Chilenisch-schweizerischer Soziologe, Leiter des chilenischen Bildungsinstituts ESCEAL, auf Anregung der DWME Veröffentlichung einer umfangreichen Monographie über den chilenischen Pentekostalismus (Haven of the Masses, 1969), 1972 Promotion in Sozialwissenschaften an der Universität Genf, 1992 Gründung des Centre interfacultaire de g rontologie an der Universität Genf. de Almeida (filho), C ndido Mendes 144 f., 147 f. geb. 3. 6. 1928

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Brasilianischer Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, Mitglied der röm.-kath. Kirche, Redner auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. Dejung, Karl-Heinz 17, 27, 29, 75–77, 80 f., 92, 95, 101 f., 128, 131, 134, 157, 166, 168–171, 174, 192, 221 geb. 1941 Evangelischer Pfarrer, 1968–1973 Mitarbeiter an der FEST in Heidelberg und Promotion, 1973 Veröffentlichung der Dissertation „Die ökumenische Bewegung im Entwicklungskonflikt 1910–1968“, 1975–1995 Mitarbeiter der Gossner Mission, 1995–2004 Leiter des Amtes für Mission und Ökumene / Zentrum Ökumene der EKHN. D az, Porfirio 53 geb. 15. 9. 1830 Oaxaca, gest. 2. 7. 1915 Paris Mexikanischer General und Politiker, Präsident Mexikos von 1876–1880 und 1884–1911, Sturz durch die mexikanische Revolution, Flucht ins Exil nach Paris. Dibelius, Otto 252 f. geb. 15. 5. 1880 Berlin, gest. 31. 1. 1967 Berlin [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 58.] dos Santos, Almir 96, 99 Bischof der Evangelisch-methodistischen Kirche in Brasilien, erster Präsident von ISAL. Douglass, Bruce 196 Sekretär für politische Angelegenheiten des WSCF. Dunne, George 162, 164 f., 174, 179 geb. 1905, gest. 1998 US-amerikanischer Jesuit, 1968–1972 Generalsekretär von SODEPAX. Eisenhower, Dwight D. 55 geb. 14. 10. 1890 Denison / Texas, gest. 28. 3. 1969 Washington Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte während des zweiten Weltkrieges, 1953–1961 Präsident der Vereinigten Staaten. Elliott, Charles 162, 186 stellv. Sekretär von SODEPAX. Epps, Dwain C.* 29, 98, 110 f., 192, 196–200, 217 f., 224 geb. 1938 US-amerikanischer Theologe und Pfarrer der Presbyterian Church USA, Engagement in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, 1967 Freiwilligendienst mit dem Programm Frontier Internship in Mission in Argentinien, wo er mit der Bewegung ISAL in Berührung kam, 1971 Mitarbeiter der CCIA, Verantwortlicher für das ökumenische Menschenrechtsprogramm. Fagley, Richard 161, 197 f. geb. 1910, gest. 1993 US-amerikanischer Theologe und Pfarrer der kongregationalistischen Kirche, Mitarbeiter der CCIA, ab 1951 Exekutivsekretär des CCIA mit Sitz in New York, Teilnehmer an der ersten SODEPAX-Konferenz in Beirut 1968. Fals Borda, Orlando 136 f., 139 geb. 11. 7. 1925 Barranquilla, gest. 12. 8. 2008 Bogot Kolumbianischer Soziologe, 1959 Gründung der ersten soziologischen Fakultät La-

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teinamerikas an der Universidad Nacional de Colombia, gemeinsam mit Camillo Torres Restrepo, schriftlicher Beitrag in Vorbereitung auf die Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 zum Problem der Urbanisierung in Lateinamerika, Mitglied des Redaktionskreises der Zeitschrift Cristianismo y Sociedad. Fanon, Frantz 255 geb. 20. 7. 1925 Fort-de-France / Martinique, gest. 6. 12. 1961 Bethesda / Maryland Französischer Psychiater, Politiker und Autor, nach Kriegsdienst 1953 Leiter der psychiatrischen Abteilung des Hospitals Blida-Joinville / Algerien, 1956 Rücktritt aus politischen Gründen, 1954 Beitritt zur algerischen Nationalen Befreiungsfront, 1961 Veröffentlichung seines Hauptwerks „Die Verdammten dieser Erde“. Feil, Ernst 140, 154, 158, 251 f. geb. 15. 5. 1932 Dorsten, gest. 11. 3. 2013 München Röm.-kath. Theologe, 1968 wissenschaftlicher Mitarbeiter für Fundamentaltheologie an der Universität Münster, 1970 Promotion zur Theologie Bonhoeffers, ab 1975 Professor für Systematische Theologie und Religionslehre an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, 1969 Mitherausgeber eines Sammelbandes zur Theologie der Revolution. Figueiredo, Jo¼o Baptista de Oliveira 57, 202 geb. 15. 1. 1918 Rio de Janeiro, gest. 24. 12. 1999 Rio de Janeiro Brasilianischer General, 1979–1985 letzter Präsident des brasilianischen Militärregimes. Franco, Leonardo 118, 166 Lateinamerikasekretär des WSCF in Genf in den 1960er Jahren. Freire, Paulo* 24, 104, 167, 173, 185, 192, 200–202, 204–214, 219, 224, 231, 238–244, 260, 269, 274 geb. 19. 9. 1921 Recife, gest. 2. 5. 1997 S¼o Paulo Brasilianischer Volks- und Befreiungspädagoge, Studium der Erziehungswissenschaften, 1946–1954 Leiter der Abteilung für Erziehungswissenschaft und Kultur in Pernambuco / Brasilien, 1947 Beginn der Alphabetisierungskampagnen, 1959 Promotion, Berater des brasilianischen Präsidenten Jo¼o Goulart bis 1964, anschließend Exil in Chile, 1969 Gastprofessur in Harvard, 1970–1980 Exil in Genf als Sonderberater im Büro für Bildungsfragen des ÖRK, 1970 Veröffentlichung seines Hauptwerks „Pädagogik der Unterdrückten“. Fromm, Erich 17, 197, 253 geb. 23. 3. 1900 Frankfurt am Main, gest. 18. 3. 1980 Muralto / Schweiz Deutsch-US-amerikanischer Sozialpsychologe und Philosoph. Furter, Pierre 197 geb. 1931 Schweizerischer Philosoph und Pädagoge, nach Studium und Promotion in Philosophie und Erziehungswissenschaften sechsjähriger Lateinamerika-Aufenthalt in Brasilien und Venezuela, Forschung zu Alphabetisierung und Erwachsenenbildung, Berater der UNESCO in Bildungsfragen, nach seiner Rückkehr aus Lateinamerika Professor für Vergleichende Erziehungswissenschaft an der Universität Genf. Galeano, Eduardo 53, 97 geb. 3. 9. 1940 Montevideo, gest. 13. 4. 2015 Montevideo Uruguayischer Journalist und Schriftsteller, 1961–1964 stellvertretender Chefredak-

