Renaissancekultur und antike Mythologie [Reprint 2015 ed.] 9783110933604, 9783484365506

It would be hard to overestimate the significance of Classical mythology for the literature, drama, music, pictorial art

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German Pages 319 [320] Year 1999

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Bienen-Metapher und Mythologiekritik in der Renaissance
Die Funktion der antiken Mythologie in der mumaria
»Poema festoso« und »lucido specchio«
Mythologisches Gedicht und Ritterroman im frühen Cinquecento
Italienische Mythenburleske des 16. Jahrhunderts: Girolamo Amelonghis Gigantea und ihre Fortsetzungen
Die Figur des Ixion in den Erreurs amoureuses von Pontus de Tyard
Klassische Mythologie in Druckersigneten und Dichterwappen
Pagane Frömmigkeit und lyrische Erlebnisfiktion
Auster und Abspurge
Das mythologische Exemplum in der englischen Renaissance
Politik, Propaganda und Mythologie
Mythologische Elemente in Künstlerporträts der Renaissance
Instaurare iubet tunc hymenaea Venus: Botticellis Primavera
Apoll und Marsyas
Anhang
Verzeichnis der Abbildungen
Personenregister
Register der mythologischen und literarischen Figuren
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Renaissancekultur und antike Mythologie [Reprint 2015 ed.]
 9783110933604, 9783484365506

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Frühe Neuzeit Band 50 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Renaissancekultur und antike Mythologie Herausgegeben von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Renaissancekultur und antike Mythologie / hrsg. von Bodo Guthmiiller und Wilhelm Kühlmann. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Frühe Neuzeit ; Bd. 50) ISBN 3-484-36550-1

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz: Julian Paulus, Heidelberg Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt Vorwort Juliusz Domañski Bienenmetapher und Mythologiekritik in der Renaissance

VII

1

Susanne Tichy Die Funktion der antiken Mythologie in der mumaria

15

Anne Neuschäfer »Poema festoso« und »lucido specchio«. Die Gestaltung des Amphitryon-Mythos in der italienischen Renaissance-Komödie am Beispiel von Lodovico Dolces Marito (1545)

37

Bodo Guthmiiller Mythologisches Gedicht und Ritterroman im frühen Cinquecento . . . 53 Thomas Stauder Italienische Mythenburleske des 16. Jahrhunderts. Girolamo Amelonghis Gigantea und ihre Fortsetzungen

73

Heidi Marek Die Figur des Ixion in den Erreurs amoureuses von Pontus de Tyard

93

Walther Ludwig Klassische Mythologie in Druckersigneten und Dichterwappen . . .

113

Wilhelm Kühlmann Pagane Frömmigkeit und lyrische Erlebnisfiktion. Präsenz und Funktion des antiken Mythos in Petrus Lotichius' Secundus Elegie Ad Lunam

149

Elisabeth Klecker Auster und Abspurge. Ein »Habsburg-Mythos« des 16. Jahrhunderts

167

Wolfgang G. Müller Das mythologische Exemplum in der englischen Renaissance . . . .

183

Uwe Baumann Politik, Propaganda und Mythologie. Zur politischen Mythologiedeutung in der englischen Renaissance

207

VI Gunter Schweikhart Mythologische Elemente in Künstlerportäts der Renaissance

231

Ulrich Rehm »Instaurare iubet tunc hymenaea Venus«. Botticellis Primavera . . . 253 Katia Marano Âpoll und Marsyas. Ein Mythos als Exemplum des Zivilisationsprozesses

283

Anhang Verzeichnis der Abbildungen

295

Personenregister

297

Register der mythologischen und literarischen Figuren

303

In memoriam August Buck

Vorwort Man kann die Bedeutung der antiken Mythologie für die Dichtung, das Theater, die Musik, die bildenden Künste, die Emblematik, die Feste in der Zeit der Renaissance kaum überschätzen. Im Gefolge der humanistischen Bewegung gewann sie mehr und mehr an Eigengewicht und wurde dank ihrer Verbreitung zu einer der formenden Kräfte der neuen Kultur überhaupt. Obwohl während der vergangenen Jahre, im Zuge eines wachsenden Interesses am Mythos im allgemeinen, auch die Rezeption und Nachwirkung der antiken Mythologie in der Renaissance ein beliebter Forschungsgegenstand geworden ist, wie zahlreiche Spezialuntersuchungen belegen, sind doch angesichts der Allgegenwärtigkeit der antiken Mythen in der Renaissancekultur viele Bereiche noch immer nicht erschlossen oder noch nicht umfassend kritisch gewürdigt worden. Das vom Wolfenbütteler Arbeitskreis für Renaissanceforschung veranstaltete Kolloquium über »Renaissancekultur und antike Mythologie« (Herzog August Bibliothek, 7. bis 10. Oktober 1996, Leitung B. Guthmüller), dessen Ergebnisse der vorliegende Band sammelt, setzte sich einerseits zum Ziel, eine Reihe von neuen und weniger bekannten Aspekten des Mythos in der Renaissancekultur genauer zu beleuchten, andererseits in umstrittenen Fragen neuen Deutungen und Bewertungen Raum zu geben. Wir hoffen, daß unser Band zur Belebung und Vertiefung der gegenwärtigen Diskussion beitragen kann. Die in den Band aufgenommenen Untersuchungen behandeln im einzelnen die folgenden Probleme: Juliusz Domañski: Bienenmetapher und Mythologiekritik in der Renaissance. Die den antiken Dichtern zur Beschreibung ihres Schaffens dienende Bienenmetapher wurde von Plutarch und später von Basilius dem Großen zu didaktisch-erzieherischem Zweck benutzt, wobei jedoch das die Bienenarbeit nachahmende Lesen der an mythologischem Inhalt reichen dichterischen Werke nicht als Sammeln, sondern als Auswählen begriffen wurde; die Bienenmetapher wurde so zu einem wichtigen Element der die altchristliche Einstellung gegenüber dem klassischen Erbe bestimmenden AuswahlIdee. Domañski beleuchtet im Licht dieser Auswahl-Idee einige Elemente der Rezeption der antiken Mythologie, die, obwohl unentbehrlich, vom christlichen Standpunkt her gesehen verdächtig war und noch bei Boccaccio

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Vorwort

und Coluccio Salutati zusammen mit der antiken Dichtung einer Verteidigung bedurfte. In einem zweiten Schritt veranschaulicht Domañski auf der Grundlage der von Erasmus im Enchiridion benutzten Bienenmetapher, wie sich diese Einstellung im Zeitraum zwischen Boccaccio und Erasmus änderte. Susanne Tichy: Die Funktion der antiken Mythologie in der mumaria. Am Beispiel einer Aufführung, die am 4. August 1502 zu Ehren der ungarischen Königin Anne de Foix stattfand, werden die Beziehungen zwischen dem Thema der mumaria (dargestellt wurden das Parisurteil und der Raub der Helena) und ihrem politisch-historischen Kontext untersucht. Der Vergleich verschiedener Festbeschreibungen ermöglicht Einblicke in die zeitgenössische Rezeption allegorisch-mythologischer Schauspiele. Verallgemeinernd läßt sich die Funktion der Mythologie in den mumarie mit den Begriffen der Unterhaltung, der Nobilitierung und der Vermittlung von Botschaften umschreiben. Dabei bestehen grundlegende Parallelen zum mythologischen Festspiel der italienischen Höfe, aber auch Unterschiede, die auf die politische und kulturelle Situation des jeweiligen Entstehungshintergrundes zurückzuführen sind. Anne Neuschäfer: »Poema festoso« und »lucido specchio«: Die Gestaltung des Amphitryon-Mythos in der italienischen Renaissance-Komödie am Beispiel von Lodovico Dolces Marito (1545). Lodovico Dolces Komödie II Marito von 1545, die auf den Amphitruo des Plautus zurückgeht, unterscheidet sich von anderen Plautus-Nachdichtungen signifikant dadurch, daß sie das himmlische Götterpaar Jupiter und Merkur durch menschliche Doppelgänger, durch den jungen Liebhaber Fabritio und seinen Diener Roscio, ersetzt. Diese Veränderung entspringt dem Selbstbewußtsein des vulgärhumanistischen Autors, der in der Nachfolge Ariosts in einem seiner Komödien-Prologe die >Entlehnungen< aus der antiken Literatur als »furto« verurteilt. Dolce setzt sich damit über die »tragica comoedia« des Plautus hinweg, auf die dieser im Prolog ausdrücklich aufmerksam gemacht hatte, und zerstört so die Balance zwischen grausamer féerie des göttlichen Eingreifens und glücklichem Komödienschluß zugunsten einer derb-realistischen Handlung vom betrogenen und übertölpelten Ehemann, deren Figuren-Arsenal Machiavellis Mandragola und Boccaccios Decameron entsprungen scheint. Auf diese Weise verankert Dolce nicht nur plautinische Rückbezüge in der volkssprachlichen Komödie, sondern trägt zu deren Fixierung als Gattung in der Mitte des Cinquecento entscheidend bei. Bodo Guthmüller: Mythologisches Gedicht und Ritterroman im frühen Cinquecento. Der gewaltige Erfolg von Ariosts Orlando Furioso hat im 16. Jahrhundert in Italien den Ritterroman zur maßgeblichen Gattung im Bereich der

Vorwort

IX

erzählenden Dichtung werden lassen. Diese Entwicklung war am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als die antiken Mythen in Literatur und Kunst eine neue Blüte erlebten, nicht unbedingt vorauszusehen. In den ersten Jahren des Cinquecento entstanden in der Tat gleich drei unfangreiche mythologische Gedichte in ottava rima, deren Eigenart und Bedeutung für die italienische Literaturgeschichte erörtert werden (Battista Caracini, II Thebano, Venedig 1503; Andrea Stagi, L'Amazonida, Venedig 1504; Giovanni Filoteo Achillini, II Viridario [1504], Bologna, 1513). Thomas Stauder: Italienische Mythenburleske des 16. Jahrhunderts. Girolamo Amelonghis Gigantea und ihre Fortsetzungen. Der Beitrag befaßt sich mit drei nacheinander im Laufe des Jahres 1547 entstandenen burlesken Verarbeitungen des antiken Mythos der Gigantomachie: La Gigantea von Girolamo Amelonghi, La Nanea von Michelangelo Serafini und La Guerra de' Mostri von Antonfrancesco Grazzini (alias »II Lasca«). Es wird gezeigt, daß das erste dieser Werke, das mit dem Sieg der Riesen und der Vertreibung der Götter aus dem Olymp endet, im Dienste der »Querelle des Anciens et des Modernes« steht: Der Autor war ein Gegner der Humanisten und Petrarkisten und Anhänger der volkssprachlichen burlesken Manier eines Francesco Berni; indem er die antiken Götter durch deftige (u. a. skatologische) Komisierung ihrer erhabenen Aura beraubte, hoffte er die Traditionalisten empfindlich zu treffen. Serafini und Grazzini, die sich beide auf Amelonghi beriefen, nahmen eine ähnliche Haltung ein, wollten sich mit ihren Werken aber konkret in den damals aktuellen Streit um die Accademia Fiorentina einmischen (eine Funktionalisierung aufgrund derer ihre Gigantomachie-Versionen als Kontrafakturen zu klassifizieren sind). Heidi Marek: Die Figur des Ixion in den Erreurs amoureuses von Pontus de Tyard. Der Beitrag hat die mythologische Figur des Ixion zum Thema, der, verbunden mit den Symbolen des Rades, des Ringes und des Kreises, eine Leitmotivfunktion in den Erreurs amoureuses von Pontus de Tyard zukommt. Das Folterrad des Ixion, das zu Beginn des Buches die Qualen der Liebessehnsucht versinnbildlicht, überlagert sich im Laufe des ersten Buches mit den schicksalsbestimmenden Umlaufbahnen der Gestirne und verschmilzt so symbolisch mit dem Rad der Fortuna. Gleichzeitig ist Ixion auf zweifache Weise mit dem Schlüsselbegriff der erreur verbunden als jemand, der einen moralischen Irrtum begeht und (im epistemologischen Sinne) getäuscht wird. Alle diese Motive, die im ersten Buch vorwiegend negativ besetzt sind, werden am Ende der Gedichtsammlung ins Positive gewendet. Wird die erreur nun verstanden als quête und Seelenwanderung, so läßt sich das Rad des Ixion schließlich im pythagoräisch-orphischen Sinne als »Rad der Geburten« deuten, von dem der Mensch sich nach drei Lebenszyklen zu befreien hofft. Im dritten Buch von Tyards Canzoniere gelingt es dem

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Vorwort

lyrischen Ich, die durchlittenen Qualen im Sinne des furor poeticus als sinnvolle Vorbedingung für philosophische Erkenntnis und künstlerisches Schaffen zu verstehen. Dem Kreis als zwiespältigem Symbol der Perfektion und des circulus vitiosus steht deshalb im Schlußgedicht als Antwort und Steigerung das nicht mehr ambivalente Symbol der Kugel entgegen als Attribut der Muse Urania, deren Weltharmonie Tyards Dichtung entsprechen soll. Walther Ludwig: Klassische Mythologie in Druckersigneten und Dichterwappen. Bisher wenig beachtete Rezeptionsformen der antiken Mythologie in der Renaissance sind die Wahl und Verwendung von mythologischen Figuren als persönliches Symbol. Dazu zählen die Annahme mythologischer Figuren und Vorstellungen im Sinne einer persönlichen Devise bzw. eines persönlichen Emblems von Seiten eines Humanisten, die Verwendung mythologischer Figuren als Druckersignet und die Verleihung und Annahme von Wappen, die im Schild mythologische Figuren zeigen. Diese Phänomene sind von Interesse für die Rezeptionsgeschichte der Antike, die Geschichte des Buchdrucks, der Emblematik und der Heraldik sowie für die neulateinische Philologie. Ludwig gibt Beispiele für die verschiedenen Formen vom 15. bis 18. Jahrhundert und behandelt insbesondere die mythologischen Figuren in Dichterwappen des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, zu deren Erklärung auch eine bisher unbeachtete Literaturgattung, das allegorisierende Wappengedicht in lateinischer Sprache, herangezogen wurde. Wilhelm Kühlmann: Pagane Frömmigkeit und lyrische Erlebnisfiktion. Präsenz und Funktion des antiken Mythos in Petrus Lotichius' Secundus Elegie Ad Lunam. Nur ungenügend vermessen ist der Spielraum, der dem humanistischen Dichter unter dem Diktat christlicher Allegorese oder metonymischer Entkräftung der antiken Götterfiguren verblieb. Diesen Spielraum zu bestimmen unternimmt der Beitrag am Beispiel einer Hymne des Petrus Lotichius Secundus (1528-1560), die sich als halbfiktionale Form autobiographischer Versdichtung konstituiert. Im Rückgriff auf Michele Manilio, vielleicht auch in Kenntnis der orphischen Hymnen zeichnet Lotichius eine Situation der Bedrängnis, die im Zeichen polyhistorischer Memoria, zugleich aber im Nachvollzug psychischen Erlebens pagane Formen der Frömmigkeit poetisch rekonstruiert. Strukturelle, motivgeschichtliche und kontextuelle Untersuchungen des Textes weisen auf Möglichkeiten einer Poesie, die - vielleicht im Einzugsbereich naturmagischer Theoreme - die christliche Kontrafaktur vorchristlicher Dichtung widerruft, damit aber die sonst sehr viel enger gezogenen mentalen Grenzen des postreformatorischen Humanismus Melanchthonscher Provenienz quasi experimentell überschreitet.

Vorwort

XI

Elisabeth Klecken Auster und Abspurge. Ein >Habsburg-Mythos< des 16. Jahrhunderts. Zu den bedeutendsten Festen der österreichischen Renaissance zählt die 1571 in Wien gefeierte Hochzeit Karls II. von Innerösterreich. Das mythologische Programm des aus diesem Anlaß abgehaltenen Turniers wird durch die Europalia des Ioannes Baptista Fonteius Primio (ÖNB, cod. Vind. 10206) dokumentiert, die bisher vor allem in Hinblick auf den verantwortlichen Künstler Giuseppe Arcimboldo das Interesse der Forschung gefunden haben. Literarisch-philologische Aspekte blieben unberücksichtigt, so auch die in der einleitenden poetischen Verherrlichung des Festes enthaltene »nova fabula de origine Austriae domus«, in der Fonteo den Windgott Auster und die Nymphe Abspurge zu Stammeltern des Hauses Habsburg werden läßt. Als typisches Beispiel für die seit dem 15. Jahrhundert beliebten Neuschöpfungen antikisierender >Mythen< gewinnt Fonteos Habsburg-Mythos seine politisch-panegyrische Aussagekraft vor dem Hintergrund klassischer Vorbilder: Rückgriffe auf Hesiods Göttergenealogie unterstreichen die Legitimität der habsburgischen Weltherrschaftsansprüche, Vergilbezüge sowie Übernahmen und Umakzentuierungen von Catulls carmen 64 idealisieren die Regierung Kaiser Maximilians II. als Rückkehr der goldenen Zeit. Wolfgang G. Müller: Das mythologische Exemplum in der englischen Renaissance (mit besonderer Berücksichtigung von Erasmus und Shakespeare). Der Beitrag würdigt das Exemplum als ein herausragendes rhetorisches Mittel, das die klassische Mythologie in der Renaissance verfügbar macht. Zunächst wurde die Definition und Funktionszuschreibung des mythologischen Exemplums in der Theorie der Epoche untersucht. Da Erasmus (De copia) und seine englischen Nachfolger das »exemplum fabulosum« durch das Mittel der Allegorese argumentativ und teilweise auch didaktisch funktionalisieren, ergab sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Exemplum und Allegorie. An einzelnen Beispielen wurde dann die Verwendung des Exemplums in der Literatur der Renaissance erörtert. Besonders bei Shakespeare läßt sich zeigen, daß die didaktische Funktion des mythologischen Exemplums zurücktritt. Shakespeare bedient sich dieses rhetorischen Mittels zur Charakterisierung von Figuren (Julius Caesar) und Figurenkonstellationen (Hamlett, Antony and Cleopatra). Er nutzt es auch, um zusätzliche, subversive Sichtweisen in seine Stücke einzuführen (As You Like It, The Merchant of Venice). Uwe Baumann: Politik, Propaganda und Mythologie. Zur politischen Mythologiedeutung in der englischen Renaissance. Anhand repräsentativer Beispiele wird die propagandistisch-politische Mythologieinterpretation der Tudor- und Stuart-Herrscher vorgestellt. In der Tudorzeit, besonders unter Heinrich VIII. und Elisabeth I., dienten die in der Öffentlichkeit (feierliche Einzüge, progresses, Turniere, etc.) mit häufig gigantischem Aufwand zelebrierten mythologischen Selbstrepräsentationen

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Vorwort

von Herrschaft als politisch stabilisierende Elemente. Mit dem Rückzug aus der großen Öffentlichkeit und der mentalitätsgeschichtlich bedeutsamen Umakzentuierung in der Stuartzeit - der König als Repräsentant des Gottesgnadentums tritt an die Stelle der mythologischen Figuren des Altertums (Coelum Britannicum) - , kündigt sich zugleich die zunehmende Entfremdung zwischen Königtum und Öffentlichkeit an. Als Erklärungsmodelle für die ungemein zahlreichen politisch-propagandistischen Mythologiedeutungen in der englischen Renaissance wurde im letzten Abschnitt auf die Theorie der zwei Körper des Königs und auf deren funktionale Bedeutung für das Selbstverständnis von Herrschaft und auf einen allgemeinen Aspekt des Mythologieverständnisses zurückgegriffen, wonach den antiken Mythen ohnehin primär eine - in der weiteren Überlieferungsgeschichte verschüttete - politische Bedeutung zukam (Francis Bacon). Gunter Schweikhart: Mythologische Elemente in Selbstporträts der Renaissance. Zahlreiche Maler und Bildhauer nutzten bereits im späten 15. Jahrhundert die Möglichkeit, ihre Selbstporträts oder die Bildnisse von Künstlerkollegen durch mythologische Szenen oder Figuren zu erweitern. Insbesondere boten die Rückseiten der Porträtmedaillen die Möglichkeit, erläuternde Hinweise mythologischer Art aufzunehmen. Anspielungen auf olympische Götter wie Minerva und Merkur, die eine beschützende Rolle für die Künste spielten, oder auf Darstellungen von Opfern, um die Götter milde zu stimmen, wurden benutzt. Mehrfach wurden Hinweise auf Herkules aufgenommen, dessen Verkörperung als virtus auch die Tugend des Künstlers betraf. Verweise auf Bacchus galten der künstlerischen Inspiration, während Darstellungen des Atlas auf die Mühen der künstlerischen Beschäftigung verwiesen. Ulrich Rehm: »Instaurare iubet tunc hymenaea Venus«. Botticellis Primavera. Entgegen der bisher weitgehend akzeptierten Auffassung, die Bilderfindung der Primavera beruhe auf einer Kombination unterschiedlichster Textstellen antiker römischer Autoren und zeitgenössischer Poeten, versucht Rehm zu zeigen, daß das Bildprogramm von wenigen Zeilen des im Auftraggeber-Umkreis bekannten spätantiken Lehrtraktats Hochzeit der Philologie mit Merkur des Martianus Capella angeregt sein kann. Aus dem Beginn des 9. Buches, das Harmonía gilt, ist die Zusammenstellung der im Bild gegebenen mythologischen Gestalten abzuleiten, zugleich sind Hinweise auf die Bildabsicht erkennbar: Die römischen Gottheiten haben die Aufgabe, dem Brautpaar im Frühling das Hochzeitslager zu bereiten - ein Gedanke, der mit dem »lettuccio«, über dem das Bild wahrscheinlich zur Hochzeit des Lorenzo di Pierfrancesco de' Medici angebracht worden war, in Verbindung zu bringen ist. Darüber hinaus bietet die Textstelle Hinweise auf einen aus der Musiktheorie auf die bildende Kunst übertragenen Harmonie-Begriff, der in der Primavera exemplifiziert ist.

Vorwort

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Katia Marano: Apoll und Marsyas. Ein Mythos als Exemplum des Zivilisationsprozesses. Auf dem die Allegorie der Musik zeigenden Tondo, den Paolo Veronese 1557 für die Decke der Libreria di San Marco gemalt hat, ist der Mythos von Apoll und Marsyas nicht im einzelnen dargestellt, sondern durch das Detail einer an einem Ast hängenden Flöte wird auf ihn verwiesen. Aus der Analyse von Bildaufbau und Komposition, aus dem Verständnis des Mythos in der Renaissance, aus der Untersuchung des politischen und gesellschaftlichen Kontextes (Venedig in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts) ergibt sich die Bedeutung dieses Bildes als eines Symbols des durch die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters in Venedig überwundenen Zustandes der Wildnis und des Chaos. Darüber hinaus wird die Aussage des Bildes durch den architektonischen Zusammenhang, für den der Tondo angefertigt wurde, zu einem Appell an den Benutzer der Libreria, für den Bestand und das Fortleben des erreichten Goldenen Zeitalters Sorge zu tragen. Unser Dank gilt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Kolloquium, der Herzog August Bibliothek, die uns das Arbeitsgespräch ermöglicht hat (insbesondere Herrn Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer und Herrn Prof. Dr. Friedrich Niewöhner), der Gesellschaft der Freunde der Herzog August Bibliothek, die einen Druckkostenzuschuß gewährt hat, dem NiemeyerVerlag (insbesondere Frau Birgitta Zeller) und den Herausgebern der Reihe »Frühe Neuzeit«, die den Band freundlicherweise in ihr Programm aufgenommen haben, und schließlich all denen, die bei der Vorbereitung der Drucklegung mitgeholfen haben (Frau Iris Apfelbaum, Frau Dott. Uva Fabiani, Frau Katja Hesmer, Herrn Julian Paulus, Frau Dr. Susanne Tichy). Marburg/Heidelberg, im Februar 1998

Bodo Guthmüller Wilhelm Kühlmann

Juliusz Domanski

Bienen-Metapher und Mythologiekritik in der Renaissance

Im Gebrauch der Bienenmetapher - oder des Bienengleichnisses, das heißt also im Vergleichen des Dichters mit einer Biene, seiner Schöpfung mit deren Arbeit und seines Erzeugnisses mit dem Honig, das zuerst fast ausschließlich von den antiken Dichtern selbst zum Beschreiben ihres Schaffens angewandt wurde - lassen sich verschiedene aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen unterscheiden. Ich möchte zunächst diese Entwicklungsphasen möglichst knapp beschreiben und anschließend eine ganz einfache Typologie verschiedener Sinne, die der Metapher in der Antike gegeben wurden, darstellen.1 Der älteste griechische Gebrauch des Gleichnisses lenkt unsere Aufmerksamkeit viel mehr auf den Honig als auf die Biene und ihre Arbeit, und der Honig, Symbol der vom Dichter besessenen und verkündigten Weisheit, wird als Gabe der Götter angesehen. Dann aber kommt die Änderung, die darin besteht, »daß die Gabe aus dem Götterland an Bedeutsamkeit abnimmt gegenüber der Aktivität des Tiers, das den Honig, in welcher Weise immer, gewinnt«, und das bedeutet, daß »das Hauptinteresse sozusagen vom Honig ganz allmählich auf die Biene übergeht«, auf ihre Aktivität, die natürlich vor allem als bloßes Sammeln empfunden wird. »[...] hier verschiebt sich das Hauptinteresse von dem Inhalt der Enthüllung, also von übermenschlichen Dingen, auf den kunstgewandten Enthüller, der durch eine leichte und durchaus verständliche Akzentverschiebung zum enthüllenden Beherrscher der Kunst, das heißt also zum gottbeseelten Dichter wird«.2 So hat die altgriechische metaliterarische Anwendung des Bienen- und

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In meiner Beschreibung stütze ich mich vor allem auf den 1973 in Düsseldorf gehaltenen und ein Jahr später als kleines Buch (38 Seiten) veröffentlichten Aufsatz von Jan Hendrik Waszink: Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung in der griechischrömischen Antike. Opladen 1974; für die Ablichtung dieses schwer erreichbaren Buches danke ich herzlich Herrn Dr. Christophe Ligota vom Warburg Institute London. Behilflich war mir weiter Jürgen v. Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 48 (1956), S. 271-293, ein Aufsatz, der als eine sachliche Fortsetzung des vorigen gelten darf; für die Ablichtung dieses Aufsatzes aus dem ebenfalls schwer erreichbaren Jahrbuch bin ich meinem lieben Freund Dr. Jerzy Drewnowski (Wolfenbüttel) sehr dankbar. Von besonderem Wert für die Imitatio als Problem der grammatischen Schulung im italienischen Frühhumanismus ist G. W. Pigman: Barzizzas Treatise on Imitation. In: Bibliothèque d'Humanisme et Renaissance 44 (1982), S. 341-352, wo sich nebst den neueren bibliographischen Informationen auch (S. 349-351) die Ausgabe von Barzizzas Text befindet. Waszink, S. 14 und 13.

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Juliusz

Domañski

Honiggleichnisses im alten Griechenland ihre für die klassische Periode endgültige Entwicklungsphase erreicht, nachdem sie sich aus der hesiodischen Bekennung, die Musen haben ihm von Geburt der Götter verkündigt, in die in Piatons Ion enthaltene Beschreibung der dichterischen Begeisterung umgestaltet hatte. In solcher Gestalt ist sie als erstes Modell anzusehen, das für den griechischen Begriff literarischer Schöpfung wenigstens in der klassischen Periode charakteristisch ist, das heißt für einen Begriff, der die Literatur als etwas Angeborenes und Originelles empfindet. Das nächste Modell - und es darf zugleich als weitere Entwicklungsstufe der Metapher gelten - hat sich im römischen metaliterarischen Denken gestaltet, dem eine ganz neue Erfahrung zu Grunde gelegen zu haben scheint, nämlich die der Rezeption und der Nachahmung. Obwohl auch die römischen Dichter, die sich früher ganz einfach scribae nannten, sich in der klassischen Periode nach griechischer Art und Weise als vates oder Musarum sacerdotes bezeichnen, die, von den Göttern begeistert, den Menschen übermenschliche Wahrheiten vermitteln, bereichert sich jedoch ihr auf sie selbst und auf ihre eigene Schöpfung bezogenes Denken um ein ganz neues Element: ihrer göttlichen Begeisterung und ihrer eigenen erfinderischen Kraft stehen nun die griechischen dichterischen Werke zur Verfügung und jenen gegenüber fühlen sie sich zum Nachahmen, aber auch zum Wetteifern verpflichtet. Somit nimmt das griechische Bienengleichnis merkwürdigerweise an Inhalt und Kraft zu. Die nachzuahmenden griechischen Vorbilder erweisen sich als zahlreich und vielgestaltig. Der römische Dichter sieht es als seine Aufgabe an, diesen Reichtum und diese Mannigfaltigkeit in möglichst vollem Ausmaß auszunützen.3 Wenn also Lukrez in seinem berühmten Hymnus an Epikur sich des Bienengleichnisses bedient, dann bekennt er zwar, er beabsichtige nicht, mit Epikur, aus dessen »Blättern« er zu schöpfen hat, zu wetteifern (»quid enim contendat hirundo / cycnis, aut quidnam tremulis facere artubus haedi / consimile in cursu possint et fortis equi vis?«), er fügt aber hinzu, er solle und wolle aus allen Schriften Epikurs die goldenen Worte der Wahrheit gewinnen, genau so wie es auf den reichen Bergfeldern die Bienen machen (»tuisque ex, inclute, chartis, / floriferis ut apes in saltibus omnia libant, / omnia nos itidem depascimur aurea dicta«).4 Innerhalb dieser römischen Version, die zugleich eine zweite Entwicklungsstufe des Topos darstellt, ist aber auch eine innere Entwicklung zu beobachten. Aus der starken Betonung der Arbeit des Dichters und seiner ungeheuren Mühe - stärker, scheint es, als irgendwo bei den Griechen - aus dieser Betonung der schöpferischen Tätigkeit des Dichters hat sich nämlich stufenweise eine neue Rolle der Biene entwickelt. Sie wird uns klar sein, wenn wir nach Lukrez Horaz und nach Horaz Seneca sprechen lassen.

3 4

Ebd., S. 20-21. Ebd., S. 22-23. Die Stelle von Lukrez ist III, 1-13.

Bienen-Metapher und Mythologiekritik in der Renaissance

3

Die durch Erwägungen über das eitle Wetteifern mit Pindar eröffnete Ode IV 2 des Horaz ist nur als eine Variante von dem zu betrachten, was wir bei Lukrez finden. Wenn auch Horaz die Mühe seiner dichterischen Schöpfung stärker als Lukrez betont, versteht er doch diese Mühe immer noch als bloßes Sammeln. Es hätte keinen Sinn, mit Pindar, der, wie ein großer Schwan, seine herrliche dichterische Kraft aus sich selbst schöpft, zu wetteifern. Er, Horaz, könne seine Lieder nur mit schwerer Arbeit formen, wie eine kleine Biene ihren Nektar durch schwere Arbeit gewinnt (»Ego apis Matinae / more modoque / grata carpentis thyma per laborem / plurimum circa nemus uvidique / Tiburis ripas operosa parvus / carmina fingo«). Der 84. Brief Senecas bringt dagegen etwas wesentlich Neues. Senecas Biene trägt etwas Eigenes in das Gesammelte hinein, das heißt bildet »aus den verschiedenen aus den Blumen gewonnenen Säften ein neues und eigenes Ganzes« und zwar dank eigener Zutat, nämlich dem aus ihr selbst stammenden fermentum, dank dem das Gesammelte sich gar nicht wiedererkennen läßt: nos quoque has apes debemus imitan et quaecumque ex diversa lectione congessimus separare [...], deinde adhibita ingenii nostri cura et facúltate in unum saporem varia illa libamenta confundere, ut etiam si apparuerit unde sumptum sit, aliud tarnen esse quam unde sumptum est appareat.5

Hiermit äußert sich der Anspruch der Römer auf Originalität ihrer dichterischen (und nicht nur ihrer dichterischen) Schöpfung. Ein drittes Modell gehört erst der christlichen Antike an. Anders als die beiden vorigen Modelle hat es mit metaliterarischer Autoreflexion der Dichter nichts zu tun. Auch die literarische Nachahmung spielt darin keine Rolle. Dieses Modell wurde im ethisch-pädagogischen Denken herausgearbeitet. Nichtsdestoweniger ist es auch als eine spezifische Fortsetzung der Rezeptionsprobleme anzusehen. Sein ausdrücklichstes Beispiel bilden die berühmten Mahnworte, die Basilius der Große an seine die klassischen Studien beginnenden Neffen gerichtet hat: Προς τους νέους όπως αν έκ τών Ελληνικών ώφελοΐντο λόγων (auf Lateinisch: Sermo de legendis libris

gentilium).6

Während in den vorigen klassischen Modellen der Schwerpunkt des Bienengleichnisses im Sammeln lag, wird hier zum Kern das Auswählen, das dem Sammeln selbst vorangehen soll.

5

6

Ebd., S. 23-24 (über Horaz, wo auch seine hellenistischen Quellen - Anth. Pal. VII, 13 und 19 angegeben sind) und S. 28-29 (über Seneca; seine von mir zitierten Worte stammen aus Epist. 84, 5) mit Bezug auf Stackelberg, wie Anm. 1. Der griechische Originaltext mit lateinischer Übersetzung in Patrologia Latina 31, Sp. 563-590, und mit französischer Übersetzung in Basile de Césarée: Aux jeunes gens. Sur la manière de tirer profit des lettres helléniques. Text und Übersetzung von F. Boulenger. Paris 1952. Die unten benutzte deutsche Übersetzung ist die in der Bibliothek der Kirchenväter abgedruckte von Albert Warkotsch: Antike Philosophie im Urteil der Kirchenväter. Christlicher Glaube im Widerstreit der Philosophien. Texte in Übersetzungen. München 1973, S. 383-394.

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Juliusz Domanski

Basilius erörtert das schon zwei Jahrzehnte lang von den christlichen Intellektuellen diskutierte Problem, ob und in welchem Ausmaß es den Christen gestattet ist, sich die heidnische Geisteskultur anzueignen. Die Lösung, die er findet, kann einerseits als eine summa, ja als eine ausdrucksvollere und zugleich genauere Formulierung früherer oder gleichzeitiger Tendenzen und Lösungen gelten, andererseits auch als ein für spätere Jahrhunderte maßgebendes Programm, obwohl seine Schrift im Westen bis zur lateinischen Übersetzung Leonardo Brunis keine mit den sonstigen christlichen Programmen dieser Art vergleichbare Popularität gewann. Es genüge, zur Exemplifizierung der erwähnten Tendenzen und Lösungen zwei spätere, im mittelalterlichen Westeuropa ständig gelesene Texte in Erinnerung zu bringen: den siebzigsten Brief des hl. Hieronymus mit dem schon bei Orígenes vorfindlichen captiva gentilis Topos und De doctrina Christiana des hl. Augustinus, der im zweiten Buch von der ebenfalls von Orígenes früher zum gleichen Zweck benutzten spoliatio Aegyptiorum spricht. Hieronymus zitiert das Gottesgebot {Dt. 21, 11): »Einem gefangenen Weibe sollst du das Haupthaar abrasieren, die Augenbrauen, alle Haare und Nägel am Körper sollst du abschneiden; dann erst magst du sie zur Ehe nehmen«, um seine postive, aber zugleich vorsichtige Stellungnahme gegenüber der heidnischen Kultur zu bekunden, und schreibt über die durch die gefangengenommene Frau personifizierte heidnische Literatur: Ist es so unbegreiflich, wenn ich alles, was an ihr tot ist, den Götzendienst, die Sinnlichkeit, den Irrtum, die Begierlichkeit vorher abschneide und wegrasiere, um dann in Vereinigung mit dem gereinigten Körper (purissimo corpori) dem Herrn der Heerscharen aus ihr Kinder zu erzeugen.

