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German Pages 449 [452] Year 1994
Renaissance-Poetik Renaissance Poetics
Christophoro Giarda, Bibliothecae Alexandrinae Icones Symbolicae (1628)
Renaissance-Poetik Renaissance Poetics Herausgegeben von Edited by
Heinrich F. Plett
W DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Library of Congress
Cataloging-in-Publication
Data
Renaissance-Poetik = Renaissance poetics / herausgegeben von Heinrich F. Plett. p. cm. Contributions in German, English, and French Includes bibliographical references and index. ISBN 3-11-013964-2 I . E u r o p e a n poetry - Renaissance, 1 4 5 0 - 1 6 0 0 — History and criticism. 2. Poetics - History. I. Plett, Heinrich F. II. Title: Renaissance poetics. PN1181.R46 1994 809.Γ031 - d c 2 0 94-29783 CIP
Die Deutsche
Bibliothek
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CIP-Einheitsaufnahme
Renaissance-Poetik = Renaissance poetics / hrsg. von Heinrich F. Plett. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 ISBN 3-11-013964-2 NE: Plett, Heinrich F. [Hrsg.]; Renaissance poetics
© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz &i Bauer-GmbH, Berlin
Vorwort Die Poetik der Renaissance hat die neuzeitliche Auffassung von Literatur nachhaltig geprägt. Trotzdem wurde sie in den vergangenen Jahrzehnten kaum in dem gebührenden Maße gewürdigt. Zwar nahm das allgemeine Interesse an dichtungstheoretischen Fragestellungen ständig zu, doch galt dies vornehmlich den jeweiligen Modeströmungen der Zeit. Die Geschichte der Poetik selbst wurde darüber häufig vernachlässigt. Die vorliegende Veröffentlichung will die Aufmerksamkeit der Wissenschaft für die Poetik der Renaissance zurückgewinnen, zumal deren Erforschung bei weitem nicht abgeschlossen ist. In 18 Überblicks- und Einzeldarstellungen werden nationale und supranationale Entwicklungen, aber auch einzelne Konzepte und Autoren erörtert. Der Gegenstand der Poetik umfaßt dabei nicht nur sprachliche, sondern auch multimediale Kunstwerke, deren Bedeutung in der Spätrenaissance erheblich zunimmt. Gewiß kann in einer Publikation dieser Art nicht die ganze Fülle des theoretischen Spektrums ausgebreitet werden. Die hier eröffneten Perspektiven sollen vielmehr dazu anregen, das schier unerschöpfliche Reservoir der RenaissancePoetik - nicht nur der volkssprachlichen, sondern besonders auch der neulateinischen - weiter zu erforschen. Diesem Zweck dient nicht zuletzt der einleitende Überblicksartikel sowie die den Band beschließende Bibliographie der einschlägigen Forschungsliteratur. Wie ihr theoretisches Pendant, die 1993 im gleichen Verlag erschienene Veröffentlichung zur Renaissance-Rhetorik, verdankt die vorliegende Publikation ihr Erscheinen einer Reihe von Personen und Institutionen. Zuvörderst seien die Autoren genannt, die sich bei der Ausarbeitung ihrer Beiträge bereitwillig den Wünschen des Herausgebers öffneten. Das Essener Zentrum für Rhetorik- und Renaissance-Studien wurde auch diesmal durch einen nennenswerten Beitrag der Universität Essen und der Gesellschaft von Freunden und Förderern der Universität unterstützt. Meine Mitarbeiter engagierten sich bei der Lösung zahlreicher Detailfragen, beim Korrekturlesen und bei der Erstellung des Registers. Zu nennen sind hier vor allem Antje Dietrich-Strölau, Andrea Grün-Oesterreich, M.A., Sabine Holländer, M.A. und Dr. Richard Nate. Johannes Czaia gebührt das
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Vorwort
Verdienst, mit Umsicht und Engagement die Vielzahl der Druckvorlagen in die einheitliche Gestalt eines Buches überführt zu haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Nicht zuletzt gilt der Dank des Herausgebers dem Verlag Walter de Gruyter, der sich des Projekts mit Sympathie annahm und es sorgfältig betreute.