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teur der Zeitschrift Marcha, 1964–1966 Herausgeber und Redakteur Tageszeitung poca, 1971 Veröffentlichung seines Hauptwerks „Die offenen Adern Lateinamerikas“. Galland, Waldo 41 Mitglied der Waldenserkirche in Uruguay, Lateinamerika-Sekretär des WSCF in den 1950er Jahren, 1961–1968 Generalsekretär des WSCF. Godoy, Horacio 166 f., 173, 257, 259 Chilenischer Professor, Direktor des Aktionskomitees für lateinamerikanische Integration. Gollwitzer, Helmut* 251–253 geb. 29. 12. 1908 Pappenheim, gest. 17. 10. 1993 Berlin [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 90.] 1966 Teilnehmer an der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf sowie 1968 an der Vollversammlung des ÖRK in Uppsala. Gottschald, Karl 117, 197, 205 Deutschstämmiger brasilianischer lutherischer Theologe, 1969–1978 Präsident der IECLB, Mitglied im Zentral- und Exekutivausschuss des ÖRK. Goulart, Jo¼o 57, 167, 201 geb. 1. 3. 1919 S¼o Borja, gest. 6. 12. 1976 Mercedes Brasilianischer Politiker und Präsident Brasiliens von 1961–1964, ab 1945 Mitglied der brasilianischen Arbeiterpartei PT, 1964 Sturz durch Militärputsch, anschließend Exil in Uruguay und Argentinien. Grant, James 226 Mitarbeiter des Overseas Development Council, USA. Gremillion, Joseph 161 f. US-amerikanischer röm.-kath. Theologe, 1949–1958 Priester in Shreveport / Louisiana, 1967–1974 Sekretär der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax, in dieser Funktion stellv. Vorsitzender von SODEPAX. Grubb, Sir Kenneth George* 196 geb. 9. 9. 1900 Oxton, gest. 3. 6. 1980 Britischer Missionar in Lateinamerika, 1944–1969 Präsident der britischen Church Missionary Society, 1959–1970 Vorsitzender des House of Laity der Church of England, 1946–1968 Vorsitzender der CCIA. Guano, Emilio 62 geb. 16. 8. 1900 Genova, gest. 26. 9. 1970 Italienischer röm.-kath. Theologe, 1962 Ernennung zum Bischof von Livorno durch Papst Johannes XXIII., einflussreicher Theologe während des II. Vatikanum. Guerra, Eleazar 54, 71 Mexikanischer methodistischer Bischof, einer von vier lateinamerikanischen Teilnehmenden an der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948. Guevara, Ernesto „Che“ 54, 197 geb. 14. 6.1928 Rosario / Argentinien, gest. 9. 10. 1967 La Higuera / Bolivien Revolutionär und Arzt, Symbolfigur der Kubanischen Revolution. Guinness, Lucy Evangeline 31 geb. 1865, gest. 1906 Britische Schriftstellerin und Evangelistin, Gründerin der Sudan United Mission, gemeinsam mit ihrem Ehemann Karl Wilhelm Kumm, Verfasserin des 1894 erschienenen

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Buches „The Neglected Continent“ zur Rolle britischer Missionsgesellschaften in Lateinamerika. Guti rrez OP, Gustavo 18, 66, 179, 181–185, 188, 191, 219, 259, 271 geb. 8. 6. 1928 Lima Peruanischer röm.-kath. Priester und Theologe, Mitbegründer der Theologie der Befreiung durch sein gleichnamiges Hauptwerk (1971), Professor für Theologie an der Päpstlichen Katholischen Universität von Peru sowie an der University of Notre Dame / USA, Redner auf der SODEPAX-Konsultation in Cartigny 1969, ab 1971 Mitarbeit in der Christlichen Friedenskonferenz (CFK), 2001 Eintritt in den Dominikanerorden. Hahn, Wilhelm 84 geb. 14. 5. 1909 Dorpat (Tartu) / Estland, gest. 9. 12. 1996 Heidelberg Lutherischer Theologe, 1934 / 35 Mitarbeiter in der Zentrale des Bruderrates der Bekennenden Kirche, nach Kriegsdienst und -gefangenschaft ab 1950 Professor für Praktische Theologie sowie 1958–1960 Rektor der Universität Heidelberg, 1955 Teilnehmer an der ersten Konsultation für Kirche und Gesellschaft in S¼o Paulo Brasilien, 1962–1964 MdB, 1964–1978 Kultusminister von Baden-Württemberg, 1979–1987 MdEP. Ham Reyes, Adolfo 140 Kubanischer Theologe, Professor für Dogmatik am Evangelischen Seminar in Matanzas, Präsident des Kubanischen Kirchenrates. Hamer OP, J r me 161 geb. 1. 6. 1916 Brüssel, gest. 2. 12. 1996 Rom Röm.-kath. Kurienkardinal, Teilnehmer am II. Vatikanum als Experte zu Fragen der christlichen Einheit, 1969–1973 Sekretär des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, in dieser Funktion Mitglied von SODEPAX. Harper, Charles 29, 135, 200 US-amerikanisch-brasilianischer Theologe, Pfarrer der Presbyterian Church USA, 1973–1992 Leiter des Menschenrechtsbüros für Lateinamerika (HRROLA) des ÖRK. Herron, George D. 125 geb. 21. 1. 1862, gest. 9. 10. 1925 US-amerikanischer Theologe und christlicher Sozialist, radikaler Vertreter der SocialGospel-Bewegung. Heuvel, Albert van den* 29 geb. 22. 3. 1932 Utrecht Niederländischer Theologe, 1958–1967 Mitarbeiter in der Jugendabteilung des ÖRK, ab 1967 Leiter der Kommunikationsabteilung des ÖRK, 1972–1980 Generalsekretär der Nederlandse Hervormde Kerk, ab 1980 Präsident der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt VARA in den Niederlanden, Engagement in der Anti-Apartheid-Bewegung. Hollenweger, Walter 17, 46, 72, 113, 117 geb. 1927 Antwerpen Schweizerischer evangelisch-reformierter Theologe, 1966 Promotion, 1965–1971 Referent für Fragen der Verkündigung sowie Exekutivsekretär im ÖRK, 1971–1989 Professor für Missionswissenschaften und interkulturelle Theologie in Birmingham, intensive theologische Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung, insbes. in Lateinamerika.