Augustinus führt zur Bestimmung der richtigen Haltung gegenüber der klassischen Kultur jenes andere Gebot Gottes an (Ex. 3, 22), nach dem jede Jüdin von ihrer ägyptischen Nachbarin silberne und goldene Gefässe und Kleider leihen soll, um diese wertvollen Schätze bei der Flucht aus Ägypten als Raubgut mitzunehmen. Sicut enim Aegyptii non tantum idola habebant et onera gravia, quae populus Israhel detestaietur et fugeret, sed etiam vasa atque ornamenta de auro et argento et vestem, quae ille populus exiens de Aegypto sibi potius tamquam ad usum meliorem clanculo vindicavit [...], sic doctrinae omnes gentilium non solum simulata et superstitiosa fígmenta gravesque sarcinas supervacanei laboris habent, quae unusquisque nostrum duce Christo de societate gentilium exiens debet abominali atque vitare, sed etiam liberales disciplinas usui veritatis aptiores et quaedam morum praeeepta utilissima continent deque ipso deo colendo nonnulla inveniuntur apud eos, quod tamquam aurum et argentum [...] debet ab eis auferre christianus in usum iustum praedicandi evangelii. 8

Hieronymus Schlagwort ist >die Reinigung< (»gereinigter Körper« der Sklavin), die das Abtrennen des Reinen von dem Unreinen, also das Auswählen des Reinen bedeutet. Suchen wir einen Schlüsselgedanken im Zitat des Augustinus, so ist es der der Auswahl des Besten. Bevor aber die Idee der 7 8

Hier. Epist. 70, 2, zitiert nach Warkotsch, wie Anm. 6, S. 436. Aug. Doctr. Chr. II, 40, 60.

Bienen-Metapher und Mythologiekritik in der Renaissance

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Auswahl sich bei diesen zwei Kirchenvätern in biblischen Geboten metaphorisch bekundete, hatte sie bei Basilius dank der Verwendung des Bienengleichnisses einen adäquaten und klaren Ausdruck gefunden. Zum ewigen Leben - sagt Basilius - weisen zwar nur die heiligen Schriften den Weg, um sie aber verstehen zu können, braucht das jugendliche Alter eine vorbereitende Übung an Schriften der heidnischen Dichter, Geschichtsschreiber, Redner, die den heiligen Schriften gegenüber wie Schatten und Spiegel stehen, also eine Verwandtschaft mit ihnen aufweisen und dadurch nicht ohne Nutzen sind. Inwieweit aber soll sich ein christlicher Junge mit der Profanliteratur beschäftigen? Erstens - antwortet Basilius seinen Neffen - dürft ihr nicht allem, was die Dichter sagen, [...], und allen der Reihe nach eure Aufmerksamkeit schenken. Aber wenn sie von Handlungen und Reden guter Männer erzählen, so sollt ihr sie lieben und nach Kräften nachzuahmen versuchen. Kommen sie auf schlechte Menschen zu sprechen, so müßt ihr euch in acht nehmen und eure Ohren verschließen, genau so wie es Odysseus beim Gesang der Sirenen gemacht haben soll. Denn die Gewöhnung an schlechte Reden ist leicht der Weg zu schlechten Taten. Deshalb müssen wir mit aller Sorgfalt uns davor hüten, nicht durch das Wohlgefallen an den Worten unvermerkt etwas Schlechtes in unsere Seele aufzunehmen, wie die, welche mit dem Honig Gift einnehmen. Wir dürfen die Dichter auch nicht loben, wenn sie schmähen und spotten, Verliebte oder Trunkene schildern, auch nicht, wenn sie die Glückseligkeit nach einer luxuriösen Tafel und ausgelassenen Liedern bemessen. Am wenigsten aber dürfen wir auf sie hören, wenn sie von der Vielzahl und Uneinigkeit der Götter erzählen. Denn bei ihnen steht Bruder gegen Bruder auf, Vater gegen Kinder, und die Kinder führen wiederum einen unversöhnlichen Krieg gegen die Eltern. Ehebrüche, Buhlereien und öffentliche Umarmungen der Götter, besonders die ihres Oberhauptes, des höchsten Zeus, wie sie ihn nennen, die man ohne Erröten nicht einmal von Tieren aussagen könnte, wollen wir den Schauspielern überlassen. Dasselbe läfit sich freilich auch von den Geschichtsschreibern sagen, besonders wenn sie den Hörem zum Gefallen und zum Vergnügen Geschichten erzählen. Auch die Fertigkeit der Rhetoren im Lügen wollen wir nicht nachahmen. [...] Dagegen wollen wir gem von ihnen lernen, soweit sie die Tugend lobten oder das Laster rügten. Denn wie die meisten Geschöpfe von den Blumen nur etwas haben, insoweit sie sich an deren Farben oder Duft ergötzen, die Bienen aber auch Honig aus ihnen zu gewinnen wissen, so werden auch die, die nicht bloß nach dem Angenehmen und Ergötzlichen solcher Schriften haschen, daraus auch einen Gewinn für ihre Seele erzielen. Ja, ganz nach dem Vorbild der Bienen müßt ihr mit jenen Schriften umgehen. Diese fliegen ja nicht unterschiedslos zu allen Blumen, noch wollen sie die (Blumen), die sie besuchen, ganz wegtragen, vielmehr nehmen sie nur soviel mit, als sie verarbeiten können, und lassen das übrige ganz gern zurück. Wollen wir klug sein, sodann eignen auch wir uns aus jenen Schriften nur das für uns Passende und das der Wahrheit Verwandte an, übergehen aber das andere. 9

Wir finden in diesem ein bißchen zu langen Zitat alles, was wir zu unserem Thema benötigen. Es läßt uns ganz klar ersehen, erstens, worin das Spezifikum des letzten Modells gegenüber den vorigen Modellen besteht, zweitens aber auch, daß die Mythologie dasjenige ist, was die die Bienen nachahmenden christlichen Benutzer der heidnischen Literatur besonders meiden sollen und was übrigens eine uns hier interessierende Konkretisierung des >Unreinen< der hieronymischen Metapher und der >superstitiosa figmenta< des Augustinus ist.

9

Zitiert nach Warkotsch, wie Anm. 6, S. 385-386.

6

Juliusz

Domañski

Der erste Punkt aber braucht noch eine zusätzliche Bemerkung. Aus dem früher Gesagten ist keinesfalls zu schließen, daß die auf die Literatur bezogene Idee der Trennung des Wertvollen vom Schädlichen und der Aneignung nur des ersten, also die Idee der Auswahl, nur der christlichen Reflexion von Nutzen und Unnutzen der Literatur eigen war. In der Tat war sie den Kirchenvätern mit verschiedenen Strömungen philosophischen, moralistischen und pädagogischen Denkens der heidnischen Antike gemeinsam, seit der Kritik der homerischen und der hesiodischen mythischen Theologie durch Xenophanes, über die die Dichtung betreffenden Erwägungen Piatons im Staat und in den Gesetzen, bis hin zu den erzieherischen Ratschlägen Quintilians im 1. Buch De instititutione, um nur an diese drei allgemein bekannten Beispiele zu erinnern.10 Was den hl. Basilius unterscheidet, ist natürlich sein spezifisch angewandtes Bienengleichnis, aber selbst in dessen Benutzung hat er in Plutarch einen heidnischen Vorgänger, der ebenfalls das Bienengleichnis in seinem Essay Wie die Jugend die Dichter hören soll (Πώς δει τον νέον ποιημάτων άκούειν) zu einem pädagogischen Zweck verwendet, was der hl. Basilius nachahmt.11 Die 10

11

Während Xenophanes, frgm. 11 B, sich auf den bloßen Vorwurf beschränkt, die beiden dichterischen Theologen, Homer und Hesiod, hätten ihren Göttern all das zugeschrieben, was bei den Menschen als verbrecherisch und schändlich angesehen wird, und sich im übrigen mit der moralischen Aussage nicht befaßt, begleitet die einen gleichen Vorwurf beinhaltende, aber viel ausführlichere und tiefere Kritik der dichterischen Theologie bei Piaton auch positive Einschätzungen mancher Elemente der homerischen Dichtung. Als Beispiel einer solchen Einschätzung - und somit als Beispiel der Auswahl des ethisch Positiven aus der allgemein negativ bewerteten homerischen Dichtung - darf das wenigstens zweimal im Staat (390 d und 441 b) mit voller Anerkennung von Piaton angeführte Zitat aus Odyssea XX, 17-21 (στήθος δή πλήξας κραδίην ήνίπαπε μύθω· τήτλαθι δή, κραδίη ... κτλ.) gelten. Bezüglich Quintilians handelt es sich um Inst. I, 8, 4-6, und insbesondere um den die Lyriker betreffenden Ratschlag (6): »Alunt et lyrici, si tarnen in his non auctores modo, sed etiam partes operis elegeris: nam et Graeci licenter multa et Horatium in quibusdam nolim interpretan. Elegia vero, utique qua amat, ut hendecasyllabi, qui sunt commata sotadeorum (nam de sotadeis ne praecipiendum quidem est), amoveantur, si fieri potest, si minus, certe ad firmius robur aetatis reserventur«. Im großen und ganzen scheint Plutarchs Opusculum eine diskrete, trotzdem aber explizite, für die Dichtung durchaus günstige Ablehnung der platonischen Kritik zu sein. Plutarch erkennt zwar die platonischen Vorwürfe an, die Dichtung und insbesondere die dichterische Theologie habe mit der Wahrheit nichts zu tun (s. z. B. 17 D E; 20 B), die Dichtung beinhalte irrationelle und deswegen unsittliche, durch ihre Anziehungskraft aber gefahrliche Vorstellungen usw. (s. z. B. 20 Β und F), zugleich jedoch bemüht er sich darum, die Dichtung und die Philosophie in Einklang zu bringen, mehr noch, aus ihnen ein erzieherisches System zu bauen, indem er die erste schon am Anfang seines Opusculum zu einer Einleitung in die zweite erklärt (15E-16A): Μηδ' ημείς ούν την ποιητικήν ημερίδα των Μουσών έκκόπτωμεν, άλλ' όπου μεν ύφ' ηδονής άκαρπου προς δόξαν αύθάδως θρασυνόμενον εξυβρίζει καί ύλομανεΐ μυθωδες αυτής και θεατρικόν, έπιλαμβανόμενοι κολύωμεν και πιέζωμεν όπου δ' άπτεται τίνος μοΰσης τη χάριτι καί το γλυκυ του λόγου καί άγωγόν ούκ ακαρπόν έστιν ούδέ κενόν, ενταύθα φιλοσοφίαν είσάγωμεν καί καταμιγνυωμεν [...]. όθεν ού φευκτέον έστι τα ποιήματα τοις φιλοσοφείν μέλλουσιν, άλλα έν ποιήμασι προφιλοσοφητέον έθιζομενους έν τω τέρποντι το χρήσιμον ζητείν καί αγαπάν. Die Dichtung aber eigne sich von sich aus nicht dazu: sie müsse einer die in ihr enhaltenen Bedrohungen neutralisierenden Auslegung unterzogen werden. Zum Zwecke solcher Neutralisierung verwendet Plutarch die Bienenmetapher in

Bienen-Metapher und Mythologiekritik in der Renaissance

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Grundidee ist Basilius mit seinen heidnischen Vorgängern gemeinsam: da sich bei den Dichtern und insbesondere in deren mythologischen Erdichtungen das moralisch Wertvolle mit dem moralisch Schädlichen vermengt, sind diese Erdichtungen mit besonderer Vorsicht zu nehmen. Was also den christlichen Benutzer des Bienengleichnisses unterscheidet, ist nur >die Vielzahl der GötterUneinigkeit^ das heißt ihr Streit, ihre Buhlereien und Bertrügereien, die auch bei den Autoren heidnischer erzieherischer Literatur änliches Ärgernis erweckten. Soviel über das Bienengleichnis. Versuche ich nun das bisher Gesagte für das Thema des heutigen Kolloquiums fruchtbar zu machen, so muß ich mich aus subjektiven, aber auch aus objektiven Gründen auf ein paar banale und disparate Einzelheiten aus der christlichen Mythologiekritik beschränken. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie trotzdem für den weiteren Gang des Kolloquiums von Nutzen sein könnten. Die völlige Verwerfung der Mythologie scheint in der antiken und nachantiken christlichen Welt weder möglich noch gewollt gewesen zu sein. Möglich war sie schon deswegen nicht, weil es sich um einen beträchtlichen Bestandteil des Wortschatzes der klassischen Sprachen handelte, nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Prosa- und Umgangsprache, denn in allen diesen Sprachgebieten wurden die Metaphern, Metonymien, Sprüche mythologischen Inhalts heimisch und unersetzbar. Gewollt war sie auch nicht, da es sich in der christlichen Idee des Auswählens aus dem antiken Erbe nicht so sehr darum handelte, das Mythische aus den dichterischen Werken der Heiden auszuklammern, sondern vielmehr darum, in den bestehenden Mythen das Erbauliche und selbst auch das Fromme hervorzuheben beziehungsweise herauszuinterpretieren. Das erste möchte ich mit einem vielleicht wenig typischen, aber eben dadurch wohl ausdrucksvollen Beispiel illustrieren. In seiner dichterischen Polemik Contra Symmachum, die die Statue der Göttin Victoria im römischen Senat betrifft und in der die heidnischen Götter verspottet werden, nennt Prudentius, der doch auch als christlicher Römer spricht, die Römer mit denselben Namen, die er bei den heidnischen römischen Dichtern vorfand, das heißt Romuleum genus und Romulidae, ohne darauf zu achten, daß er sie auf diese Weise vom halb-mythischen Romulus, Nachkömmling der heidnischen Göttin, abstammen läßt: Salvator generis Romulei, precor,

[...]

huius, si potis est, iam miserescito praeruptam in foveam praecipitis viri.

(I, praef. 80f.),

einer doppelten Funktion. Er weist darauf hin, daß die Biene im Unterschied zu anderen Tieren zwar nur Blumen auf der Wiese sucht (30 CD), daß sie aber selbst in bitteren Blumen den süßen Honig für sich zu gewinnen weiß (32 E).

8

Juliusz Domanski

und: Sed, quoniam renovata luis turbare saluterei temptat Romulidum, patris imploranda medela est,

(I, 5f.). 12

Zum zweiten Punkt - nämlich daß man in der zu christianisierenden und selbst in der christlichen Welt die Mythologie eher zähmen als wegwerfen wollte - muß zunächst bemerkt werden, daß wir es in der antiken christlichen Literatur vor allem mit einer Bekämpfung und Verspottung der Mythen zu tun haben, die die gesamte Mythologie als eine falsche Religion und unsinnige Theologie vom Standpunkt des jüdisch-christlichen Monotheismus aus kritisiert, wie dies in den diesbezüglichen Werken des Arnobius und Firmicus Maternus, aber auch in Augustinus De civitate Dei der Fall ist. Diese theologische Literatur muß ich hier jedoch beiseite lassen. Es sollen nur Autoren Beachtung finden, die sich für die Mythologie als Bestandteil des allgemeinen kulturellen, und nicht nur des religiösen Erbes der Heiden interessieren. Für eine derartige Einstelllung gegenüber der Mythologie finden wir im christlichen Altertum nicht zahlreiche, aber doch etliche Beispiele, etwa De ave Phoenice des Laktanz, eine allegorisierende christliche Umarbeitung des heidnischen Mythos, und seine spätere Umarbeitung durch Claudian, der auch einen anderen Mythos im Gedicht De raptu Proserpinae neu gestaltete. Im Mittelalter werden solche Umarbeitungen häufiger und sinnreicher, besonders in ihrer moralisierenden Gestalt; es sei nur ein einziges, aber für unser Thema besonders bedeutungsvolles Beispiel genannt, Baudri de Bourgueil, der sich die Aufgabe gestellt hat aufzuweisen, daß »die Bücher der Heiden nicht nur die Beispiele von Unmoral, sondern von Tugenden enthalten: Dianas Keuschheit, Perseus' Sieg über das Meerungeheuer, die Arbeiten des Herkules«.13 Es stellt sich eine ganz banale, aus dem common sens abzuleitende Frage, ob es nicht so war, daß je mehr sich die antike und nachher auch die post-antike Welt

12

Prudentius benutzt diese ursprünglich mythischen Benennungen gleich in dem Gedicht, das er gegen Symmachus richtet, der um den Erhalt der Victoria Statue im römischen Senat kämpfte. Es sieht so aus, als ob Prudentius dem Wunsch des Symmachus nachgehe, den er in seinem Gedicht (II, nach Z. 6) zitiert: »Reddatur saltern nomini honor, qui Numini denegatus est«. In Wirklichkeit aber kommen bei Prudentius öfters die von den mythischen Namen hergeleiteten Adjektive vor, die ihrerseits bedeutungsvolle Assoziationen wecken. So z. B. in Cathemerinon, III, 71-75: »Mella recens mihi Cecropia / nectare sudet olente favus; / haec opifex apis aerio / rote liquat tenuique thymo / nexilis nescia conubi«, eine erfinderische Anspielung auf Horaz, Carm. IV, 2. Und weil ich eben an Prudentius die komplizierte Einstellung des altchristlichen Denkens gegenüber der Mythologie zu illustrieren versuche, sei es mir erlaubt, noch eine Prudentius Stelle anzuführen, in der er seine den Polytheismus und den heidnischen Kultus betreffende Anschauung äußert (Apotheosis, 186-193): »Ecquid in idolio recubans inter sacra mille / ridiculosque déos venerans sub caespite ture / non putat esse deum summum et super omnia solum? / Quamvis Saturnis Iunonibus et Cythereis / portentísque aliis fumantes consecrat aras, / at tarnen, in caelum quotiens suspexit, in uno / constituit ius omne deo cui serviat ingens / virtutum ratio variis instructa ministris«.

13

Zitiert nach Emst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1965, S. 367.

Bienen-Metapher und Mythologiekritik in der Renaissance

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christianisierte, die Mythen von christlicher Sicht aus immer mehr religiös und theologisch neutral, immer mehr >literarisch< wurden. Wie auch der Wandel der Stellungnahme gegenüber der Mythologie geartet war, so darf man doch sagen, daß wir schon im oben exemplifizierten altchristlichen Gebrauch mythisch-dichterischer Namen eine Prämisse davon finden können, was als wichtigste Funktion der Mythen im Mittelalter gilt, nämlich daß sie »vor allem zur Herrschaftslegitimation genutzt« und somit »weder dämonisiert noch durch Allegorisierung neutralisiert, sondern mit quasi-historiographischem Abstand in ihrer Funktion belassen« wurden. 14 Dazu darf man vielleicht auch folgendes bemerken: sind die Namen Romulidae und Romuleum genus des Prudentius als Kennzeichen der späteren sachlichen Funktion der Mythen anzusehen, so lässt sich als ein gleiches Kennzeichen in nur sprachlicher Hinsicht der Gebrauch einer mythisch-dichterischen Benennung der Sonne und zugleich des Christus bestimmen, die derselbe Prudentius angewandt hat (Cath. II): Sunt multa fucis illita, quae luce purgentur tua. Tu lux Eoi sideris Vultu sereno illumina!

So verschiedenartige Meinungen, Tendenzen, Vorurteile, aber auch sprachlich-kulturelle Realitäten, und insbesondere eine schriftlich bestehende und alles Vergangene aktualisierende Konvention - ich bin mir sowohl der Banalität als auch der Unzulänglichkeit ihrer Charakteristik und besonders ihrer Exemplifizierung, die ich hier zu präsentieren vermochte, völlig bewußt - bildeten einen ständigen, sich über Jahrhunderte hin erstreckenden Kontext, in dem das mythologische Erbe der Antike aufgewertet und benutzt wurde. Wesentlich ist seine innere Verbindung mit dem Begriff der Dichtung, und zu den Eigentümlichkeiten seiner christlichen Aufwertung gehört sicherlich auch die, daß die antike Philosophie und die Wissenschaften von Anfang an viel leichter Anerkennung fanden als die Werke der Dichter, die immer einen mehr oder weniger expliziten Vorbehalt erweckten. 15 Im Rahmen solcher Differenzierung der Bewertungen der beiden wichtigsten Bestandteile des antiken Erbes sind auch die nicht näher bestimmten Vorbehalte anzusehen, gegen die sich Giovanni Boccaccio im neunten Kapitel des fünfzehnten Buchs seiner Genealogie heidnischer Götter richtet, sein eigenes gelehrtes Werk und zugleich die Dichtung in Schutz nehmend. Was die Mythologie anbelangt, kommt neben den traditionellen (z. B. neben dem Argument des allegorischen Sinnes der Mythen) auch ein neues 14

15

N. H. Ott: Mythos, Mythologie. In: Lexicon des Mittelalters, Sp. 994. H. Bd. VI. München/Zürich 1993. Ich versuchte, diese Feststellung in meinem auf polnisch verfaßten Artikel näher zu bestimmen: Patrystyczne postawy wobec dziedzictwa antycznego. Pròba opisu i klasyfìkacji (Patristische Einstellungen gegenüber dem antiken Erbe. Ein Versuch ihrer Beschreibung und Klassifikation). In: Idea. Studia nad struktur^ i rozwojem pojç6 filozoficznych S (1992), S. 727.

10

Juliusz

Domañski

Argument zum Vorschein, das man als ein durchaus zeitgeschichtliches ansehen darf und das zugleich in Boccaccios Erörterung das wichtigste Argument zu sein scheint: die Mythologie solle unter den christlichen Gläubigen seiner Epoche keine Angst mehr erwecken, weil es weder heidnische Gläubige noch christliche, in heidnischer Kultur erzogene Neophyten mehr gibt! Fuit enim utilissimum olim - schreibt er - vixdum apud gentiles novis gerroinibus pullulante ecclesia, adversus eosdem [das heißt gegen die heidnischen Götter] ea quam olim saperent tarn ab origine quam ab ipsius gentilitatis perseverantia sacris insistere acriter atque curare, ne legentes talia tamquam unco vetustatis traditi more canis verterent ad vomitum. Hodie gratia Iesu Christi in robur firmissimum ventum est, et exsecrabile cunctis gentilium nomen una cum erroribus suis in exterminium tenebrasque perpetuas pulsum est et victrix ecclesia castra possidet hostium. Quam ob causam fere absque periculo talia exquiruntur atque tractantur.

>Fast ohne Gefahrfast ohne Risikozeithistorischen< Arguments Boccaccios verhielt, es befindet sich sicherlich innerhalb der allgemeinen humanistischen Tendenz, der antiken Dichtung innerhalb des in seinem vollen Ausmaß wiederzugewinnenden antiken Erbes den höchsten Rang beizumessen, der in der scholastischen und wohl überhaupt in der früheren christlichen Kultur der Philosophie beigemessen wurde.23 Eine Aussage des Erasmus über den Nutzen und Unnutzen antiker Dichter für die Christen, die uns jetzt an das die Auswahl-Idee beinhaltende Bienengleichnis anknüpfen läßt, erlaubt uns, einen Schritt weiter zu gehen. 20 21

22 23

Stackelberg, wie Anm. 1, S. 278-284. Epist. XII, 20, in: Coluccio Salutati: Epistolario. Hg. von F. Novati. Bd. III. Roma 1896, S. 539; ich zitiere nach: Eugenio Garin: Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik. II: Humanismus. Quellenauswahl fur die deutsche Ausgabe von Eckhard Keßler. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 134. Epist. XIV, 19, in: Salutati: Epistolario. Hg. von F. Novati. Bd. IV, 1. Roma 1903, S. 230. Siehe Anm. 14.

12

Juliusz Domanski

Ich lasse die anderen erasmischen Anwendungen desselben Gleichnisses beiseite, jene nämlich, die es auf das richtige Nachahmen lateinischer Schriftsteller beziehen, wie es im Ciceronianus der Fall ist.24 Was dagegen die Auswahl-Idee anbelangt, ist es wohl relevant zu sehen, wie sich Erasmus dieses Gleichnisses in dem 1501/1502 verfaßten Enchiridion militis Christiani bedient. Das Bienengleichnis kommt hier im Rahmen einer ausführlichen Erörterung des Problems vor, ob und unter welchen Bedingungen das Studium der heidnischen Literatur und Philosophie als Vorbereitung zur Meditation der Bibel, aber auch zum christlichen Leben nützlich sein kann. Es ist offensichtlich nicht Boccaccios Thema, wohl aber das Thema der Mahnworte Basilius' des Großen, und sein opusculum wird gleich am Anfang zitiert. Weiter kommt auch die oben erwähnte captiva gentilis des hl. Hieronymus zum Vorschein. Somit bekommt die erasmische Auswahl-Idee, die - samt der auch bei Basilius als eine schweigende Voraussetzung zu erratenden und im europäischen Denken zum Topos gewordenen Idee, daß man sich nur in den Jugendjahren mit den heidnischen Dichtern befassen soll - den Kern des ganzen Diskurses bildet, ihren festen patristischen Unterbau. Auch Augustinus fehlt bei dieser Autorisierung nicht, aber - was auffallend ist es wird hier nicht seine Auslegung der spoliatio Aegyptiorum aus De doctrina Christiana, sondern eine kleine Episode aus De ordine zitiert, wo er seinen jungen Zögling Licentius, der dem philosophischen Skeptizismus und Pessimismus vorübergehend huldigt, zum mythologischen Gedicht zurückkommen läßt, womit sich der Junge vor kurzem beschäftigt hatte. Im erasmischen Zitat verschwanden diese für den Sinn der Episode wichtigen Umstände. Gleich nach dem Bezug auf Basilius (»ad haec quoque studia vocat divus Basilius adulescentulos, quos ad Christianos mores instituit«) beruft sich Erasmus auf Augustinus in der Art und Weise, als ob es sich bei jenem ebenso um ein bloßes Lesen wie bei Basilius, und nicht um ein dichterisches Nachahmen der antiken Dichter handelte: »et ad Musas revocai Licentium suum noster Augustinus«.25 Erasmus wußte aber aus De ordine, wie auch wir es wissen, daß es sich bei Licentius tatsächlich um ein mythologisches, die unglückliche Liebe von Pyramus und Thisbe schilderndes Gedicht handelte und daß Augustinus 24

25

Erasmus von Rotterdam: Ciceronianus. Hg. von Pierre Mesnard. In: ASD I, 1, S. 625, Z. 14-28 (mit Zitat aus Hör. Carm. IV, 2); S. 652, Z. 3-31 (wo, Z. 18-21, die Bienenmetapher durch die Ziegenmetapher bereichert wird: »Iam nec iisdem frondibus pascuntur capellae, quo lac illis modo cognatum reddant, sed omni frondium genere saginantur: Ita· que non succum herbarum, sed lac ex illis transformatum referont«). Erasmus Roterodamus: Ausgewählte Werke. In Gemeinschaft mit Annemarie Holborn hg. von Hajo Holborn. München 1933, S. 31, Z. 34 - S. 32, Z. 7: »Neque equidem usquequaque improbaverim ad hanc militiam [d. h. zum christlichen Denken und christlichen Leben] velut tirocinio quodam praeludere in litteris poetarum et philosophorum gentilium, modo modice ac per aetatem quis eas attingat et quasi in transcursu arripiat, non autem immoretur et velut ad scopulos Sireneos consenescat. Nam ad haec quoque studia vocat divus Basilius adulescentulos, quos ad Christianos mores instituit, et ad Musas revocai Licentium suum noster Augustinus. Neque paenitet adamatae captivae Hieronymum«.

Bienen-Metapher

und Mythologiekritik

in der

Renaissance

13

seinem Zögling auch die Ratschläge gab, er solle seine Vorliebe zum mythischen T h e m a dazu benutzen, die Abscheulichkeit der Begierde darzustellen. Mit seiner knappen Referenz deutet Erasmus an, daß er nichts gegen das Studium der Mythen hat, anders als Augustinus, der sonst i m oben genannten Dialog seinen Vorbehalt gegenüber d e m mythologischen und zugleich dichterischen Interesse des Licentius nicht verhehlt. 26 Denn ihm ist die heidnische Dichtung vor allem allegorisch, und wenn sie nützlich sein soll, so muß sie in dieser Hinsicht als etwas mit der Heiligen Schrift Vergleichbares angesehen werden: Sed uti divina scriptum non multum habet fructus, si in littera persistas haereasque, ita non parum utilis est Homérica Vergilianaque poesis, si memineris eam totani esse allegoricam. Id quod nemo negabit, qui modo veterum eruditionem vel summis labiis dégustant.27 Wer das W e s e n des Werkes dieser beiden antiken heidnischen Dichter so sieht, der kann keine von der Seite des Polytheismus kommenden Bedrohungen mehr erkennen. W a s Erasmus in der heidnischen Dichtung beunruhigt, sind eigentlich nur die darin enthaltenen Obszönitäten, aber auch diese können z u m moralischen Nutzen dienen: »Obscenos autem poetas suaserim o m n i n o non attingere aut certe non introspicere penitius, nisi forte noveris descripta magis horrere vitia et contentione turpium vehementius amare honesta«. 2 8 Aber es ist genau so auch bei Augustinus. 2 9

26

27 28 29

Aug. De ord. I, 3, 5, wo zuerst eine knappe Information von der Begeisterung des jungen Menschen für die Dichtung vorkommt (»Licentius repente admirabiliter poeticae deditus«), wo sich aber dann auch Befürchtungen und Bedenken des Augustinus äussern, I, 7, 21: »Hic ego nonnihil metuens, ne studio poeticae penitus provolutus a philosophia longe raperetur, Inritor, inquam, abs te versus istos tuos omni metrorum genere cantando et ululando insectari, qui inter te atque veritatem immaniorem murum quam inter amantes tuos conantur erigere; nam in se illi vel inolita rimula respirabant. Pyramum enim ille tum canere instituebat«. Und als Licentius plötzlich ausruft, die Philosophie sei viel schöner als mythische und erotische Dichtung (ebd.: »Pulchrior est philosophia, fateor, quam Thisbe, quam Pyramus, quam illa Venus et Cupido talesque omnimodi amores. Et cum suspirio gradas Christo agebat«), bekennt Augustinus (ebd.): »Accepi ego haec, quid dicam libenter aut quid non dicam? Accipiat quisque, ut volet, nihil curo, nisi quod forte immodice gaudebam«. Aber erst nach dem Bekenntnis des Licentius, dank seiner neuen Begeisterung für das philosophische Problem des ordo fühle er sich nun an seine Dichtung nicht mehr so sehr gebunden wie vorher (I, 8, 23: »Non enim me ipsum parum movet, quod modo tam aegre avocabar a nugis illis carminis mei, et iam redire ad eas piget et pudet«), läßt ihn Augustinus sich weiterhin mit seinem Gedicht zu befassen (I, 8, 24): »Si ordinem, inquam, curas, redeundum tibi est ad illos versus. Nam eruditio disciplinarum liberalium modesta sane atque succincta et alacriores et perseverantiores et comptiores exhibet amatores amplectendae ventati, ut et ardentius appetant et constantius insequantur et inhaereant postremo dulcius, quae vocatur, Licenti, beata vita. [...] Vade ergo interim ad illas Musas«. Erasmus: Ausgewählte Werke, wie Anm. 25, S. 32, Z. 18-22. Ebd., Z. 22-25. Aug. De ord. I, 8, 24: »Ubi se Pyramus et illa eius super invicem, ut cantaturus es, inteiemerint, in dolore ipso, quo tuum carmen vehementius infiammali decet, habes commodissimam opportunitatem. Arripe illius foedae libidinis et incendiorum venenatorum execrationem, quibus miseranda illa contingunt, deinde totus adtollere in laudem puri et sinceri amoris, quo animae dotatae disciplinis ac virtute formosae copulantur intellectui per philosophiam et non solum mortem fugiunt verum etiam vita beatissima perfhiuntur«.

Juliusz Domañski

14

Als Erasmus nach einer Digression wieder seinen das heidnische Erbe betreffenden Diskurs aufnimmt, bedient er sich zum Schluß eben jener, dem Basilus entlehnten Bienenmetapher, um seine Anschauung auf folgende Weise zu resümieren: Si ex libris gentilium optima quaeque decerpseris atque apiculae exemplo per omnes veterum hortulos circumvolitans piaeteritis venenis sucum modo salutarem ac generosum exsuxeris, animum tuum ad communem quidem vitam, quam ethicam vocant, reddideris non paulo armatiorem.30

Daß er unter jenen venena nicht mehr die Mythen verstand, beweisen auch mythologische Namen, Metonymien, Sprüche, die in diesem frommen Werk nicht minder häufig sind als in den antiquarischen Werken des Erasmus.

30

Erasmus: Ausgewählte Werke, wie Anm. 25, S. 35, Z. 27-31.

Susanne Tichy

Die Funktion der antiken Mythologie in der mumaria

Venedig nimmt in der Geschichte des italienischen Renaissancetheaters eine Sonderstellung ein. Obwohl die Serenissima im Lauf des 16. Jahrhunderts zu einem wichtigen Zentrum der italienischen Theaterkultur wird (man denke an Pietro Aretino und Ludovico Dolce, an die Bedeutung der venezianischen Verlagshäuser für Produktion und Verbreitung von Dramenliteratur, an die Dialektkomödien von Ruzante und Andrea Calmo, an die Commedia dell'Arte...), ist sie am Beginn des 16. Jahrhunderts im Rückstand, was die Produktion und Aufführung volkssprachlicher dramatischer Werke angeht.1 Die Aufführung von volgarizzamenti antiker Komödien wird erst 1507/8 von dem Schauspieler und Regisseur Cherea eingeführt,2 der vorher in Mantova, vielleicht auch in Ferrara tätig gewesen war. Eben in Ferrara hatte 1486 erstmals die Aufführung eines volgarizzamento einer lateinischen Komödie stattgefunden,3 und von dort verbreitete sich die Mode der Klassikeraufführungen rasch an die anderen oberitalienischen Höfe. Neben den Klassikeraufführungen, denen Anfang des 16. Jahrhunderts die ersten italienischen Komödien nach antikem Modell folgten, bildete sich an den Höfen des späten 15. Jahrhunderts eine besondere dramatische Gattung heraus, die den geeignetsten Hintergrund für eine kontrastive Analyse der mumarie bildet: das höfische mythologische Festspiel.4 1

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Giorgio Padoan: La commedia rinascimentale veneta (1433-1565). Vicenza: Neri Pozza 1982, S. 31: »Contrariamente dunque a quel che comunemente si ritiene sulla scorta della vivacissima attività editoriale (anche di opere teatrali) che in pieno Cinquecento fece di Venezia il centro intellettuale forse il più fervido dell'Italia rinascimentale, all'inizio del sec. XVI la Serenissima si presenta notevolmente attardata rispetto alle Corti più importanti della penisola per quel che riguarda sia la produzione sia la rappresentazione di testi teatrali in volgare.« Ebd., S. 35-40. Am 23. 9.1507 wurde anläßlich einer Hochzeit eine nicht näher bestimmte »comedia« im Palast der Caterina Comaro aufgeführt; Padoan nimmt an, daß es sich um die Übersetzung der Plautinischen Menaechmi handelte. Am 10.1.1508 wiederholte Cherea die Menechini »a San Canzian in Bin« vor zahlendem Publikum (Marino Sañudo: I Diarii. Hg. von Rinaldo Fulin u.a. 58 Bde. Venezia: Federico Visentini 1879-1903, Bd. VII, Sp. 243). Am 25. Januar 1486 ließ Ercole d'Esté ein volgarizzamento der Plautinischen Menaechmi aufführen, die Übersetzung wird Battista Guarini zugeschrieben (I »Menechini« di Plauto. Volgarizzamenti rinascimentali. Hg. von Maria Luisa Uberti. Ravenna: Longo 1985; vgl. Teatro del Quattrocento. Le corti padane. Hg. von Antonia Tissoni Benvenuti und Maria Pia Mussini Sacchi. Torino: UTET 1983, S. 17-19; 75-167). S. Bodo Guthmiiller: Mythos und dramatisches Festspiel an den oberitalienischen Höfen des Quattrocento. In: Ders.: Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance. Weinheim: Acta humaniora 1986, S. 65-77; 172-176.