Essen, im Sommer 1994
H.F.P.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
HEINRICH F. PLETT Renaissance-Poetik: Zwischen Imitation und Innovation
1
I. Überblicksdarstellungen AUGUST BUCK Poetiken in der italienischen Renaissance: Zur Lage der Forschung
23
RAINER STILLERS Zwischen Legitimation und systematischem Kontext: Zur Stellung der Mythologie in der italienischen Renaissancepoetik
37
THOMAS LEINKAUF Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert: Seine philosophische Bedeutung und Hinweise auf sein Verhältnis zur Theorie von Poesie und Kunst
53
KARL KOHUT Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
75
BERNHARD ASMUTH Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum: Mit einem Hinweis auf die von Celtis eröffnete Lebendigkeit des Schreibens
94
KEES MEERHOFF Imitation: Analyse et creation textuelles
114
WOLFGANG G. MÜLLER Das Problem des Stils in der Poetik der Renaissance
133
VIII
Inhaltsverzeichnis
HEINRICH F. PLETT Gattungspoetik in der Renaissance
147
HELMUT SCHANZE Zur Konstitution des Gattungskanons in der Poetik der Renaissance
177
BARBARA BAUER Multimediales bei den JesuitenTheater: Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie
197
II. Einzeldarstellungen KLAUS LEY Das Erhabene als Element frühmoderner Bewußtseinsbildung: Zu den Anfängen der neuzeitlichen Longin-Rezeption in der Rhetorik und Poetik des Cinquecento
241
MARIJKE SPIES Between Epic and Lyric: The Genres in J.C. Scaliger's Poetices Libri Septem
260
RAINER LENGELER "Mongrel tragi-comedy": Chaosdarstellung und Gattungsmischung in The Spanish
Tragedy und Romeo and Juliet
271
RICHARD NATE Literatur und Imagination in Francis Bacons System der Wissenschaften
286
BERNHARD F. SCHOLZ The Brevity of Pictures: Sixteenth and Seventeenth Century Views on Counting the Figures in Impresas and Emblems
315
KARL JOSEF HÖLTGEN The Emblematic Theory and Practice of the English Jesuit Henry Hawkins (1577-1646)
338
Inhaltsverzeichnis
IX
DEREK Ν. C. WOOD Aristotle and Milton's Poetics
362
PIET H. SCHRIJVERS De enthusiasmo poetico: La discussion continuäe: Burmannus, Vossius, Petitus ANDREA GRÜN-OESTERREICH/RICHARD NATE Renaissance-Poetik: Eine Bibliographie der Forschungsliteratur
391
Register
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377
HEINRICH F. PLETT
Renaissance-Poetik Zwischen Imitation und Innovation
In einer alten Darstellung, die das Frontispiz dieses Bandes wiedergibt, erscheint die Poesie personifiziert als eine attraktive junge Frau: auf dem Haupt ein Lorbeerkranz mit Sonnendekor - die Symbole von Ruhm und Unsterblichkeit, in ihren Händen und zu ihren Füßen verschiedene Musikinstrumente - die Sinnbilder poetischer Affekte und Gattungen, die schlanke Gestalt bekleidet mit einem blumenbestickten Gewand - ein Anblick voll Anmut und Grazie. Die lange Bilderklärung, die dem Kupferstich beigegeben ist, liest sich wie ein Commonplace Book der Renaissance-Poetik. Zu Formeln verkürzt sind dem symbolischen Bild der POESIA einige Topoi als inscriptiones vorangestellt, darunter die folgenden: "caeli donum", "effictrix rerum omnium", "domitrix ferarum", "et prodesse potes et delectare" und "soleas quamvis non facere, sed fingere". Bild und Text dieser Darstellung finden sich in den Bibliothecae Alexandrinae Icones Symbolicae des Christophoro Giarda (1572-1649), der für die systematische Ausschmückung der berühmten Bibliothek von San Alessandro in Mailand ein Bildprogramm von sechzehn Allegorien der Künste und Wissenschaften entwarf. 1 Das Publikationsdatum des Buches ist das Jahr 1628. Das Erscheinungsbild, das die Dichtung hier bietet, stellt in der Renaissance nicht immer eine Selbstverständlichkeit dar. Es repräsentiert vielmehr das Endstadium eines langwierigen Prozesses, in dem die Poesie 1
C. Giarda, Bibliothecae Alexandrinae Icones Symbolicae (1628). FacsimileReprint. Ed. S. Orgel. New York / London 1979, pp. 90-98. Das Bild der "Poesia" findet sich zusammen mit dem Motto zwischen den Seiten 90 und 91 (unpaginiert). Eine vergleichbare Ikonographie der "Poesia" enthält Cesare Ripas Iconologia (1603). Facsimile-Reprint. Ed. E. Mandowsky. Hildesheim / New York 1970, pp. 406-408. - Zu Christophoro Giarda vgl. E.H. Gombrich,
Symbolic Images: Studies in the Art of the Renaissance. London 1972, pp. 145146,148-150, 228-229 (A.4).