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Hoover, Willis C. 50 geb. 20. 7. 1858, gest. 26. 5. 1936 Amerikanischer methodistischer Pastor und Missionar, Gründer der ersten Methodistischen Pfingstkirche in Chile 1909. Howard, Jorge P. 49 Lateinamerikanischer Theologe. Howe, James 226 Mitarbeiter des Overseas Development Council, USA. Hrom dka, Josef Lukl* 81 geb. 8. 6. 1889 Hodslavice, gest. 26. 12. 1969 Prag Tschechischer Friedenstheologe und Ökumeniker, 1907–1912 Studium der Evangelischen Theologie und Philosophie, ab 1920 Professor für Systematische Theologie in Prag, 1939–1947 Professor am Princeton Theological Seminary, 1937–1961 Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, Redner auf der Gründungversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948, 1948–1968 Mitglied im Zentralausschuss des ÖRK, 1958 Mitbegründer der CFK, 1969 Rücktritt als Präsident der CFK. Ige, James Ajibola („Bola“) Idowu* 150–155 geb. 13. 9. 1930 Zaria, gest. 23. 12. 2001 Ibadan Nigerianischer Rechtsanwalt und Politiker, Jurastudium an der University of Ibidan und Mitglied der christlichen Studentenbewegung in Nigeria, Redner auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966 in Genf, Mitglied der Unity Party of Nigeria (UPN), 1979–1983 Gouverneur des Staates Oyo, zahlreiche nationale politische Ämter, ab 2000 Justizminister, 2001 Ermordung aus ungeklärten Umständen. Inman, Samuel Guy 37, 49 geb. 1877, gest. 1965 US-amerikanischer Missionar, 1913–1938 Exekutivsekretär des CCLA. Itty, Chirapurath 119, 162–164, 187 f., 220 geb. ?, gest. 17. 1. 2004 Mitglied der orthodoxen Kirche in Indien, 1950 Regionalsekretär der Christlichen Studentenbewegung in Indien, 1959 Mitarbeiter in der Jugendabteilung des ÖRK, 1969–1979 Direktor der CCPD, anschließend Mitarbeiter in der Wirtschafts- und Sozialkommission der UN für die Region Asien / Pazifik. Johannes XXIII. / Roncalli, Angelo Giuseppe 61, 63, 160 geb. 25. 11. 1881 Scotto il Monte / Lombardei, gest. 3. 6. 1963 Vatikanstadt 1958–1963 Papst der röm.-kath. Kirche in der Nachfolge von Papst Pius XII., verantwortlich für die Einberufung des II. Vatikanum („Konzilspapst“), 2014 Heiligsprechung durch Papst Franziskus. K ssmann, Margot 28, 114, 134, 164, 166, 169, 174, 186, 191, 193, 214, 221, 225, 227 geb. 3. 6. 1958 Marburg Evangelische Theologin und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, 1983–2002 Mitglied des Zentralausschusses des ÖRK, 1989 Promotion, 1994–1999 Generalsekretärin des DEKT, 1999–2010 Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover, seit 2012 Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017. Kennedy, John F. 56, 101 geb. 29. 5. 1917 Brookline / Massachusetts, gest. 22. 11. 1963 Dallas / Texas Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 1961–1963, Attentat 1963.

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Kennedy, William B. 203–205, 207 US-amerikanischer Theologe, ab 1969 Exekutivsekretär des Bildungsbüros des ÖRK. Kitagawa, Daisuke 76 geb. 23. 10. 1910 Taihoku / Japan, gest. 27. 3. 1970 Schweiz Japanischer Theologe, 1937 Emigration in die USA und Theologiestudium, Promotion 1954, 1956–1960 Studiensekretär in der Abteilung für Kirche und Gesellschaft des ÖRK, 1960–1962 verantwortlich für Racial und Ethnic Relations, 1968–1970 Exekutivsekretär für Einheit und Internationale Mission der DWME. Kohnstamm, Max 142 f., 161 f. geb. 22. 5. 1914 Amsterdam, gest. 20. 10. 2010 Amsterdam Niederländischer Zeithistoriker und Diplomat, 1952–1957 Sekretär der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Generalsekretär und Vizepräsident des 1955 gegründeten Aktionskomitees für die Vereinigten Staaten von Europa, Mitglied der 1950 gegründeten Ökumenischen Kommission Europäische Kooperation (ECEC) im ÖRK, stellv. Vorsitzender von SODEPAX. Kr mer, Hendrik 69 geb. 17. 5. 1888 Amsterdam, gest. 11. 11. 1965 Driebergen Niederländischer Missionstheologe, 1922–1937 Mitarbeiter der Niederländischen Bibelgesellschaft in Indonesien, 1937–1947 Professur für Religionssoziologie in Leiden, Teilnahme am aktiven Widerstand gegen die deutsche Besatzung, 1946–1948 Mitglied des vorläufigen Komitees des ÖRK, 1948–1955 erster Leiter des Ökumenischen Instituts Bossey des ÖRK. Laghi, Pio 161 geb. 21. 5. 1922 Castiglione di Forli, gest. 10. 1. 2009 Rom Italienischer röm.-kath. Theologe und Kurienkardinal, Mitglied von SODEPAX, 1974–1980 Apostolischer Nuntius in Argentinien. Lambert OP, Bernard 180 f. geb. 3. 3. 1921 Sainte-Anne-de-la-Pocati re / Qu bec, gest. 10. 4. 2004, Qu bec (Stadt). Kanadischer Priester und Professor für Theologie, 1942 Eintritt in den Dominikanerorden, Teilnehmer am II. Vatikanum und beteiligt am Entwurf von Gaudium et Spes, 1963 Offizieller Beobachter auf der Konferenz für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK in Montr al, Teilnehmer an der SODEPAX-Konferenz in Cartigny 1969. Land, Philip 32 f., 56–59, 102, 164–166, 172, 174–176, 185–188, 207, 215, 218, 232, 262 f. US-amerikanischer Jesuit, Wirtschaftsprofessor an der Gregoriana in Rom, Mitglied der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax, Mitglied von SODEPAX. Lange, Ernst* 143, 203–205, 208–211, 214, 264 geb. 19. 4. 1927 München, gest. 3. 7. 1974 Windhaag / Österreich Evangelischer Theologe, 1954 Jugenddelegierter auf der Vollversammlung des ÖRK in Evanston, 1960 Pastor in Berlin-Spandau, 1963–1965 Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Berlin, 1968–1970 Direktor der Abteilung für Ökumenische Aktion (DEA) im ÖRK in Genf sowie ab 1969 Leitung des Bildungsbüros des ÖRK, 1973–1974 Oberkirchenrat der EKD in Hannover. Larra n Err zuriz, Manuel 62, 64 geb. 17. 12. 1900 Santiago de Chile, gest. 22. 6. 1966 Rengo Chilenischer Priester und Bischof von Talca, Präsident der lateinamerikanischen Bi-