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Die Stücke, die dieser Gruppe zugeordnet werden können (der Orfeo Polizianos, die Fabula de Cefalo von Niccolò da Correggio, die Danae von Baidassare Taccone...) zeichnen sich zum einen dadurch aus, daß sie für bestimmte Anlässe verfaßt wurden, zum anderen durch ihre doppelte Funktion: sie dienten einerseits der Unterhaltung der Hofgesellschaft, andererseits der Vermittlung aktualitätsbezogener Botschaften, wobei immer wieder das Herrscherlob im Vordergrund stand. Die Verwendung der antiken Mythologie zur Glorifizierung des Fürsten, zur überhöhenden Selbstbespiegelung und zur Manifestierung realer oder idealer Tugend, Macht und Stärke entspricht den Anforderungen der höfischen Gesellschaft der Renaissance und des Barock; man könnte erwarten, daß es in einer jahrhundertealten Republik wie Venedig nichts Vergleichbares gab. Die Frage, wie auch dort die antike Mythologie zu propagandistischen Zwecken genutzt wurde, wird im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen; zuvor ist jedoch ein kurzer Blick auf die Theatergeschichte notwendig. Während im höfischen Festspiel die Sprache eine tragende Rolle spielt und sich die Autoren mit der Zeit vermehrt an den klassischen Dramengattungen orientieren, bestimmt in Venedig etwa von der Mitte des 15. bis in die dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts mit der mumaria eine vorwiegend pantomimische Form des Schauspiels die Festkultur. Vorwiegend pantomimisch heißt, daß Sprache in ergänzender, erläuternder Funktion verwendet werden konnte; Dialoge, deren Vorhandensein im frühen 16. Jahrhundert in Venedig ausschlaggebend für die Definition eines literarischen Werkes als »comedia« waren,5 fehlen. Weitere formale Bausteine der mumarie waren die Maskierung und Kostümierung der Darsteller, die Einteilung in trionfo und szenische Darstellung bzw. Tanz (in größeren Aufführungen folgen beide Elemente aufeinander, sie können aber auch einzeln verwendet werden) und die prächtige und aufwendige Ausgestaltung. Veranstaltet wurden mumarie vor allem von der Patrizierschicht (von reichen Familien, von Compagnie della Calza oder der Regierung), doch sind auch von cittadini oder reichen popolani sowie von Ausländern veranstaltete Aufführungen belegt. Einen häufigen Anlaß bildeten Hochzeitsfeste, über die die Quellen allerdings wenig berichten; ergiebigere Informationen besitzen wir über die zu offiziellen Anlässen aufgeführten mumarie, wobei die Staatsbesuche an erster Stelle stehen. Daneben gab es staatlich veranstaltete Feste mit mumarie anläßlich des Karnevals im Rahmen der Festa del Giovedì Grasso, die in Venedig, ebenso wie andere ursprünglich religiöse und volkstümliche Feste, politisiert und zu propagandistischen Zwecken genutzt wurde. Ein weiterer Anlaß waren Feste, die Compagnie della Calza anläßlich der Aufnahme oder des Besuchs prominenter Mitglieder veranstalteten. 5

Padoan: La commedia rinascimentale veneta (wie Anm. 1), S. 32-33: »Già si è avuta occasione di segnalare come il termine >comedia< (ed anche >eglogamumaria
Helden< des höfischen Theaters, das sich mit Rücksicht auf das nicht immer lateinkundige Publikum der Volkssprache bediente.7 Die Die beiden Bezeichnungen verwendet z. B. Girolamo Priuli im Zusammenhang mit dem unten besprochenen Fest, das 1502 im Dogenpalast zu Ehren von Anne de Foix veranstaltet wurde: »Et fu facto danze assai et una mumeria dignissima al modo veneto, chiamate mumarie gentil et buffone, cum honoratissimi vestimenti« (Girolamo Priuli: Diarii. Hg. von Arturo Segre u. a. In: Rerum Italicanim Scriptores. XXIV/3. Città di Castello/Bologna 21912—1933, Bd. 2, S. 219). Poliziano schreibt in seinem Brief an Carlo Canal, er habe die Fabula di Orfeo »in stilo vulgare, perchè dagli spectatori meglio fusse intexa« verfaßt (L'Orfeo del Poliziano con il testo critico dell'originale e delle successive forme teatrali. Hg. von Antonia Tissoni Benvenuti. Padova: Antenore 1986, S. 136). In Anlehnung an das Stück Polizianos entstanden zwei weitere dramatische Fassungen des Orpheusmythos: die wahrscheinlich vor 1487 verfaßte Orphei Tragoedia (ebd., S. 185-209), und die Fabula di Orfeo e Aristeo (hg. von G. Mazzoni: La Favola di Orfeo e Aristeo. Festa drammatica del XV secolo. Firenze 1906). Antonia Tissoni Benvenuti (Einleitung zu L'Orfeo, S. 128-29) datiert das Stück ins 16. Jahrhundert. Darstellungen der Eroberung des goldenen Vlieses durch Jason finden sich wiederholt im Zusammenhang von Banketten, als pantomimische Spiele oder als Figuren wie bei dem Bankett, das im Palast des Kardinals Gonzaga am 16. 7.1472 für

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Nähe der mumarie zur volkssprachlichen literarischen Kultur zeigt sich auch daran, daß fast alle der darin aufgegriffenen Mythen zum Repertoire der volkstümlichen Cantari gehören. Einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der in den mumarie verwendeten Mythen leisteten schließlich die volgarizzamenti der Metamorphosen Ovids. 1497 wurde in Venedig die Übersetzung von Giovanni de' Bonsignori gedruckt; 1522 folgte, ebenfalls in Venedig, die Versübersetzung von Niccolò degli Agostini. 8 Einzelne mumarie auf bestimmte literarische Vorlagen zurückzuführen, ist allerdings aufgrund der Quellenlage nicht möglich. Auf die Auswahl der Themen im Hinblick auf ein breites Publikum weist die Tatsache hin, daß viele der mythologischen Aufführungen im Freien stattfanden (auf der Piazzetta di San Marco bei Karnevalsfesten, im Hof des Dogenpalastes, auf Booten auf dem Canal Grande bei einem Herrschereinzug, auf vor Patrizierpalästen errichteten Bühnen bei Festen der Compagnie della Calza, auf den Campi...) und daß auch die Feste im Dogenpalast, bei denen zu Ehren ausländischer Besucher häufig mythologische mumarie inszeniert wurden, in der Regel der Öffentlichkeit zugänglich waren. 9 Die Bestimmung für die Aufführung vor einem großen Publikum

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französische Botschafter veranstaltet wurde (vgl. Tissoni Benvenuti, Einleitung zu Teatro del Quattrocento [wie Anm. 3], S. 14-15). Die bekannteste Jasonaufführung ist die, welche 1513 in Urbino als erstes Zwischenspiel der Calandria gezeigt wurde; vgl. Franco Ruffini: Commedia e festa nel Rinascimento. La Calandria alla corte di Urbino. Bologna: Il Mulino 1986, Kap. IV, S. 211-247. Für eine überzeugendere Deutung der Intermezzi s. Bodo Guthmüller: Herrschaftslegitimation im höfischen Festspiel der italienischen Renaissance. In: Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation. Akten des Gerda Henkel Kolloquiums, veranstaltet vom Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf, 13.-15. Oktober 1991. Hg. von Peter Wunderli. Sigmaringen: Thorbecke 1994, S. 225-239, hier S. 233-235. Eine szenische Darstellung von Taten des Hercules fand 1487 in Ferrara im Anschluß an die Aufführung eines volgarizzamento des Plautinischen Amphitruo statt; Anlaß war die Vermählung von Lucrezia d'Esté und Annibale Bentivoglio. S. Bernardino Zamboni: Diario ferrarese dall'anno 1476 sino al 1504. Hg. von Giuseppe Pardi. In: Rerum Italicarum Scriptores. XXIV/7. Bologna: Zanichelli 2 1934, S. 179-80, vgl. Guthmüller: Mythos und dramatisches Festspiel (wie Anm. 4), S. 70. Zahlreiche weitere Beispiele, nicht nur aus dem italienischen Bereich, ließen sich anführen. Giovanni de' Bonsignori: Ovidio Methamorphoseos vulgare. [Kolophon:] Fine de lo Ovidio Methamorphoseos vulgare. Stampato in Venetia per Zoane Rosso vercellese ad instantia del nobile homo miser Lucantonio Zonta fiorentino del MCCCCLXXXXVII a dì X del mese de aprile; Niccolò degli Agostini: Tutti gli libri de Ovidio Metamorphoseos tradutti dal littéral in verso vulgar con le sue Allegorie in prosa [...]. [Kolophon:] Qui finisse l'Ovidio Metamorphoseos composto per Nicolò Agostini, et stampato in Venetia per Iacomo da Leco ad Instantia de Nicolò Zoppino et Vincentio di Pollo suo compagno, correnti gli anni del Signore M D XXII a giorni sette di magio, regnante lo inclito Principe messer Antonio Grimani. Vgl. Bodo Guthmüller: Ovidio Metamorphoseos Vulgare. Formen und Funktionen der volkssprachlichen Wiedergabe klassischer Dichtung in der italienischen Renaissance. Boppard am Rhein: Boldt 1981 (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung, 3), S. 56-104; 191-224. Darauf weist die Kritik Sañudos am Verhalten der Compagni Reali hin, die bei einem zu Ehren des Herzogs von Mailand veranstalteten Fest im Oktober 1530 außer den geladenen Gästen nur Patrizier in die Sala del Maggior Consiglio einließen und Fremde abwiesen, so daß es nicht zu der sonst üblichen Uberfullung des Saales kam (Sañudo: Diarii

Die Funktion der antiken Mythologie in der >mumaria
mumaria
Amphitiuo< di Plauto. In: Quaderni dell'Istituto di Studi Piceni Sassoferrrato (1983), S. 275-290; hier: S. 276. Ebd., S. 277. Bertini: Figure del doppio, S. 317f. Pittalunga, S. 277. Ebd. Bertini: Figure del doppio, S. 317; Pittalunga, S. 275. Siehe dazu Pittalunga, S. 278ff. Comedia di Plauto/ intitolata l'Amphitriona, tradotta dal la-/tino al volgare, per Pandolfo Colon-/nutio et con ogni diligentia/ corretta, et n u o v a m e n t e stampata. 1530.

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in Venedig an. Damit wird die Bühnenhandlung durch ihren volkssprachlichen Autor in die Gegenwart der ersten Hälfte des Cinquecento verlegt;17 ihr Schauplatz ist den Zuschauern wohlvertraut. Die wichtigste Veränderung betrifft die Bühnenfiguren: Jupiter und Merkur werden zu menschlichen Doppelgängern, zu dem jungen Liebhaber Fabritio und seinem Diener Roscio, während Amphitruo und sein Diener Sosia in den Feldherrn Mutio und seinen Sklaven Néspilo verwandelt werden. Alcmene erhält den sprechenden Namen Virginia. Als Freunde des Fabritio treten Celio und Emilio auf; die alte Dienerin Bromia hat ohne ihren Bericht von der wunderbaren Niederkunft keine Funktion mehr, und ihre Rolle entfällt daher. Auch die Nebenfiguren werden transponiert, Blepharo wird zu Giulio, Alcmenes Vetter Naucrates zu Piero d'Argere. Dolces Thema ist also nicht mehr der Identitätszweifel und seine Folgen für die zwischenmenschlichen Beziehungen, wie ihn später Molière und im deutschen Sprachraum Kleist als beherrschende Problematik ins Zentrum ihrer Komödien rücken, sondern die Bestätigung eines neuen Selbstbewußtseins der Sterblichen. Die Neuheit dieser Fragestellung wird an der Gegenüberstellung mit dem von Mercurio gesprochenen Prolog in Collenuccios Bearbeitung deutlich, in dem der Götterbote sich besorgt zeigt, ob die Zuschauer wohl den Feldherrn Amphitryon von seinem göttlichen Doppelgänger zu unterscheiden wissen: Ma perche ciascadun di vui sia accorto E il ver dal falso conoscer poseíate Un segno solo vo che habbiate scorto. Haveva Giove in su il capei notati Un bel frisette d'oro, Amphitrione Nulla ge portara, attenti siati Et io anchor per non far confusione Havevo fitta una gran penna in testa Che meglio me discernan le persone Sofia non l'havera, vedrete questa Differentia fra nui quai e secreta A tutti quei di casa.

Diese Wahrscheinlichkeit der Fabel bekümmert Dolce ebensowenig wie die reale Wahrscheinlichkeit eines Auftretens menschlicher Doppelgänger in Paarform. Wenn also auf der einen Seite die Rückführung des göttlichen Eingriffs auf eine menschliche Dimension als Ausdruck autonomen Gestaltungswillens erscheint, so bleibt auf den ersten Blick andererseits unverständlich, warum die menschlichen Doppelgänger in allen Einzelheiten an ihre berühmten mythischen Vorgänger erinnern müssen. Durch Dolces Veränderung tritt an die Stelle des kalkulierten Wahrscheinlichkeitseffektes - der den Identitätszweifel auslöst - ein Effekt der Entrealisierung, in dessen Gefolge freilich Szenen des alltäglichen Lebens auf die Bühne gebracht werden. Salza hat in einer Analyse für jede Szene die wörtlichen Übernahmen aus Plautus nachgewiesen. Dabei zeigte sich, daß Dolce nur an ausgewähl17 18

Salza, S. 101. Collenuccio, Bl. 2v.

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ten Stellen nach dem Original übersetzt hat: In I, 2; II, 2 und III, 1 hat er einige Verspassagen wörtlich übernommen,19 während er sonst nur der Handlungsvorgabe folgt. Aus seiner unterschiedlichen Perspektive ergeben sich signifikante Abweichungen: Dem Monolog Mercurios (V. 63-498) in I, 3 bei Plautus, der nach den Auseinandersetzungen zwischen Amphitruo und Sosia und dem Streit der Ehegatten in einem a parte die Doppelgeburt und den glücklichen Ausgang der Komödie ankündigt, entspricht bei Dolce ein realistischer Monolog des Dieners Roscio in Akt I (V. 271-296), in dem dieser die Fluchtmöglichkeiten seines Herrn erwägt und auf einen glimpflichen Ausgang für Virginia trotz der Schwangerschaft hofft. In Akt II hat Dolce eine kleine Szene eingefügt, in der sich der Sklave Néspilo das Rätsel von Virginias Schwangerschaft durch einen »anderen Mutio« nicht erklären kann. Im folgenden Akt wird Virginia über die rasche Rückkehr Fabritios/Mutios getäuscht, dies sei ein Werk des Zauberers Pietro d'Abano aus Padua. Während hier Plautus der göttlichen Willkür und Verherrlichung freien Lauf läßt - Jupiter will Amphitruos Haus in völlige Verwirrung stürzen, bevor er der unschuldigen Alcmene zur Entlastung beistehen und zu einer leichten Niederkunft verhelfen wird - zeigt Dolces 3. Akt (V. 697788) Fabritios Freunde Emilio und Celio am Werk, die auf Auswege für die beiden Liebenden sinnen. Da Dolce sowohl die Unwissenheit Virginas als auch die UnUnterscheidbarkeit der Doppelgänger als komische Effekte beibehalten hat, kann der gute Komödienschluß in Akt V (V. 1180-1324) nur durch eine Pirouette erzielt werden: Fra Girolamo da Pesaro, von Emilio um Hilfe gebeten, klärt Mutio auf, daß ihn ein böser Geist mit seiner Frau betrogen habe, indem er nachts in die Gestalt des Schlafenden geschlüpft sei. Auf diese Weise sei Virginia durch ihren eigenen Mann schwanger geworden. Mutio schwört dem Pater bei den Evangelien, daß er seiner Frau nichts antun und auch ihr Kind aufnehmen wolle. In I, 1 schildert Fabritios Diener Roscio die Ausgangslage der Komödie: Seit Mutios Aufbruch in den Krieg ist fast ein Jahr vergangen; Fabritio lebt bei Virginia, die ein Kind erwartet. Nun droht die Rückkehr des Ehemannes, dem der Ehebruch nicht verborgen bleiben kann (V. 45-55): Il mio padrón sta spensierato, e godesi Virginia: e ancor non sa che Messer Mutio, Il marito di lei, giunto è con Néspilo In Padova ista sera, c'ho vedutolo Presso il Portello: e quanto puote affrettasi Per ritornar a riveder la giovane Sua consorte; che dieci mesi, o dodici Ha lasciata nel letto sola e vedova Per andarsi a la guerra: hor, come merita, La troverà col corpo enfiato e gravida: Qui si vedrà l'un l'altro. 20

19 20

Salza, S. 105-108. Dolce: Il Marito, Bl. 3r.

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Roscio glaubt, am späten Nachmittag zu sprechen, aber der Nebel ist so dicht, daß er sich seiner Zeitwahrnehmung nicht sicher ist (V. 77-81): »Allhor cred'io sonavano/ L'Avemarie: et hör mi par, che siano/ Due höre e più di notte; tanta nebbia/ Offusca il ciel: ma, quando è il di più lucido/ A pena ci si vede in questi portici«.21 Motive, die aus dem lateinischen Amphitruo stammen, bleiben in der volkssprachlichen Bearbeitung ohne Zusammenhang stehen und erfahren eine realistischere Umdeutung: der Nebel tritt an die Stelle der durch den göttlichen Willen verlängerten Nacht. Die Unsicherheit in der zeitlichen Orientierung steht in Gegensatz zu der präzisen Ortswahrnehmung von Padua, auf das im Verlauf der Komödie mehrfach hingewiesen wird. Auch die außergewöhnliche Ähnlichkeit der menschlichen Doppelgänger löst in den Zeugen rein komische Zweifel aus, die an der Oberfläche der eigenen Perzeption verbleiben: E" tanto simile Il mio Fabritio a Mutio, che fu agevole A lei condursi del marito in cambio (Ilche pare ad udir cosa impossibile,) E goderla più mesi in pace e in ocio: S'aggiunge, che Ί famiglio di Fabritio Esimile al famiglio di quel Mutio Per modo tal, che non fe Michel'Angelo, Titian, e Rafael, ch'è tanto celebre, Ritratto mai, ch'ai vivo più assomiglisi, Di quel, che fan tra lor.

Die absolute UnUnterscheidbarkeit der menschlichen Doppelgänger ist eine Voraussetzung für die Aufhebung der Wahrscheinlichkeit, der Dolce an anderer Stelle weitaus größeren Raum einräumt: So fallen bei ihm Zeugung und Geburt des Sprößlings nicht zusammen, sondern die Schwangerschaft in Abwesenheit Mutios ist der unwiderlegbare Beweis des Ehebruchs, der Fabritio und Virginia gleichermaßen gefährdet, 23 wie Celio in III, 3 seinem Freund Emilio anvertraut, als er von Mutio spricht (V. 736-744): Io l'ho veduto, e uditolo Per istrada doler, gridar, distruggersi D'haver trovata la mogliera gravida: E vuol saper qui è quel, che con l'imagine Sua, come mostra havere inteso, gli habbia Tolto l'honor. Tu sai, come per picciolo Sospetto i Padovani amazzar sogliono Gli huomini e le mogliere. 24

Ein glücklicher Komödienausgang, in dem Virginia nicht verstoßen wird und der Liebhaber straflos ausgeht, verlangt, daß Mutio, wie Messer Nicia in Machiavellis Mandragola, das ihm vorgespiegelte übernatürliche Ereig21 22 23

24

Ebd., Bl. 3v. Ebd., Bl. 13v-14r. Salza, S. 108f. hat in Anlehnung an die ältere Literatur darauf aufmerksam gemacht, daß die Verschiebung des Ehebruchs aus der göttlichen in die menschliche Sphäre den Sitten der Zeit entsprach, aber einen »ästhetischen Irrtum« darstellt. Dolce: Il Marito, Bl. 14v.

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nis glaubt; diese beffa setzt den Betroffenen nicht nur in den Augen der Beteiligten herab, sondern auch in denen der Zuschauer. So bezeichnet ihn Emilio (V. 762f.) als »più sciocco e timido,/ Che non fu'l Calandrin di Gian Boccaccio«. 25 Aus den Abweichungen wird ersichtlich, wie eng sich Dolce an das komische Motiv des (unwissentlichen) Ehebruchs aus dem antiken Mythos angelehnt und auf welche Weise er die Transposition in die volkssprachliche Komödie vorgenommen hat. Wenn aber die Handlungsabfolge nicht mehr der göttlichen Allmacht Jupiters entspringt, so entfällt damit ein wesentliches Moment der alten Tragikomödie, welches die Grausamkeit der Götter gegenüber Alcmene und mehr noch Amphitruo und Sosia augenfällig werden ließ. Bei Plautus sagt Mercurius, als er Sosia im 1. Akt vor der Haustür abgewiesen und ihn dazu gebracht hat, an seiner Identität zu zweifeln (V. 4 6 3 ^ 7 8 ) : Bene prospere [que] hoc hodie opens processit mihi. Amovi a foribus maximam molestiam, Patri ut liceret tuto illam amplexarier. Iam ille illuc ad enim cum Amphitruonem advenerit, Nanabit servum hinc sese a foribus Sosiam Amovissejille adeo ilium mentili sibi Credet neque credet hue profectum, ut iusserat. Errons ambo ego illos et dementiae Complebo atque omnem Amphitruonis familiam, Adeo usque satietatem dum capiet pater Illius quam amat: igitur demum omnes scient Quae facta. Denique Alcumenam Iuppiter Rediget antiquam coniugi in concordiam. Nam Amphitruo actutum uxori turbas conciet Atque insimulabit probri. Tum meus pater Earn seditionem illi in tranquillum conferei. 26

In der alten Komödie entspringen die komischen Effekte der Überlegenheit, welche der Zuschauer mit Mercurius aus der Perspektive der Götter teilt. Bei Dolce kommentiert Roscio die Situation, nachdem er Néspilo verscheucht hat (V. 271-281), als derben »giuoco« in menschlichen Dimensionen: Io l'ho acconcio a mio modo, e fatto il debito: E penso, che di ciò ne debba nascere Un giuoco tal, che se ne potrà ridere. Fu per morir, udendo raccontatisi Si bene i fatti del suo patron Mutio: Com'egli non ne havesse fatto predica Pur dianzi. 27

Dolce macht die kalte plautinische Komik zu einer Komik der Farce, zur beffa der jungen Männer an den Alten. Den glücklichen Ausgang, den Mercurius den verwirrten Sterblichen im vorhinein großmütig zugestehen kann, erhofft Roscio freilich auch für sich, seinen Herrn und nicht zuletzt 25 26 27

Ebd. Plautus: Amphitruo, S. 35. Dolce: Il Marito, Bl. 6v.

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für Virginia (V. 285-289): »Ch'ei [= Fabritio] possa ritrovar di subito/ Alcun partito, che sia salutifero/ Per ambi noi, et anco per Virginia:/ Che costui non l'amazzi, ritrovandola/ De l'altrui seme divenuta gravida«.28 Aber für ihn geht es zunächst um die Abwendung der physischen Bedrohung von Fabritio und Virginia, - ein Motiv, das für den göttlichen Nebenbuhler Amphitruos keine Rolle gespielt hat - , und sodann um die Fortsetzung des Verhältnisses zwischen den Liebenden trotz der Anwesenheit des Ehemannes. Der Wunsch nach einer Dauer in der Zeit findet sich auch im Amphitruo, aber er entspringt dort zunächst dem Spiel der Götter mit den Menschen, während Dolce ihn reduziert auf die Situation der Farce, auf Liebesvergnügen und Übertölpelung unter Menschen. Schon im Prolog erwähnt Dolce die entscheidende Veränderung, ohne sie freilich ausführlich zu kommentieren: »Spettatori piacciavi/ Veder l'Anfitrio trasformato in Mutio«.29 Mit diesem programmatischen Eingriff in das Genus zerstört der volkssprachliche Autor in der Mitte des Cinquecento nicht nur die kunstvoll komponierte antike tragicomoedia, sondern setzt sich auch zugleich an die Stelle des Autors: Seine Beschäftigung mit der plautinischen Komödie beschränkt sich nicht auf Übertragung oder Bearbeitung, sie versteht sich von vorneherein als eigenständiges Werk. Der Eingriff, die Götter durch Menschen zu ersetzen, wird erst auf dem Hintergrund der Anpassung an den Kontext der volkssprachlichen Komödie des Cinquecento verständlich. Die Entfernung der Götter zugunsten menschlicher Protagonisten verschiebt die Komödie aus der grausamen féerie der göttlichen Intervention und ihres glücklichen Ausganges in die realistischere Dimension der Farce zwischen einem betrogenen Ehemann und seinem glücklichen Nebenbuhler, in der dem Priester als Kuppler eine wichtige (und für die Komödie dankbare) Rolle zukommt. Bereits Vitale de Blois hatte in seiner Bearbeitung die wunderbare Geburt des Hercules und die Figur der Amme Bromia ausgespart, Amphitruo in einen Studenten verwandelt und neue Dienerfiguren eingeführt:30 Dolce erweitert das Personenregister nun um die Figur des kupplerischen Mönches Fra Girolamo da Pesaro, der die Versöhnung zwischen Mutio und Virginia herbeiführt, und zitiert damit Machiavellis Prototyp Fra Timoteo aus der Mandragola,31 So entpaganisiert er den antiken Mythos und transponiert ihn durch zahlreiche Anspielungen in ein christlich geprägtes Umfeld. Der gefällige und geldgierige Betbruder erfindet als deus ex machina eine auch für Mutio annehmbare Lösung, die dem Gatten die Rückkehr zu seiner Frau erlaubt. V, 2 zeigt den Repräsentanten der kirchlichen Autorität bei seinem ersten Auftritt schon mitten im delikaten Geschäft der Versöhnung: Auf dem Weg zu seinem Haus erfährt der betrogene Gatte, daß er selbst Virginia unwissent28 29 30 31

Ebd. Ebd., Bl. 2v. Bertini: Figure del doppio, S. 314. Giorgio Padoan: La commedia >regolare< e il trionfo del teatro. In: Ders.: La commedia rinascimentale veneta. Vicenza: Neri Pozza 1982, S. 184-215; hier: S. 192.

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lieh geschwängert hat: Ein Dämon hat sich in sie verliebt und seine Gestalt angenommen, um sich der jungen Frau nähern zu können (V. 1241-1250): Egli [sc. lo spirito folletico] habita Pur ne la casa de l'amata: e mostrasi In quella forma, che più sa compiacere A lei: e se colui, che de la femina Evpossessor, è in parte soletaría O lontano da lei; quel ghiotto pratico Lo prende, quando dorme: e a forza portalo, Dov'è la Donna; e seco il giunge, e copula, Così ha fatto di te, quando è piaciutogli: Così avien, che tua moglie è di te gravida. 32

Auch einem so gutgläubigen Menschen wie Mutio klingen die Erklärungen des Mönches zu unwahrscheinlich, so daß er schließlich resigniert das Gespräch beendet (V. 1260-1266): Padre lasciamo andar si fatti termini: Ch'io non so quel, che me ne dica, o credami. Poi, che la sorte vuol, ch'a tal supplicio, Son giunto; e non si può trovar rimedio, Che quel, ch'è fatto, non sia fatto: dicovi Di contentarmi, se m'è dato gratia Di poter gir ne la mia casa, e godermi La mia moglier, qual la si sia.

Im Gegensatz zu seinem Vorbild Fra Timoteo erscheint Fra Girolamo nur im letzten Akt der Komödie und ist nur ein äußerstes, wenn auch entscheidendes Hilfsmittel, um den Rahmen der Komödie nicht zu sprengen. Demgegenüber wird Machiavellis Mönch bereits im zweiten Akt der Mandragola als Beichtvater Lucrezias eingeführt und ist von III, 3 an als agierende Figur in der Komödie präsent. Er soll Lucrezias Zustimmung zur Einnahme des Wundertrankes und zur Abwehr der daraus entstehenden negativen Folgen erwirken. Ligurio macht ihn zur Schlüsselfigur des erfolgreichen Streiches an Messer Nicia: »Questi frati sono trincati, astuti; ed è ragionevole, perché e' sanno e peccati nostri, e loro, e chi non è pratico con essi potrebbe ingannarsi e non li sapere condurre a suo proposito«. 34 Als Fra Timoteo das Almosen vor Augen sieht, ist er zu jedem Geschäft bereit, wie er es Ligurio bestätigt: »Io sono in termine con voi, e parmi avere contratta tale dimestichezza, che non è cosa che io non facessi«.35 Und auch Ligurios Hinweis auf die beffa hindert ihn nicht an der Zustimmung: »Io so quello ch'i'ho a fare; e, se l'autorità mia varrà, noi concluderemo questo parentado questa sera«.36 Lucrezia gegenüber wird dieser Handel mit moralischen Argumenten begründet und erbaulich formuliert: »Voi avete, quanto alla 32 33 34

35 36

Dolce: Π Marito, Bl. 22v. Ebd. Niccolò Machiavelli: Mandragola. A cura di G. Davico Bonino. Torino: Einaudi 1980, S. 34. Ebd., S. 40. Ebd., S. 42.

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conscienzia, a pigliare questa generalità, che, dove è un bene certo ed un male incerto, non si debbe mai lasciare quel bene per paura di quel male. [...] el fine vostro si è riempire una sedia in paradiso, e contentare el marito vostro«.37 Timoteos geistliche Autorität und die Macht der kirchlichen Institution überzeugen Lucrezia, Callimaco als Liebhaber zu akzeptieren. Lucrezia wie Virginia fungieren bereitwillig als ahnungslose Opfer männlicher Eroberungsstrategien, und in beiden Komödien beruht ein Teil ihrer Anziehungskraft und der ihnen entgegengebrachten Hochachtung auf ihrer Tugend und ingenuità, die kontrastiert mit der List ihrer Liebhaber und der moralischen Verkommenheit des geistlichen Standes. Während Machiavelli offenläßt, ob Lucrezia die Wahrheit entdeckt, geht es im Marito nicht darum, einen geplanten Ehebruch zu ermöglichen, sondern die Folgen einer außerehelichen Beziehung unter den Schutz der Ehe zu stellen. Fra Girolamo läßt Mutio schwören, Virginia kein Leid zuzufügen (V. 1285-1289): »Perchè la cosa importa, essendo gravida:/ E maladetto è dal Signor giustissimo/ L'huom, qui confidit, com'ei dice, in homine,/ Io vuò, che tu mi giuri su i Vangelij/ Di non l'offender, ne le dar molestia«.38 Der Mönch bindet Mutio fest in Almosengaben und Beichte ein (V. 1295-1298) und (V. 13071310): »Dimane aspettoti/ A la confession: perchè ad estinguere/ Gl'insulti, figliuol caro, del Diavolo,/ Medicina non è più salutifera«.39 Nicht das Ziel, das Fabritio erreichen will, ist verwerflich, sondern die Mittel, die der skrupellose Mönch gegenüber dem Ehemann einsetzt, indem er sich abergläubischer Vorstellungen bedient. Als deutlichstes Bindeglied zur Tradition der volkssprachlichen Komödie in der ersten Hälfte des Cinquecento knüpft die Figur des Girolamo an Machiavellis Kleriker an, drängt die Bühnenfigur aber bereits in die Richtung einer formal erstarrten Konturierung als tipo fisso und weist damit auf die Nähe zu den sich herausbildenden Masken der Commedia dell'Arte. Aus den inhaltlichen Verlagerungen ergeben sich auch Veränderungen für die Deutung der modernen Figur Alcmenes: Diese war bei Plautus der Inbegriff der schamvollen und treuen Ehefrau, während Vitale sie bereits in einem anderen Licht zeigt, nämlich in einem Stadium des Halbwissens, das sie ihrem Mann zuliebe zurückdrängt, um die Situation zu retten.40 Dolces Entwurf der naiven Ehefrau geht über Machiavellis Zeichnung der Lucrezia hinaus: Zwar handelt Virginia einerseits guten Glaubens gegenüber Fabritio, den sie aufgrund der Ähnlichkeit mit ihrem Ehemann verwechselt, doch macht die lange Abwesenheit Mutios, in der sie mit Fabritio zusammenlebt, ihr Nichtwissen unwahrscheinlich. Auch Virginias Unschuld wird ent-realisiert, mehr noch, ihres Sinnes entleert. Dolces Verlagerung der Tragikomödie in die Farce hätte eine Entwicklung von Virginias Charakter nahegelegt, doch bleibt sie die arglos Liebende, der die Konvention des Komödien37 38 39 40

Ebd., S. 45. Dolce: Il Marito, Bl. 23r. Ebd., Bl. 23v. Bertini: Figure del doppio, S. 315.

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schlusses die Einsicht in die tatsächliche Situation versagt. Dolce gestaltet den Entwurf der liebenswürdig-dreisten jugendlichen Ehebrecherin, die ihren alten Mann mit dem jungen Liebhaber übertölpelt, nicht aus, um den Festcharakter des Spiels auf der Bühne durch die derbe Komik der Farce nicht zu zerstören. Die Versöhnung zwischen den Eheleuten ist möglich, weil Mutio gutmütig und abergläubisch dargestellt wird; vor ihm tut sich kein Abgrund an Identitätszweifel auf; gegenüber der Gestalt des Amphitruo rückt Dolce ihn in die Nähe von Machiavellis Messer Nicia und Boccaccios Calandrino; seine Torheit wird hier nur durch die große Zuneigung zu Virginia kompensiert. Der junge Liebende Fabritio, dessen Trauer über den Verlust Virginias bei Dolce nicht ausgeführt wird,41 spricht den versöhnlichen Schlußepilog (V. 1367-1379): Ei merita Scusa e perdono: perchè Amor fa perdere Sovente il senno e l'intelletto a gli huomini, E a chi ci offende, a chi ci strugge, e lacera Ci move a perdonar tutte le ingiurie. Or non pensar, che lo beffato e misero Di qui innanzi men cara habbia Virginia Di quel, che se l'havesse nel preterito; Anzi crescerà amor: e maschio o femina, C'habbia di lei, quando fia tempo, a nascere Si alleverà, come suo figlio proprio. Ne vi maravigliate, che ben trovansi Molti tra di noi, che tal costume seguono Senza noia o disturbo. 42

Die Schwebe, in der Dolce den Einbruch der Realität der Farce mit der Versöhnung der Eheleute hält, huldigt dem Ideal der Harmonie und weist damit auf ein weiteres Vorbild, das im Prolog Erwähnung findet: E se l'Autor, che già vi diede il Milite Di Plauto; hora vi da quest'altra favola Fatta con altri versi et altri numeri Da l'uso de'moderni assai dissimili. Egli però non erra; e'η questo seguita Non pur colui, che già scrisse i Soppositi, Ma i più degni, honorati, antichi Comici. 43

Die Konvention des Bühnenschlusses und der Ton der chiusura verdecken das Experiment, in das Dolce die Figuren seiner Komödie gestellt hat: eine lebenswahre Situation leicht und heiter darzustellen, »lucido specchio« und »poema festoso« im Sinne Ariosts gleichermaßen und ausgewogen zu vereinen. Dolces dichterisches Ideal sucht den Begriff der Harmonie, den er an 41

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Siehe dazu Salza, S. 118: »In Fabritio non è bene scolpito il carattere dell'innamorato. Il suo dolore pel distacco da Virginia ce lo aspetteremmo più eloquente e profondo; invece una sola volta egli vi accenna un po' a lungi, nè dello stato d'animo, che nel giovane doveva succedere alla rinunzia della donna amata, il Dolce ha saputo trane tutto quel profitto, che avrebbe potuto«. Dolce: Il Marito, Bl. 24v. Ebd., Bl. 2r.