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um ihre theoretische Legitimation rang. Im Mittelalter als ein Teilbereich der Grammatik bzw. der Rhetorik eher geduldet als geachtet, erkämpfte sie sich seit dem 14. Jahrhundert allmählich einen Platz unter den studia humanitatis. Der Weg dorthin war nicht frei von Rückschlägen. Dichtungsapologien und literarische Streitschriften gingen der Entstehung voluminöser Regelpoetiken voraus. Nicht minder schwierig erwies sich im 20. Jahrhundert die historische Aufarbeitung dieses poetologischen Prozesses. Die Gründe dafür sind vielfältig: mangelnde Kenntnis der Quellen, insbesondere der neulateinischen, ahistorische Literaturkonzepte, nicht zuletzt eine weit verbreitete Aversion gegenüber Theorien. Als Folge dieser Einstellung gibt es heute noch ein unübersehbares Defizit an Editionen und Kommentaren der Quellentexte, an historischen Einzel- und Gesamtdarstellungen der Renaissance-Poetik sowie an poetologisch fundierten Interpretationen der RenaissanceLiteratur. Von den Schwierigkeiten und Fortschritten auf diesen Gebieten legen die Forschungsberichte der vergangenen Jahrzehnte beredtes Zeugnis ab. 2 Gewiß bedarf es noch vieler wissenschaftlicher Detailstudien, bevor ein umfassender Überblick über die europäische Renaissance-Poetik erscheinen kann. Die Erforschung der Rhetorik der Renaissance ist im Vergleich dazu, nicht zuletzt dank des gegenwärtigen Aufschwungs dieser Disziplin, bereits ein erhebliches Stück weiter vorangeschritten. 3 Die folgenden Ausführungen widmen sich den Grundlagen, Themen und Formen der Renaissance-Poetik.
1. Grundlagen
der
Renaissance-Poetik
Wer die Quellen dieser Poetik untersucht, sieht sich folgenden Fragen gegenüber: Wie ist der Gegenstand der Renaissance-Poetik definiert? Welche sind ihre textuellen Manifestationen? Welchen Umfang hat ihre raumzeitliche Distribution? Die Antworten auf diese Fragen fallen recht
2
3
Vgl. dazu u.a. A. Buck, "Romanische Dichtung und Dichtungslehre in der Renaissance: Ein Forschungsbericht." DVLG 33 (1959), 588-607; R. Stillers, "Dichtungslehren in der italienischen Renaissance: Ein Bericht über ihre Erforschung seit 1960." RJb 32 (1981), 48-68; H.F. Plett, "Texte und Interpretationen: Zum Forschungsstand von Rhetorik und Poetik der englischen Renaissance." GGA 237 (1985), 77-97. Vgl. die Beiträge in Renaissance-Rhetorik/Renaissance Rhetoric. Ed. H.F. Plett. Berlin/New York 1993 und Renaissance Rhetoric. Ed. P. Mack. Basingstoke 1993.
Renaissance-Poetik
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unterschiedlich aus, so daß sich mit dem Ausdruck 'Renaissance-Poetik' von Fall zu Fall eine andere Bedeutung verbinden kann. Einigen Schwierigkeiten, diese Bedeutungsvielfalt einzugrenzen, soll nachfolgend nachgegangen werden. Was heißt 'Poetik'? Es liegt nahe, diesen Begriff mit dem gleichen semantischen Inhalt zu füllen, den ihm Werktitel wie M.G. Vidas De arte poetica libri III (1527), Jacques Peletiers Art poetique (1555), Lodovico Castelvetros Poetica d'Aristotele vulgarizzata et sposta (1570) oder George Puttenhams The Arte of English Poesie (1589) verleihen. Demnach ist Poetik gleichzusetzen mit einer Kunstlehre (ars) zur Verfertigung v o n Dichtungen in den klassischen oder den modernen (volgare) Sprachen. Zu diesem Zweck entwirft sie ein System von Kunstregeln (praecepta), die sie anhand von Beispielen (exempla) illustriert. Eng damit verbunden ist die literarische Wertung, die anhand eines Kriterienkatalogs positiver (virtutes) und negativer (vitia) Eigenschaften die Nachahmung (imitatio) bestimmter literarischer Vorbilder entweder empfiehlt oder ablehnt. Aus derartigen Prämissen resultieren schließlich Ansätze zu einer Literaturgeschichte, zunächst der antiken, dann, im Vergleich mit dieser, auch der υ ο Zga r e-Literatur. Renaissance-Poetiken enthalten folglich theoretischpräskriptive, evaluativ-exemplarische und historisch-komparative Bestandteile, und zwar in unterschiedlicher Gewichtung. Der Dichtungsbegriff, den die Dokumente der Renaissance-Poetik aufweisen, basiert im wesentlichen auf dem Gattungskonzept der antiken Poetik. Die Imitation des klassischen Kanons gilt als oberstes Gebot. Zugleich beginnen neue, theoretisch nicht legitimierte Gattungen diesen Kanon zu dekonstruieren: Sonett, Ballade, Tragikomödie, Romanze, Novelle, R o m a n . 4 Logozentrische Nachbardisziplinen wie Rhetorik, Dialektik und Geschichtsschreibung schaffen Übergangsformen zwischen poetischer und nicht-poetischer Darstellung: Essay, 'Character', Anatomie, Reisebericht. Solche Ausweitungen des Begriffs von Poetizität finden zunächst nur sporadisch Eingang in die von Horaz und Aristoteles 4
Zur Gattungspoetik vgl. allgemein I. Behrens, Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst - vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert: Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle 1940; R.L. Colie, The Resources of Kind: GenreTheory in the Renaissance. Ed. B.K. Lewalski. Berkeley/Los Angeles/London 1973; B.K. Lewalski (ed.), Renaissance Genres: Essays on Theory, History, and Interpretation. Cambridge, Mass./London 1986. - Auf eine bibliographische Erfassung der Studien zu den 'neuen' Gattungen sei angesichts der großen Zahl der Publikationen an dieser Stelle verzichtet.