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schofskonferenz (CELAM), Teilnehmer am II. Vatikanum und Unterstützer von Reformen innerhalb der katholischen Kirche. Lehmann, Paul 81 geb. 10. 9. 1906 Baltimore, gest. 27 .2. 1994 New York City US-amerikanischer evangelischer Theologe und Ethiker, Theologiestudium u. a. am Union Theological Seminary bei Reinhold Niebuhr, 1930 Assistenzprofessur an der St. Paul’s Evangelical Reformed Church in Garwood (New Jersey) und Begegnung mit Dietrich Bonhoeffer, 1932 / 33 Auslandsstudium in Zürich und Bonn, u. a. bei Karl Barth, 1936 Promotion, ab 1947 Professur für Theologische Ethik am Princeton Theological Seminary, 1963–1974 Professur am Union Theological Seminary. Liggett, Thomas Jackson 217 f. geb. 1919 Nashville, gest. 27. 3. 2012 Claremont US-amerikanischer Theologe und Missionar, 1946–1957 Missionar in Argentinien und Dozent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Buenos Aires, 1957–1967 Präsident des Evangelischen Seminars in Puerto Rico, ab 1965 Lateinamerikareferent der United Christian Missionary Society (UCMS). Lçffler, Paul 180 f., 258 geb. 29. 10. 1931 L dz, gest. 26. 9. 2010 Lauenburg Evangelischer Theologe, Theologiestudium in Marburg, Zürich, Bonn und Mainz, 1959 Promotion in Bonn und Ordination in der EKHN, ab 1960 Mitarbeiter des IMC in London, 1961–1967 Mitarbeiter der DWME, verantwortlich für den Bereich Stadt- und Industriemission, 1968–1974 Dozentur an der Near East School of Theology in Beirut, ab 1976 Geschäftsführender Studienleiter an der Missionsakademie in Hamburg, ab 1985 Leiter des Amtes für Mission und Ökumene der EKHN und der Ökumenischen Werkstatt in Frankfurt. L pez, Mauricio Amilcar* 41, 44, 96, 108, 110, 113 f., 118, 121, 124, 135–137, 139, 143 f., 193–195, 219 geb. 1919, gest. 1977 (?) Argentinischer Pädagoge und Geisteswissenschaftler, Lateinamerika-Sekretär des WSCF in Genf, 1963–1968 erster lateinamerikanischer Mitarbeiter im ÖRK in der Abteilung für Kirche und Gesellschaft und maßgebliche Beteiligung an der Vorbereitung der Weltkonferenz in Genf 1966, 1968 Studium der Verwaltungswissenschaften an der Sorbonne in Paris, 1973–1976 Direktor der Universidad Nacional de San Luis in Argentinien, 1977 Entführung und vermutlich Ermordung durch das „Comando de Operaciones T ctico“ (COT). Lozada, Jorgelina 86, 90 f., 241 geb. 18. 2. 1906 Bragado, gest. 25. 2. 1995 Buenos Aires Argentinische Sozialarbeiterin und Theologin, Studium der sozialen Arbeit und Journalismus in Argentinien, 1930 Ordination als erste weibliche Pastorin in Lateinamerika, Teilnahme an zahlreichen internationalen ökumenischen Konferenzen, u. a. in Madras / Indien (1938), Willingen (1952) und Evanston (1954), Hauptorganisatorin der CELA I in Buenos Aires 1949, zeitweilige Generalsekretärin des Evangelischen Kirchenbundes am R o de la Plata. Mackay, John Alexander 31, 37, 41, 49, 81, 273 geb. 17. 5. 1889 Schottland, gest. 9. 6. 1983 New Jersey US-amerikanischer reformierter Theologe und Missionar, 1926–1932 Sekretär der

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südamerikanischen Vereinigung des YMCA in Montevideo und Mexiko, 1936–1959 Professor für Ökumene und Präsident des Princeton Theological Seminary, Gründer der Zeitschrift Theology Today, 1946–1948 Mitglied des vorläufigen Komitees zur Gründung des ÖRK, 1947–1957 Vorsitzender des IMC, Delegierter auf der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948, 1948–1954 Mitglied im Zentralausschuss des ÖRK. Marcuse, Herbert 197 geb. 19. 7. 1898 Berlin, gest. 29. 7. 1979 Starnberg Deutsch-US-amerikanischer Philosoph und Soziologe. Maritain, Jacques 182 geb. 18. 11. 1882 Paris, gest. 28. 4. 1973 Toulouse Französischer Philosoph, 1945–1948 französischer Botschafter im Vatikan, Mitwirkung an der Formulierung der Menschenrechtscharta der UNO, 1948–1960 Prof. em. an der Princeton University für Moralphilosophie. Marx, Karl 146, 172, 197 geb. 5. 5. 1818 Trier, gest. 14. 3. 1883 London Deutscher Philosoph. Maury, Jacques 239 geb. 1920 Französisch-reformierter Theologe, 1957–1962 Generalsekretär des französischen christlichen Studentenbundes, 1962–1968 Tätigkeit als Pfarrer in Poitiers, ab 1968 Präsident der Reformierten Kirche in Frankreich ( glise R form e de France), ab 1977 Präsident des Protestantischen Kirchenbundes in Frankreich (F d rati n protestante de France), stellv. Moderator der CWME. Mazoni, Alberto 84 Mitglied der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Brasilien McIntire, Carl 43, 117 geb. 17. 5. 1906 Ypsilanti, gest. 19. 3. 2002 US-amerikanischer evangelikaler Theologe, 1937 Gründung der christlich-fundamentalistisch orientierten Bible Presbyterian Church, 1948 Begründer des ICCC als christlich-konservative Konkurrenz zur Gründung des ÖRK. Micheli, Dominique 161, 198 Schweizerischer reformierter Theologe, Mitarbeiter der CCIA, ab 1955 Mitarbeiter des CCIA Büros in New York, später in Genf, Teilnehmer an der ersten SODEPAX-Konferenz in Beirut 1968. M guez Bonino, Jos * 18, 32, 34, 37, 46–52, 62, 66, 93–95, 99, 102, 106–108, 114, 116 f., 192, 229, 262, 266 f., 270, 273 geb. 5. 5. 1924 Rosario, gest. 1. 7. 2012 Tandil Argentinischer methodistischer Theologe und führender protestantischer Vertreter der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, 1943–1948 Studium der Theologie und 1954–1958 Dozentur für Dogmatik in Buenos Aires, 1960 Promotion am Union Theological Seminary in New York, ab 1961 Direktor der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Buenos Aires (FET, später: ISEDET), einziger lateinamerikanischer protestantischer Beobachter auf dem II. Vatikanum, 1961–1977 Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK, 1975–1983 einer von sechs Präsidenten des ÖRK.