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Ariosi entwickelt, mit dem aus der Antike entlehnten Begriff des decorum zu verbinden. Dies wird auch erkennbar an der Wahl der Stilebenen für die Darstellung der Affekte, zu der sich Dolce im ersten Prolog seiner Tragödie Marianna geäußert hat, deren Mäßigung er aber auch in der Komödie zu erreichen sucht: Ben confesso, ch'in me non troverete Superbi voci, nè epiteti gravi Ma (se pur questo a voi prometter posso) Sermon soave, e dir facile e puro. Ne m'è accaduto il gir con troppa cura Cercando l'arte: perchè da se stesso Il soggetto indurrà ne' vostri petti Quella pietà, che muove i cuori humani.44

Ein Ausweg aus dieser Aporie bietet sich nur in den späten Tragödien, in denen das Ideal der Mäßigung mit der christlichen Erlösung versöhnt und erfüllt wird. Darauf verweist bereits ein ganz unkomödiengemäßer Ton des Prologes zum Marito: »Quello, che in questa vita incerta e misera/ Per 'huom seguir si debba, e quel, che fuggere«. Die Komödie als Spiegel des alltäglichen Lebens, in der unter Lachen moralische Ermahnungen verabreicht werden, ist keine neue Entdeckung Dolces. Aber der Hinweis, eingebettet in ein Lob der Liebe, das auch die Liebe zwischen Ehebrüchigen nicht ausschließt, läßt aufhorchen: Dolces Komödie wird so, wie schon Bertini gesehen hat,45 zu einem Fest der Liebe, freilich nicht nur der zwischen den beiden jungen Liebenden, sondern auch der versöhnenden zwischen den Ehegatten, die den Tor Mutio rehabilitiert. Daß die Angemessenheit oberstes Stilideal für Dolces Dichtung ist, zeigt sich auch in seinen Überlegungen zur Wahl von Prosa oder Vers; dabei beugt er sich jedoch wider eigene Überzeugung dem gegenwärtigen Geschmack des Publikums, wenn ihm dadurch der Erfolg der Drucklegung gesichert scheint. In seiner Verehrung für Lodovico Ariosto, der für ihn der bedeutendste Musterautor der volkssprachlichen Komödie und des volgare schlechthin ist, hält er den Vers für die angemessene Sprachform der Komödie. Schon zu einem frühen Zeitpunkt seiner literarischen Karriere verlieh Dolce seiner Bewunderung für Ariosto Ausdruck, nämlich 1535, als bei Bindoni und Pasini in Venedig eine Ausgabe des Orlando Furioso erschien, die im Text der Ausgabe letzter Hand des Autors von 1532 folgte und sich durch Hinzufügung einer Apologia durch Lodovico Dolce auszeichnete.46 Die Apologia ist auf eine allgemeine Verteidigung Ariostos und seines Orlando Furioso ausgerichtet. Der Venezianer reiht hier Ariosto 44 45

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Lodovico Dolce: La Marianna. In Vinegia appresso Gabriel Giolito dei Ferrari 1565; hier: Primo Prologo, S. 9. Bertini: Figure del doppio, S. 320: »Mi pare incontestabile, infatti, che, nella nuova chiave di lettura dell'Amphitruo propostaci dal Dolce, Il marito si debba interpretare come il trionfo dell'amore gaudente, spregiudicatore libero da ogni vincolo«. Ludovico Ariosto: Orlando Furioso. Novamente da lui proprio con la nova giunta d'altri canti nuovi ampliato et corretto. Stampato in Vinegia per Alvise de Torti 1539.

Poema festoso« und »lucido specchio«

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unter die guten Schriftsteller ein, die zu ihren Lebzeiten dem »acuto dente dell'invidia, ilquale in niun'altra cosa è tanto pungente e solecito, quanto in mordere e lacerar le fatiche de buoni scrittori« ausgesetzt seien und auch über ihren Tod hinaus nicht nur mit nicht geringer werdendem, sondern mit wachsendem Neid verfolgt werden. Dolce verweist auf Petrarca, der ähnliche Erfahrungen gemacht habe. Die Verteidigung Ariostos übernehme er nicht aus eigener Ruhmsucht, er setze sich selbst damit der Kritik aus sondern zum Lobe des von ihm bewunderten Autors: »Per accrescer, s'io posso, in maggiore parte il desiderio c'havete la vaghezza di sollevar la fama e di difender le Rime di così elegante e giudicoso Poeta e per dimostrar appresso l'ignoranza di non pochi suoi riprensori«.47 Im Verlagshaus Gabriele Giolitos betreut er die Ausgaben Ariostos, sorgt für die Verbreitung des Orlando Furioso und der Komödien;48 seine eigenen Ritterromane Sacripante, Palmerino und Primaleone sind nicht nur verlagspolitisch diktierte Versuche, über das Theater hinaus in einem literarisch erfolgreichen Genre Fuß zu fassen, sondern auch ein Beleg für die Verehrung Ariostos, der er ein Leben lang treu bleibt. Diese liefert den eigentlichen Antrieb, aus dem heraus er Pietro Bembos normativ archaisierende Sprachauffassung des volgare im Namen der dichterischen Freiheit überwindet. Die aemulatio mit den Vulgärhumanisten und volkssprachlichen Dichtern vom Beginn des Cinquecento hat sich für Dolce in der Mitte des Jahrhunderts als das erste künstlerische Ziel vor die imitatio der antiken Autoren geschoben: »Se anchora non trovarete ne i miei versi quell'altezza del dolce et felice stile dell'Ariosto il quale seguito et quella grandezza de'soggetti, nè vi parrà di sentir il terror delle armi, et la dolcezza usata da lui in descriver diversi amori, ¡scusatemi ch'io mi sono sforzato d'avicinarmi più c'ho potuto. Et quanto diffidi cosa sia di alzarsi a cotal cima, entrino altri di qualche autorità a farne prova, et lo saprano«,49 heißt es in der frühen Widmung des Sacripante (1536) an Pietro Zeno. Und noch der Primaleone von 1562 spielt in der Paraphrase der Eingangsverse so direkt auf das bewunderte Vorbild an, daß sich die namentliche Nennung erübrigt: »Nuovo soggetto a le mie rime io prendo,/ E diro, poi che dir mi lece Amore,/ Hor di Primaleone e di Polendo/ L'Inclite Cortesie, l'arme e'I valore:/ [...] Che viva eterno il mio novello canto«.50 In seiner Suche nach der rechten Sprachform der Komödie gerät Dolce in den Konflikt zwischen der Entwicklung des Publikumsgeschmackes und seiner an Ariost geschulten Stilauffassung. Seine beiden Komödien von 1545, Il Capitano und II marito, sind in Versform gehalten, und für den Vers in der Komödie, insbesondere für den sdrucciolo, plädiert der volkssprachliche Autor auch 47 48 49

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Ebd., Bl. 250v. Das Verlagshaus brachte insgesamt 45 Titel von Ariost heraus. Lodovico Dolce: II primo libro di Sacripante. Impreso in Vinegia per Francesco Bindoni e Mapheo Pasini 1536, Bl. 3v. Lodovico Dolce: Primaleone, Figliuolo di Palmerino. Con Privilegio. In Venetia appresso Giovanni Battista et Marchio Sessa Fratelli 1562, Bl. 4r.

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Anne Neuschäfer

im Prolog des Marito: »Et a chi piace il verso, il verso Comico/ Spiacer non dee:, che tutto è dolce e facile;/ Et chi vago è di prosa, a prosa simile/ Lo troverà, di modo che disciogliere/ Non saprà, s'ella è prosa, o verso«. 51 Über die Verwendung von Vers oder Prosa äußert sich Dolce während der Abfassung des Capitano und des Marito in Briefen an seinen Freund Paolo Crivello; diese stellen daher seltene Zeugnisse seiner dichtungstheoretischen Überlegungen dar. A m 26. Februar schreibt er aus Pieve di Sacco: »La mia Comedia del Capitano holla ridotta in essere, che io istimo, che non vi dispiacerà: udite gran parola. La seconda è detta il Marito: et è in buona parte il soggetto dell'Anfitrio di Plauto: Havrei caro, che dimandaste a M. Trifone qual parrebbe a lui, che meglio riuscisse nella lingua volgare alla Comedia, il verso sciolto, o la prosa, et overo lo sdrucciolo, o quel d'undici sillabe«. 52 Am 10. März des gleichen Jahres gibt Dolce den deutlichsten Aufschluß über seine Position, signalisiert aber zugleich, daß er bereit ist, sich dem Urteil Gabriele Trifones zu beugen: Io haveva oltre lo esempio de gli antichi, i quali tutti scrissero la Comedia in versi, alcune ragioni: delle quali la prima si era, che la Comedia è poema, et al poema richiede il verso et non la prosa. Et se voi leggete la Poetica d'Aristotile, vedrete [...] che egli non divide in altro tutta la facultà del Poeta, che in Tragedia et in Comedia, in quanto ogni soggetto partecipa dell'una et dell'altra. [...] Sapeva io bene, che essi antichi le diedero una forma di verso, che ha molta conformità con la prosa: il che non potero fare quelli, che scrissero volgarmente per la povertà della lingua. Ma all'incontro non giudicava ben fatto, che per questo mancamento si dovesse ricorrere alla prosa: si come ancora mi parrebbe sciochezza, anzi pure pazzia, quella d'alcuno, il quale per non poter vestir panni di seta, eleggesse di gir sempre ignudo. Appresso io vedeva M. Lodovico Ariosto (che in vero non si può negare, ch'egli sia stato huomo letterato et di gentile giodicio, come le sue opere ce lo dimostrano) haver nelle sue Comedie usato molto acconciamente il verso sdrucciolo: il quale mi pareva, che non solamente non togliesse gratia, ma porgesse dignità alla Comedia : ne fosse molto dissimile dall'usato da Terentio, et da gli altri antichi: tutto che in cotesta lingua non potesse cadere la varietà, che cade nella latina. [...] Ma l'auttorità di M. Trifon Gabriele è tanta, che io tengo, che commetterei errore, se io non mi levasi della mia openione seguitando la sua. [...] Ben mi sarebbe caro sopra ciò intendere alcuna di quelle ragioni, che muovono un tale huomo a ¡stimare, che la Comedia si debba scrivere in prosa: perciochè il suo parere è appresso tutti i dotti della nostra età in quella stima et veneratione, che appresso gli antichi erano gli oracoli d'Apollo. 53

Entgegen seiner ursprünglichen Neigung zur Versform folgt Dolce schließlich dem Rat wohlmeinender Freunde, indem er nach dem Capitano und dem Marito mit seiner Komödie Fabritia zur Prosa zurückkehrt, in der er bereits 1541 seine erste Komödie II Ragazzo verfaßt hatte, vermutlich noch ohne sich mit der Debatte Prosa oder Vers beschäftigt zu haben. Nach 1545 hat Dolce die Reflexion über Vers oder Prosa in der Komödie vor anderen drängenderen Fragen zurückgestellt.

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Dolce: Il Marito, Prologo, Bl. 2v. Lodovico Dolce: Brief an Paolo Crivello in: Bernardo Pino: Della nuova scielta di lettere di diversi nobilissimi huomini, et eccellenti ingegni, scritte in diverse materie. Fatta da tutti i Libri dello scrivere sin'hora stampati. Con Privilegio. In Veneria appresso Giolito 1582. Band II, S. 217. Ebd., S. 221 f.

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Hinter Ariosto wirft jedoch eine zweite zeitgenössische Autorität ihren Schatten, auf deren entscheidenden Einfluß nicht nur Dolces Vorzug der Versform, sondern auch seine Überlegung, die göttlichen durch menschliche Doppelgänger zu ersetzen, zurückzuführen sein mag. Ich beziehe mich auf Giovambattista Giraldi Cinzio und seine Lettera in difesa di Didone, an den Herzog von Ferrara gerichtet und 1543 geschrieben, also zwei Jahre vor der Niederschrift der beiden Verskomödien Dolces. Giraldi Cinzio setzt sich hier mit den Gegnern seiner Tragödie Didone auseinander und versucht, ihren Einwänden durch ausführliche Begründung und Zitate aus den antiken Musterautoren zu begegnen. Die beiden ersten Argumente, die Giraldi widerlegen will, beziehen sich auf die Wahl der Versform und auf die Einführung der Götter in die Tragödie. Dolces Bewunderung für Giraldi Cinzio ist bekannt, und an anderer Stelle habe ich die direkte Abhängigkeit seiner eigenen Didone (1547) von der seines Ferrareser Musterautoren untersucht; wir dürfen daher die Lettera in difesa della Didone bei ihm als bekannt voraussetzen. Giraldi verteidigt die Wahl der Versform für Tragödie und Komödie unter Bezug auf zahlreiche volkssprachliche Autoren, unter denen Ariosto eine herausgehobene Stellung einnimmt: »Perchè i versi non si sputano, nè si gittano a stampa, ma vogliono, in lunghezza di tempo, molta consideratione«.54 Auf seine zwei Lieblingsautoren gestützt, wagte sich Dolce an das Verfassen von Verskomödien, weil deren Schreiben als schwieriger und damit als ehrenvoller angesehen war. Als eines seiner Motive dürfen wir hier seinen literarischen Ehrgeiz festhalten. Die Einführung der Götter rechtfertigt Giraldi Cinzio mit dem Hinweis auf die Herkunft der Fabel von Vergil, dem er in seiner zeitgenössischen Bühnenbearbeitung die Treue habe halten wollen. Deshalb habe er sich dafür entschieden »di legare e di sciogliere il nodo come lui«.55 Giraldi Cinzio gelangt also zu der Schlußfolgerung, nachdem er sich mit den berühmten Textstellen bei Aristoteles, Cicero und Horaz auseinandergesetzt hat, daß die Einführung der Götter jeweils vom Stoff abhängig ist: »Mi pare di poter dire ragionevolmente, che quando la solutione hà necessariamente bisogno di Dio, non solo non è inconveniente lo introdurlovi, ma sarebbe vitio il tralasciarlo«.56 Vielleicht haben wir hier einen weiteren Hinweis auf Dolces literarischen Ehrgeiz und sein Verständnis von der Freiheit im Umgang mit lateinischen Vorlagen, mit dem er seinen Zuschauern demonstrieren wollte, daß auch dort, wo eine antike Komödie sich für die Einführung göttlicher Protagonisten entschieden hatte, die Modernen auf sie ohne Schaden für das Theaterstück verzichten und sie durch menschliche Doppelgänger ersetzen 54

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Giovambattista Giraldi Cinzio: Le Tragedie, cioè Orbecche, Aitile, Didone, Antivalomeni, Cleopoatra, Arrenopia, Euphimia, Epitia, Selene. Al Serenissimo Signor II Sig. D. Alfonso II. d'Este Duca di Ferrara etc. Con Privilegi. In Venetia: Appresso Giulio Cesare Calcagnini 1583, S. 133. Ebd., S. 135. Ebd., S. 139.

Anne Neuschäfer

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konnten und durften, sofern es der Mythos gestattete. Auf diesem Hintergrund gewinnt Dolces Eingriff in die plautinische tragicomoedia gleichsam programmatische Bedeutung für das volkssprachliche Genus im Cinquecento. Die Vertreibung der Götter zugunsten menschlicher Protagonisten verlagert die antike Komödie nicht nur aus der trügerischen féerie in die realistischere Dimension der Farce, sondern erscheint uns auch als der Versuch einer Befreiung von einem zunehmend als bedrückend empfundenen Modell der antiken Quellen. Il Marito als ein »Plautus im neuen Gewand«, wie es Giorgio Padoan formulierte, 57 meint also nicht nur das neue Kleid in Prosa oder Vers der volkssprachlichen Komödie, als dessen Musterschneider nun Ariosto, Machiavelli und Aretino zu nennen sind, die mit den alten Fetzen früherer rifacimenti oder volgarizzamenti aufgeräumt haben, auf die sich Dolces captatio benevolentiae bezieht: »Nè mal giuditio de la nostra favola/ Fate, per haver visto a i dì preteriti/ Con questo habito nuovo per la Italia/ Terentio andarne mal contento e lacero«,58 sondern auch die contaminatio zwischen antikem Mythos und christlicher Weltanschauung, aus der sich veränderte Bühnenfiguren und komplexe Seelenlagen ergeben und in der Komödie neue Töne erklingen, die Dolce anschlägt, um dem volkssprachlichen Genus in der Mitte seines Jahrhunderts zu künstlerischer Eigenständigkeit gegenüber den antiken Musterautoren zu verhelfen.

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Padoan: La commedia regolare, S. 191. Dolce: Il Marito, Bl. 2v.

Bodo Guthmüller

Mythologisches Gedicht und Ritterroman im frühen Cinquecento

Der gewaltige Erfolg von Ariosts Orlando Furioso hat im 16. Jahrhundert in Italien den Ritterroman zur maßgeblichen Gattung im Bereich der erzählenden Dichtung werden lassen. Diese Entwicklung war zu Beginn des Jahrhunderts nicht unbedingt vorauszusehen. Fino a contraria prova resta [...] chiaro, schreibt Dionisotti in seinem berühmten Aufsatz Fortuna e sfortuna del Boiardo nel Cinquecento, che il periodo di alta marea del poema cavalleresco va dal 1460 al 1480 circa. Più innanzi, nell'ultimo ventennio del secolo, l'onda si fa più scarsa, il livello si abbassa. Non certo l'onda né il livello della letteratura e poesia volgare in genere, e in ispecie della lirica, della pastorale, nell'età del Cariteo e del Sannazaro, del Tebaldeo e di Serafino Aquilano. Popolarissimo resta il poema cavalleresco, ma per l'appunto al livello mediocre e costante segnato dal gusto dei lettori, non più a quello segnato dall'ambizione degli scrittori.1

Pulci und Boiardo, durch die das Genus zu hoher Kunst geführt worden war, fanden bis hin zu Ariost keine ebenbürtigen Nachfolger. Die Gründe für die >Krise< der Ritterdichtung werden verständlich, wenn wir die polemischen Angriffe heranziehen, die sie begleiteten. Diese Angriffe kamen einmal aus der Ecke der Humanisten, denen diese Gattung, deren Ursprünge sich nicht auf die Antike zurückführen lassen und die so augenfällig die Regeln des klassischen Epos ignoriert, ein Dorn im Auge sein mußte. So beklagt z. B. der Ferrareser Humanist Ludovico Carbone bitter den korrupten Geschmack seiner Zeit, die die Erzählung der Taten Rolands den Werken eines geschulten Literaten vorziehe (»Nostrorum hominum aures ita corruptas, ita vitiata[s], ita esse delicatas intelligo, ut

Carlo Dionisotti: Fortuna e sfortuna del Boiardo nel Cinquecento. In: Giuseppe Anceschi (a cura di): Il Boiardo e la critica contemporanea. Firenze 1970, S. 221-241: 223f. Siehe dagegen Sangirardi, der die >Krise< des Ritterromans nicht so sehr in einem einfachen Prestigeverlust sieht, sondern vielmehr in »trasformazioni profonde nell'identità letteraria e socio-culturale del genere cavalleresco«, in »effetti destrutturanti della mescidazione« (Giuseppe Sangirardi: Boiardismo ariostesco. Presenza e trattamento dell'»Orlando Innamorato« nel »Furioso«. Lucca: Pacini Fazzi 1993, S. 291ff.). Vgl. Alberto Casadei: Il percorso del »Furioso«. Ricerche intorno alle redazioni del 1516 e del 1521. Bologna: Il Mulino 1993, S. 36f.: » Έ vero che una fase di stasi o di contrazione, dopo l'»Innamorato«, della moda dei romanzi sembrerebbe ormai dimostrata; tuttavia si tratterà di una flessione piuttosto che di una crisi definitiva«. Zur Situation der Ritterdichtung um 1500 siehe weiterhin Pio Rajna: Le fonti dell'»Orlando Furioso«. Firenze ^1900; F. Fòffano: Il poema cavalleresco dal XV al XVIII secolo. Milano: Vallardi 1904; Marina Beer: Romanzi di cavalleria. Il »Furioso« e il romanzo italiano del primo Cinquecento. Roma: Bulzoni 1987...

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Bodo

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libentius gesta Rolandi audirent quam hominem aliquem conditum«2). Doch nicht nur die Humanisten polemisierten gegen die Ritterdichtung. Die Angriffe kamen auch aus dem Kreis der - von der höfischen Kultur geprägten volkssprachlichen Avantgarde, die die italienische Dichtung im Rückgriff auf die klassisch-humanistische Tradition und die große toskanische Tradition des Trecento erneuern wollte. Bernardo Illicino, »di cultura umanistica e più ancora toscana volgare«,3 schreibt in seinem (dem Herzog von Ferrara Borso d'Esté gewidmeten) Kommentar zu Petrarcas Trionfi, und er greift hier in übersteigerter Form eine Kritik auf, die Petrarca, die literarische Autorität schlechthin, selbst im Triumphus Cupidinis geäußert hatte:4 La stona di Tristano et degli altri militi erranti, medesimamente et di Orlando et di Renaldo, non è del tutto vana né sono etiamdio la magior parte vera, imperoché quelle imense e inaudite forze, quelle anchora fatali dispositione tutte sono vanamente descripte dagli ingegni rozi di coloro che improvisamente hanno cantato in rima, pascendo di quelle favole i populi e da loro ricevendo emolumento onde hanno sustentato poi la vita loro.

Illicino billigt den Erzählungen von Tristan, Roland, Rinaldo einen Kern historischer Wahrheit zu, im übrigen jedoch »vanità et pascura di populo conteng[o]no e non verità«.5 Die Ritterdichtung gilt zum guten Teil als bloße Fiktion, als billige Unterhaltungsware, die allenfalls dem ungebildeten Volk gefallen kann, verfaßt von groben Geistern, denen die seriöse dichterische Arbeit unbekannt ist und die ihre improvisierten Verse gegen Geld auf Plätzen und Märkten feilbieten. In seinen Institutioni al comporre in ogni sorte di rima della lingua volgare belehrt Mario Equicola, der am Hof von Mantua lebte und zeitweilig Isabella d'Esté als Sekretär diente, einer der »typischsten und vollkommensten Vertreter« der neuen höfischen Kultur,6 die Nachahmer Pulcis und Boiardos, wie sie eigentlich hätten dichten sollen, statt »quelli [Pulci und Boiardo] cercar di superar solamente in bugie sopra ogni fede con fittioni impossibili, com'è volar case etc.«; 7 »negli gesti de Palatini di Francia«, so liest man in der Chronica di Mantua, 2

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Aus einer Rede des Carbone anläßlich der Hochzeit des Ugo Trotti mit Lucia Tallona; cod. Ottob. lat. 1153 derBibl. Vat., Bl. 124v, zit. nach Giulio Bertoni: La »Chanson de Roland«. Editio maior. Firenze 1936, S. 157, Anm. 1. Antonia Tissoni Benvenuti: Il mondo cavalleresco e la corte estense. In: I libri di »Orlando Innamorato«, a cura di Riccardo Bruscagli. Modena: Panini 1987, S. 13-33: 26. »Ecco quei che le carte empion di sogni/ Lancilotto, Tristano e gli altri erranti,/ ove conven che'l vulgo errante agogni« (III, 79-81): Francesco Petrarca: Rime, Trionfi e Poesie latine. A cura di F. Neri, G. Martellotti, E. Bianchi, N. Sapegno. Milano-Napoli: Ricciardi 1951, S. 497. II comento de li triumphi del Petrarcha composto per [...] Bernardo da Sena, impresso nella inclita città de Venexia per Theodorum de Reynsburch et Reynaldum de Novimagio compagni nelli anni del Signore M.CCCCLXXVIII, Bl. d5v. Der Kommentar entstand ca. 1470, die Erstausg. erschien 1475 in Bologna. Zu dem Kommentar s. Carlo Dionisotti: Fortuna del Petrarca nel Quattrocento. In: Italia medioevale e umanistica 17 (1974), S. 61-113: 78ff. Carlo Dionisotti: Gli umanisti e il volgare tra Quattro e Cinquecento. Firenze: Le Monnier 1968, S. 114. Die »Institutioni« erschienen posthum 1541 in Mailand, entstanden jedoch ca. 1510; das Zitat Bl. Clr.

Mythologisches Gedicht und Ritterroman im frühen Cinquecento

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»con sogni de infermi e fole di romanzi han cercata tra li ignoranti e vulgo fama«. 8 Equicola nimmt Boiardo und Pulci von seiner Kritik aus und unterscheidet damit wie üblich die breite anspruchslose Strömung der Ritterdichtung (repräsentiert von Werken wie dem Libro delle battaglie delli baroni di Francia sotto il nome de l'ardito et gagliardo giovene Altobello, dem Libro de l'Ancroia, dem Β uovo d'Antona usw.9) von der wenige Werke umfassenden literarisch authentischen Strömung innerhalb der Ritterdichtung, die zur Erneuerung der italienischen Literatur beigetragen hat. Während die Rittermaterie gegen Ende des Quattrocento an Ansehen verliert, erleben die antiken Mythen im kulturell maßgeblichen Milieu der Höfe, nicht zuletzt als Folge der humanistischen Bewegung, eine ausgesprochene Blüte. Der durch die Autorität der Klassiker geadelte antike Mythos mit seinem beinahe unerschöpflichen Reservoir an für die verschiedensten Situationen geeigneten Themen bot den willkommenen festlich-ornamentalen Rahmen für zahlreiche Manifestationen des höfischen Lebens. Man fand in ihm, besonders wenn er umgegossen wurde in moderne Formen, die feinsinnige Unterhaltung, die man in der Literatur, im Schauspiel, in den Künsten suchte. Eine solche neue Form war insbesondere das mythologische dramatische Festspiel. In der Nachfolge des Orfeo Polizians (1480?), des bekanntesten Repräsentanten dieser Gattung, entstanden zahlreiche mythologische Stücke, die dem Unterhaltungsbedürfnis der Höfe in der Karnevalszeit oder bei besonderen Festlichkeiten (bei Hochzeiten zumal) dienten.10 Andere Dichter wählten die antiken Mythen zum Gegenstand von kurzen Erzählungen in ottava rima, wie Niccolò da Correggio in seiner Isabella d'Esté gewidmeten Fabula Psiches et Cupidinis (um 1490).11 Durch Sannazaros Arcadia wurden die bukolischen Mythen wiederbelebt. Selbst in die Ritterdichtung dringt der Mythos ein; Boiardos Erneuerung des Genus beruht nicht nur auf der Einführung des Liebesmotivs in die Karlsepik, sondern ebenso auf der Neugestaltung zahlreicher Episoden mit Hilfe antiker Mythen.12 In den Stanze Polizians ist die Mythologie in so großer Dichte präsent, daß die Erzählung eher der mythologischen Dichtung als der Ritterdichtung zuzurechnen ist. 1475 wird der - am Hof von Ferrara vielgelesene Teseida des Boccaccio mit den (um 1425 entstandenen) mythologischen

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Die Chronik, die Francesco II. Gonzaga gewidmet ist, erschien 1521 in Mantua; das Zitat Bl. V2v. Siehe die Auflistung in Beer: Romanzi di cavalleria, S. 370ff. Teatro del Quattrocento. Le corti padane. A cura di Antonia Tissoni Benvenuti e Maria Pia Mussini Sacchi. Torino: UTET 1983. Niccolò da Correggio: Opere. Cefalo, Psiche, Silva, Rime. A cura di Antonia Tissoni Benvenuti. Bari: Laterza 1969. In Mantua entstand um 1510 die »Fabula di Narciso« des Giovanni Muzzarelli, die sich in der literarischen Formgebung an den »Stanze« Polizians orientiert. Vgl. Cristina Montagnani: Fra mito e magia: le »ambages« dei cavalieri boiardeschi. In: Rivista di Letteratura Italiana 8 (1990), S. 261-285.

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Bodo

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Erklärungen des Pier Andrea de' Bassi in Ferrara gedruckt,13 eine Initiative, die das Interesse der Zeit - über das mythologische Festspiel und über die mythologische Kurzerzählung hinaus - auch für das mythologische >Epos< in ottava rima dokumentiert, das Boccaccio mit diesem - sich an der Thebais des Statius orientierenden - Werk in die italienische Dichtung eingeführt hatte. Zu neuen Versuchen, das mythologische >Epos< in der italienischen Dichtung heimisch zu machen, wird es allerdings erst wieder zu Beginn des 16. Jahrhunderts kommen. In den ersten Jahren des Cinquecento entstehen gleich drei umfangreiche mythologische Gedichte in ottava rima, deren Eigenart und Bedeutung für die italienische Literatur hier, eingedenk der Anregungen Dionisottis, kurz erörtert werden sollen. Die Gedichte, die (mit einer Ausnahme) nur in den Originalausgaben, bibliographischen Raritäten, vorliegen, sind bisher weitgehend unbeachtet geblieben (»poemi oggi dimenticati, inesplorati«), wie überhaupt eine Studie über das mythologische Gedicht in der italienischen Renaissance bis heute fehlt.14 Die Gedichte sind die folgenden: Im Juli 1503 erschien in Venedig beim Verleger Giovanni Battista Sessa der Thebano des sonst nicht weiter bekannten Battista Caracini aus Macerata.15 Im Januar 1504 (1503 more veneto) folgte die wiederum in Venedig gedruckte Amazonida des Andrea Stagi aus Ancona;16 Weihnachten 1504 beendete der Bolognese Giovanni 13

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Ferrara: Agostino Carnerio 1475 (Bibl. Marciana, Inc. 295); s. G. Orlandi: Intorno alla vita e alle opere di Pietro Andrea de' Bassi. In: Giornale storico della letteratura italiana 83 (1924), S. 285-320; Cristina Montagnani: Il commento al »Teseida« di Pier Andrea de' Bassi. In: Studi di Letteratura italiana offerti a Dante Isella. Napoli 1983, S. 9-31; diess.: Il commento al »Teseida« di Pier Andrea de' Bassi e la tradizione di Ovidio nel primo Quattrocento. In: Interpres 5 (1984), S. 7-33. Bassi (der abhängig ist von Boccaccios eigenen mythologischen Erklärungen zum »Teseida«) widmet den Kommentar seinem Herrn, dem Herzog Niccolò III, »avendo vuy de la lectura del >Theseo< sommo piacere« (Bl. 2v). Zur Präsenz des »Teseida« am Hof von Ferrara s. Giulio Bertoni: La Biblioteca Estense. Torino: Loescher 1903, S. 39,41,46, 50,65. Dionisotti: Fortuna e sfortuna, S. 226; vgl. Casadei: Il percorso, S. 37: »Non è stato [...] mai effettuato un sondaggio sufficientemente completo riguardo al poema classico-mitologico«. Zu den Exordien der Gedichte s. jedoch Oriana Visani: La tecnica dell'esordio nel poema cavalleresco dai cantari all'Ariosto. In: Schifanoia 3 (1987), S. 45-84; einige Bemerkungen zum »Viridario« in Sangirardi: Boiardismo ariostesco, S. 35f. und 293. In A. Belloni: Il poema epico e mitologico. Milano: Vallardi 1908 gilt nur Kap. XII dem mythologischen Gedicht; das Kap. ist für unsere Fragestellung ohne Belang. Libro chiamato el Thebano quai tratta de li infelici e sventurati Edippo e di soi figlioli Etiochri e Polinici et de la madre de Thideo e de Menalipo e de Anfirago con molte infinite bataglie esperissime; Bl. 40r: »Stampata in Venetia per Zuanbaptista Sessa nel mille cinquecento e tre a dì ultimo luio«. Es sind offenbar nur zwei Exemplare (in der Biblioteca Colombina und der British Library) erhalten. Ich zitiere nach dem Exemplar der British Library. Opera de Andrea Stagi Anconitano intitolata Amazonida, la quai tracta le gran bataglie e triumphi che fece queste donne Amazone; Bl. CXXIIIIr: »Qui finisse le aspre bataglie de le donne Amazone. Stampato in Venetia, regnante lo illustrissimo Principe M. Leonardo Lauredano excelentissimo, ne l'anno del Signore M.CCCCC.III, a dì XVIII zenaro«, ohne Angabe des Druckers (mir lag das Exemplar der Biblioteca Comunale von Ancona vor); es existiert eine zweite Ausgabe: La Amazonida di Andrea Staggio Anconitano de le

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Filoteo Achillini seinen - allerdings erst 1513 (in Bologna) gedruckten Viridario, in dem er, wie es zu Beginn heißt, >die vortrefflichen Unternehm u n g e n des Königs Minos besingen will (Bl. 5v). 17 Bei der Betrachtung des Thebano können wir uns kurz fassen. Obwohl Caracini sich seinerseits im Exordium von der Ritterdichtung ausdrücklich distanziert (»Qui non a locho fabole d'Orlando/ né de Rinaldo o altri paladini;/ qui non se canta Dorlindana, el brando/ che taglia el dì a migliare i saracini«, Bl. 3r) und obwohl er mit den thebanischen Sagen eben jenen Stoff aufgreift, der auch dem Teseida des Boccaccio zugrundeliegt, hat er doch keinen engeren Kontakt zur neuen literarischen Avantgarde und steht in der Tradition der breiten volkstümlichen ottava nma-Dichtung, 18 die im Zuge der allgemeinen Hochschätzung der Antike am Ende des 15. Jahrhunderts ihrerseits die Mythen als dankbare Stoffe entdeckt hatte; damals waren mehrere cantari mythologischer Thematik enstanden, und auch längere Gedichte wie der in mittelalterlichen Stofftraditionen verwurzelte anonyme Troiano, an den Caracini mit seinem Thebano offenbar anknüpfen will. 19

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horrende battaglie & sanguinee garre tra esse Amazone e gli depredatori de la città de Dite, novamente posta in luce. In Veneria per Matteo Pagano al segno de la Fede, o. J. [um 1550] (das einzige bekannte Exemplar besitzt die Biblioteca Alessandrina in Rom). Ich zitiere nach der Neuausg. a cura di Ernesto Spadolini, Ancona: Santoni 1908. Siehe die Besprechung der Neuausg. von Rodolfo Renier in: Giornale storico della letteratura italiana 54 (1909), S. 220-222. Vgl. Michele Maroni: Dali*»Amazonida« di Andrea Stagi Anconitano. Ancona 1895, per nozze Paradisi-Faconti (Abdruck der S. 80 bis 85 des 6. Buches, mit Einleitung). Am Ende (Bl. CXCVIIv): »Fine del Viridario di Gioanne Philotheo, secondo figliolo di Claudio Achillino Bolognese. Impresso in Bologna per Hieronymo di Plato Bolognese nel M.D.XIII, sotto la felice memoria del N. S. Leone Decimo, a dì XXIV di decembre«. Achillini gibt an, er habe über sechs bis sieben Jahre hin an dem Werk gearbeitet, es aber im wesentlichen in vier Aibeitsphasen (»furori«) in etwa sechs Monaten erstellt und Weihnachten 1504 abgeschlossen. Von den wenigen erhaltenen Exemplaren weist eines autographe Verbesserungen auf (im Besitz der Biblioteca dell'Archiginnasio in Bologna). Ich zitiere nach dem Exemplar der BN Paris. Caracini widmet das Werk seinem Onkel, dem Kanoniker Giovanni Caracini, von dem er weiß, daß ihm »cose vulgare« nicht gefallen und schon gar nicht »rime ruzze e vile« wie die seinen. Der Onkel möge eine Ausnahme machen und das Buch in sein Studiolo aufnehmen, »non nel più sublimo locho ma appe de li altri vostri libri« (Bl. 2r). Die »cantari« von Pyramus und Thisbe (Redaktion C und D) sowie Progne und Philomena sind in Handschriften aus den Jahren 1473 bzw. 1481 erhalten, die »cantari« von Pyramus und Thisbe (Redaktion B), Meleager und Atalanta sowie Orpheus und Eurydike in Inkunabeln der achtziger und neunziger Jahre; der letztgenannte ist stark von Polizians »Orfeo« abhängig und belegt somit die Ausstrahlung der literarischen Mode der Höfe. 1483 ist vermutlich der mehrfach nachgedruckte »Libro chiamato Troiano, nel quale si tratta tutte le guerre che feciono li Greci con li Troiani [...]« (Venezia: per Lucha de Domenego) erstmals erschienen; der anonyme Autor distanziert sich seinerseits von der Rittermaterie: »Quivi non si scrive come [a'] Saracini/ Orlando mandi né (a) Rinaldo [i] guanti/ né come caminando i Paladini/ trovasson per le siepe i gran giganti,/ né come errando fuor di lor confini/ andâr già molti cavalier erranti./ Qui non è chi le carte empi [e] di sogni/ per cui conven che'l vulgo erante agogni«; zit. nach der Ausgabe Venedig: appresso Domenico Imberti MDCIX (»Troiano il qual tratta la destruttione de Troia, per amor di Helena greca la qual fu tolta da Paris Troiano al Re Menelao ...«), Bl. A2v; vgl. Dionisotti: Fortuna e sfortuna del Boiardo, S. 228; vgl. o. Anm. 4 das Petrarca-Zitat.