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geprägten Poetiken. Ihr theoretischer Ort sind eher konventionelle metapoetische Kommunikationsformen wie der Widmungsbrief, das Vorwort oder die Streitschrift. Die Innovationsfreude der Poeten und Poetologen macht indes nicht bei dem Reservoir sprachästhetischer Inventionen halt, sondern bemächtigt sich auch ihrer Kombinationsmöglichkeiten mit nicht-verbalen Zeichenkonfigurationen. Das Resultat sind Texthybriden: visuell-verbale wie Embleme und Imprese; musikalisch-verbale wie Canzone und Madrigal; schließlich visuell-musikalisch-verbale wie Maskenspiel und Oper. Als Synthese von Wort, Musik und Bild repräsentieren Maskenspiel und Oper Annäherungen an die Idee des Gesamtkunstwerks. Das theoretische Konstrukt dazu ist eine multimediale Poetik. Diese wird freilich, wie das Beispiel des Maskenspiels 5 lehrt, hauptsächlich in fragmentarischen Äußerungen greifbar. Teilbeiträge dazu finden sich an verschiedenen Orten: in Poetiken, in Emblem-, Architektur- und Musiktraktaten, auch in den Werken selbst. Damit ist die zweite der hier zur Diskussion anstehenden Fragen angeschnitten: Welche sind die textuellen Manifestationen der RenaissancePoetik? Vorab ist zwischen neulateinischen und volkssprachlichen Äußerungen zur Poetik zu unterscheiden. Während sich erstere an die europäische Elite gelehrter Humanisten wenden, richten sich letztere an ein breiteres Lesepublikum einer Sprachgemeinschaft. In beiden Fällen treten Barrieren in Erscheinung, welche die Distribution der Quellen eingrenzen: im ersten Fall eine soziale - das Bildungsniveau, im zweiten Fall eine linguistische - die Sprachgrenze. So stehen sich zwei höchst unterschiedliche poetologische Textcorpora gegenüber: ein einheitssprachliches von hoher und ein vielsprachliches von reduzierter internationaler Kommunikativität. Die Entstehung der modernen Literaturwissenschaft aus dem Geist der Nationalphilologie bewirkte, daß den volkssprachlichen Entwicklungen die vorrangige Aufmerksamkeit galt. Die neulateinischen Dokumente sind daher in geringerem Umfang erschlossen. Häufig reduziert sich ihr Status auf die Funktion der Quelle oder des Analogons eines volkssprachlichen Traktats. Sieht man von dieser zweigeteilten Quellensituation ab, die sich ihrerseits in einer weitgehend disparaten Editions- und Rezeptionsge-
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Vgl. E. Welsford, The Court Masque: Α Study in the Relationship Poetry & Revels. New York 1962 ( 1 1927).