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Moltmann, Jürgen* 18, 29, 251 f., 259 geb. 8. 4. 1926 Hamburg Evangelischer reformierter Theologe, nach Kriegsdienst und britischer Kriegsgefangenschaft 1948 Theologiestudium in Göttingen, 1952 Promotion, 1952–1957 Studentenpfarrer in Bremen, Professuren: 1957–1963 Kirchliche Hochschule Wuppertal, 1963–1967 Universität Bonn, 1967–1994 Professor für Systematische Theologie an der Universität Tübingen, 1963–1983 Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, Delegierter auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1972 / 73, 1977–1993 Vorsitzender der Gesellschaft für Evangelische Theologie. Monroe, James 35 geb. 28. 4. 1758 Westmoreland County, gest. 4. 7. 1831 New York City Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika 1817–1825, Namensgeber der 1823 veröffentlichten Monroe-Doktrin. Monterroso, Jorge 106, 111 f. Guatemaltekischer Theologe und Präsident der Evangelischen Allianz, ab 1972 Vorsitzender von ISAL, gemeinsam mit Oscar Bolioli. Montrose, Erol Stephen 71 Vertreter der Methodist Missionary Society in Großbritannien auf der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948. Moraes, Benjamin 44, 84 Brasilianischer Theologe, Präsident der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Brasilien, ab 1965 Präsident von UNELAM. Morales, Cecilio 175 Argentinischer Ökonom und Mitarbeiter der interamerikanischen Entwicklungsbank, Teilnehmer an der SODEPAX-Konferenz in Montreal 1968. Mott, John Raleigh 36 geb. 25. 5. 1865 Livingston Manor / NY, gest. 31. 1. 1955 Orlando Pionier der frühen ökumenischen Bewegung, Studium der Philosophie und Geschichte, 1888–1915 Sekretär des YMCA in den USA und Kanada, 1915–1931 Generalsekretär des internationalen YMCA (später World Alliance of YMCAs), 1895 Mitbegründer des WSCF, 1895–1920 Generalsekretär des WSCF, Vorsitzender der Weltmissionskonferenz 1910 in Edinburgh, 1946 Friedensnobelpreis, Ehrenpräsident der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948. Negre, Pedro 111, 219 Mitglied im Jesuitenorden, Leitungsfunktion im Netzwerk ISAL in den frühen 1970er Jahren gemeinsam mit Oscar Bolioli und Jorge Monterroso. Niemçller, Martin* 69 geb. 14. 1. 1892 Lippstadt, gest. 6. 3. 1984 Wiesbaden [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 185.] Niilus, Leopoldo Juan* 24, 29, 91, 96, 103, 110 f., 114, 119, 192, 195–200, 204 f., 214, 216, 240–242, 244, 260 f., 269, 274 geb. 19. 1. 1930 Tallinn, gest. 9. 2. 2015 Genf Argentinischer Jurist estnischer Herkunft, 1948 Übersiedelung nach Argentinien, Studium der Rechtswissenschaft, Engagement in der christlichen Studentenbewegung Argentiniens, 1966–1967 Leiter des christlichen Studienzentrums am R o de la Plata, 1968–1969 Generalsekretär von ISAL, ab 1969 Exil in Genf, 1969–1982 Direktor der

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CCIA, 1982–1995 Leiter des Büros für internationale ökumenischen Beziehungen des Kirchenrates des Mittleren Ostens in Genf. Nikodim (Rotov), Boris Georgiyevich 197 geb. 15. 10. 1929 Frolovo / Russland, gest. 5. 9. 1978 Rom Russisch-orthodoxer Metropolit von Leningrad und Novgorod zwischen 1963–1978, 1971–1978 Präsident der CFK, 1975–1983 einer von sechs Präsidenten des ÖRK. Nolde, Otto Frederick 196 geb. 1899, gest. 1972 US-amerikanischer lutherischer Theologe und Professor für Religionspädagogik, ab 1931 erster Inhaber des Lehrstuhls für Religionspädagogik am Lutheran Theological Seminary in Philadelphia, ab 1942 Mitglied der Commission to Study the Bases of a Just and Durable Peace des Federal Council of Churches, 1946–1969 erster Direktor der CCIA. Odell, Luis 37–39, 41, 44, 72, 86, 88, 90–93, 96–100, 110, 112, 120, 139 geb. 28. 11. 1912 Buenos Aires, gest. 22. 1. 2000 Premia del Mar / Spanien Argentinischer Methodist, ab 1945 Direktor des Verlages La Aurora in Buenos Aires und Montevideo, 1951 Mitbegründer der lateinamerikanischen evangelischen Jugendorganisation ULAJE, ab 1956 Generalsekretär der FIEU, 1961–1967 erster Generalsekretär von ISAL. Oldham, Joseph Houldsworth 36, 126–130, 190 f. geb. 20. 10. 1874 Bombay / Indien, gest. 16. 5. 1969 St Leonards on Sea / UK Pionier der frühen ökumenischen Bewegung und Missionar, Exekutivsekretär der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, 1912–1927 Herausgeber der Missionszeitschrift IRM, 1921–1938 Sekretär des IMC, Organisator der Konferenz für Praktisches Christentum in Oxford 1937, Ehrenpräsident auf der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948. Oliver, Margarita V. de 86 Leiterin des sozialen Dienstes der Methodistischen Kirche in Argentinien, 1957 Teilnehmerin an der ersten Konsultation der Kirchen der La-Plata-Region zum raschen sozialen Wandel. Ongan a, Juan Carlos 59 geb. 17. 3. 1914 Marcos Paz, gest. 8. 7. 1995 Buenos Aires Argentinischer General und Diktator, 1966–1970 Präsident Argentiniens. Ordnung, Carl 35, 57, 59, 74, 86, 95, 125 f., 129–131, 140–143, 147–149, 151–153, 156, 158 f., 165, 189, 251 geb. 18. 10. 1927 Lengenfeld, gest. 6. 3. 2012 Berlin Methodistischer Laienprediger und Politiker, 1958–1990 hauptamtlicher Mitarbeiter in der Ost-CDU, u. a. als Leiter der Abteilung für Kirchenfragen, sowie Sekretär des Regionalausschusses der CFK in der DDR, Teilnehmer an der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. Pagura, Federico Jos 45 geb. 9. 2. 1923 Arroyo Seco Argentinischer Theologe und Kirchenführer, 1977–1989 Bischof der methodistischen Kirche in Argentinien, 1978–1995 Präsident des lateinamerikanischen Kirchenrates CLAI, Mitglied der CWME, 1998–2006 einer von acht Präsidenten des ÖRK.

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Parmar, Samuel* 161, 165, 168, 173, 221 geb. 7. 8. 1921 Banaras, Uttar Pradesh / Indien, gest. 29. 5. 1979 Allahabad Indischer Ökonom, stellv. Direktor des Ökumenischen Instituts Bossey, 1964–1967 Vorsitzender des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966, Mitglied der CCIA, ab 1968 ÖRK-Repräsentant von SODEPAX. Paul VI. / Montini, Giovanni Battista 61, 64 f., 160 geb. 26. 9. 1897 Brescia, gest. 6. 8. 1978 Castel Gandolfo 1963–1978 Papst der röm.-kath. Kirche in der Nachfolge von Papst Johannes XXIII., 1967 Veröffentlichung der Enzyklika Populorum Progressio zu Entwicklungsfragen. Per n, Isabel 215 geb. 4. 2. 1931 La Rioja / Argentinien 1974–1976 Präsidentin von Argentinien, dritte Ehefrau von Juan Domingo Per n. Per n, Juan Domingo 56, 58 f., 215 geb. 8. 10. 1895 Lobos, gest. 1. 7. 1974 Olivos Argentinischer General und Staatspräsident 1946–1955, Sturz durch Militärputsch 1955, Wiederwahl 1973. Perrach n, Humberto 88 Mitglied der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Uruguay. Pet, Gerardo 96, 98, 234 f. Mitarbeiter im Sekretariat von ISAL, verantwortlich für den Bereich soziale Dienste und Projekte. Philip, Andr 17, 97, 121, 161, 165, 179, 194, 218, 230–232, 234, 236, 249, 261 f. geb. 28. 6. 1902 Pont-Saint-Esprit, gest. 5. 6. 1970 Paris Französischer Sozialist und Politiker, Professor für Wirtschaftswissenschaften, 1946–1947 französischer Finanzminister, Teilnehmer an der ersten SODEPAX-Konferenz in Beirut 1968. Pinochet, Augusto 58 geb. 25. 11. 1915 Valpara so / Chile, gest. 10. 12. 2006 Santiago de Chile Chilenischer General und Diktator 1973–1990. Potter, Philip Alford* 16 f., 97, 121, 126, 161, 179, 194, 218, 230–232, 234–236, 238, 249, 261–264 geb. 19. 8. 1921 Roseau / Dominica, gest. 31. 3. 2015 Lübeck Methodistischer Theologe und Generalsekretär des ÖRK, Jugendsprecher auf den ÖRK Vollversammlungen in Amsterdam 1948 und Evanston 1954, 1954–1960 Mitarbeiter in der Jugendabteilung des ÖRK, 1960–1968 Präsident des WSCF, 1961–1967 Referent der Methodistischen Missionsgesellschaft in London für Westafrika und die Karibik, 1967–1972 Direktor der DWME / CWME, 1972–1984 dritter Generalsekretär des ÖRK. Prebisch, Raffll* 55, 149 f., 166 geb. 17. 4. 1901 Tucum n, gest. 29. 4. 1986 Santiago de Chile Argentinischer Entwicklungsökonom, 1918–1922 Studium der Wirtschaftswissenschaften in Buenos Aires, 1950–1962 Direktor von CEPAL, 1964–1969 erster Generalsekretär der UNCTAD, 1966 Redner auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf. Raiser, Konrad 12, 28 f., 126, 132, 134, 187, 191, 193 f., 200, 272 geb. 25. 1. 1938 Magdeburg