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Mit dem Wechsel des Stoffes ist bei Caracini also keine literarische Neuorientierung verbunden; auf den klassischen Stoff überträgt er vielmehr die konventionellen Erzählschemata der ottava rima-Dichtung. Überraschenderweise gibt Caracini sein Werk als eine Übersetzung der Thebais des Statius aus (»per mio exercitio presi a traslatare Statio el Tebaicho«, Bl. 2r), während er in Wirklichkeit der Handlung der Thebais nur in den großen Linien folgt und die farbenreiche und dramatische Erzählung des Statius auf eine trockene Synthese des Geschehens reduziert. Namentlich der komplexe mythologische Apparat der Thebais wird weitgehend getilgt zugunsten einer christlichen Sicht des Geschehens, das nicht als mythisch-fiktives, sondern als historisches Geschehen begriffen wird. Es deutet alles darauf hin, daß Caracini nicht das Original zur Vorlage hatte, sondern sich einer kürzenden Prosaparaphrase der thebanischen Sagen als Vermittlertextes bedient hat. Diese Vermutung hat sich bestätigt: Caracini ist abhängig von der Fiorita des Armannino Giudice. Die nur in Handschriften überlieferte Fiorita (um 1325)20 ist eine jener zahlreichen spätmittelalterlichen Kompilationen, in denen biblische, mythologische und historische Stoffe verbunden werden und in denen die antiken Stoffe oft über französische Quellen vermittelt sind.21 Der thebanische Teil der Fiorita zirkulierte auch in gesonderten Handschriften.22 Caracini, der selbst kein Berufsdichter war, verfuhr wie die Bänkelsänger: er suchte sich einen dankbaren Prosatext, schrieb ihn in Oktaven um und versah das Werk mit den typischen Merkmalen des cantare. Im Exordium zum zehnten Gesang nennt Caracini Petrarca, die große Autorität der neuen, gebildeten Dichter, was aufhorchen läßt: wie Petrarca sei er ein Opfer der Liebe. Er habe den Thebano allein deshalb verfaßt, - so schreibt er im Exordium zum ersten cantare - , um seine unglückliche Liebe zu vergessen: »E per fugir d'amor l'affanno e strati0/ e la nemicha mia m'escila de core/ prendo esta penna a -ffar l'animo satio/ sol per fugir de' bell'ochi e[l] splandore«.23 Selbst der ungebildete Caracini hat demnach Anteil an der neuen Mode, die das für die Avantgarde-Dichtung grundlegende pe20

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Mir lag cod. it. IX, 11 (= 6270) der Biblioteca Marciana vor (geschrieben 1456); die thebanischen Sagen umfassen die Kap. 6-10. Zur »Fiorita« vgl. L. F. Flutre: »Li Fait des Romains« dans les littératures française et italienne du XIII au XVI siècle. Paris: Hachette 1932, S. 373ff. Ich werde auf die Beziehungen zwischen dem »Thebano« und der »Fiorita« an anderer Stelle zurückkommen. Die Oedipus-Geschichte, die Caracini zu Beginn erzählt, wird schon im »Roman de Thèbes« dem Stoff der »Thebais« vorangestellt (Le Roman de Thèbes, publié d'après tous les manuscrits par L. Constane. Bd. I. Paris: Firmin Didot 1890, v. 33-518). Zum Oedipusmythos im Mittelalter vgl. Arianna Punzi: Oedipodae confusa domus. La materia tebana nel Medioevo latino e romanzo. Roma: Bagatto 1995. Siehe cod. it. VI, 50 (=6117) der Biblioteca Marciana (15. Jh.); vgl. Storie Tebane in Italia. Testi inediti illustrati da Paolo Savy-Lopez. Bergamo 1905 (S. 103-121 Teilausgabe der Handschrift). Caracini hat sein Gedicht offenbar fern der Heimat in Ragusa verfaßt; die zitierte Oktave lautet weiter: »e quatto cento miglia e più de spatio/ so de lontano e non me lassa ardore./ A Ragusia me trovo, e a Macerata/ è la mia patria e la mia dona è nata« (Bl. 3r); Caracini greift das Liebesmotiv in mehreren Exordien auf.

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trarchistische Liebesmotiv im Gefolge der Stanze des Polizian und des Orlando Innamorato auch in der Dichtung in ottava rima obligatorisch machte.24 Das modische Motiv, daß der Dichter sein Werk verfaßt, um sein Liebesleid zu vergessen, bzw. daß das Liebesleid ihm das Dichten erschwert, findet sich sowohl in der Amazonida wie auch im Viridario wieder.25 Während sich im Thebano jedoch nur bescheidene Einflüsse der neuen Dichtung nachweisen lassen, orientieren sich Stagi und Achillini deutlich an den Idealen der Avantgarde. Das zeigt sich schon daran, daß sie - wie später Ariost - Dichterkataloge in ihr Werk einfügen, in denen sie die Dichter ihrer Zeit ausdrücklich herausstellen. Stagi nennt in der »setta trionfante/ Di poeti vulgar« u. a. Sannazaro, Lorenzo de' Medici, Polizian, Cariteo, Tebaldeo, Serafino Aquilano, Calmeta, Niccolò da Correggio; besonders hervorgehoben werden »quel profundo Dante/ Che salì sopra l'alta gerarchia« und »il gran Petrarca/ Che con suo dolce stil sopra al ciel varca« (S. 162). Achillini erklärt am Ende des langen Geleitwortes an sein Buch, in dem er die kulturelle Elite seiner Zeit und gerade auch die volkssprachlichen Dichter auflistet (Bl. 185v: »Debb'io tacer la lingua e stil vulgare/ Ch'ai tempo d'hoggi in tanta stima ascende?«), wenn sein Werk Bembo, Calmeta und Paolo Cortese gefalle, könne er allen Lesern erhobenen Hauptes gegenübertreten (Bl. 196v); voller Stolz verweist er auf die von ihm veröffentlichten Collettanee, in denen er Lobgedichte auf Serafino Aquilano, den großen höfischen Erfolgsdichter der Zeit, gesammelt hat (Bl. 195v). Die Wahl des ausgefallenen Amazonenstoffes wurde Stagi ohne Zweifel von Boccaccio nahegelegt, der im ersten Buch des Teseida den Feldzug des Theseus und Herkules gegen die kriegerischen Frauen erzählt, eine Episode, die in der Amazonida wiedererscheint. Aber nicht nur dies: der Teseida (man vergleiche Stagis Titel Amazonida) war offensichtlich Stagis maßgebliches gattungsmäßiges Modell,26 insbesondere hinsichtlich der Symbiose von Elementen des antiken mythologischen Epos und der höfischen Ritterdichtung. Doch noch auf einen zweiten emblematischen Text der Zeit, der diese Symbiose (unter anderem Vorzeichen) ebenfalls verwirklicht, nimmt Stagi Bezug, wie er gleich zu Beginn seines Gedichts offenlegt, wo er Wendungen aus dem Exordium der Stanze Polizians wörtlich übernimmt. 27 24

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Siehe »Orlando Innamorato«, II iv 1-3; vgl. Dionisotti: Fortuna e sfortuna del Boiardo, S. 230f. »Amazonida«, S. VII-VIII (Widmung) und 3, »Viridario«, Bl. 5r, 14v, 184r. Vgl. schon Renier in der o. Anm. 16 genannten Rezension, S. 221: »L'>Amazonida< [...] pare condotta specialmente sullo stampo della >Teseideaperto< del romanzo cavalleresco«.41 Mit den antiken Mythen verbindet Achillini die Heldentaten des Glauco, eines weiteren Sohnes des Minos, und des Hirten Franco, der sich als ein Sohn des Mars entpuppt. Sie sind die eigentlichen Protagonisten des Gedichts: Minos besiegt Aegeus und Theseus vor allem dank ihres Eingreifens. In den Glauco und Franco geltenden, von Achillini hinzuerfundenen Teilen dominieren Motive der Ritterdichtung: der Auszug der Helden, ihre quête, ihre Initiation bei den Musen als »cortigiani« (die Tapferkeit und Edelmut in sich vereinen), die Abenteuer, die sie bestehen, ihre Liebe, höfische Feste, Turniere... Gegen Ende des Gedichtes rücken dann die Abenteuer der beiden anderen Minossöhne, Deucalionne und Cratheo, in den Mittelpunkt; der Ton des Gedichtes ändert sich erneut, die Bezüge auf die Gegenwart stehen nun, wie im Schlußteil der Amazonida, im Vordergrund. Die Kämpfe gegen die Piraten, die geschildert werden, erinnern an die Piratenüberfälle in der Zeit des Dichters, mehrere der auftretenden Figuren verweisen auf historische Persönlichkeiten. So sind zum Beispiel Deucalionne und Cratheo zu Gast bei der Familie der Fregoso in Genua (Bl. 160v), der Bolognese Mancino, der eine überragende Rolle in den Kämpfen gegen die Piraten spielt (Bl. 162v ff.), taucht am Ende des Gedichts im Lobpreis Bolognas als »strenuo capitano«, der Bologna alle Ehre macht, wieder auf. Zur Verbindung der verschiedenen Handlungsfäden im Gedicht bedient sich Achillini der im Ritterroman heimischen Technik des entrelacement·. d. h. der Dichter unterbricht seine Erzählung, in der Regel an spannender Stelle, um einen anderen Handlungsfaden aufzugreifen: »L'historia me conduce in altra parte« (Bl. 33v), »In altro loco volto hormai la fronte« (Bl. 37v), mit derartigen Formeln leitet er den Übergang ein.

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Auch hier weicht Achillini von Ovid ab, der nur von einem Faden spricht, den Ariadne Theseus mit ins Labyrinth gibt (VII, 173). Bei Achillini ist hingegen von »tre palle [...] di cera e pegola«, einer »mazza« und einem »fil« die Rede (Bl. 70r, in der Ausg. falschlich als Bl. 72 gezählt); vgl. wiederum Bonsignori, wo es heißt, Dädalus habe Theseus eine »maza«, »tre balote« und einen »filo d'oro« übergeben (Bl. 64v), sowie den ähnlich lautenden Kommentar Bassis zum »Teseida«, Bl. 29v (Bassi konnte Stagi überhaupt zahlreiche mythologische Informationen liefern). Vgl. auch die (in zahlreichen Zügen entstellte) Erzählung des Theseus-Mythos im »Thebano« des Caracini, wo wiederum die drei genannten Werkzeuge erscheinen (Bl. 38v). Sangirardi: Boiardismo ariostesco, S. 35.

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Ähnelt der Viridario in vielen Elementen der Amazonida so ist er andererseits von ihr doch sehr verschieden. In der Widmung an Kardinal Giovanni de' Medici, den späteren Papst Leo X., beruft sich Achillini auf die Vorschrift des Horaz, die Dichtung müsse erfreuen und nützen: sein Buch will wie der ideale Garten (»viridario«), der Nutz- und Ziergarten in einem ist, Blumen und Früchte nebeneinander bietet, nützlich und unterhaltend zugleich sein. Vom Nützlichen wie vom Unterhaltsamen hat Achillini seine eigenen Vorstellungen. Das »prodesse« erfordert eine didaktische Ausrichtung des Gedichts, die Achillini dadurch erreichen will, daß er in sein Werk zahlreiche belehrende Episoden einfügt, die oft mit der Handlung nur sehr locker verbunden sind und durch ihre maßlose Länge als Fremdkörper wirken. Ein paar Beispiele: Jupiter erscheint Minos im Traum und führt ihm über viele Seiten hin die Tugenden des guten und Laster des schlechten Herrschers vor Augen (Bl. 7v ff.). Androgeus widerlegt anläßlich einer Disputation Punkt für Punkt die sechzehn Thesen gegen die Unsterblichkeit der Seele, die seine griechischen Widersacher vorbringen (Bl. 15r ff.). Als Glauco und Franco nach Athen ziehen, treffen sie unterwegs auf die Muse Calliope, die ihnen einen Lehrvortrag über alle möglichen Formen der Zauberkunst hält (Bl. 44r ff.). Vor einer Grotte begegnen die beiden später erneut einer der Musen, Polymnia, die sie in der Kunst der Mnemotechnik unterrichtet (Bl. 84r ff.). Der Kentaure Chiron führt Glauco und Franco in die Fechtkunst ein (Bl. 98v ff., 39 Oktaven); als Laura, die Tochter Jasons, sich zur Hochzeit ankleidet, hält eine kundige Alte ihr über mehr als 70 Oktaven hin einen Vortrag über Schönheitsmittel (Bl. 140v ff.); ein weiser Greis erläutert Deucalionne das Einwirken der Planeten auf das menschliche Temperament und die Beziehungen zwischen Mikro- und Makrokosmos (Bl. 174r ff.). Dieser Hang zur Ausbreitung enzyklopädischer Gelehrsamkeit läßt sich mit dem geistigen Klima in Bologna, das stark vom dortigen Studio geprägt war, in Verbindung bringen.42 Doch scheint das mythologische Gedicht nicht der geeignete Rahmen für eine derartige Wissensetalage. Auch vom »delectare« hat Achillini seine besonderen Vorstellungen. Er will wie Boccaccio und Polizian von Liebe und Kampf erzählen, »cantar d'amore, di fortuna e d'armi« (Bl. 156r),43 doch diese Themen können offenbar nur dann erfreuen, wenn sie mit einer gehörigen Dosis an wunderbarem Geschehen und mit ironischen Kommentaren gewürzt werden. Die Kampfesschilderungen haben phantastische Züge, die z. T. der Ritterdichtung entnommen sind: Minos reitet ein Pferd, das eine Kreuzung aus einer Stute und einem Löwen ist (Bl. 31r); Jasons Pferd stammt ab vom Drachen, der das Goldene Vließ bewacht, und erschlägt die Feinde mit seinem Drachenschwanz (Bl. 62r-v); Philenos Pferd hat einen Wolfskopf und ist 42 43

S.u.Anm.49. »Che donin [Neptun, Venus und Bellona] gratia a questi inculti carmi/ Cantar d'amore, di fortuna e d'armi«; vgl. »Stanze«, I, 7: »e tempra tu la cetra a' nuovi carmi/ mentr'io canto l'amor di Iulio e l'anni«.

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gierig auf Menschenfleisch (Bl. 40v). Nur mit Knüppeln bewaffnet, besiegen Franco und Glauco doch alle Gegner. Merkur fordert sie auf, zusammen mit den Göttern gegen die Giganten zu kämpfen; Chiron und die Kentauren werden ihnen beistehen (Bl. 92r ff.). Auf dem Weg zu Chiron stellt sich ihnen ein gewaltiges Monster in den Weg, eine Chimaera, mit drei feuerspeienden Köpfen, einem Löwen-, einem Drachen- und einem Bockskopf, ein Ungeheuer, das zehn Meilen lang ist; allein die Zähne messen eine Meile, und die Länge seiner Beine übertrifft die Höhe der Torre degli Asinelli (die Torre degli Asinelli ist einer jener mittelalterlichen Türme in Bologna, die man noch heute besichtigen kann); »e dico'l che le ho conte«, so fügt der Dichter zum Beweis der Wahrhaftigkeit des Gesagten augenzwinkernd hinzu (Bl. 93r). Achillini liebt solche Anspielungen auf die Gegenwart: Minos trifft einen Gegner mit dem Schwert, »E trabuccollo in due mezzine a terra/ Che parve un salzizotto bolognese« (Bl. 32v); der Palast der Calliope übertrifft an Schönheit selbst den von Urbino (Bl. 53r); die Musik, die am Hofe Jasons erklingt, ist lieblicher als die von Mantua (Bl. 127v). Franco will das Ungeheuer sofort bekämpfen (und die Tötung wird dann auch kein Problem für ihn sein), doch der Leser wird zunächst einmal vertröstet, das Monster ist dermaßen lang, daß es in den Gesang nicht mehr hineinpaßt. Achillini läßt sich mehrfach solch amüsante chiuse einfallen: Herkules stürmt mit solcher Wut davon, daß dem Dichter vor Schreck die Feder aus der Hand fällt (Bl. 59r); Glauco und Franco kämpfen gegen die Giganten, die hundert Arme, Schlangenfüße und Drachengesichter haben; 50 000 sind sie an der Zahl, eine so gewaltige Menge, daß sie dem Dichter den Weg versperren und er gezwungen ist, den Gesang abzubrechen (Bl. 106v). Ligurgo hat 1000 Arme und trägt in jeder Hand eine Eiche; eine halbe Eiche, die er in die Luft schleudert, fliegt so hoch, daß sie sich am Feuerhimmel entzündet; sie setzt die anderen Eichen in Brand, und Ligurgo kommt in den Flammen elend um (Bl. llOv). In der Schlacht zwischen Minos und Theseus gibt es so viele Tote, daß Charons Boot nicht ausreicht, sie alle überzusetzen, und eine Brücke zur Unterwelt gebaut werden muß (Bl. 42r). Diese phantastischen Geschichten begleitet der Dichter mit seinen knappen ironischen Bemerkungen und Sentenzen, die gelegentlich an die »tecniche di distanziamento del narratore dalla narrazione [...] tipiche [...] della condotta narrativa di Pulci e soprattutto di Boiardo« erinnern.44 Der Mythos wird in der Übersteigerung als Lüge entlarvt, wird spielerisch parodiert. Die phantastischen Züge und die distanziert-respektlosen Bemerkungen finden sich auch in den Liebesszenen. Glauco e Franco verlieben sich beide in prophetischen Träumen in derselben Nacht in Frauen, die sie noch nie gesehen haben, Glauco in Jasons Tochter Laura, Franco in Diamante, die Tochter des Kreon (Bl. 79v ff.). Glauco verzehrt sich in Liebe zu Laura und 44

Sangirardi: Boiardismo ariostesco, S. 35. Sangirardi listet außerdem eine Reihe von wörtlichen Anklängen Achillinis an Boiardo auf.

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schreibt ihr - in terza rima - drängende Liebesbriefe;45 der Dichter schildert dies in der üblichen petrarchistischen Liebesdiktion.46 Die Hochzeit von Glauco und Laura wird zum typisch höfischen Fest ausgestaltet. Laura und ihre Freundin Elisabella wohnen auf einem Triumphwagen dem festlichen Turnier bei, zu dem die Fürsten Griechenlands, Italiens, Troias geladen sind, und werden in all ihrer Schönheit beschrieben, in Porträts, die sich wiederum - wie das der Pantesilea - an Boccaccios Porträt der Emilia inspirieren (Bl. 153v ff.). Mitten in den gehobenen Ton der Liebesszenen und Festbeschreibungen platzt plötzlich eine derb komische Szene hinein, in der Phileno und Glauco sich in obzönem Argot über Glaueos Hochzeitsnacht unterhalten (Bl. 137r). Theseus liebt Phaedra, doch er fingiert Liebe auch zu Ariadne, denn, so kommentiert der Dichter ironisch, »saggio è chi tener fa un pie in due scarpe« (Bl. 68v). Bacchus, der die auf Naxos zurückgelassene Ariadne zur Frau nimmt, weiß nicht, daß sie es schon mit vielen Domestiken ihres Vaters getrieben hat, und merkt den Betrug auch nicht in der Hochzeitsnacht, was den Dichter zu bitteren moralischen Betrachtungen veranlaßt (Bl. 97v). Die schimpfliche Liebesleidenschaft seiner Frau Pasiphaë zu einem Stier läßt Achillini Minos so kommentieren: »Chi ha giovene la moglie/ E sta da longe, un altro il frutto coglie« (Bl. 38v). Achillini bricht sein Werk im zehnten Gesang unvermittelt ab, obwohl er es, wie er selbst sagt, erst zur Hälfte vollendet hat. Doch er dichtet dann doch noch eine Weile weiter und, was er bringt, ist höchst aufschlußreich, läuft auf eine Rücknahme des mythologischen Gedichtes hinaus. Während die Kreter Opfer vorbereiten, erscheint die Sibylle von Delphi und belehrt sie über die Falschheit der antiken Götter: sie hält einen prophetischen Lehrvortrag über die Schöpfung, die Dreifaltigkeit, die Inkarnation, die jungfräuliche Empfängnis, die Kreuzigung (Bl. 182r). Lange bevor Gott seinen Sohn in die Welt schickte, haben die Kreter dem heidnischen Glauben abgeschworen und sich zum Christentum bekehrt. Achillini schließt sein Gedicht mit einem Lob der Stadt Bologna (»excelsa è in armi, excelsa in studio«47), das wieder seinen Hang zur Vollständigkeit verrät und alle Personen im damaligen Bologna, die Rang und Namen haben, aufzählt; dasselbe gilt für den congedo, das Geleitwort an sein Buch, in dem er die Namen der wichtigsten italienischen Städte und Regionen und der bekannten Persönlichkeiten, die dort leben, über Seiten hin aneinanderreiht.

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Achillini fügt mehrfach solche Briefe im Metrum der »terza rima« ein: Scylla schreibt an Minos, Ariadne an Theseus; im Hintergrund steht die Tradition der Heroiden. Für den Liebesgesang Ariadnes im Gegenüber mit Theseus wird die Form der »canzone a ballo« verwendet (Bl. 69r-v). Achillini zitiert Bl. 126r Dantes Vers »Che Amore a nullo amato amar perdona« (Inf., V 103) und schließt daran eine lange Betrachtung über literarischen Diebstahl an. Bl. 192v. Vgl. Bl. 183v: »De Italia son quale è del mondo fiore/ E d'esser Bolognese lieto ho'l core«.

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Keines der vorgestellten Gedichte ist an einem der kulturell tonangebenden Höfe der Zeit entstanden. »Gli autori dei poemi classicheggianti costituivano un gruppo assai eterogeneo, ma comunque geograficamente e culturalmente laterale«, so urteilt Casadei.48 Caracini und Stagi lebten in kleineren peripheren Städten der Marche, Ancona und Macerata, von denen damals keine bedeutenden Impulse ausgingen. Achillini wirkte in Bologna, einem ohne Zweifel bedeutenden Zentrum, wo jedoch das kulturelle Leben stärker vom Studio und den kirchlichen Institutionen geprägt wurde als vom Hof der Bentivoglio. Ezio Raimondi und Gian Mario Anselmi identifizieren in ihren Studien über den Bologneser Humanismus als die wesentlichen Merkmale des kulturellen Lebens im damaligen Bologna den Hang zur enzyklopädischen Gelehrsamkeit (gerade auch im Bereich der Mythologie), die stark religiöse Einfarbung und einen ausgeprägten Geschmack am Bizarren, Züge, die wir alle auch im Viridario wiederfanden.49 Über Caracini und Stagi wissen wir so gut wie nichts, einmal abgesehen von dem, was sie im Thebano und in der Amazonida selbst über sich sagen.50 Über Giovanni Filoteo Achillini (1466-1538), den Bruder des berühmteren Philosophen Alessandro Achillini, sind wir hingegen relativ gut informiert.51 Er war ein humanistisch gebildeter Literat und ein bedeutender Sammler von Antiquitäten, Inschriften, Münzen und Skulpturen. Mit seinem humanistisch-antiquarischen Interesse verband er Aufgeschlossenheit für die neuen Strömungen in der italienischen Literatur. 1504 publiziert er, 48 49

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Casadei: Il percorso, S. 37. Zum kulturellen Leben in Bologna in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts s. Ezio Raimondi: Codro e l'Umanesimo a Bologna [1950]. Bologna: Il Mulino 1987; Bentivolorum magnifìcentia. Principe e cultura a Bologna nel Rinascimento. A cura di B. Basile. Roma: Bulzoni 1984; Gian Mario Anselmi: Le frontiere degli umanisti. Bologna: CLUEB 1988, insb. S. 13-51 (»Mito classico e allegoresi mitologica tra Beroaldo e Codro«) und 53-70 (»Poesia latina e umanesimo nella Bologna bentivolesca«); Gian Mario Anselmi, Luisa Avellini, Ezio Raimondi: Il Rinascimento padano. In: Letteratura italiana. Storia e geografia. II, 1. Torino: Einaudi 1988, S. 521-591. Nachforschungen an den Bibliotheken von Ancona und Macerata blieben ohne Ergebnis. Siehe den Artikel von Teresa Basini in: Dizionario biografico degli Italiani I (Roma 1960), S. 148f.; von derselben Verf.: Spigolature e dipanature intorno alle opere di G. F. Achillini. In: Paideia 11 (1956), S. 254-262; Paola Maria Traversa: Il »Fidele« di Giovanni Filoteo Achillini. Poesia, sapienza e »divina« conoscenza. Modena: Mucchi 1992. Zu Achillini als Sammler und Antiquar s. Leandro Alberti: Descrittione di tutta Italia. Venezia: appresso Lodovico degli Avanzi 1568, Bl. 335v; vgl. Sandro De Maria: Fra Corte e Studio. La cultura antiquaria a Bologna nell'età dei Bentivoglio. In: Il contributo dell'Università di Bologna alla storia della città. L'Evo Antico. A cura di G. A. Mansuelli e G. Susini. Comune di Bologna 1989, S. 151-216: 193-198; Achillinis Sammlerleidenschaft (aber auch das Gefallen, das er am Wunderbaren, an der Mythologie, der Magie, am Bizarren findet) spiegelt sich auch in seinen »Epistole al magnifîcentissimo missere Antonio Rudolphe Germanico ove si narra tutte le sorti di precióse petre, le Sibille, la varietà de l'armi antiche et moderne, musici instrumenti, colossi, le nove Muse, diverse arbori, cavalcature, antichi e moderni habiti, altri dotti et giocosi tratti et più miraculosi accidenti« (ohne Datum und Druckerangabe, vorhanden in der Bibl. Marciana Venedig); vgl. Claudio Franzoni: Le raccolte del »Theatro« di Ombrane e il viaggio in oriente del pittore: Le »Epistole« di Giovanni Filoteo Achillini. In: Rivista di letteratura italiana 8 (1990), S. 287-335.

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wie wir schon sahen, eine umfassende Sammlung von italienischen und lateinischen Gedichten auf den Tod des Serafino Aquilano, bei deren Vorbereitung er vermutlich mit zahlreichen Dichtern seiner Zeit persönlichen Kontakt aufnehmen mußte; im Band erscheinen bekannte Namen, wie die des Niccolò da Correggio, Bernardo Bibbiena, Angelo Colocci, Antonio Tebaldeo, Panfilo Sassi; die Biographie des Serafino schrieb Vincenzo Calmeta.52 Achillini hat sich auch selbst in der modischen Liebeslyrik versucht und hat 1511 eine der frühesten literarischen Akademien in Bologna, die Accademia del Viridario, gegründet. Achillini nennt den Grund für den unvermittelten Abbruch seines Gedichts: er will ein neues Werk in Angriff nehmen; mit anderen Worten, er hat das Interesse an dem mythologischen Gedicht, das er unter der Feder hat, verloren. Das neue Werk ist der Fidele, ein umfangreiches, stark religiös geprägtes Werk in terza rima, das sich in die Tradition der Commedia Dantes stellt und dezidiert moralisch-didaktische Anliegen hat.53 Das Werk wurde, soweit wir wissen, nicht gedruckt und ist nur in zwei (unvollständigen) autographen Handschriften erhalten.54 In Visionen sieht der Autor sich in der Gesellschaft Dantes, Petrarcas, Guido Guinizellis und einer schönen Frau, der Fede, die ihn in göttlichem Auftrag in allen Wissensgebieten unterrichten und in die Geheimnisse des christlichen Glaubens einführen. Die enzyklopädische Gelehrsamkeit, die schon den Viridario kennzeichnete, kommt in dem neuen Werk voll zum Zug. Wenn Achillini im letzten Gesang des Viridario die Sibylle den christlichen Glauben darlegen läßt, so vollzieht er im Grunde hier bereits die Abkehr vom mythologischen Gedicht; er wendet, wie er selbst sagt, sein verirrtes Herz zu Gott, der ihn mit seinem Licht erleuchtet hat (Bl. 183r). Die thematische Nähe dieses Teils des Viridario zum Fidele macht es wahrscheinlich, daß Achillini ihn nicht schon 1504, sondern erst im Zusammenhang mit der späteren Drucklegung des Werks verfaßt hat.55 Bei genauerem Hinsehen gewinnt man den Eindruck, daß auch Stagi ursprünglich ein anderes Gedicht schreiben wollte, als das, das er fertiggestellt hat. Im Epilog deutet er an, daß Pantesilea später am Troianischen 52

Collettanee grece latine e vulgari per diversi auctori moderni nella morte de l'ardente Seraphino Aquilano per Gioanne Philotheo Achillini Bolognese in uno corpo redutte. Bologna: per Caligula Bazaliero 1504 (Widmung an die Herzogin von Urbino Elisabetta Gonzaga). Achillini vollzieht die Bembo-Wende nicht mit und protestiert noch 1536, als die Weichen bereits gestellt sind, in seinen »Annotationi della volgar lingua« (Bologna: per Vincenzo Bonardo da Parma e Marcantonio da Carpo) gegen das Monopol des Toskanischen und plädiert für ein »accrescimento della volgar lingua« mit Hilfe von Wörtern anderer Regionen; vgl. Maurizio Vitale: Dottrina e lingua di G. F. Achillini teorico della lingua cortigiana. In: Romania et Slavia Adriatica (Festschrift für Ζ. Muljacic). Hg. von G. Holtus und J. Kramer. Hamburg: Buske 1987, S. 511-524.

53

Siehe Traversa: II »Fidele« di Giovanni Filoteo Achillini. Im Besitz der Universitätsbibliothek (cod. 410) und der Bibl. dell'Archiginnasio (cod. Β 3131) in Bologna. Vgl. Traversa: II »Fidele«, S. 33; die antiken Mythen erscheinen im »Fidele« in einer »ottica rigorosamente cristiana« (ebd., S. 184).

54

55

Mythologisches

Gedicht und Ritterroman im frühen

Cinquecento

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Krieg teilnahm und dort ein Vorbild der Kriegskunst war, doch davon wolle er in einem neuen Buch berichten. Wenn die Rolle der Pantesilea im Troianischen Krieg, die bekannteste Episode in ihrem Leben, die u. a. auch im Roman de Troie erzählt wird, in einem Gedicht, das sich ihre Heldentaten zum Gegenstand wählt, ausgespart wird, so überrascht dies, zumal Stagi den Tod der Pantesilea, die Verwandlung ihrer Seele in einen Stern und ihres Körpers in eine Blume,56 wieder in aller Ausführlichkeit beschreibt, also das Werk doch wohl bis zu ihrem Tode fortführen wollte. Offenbar hatte auch er den Eindruck, daß sein Gedicht ausuferte und zu einem schnellen Abschluß gebracht werden mußte. So endet des Gedicht ungewöhnlich mit dem siebten Buch, statt die kanonischen zehn oder zwölf Bücher zu umfassen. Die Tatsache, daß 1503-1504 in schneller Folge drei umfangreiche mythologische Gedichte entstehen, könnte zu der Annahme verleiten, das mythologische >Epos< erlebe zu Beginn des Cinquecento, in einer Zeit der Krise der Ritterdichtung, in Italien eine neue Blüte. Ein solcher Eindruck täuscht jedoch. Casadei bemerkt zu Recht: »L'importanza e la popolarità dei poemi classico-mitologici, pur essendo [...] notevoli, sembrano limitate di fronte a quelle che i poemi cavallereschi conservano ancora all'inizio del Cinquecento; in ogni caso, la funzione di quei testi nel panorama letterario dell'epoca non appare così dirompente e alternativa come i proclami in essi contenuti potrebbero far credere«.57 Caracini steht, wie wir sahen, in der breiten Strömung der ottava ri'ma-Dichtung, von ihm konnten keine neuen Impulse ausgehen; er begreift im übrigen die thebanischen Mythen als historisches Geschehen, das er aus christlicher Sicht deutet. Stagi und Achillini hingegen stellen sich in die Tradition der neuen italienischen Dichtung und orientieren sich an anerkannten Mustern (Boccaccio, Poliziano). Doch gelingt es ihnen nicht, das mythologische Gedicht als eine ernsthafte Alternative zum Ritterroman zu präsentieren, als ein Genus mit eigenem Zuschnitt und eigenem Profil. Die heterogenen Elemente in den Gedichten werden in keine überzeugende Einheit zusammengeführt: man denke nur an Achillinis Vorstellung von der Dichtung als einer Addition belehrender und unterhaltsamer Elemente oder an das oft unvermittelte Nebeneinander von mythischen, höfisch-ritterlichen und gegenwartsbezogenen Episoden. Einzelne Elemente in ihren Werken sind durchaus vielversprechend (so hat Ariost vermutlich die Anregung für seinen Schlußgesang, in dem die kulturelle Elite der Zeit freudig das neue Gedicht begrüßt, Achillinis Gedicht entnommen 58 ), doch fehlt den Dichtern eine klare Vorstellung von ihren Zielen und der Sinn für das richtige Maß und die richtigen Proportionen. Sie verlieren beide offenbar selbst die Lust an ihren Werken und brechen sie vorzeitig ab. Achillini sieht die wichtigere Aufgabe

56 57 58

»E per tante virtù che Ί ciel le dona J Celidonia la chiama ogni persona« (S. 250). Casadei: Il percorso, S. 36. Vgl. Visani: La tecnica dell'esordio, Anm. 99.