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Renaissance-Poetik
schichte niederschlägt, so lassen sich grundsätzlich zwei poetologische Textklassen aufstellen: (1) selbständige Poetiken, (2) nicht-selbständige poetologische Äußerungen in Abhängigkeit von andersgearteten Texten. Während die erste Textklasse durch die Publikationsart eine eigene Wirkungsweise entfaltet, ist die zweite untrennbar mit dem Primärtext verbunden. Je nach der Art dieser Verbundenheit handelt es sich um Paratexte,6 d.h. um nicht-selbständige Texte, die andere Texte begleiten: z.B. Titel, Vor- und Nachwort, Dedikation, Anmerkungen, Marginalien, Kommentar, Rezension; oder aber um Intratexte,7 d.h. solche nicht-selbständigen Texte, die in andere als poetische Metatexte eingeschrieben sind: die sogenannte "immanente Poetik" eines künstlerischen Werkes. Der grundsätzliche Unterschied zwischen poetologischen Para- und Intratexten besteht darin, daß erstere einen anderen (primären) Text einschließen, während letztere von einem solchen gleichsam eingeschlossen sind. In der Regel ist der poetologische Paratext leichter isolierbar und eignet sich daher zum Anthologisieren. Die Poetiken der Renaissance sind in Einzelausgaben oder Textanthologien zugänglich. Bernhard Fabian gebührt das Verdienst, eine große Zahl neulateinischer und volkssprachlicher Traktate Italiens in einer 25bändigen Faksimile-Reihe Italienische
Poetiken
des
Cinquecento
(Mün-
chen: Fink, 1967-1970) veröffentlicht zu haben - freilich ohne historische Einleitungen und Kommentare. Beides findet sich in Bernard Weinbergs vierbändiger Anthologie kürzerer Schriften: Trattati di poetica e di retorica del Cinquecento (Bari: Laterza, 1970-1974). Von den bedeutenden Poetiken der italienischen Renaissance sind nur wenige in modernen Einzelausgaben8 verfügbar; die vorhandenen Teilausgaben (oder auch
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Der Ausdruck wurde geprägt von Görard Genette, Seuils. Paris 1987; dte. Übers, von D. Hornig u.d.T.: Paratexte. Frankfurt 1989. Der Terminus "Intratext" wurde analog zum Terminus "Intertext" gebildet. Ein Beispiel für die historische Rekonstruktion einer intratextuellen Poetik ist Ekbert Faas' Studie Shakespeare's Poetics. Cambridge 1986 mit Exkursen zu "Montaigne's poetics" (pp. 83-87) und "Bacon's poetics" (pp. 87-89). Beispiele sind die Ausgaben von M.G. Vidas De arte poetica (1527) durch R.G. Williams (New York 1976) und R. Girardi (Bari 1982); von Girolamo Fracastoros Naugerius, sive de poetica dialogus (1555) durch R. Kelso (Urbana 1924); von Lodovico Castelvetros Poetica d'Aristotele vulgarizzata et sposta (1570) durch W. Romani (Rom/Bari 1978-1979); von G.B. Giraldi Cinzios Scritti critici durch C. Guerrieri Crocetti (Mailand 1973).
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Heinrich F. Plett
Teilübersetzungen) 9 stellen daher auch heute noch häufig die einzige bequem erreichbare Informationsquelle dar. Die französische Entwicklung ist in Francis Goyets annotierter Textedition von Traites de poetique et de rhitorique de la Renaissance (Paris: Livre de Poche, 1990) gut dokumentiert. 10 Den chronologischen Auftakt zur Anthologisierung von Poetiken und poetologisch relevanten Textexzerpten bilden freilich zwei angelsächsische Veröffentlichungen: G. Gregory Smiths zweibändige Elizabethan Critical Essays (Oxford: Oxford UP, 1904) und Joel E. Spingarns dreibändiges Werk Critical Essays of the Seventeenth Century (Oxford: Clarendon Press, 1908-1909), beide versehen mit ausführlichen Einleitungen und Kommentaren. Dies belegt den hohen Forschungsstandard der englischen Renaissance-Poetik. Eine solche Feststellung wird noch durch das Faktum erhärtet, daß von keiner Renaissance-Poetik so viele moderne Einzelausgaben existieren wie von Sir Philip Sidneys An Apology for Poetry (1595), nämlich etwa zwanzig, darunter auch einige kommentierte, ganz zu schweigen von den Neuauflagen sowie weiteren Veröffentlichungen in Gesamtausgaben und Anthologien. Die angelsächsische Forschung ist auch führend in der editorischen Erschließung der poetologischen Para- und Intratexte, wie sich u.a. an den Anthologien von David Klein, Clara Gebert und Bernard Weinberg zeigt. 11 Dies sollte freilich nicht den Blick dafür versperren, daß einige bedeutende neulateinische Quellen noch nicht in kritischen Ausgaben und Übersetzungen vorliegen: z.B. Antonio Sebastiano Minturnos De Poeta (1559), Julius Caesar Scaligers Poetices Libri Septem (1561) oder Daniel Heinsius' De Tragoediae Constitutione (1611).12 Werke dieser Art 9