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Evangelischer Theologe und Generalsekretär des ÖRK, ab 1969 Mitarbeiter in der Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK, 1973 Ernennung zum stellv. Generalsekretär des ÖRK, 1983–1992 Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, 1992–2003 Generalsekretär des ÖRK. Ramalho, Jether 105 geb. 2. 12. 1922 Brasilianischer Sozialwissenschaftler und Ökumeniker, nach Niederlegung seines Berufs als Zahnarzt Leiter der Abteilung für Soziale Aktion der CEB, Herausgeber der Zeitschrift Tempo e PresenÅa. Rauschenbusch, Walter 38, 125 geb. 4. 10. 1861 Rochester / NY, gest. 25. 7. 1918 Rochester / NY US-amerikanischer baptistischer Theologe, Vordenker und Vater der Social-GospelBewegung, 1883–1886 Studium der Theologie in Rochester, ab 1897 Professor am Baptistisch-Theologischen Seminar Rochester. Rembao, Alberto 49 geb. 26. 9. 1895 Mexiko, gest. 10. 11. 1962 New York Mexikanischer-US-amerikanischer Theologe, nach der Teilnahme an der mexikanischen Revolution und einer schweren Verletzung Übersiedelung in die USA, 1921 B.A. in Romanistik, 1924–1928 Studium der Theologie an der Pacific School of Religion in Berkeley / Kalifornien, 1929 Teilnahme am dritten Kongress des CCLA in Havanna sowie 1938 an der Weltmissionskonferenz in Tambaram. Rendtorff, Trutz 140, 154, 251, 253 geb. 24. 1. 1931 Schwerin Evangelischer Theologe, 1951–1956 Studium der Evangelischen Theologie, 1956 Promotion und 1961 Habilitation in Münster, 1968–1999 Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1979–1984 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 1979–1997 Mitglied der Synode der EKD und Vorsitzender der Kammer für öffentliche Angelegenheiten, 1968 Herausgeber einer Materialsammlung zur Theologie der Revolution (gemeinsam mit Heinz Eduard Tödt). Riedmatten, Henri de 161, 171 geb. 1919, gest. 1979 Schweizerischer röm.-kath. Theologe, Mitglied im Dominikanerorden, Unterstützer der Integration des Vatikans in die Arbeit der UNO, Mitglied von SODEPAX. Rizzo, Samuel 71 Mitglied der Presbyterianischen Kirche von Brasilien, einer von vier lateinamerikanischen Teilnehmern an der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam. Rockefeller Jr., John D. 75 geb. 29. 1. 1874 Cleveland / Ohio, gest. 11. 5. 1960 Tucson / Arizona US-amerikanischer Unternehmer, Philanthrop und Mäzen der ökumenischen Bewegung, Sohn von John D. Rockefeller Sr. (Gründer der Standard Oil Company), unterstützte den ÖRK finanziell in seiner Gründungsphase, u. a. durch den Kauf des Ch teau Bossey, seit 1946 Sitz Ökumenischen Instituts. Roy, Maurice 161 geb. 25. 1. 1905 Qu bec, gest. 24. 10. 1985 Qu bec Kardinal und Erzbischof von Qu bec, ab 1967 Präsident der Päpstlichen Kommission

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Justitia et Pax und des Päpstlichen Rates für die Laien, ab 1973 außerdem Präsident des Päpstlichen Komitees für die Familie, Mitbegründer von SODEPAX. Rycroft, William Stanley 37 geb. 1899 England, gest. 30. 11. 1993 Princeton / NJ US-amerikanischer Missionar, 1940–1950 Exekutivsekretär des CCLA in New York, 1950–1966 Lateinamerika-Sekretär in der Abteilung für Äußere Mission der Presbyterian Church in den USA. Sabanes, Julio Rub n 42, 44–46, 86, 136, 138 f. Argentinischer methodistischer Theologe, Mitglied des Redaktionskreises der Zeitschrift Cristianismo y Sociedad, Veröffentlichung eines lateinamerikanischen Beitrags in Vorbereitung auf die Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966. Said, Edward 19, 241 f., 255, 261 geb. 1. 11. 1935 Jerusalem, gest. 25. 9. 2003 New York US-amerikanischer Literaturtheoretiker palästinensischer Herkunft, ab 1963 Dozent und Professor für Englisch und vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und Yale University, 1978 Veröffentlichung seines Hauptwerks Orientalism, Mitbegründer der Denkrichtung des Postkolonialismus. Santa Ana, Julio de* 11, 24, 29, 41, 45, 66, 69, 88, 91–93, 95–97, 99, 101, 104–106, 108 f., 111, 114, 117 f., 135, 139, 171–178, 188, 192, 195, 214–220, 222–224, 226 f., 229–232, 239–244, 257 f., 260, 269, 273 f. geb. 2. 7. 1934 Montevideo Uruguayischer methodistischer Theologe, 1952–1956 Studium der Theologie und Philosophie in Buenos Aires und Montevideo, 1960–1962 Studium der Sozialwissenschaften in Strasbourg, 1963–1968 Leiter des christlichen Studienzentrums am R o de la Plata, 1963–1966 Herausgeber der Zeitschrift Cristianismo y Sociedad, ab 1968 Vizepräsident und von 1969–1972 Generalsekretär von ISAL, 1972–1983 Exil in Genf, 1972–1979 Studiensekretär der CCPD, 1979–1982 Direktor der CCPD, 1983–1993 Direktor des Ökumenischen Zentrums für Evangelisation und Volksbildung in S¼o Paulo / Brasilien, ab 1994 Professor für Theologie am Ökumenischen Institut Bossey. Sartre, Jean-Paul 18 geb. 21. 6. 1905 Paris, gest. 15. 4. 1980 Paris Französischer Philosoph und Publizist, Vordenker und Vertreter des Existenzialismus, 1964 Zuerkennung des Literaturnobelpreises (abgelehnt). Scheuner, Ulrich 197 f. geb. 24. 12. 1903 Düsseldorf, gest. 25. 2. 1981 Bonn [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 215 f.] Schrçter, Martin 140 geb. 1918, gest. 1991 Evangelischer Theologe, 1956–1965 Studentenpfarrer an der Universität Heidelberg, 1958–1969 Mitglied der CFK, 1971–1974 Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden, ab 1976 Synodalbeauftragter für Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst. Shaull, Richard* 80–85, 89 f., 102, 104, 108, 110, 123, 135 f., 138–144, 150–156, 191, 250, 252, 273 f. geb. 24. 11. 1919 Felton / Pennsylvania, gest. 25. 10. 2002 Ardmore / Pennsylvania US-amerikanischer presbyterianischer Theologe und Missionar, 1938–1942 Theolo-