Bodo Guthmiiller

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in einem christlichen Werk in der Tradition Dantes. Das mythologische Gedicht hat auf diese Weise in Italien eine Chance verpaßt. Schon bald wird Ariost, der bei dem geringen Erfolg des mythologischen Gedichts vermutlich nie daran gedacht hat, sich in diesem Genus zu versuchen,59 seinen Orlando Furioso publizieren, dessen gewaltiger Erfolg den Ritterroman zum angesehensten Genus in der erzählenden Dichtung des Cinquecento macht und die Versuche einer Neubelebung des mythologischen >Epos< schnell vergessen läßt.

59

Casadei: Il percorso, S. 38.

Thomas Stauder

Italienische Mythenburleske des 16. Jahrhunderts: Girolamo Amelonghis Gigantea und ihre Fortsetzungen

Einführung Der Mythos vom Kampf der Riesen gegen die Götter des Olymp, die sogenannte >Gigantomachieburlesk< verstehe, verweise ich auf folgende Definition aus meiner 1993 erschienenen Dissertation Die literarische Travestie·. Travestie ist im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Systematik die Bezeichnung für eine Schreibweise, welche innerhalb der Historie in unterschiedlichen literarischen Gattungen realisiert wird und deren Charakteristikum ein einen bestimmten literarischen Einzeltext komisierendes Verfahren ist, bei dem die Fabel dieser Vorlage in ihren wesentlichen Zügen erhalten bleibt, der Stil der Vorlage jedoch durchgängig im Sinne einer Herabstimmung verändert wird. - Wichtigste benachbarte Schreibweisen, von denen die Travestie 3

4

Vgl. dazu beispielsweise seinen Aufsatz: Lateinische und volkssprachliche Kommentare zu den Metamorphosen. In B. G.: Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance. Weinheim: Acta Humaniora 1986, hierS. 37-46. 1612 (Florenz) und 1772 (Yverdón [= Florenz]) wurden die drei Texte zusammen in einem Band gedruckt.

Italienische Mythenburleske des 16. Jahrhunderts

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abzugrenzen ist, sind die Parodie und das Burleske; während wir mit Parodie jenes Verfahren bezeichnen, bei dem im Gegensatz zur Travestie die Komisiening einer literarischen Vorlage unter Beibehaltung charakteristischer stilistischer Eigenheiten derselben erfolgt, nennen wir burlesk jenes Komisieningsverfahren, welches mit der Travestie die niedrigkomische Sujet-Behandlung gemeinsam hat, sich anders als diese jedoch nicht auf eine bestimmte literarische Vorlage bezieht.5

Es muß an dieser Stelle darauf verzichtet werden, die methodologischen Grundlagen dieser Definition, die auf einer Sichtung der jeweiligen Wortgeschichte in Deutschland, England, Frankreich und Italien beruht, hier im einzelnen darzulegen; es sei nur angedeutet, daß der Begriff der Schreibweise der Gattungstheorie Klaus Hempfers 6 und die Unterscheidung zwischen Parodie und Travestie den Forschungen von Verweyen/Witting 7 verpflichtet ist. Anhand dieser Definition ist jedoch schon ersichtlich, weshalb die komisierende Mythenrezeption sehr viel häufiger zur Burleske denn zur Travestie führt: Da die Quellen für einen bestimmten Mythos ja häufig gleich mehrere sind, die untereinander selten genau übereinstimmen, und der Autor der neuzeitlichen Verarbeitung in der Regel eine gewisse Willkür bei der Auswahl und Kompilation der Details an den Tag legt, ist die für die Travestie nötige, präzise Einzeltext-Referenz nur selten gegeben. Die zweite Vorüberlegung betrifft die geistesgeschichtliche Funktion des Burlesken, welche fast immer parallel verläuft zur Funktion der Travestie, aber bisweilen konträr zur Funktion der Parodie.8 Um nur das Beispiel Frankreichs zu nehmen: Dort verfaßten während der »Querelle des Anciens et des Modernes« im 17. Jahrhundert die Parteigänger der Neuzeit zahlreiche Mythen-Burlesken und Travestien berühmter Werke der Antike (am bekanntesten Paul Scarrons Virgile travesty, 1648-52), während die Traditionalisten, sofern sie sich denn überhaupt mit komischer Dichtung befaßten, einzig und allein die Form des heroikomischen Epos 9 pflegten (am bekanntesten Le lutrin von Boileau, 1674). Dies ist insofern nicht schwer zu erklären, als die Traditionalisten nicht nur die »bassesse du style« von Burleske und Travestie verachteten (vgl. dazu Boileaus Art poétique), sondern diese beiden Schreibweisen im Unterschied zur Gattung des Heroikomischen (wo es ja immerhin die pseudohomerische Batrachomyomachie gab) auch über keine anerkannten Vorbilder in der Antike verfügten. 10 Die 5

6 7

8

9

10

Nach Thomas Stauder: Die literarische Travestie - Terminologische Systematik und paradigmatische Analyse (Deutschland, England, Frankreich, Italien). Frankfurt/M.: Peter Lang 1993, S. 39. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie - Information und Synthese. München: Fink 1973. Vgl. u. a.: Theodor Verweyen / Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur - Eine systematische Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. Für eine ausführlicher Darstellung dieses Aspekts vgl. Die literarische Travestie (wie Anm. 5). In klassifikatorischer Hinsicht ist das heroikomische Epos eine Spezialform der Parodie (eine historische Gattung innerhalb der übergeordneten Schreibweise). Hierzu mein Aufsatz, Die literarische Travestie aus bewertungsgeschichtlicher Sicht (am Beispiel Frankreichs im 17. Jahrhundert). In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte (1993), Heft 1-2, S. 74-94.

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Verknüpfung von ehemals >erhabenen< Sujets mit niedrigkomischem Stil in Burleske und Travestie kam jedoch den Anhängern der Neuzeit in gleich zweifacher Hinsicht gelegen: Einerseits beschädigte man durch diese Familiarisierung die vordem unantastbare Autorität der Antike bzw. ihrer Exegeten, andererseits genügte man durch diese Form von Durchbrechung des literarischen Decorums der Forderung des Manierismus nach Verblüffung des Lesers. Die Kenntnis der Rolle, die das Burleske in den literarischen Fehden des 17. Jahrhunderts in Frankreich gespielt hat, erleichtert uns jedenfalls die richtige Einschätzung des Burlesken in italienischen Gigantomachien der Mitte des 16. Jahrhunderts, da sie uns eine bestimmte Art der Funktionalisierung schon von vornherein erwarten läßt.

1. Girolamo Amelonghi, La Gigantea (entstanden 1547, Erstdruck 1566) Die Vorrede zur Gigantea ist betitelt »Al famosissimo Etrusco« und neben der Datierung »Firenze, XV d'Aprile del XLVII« unterzeichnet mit »II Forabosco«. Letzteres ist eines von mehreren überlieferten Pseudonymen des Girolamo Amelonghi, der seinen Zeitgenossen auch als »il Gobbo da Pisa« bekannt war, und der sich auch hinter den Namen »Martin Paladel« und »Ser Galigastro da Varlecchio« verbarg." Der »Etrusco«, dem das Werk gewidmet ist, war kein Geringerer als Alfonso de' Pazzi aus der bekannten floren tinischen Familie, dessen Gedichte Amelonghi 1557 herausgeben sollte, mit dem er jedoch bereits vorher engen Kontakt pflegte. Von seinen Zeitgenossen Antonfrancesco Doni und Antonfrancesco Grazzini (alias »II Lasca«) wurde Amelonghi vorgehalten, er habe sich einer bereits zuvor existenten Gigantomachie eines gewissen Betto Arrighi bedient, was bis hin zum Vorwurf des Plagiats ging. Die Stichhaltigkeit dieser Verdächtigungen kann aus heutiger Sicht nicht mehr verifiziert werden, da weder Lebensdaten des Betto Arrighi noch ein Druckjahr seines angeblichen Werks überliefert sind. Es erscheint jedoch nicht abwegig anzunehmen, daß vor Amelonghi schon ein anderer Italiener in der ersten Hälfte des Cinquecento auf die Idee gekommen sein könnte, diesen mythologischen Stoff auf burleske Weise zu behandeln; falls Amelonghi dann dessen Manuskript zur Ausgangsbasis seines eigenen komischen Epos genommen hätte, so wäre dies im Zeitalter der imitatio und aemulatio keinesfalls ungewöhnlich gewesen und verdiente wohl auch keinen Tadel. Betrachten wir nun die wichtigsten Stellen aus der Vorrede.

11

Zu den Pseudonymen und allgemein zur Biographie Amelonghis: Dizionario biografico degli italiani. Hg. vom Istituto della Enciclopedia Italiana. Bd. 2. Albicante-Ammannati, Roma: Treccani 1960. (Eines der wenigen Nachschlagewerke, welches überhaupt Informationen über ihn bietet.)

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Io son certo Magnifico: E sempre ghiribizzosissimo Etrusco, che questi annotomisti de i quinci, & quindi (che fanno in pasticci il Petrarca, in intingol' Dante, & in fricassea il Boccaccio) diranno alla bella prima, o ch'io habbia dato nel pazzo da dovero havendo perso il Tempo (se perder tempo si dee chiamare) in comporre questa mia Gigantea, e ch'era più lodevol esercitare l'ingegno in cose più alte, più utili, e più belle, e non considereranno che la presente è altissima, utilissima e bellissima. [...] Qual utilità più grande che componendo a ghiri, mostrare in quanto errore cascono ogni giorno coloro, che sballano in capo a cent'anni un'opera, la quale ha bisogno d'esser' accompagnata con spada e cappa mentre, che la và fuori, portando pericolo spesso non essere insieme con l'Autore tagliata in mille pezzi, da i Rovesci da i fendenti di tanti masnadieri, & d'assassini, che sono hoggi nei fioriti e ben coltivati campi della Toscana lingua, i quali per uno accento grave, circumflesso acuto, o b molle, che dir mi voglia, si condurrebbono in steccato con Cicerone. [...] Voi se non altro m'insegnaste provisare a catafascio & comporre nel modo che volete giurandomi che un Sonetto havea a esser' cominciato co i terzetti e finito co[n] [l]e quadernali, mostrandomi con ragion' filosofiche che il poetare à ghiri, oltre al piacer che porta secho, è bramato da ognuno per non esser sottoposto (come gli altri stili) a gravità di sentenze a forbite lingue, a sofistichi argomenti, e finalmente a velenose e masticate censure. [...] 12

Dieses lange Zitat erhält seine Berechtigung aus seinem Aussagewert hinsichtlich der Stellung von Amelonghis Gigantea innerhalb der literarischen Grabenkämpfe des 16. Jahrhunderts. Ganz zu Beginn werden mit spöttischer Küchenterminologie die >Verwurster< der tre corone des Trecento, also Dantes, Petrarcas und Boccaccios, gegeißelt; sodann wird die Gefahr betont, die jenen frühen literarischen Zeugnissen des Italienischen von den selbsternannten Sprachwächtern drohe; am Schluß wird es als ein Vorteil hervorgehoben, daß das vorliegende Werk nicht dem Urteil gelehrter Pedanten unterworfen sei. Man muß kein Spezialist für das Cinquecento sein, um zu erkennen, daß hiermit humanistische Gelehrte vom Schlage eines Pietro Bembo angegriffen werden sollten.13 Dessen Prose della volgar lingua erschienen erstmals 1525 und propagierten das Ideal eines an den Vorbildern des Trecento geschulten, literarisch veredelten Italienisch. Genauso wie Bembo 1515 in dem an Pico della Mirandola gerichteten Sendschreiben De imitatione für das Lateinische die Nachahmung Ciceros in der Prosa und Vergils in der Dichtung gefordert hatte, forderte er nun für das Italienische die Nachahmung Boccaccios in der Prosa und Petrarcas in der Dichtung, d. h. er übertrug das Autoritätsprinzip des Humanismus auf die Volkssprache. Gegen diese starren Vorschriften aber wandte sich nicht nur Amelonghi, sondern auch zahlreiche andere »anticlassicisti del Cinquecento«,14 deren bekanntester wohl Francesco Berni war. Auch der vor allem als Komödienautor zu Nachruhm gelangte Pietro Aretino schlug sich wacker gegen die Pedanten, und in einem Juni 1537 datierten Brief, der wenig später veröffentlicht wurde, finden sich Formulierungen, die auf verblüffende Weise mit der Vorrede Amelonghis übereinstimmen: 12

13

14

Girolamo Amelonghi, Michelangelo Serafini und Antonfrancesco Grazzini: La Gigantea et La Nanea insieme con La GueiTa de' Mostri. Firenze 1612, S. 3-4. Zu Bembo: Italienische Literaturgeschichte. Hg. von Volker Kapp. Stuttgart: Metzler 1992, S. 133-139. So der Titel der Monographie von Nino Borsellino: Gli anticlassicisti del Cinquecento. Roma-Bari: Laterza 1973.

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E per dirvelo, il Petrarca e il Boccaccio sono imitati da chi esprime i concetti suoi con la dolcezza e con la leggiadria con cui dolcemente e leggiadramente essi andarono esprimendo i loro, e non da chi gli saccheggia, non pur dei >quinci< dei >quindi< e dei >soventi< e degli >snelliThron< zu helfen. Es handelt sich also bei Serafini um eine ganz andere Funktionalisierung des Mythos als bei Amelonghi. Nach den beiden Vorreden beginnt der eigentliche Text der Nanea damit, daß Zeus die Zwerge um Hilfe bei der Wiedereroberung des Olymp aus der Hand der Riesen bittet. Formal stellen wir fest, daß auch dieses Epyllion wie schon die Gigantea in Oktaven gehalten ist; dies ist nicht weiter verwunderlich, war die Stanze doch die beliebteste Strophenform des Cinquecento, die sowohl in ernster als auch komischer Epik zum Einsatz kam. Die Bewaffnung der Zwerge erinnert stark an die Rüstung der Frösche und Mäuse in der pseudohomerischen Batrachomyomachie, welche Serafini zweifellos bekannt war: Fagagnino, che dianzi alla sentenza Sua trasse i Nani per così bell'opra, Venne a le man con una vespa e senza Ago lasciolla, e per pugnai l'adopra. 46 Tutti costor di pelle di ranocchio 47 S'armano il petto, e gusci di baccelli Han per bracciali, e di spine le lance E di nicchi, e di ghiande ornan le guance. 48

Im Vergleich mit Amelonghis Gigantea tritt die Mythenburleske hier bei den Kämpfen um den Olymp stark in den Hintergrund, zweifellos wegen der ganz anderen Wirkungsabsicht Serafinis. Nichtsdestotrotz kann es sich unser Autor nicht verkneifen, zumindest den Kriegsgott Mars hier wieder als feigen Aufschneider zu verspotten:

46 47

48

Serafini, S. 74. Hier sogar ausdrückliche Erwähnung eines Frosches, was den Bezug zur machie erhärtet. Serafini, S. 75.

Batrachomyo-

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E nondimeno à questa volta panni Che Marte intanto vi lasciò pur l'anni. Perch'era stracco, disarmato, e peste Haveva l'ossa, si fuggì nel letto, Ne hebbe ardir nella zuffa celeste Di nuovo ritornar, sendo infarsetto. 49 Marte diceva io hò fatto io hò detto Et era stato à dormir com'un tasso Mentre che Ί mondo, e Ί Ciel era in fracasso.50

Trotz des Größenunterschieds gelingt es den Zwergen, die Riesen zu besiegen und den Göttern wieder zur Macht zu verhelfen; ein Festmahl im Olymp beschließt die Nanea. Übertragen auf den Zusammenhang der Accademia Fiorentina hätte dies bedeutet, daß die »Aramei« als die Usurpatoren der Akademie aus dieser vertrieben worden wären und deren ursprünglichen Herrschern, den »Umidi«, wieder zu ihrem Recht verholfen worden wäre. Dies blieb freilich ein frommer Wunsch, denn in Wirklichkeit konnten die »Aramei« ihre Machtposition noch stärker ausbauen und sogar eines der bekanntesten Gründungsmitglieder der »Umidi«, Grazzini nämlich (der die verfahrene Situation so eloquent beklagt hatte), verließ noch im selben Jahr die Akademie. In klassifikatorischer Hinsicht ist die Nanea unter Zuhilfenahme modernster Intertextualitätstheorie also weniger eine Burleske als vielmehr eine Kontrafaktur zu nennen, da in ihr die komisierende Verspottung der antiken Mythologie eindeutig in den Hintergrund tritt zugunsten der politischen Funktionalisierung innerhalb der zeitgenössischen Kämpfe um die Accademia Fiorentina. Auf dem Symposium der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Terminologie der Literaturwissenschaft, welches 1986 in Würzburg stattfand, hat Gunther Witting >Kontrafaktur< folgendermaßen definiert: Bezeichnung für ein Verfahren, bei dem charakteristische Konstitutionsmerkmale der Vorlage übernommen werden, um ihr kommunikatives Potential für die Formulierung einer eigenen Botschaft auszunutzen. 51

Was Serafini aus Amelonghis Gigantea übernimmt, ist vor allem die Struktur eines komisch ausgestalteten Kampfes um die Herrschaft im Olymp; Amelonghis »Botschaft« wird durch Serafinis eigene, ganz anders geartete, ersetzt. Der Begriff der Kontrafaktur scheint mir deshalb zur Beschreibung der Nanea sehr gut geeignet.

49 50 51

Serafini, S. 96-97. Serafini, S. 123. G. Witting: Über einige Schwierigkeiten beim Isolieren einer Schreibweise. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart: Metzler 1988, S. 274-288, hier S. 286.

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3. Antonfrancesco Grazzini (alias »II Lasca«), La guerra de' (entstanden 1547, Erstdruck 1584)

mostri

Antonfrancesco Grazzini ist, was seine Stellung in der Literaturgeschichte betrifft, eine weitaus bedeutendere Persönlichkeit als Amelonghi oder Serafini. Seinen fischigen Beinamen »II Lasca« (>die BarbeErreurs amoureuses< von Pontus de Tyard

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nimmt Cariteos Freund und Kollege Sannazaro in einer themenverwandten Canzone in einem analogen Katalog der gepeinigten mythischen Helden zusammen mit den Danaiden, Sisyphus und Tantalus wörtlich auch auf Ixion Bezug.6 Wer aber war nun dieser Ixion? Vergegenwärtigen wir uns den Mythos, den Aristoteles als Paradigma eines pathetischen Stoffes nennt.7 Jupiter war zu Ohren gekommen, daß Ixion versucht hatte, Juno zu verführen. Um ihn auf die Probe zu stellen, formte der Göttervater aus einer Wolke ein Abbild seiner Gattin und legte es Ixion ins Bett. Ixion wurde in flagranti ertappt und zur Strafe auf ein feuriges Rad geflochten, das sich für immer am Himmel drehte.8 Die ewige Dauer der von Jupiter verhängten Strafe erinnert im Zusammenhang der Erreurs amoureuses an die Devise Amour immortelle, die Tyard an den Schluß eines jeden der drei Gedichtbände setzte.9 Sicherlich ist es auch kein Zufall, daß das dem Ixion-Gedicht unmittelbar folgende Sonett 1,4 auf eben diese Devise hinkomponiert ist, die am Textende dieselbe Stelle einnimmt wie in I, 3 die Figur des »dolent Ixion«: Tristesse, dueil ou peine tant soit grande, N'esteindra point mon amour immortelle.10

Diese amour immortelle wird im Laufe des Textes identisch mit einer douleur immortelle.11 Beide Formulierungen tauchen an strategisch wichtigen Punkten immer wieder auf.12

2. Der ewige Kreislauf Für Tyard ist Ixion also der Prototyp des leidenden Menschen. Werfen wir nun einen Blick auf die Behandlung des Ixion-Stoffes in den zeitgenössischen Text- und Bildquellen des 16. Jahrhunderts, so fällt auf, daß er bei Giraldi und Alciati überhaupt nicht erwähnt wird.13 Natale Conti dagegen greift ihn auf als ein moralisches Exempel für einen zu Recht bestraften 6 7 8 9 10 11 12

13

Vgl. die Canzone LXXV (»Qual pena, lasso«), V. 81-96. In: Iacopo Sannazaro: Sonetti e canzoni. In: ders.: Opere volgari. Hg. von A. Mauro. Bari 1961, S. 190-193, S. 192. Vgl. Poetik, 18. Vgl. Diodorus Siculus: Bibliothek, IV, 69, 3-5, und Pindar: Pythische Oden, II: »Für Hieron von Syrakus«, V. 21-48. Vgl. den Textkommentar von McClelland, S. 97, Anm. 1. 1,4, S. 97f„ V. 13-14. (Meine Kursivsetzung) Vgl. I, 19, S. 112f„ V. 7,1, 20, S. 113-116, V. 18, 20, 59 und 65. Vgl. I, 19, V. 13f.: »Que je languis en douleur immortelle, / Mourant sans fin pour ne pouvoir mourir«, und 1,20, V. 16: »Que mourant je suis vif en douleur immortelle.« (Meine Kursivsetzung) Vgl. Lilio Gregorio Giraldi: De deis gentium. Basel 1548. Nachdruck. Hg. von S. Orgel. New York/London 1976 und Andreas Alciatus: Emblematum libellus. Paris 1542. Nachdruck. Hg. von A. Buck. Darmstadt 1991.

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Abb. 1 Β. Aneau: Pietà poesis. Lyon 1552, S. 29 (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 497.19 Quod. (3)).

Frevler. 14 In der Picta poesis bzw. Imagination poetique von Barthélémy Aneau erscheint Ixion ebenfalls als Sinnbild des reuevoll Büßenden mit der Devise »Sequitur sua poena nocentem« 15 bzw. »La peine suyet le malfaicteur« 16 (Abb. 1). Obwohl auch Aneaus Emblem moralistisch auf die Gewissensqualen eines Übeltäters abhebt, zeigt sein Text gegenüber Conti eine erhebliche psychologische Vertiefung. Die Qualen, die das Schuldbewußtsein mit sich bringt, gleichen dem zerrissenen seelischen Zustand des unglücklich Verliebten bei Tyard: L'ESPRIT coupable en soy, de son offense, L'esprit qui prend de soy mesme vengeance, Vit en despit de soy: malgré sa vie, Vif à regret quand n'a de vivre envie. Et quand il veult mourir: il se remord. Sentant en soy les playes de sa mort. Point toutesfois il ne meurt, mais endure, Et porte en soy sa Roe, & sa Torture.

14 15 16

Vgl. Natalis Comitis Mythologiae, VI, 16, Venezia 1567, f. 186v°, 187r°. B. Aneau: Picta poesis. Lyon 1552, S. 29. Ders.: Imagination poetique. Lyon 1552, S. 40.

Die Figur des Ixion in den >Erreurs amoureuses< von Pontus de Tyard

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L'ors quand bourreau de soy mesme il se sent: Bien il voudroit hors de soy estre absent. Mais en soy est. EN TELLE passion Se fuyt, & suyt: comme en Roë IXION.17

Es geht um dieselben antagonistischen Kräfte: das Sterbenwollen und Lebenmüssen, mit denen der Schuldbewußte sich selbst ähnlich dem lyrischen Ich der Erreurs amoureuses quält. Dieser Widerspruch gilt genau wie das Zusammenfallen der entgegengesetzten Bewegungen von Flucht und Verfolgung für Tyard als ein Erkennungszeichen der Liebe: Si c'est aymer, après longue poursuite, Pensant prendre la fuite, Suyvre le lieu duquel je me retire, Amour m'ha fait vassal de son empire.18

Gleichzeitige fuite und poursuite kann nur zu einem absurden, qualvollen Zirkel führen. In der Imagination poetique sehen wir Ixion nicht wie in späteren Darstellungen auf die Speichen des Rades geflochten. Sein Körper folgt der Krümmung des Rades. Ixion selbst wird eins mit seiner Folter: »[II] porte en soy sa Roë, & sa Torture«, oder mit Tyards Worten ausgedrückt: »Mon mal avec moy j'emporte«. 19 Ist das Folterrad Symbol der Liebesqualen, so ist seine Kreisbewegung Symbol für deren Unabänderlickeit. Diese Zirkelstruktur ist in den Erreurs amoureuses auch Thema im Sonett I, 24, in dem ein Fingerring für Pasithée, »cest anneau parfait en forme ronde«, allegorisch betrachtet wird und das mit den Worten endet: »Malgré tout sort sans fin mon amour dure.«20 Wie wichtig das Symbol des Ringes für Tyard ist, deutet allein das in der Edition von 1549 am Anfang des Buches abgedruckte Porträt an, das die Geliebte darstellt, die demonstrativ einen Fingerring in der Hand hält (Abb. 2). Dieser Ring zeigt einerseits die Vollkommenheit der Geliebten21 und der ewigen Liebe, die das lyrische Ich ihr entgegenbringt, und andererseits den fatalen Kreislauf, in den diese Liebe ihn unglücklicherweise bringt. Die Symbolik von anneau, roue, cercle und sphère setzt sich in vielfältiger Weise im gesamten Text fort. Sie schlägt sich nieder im Bild der Sonne, mit der Pasithée verglichen wird und die den ganzen Erdkreis erhellt,22 aber auch in »la roue infatigable/ Du cercle tiers«,23 d. h. der Umlaufbahn der Venus, die für die Verliebtheit des lyrischen Ichs verantwortlich ist. Einen ausge-

17 18 19 20 21

22 23

Ebd. I, 28, S. 123-125, V. 29-32. I, 32, S. 128f„ V. 35. I,24,S. 119f„ V. 1 und 14. Zur platonischen Vorstellung von Kreis und Kugel als der vollkommensten geometrischen Form vgl. The Universe of Pontus de Tyard. A Critical Edition of L'»Univers«. Hg. von J. C. Lapp. Cornell University Press 1950, S. 8f. Vgl. I, 10, S. 102f., V. 1 If.: »Si partouct luict sa grande sphere ronde, / D'elle le nom s'estend par tout le monde [...].« (Meine Kursivsetzung) 1,75, S. 169f., V. If.

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Abb. 2 Tyard: Les erreurs amoureuses. Lyon 1549, S. 2 (Lyon, Bibl. munie., Rés. 357.531).

s p r o c h e n e n circulus vitiosus beschreiben die p h y s i o l o g i s c h - p s y c h i s c h e n Zustände, d i e der L i e b e n d e an sich selbst beobachtet und die w i e in einer Kettenreaktion mit einer unausweichlichen physikalischen G e s e t z m ä ß i g k e i t ablaufen, u m am Ende verstärkt w i e d e r von vorn zu beginnen: L'eau sur ma face en ce poinct distillante Vient à mes yeux (j'enten mes tristes pleurs) Par l'alambic d'amoureuses chaleurs, Auquel désir tient sa flame cuisante. Mes forts souspirs rendent ceste eau bouillante, Dont plus en sort, plus croissent mes douleurs: Car la raison pour laquelle je meurs Vient de l'ardeur d'une chaleur brûlante. Mes pleurs vouloyent refroidir ou esteindre Le feu qui m'ard: et mes souspirs ardens Vouloient secher mon pleurer ennuyeux.

Die Figur des Ixion in den >Erreurs amoureuses< von Pontus de Tyard

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Mais (las) mes pleurs n'ont sceu leur but atteindre, Et mes souspirs plus croissent au-dedens, Plus font sortir de larmes de mes yeux. 24

Die Tränen kommen dadurch zustande, daß das Feuer im Herzen die Körperflüssigkeit in die Augen steigen läßt. Durch die Seufzer sollen diese Tränen getrocknet werden. Doch da der Luftstrom das Feuer noch weiter entfacht, schwillt der Tränenstrom nur noch weiter an. Derselbe Kreislauf spielt sich auf der Ebene der Gefühle ab. Trauer, Sehnsucht und Furcht vollführen in Verbindung mit den oben beschriebenen physischen Reaktionen dasselbe Ringelspiel: Le ferme dueil prenant en mon coeur vie Fut engendré par l'amoureuse flame Et se nounit des soupirs de mon ame, Laquelle s'est à toy toute asservie. La grande ardeur d'amour, qui me convie A te servir et qui mon coeur enfiarne, La jouissance incessamment reclame Par le souhait de desireuse envie. Mais ce souhait, lequel mon bien desire, N'est plustot né que crainte vehemente M'ha j à du tout l'esperance ravie. En désirant j e brûle et puis souspire, N'esperant rien, et souspirant j'augmente Le ferme dueil prenant en mon coeur vie. 25

Der Kummer hat seinen Ursprung im Feuer der Liebe, das sich von den Seufzern der Seele nährt. Dieses Feuer ruft im Herzen Sehnsüchte hervor, doch die Sehnsüchte lösen ihrerseits Ängste aus, die jegliche Hoffnung auf Erfüllung zunichte machen. Der Liebende brennt vor Verlangen, gleichzeitig seufzt er über seine hoffnungslose Lage. Die Seufzer fachen wiederum mit ihrem Luftstrom das Feuer weiter an und vermehren so seinen Kummer: »Le ferme dueil prenant en mon coeur vie«. Der letzte Vers ist identisch mit dem ersten. Somit ist sinnfällig auch auf der formalen Ebene der Kreis geschlossen. Das Folterrad des Ixion dreht sich von neuem. In der Struktur von Tyards sogenanntem »sonnet serpentin« wird das Ringmotiv gleichsam zum Uroboros, zur mystischen Schlange, die sich in den Schwanz beißt, einem in der Emblematik des 16. Jahrhunderts sehr beliebten Motiv (Abb. 3), das nicht nur die Ewigkeit, sondern darüberhinaus ganz spezifisch auch die (überzeitliche) Dichtung symbolisiert, in der das lyrische Ich die hier geschilderten Qualen auslebt.

24 25

I, 31, S. 127. I, 25, S. 120f.

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Abb. 3 A. Alciati: Emblematum libellus. Paris 1542, S. 98 (Nachdruck Darmstadt 1991).

3. Das Schicksalsrad Schauen wir uns die Geschichte von Ixion aber noch etwas genauer an, so entdecken wir ein weiteres Motiv, das den Autor bewogen haben könnte, die mythische Figur des Ixion an den Anfang seiner Erreurs amoureuses zu stellen. Das geflügelte Rad des Ixion dreht sich, zumindest nach den ältesten Überlieferungen, am Himmel. Erst spätere Autoren versetzen diesen Helden in den Tartaros.26 Damit handelt es sich um einen der von Tyard bevorzugten Astralmythen, denen der Autor später in seinen philosophischen Abhandlungen seine ganz besondere Aufmerksamkeit widmet. Auch in den Erreurs amoureuses wird oft auf die Bedeutung der Himmelskörper für den Menschen angespielt. So wird zum Beispiel der Planet der Venus, unter dessen Einfluß das lyrische Ich steht, symbolisch mit dem Auge der Geliebten gleichgesetzt. Umgekehrt wird deren Gesicht im übertragenen Sinne zur Himmelssphäre oder zum Tierkreis, die sein Schicksal bestimmen.27 Vor dem Hintergrund dieser astrologischen Überzeugung erklärt sich

26

27

Vgl. Pauly-Wissowa: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. S. unter »Ixion«. Vgl. I, 53, S. 150: »L'Astre divin, lequel à ma naissance / Fut ascendant [...]«. Vgl. auch I, 65, S. 161: »Si l'Astre, guide à ma fatalité [...]«.

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auch die Resignation, mit der das sprechende Ich seine traurige Lage als unausweichlich betrachtet und akzeptiert. Nicht von ungefähr taucht der Name »Ixion« in den Erreurs amoureuses ein zweites Mal in der Ode Nr. 32 auf, die genau diese Fatalität zum Thema hat. Dieses Gedicht besteht aus neun fünfzeiligen Strophen, die alle als Frage formuliert sind. Achtmal setzt der Dichter ein mit den Worten »Que me sert« und fährt dann fort mit einem Bedingungssatz nach dem Muster: Was nützt mir diese ganze Geschichte, wenn sie doch zu nichts führt? Nachdem er sechs Beispiele seiner hoffnungslosen Situation geschildert hat, vergleicht sich der Liebende in der siebten Strophe wieder mit dem an seine Folter geketteten Ixion: Que me sert Γ affection De fuir ma passion, La pensant rendre moins forte, Si (comme fait Ixion) Mon mal avec moy j'emporte? 28

Alle acht Strophen bleiben als rhetorische Fragen im Raum stehen. Die neunte Strophe, von der der Leser eine Antwort erwartet, ist ihrerseits als Frage formuliert, die aber mehr noch als alle vorausgehenden Sätze eher wie ein verzweifelter Ausruf klingt: Mais pourquoy chante-je ainsi, Me plaignant du grief souci Où mon coeur est obstiné, Puisqu'à ce grand malheur-cy Les cieux m'ont predestiné? (41-45).

Die Ausweglosigkeit der Situation ist im Falle Ixions durch ein von den Göttern verhängtes, im Falle des sich mit ihm identifizierenden Liebenden bei Tyard durch ein von den Sternen vorherbestimmtes Fatum unabwendbar für immer besiegelt. Das Rad des Ixion (»l'amoureuse roue«) überlagert sich so sinnbildlich mit »la roue infatigable« 29 der astralen Umlaufbahnen. Im Sonett Nr. 38 wird explizit ein weiteres Rad genannt, das das hier beklagte Fatum versinnbildlicht, »la roue de la Fortune«: Fortune aussi, croissant l'affliction De ma douleur, tient sa roue arrestée Au lieu auquel malheur l'avoit voltée Pour me combler de perturbation. Amour me poinct à suy vre mon désir, Fortune m'offre un triste desplaisir Qui m'empeschant en douleur m'entretient. Las, j e vueil trop, mais la force me ftiyt: Amour me lasse et fortune me nuyt: L'un m'esperonne et l'autre me retient.30 28 29 30

I, 32, S. 128f., V. 31-35. I, 75, S. 169f., V. 1. 1,38, S. 136, V. 5-14.