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11
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Vgl. etwa die Sektion "Italien" in Dichtungslehren der Romania aus der Zeit der Renaissance und des Barock. Ed. A. Buck/K. Heitmann/W. Mettmann. Frankfurt 1972, pp. 7-251 sowie die Teilübersetzungen italienischer Poetiken in Literary Criticism: Plato to Dryden. Ed. A.H. Gilbert. Detroit 1962 (^940), pp. 207-232, 242-403, 466-533. Vgl. schon früher: Dichtungslehren der Romania. Ed. A. Buck et al., Sektion "Frankreich", pp. 253-500 und S.J. Holyoake, An Introduction to French Poetic Theory: Texts and Commentary. Manchester/New York 1972. D. Klein (ed.), The Elizabethan Dramatists as Critics. London/New York 1963 ( 1 1910); C. Gebert (ed.), An Anthology of Elizabethan Dedications & Prefaces. Philadelphia 1933; B. Weinberg (ed.), Critical Prefaces of the French Renaissance. Evanston, 111., 1950. Alle drei Poetiken liegen zur Gänze nur als Facsimile-Reprints vor: Minturno wurde von B. Fabian (München 1970), Scaliger von A. Buck (Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, repr. 1987), Heinsius von W.A. Koch (Hildesheim/New York 1976) herausgegeben. - Kürzlich hat Luc Deitz Band I einer kritischen Edition, Übersetzung
Renaissance-Poetik
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schufen nicht bloß nationale, sondern europäische Maßstäbe. Ohne sie läßt sich die Geschichte der Renaissance-Poetik nicht schreiben. Welche sind nun die zeitlichen und räumlichen Grenzen dieser Poetik? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Unbestritten ist die Tatsache, daß es in Italien bereits eine florierende Poetik im neuzeitlichen Verständnis gab, als im übrigen Europa noch weiterhin die "Dunkelheit" (tenebrae) der Unwissenheit (Petrarca) herrschte. Aus diesem Grund reklamiert die Romanistik das Terrain der Renaissance-Poetik weitgehend für sich. Dafür spricht die Vielzahl der Studien - von Karl Vossler bis August Buck, von Joel E. Spingarn bis Bernard Weinberg, von Ciro Trabalza bis Danilo Aguzzi-Barbagli.13 Ausgehend von Italien, wurde für die Länder nördlich der Alpen eine translatio studii postuliert mit der (nicht unbedingt gewollten) Konsequenz, daß die Poetiken der "nördlichen Renaissance" (M. Mann Phillips) häufig als Derivate italienischer Vorlagen aufgefaßt wurden. Damit aber stellen sich die folgenden Fragen: Besitzen auch die übrigen volkssprachlichen Renaissance-Poetiken ein eigenständiges Profil? Welche Merkmale verbinden sie miteinander? Die eindeutige Beantwortung dieser Fragen wird durch zwei Faktoren erschwert. Der erste betrifft die unterschiedliche Größenordnung des poetologischen Textcorpus in den einzelnen Sprachgebieten. Im Vergleich zu den z.T. recht umfangreichen Poetiken der italienischen Renaissance nehmen sich die in den Anthologien von G.G. Smith und J.E. Spingarn gesammelten englischen Zeugnisse eher bescheiden aus. Analoges gilt auch bezüglich der Zahl der spanischen Dokumente. 1 4 Der zweite Faktor bringt die zeitliche Verund Erläuterung von Scaligers Poetik (Buch 1 und 2) vorgelegt: Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1994. - Englische Teilübersetzungen existieren
von Minturno in: Literary Criticism: Plato to Dryden. Ed. A.H. Gilbert, pp. 274303; von Scaliger in: Select Translations from Scaliger's Poetics. Ed. F.M. Padelford. New York 1905; von Heinsius in: On Plot in Tragedy. Ed. P.R. Sellin/J.J. McMannon. Northridge, Cal., 1971.
13
K. Vossler, Poetische Theorien in der italienischen Frührenaissance. Berlin 1900; A. Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance. Tübingen 1952; J.E. Spingam, A History of Literary Criticism in the Renaissance (1899). With a New Introduction by B. Weinberg. New York 1963; B.
Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance. 2 vol. Chicago 1961; C. Trabalza, La critica letteraria nel Rinascimento. Mailand 1915; D. Aguzzi-Barbagli, "Humanism and Poetics." Renaissance
Humanism:
Foundations, Forms, and Legacy. Ed. A. Rabil. 3 vol. Philadelphia 1988, vol. Ill,
14
pp. 85-169. Vgl. Dichtungslehren pp. 501-600.
der Romania.