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giestudium in Pennsylvania und am Princeton Theological Seminary, 1942–1950 Missionar in Kolumbien, 1952–1960 Missionar in Brasilien und Dozent für Kirchengeschichte am Theologischen Seminar Campinas, 1958 Promotion in Princeton, 1954–1961 Unterstützer des Aufbaus des Programms für raschen sozialen Wandel des ÖRK in Lateinamerika, 1961 Beteiligung an der Gründung von ISAL, 1962–1979 Professor für Ökumene in Princeton, 1966 Teilnahme an der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf, Vordenker und Wegbereiter der Theologie der Revolution. Simpfendçrfer, Werner* 201, 203–208 geb. 12. 2. 1927 Korntal, gest. 26. 6. 1997 Evangelischer Theologe, ab 1945 Studium der evangelischen Theologie in Tübingen, Bonn und Basel, 1951–1953 Vikariat, ab 1956 zunächst Pressereferent, dann Studienleiter für gemeindebezogene Akademiearbeit an der Ev. Akademie Bad Boll, 1961–1967 Sekretär der ökumenischen Studie zur missionarischen Struktur der Gemeinde in europäischen Kirchen, 1967 Leiter des Ökumene-Referats und stellv. Direktor der Akademie Bad Boll, 1969–1973 Mitarbeiter für Laien- und Erwachsenenbildung im Bildungsbüro des ÖRK in Genf, 1973–1985 Generalsekretär des Europäischen Leiterkreises der Evangelischen Akademien und Laieninstitute sowie Generalsekretär des Ökumenischen Leiterkreises der Evangelischen Akademien. Sinclair, John 100, 111 f. US-amerikanischer reformierter Theologe, Experte und Beobachter des lateinamerikanischen Protestantismus in den 1960er und 1970er Jahren, Teilnehmer an ISALKonferenzen. Smith, Earl 64, 88, 183 Mitglied der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Uruguay, Schatzmeister. Sçderblom, Nathan 125 f. geb. 15. 1. 1866 Trönö, gest. 12. 7. 1931 Uppsala Schwedischer lutherischer Theologe und Erzbischof, Pionier der ökumenischen Bewegung, 1901–1914 Professor für Religionsgeschichte in Uppsala, parallel dazu 1912–1914 Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Universität Leipzig, 1914 Wahl zum Erzbischof von Schweden, 1925 Organisation der Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm, 1930 Friedensnobelpreis. Speer, Robert Elliot 36 geb. 10. 9. 1867 Huntingdon / Pennsylvania, gest. 23. 11. 1947 Bryn Mawr / Pennsylvania US-amerikanischer Missionar, ab 1891 Sekretär des Presbyterian Board of Foreign Mission, 1894 erste Missionsreise nach Mexiko, 1913 Mitbegründer und Leiter des CCLA. Stockwell, Eugene 42, 217 f. geb. 28. 9. 1923 Boston, gest. 8. 10. 1996 Atlanta US-amerikanischer Methodist und Missionar, aufgewachsen in Buenos Aires, 1948 Abschluss in Jura an der Columbia University, 1952 MDiv am Union Theological Seminary in New York, 1953–1962 Missionstätigkeit in Uruguay, 1962–1964 Lateinamerikasekretär der Missionsabteilung der Methodistischen Kirche in den USA, 1972–1984 stellv. Generalsekretär für Überseedienste des National Council of Churches der USA, 1984–1989 Direktor der CWME.

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Tarso Santos, Paulo de 166 f., 173, 257 geb. 12. 1. 1926 Arax / Brasilien Brasilianischer Rechtsanwalt und Politiker, 1963 brasilianischer Bildungsminister unter Jo¼o Goulart, nach Militärputsch 1964 Exil in Chile, Leiter des Institute of Training and Agrarian Reform Research, Santiago de Chile. Thomas, Madhathilparampil Mammen (M. M.)* 70, 77, 154, 217 f., 234 geb. 15. 5. 1916 Kerala, gest. 3. 12. 1996 Madras Indischer Ökumeniker und Laientheologe, Mitglied der Mar-Thoma-Kirche, 1947–1953 Sekretär und stellv. Vorsitzender des WSCF, 1962–1975 Leiter des Christian Institute for the Study of Religion and Society in Bangalore, Vorsitzender des Vorbereitungskomitees der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966, 1968–1975 Moderator des Zentralausschusses des ÖRK. Thompson, William P. 217 f. geb. 1918, gest. 27. 4. 2006 Chicago US-amerikanischer Jurist, Mitglied der PCUSA, ab 1965 Nachfolger von Eugene Carson Blake als Moderator und Stated Clerk der General Assembly der PCUSA, 1970–1977 Präsident der WARC, 1975–1978 Präsident des Nationalen Kirchenrates der USA. Tinbergen, Jan 165, 173 geb. 12. 4. 1903 Den Haag, gest. 9. 6. 1994 Den Haag Niederländischer Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker, 1969 Wirtschaftsnobelpreis, Vorsitzender der 1. SODEPAX-Konferenz in Beirut 1968. Tçdt, Heinz Eduard 140, 251–253 geb. 4. 5. 1918 Wester-Bordelum / Nordfriesland, gest. 25. 5. 1991 Hannover Evangelischer Theologe, ab 1950 Studium der Evangelischen Theologie, u. a. bei Karl Barth in Basel, 1957 Promotion in Heidelberg, ab 1961 Mitarbeiter an der FEST, 1963–1983 Professor für Sozialethik an der Universität Heidelberg, 1968 Herausgeber einer Materialsammlung zur Theologie der Revolution (gemeinsam mit Trutz Rendtorff). Tonks, G. 71 Anglikanischer Priester, Bischof der Winward Islands / Westindische Inseln, einer von vier lateinamerikanischen Teilnehmenden an der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948. Torres restrepo, Camillo 66 f. geb. 3. 2. 1929 Bogot , gest. 15. 2. 1966 Santander Kolumbianischer röm.-kath. Priester, Revolutionär und Vorläufer der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, Mitglied der kolumbianischen Guerillabewegung ELN, 1959 Gründung der ersten soziologischen Fakultät Lateinamerikas an der Universidad Nacional de Colombia, gemeinsam mit Orlando Fals Borda, Tschuy, Theo 99, 103, 110, 113–115, 118 f., 122, 193, 230 geb. 1925 Zürich, gest. 8. 12. 2003 Schweizerischer methodistischer Theologe, sur-place Stipendiat in Chile, 1961–1971 Lateinamerikasekretär des ÖRK, ab 1971 beigeordneter Sekretär von SODEPAX, ab 1980 Verantwortlicher für das Menschenrechtsprogramm zur Verwirklichung der Schlussakte von Helsinki bei der KEK. Ukai, Nobushige 144 geb. 1906, gest. 10. 5. 1987