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Im Gegensatz zur unaufhaltsamen Drehung des Folterrades steht das Schicksalsrad in einer ungünstigen Position still. Die sinnlose Kreisbewegung einerseits und der unerwünschte Stillstand andererseits ( - »L'un m'esperonne et l'autre me retient« - ) stimmen wiederum mit den in den Erreurs amoureuses so oft beschworenen antagonistischen Kräften in der Seele des Liebenden überein. Die symbolische Verschmelzung vom Folterrad des Ixion und dem Rad der Fortuna in I, 3 und I, 38 entspricht konsequent der parallelen Darstellung beider Motive in den zeitgenössischen Buchillustrationen. In den Quaestiones symbolicae des Achille Bocchi finden wir beispielsweise einen - allerdings bäuchlings - auf das Rad der Fortuna gebundenen Menschen, der an die Darstellung des Ixion in der Pida poesis erinnert (Abb. 1 und 4). In dem vielleicht eindrucksvollsten Gedicht des ersten Bandes, Disgrace, wird dieses Rad der Fortuna und seine widrige Position wiederum synonym mit einem in Unordnung geratenen Sphärenhimmel. La Sphere en rond, de circuir lassée Pour ma faveur, malgré sa Symmetrie En nouveau cours contre moy s'est poulsée. 31

In diesem Text wird beschrieben, wie sich die Geliebte Pasithée dem lyrischen Ich entzieht. Damit verliert gemäß der Analogie von Mikro- und Makrokosmos das gesamte Universum seinen Mittelpunkt und gerät auf spektakuläre Weise aus den Fugen. Der Fixsternhimmel verfinstert sich. Die Sonne verändert ihren Stand und strahlt kein Licht und keine Wärme mehr aus. Die Sphärenmusik wird zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie, da die Schicksalsgöttin, »la deïté qui de moy determine«, das Unglück des Liebenden beschlossen hat. Gemeint ist hier über die Geliebte Pasithée hinaus sicherlich Ananke, in deren Schoß sich nach Piaton die »Spindel der Notwendigkeit«, d. h. die Achse des Universums dreht, an der die drei Parzen den Lebensentwurf eines jeden Menschen befestigen. 32 Wenn Pasithée von Tyard immer wieder zu einer Sirene stilisiert wird,33 so denkt der Dichter in diesem platonischen Kontext sicherlich nicht unmittelbar an die verführerischen Wesen aus der Odyssee, sondern in erster Linie an die neun Sirenen aus Piatons Politeia, die, gleichbedeutend mit den Musen, den um Anankes Spindel herum konzentrisch angeordneten himmlischen Sphären zugeordnet sind und mit ihrem Gesang die Weltmusik hervorbringen. 34 Es geht in den Erreurs amoureuses also letztendlich immer wieder um das Symbol des vollkommenen Kreises, das grundsätzlich die Struktur von 31 32

33 34

I, 16, S. 108-110, V. 16ff. Vgl. Platon: Politeia, 616c-621b. Von ihnen ist die Rede in Tyard: Mantice. Discours de la vérité de Divination par Astrologie. Hg. von S. Bokdam. Genève: Droz 1990, S. 87. Vgl. I, 71, S. 166. Vgl. Piaton: Politeia, 617b. Auf genau diese Stelle nimmt Tyard auch in seinen poetologischen und musiktheoretischen Traktaten Bezug. Vgl. Solitaire premier. Hg. von S. Baridon. Genève 1950, S. 41f. und Solitaire second, ou prose de la musique. Hg. von C. M. Yandell. Genève 1980, S. 229.

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O C C ASIONEM Q.VI S APIS NE AMISERIS. Symb.

LXX1.

Abb. 4 Achille Bocchi: Symbolicarum Quaestionum de Universo Genere. Bologna 1555, S. CXLVI (Nachdruck New York/London 1979).

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Tyards Universum bestimmt und auf den verschiedensten Ebenen immer wieder neue Bedeutungen annehmen kann.

4. Die Wolke als Täuschung Kehren wir nun noch einmal zurück zur Geschichte des Ixion. Was ist der Grund für seine Bestrafung? Mit seiner Liebe zu Juno hat er zu hoch gegriffen wie offensichtlich auch das bei Tyard sprechende lyrische Ich, das seine angebetete Pasithée zu einer Göttin stilisiert: »Celle qui est plus divine qu'humaine«,3S »Un bien trop hault que tu ne peux avoir«.36 Hören wir, was Pindar in der zweiten Pythischen Ode über Ixion erzählt: [...] rasenden Sinnes er Nach Hera begehrte, erkoren für Zeus' Lager, das Freudenreiche; ihn aber trieb Frevelmut zu vermeßner Verblendung an. 37

Damit hat Ixion (wie der Liebende der Erreurs amoureuses) einen großen Fehler begangen, »une erreur« im Sinne einer moralischen Verirrung: Beischlaf, sich verirrend vom Weg, hat in drangvolle Not Schon gestürzt. Und auch ihn überkam sie. [...]

Zur Strafe führt Jupiter Ixion in die Irre: [...] einer Wolke gesellte sich, Süßem Betrug sich vertrauend, nichtsahnend der Mann. 39

Ixion läßt sich täuschen. Es liegt also im Sinne von »sich vergehen« und »sich irren« eine doppelte Bedeutung des Begriffes erreur vor, den Tyard bereits im Titel als Schlüsselwort seiner Gedichtsammlung eingeführt hatte. Obwohl das Wort erreur in Tyards Ixion-Gedicht nicht direkt auftaucht, ist es doch im pindarischen Prätext offensichtlich präsent und läßt sich unschwer auch in den französischen Text hineinlesen. Schauen wir in die Ode I, 11, so sehen wir tatsächlich eine erreur im Sinne eines Sakrilegs parallel zu Ixions Annäherungsversuchen an Juno: [... ] cognoissant le but trop hault Où mon vouloir veult aspirer, Je fuis ce que suyvre il me fault, Pensant hors d'erreur me tirer;

dann eine erreur als Irrtum bzw. Selbsttäuschung in Analogie zu Ixions Liebe zu einer Wolke:

35 36 37

38 39

1, 48, S. 146, V. 4. I, 30, S. 126, V. 6. Vers 27f. Übersetzung von O. Werner. In: Pindar: Siegesgesänge und Fragmente. München [1967] (Sammlung Tusculum), S. 121. Ebd., Vers 35f. (Meine Kursivsetzung) Ebd., Vers 36f.

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[...] je me trompe moymesme, Comme fait tout homme qui ayme;

und schließlich die daraus resultierende unendliche Qual als Pendant zum brennenden Folterrad. In der vorletzten Strophe ist die Rede von: [...] mon amour sans fin ny terme, En son service ardant et ferme,

und in der letzten Strophe heißt es: Mon amour est tant immortelle Que mort je seray ton servant.

Neben dem Motiv des Folterrades wird also auch das Thema der zweiten Phase des Mythos, die erreur im Sinne einer Täuschung, von Tyard immer wieder aufgegriffen. Ixion hat eine Wolke geliebt, die seine Sinne gleichsam >eingenebelt< hat. Von Amor sagt man, daß er blind sei und auch seine Opfer blende oder zumindestens ihre Sinne trübe. Das 25. Sonett erzählt so von einer dunklen Wolke, mit der Amor die Augen des Liebenden umgibt: »couvrant mes yeux de son obscure nue«,40 um ihn orientierunglos zu machen und ihn hilflos der Liebe auszuliefern. Tyard vermischt hier Ixions Wolke mit der konventionellen petrarkistischen Metaphorik der Blendung.41

5. Die Wolke als Eidolon Ixion liebt die Wolke Nephele, ein Eidolon der Juno. Hiermit deutet seine Geschichte auf die bei Tyard oft angesprochene platonische Urbild-AbbildProblematik hin. Daß auch der Liebhaber der Erreurs amoureuses das Abbild (»pourtrait«, »image«) einer Gottheit oder göttlichen Idee liebt, kommt in unzähligen Gedichten zum Ausdruck. Die Liebe in den Erreurs amoureuses gilt einer Person, in der sich die göttliche Vollkommenheit spiegelt. In anderen Worten: Die Schönheit der Geliebten versetzt den liebenden Betrachter in Ekstase und löst in ihm eine Vision der göttlichen Schönheit aus, die jeder irdischen Schönheit als >Urbild< zugrundeliegt. Die Liebe nimmt zwar ihren Anfang in konkret-sinnlicher Anschauung, ihr Ziel ist es aber, die diesseitige Körperwelt zu überwinden und zu einer Erkenntnis der göttlichen Ideen zu gelangen, auf die sich jede irdische Erscheinung analogisch zurückführen läßt. Dieser transzendente Bezug wertet die Geliebte auf eine sehr idealistische Weise auf, enthebt sie damit aber gleichzeitig jeder realen, konkreten Beziehung. Als göttliches Idol bleibt sie unnahbar. Wäre Tyard ein hundertprozentiger Anhänger der Liebestheorie Ficinos, müßte er sich mit diesem Ideal zufriedengeben. Doch seine Liebeskonzeption ist auch entscheidend 40 41

I, 34, S. 130f„ V. 13. Das Motiv der Blendung durch Amor wird sehr kunstvoll in Szene gesetzt im Sonett 1,64, S. 160f.

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von Leone Ebreo geprägt,42 dessen jüdisch-platonischer Liebesbegriff eine betont irdische Komponente beinhaltet.43 So fühlt sich der Liebende der Erreurs amoureuses trotz seiner idealistisch-platonischen Verehrung um die Erfüllung seiner Sehnsüchte betrogen. Ein Idol, das auf so intensive Weise aus der Ferne bewundert und herbeigesehnt wird, nimmt den Charakter eines Phantoms an. Bald geht es nicht mehr um die Geliebte selbst, sondern um das Bild, das sich der Liebende von ihr geschaffen hat: »la memoire emprainte en ma pensée / De sa beauté«,44 um seine persönliche Vorstellung von ihr: »l'imagination / Ravissant hault ma contemplation / Au plus perfait de son parfait entra.«.45 Von einem solchen Trugbild, das den Liebenden einen Augenblick lang beglückt, um sich dann als eitler Wahn zu entlarven, ist u. a. auch in der bereits zitierten Ode Nr. 32 die Rede. Dort heißt es in der 4. Strophe: Que me sert la courte joye Queje prins quand je songeoye Estre au comble de tout bien, Si ce que dormant j'avoye Au reveil se treu ve rien?46

Bevor in diesem Gedicht in der siebten Strophe der Name »Ixion« fällt, wird also schon versteckt auf Ixions Liebe zu einer Wolke bzw. auf eine analoge Erfahrung angespielt.

6. Die Revolte gegen die Götter Wir sagten, daß sich in den Ixion-Mythos potentiell zwei Aspekte der erreur hineinlesen lassen: einmal das Schuldbewußtsein, mit seinen Liebeserwartungen zu hoch gegriffen zu haben, und zum anderen die bittere Erfahrung, getäuscht worden zu sein. Diese beiden konträren Gefühle sind auch in den folgenden Gedichten fast ständig präsent. Demutsbezeugungen gegenüber der vollkommenen Pasithée wechseln sich ab mit bitteren Klagen über ihre Gefühlskälte. Entsprechend wird die Liebe zu Pasithée teils dankbar als Segen, teils als Tortur empfunden. Einerseits wird die Geliebte 42

43

44 45 46

Tyard übersetzte die Dialoghi d'amore des Leone Ebreo ins Französische. Sie erschienen 1551 mit dem Titel Dialogues d'amour bei Jean de Tournes in Lyon. Vgl. H. Pflaum: Die Idee der Liebe. Leone Ebreo. Zwei Abhandlungen zur Geschichte der Philosphie in der Renaissance. Tübingen 1926, S. 133: »[...] Leone schlägt einen Mittelweg ein, indem er sowohl den Ideen als den Dingen Wirklichkeit zugesteht.« Ebd., S. 142f.: »[...] seine Theorie der Liebe bezieht sich nicht speziell auf die Gottesliebe, sondern umfaßt auch die natürliche Liebe, und er hat als erster mit wirklicher Kühnheit ein Liebespaar zu Trägern der metaphysischen Spekulationen über die Liebe gemacht, so in der Säkularisierung der spekulativen Erotik auch über Ficin und Pico weit hinausgehend.« 1,7, S. 100, V. 12f. I, 9, S. 101f„ V. 6-8. I, 32, S. 128f„ V. 16-20.

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mit religiöser Andacht vergöttert. Andererseits häufen sich die Klagen über ihre Grausamkeit.47 Die Ode Nr. 11 schildert einen absoluten Tiefpunkt der Resignation, an dem der enttäuschte Liebende seine hoffnungslose Situation realistisch einschätzt, sich der Geliebten aber trotzdem freiwillig unterwirft. Formulierungen wie »mon miserable coeur« (V. 24) »A pitié te doit inciter« (V. 35) zeigen, wie erbärmlich er sich dabei fühlt. Als Gegenreaktion auf diese Selbsterniedrigung folgt im Sonett Nr. 13 die Selbstüberhebung: Pourquoy me fut (ô ciel) ta cruauté Tant ennemie au jour de ma naissance Que mon destin ne peut avoir puissance Pour me payer de ma grand' loyauté? Pourquoy ne fut moindre ceste beauté Qui me travaille en son obéissance? Ou que n'as-tu (but de ma jouissance) Moins de rigueur et plus de privauté? Donc je t'auray en vain mon coeur offert? Donc tant de mal en vain j'auray souffert? J'auray en vain donc fondus mes services? Ha, ne laissez, ô Dieux, ce tort ainsi: Ou je diray que vous n'avez souci De noz pechez, ny de noz sacrifices. 48

Der enttäuschte Liebende wendet sich als Ankläger an eine höhere Instanz, um auf das Unrecht hinzuweisen, das ihm widerfährt. In seinem vehementen Plädoyer appelliert er an die Götter, die ihm ein so unverdientes unglückliches Schicksal bestimmt haben. Das Gedicht besteht aus einer Folge rhetorischer Fragen, die von Strophe zu Strophe kürzer werden, dabei aber in der Zahl zunehmen und so immer dringlicher klingen. Die erste Strophe besteht aus einer, die zweite aus zwei, die dritte aus drei Fragen. Das so gesteigerte Sprechtempo läßt auch den rezitierenden Leser bei dieser pathetischen Rede buchstäblich außer Atem geraten. Diese Intensivierung zusammen mit den immer dichter werdenden Parallelformulierungen (»Pourquoi me fut ...?«, »Pourquoi ne fut ...?« zu Beginn der Quartette und die dreimalige Wiederholung »Donc ... en vain ...?«, »Donc ... en vain ...?«, »en vain donc ...?« im ersten Terzett) vermitteln den starken Eindruck, daß hier ein Mensch um Hilfe schreit, der gleichzeitig weiß, daß seine Rufe ohne Antwort im Raum verhallen. Das Gefühl der Ausweglosigkeit und Verlassenheit führt schließlich zu einer empörten Auflehnung. Die eskalierenden Fragen münden im letzten Terzett in eine gewaltige Exklamation und Drohung: Wenn die Götter auf Erden nicht für Gerechtigkeit sorgen, kann das nur bedeuten, daß sie indifferent, d. h. für die Menschen nicht zuständig sind. Obwohl kein mythologischer Name genannt wird, wird der 47 48

Vgl. ζ. Β. I, 17, S. 111, V. l ^ t und I, 33, S. 130, V. 13. 1,13, S. 106.

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Ankläger hier zu einem rebellischen Heros stilisiert, der an die äußerste Grenze geht. Wieder werden wir indirekt an Ixion erinnert, den Lukian einen »unbezähmbar Trotzigen« genannt hat,49 aber auch an andere mythische Gestalten, die in der Folge mehr oder weniger explizit in den Erreurs amoureuses eine Rolle spielen: Bellerophon, Niobe und Prometheus. Sie alle erheben sich über ihr Menschsein und fordern die Götter heraus.

7. Das Motiv der Befreiung aus dem Tartaros als Transposition des platonischen Höhlengleichnis im dritten Buch der Erreurs amoureuses Von diesem aufbegehrenden, revoltierten Ixion, den uns der erste Band zeigt, möchte ich nun eine Brücke schlagen zum dritten und letzten Band der Erreurs amoureuses aus dem Jahre 1555. Hier taucht Ixion noch einmal auf, freilich in so versteckter Weise, daß es nur dem eingeweihten, aufmerksamen Leser gelingt, ihn wahrzunehmen, und zwar im Sonett III, 11, das wie das gesamte letzte Buch der Erreurs amoureuses dazu angetan ist, dem Leser Rätsel aufzugeben. Oeil eslongné du Jour qui te recrée, Comme en l'obscur d'une Nuée espesse, Peus-tu tirer une si vive espesse D'un corps, non corps, qui vainement se crée? Coeur martelé, quelle Eride est entrée Dedens ton Fort? Quelle palle crainte est-ce Qui d'engendrer ta ruine te presse Et d'alaitter la fere de Matrée? Tourne avec moy, tourne avec moy, mon oeil: Le moindre raiz de notre beau Soleil Chassera l'ombre et le tenebreus songe. Courage, ô coeur, courage où je te meine: Un riz serein, un autre fils d'Alcmene Assommera la fere qui te ronge. 50

Verschiedenste Stoffe fließen hier ineinander. Die Wolke und das nichtige Gebilde, das irrtümlicherweise als »espèce«, d. h. als Typus bzw. Idee, aufgefaßt wird, erinnern an Ixion und seine Liebe zu Nephele, die nur eine vorgetäuschte Juno ist. Wer aber ist »la fere de Matrée«? Nach John Lapp spielt Tyard hier auf einen im Odyssee-Kommentar des Eustathius erwähnten Matreas an.51 Dieser soll ein Tier besessen haben, das sich selber auffraß: ein geeignetes Sinnbild für die in den Erreurs amoureuses geschilderten selbstquälerischen Gedanken und Sehnsüchte. Doch ist hier 49 50 51

Vgl. Roscher: Lexikon der antiken Mythologie, s. unter »Ixion«. III, 11, S. 274. Vgl. Œuvres poétiques complètes (ed. Lapp), S. 135, Anm. 5.

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offensichtlich außerdem eine Assoziation mit dem Adler intendiert, der an Prometheus' Eingeweiden nagt. Auf diesen wird ja im letzten Terzett eindeutig hingewiesen, wo von der Befreiung des Titanen durch den Sohn der Alkmene, d. h. Herkules, die Rede ist. Ein Lächeln der Geliebten erlöst den Liebenden von seinen Qualen, so wie Herkules Prometheus von seiner Folter erlöst. Mit dem Tier des Matreas, das sich selber frißt, wird das Leitmotiv des Zirkels wieder aufgenommen. Die in dem Gedicht evozierte Dunkelheit, das Ausgesperrtsein des Tageslichtes und die Sehnsucht nach der Sonne aber läßt uns an den Tartaros denken, in dem ein Riese gefesselt liegt, der ein ähnliches Schicksal erleidet wie Prometheus: Tityos nämlich, an dessen Leber bzw. Herz zwei Geier fressen.52 Der Tartaros ist nun wiederum der Ort, an dem in Ovids Metamorphosen53 und in Vergils Äneis54 der auf das Rad geflochtene Ixion seine Strafe abbüßt. Diesem können wir somit die wörtliche Rede im dritten Terzett zuschreiben: »Tourne avec moy, tourne avec moy, mon oeil [...].« Im Gegensatz zur Darstellung im ersten Band erscheint uns dieser Ixion weniger passiv. Mit der ausgedrückten Hoffnung, auf seinem Rad durch das Kreisen seiner Augen einen Sonnenstrahl zu erblicken, erhält die bisher im Folterrad symbolisierte sinnlose Drehbewegung nun eine zielgerichtetere Dynamik, die in dieselbe Richtung weist wie am Ende des Gedichtes die Vision vom befreiten Prometheus. Über das Motiv des ersehnten Lichtblickes ( - gemeint ist natürlich im übertragenen Sinn der Anblick der Geliebten - ) vermischt der Dichter bereits im ersten Terzett mit dem Ixion-Mythos geschickt die PrometheusSage, noch bevor von dieser im zweiten Terzett die Rede ist; denn schon in einem vorausgehenden Prometheus-Gedicht des zweiten Bandes ging es um einen gestohlenen Feuerfunken bzw. Sonnenstrahl.55 Der Text weist eine außerordentliche Dichte auf. Im ersten Quartett bzw. Terzett spricht das lyrische Ich mit seinem Auge, das metaphorisch zum Auge des Ixion wird. Im zweiten Quartett bzw. Terzett redet es sein Herz an, das mit dem gemarterten Herzen des Prometheus assoziiert wird. Doch Prometheus erinnert metonymisch auch an Matreas, Tityos und vermittels der in der ersten und dritten Strophe eingeführten Licht- bzw. Feuermetaphorik schließlich auch an Ixion. Der Dichter schafft hier eine Synthese aus mythischen Stoffen, die er bereits in den vorausgehenden zwei Bänden behandelt hat, zeigt aber eine leicht veränderte Blickrichtung auf. Die Perspektive der gefolterten Titanen gestaltet sich insgesamt optimistischer. Im Lichte des Anfangssonetts des dritten Bandes betrachtet, das von der Allmacht der Kunst und der Unterweltsreise des Orpheus handelt, erscheint dies mythologisch auch folge-

52 53 54 55

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Ovid: Met., IV, 457 und Vergil: Äneis, VI, 595-600. Met., IV, 461 Äneis, VI, 601 und 616f. II, 34, V. 9f.

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richtig, wenn wir uns daran erinnern, wie Ovid Orpheus' Abstieg in den Hades geschildert hat: [...] stupuitque Ixionis orbis, nec carpsere iecur volucres [...]. 56

Gebannt vom Zauber der Musik, steht das Rad des Ixion für eine Weile still, und die Geier hören auf, an Tityos' Leber zu fressen. Tatsächlich bewirkt nach orphischen Lehren, die im hermetisch gestalteten dritten Band der Erreurs amoureuses eine große Rolle spielen, die Musik und damit auch die Dichtung eine Katharsis von den tierischen Leidenschaften, denen der Mensch unterworfen ist, und befreit ihn von dem »unendlichen Ring aufeinanderfolgender Einkörperungen«, dem sogenannten »Rad der Geburten bzw. des Werdens, [...] an das - ein unseliger Ixion - der Mensch zu seiner Qual geflochten ist.«57 Wenn wir die Ebene des Mythos verlassen und an eine philosophische Deutung des Sonetts III, 11 denken, so liegt natürlich eine Verbindung mit Piatons Höhlengleichnis nahe. In seiner berühmten Allegorie stellt Piaton die Menschen in ihrem irdischen Dasein dar wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Heck bleiben und auch nur nach vome hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind.58

Diese gefesselten Menschen halten die Schatten, die sie auf der Felswand vor ihren Augen projiziert sehen, für die wirklichen Dinge statt der im Licht befindlichen Gegenstände. Auf diese Schilderung könnte man das erste Quartett von III, 11 über das dem Tageslicht entwöhnte Auge beziehen, das einen schemenhaften Körper wahrnimmt, der in Wirklichkeit kein Körper ist. Im Höhlengleichnis geht es in der Folge um die Frage, wie der an die Dunkelheit gewöhnte Mensch in die Lage versetzt werden kann, das Sonnenlicht und die von ihm erleuchteten Dinge zu sehen. Auf die Ebene der platonischen Epistemologie gehoben, bedeutet somit der im ersten Terzett ersehnte Anblick der Geliebten das Bedürfnis nach der Erkenntnis der intelligiblen Wahrheit und die im zweiten Terzett angestrebte Befreiung eine Erlösung vom irdischen Dasein. Am Ende des dritten Bandes gelingt es dem lyrischen Ich, die durchlittenen Qualen im Sinne des furor poeticus als sinnvolle Vorbedingung für philosophische Erkenntnis und künstlerisches Schaffen zu deuten.59 Im allerletzten Gedicht erscheint so auch sicherlich nicht zufällig das Bild einer Kugel, das gleichsam als Antwort und Steigerung gegenüber dem anfänglichen Motiv des Kreises aufgefaßt werden kann. Wenn der Dichter hier zum 56 57 58 59

Ovid: Met., X, 42f. Robert Eisler: Orphisch-dionysische Mysteriengedanken in der christlichen Antike, Vorträge der Bibliothek Warburg. Berlin/Leipzig: Teubner 1925, S. 89f. Politela, 514 a-b. Vgl. III, 34, S. 296f., in dem erreur und fureur als Reimwörter fungieren.

Die Figur des ¡xión in den >Erreurs amoureuses
Diana describeth the Nymphe Eliza [as] a figure of the QueeneRichterin< zu entscheiden, muß wohl offen bleiben. Vgl. zur konkreten historischen Situation zu Beginn der 80er Jahre J. E. Neale: Königin Elisabeth. München 1967, bes. S. 266ff. und J. Ridley: Elisabeth I. Eine Biographie [1987], Zürich 1990, bes. S. 256ff. Vgl. allgemein D. C. Allen: Mysteriously Meant. The Rediscovery of Pagan Symbolism and Allegorical Interpretation in the Renaissance. Baltimore/ London 1970; E. V. Beilin: The Uses of Mythology in Elizabethan Prose Romance. Diss. Princeton Univ. 1973. New York/ London 1988 (Garland Publications in American and English Literature); D. Brooks-Davies: The Mercurian Monarch. Magical Politics from Spenser to Pope. Manchester 1983; D. Bush: Mythology and the Renaissance Tradition in English Poetry. New

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Uwe Baumann

sei es im Kontext der außerordentlich reich entwickelten Herrscherpanegyrik oder im Kontext dessen, was man durchaus schon politische Propaganda nennen kann.15 So kurzweilig ein solcher Streifzug durch die englische und lateinische Renaissanceliteratur auch wäre, ich werde aus Zeitgründen einen anderen Weg wählen. Zunächst möchte ich jeweils nur anhand ganz weniger - aber durchaus repräsentativer - Beispiele den Reichtum der im engeren Sinne politischen Mythologieinterpretation vorstellen. Ich wähle dazu zunächst die zwei bedeutendsten Tudorherrscher aus, Heinrich VIII. und Elisabeth I., und als letzten den unglücklichen, am 30. Januar 1649 hingerichteten Stuartkönig Karl I. Im Anschluß daran werde ich in einem längeren zusammenfassenden Abschnitt versuchen, die repräsentativ ausgewählten Beispiele unter allgemeineren Gesichtspunkten auszuwerten.

Π.

Als Heinrich VIII., knapp 18 Jahre alt, im April 1509 seinem Vater, Heinrich VII., auf dem englischen Thron folgte, war dies Anlaß für einen Freudentaumel, der das ganze Land erfaßte.16 Hoch waren die Erwartungen, die man allgemein in den strahlend schönen, athletischen, und dennoch gebildeten jungen Mann setzte, wie eine ganze Reihe von Gratulations-

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York 1957; H. Levin: The Myth of the Golden Age in the Renaissance. Bloomington/ London 1969; J. Seznec: The Survival of the Pagan Gods. The Mythological Tradition and Its Place in Renaissance Humanism and Arts [1940]. New York 1953, Ndr. 1961; D. W. T. Stames und E. W. Talbert: Classical Myth and Legend in Renaissance Dictionaries. Chapel Hill 1955; E. Wind: Heidnische Mysterien in der Renaissance [1968]. Frankfurt a. M. 2 1984. Vgl. zur politischen Propaganda in der englischen Renaissance zuletzt P. Denzer: Ideologie und literarische Strategie. Die politische Flugblattlyrik der englischen Bürgerkriegszeit 1639-1661. Tübingen 1991 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 21) und H. Grabes: Das Englische Pamphlet I. Politische und religiöse Polemik am Beginn der Neuzeit (1521-1640). Tübingen 1990. Die Probleme der zeitgenössischen Aktualität einzelner Theaterstücke und der damit formulierten politischen Propaganda ist ein Thema für sich; vgl. exemplarisch die Analyse der Theaterspielzeit 1623/24 und die Interpretation als sorgfältig geplante propagandistische Aktion gegen die Spanienpolitik des Königs bei J. Limon: Dangerous Matter. English Drama and Politics in 1623/24. Cambridge 1986; weitere Beispiele und weiterführende Literatur bei U. Baumann: Das Drama der englischen Renaissance als politische Kunst. Die zeitgenössische Aktualität der Römerdramen. Teil I und II. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 33 (1992), S. 101-131 und 35 (1994), S. 63-100. Vgl. ebenfalls E. Krippendorff: Politik in Shakespeares Dramen. Historien, Römerdramen, Tragödien. Frankfurt a. M. 1992. Vgl. die Details, die Belege und weiterführende Literatur bei U. Baumann: Heinrich VIII. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1991 (rororo Monographien, Bd. 446), S. 20-25; M. Dowling: Humanism in the Age of Henry VIII. London 1986, bes. S. 7ff.; J. Ridley: Heinrich VIII. Eine Biographie [1984], Zürich 1990, S. 36-41; J. J. Scarisbrick: Henry VIII. London 1968, S. 11-17. Vgl. insgesamt zu Heinrich VIII. die bei U. Baumann [Hg.]: Henry VIII in History, Historiography and Literature. Frankfurt a. M./Berlin/ Bern/New York/Paris/Wien 1992, S. 16-31 zusammengestellte Auswahl-Bibliographie.

Politik, Propaganda und Mythologie

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gedichten bezeugt. 17 Das Goldene Zeitalter sei mit dem Regierungsantritt Heinrichs VIII. gleichsam nach England zurückgekehrt;18 mehr noch, das junge Königspaar, Heinrich hatte schon bald nach seinem Regierungantritt Katharina von Aragon geheiratet, erfreute sich - so Thomas Morus in einem Epigramm - der besonderen Gunst Junos, der Gemahlin Jupiters.19 Das Wohlwollen der Göttin Juno ist speziell für ein jungvermähltes Herrscherpaar auch vonnöten, ist doch Juno die Göttin, die sich primär den Hoffnungen, Wünschen und Sorgen des Frauenlebens annimmt: als Juno Lucina steht sie bekanntlich den Frauen bei der Niederkunft bei; als Juno Juga wird sie seit der Antike als zusammenführende Ehegöttin verehrt, in der antiken Dichtung immer wieder als göttliche Brautführerin, pronuba, gefeiert. Mit einem Wort, das Wohlwollen Junos verspricht dem frischvermählten Königspaar ein durchaus privates Glück, das sich mit der baldigen Geburt eines Thronfolgers auch zum Wohl für das Königreich auswirken wird.20 So optimistisch (und gut gemeint) diese Prophezeiung sich 1509 ausnahm, sie sollte sich bekanntlich nicht erfüllen. Ein weiteres Beispiel, ebenfalls aus einem der Krönungsepigramme des Thomas Morus, mag für unsere Zwecke genügen: 21 Mille inter comités excelsior omnibus extat, Et dignum augusto corpore robur habet. Nec minus ille manu est agilis, quam pectore fortis, Seu res districto debeat ense gerì, Seu quum protentis auide concurritur hastis, Seu petat oppositum missa sagitta locum. Ignea uis oculis, Venus insidet ore, genisque Est color, in geminis qui solet esse rosis. Illa quidem facies alacri ueneranda uigore Esse potest tenerae uirginis, esse uiri. Talis erat, Nympham quum se simulauit Achilles. Talis, ubi Aemonijs Hectora traxit equis. 17

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Vgl. dazu zuletzt B. Liisse: Panegyric Poetry on the Coronation of King Henry VIII. The King's Praise and the Poet's Self-Presentation. In: Henry VIII in History (wie Anm. 16), S. 49-77. Vgl. neben den eher allgemeinen Wendungen in den Gratulationsgedichten von John Skelton (»A Lawde and Prayse Made for Our Sovereigne Lord the Kyng«; John Skelton: The Complete English Poems. Hg. von J. Scattergood. New Haven/ London 1983, S. 110-112) und Stephen Hawes (»A Ioyfull Medytacyon to All Englonde of the Coronacyon of Our Moost Naturall Souerayne Lord Kyng Henry the Eyght«; Stephen Hawes: The Minor Poems. Hg. von F. W. Gluck und A. B. Morgan. London/ Toronto 1974 (EETS), S. 84-91) die Krönungsepigramme des Thomas Morus (The Complete Works of St. Thomas More. Bd. 3. Teil II: Latin Poems. Hg. von C. H. Miller, L. Bradner, C. A. Lynch und R. P. Oliver. New Haven/ London 1984), insbesondere das Ep. 21. The Complete Wortes of St. Thomas More (wie Anm. 18), Ep. 20. Vgl. hierzu U. Baumann: Die Antike in den Epigrammen und Briefen Sir Thomas Mores. Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1984 (Beiträge zur Englischen und Amerikanischen Literatur, Bd. 1), S. 52-54. Vgl. die einzelnen Belege und weiterführende Literatur bei Baumann: Die Antike (wie Anm. 19), S. 52-54. The Complete Works of St. Thomas More (wie Anm. 18), Ep. 19, Z. 58-69; Thomas Morus: Epigramme. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von U. Baumann. München 1983 (Thomas Morus: Werke. Bd. 2), S. 70, Nr. 1.

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[Unter tausend edlen Gefährten ragt er erhabener als alle hervor, er besitzt die Kraft, die seines erhabenen Körpers würdig ist. Mit der Hand ist er nicht weniger behende als im Herzen tapfer, sei es, daB eine Sache mit scharfem Schwert ausgefochten werden muB, sei es, mit gesenkter Lanze anzugreifen, sei es, daB es gilt, einen Pfeil auf das gegenüberliegende Ziel zu schnellen. Eine feurige Kraft liegt in seinen Augen, Schönheit auf seinem Antlitz, und eine Farbe auf beiden Wangen, wie es bei Rosen zu sein pflegt. Ja, dieses Gesicht, verehrenswert ob seiner feurigen Kraft, könnte sowohl einem zarten Mädchen wie auch einem Manne gehören. So sah Achilles aus, als er sich als Nymphe verkleidete; so erschien er, als er Hektor mit seinen thessalischen Rossen über den Boden schleifte.] N e b e n der Anknüpfung an das klassische Ideal der Kalokagathia und die mittelalterlichen Rittertugenden, die sich allesamt in Heinrich VIII., einem vorbildlichen Krieger und Turnierkämpfer, vereinigen, greift Morus in seinem Panegyricus wiederholt auf die antike Mythologie zurück, der er die Vergleichsmaßstäbe für sein Herrscherlob entnimmt. 2 2 N o c h rund dreißig Jahre nach d e m Tode Heinrichs VIII., genauer i m Jahre 1575, rühmt Ulpian Fulwell den König mit ganz ähnlichen Vergleichen in s e i n e m Büchlein The Flower of Fame.73 Heinrich VIII. ist in jeder W e i s e ein vorbildlicher Monarch, der die traditionellen Herrschertugenden temperantia, prudentia, iustitia und fortitudo sein eigen nennt. V o n der göttlichen Vorsehung schon früh zum König auserkoren, macht sich Heinrich VIII. selbst die Göttin Fortuna zur Magd, d. h. die unvergleichlichen Tugenden Heinrichs versetzten diesen in die Lage, sich dem potentiell verderblichen Einfluß Fortunas zeit seines Lebens zu entziehen. 2 4 Der offensichtliche Erfolg in allen Dingen, die der König in die Hand nahm, wird für Ulpian 22

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In ähnlicher Weise entlehnt Thomas Morus (im gleichen Epigramm) die Vergleichsmaßstäbe für die Beurteilung der hohen Tugenden der Königin Katharina der antiken Literatur bzw. der antiken Mythologie. In bezug auf ihre pietas sei Katharina den Sabinerinnen ebenbürtig (Z. 166), in ihrer maiestas einer griechischen Halbgöttin (Z. 167). In ihrer selbstlosen Liebe sei sie Alcestis an die Seite zu stellen (Z. 168), ihre Treue zu Heinrich sei mit derjenigen Penelopes zu vergleichen (Z. 173), die bekanntlich zwanzig Jahre auf die Rückkehr ihres Gatten Odysseus wartete. Die Sehergabe besitze sie in höherem MaBe als Tanaquil (Z. 169), und in bezug auf ihre eloquentia komme ihr nur Cornelia, die berühmte Mutter der Gracchen, gleich (Z. 172). Vgl. die weiteren Details bei Baumann: Die Antike (wie Anm. 19), S. 52-54. Vgl. zur Biographie dieses so enigmatischen Elisabettiane» I. Ribner: Ulpian Fulwell and His Family. In: N&Q 195 (1950), S. 444-448; I. Ribner: Ulpian Fulwell and the Court of High Commission. In: N&Q 196 (1951), S. 268-270; E. C. Wright: The English Works of Ulpian Fulwell. Diss. Univ. of Illinois at Urbana-Champaign 1970, bes. S. Iff.; E. C. Wright: A Note on the Life of Ulpian Fulwell. In: N&Q 216 (1971), S. 213-214. H. Wolff: Das Charakterbild Heinrichs VIII in der englischen Literatur bis Shakespeare. Diss. Freiburg 1972 scheint dieses Büchlein über Heinrich VIII. aus der Feder Ulpian Fulwells entgangen zu sein. Vgl. insgesamt auch U. Baumann: >The Virtuous Princec William Thomas and Ulpian Fulwell on Henry VIII. In: Henry VIII (wie Anm. 16), S. 167-201. Vgl. Ulpian Fulwell: The Flower of Fame. Containing the bright Renowne, & moste fortunate raigne of King Henry the viii. wherein is mentioned of mattere, by the rest of our Cronographers ouerpassed. ... Thereunto is annexed (by the Aucthor) a short treatice of iii. noble and vertuous Queenes. And a discourse of the worthie seruice that was done at Hadington in Scotlande, the seconde yere of the raigne of king Edward the sixt. London 1575, Bl. 4r: »For the which dyuers made great suite, & specially when they stoode in neede of ayd against their enemies, because they perceiued that Fortune followed his power, as handmayd to all his proceedings«. Im folgenden zitiere ich dieses Büchlein abgekürzt als FF.