Ed. A. Buck et al., Sektion "Spanien",
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Schiebung in der Entstehung nationalsprachlicher Poetiken ins Spiel. Während für die Italianisten mit dem Cinquecento die Blütezeit der Renaissance-Poetik endet, pflegen die Französisten ihre Darstellungen u m 1550, die Anglisten die ihren erst um 1570 zu beginnen. In Deutschland gilt als Anfang der volkssprachlichen Poetik Martin Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey aus dem Jahre 1624 - eine Schrift, die manche Forscher bereits zum Barockzeitalter zählen. 1 5 J.W.H. Atkins schließt andererseits seine Geschichte der englischen Renaissance-Poetik mit John Milton ab, das heißt mit einem Zeitraum, da in Frankreich bereits das sücle classique in Blüte stand. 16 Solche Unterschiede erschweren das Unterfangen, die RenaissancePoetik raumzeitlich exakt zu terminieren, ganz erheblich. Vor allem der Übergang zu Barock und Klassizismus schafft Probleme. Ob man den heraufziehenden Wandel von der Nachahmungs- zur Genieästhetik, vom Ciceronianismus zum Manierismus, von der Freiheit der Invention zum klassizistischen Regelkanon als Umbruch oder Konsequenz aus den gegebenen Prämissen deutet, ist letztlich Ansichtssache. 17 Das Ende der Renaissance-Poetik kündigt sich freilich unabwendbar mit der "Querelle des anciens et des modernes" an. 1 8 Indem Charles Perrault, William Wotton und andere moderni der zeitgenössischen Literatur einen Fortschritt gegenüber den Klassikern konzedieren, leiten sie die Trennung von eben jener Antike ein, deren renovatio gerade die Grundlage für Poesie und Poetik der Renaissance bildet.
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Vgl. u.a. die Anthologie Poetik des Barock. Ed. M. Szyrocki. Reinbek 1968, pp. 7-55. J.W.H. Atkins, English Literary Criticism: The Renascence. New York/London 1968 ( 1 1947), Kap. XI: "The Last Phase: Jonson and Milton." Bezeichnend für das Dilemma sind die Titel (bzw. Untertitel) der folgenden Darstellungen: C.S. Baldwin, Renaissance Literary Theory and Practice: Classicism in the Rhetoric and Poetic of Italy, France, and England 1400-1600. Ed. D.L. Clark. New York 1939; A. Buck, "Dichtungslehren der Renaissance und des Barocks." Renaissance und Barock. Ed. A. Buck. 2 vol. Frankfurt 1972, vol. I, pp. 28-60; C.C. Greenfield, Humanist and Scholastic Poetics, 1250-1500. Lewisburg/Toronto/London 1981. Literatur: H. Baron, "The Querelle of the Ancients and Modems as a Problem for Renaissance Scholarship." JHI 20 (1959), 3-22; W. Krauss, "Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes." Essays zur französischen Literatur. Ed. W. Krauss. Berlin / Weimar 1968, pp. 130-194 (341); A. Buck, Die 'Querelle des Anciens et des Modernes'im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barocks. Wiesbaden 1973.
Renaissance-Poetik 2. Traditionen
und Themen
der
9
Renaissance-Poetik
Die Themen dieser Poetik werden von den Traditionssträngen vermittelt, durch die das literaturtheoretische Denken in die Renaissance Eingang fand. B. Weinberg 19 unterscheidet deren drei: (1) (2) (3) Diese (4) (5)
Horaz' Ars Poetim und ihre Tradition; Aristoteles' Poetik und ihre Tradition; die (neu)platonische Tradition. Trias ist durch zwei weitere Rezeptionskanäle zu ergänzen: die klassische Rhetorik und ihre humanistische Adaption, die Hl. Schrift und ihre Exegese von den Kirchenvätern bis zu den Theologen von Reformation und Gegenreformation. Die einzelnen Traditionsstränge begründen jeweils einen bestimmten poetologischen Typus. So läßt sich von horazischer, aristotelischer, neuplatonischer, rhetorischer und biblischer Poetik sprechen. Allerdings erscheinen die einzelnen Typen kaum je in unvermischter Form. Der Regelfall ist die synkretistische Poetik, in der zwei oder mehr Traditionsstränge miteinander kontaminiert werden. Aus analytischen Gründen werden die einzelnen Typen zunächst isoliert behandelt. Die Ars Poetica des Horaz, korrekter als Epistola ad Pisones bezeichnet, ist keine streng wissenschaftliche Poetik, sondern artikuliert literaturtheoretische Ansichten in der ungezwungenen Form einer Versepistel. Dieser Umstand hinderte humanistische Kommentatoren wie Cristoforo Landino (1482) und Badius Ascensius (1560) nicht daran, sie einer gründlichen philologischen Exegese zu unterziehen. Die Tendenz dieser Anstrengungen, die in Giovanni Battista Pignas Poetica Horatiana (1561) gipfeln, läßt sich mit den Worten von William Webbes Einleitung zu seiner Übersetzung (1586) des lateinischen Horaz-Kommentars (1560) des Georg Fabricius von Chemnitz treffend erläutern: Heere followe the Cannons or generali cautions of Poetry, prescribed by Horace, first gathered by Georgius Fabricius Chemnicensis: which I thought good to annex to thys Treatise, as very necessary obseruations to be marked of all Poets.20 19 20