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Japanischer Politikwissenschaftler, 1953–1967 Professor für Politikwissenschaften, 1961–1967 Präsident der Internationalen Christlichen Universität Tokio, Vorsitzender des Lateinamerika-Plenums auf der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966. Vanistendael, Auguste 161 geb. 9. 1. 1917 England, gest. 8. 11. 2003 Belgien Gewerkschaftsfunktionär und Dichter, Mitglied der röm.-kath. Kirche, ab 1952 Generalsekretär des IBCG / Weltverband der Arbeitnehmer, ab 1967 Sekretär des katholischen Entwicklungshilfenetzwerks „Pour le D veloppement Socio-Economique“ (CIDSE), 1975–1983 Vorsitzender der belgischen Caritas, Mitglied von SODEPAX. Verkuyl, Johannes 228, 239 geb. 16. 1. 1908 Nieuw-Vennep, gest. 27. 1. 2001 Loenen aan de Vecht Niederländischer reformierter Theologe und Missionswissenschaftler, 1940–1962 Missionar in Indonesien, ab 1963 Generalsekretär des Niederländischen Missionsrates und ab 1965 Professor für Missionswissenschaften an der Freien Universität Amsterdam, Mitglied der CWME. Veronese, Vittorino 161 geb. 1. 3. 1910 Vicenza, gest. 3. 11. 1986 Rom Generalsekretär der UNESCO von 1958–1961, Mitglied der röm.-kath. Kirche, Mitglied von SODEPAX. Videla, Jorge Rafael 59 geb. 2. 8. 1925 Mercedes / Buenos Aires, gest. 17. 5. 2013 Marco Paz / Buenos Aires Argentinischer General und Diktator, 1976–1981 Vorsitzender der Militärjunta, verantwortlich für mehr als 30.000 desaparecidos (Verschwundene) in Argentinien. Villanueva, Daniel Lur 93 geb. 18. 6. 1904 Rosario, gest. 1970 Buenos Aires (?) Argentinischer evangelischer Theologe, 1961 Mitorganisator der Gründungskonferenz von ISAL. Villegagnon, Nicolas Durand de 33 geb. 1510 Provins, gest. 1571 Beauvais-en-G tinais Französischer Admiral, Gründer der Kolonie France Antarctique in Brasilien 1555. Vischer, Lukas* 62, 129, 161, 232 geb. 23. 11. 1926 Basel, gest. 11. 3. 2008 Genf Schweizerischer Theologe und Ökumeniker, ab 1961 Mitglied und von 1965–1979 Direktor der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK, Beobachter des ÖRK beim II. Vatikanum, beigeordneter Sekretär der Gemeinsamen Arbeitsgruppe des ÖRK und der röm.-kath. Kirche, 1980–1992 Leiter des Ökumenischen Instituts des SEK und Professor für Ökumenische Theologie an der Universität Bern. Visser ’t Hooft, Willem Adolf 16, 27, 38 f., 69 f., 123–128, 131, 135, 148–153, 178, 194 geb. 20. 11. 1900 Haarlem, gest. 4. 7. 1985 Genf Niederländischer reformierter Theologe und führender Gestalter der ökumenischen Bewegung, ab 1924 Mitarbeiter im Weltbund des YMCA, ab 1932 Generalsekretär des WSCF, ab 1938 Generalsekretär des ÖRK (im Aufbau), 1948–1966 erster Generalsekretär des ÖRK, 1968 Ehrenpräsident des ÖRK. Vries, Egbert de 76, 80, 84, 136 Niederländischer Agrar- und Sozialwissenschaftler, Direktor des Niederländischen

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Personenregister

Instituts für Sozialwissenschaften, 1955 Teilnahme an der ersten Studienkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Brasilien, Herausgeber des vierten Bandes zur Vorbereitung auf die Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966. Ward, Barbara Mary* 165 geb. 23. 5. 1914 Heworth, gest. 31. 5. 1981 Lodsworth Britische Ökonomin, 1968–1973 Professorin für Wirtschaftliche Entwicklung an der Columbia University, langjährige Beraterin bei den Vereinten Nationen und im Vatikan, Rednerin auf der Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968, Teilnehmerin auf der ersten Konferenz von SODEPAX in Beirut 1968. Ward, Harry F. 125 geb. 15. 10. 1873 London, gest. 1966 New York Britisch-US-amerikanischer Methodist und politischer Aktivist, radikaler Vertreter der Social-Gospel-Bewegung. Webb, Pauline 198 Britische methodistische Theologin, Mitarbeiterin der Überseeabteilung der Methodistischen Kirche in Großbritannien, Vizepräsidentin der Methodistischen Konferenz, 1968–1975 stellv. Moderatorin des Zentralausschusses des ÖRK, Leiterin der Abteilung für Religiöse Programme im BBC World Service, Engagement in der ökumenischen Anti-Apartheids- und Frauenbewegung. Weil, Luis Carlos 84 Mitglied der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Brasilien. Weth, Rudolf 140, 154, 158, 251 geb. 1937 Evangelischer Theologe und Autor, Studium der evangelischen Theologie in Wuppertal, Heidelberg, Basel und Bonn, 1973–2003 Direktor des Neukirchener Erziehungsvereins, 1988–2010 ehrenamtlicher Präses der Kindernothilfe, Mitherausgeber eines Sammelbandes zur Theologie der Revolution (gemeinsam mit Ernst Feil). Wisdom, Robert 84 Schatzmeister der Kommission für Kirche und Gesellschaft in Brasilien. Wurm, Theophil 69 geb. 7. 12. 1868 Basel, gest. 28. 1. 1953 Stuttgart [Personenlexikon Braun / Gr nzinger, 280.] 1946–1948 Mitglied des vorläufigen Komitees des ÖRK. Yoder, Howard W. 37 geb. 27. 7. 1901 Haven / Kansas, gest. 28. 12. 2003 Hesston / Kansas US-amerikanischer methodistischer Theologe, Missionar in Peru, Bolivien und Panama, 1954–1963 Exekutivsekretär des CCLA in New York.