Politik, Propaganda

und

Mythologie

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Fulwell zum gültigen Beweis dafür, daß Heinrich VIII. von vornherein von der göttlichen Vorsehung auserkoren war, dies alles ins Werk zu setzen. Der frühe Tod seines älteren Bruders Arthur wird so gedeutet,25 im erfolgreichen Kampf gegen die »Romysh Hydra«, den Papst, wird Heinrich gar zum englischen Hercules (FF, fol. 3 r )· Die siegreichen Feldzüge gegen Frankreich und Schottland26 akzentuieren die herrscherliche fortitudo Heinrichs VIII. genauso nachdrücklich wie sie die moralische Verderbtheit der Kriegsgegner, insbesondere des verräterischen und meineidigen Schottenkönigs James IV.,27 bestrafen. Heinrich dagegen ist der wahre von Gott ausersehene Herrscher über England, der selbst als Jüngling schon die Charakterstärke bewies, die ihm von einigen Ratgebern angetragene Übernahme der Herrschaft zu verweigern, bis er von Gott selbst - nach dem Tod Heinrichs VII. - zum Herrscher bestellt wurde.28 Heinrich VIII. ist für Ulpian Fulwell »a mirror for all Princes«, wie er immer wieder betont.29 Das den ersten Teil seines Buches beschließende 25

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Vgl. FF, Bl. 12r: »And though he were a seconde sonne,/ Yet God foresaw what should ensue:/ The Royall race that he should run,/ Ere he was borne ryght well he knewe./ And in the wombe did him appoint,/ With sacred Oyle and king annoynt«. Vgl. bes. FF,B1. 15v-28v. Vgl. bes. FF, Bl. 22v-24r: »The Lamentable Complaint of King lames of Scotlande, who was slayne at Scottish fielde«. Vgl. in diesem Kontext auch The Complete Works of St. Thomas More (wie Anm. 18), Ep. 184: »Epitaphium Iacobi Regis Scotorvm«. Vgl. FF, Bl. 12v: »As this noble Prince grewe in age, so he encreased in vertue and princely demeanure. Using suche exercises as was commendable in so noble a personage: wherein he excelled all other of his tyme. As in Learning, Rydyng, and martiall fea tes. In so muche, that when he was the onely hope of this Realme, he was no lesse feared of forreine foes, then entierly loued of his owne countrey men. And had he not set the feare of God before his eyes, with speciali regarde of obedience towardes his Father: no doubt but he had bene seduced by the wicked suggestions of faccious flatterers, that often tymes inueagled him to take vppon him the gouernaunce of this Realme (his Father being alyue) As he himselfe hath reported after he came to the Crowne. But he alwayes abhorred their vngodly instigations. At last it pleased God to call his Father from the Earth to dwell with him in Heauen, when he had raygned 23. yeres. And then this royall Prince his sonne succeeded him in this Realme, ...«. Vgl. FF, Bl. 4r-4v: »Finally, he was a Prince of singuler Prudence, of passing stoute courage, of inuincible Fortitude, of derteruie wonderful). He was a springing well of Eloquence, a rare spectacle of Humanitie. Of ciuilitie or good nurture, an absolute president. A speciali paterne of Clemencie and moderation, a worthie example of Regali Iustice. A bottomlesse spring of larges and benignitie. He was in all the honest Artes and Faculties profoundlye seene. In all liberal disciplines, equall with the best. In no kynde of literature, unexperte. Hee was to the worlde an ornament. To Englande a treasure. To his fiendes, a comforte. To hys foes, a terror. To his faythfull and louing Subiectes, a tender Father. To Innocents, a sure Protecteur. To wilfull malefactours, a sharpe scourge. To his Common weale and good people, a quyet Hauen and Ancor of safeguarde. To the disturbers of the same, a Rocke of Extermination. In haynous and intollerable crymes against the comonwelth, a seuear Iudge. In the lyke offences committed against himselfe, a redye porte and refuge of mercye, except to such as would persist incorrigiblye. A man he was in all gifts of nature, of Fortune, and of grace, pierles. And to conclude, a man aboue all pray ses. Suche a kyng did God set to raigne ouer England, whereof this Realme may well vaunt aboue other nations, whose worthines is more treated of by foreyn wrythers, then by any of our owne countrey men. Which may iustly redownd to the reproche of all our English Poets and Historiographers«.

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Epitaphium auf Heinrich VIII. faßt die einzigartigen historischen Leistungen des Königs noch einmal prägnant zusammen und versetzt Heinrich mit einer ganzen Reihe traditioneller mythologischer Vergleiche gleichsam unter die unsterblichen Götter (FF, fol. 37Γ-38Γ). Abschließend zumindest noch ein Beleg für den propagandistischen Einsatz der antiken Mythologie unter Heinrich VIII., denn die bisher herangezogenen Beispiele bezeugen zunächst einmal nur die Bedeutsamkeit der Mythologie für das Herrscherlob im engeren Sinne. Einen guten Einblick in diese, vom König selbst in Auftrag gegebene und wohl auch in der Ausführung sorgfältig überwachte, propagandistische Verwendung mythologischer Stoffe liefert der prunkvolle Zug Anne Boleyns durch London am 31. Mai 1533, dem Vortag ihrer Krönung. Für die Serie von neun pageants, mit der die zukünftige Königin bei ihrem Ritt vom Tower nach Westminster gefeiert werden sollte, hatte die Stadt London zwei geschätzte Humanisten als Verfasser und Organisatoren verpflichtet: John Leland und Nicholas Udall.30 In beinahe jedem dieser pageants treten Figuren der antiken Mythologie auf, oder es werden Stoffe bzw. Motive der antiken Mythologie zum Panegyricus auf Anne umgemünzt. Wiederum ist das Goldene Zeitalter - nun allerdings mit Anne - nach England zurückgekehrt,31 die Musen, die Grazien, eine ganze Götterschar jubelt Anne zu, die, und das wird geradezu stereotyp immer und immer wieder betont, England endlich den ersehnten Thronerben schenken wird; sie ist immerhin bereits im fünften Monat schwanger. »Das Urteil des Paris«, lautet ζ. B. der ambitionierte Titel des siebten pageants, und nach einigem Hin und Her der traditionell in diesen Stoff gehörigen Göttinnen verkündet Paris ein überraschendes Urteil: keiner der drei Göttinnen gebühre der Preis. Für Königin Anne jedoch, obwohl sie würdiger als jede der drei Göttinnen sei, denn sie ist die harmonische Vereinigung aller Göttinnentugend, wäre der Ball ein zu geringer Preis. Sie erhalte den einzigen ihrer Tugend angemessenen Lohn: die Krone Englands, die Krone über ein >EmpireEmpire< R. Koebner: >The Imperial Crown of This RealmThis Realm of England is an EmpireEmpireThou Idol CeremonyThe Faerie QueeneThe Faerie QueeneFaerie QueeneThe Virtuous Prince< (wie Anm. 23); J. Beer: The Image of a King. Henry VIII in the Tudor Chronicles of Edward Hall and Raphael Holinshed. Ebd., S. 129-149; G. R. Elton: England under the Tudors. London 1991; Historical Dictionary of Tudor England, 1485-1603. Hg. von R. H. Fritze, G. R. Elton und W. Sutton. New York/ London 1991; D. M. Loades: Chronicles of the Tudor Kings. Henry VII, Henry VIII, and Edward VI, Told in the Words of Their Contemporaries. London 1990; Henry VIII. A European Court in England. Hg. von D. Starkey. London 1991; P. Tudor-Craig: Henry VIII and King David. In: Early Tudor England. Proceedings of the Harlaxton Symposium. Hg. von D. T. Williams. Woodbridge 1989, S. 183-205; G. Walker: Plays of Persuasion. Drama and Politics at the Court of Henry VIII. Cambridge 1991. Vgl. dazu allgemein die repräsentativen und informativen Überblicksdarstellungen von A. Buck: Die Rezeption der Antike, passim; Die Rezeption der Antike. Zur Problematik der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Hg. von A. Buck. Stuttgart 1981 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung, Bd. 1); Die Antike-Rezeption in den Wissenschaften während der Renaissance. Hg. von A. Buck und K. Heitmann. Weinheim: Acta humaniora 1983 (Mitteilung 10 der Kommission für Humanismusfor-

Politik, Propaganda und Mythologie

225

hilft dabei auch nicht recht weiter. Es gibt meines Erachtens jedoch noch zwei weitere Traditionsströme, die es lohnt, für eine mögliche Erklärung ein wenig näher zu betrachten: das ist zum einen die mittelalterlich-frühneuzeitliche Herrschertheologie und zum anderen die allgemeine Theorie und Praxis der Mythologiedeutung. Bei den elisabethanischen Juristen ist in unzweideutiger Klarheit, wiewohl zum Teil äußerst spitzfindig formuliert, die politische Herrschertheologie greifbar, die man seit Ernst Kantorowiczs berühmter Studie als Theorie von den zwei Körpern des Königs bezeichnet. 70 1562, im Prozeß um den Besitz des Herzogtums Lancaster, vermerken die Richter ausdrücklich:71 So that he has a Body natural, adorned and invested with the Estate and Dignity royal; and he has not a Body natural distinct and devided by itself from the Office and Dignity royal, but a Body natural and a Body politic together indivisable; and these two Bodies are incorporated in one Person, and make one Body and not divers, that is the Body corporate in the Body natural, et e contra the Body natural in the Body corporate. So that the Body natural, by this conjunction of the Body politic to it, (which Body politic contains the Office, Government, and Majesty royal) is magnified, and by the said Consolidation hath in it the Body politic. [So hat er [der König] einen natürlichen Körper, mit dem Königsstand und der königlichen Dignität ausgestattet und geziert; aber er hat nicht einen natürlichen Körper, der vom Königsamt und der Königswürde verschieden und getrennt wäre, sondern den natürlichen und den politischen Körper gemeinsam und unteilbar. Diese zwei Körper sind in einer Person inkorporiert und bilden einen Körper, nicht zwei verschiedene, d. h. der korporative Leib ist im natürlichen und umgekehrt ist der natürliche Leib im korporativen. So wird der natürliche Leib durch diese Verknüpfung mit dem politischen Körper (welcher politische Körper das Amt, die Regierung und die königliche Majestät enthält) größer gemacht und hat durch die besagte Konsolidation den politischen Körper in sich.]

Ungeachtet der dogmatischen Einheit der beiden Körper gibt es jedoch eine bedeutsame Differenz: im Unterschied zum natürlichen Körper des Königs ist der politische Körper, der »gleich den Engeln das Unveränderliche in der Zeit darstellt«,72 unsterblich, oder wie es ein anderer elisabethanischer Jurist formuliert:73 ... and this Body is not subject to Passions as the other is, nor to Death, for as to this Body the King never dies,... [... dieser Körper unterliegt nicht den Leidenschaften wie der andere und auch nicht dem Tode, denn in Betreff dieses Körpers stirbt der König nie,...]

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schung); A. Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg/ München 1987 (Orbis academicus, I, 16), bes. S. 136ff.; P. O. Kristeller: Humanismus und Renaissance I. Die Antiken und Mittelalterlichen Quellen. München 1974; P. O. Kristeller: Renaissance Thought and Its Sources. New York 1979. E. H. Kantorowicz: The King's Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology. Princeton 1957, Ndr. 1970; deutsche Übersetzung: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990 (dtv Wissenschaft). Edmund Plowden: Commentaries or Reports. London 1816, S. 213 (deutsche Übersetzung nach Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 33). Kantorowicz: The King's Two Bodies, S. 8: »The body politic of kingship appears as a likeness of the >holy sprites and angels,< because it represents, like the angels, the Immutable within Time« (deutsche Übersetzung nach Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 32). Edmund Plowden: Commentaries or Reports, S. 233a (deutsche Übersetzung nach Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 37).

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Die Theorie von den zwei Körpern des Königs zeitigt auch für den natürlichen Körper des einzelnen Herrschers interessante Folgen: »Die Inkarnation des politischen Körpers in einem König beseitigt nicht nur die menschlichen Unvollkommenheiten des natürlichen Leibs, sondern verleiht dem einzelnen König auch Unsterblichkeit als König, d. h. hinsichtlich seines Überkörpers«.74 Eine solche Theorie, die selbstverständlich noch sehr viel differenzierter ist, als sie hier skizziert werden kann, erscheint nun aufgrund ihrer hohen Komplexität als wenig geeignet, einer größeren Öffentlichkeit nahegebracht werden zu können. Gleichwohl waren die Konsequenzen, die sich aus dieser Theorie für den einzelnen Herrscher ergaben, in hohem Maße für die Selbstpräsentation des Monarchen propagandistisch nutzbar. Wir gehen - so glaube ich - nicht fehl in der Annahme, in diesem Dilemma eine weitere Erklärung für die politische Mythologieinterpretation unter den Tudorkönigen zu sehen. Unter Rückgriff auf die jedermann bekannten Mythen des Altertums wurden Heinrich VIII. und vor allem Elisabeth I. mit den unsterblichen Göttern, Göttinnen und Heroen der Antike verglichen, zum Teil gleichgesetzt, und zwar auf unaufdringliche, unmittelbar für jedermann einsichtige Weise, die darüber hinaus auch noch theologisch unbedenklich war.75 Und beide wurden - wenn man es pointiert formuliert solcherart in den Augen der Öffentlichkeit der Unsterblichkeit teilhaftig, die ihnen juristisch ohnehin zukam. Als weitere Erklärung für die politische Mytheninterpretation in der englischen Renaissance ist m. E. die allgemeine Theorie und Praxis der Mythologiedeutung zu betrachten, wie sie - unter Rückgriff auf italienische Vorgänger 76 - beispielsweise Sir Francis Bacon in seinem Büchlein De 74

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Kantorowicz: The King's Two Bodies, S. 13: »Interesting, however, is the fact that this >incarnation< of the body politic in a king of flesh not only does away with the human imperfections of the body natural, but conveys >immortality< to the individual king as King, that is, with regard to his superbody« (deutsche Übersetzung nach Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs, S. 37). Vgl. zum >character angelicus< des Königs Kantorowicz: The King's Two Bodies, S. 8ff. Vgl. M. Behre: Dionysos oder die Begierde. Deutung der >Weisheit der Alten< bei Bacon, Hamann und Hölderlin. In: Hölderlin-Jahrbuch 27 (1990/91), S. 77-99; S. H. Daniel: Myth and the Grammar of Discovery in Francis Bacon. In: Philosophy and Rhetoric 15 (1982), S. 219-237; Β. C. Gamer: Francis Bacon, Natalis Comes and the Mythological Tradition. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 33 (1970), S. 264-291; K. Heinrich: Mytheninterpretation bei Francis Bacon. In: Ders.: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie. Frankfurt a. M. 1966, S. 29-60 und 168-176; C. Hülse: Spenser und Bacon. Die Wahrheit der Dichter und die Weisheit der Antike. In: Myelographie der frühen Neuzeit. Ihre Anwendung in den Künsten. Hg. von W. Killy. Wiesbaden 1984 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 27), S. 115-126; C. W. Lemmi: The Classic Deities in Bacon. A Study in Mythological Symbolism. Baltimore 1933, Ndr. New York 1971; Τ. H. Paterson: Bacon's Myth of Orpheus. Power as a Goal of Science in >Of the Wisdom of the AncientsDe Sapientia Veterumsprechende< Bilder die Person der Vorderseite zu erläutern. Daher sind Medaillen für das Selbstverständnis von Künstlern aufschlußreich. Die vielfältigen thematischen Bezüge wurden neben allegorischen Darstellungen auch mit konkreten Figuren der Mythologie, zum Beispiel Minerva, Merkur und Herkules, oder mit Szenen des antiken Götterkultes verknüpft.

Minerva Auf reduzierte und sehr klare Weise hat der Medailleur Vittorio Camelio auf seiner Porträtmedaille des venezianischen Malers Giovanni Bellini um 1500 den Bezug zu Minerva zu einer programmatischen Aussage gemacht. Auf dem Avers ist der Maler mit Kappe und hochgeschlossenem Gewand im Profil zu sehen. Die Umschrift IOHANNES BELLINVS VENET[us] PICTORfum] OP[timus] bezeichnet den Dargestellten und versieht ihn mit dem herausragenden Prädikat, der beste aller Maler zu sein.7 Der Revers (Abb. 1) zeigt eine Eule auf einem Ast und darüber die Worte: VIRTVTIS E[t] INGENII und unterhalb des Vogels die Signatur: VICTOR CAMELIVS/ FACIEBAT. Die Eule ist das Tier der Minerva, die Weisheit und Gelehrsamkeit vertritt, aber auch Virtus, die Voraussetzung für die künstlerische Betätigung. Bei den Mythographen des 16. Jahrhunderts wird ihre Rolle als Förderin der Künste durch ihre Geburt aus Jupiters Haupt, die »ingenium« bedeute, erklärt.8 Zudem sei sie Freundin und Beschützerin der Musen und immer 5

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Patricia A. Errüson: The Art of Teaching. Sixteenth-Century Allegorical Prints and Drawings. Yale University Art Gallery, 28 October 1986 - 4 January 1987, S. 7ff. Ute Davitt Asmus: Corpus Quasi Vas. Beiträge zur Ikonographie der italienischen Renaissance. Berlin 1977, S. 27. London, Victoria and Albert Museum. Durchmesser 58 mm. Mark Wilchusky in: Stephen K. Scher: The Currency of Fame. Portrait Medals of the Renaissance. New York 1994, S. 106 verweist auf die verbreitete Formel in Ruhm und Nachruhm Giovanni Bellinis. Lilio Gregorio Giraldi: Historiae Deorum. Basel 1548 (Nachdruck New York 1976), S. 465.

Mythologische

Elemente

in Künstlerporträts

der Renaissance

233

Abb. 1 Vittorio Camelio: Porträtmedaille des venezianischen Malers Giovanni Bellini, um 1500. Revers: Eule der Minerva. London, Victoria and Albert Museum.

Abb. 2 Pietro Paolo Galeotti (zugeschr.): Porträtmedaille des Mailänder Malers Girolamo Figino. Revers: Minerva. London, British Museum.

234

Gunter

Schweikhart

Jungfrau, weil Weisheit der Wollust entgegengesetzt sei.9 Noch deutlicher wird die Rolle Minervas für die Künste bei Vincenzo Cartari betont, der Minerva als Erfinderin der Künste vorstellt.10 Für Cartari ist die Eule nicht nur das von Minerva geliebte Tier, sondern verkörpert »il saggio, e buon consiglio dell'huomo prudente«.11 Besonders in der Ikonographie des 17. Jahrhunderts tritt Minerva häufig als Beschützerin der Künste auf.12 In der Verbindung von Virtus und Ingenium werden Eigenschaften aufgerufen, die zu den Voraussetzungen des Künstlertums gehören. Mit wenigen Worten und dem Bild der Eule ist das kunsttheoretische Programm der Renaissance erläutert, konkretisiert in der gefeierten Person des Malers Giovanni Bellini.13 Die herausragenden schöpferischen Eigenschaften bündeln sich in der individuellen Person des Künstlers, rechtfertigen den Verweis auf die Götter und erfordern von ihnen Beistand und Schutz. Die enge Beziehung zu antiken Münzen, auf denen ebenfalls die Eule als Zeichen der Minerva erscheint, unterstreicht den programmatischen Charakter.14 Ausführlicher wird die Rolle Minervas auf der Porträtmedaille des Mailänder Malers Girolamo Figino erläutert. Aus stilistischen Gründen wird die Medaille Pietro Paolo Galeotti zugeschrieben. Sie zeigt auf der Vorderseite das Porträt des Malers und die Aufschrift HIERONYMVS FIGINVS sowie das Datum MDLXII.15 Auf dem Revers (Abb. 2) ist die behelmte Minerva in ganzer Figur zu sehen. Ihre Funktion als Schutzherrin der Künste wird durch die zahlreichen Attribute zu ihren Füßen deutlich: Winkelmaß, Notenbuch, Gitarre, Zirkel, Torso und Viola. Erläuternd faßt die Aufschrift die Summe aller Künste im Zeichen der Minerva zusammen: OMNIS IN HOC SVM (>Ich bin völlig damit beschäftigt). 16 Daß die gezeigten Künste sich in der Tat auf den Porträtierten beziehen, wird durch ein Gedicht Lomazzos

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Natale Conti: Mythologiae sive explicationis fabularum libri decern. Venezia 1551, S. 163, Sp. 1. Vincenzo Cartari: Imagini delli dei de gl'Antichi. Venezia 1556, S. 188. Ebd., S. 194. Rudolf Wittkower: Transformations of Minerva in Renaissance Imagery. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 2 (1938/39), S. 194-205 (deutsche Ausgabe in: Rudolf Wittkower: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1984, S. 246-270); Anton Pigler: Neid und Unwissenheit als Widersacher der Kunst (Ikonographische Beiträge zur Geschichte der Kunstakademien). In: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarium Hungaricae 1 (1954), S. 215-235; Hans-Joachim Raupp: Untersuchungen zu Kiinstleibildnis und Künstlerdarstellung in den Niederlanden im 17. Jahrhundert. Phil. Diss. Bonn 1979. Hildesheim/ Zürich/ New York 1984; Rupprecht Pfeiff: Minerva in der Sphäre des Herrscherbildes von der Antike bis zur Französischen Revolution. Münster 1987 (Bonner Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 1); Hansoon Lee: Kunsttheorie in der Kunst. Studien zur Ikonographie von Minerva, Merkur und Apollo im 16. Jahrhundert. Frankfurt (Main) 1996 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 28, Kunstgeschichte, Bd. 247). Scher (1994) (wie Anm. 7), S. 104, Nr. 28. Mark Wilchusky in: Scher (1994) (wie Anm. 7), S. 106. London, British Museum. Durchmesser 37 mm; Blei; gegossen. George Francis Hill: Portrait Medals of Italian Artists of the Renaissance. London 1912, S. 63, Nr. 43, Pl. XXVI. Horaz:Epist. 1, 1,11.

Mythologische

Elemente in Künstlerporträts

der

Renaissance

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Abb. 3 Antonio Abondio: Porträtmedaille des Jacopo Nizzola da Trezzo (15147-1589). Revers: Minerva und Vulkan. Wien, Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett.

Abb. 4

Annibale Fontana: Porträtmedaille des Paolo Lomazzo, um 1559. Revers: Der Maler vor Merkur und Fortuna. London, British Museum.

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belegt, der die vielseitigen Begabungen und damit zugleich die »virtù« Figinos rühmt: Scrivea de la virtù che tale e tanta Splendea nel Figin nostro Milanese: Poi che non senza lode à molta imprese Attende, pinge, suona, e in lira canta. 17

Zehn Jahre später hat Antonio Abondio auf dem Revers der Porträtmedaille des Jacopo Nizzola da Trezzo (15147-1589) Minerva in einer anderen Rolle gezeigt.18 Jacopo da Trezzo war Bildhauer, Medailleur, Steinschneider und Architekt, der nach einer vielseitigen Aktivität in Italien und den Niederlanden seit 1560 am spanischen Hof in Madrid arbeitete. Auf der Vorderseite ist im Profil nach links der Künstler porträtiert und durch die Umschrift bestimmt: IACOBVS NIZOLLA DE TRIZZIA MDLXXII. Unter der Jahreszahl 1572 findet sich die Signatur des ausführenden Künstlers: AN AB (Antonio Abondio). Auf dem Revers (Abb. 3) steht auf der linken Seite Minerva mit Helm, Lanze und Lorbeerzweig. Ihr gegenüber sitzt Vulkan auf einem Amboß, die Rechte auf einen Hammer gestützt. Am Boden liegen weitere Werkzeuge und Instrumente des Künstlers. Den rechten Fuß hat Vulkan auf einen Blasebalg gesetzt. Hinter ihm ist ein Ofen mit einem brennenden Feuer zu erkennen. Die Aufschrift oben ARTIBVS QVAESITA GLORIA (durch die Künste wird Ruhm erworben) führt unmittelbar zu der hier eingesetzten Verwendung mythologischer Figuren. Vulkan steht für die mechanische Herstellung von Kunst, Minerva für die notwendige geistige Ergänzung.

Merkur Neben Minerva war Merkur eine weitere Gottheit, von der zahlreiche Bezüge zum Künstlerdasein geläufig waren. Nach alter Tradition waren die artes mechanicae, wozu auch die Malerei und Bildhauerei zählten, unter den Schutz des Planetengottes Merkur gestellt.19 Darüber hinaus verweist Merkur auf das theoretische Studium und die Ausbildung im allgemeinen, die mit eifriger Arbeit verbunden ist.20 Hendrick Goltzius hat 1611 Merkur sogar als Gott der Malerei dargestellt.21 Vielleicht bezieht sich diese Darstellung auch auf eine antike Künstleranekdote, nach der Parrhasios sich als 17

18

19 20 21

Rime di Gio. Paolo Lomazzi Milanese Pittore. Milano 1587, S. 113; Hill (1912) (wie Anm. 15), S. 64. Porträtmedaille von der Hand des Antonio Abondio. Vielleicht 1571/72 in Spanien entstanden. Wien, Kunsthistorisches Museum, Münzkabinett 143.996. Durchmesser 70 mm; Bronze. Hill (1912) (wie Anm. 15), S. 70f„ Nr. 52, Pl. XXIX; Karl Schulz in: Scher (1994) (wie Anm. 7), S. 170, Nr. 60. Asemissen/Schweikhart (1994) (wie Anm. 4), S. 33-36. Lee (1996) (wie Anm. 12), S. 80ff. Asemissen/ Schweikhart (1994) (wie Anm. 4), S. 34, Taf III.

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Abb. 6 Giovanni Paolo Lomazzo: Selbstporträt, um 1568. Mailand, Pinacoteca di Brera.

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Abb. 7 Gian Maria Pomedello: Selbstbildnismedaille. Revers: Hercules. Berlin, Staatliche Museen, Preußischer Kulturbesitz, Münzkabinett.

Hermes selbst dargestellt hatte. »Man behauptet, daß Parrhasios einen Hermes gemalt habe, in dem er seine eigene Gestalt verborgen hätte und daß die Inschrift des Abbildes die Menschen getäuscht habe«.22 Daß die Verbindung zu den Göttern und gerade zu Merkur eine wichtige Angelegenheit war, zeigt die Porträtmedaille von Annibale Fontana (c. 1540-1587), die dieser um 1559 von Paolo Lomazzo anfertigte.23 Auf dem Revers (Abb. 4) nähert sich der Maler der Fortuna, wobei Merkur eine vermittelnde Rolle einzunehmen scheint. Gegen die Wandelbarkeit des Glücks wird hier die beschützende Rolle Merkurs angerufen. Bereits Hill hat 1912 die Vermutung geäußert, daß die Medaille von der Hand des Annibale Fontana stammen könnte.24 In einem Sonett Lomazzos mit dem Titel »Sopra una medaglia fatta da Annibale Fontana« spielt dieser unmittelbar auf eine Medaille von Fontana an: 22

23

24

Stefanie Marschke machte mich freundlicherweise auf dieses Beispiel aufmerksam. Das Bild wird in einer Rede des Themistios erwähnt; Themistii Orationes. Hg. von Wilhelm Dindorf. Hildesheim 1961, II, Kap. 29c, S. 34f. London, British Museum. Durchmesser 50 mm, Bronze. Inschrift: VTRIVSQVE (von jedem von beiden). Hill (1912) (wie Anm. 15), S. 62, Nr. 41, Pl. XXVI; Graham Pollard und Giuseppe Mauri Mori: Medaglie e Monete. I Quaderni dell'Antiquariato. Milano 1981 [Ristampa 1988], S. 15, Nr. 3. Hill (1912) (wie Anm. 15), S. 63; Pl. XXVI, 41; Pollard und Mori (1981) (wie Anm. 23), S. 18: »A Milano troviamo alcuni seguaci del Leoni, tra i quali Annibale Fontana che ritrae il pittore Lomazzo verso il 1559. Il ritratto è degno del Galeotti; nel rovescio la Fortuna presenta il Lomazzo a Mercurio, allusione agli studi astrologici del pittore.«

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La Prudenza ch'insieme è la Fortuna A cui ston innanzi chin, soprà un roverso Por fei d'una medaglia, u con stil terso Un mi ritrasse per furor di luna. 25

Es spricht für den phantasievollen und zugleich vertrauten Umgang mit den antiken Göttern im 16. Jahrhundert, daß die beschützende Funktion Merkurs zuweilen in eine fordernde und antreibende Haltung umschlagen konnte. Dies zeigt der Brügger Maler und Stecher Marcus Geeraerts (geb. zw. 1516 und 1521, gest. vor 1604) in einer Zeichnung aus dem Jahre 1577, die die Sorgen des Malers vor Augen führt (Abb. 5).26 Der Maler sitzt an der Staffelei und rauft sich die Haare. Er kommt nicht dazu, das Modell für eine Darstellung der Melancholie auf die Leinwand zu bringen. Seine Frau sitzt neben ihm und hat ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Eine alte Frau steht hinter ihm und weist auf die Kinder, die er zu versorgen hat. Hinter der Staffelei aber schaut Merkur hervor und berührt mit seinem Stab das Haupt des Malers. Amor ist unter der Staffelei hindurchgekrochen und zerrt am Malstock des Künstlers. Beide Gottheiten bedrängen also den Maler und verweisen ihn auf seine eigentliche Profession.

Bacchus Die künstlerische, insbesondere die dichterische Inspiration wurde bereits in der griechischen Mythologie in Verbindung mit Dionysos gebracht. Einiges davon wurde in der Renaissance auf Bacchus übertragen.27 Giovanni Paolo Lomazzo, Maler und Theoretiker, hat in seinem etwa 1568 entstandenen Selbstporträt in allegorischer Verhüllung auf die Verbindung zu Bacchus hingewiesen (Abb. 6).28 Gewand und Attribute sind die des Bacchus und deuten hier den furor poéticas an, die Inspiration also, ohne die das Künstlertum nicht auskommt.29 Der Zirkel kennzeichnet die Wissenschaftlichkeit der Malerei, die in gleicher Weise Voraussetzung für die Hervorbringung von Kunst ist.30 Lomazzo stellt sich hier gleichzeitig als »Abbate« 25 26 27 28 29

30

Zit. nach Hill (1912) (wie Anm. 15), S. 62. Marcus Geeraerts, Die Sorgen des Malers, 1577, Paris, Bibliothèque Nationale, Cabinet des Estampes; Asemissen/ Schweikhart (1994) (wie Anm. 4), S. 102. Andreas Emmerling-Skala: Bacchus in der Renaissance. Hildesheim/ Zürich/ New York 1994 (Studien zur Kunstgeschichte, Bd. 83), S. 4 7 1 ^ 8 7 . Maria Virginia Cardi: Intorno all'autoritratto in veste di Bacco di Giovan Paolo Lomazzo. In: Storia dell'arte 81 (1994), S. 182-193. Im Titel seiner Schrift »Rabisch« hat Lomazzo auf den furor eigens hingewiesen, der die Voraussetzung auch des literarischen Werkes war: »guarda [...] dentro l'opera, il mio furore«; Cardi (1994) (wie Anm. 28), S. 189. Kristina Herrmann-Fiorc: Due artisti allo specchio. Un doppio ritratto del Museo di Würzburg attribuito a Giovanni Battista Paggi. In: Storia dell'arte 47 (1983), S. 29-40, Abb. 12; Gunter Schweikhart: Künstler als Gelehrte. Selbstdarstellungen in der Malerei des 16. Jahrhunderts. In: Begegnungen. Festschrift für Peter Anselm Riedl zum 60. Geburtstag. Worms 1993, S. 18-27.

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Abb. 8 Antonio Salamanca: Porträt des Baccio Bandinelli, Kupferstich. Los Angeles, County Museum of Art.

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der Accademia di Bienio dar, deren Schutzherr Bacchus war.31 In Lomazzos Schriften und den Statuten wird ausdrücklich auf die Rolle des Bacchus, die Weisen auszuwählen und zu inspirieren, hingewiesen. Das Programm des Bildes ist deutlich; mythologische Elemente sowie die demonstrative Wissenschaftlichkeit verbinden den Künstler mit Bereichen, die ihn weit vom traditionellen Handwerker entfernen.

Herkules/Virtus Die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts hat die virtus des Künstlers als wesentliche Voraussetzung für die Hervorbringung von Kunst in der Vordergrund gestellt. Wie keine andere mythologische Gestalt ist Herkules als Verkörperung der virtus verstanden worden. Die Selbstbildnismedaille von Gian Maria Pomedello (1478/79-nach 1537), einem Veroneser Maler und Medailleur, zeigt diesen unmittelbaren Bezug.32 Der Avers zeigt das Selbstbildnis nach links in vornehmer Kopfbedeckung. Die Aufschrift bezeichnet den Dargestellten: IOfannes] MARIA POMED[ellus] V[eronensis] V[illafrancorum], Auf der Rückseite (Abb. 7) ist in Anlehnung an griechische Münzen ein Herkules als Salvator gegeben, sicher keine zufällige Übernahme, sondern eine auf den Künstler der Vorderseite orientierte Personifikation. Die Inschrift lautet: HERCVLES SALVATORIS (müßte wohl heißen: »Herculis salvatoris«; >von Herkules dem ErlöserHerkules und Cacus< zu sehen, die nach heftigen Auseinandersetzungen auf der Piazza della Signoria in Florenz aufgestellt worden war. In diesem Selbstbildnis verbinden sich Selbstbewußtsein und künstlerischer Anspruch mit einem demonstrativ vorgeführten sozialen Status. Auch wenn die Gruppe von Herkules und Cacus als Skulptur in den Bereich der höfischen Ikonographie gehört, gewinnt im Selbstporträt die Herkulesdarstellung zusätzliche Bedeutung als Künstlerallegorie. Dies wird nicht zuletzt durch die herausragende Rolle des Herkules auf dem Stich des Salamanca deutlich. Nicht immer tritt Virtus in mythologischer Verkleidung auf; zuweilen erscheint sie im Zusammenhang eines Künstlerbildnisses auch als Personifikation. Auf einer Bronzemedaille des Jacopo da Trezzo, die auch Leone Leoni zugeschrieben wurde, ist der Uhrmacher und Architekt Gianello della Torre dargestellt.35 Die Entstehung der Medaille wird überzeugend um 1550 angesetzt. Die Vorderseite zeigt Gianello della Torre, wobei die Aufschrift auch dessen berufliche Tätigkeiten angibt: IANELLVS TVRRIAN[us] CREMONfensis] HOROLOGfiarius] ARCHITECTfus]. Auf dem Revers (Abb. 10) findet sich die Aufschrift: VIRTVS NVNQ[uam] DEFICIT (>die Tugend fehlt niemalsan keinen bin ich gebunden und die ganze Welt umarme ichich opfere, wenn Fortuna mir günstig geneigt istde amoreMercurius VerPrimavera
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