Weinberg, A History of Literary Criticism, vol. I; Aguzzi-Barbagli, "Humanism and Poetics" fußt auf Weinbergs Darstellung. Smith (ed.), Elizabethan Critical Essays, vol. I, p. 290. - Zur Ars Poetica in Italien: Weinberg, A History of Literary Criticism, vol. I, pp. 71-249; - in England: A.R. Benham, "Horace and His Ars Poetica in English: A Bibliography." Classical Weekly 49 (1955), 1-5; - im Kontext bei Georg
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Demzufolge werden aus Horaz' persönlichen Ratschlägen an die Pisonen allgemeine Vorschriften, die jeder Dichter einzuhalten hat. Sie betreffen die Themen: Kunst und Natur, die poetische Imitation, die Funktionen von Literatur (prodesse - delectare), die Gattungen Epos und Tragödie, vor allem das decorum, dessen thematische, stilistische, strukturelle und soziale Implikationen das Zeitalter sehr beschäftigten. Die RenaissanceKommentare scheuen sich nicht, zur Auslegung dieser Konzepte die Poetik des Aristoteles sowie die Traktate der antiken Rhetorik heranzuziehen. 2 1 Aristoteles' Poetik, der erste Versuch einer wissenschaftlichen Abhandlung der Dichtkunst, gilt der modernen Kritik geradezu als Erfindung der Italiener. In der Antike kaum bekannt, gelangte diese Fragment gebliebene Schrift in der Renaissance erst relativ spät zu Ansehen. Nach der lateinischen Übersetzung durch Giorgio Valla (1498), der zehn Jahre später die editio princeps des Aldus Manutius (1508) folgte, dauerte es ein halbes Jahrhundert, bis mit Francesco Robortellos In librum Aristotelis de arte poetica explicationes (1548) die Phase der großen Cinquecento-Kommentare einsetzte. Ihren Höhepunkt erreichte sie mit Lodovico Castelvetros Poetica d'Aristotele vulgarizzata e sposta (1570), einem poetologischen Kommentar, der freilich bereits in ein systematisches Modell der Literatur integriert wird. 2 2 Die Themen, die sich im Verlauf der zunehmenden Aristoteles-Rezeption immer deutlicher in den Vordergrund schieben, sind u.a.: die Konzepte μύμησυς, ήόονή und κότθαρσυς, das Wahre und das Wahrscheinliche, die Konstituenten der Tragödie: Fabel, Charakter, die drei Einheiten, usw. Die Theorie der poetischen Sprache wird aus Buch III der Rhetorik ergänzt. Im übrigen werden Horaz' Ars Poetica und die antiken Rhetoriktraktate zur Erklärung der Aristotelischen Poetik herangezogen.
21
22
Fabricius: E. Schäfer, Deutscher Horaz: Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde. Wiesbaden 1976, pp. 45-52. Vgl. dazu die vorzügliche Studie von M.T. Herrick, The Fusion of Horatian and Aristotelian Literary Criticism, 1531-1555. Urbana, 111., 1946. Vgl. R. Stillers, Humanistische Deutung: Studien zu Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance. Düsseldorf 1988, pp. 233-276; zu F. Robortello ibid., pp. 107-181. - Zur Gesamtentwicklung: Weinberg, A History of Literary Criticism, vol. I, pp. 349-634; vol. II, pp. 635-714. - Zur englischen Rezeption: M.T. Herrick, The Poetics of Aristotle in England. New Haven, Conn., 1930, repr. New York 1976. - Andrew Bongiorno übersetzte einen Teil von Castelvetros Kommentar u.d.T.: Castelvetro on the Art of Poetry. With Introduction and Notes. Binghamton, N.Y., 1984.
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Die (neu)platonische Tradition in der Renaissance-Poetik geht nicht auf einen einzigen Text zurück, denn Piaton verfaßte keine Dichtungslehre. Als Ausgangsbasis dient vielmehr ein Konglomerat philosophischer Schriften, die sich in unterschiedlicher Intensität zu ästhetischen Fragen äußern: zuerst die Platonische Trias der Dialoge Ion, Phaidros und Politeia, weiterhin die Schriften Plotins und anderer antiker Platoniker, schließlich die Traktate der Florentiner Akademie (Marsilio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola) und ihrer Gefolgsleute (z.B. Giordano Bruno). 2 3 Die Themen, die in ihnen dominieren, betreffen weniger das Technische am poetischen Schaffensvorgang als vielmehr generelle Konzepte: z.B. die Idee des Schönen, die schöpferische Imagination, den furor poeticus, die neuplatonische Bildtheorie, die Vorstellung vom Dichter als Seher (vates) und Demiurg. Derartige Denkmuster begründen keine genuin neuplatonische Poetik, die infolge des Fehlens von technischen Details zum Scheitern verurteilt wäre, sondern hinterlassen ihre Spuren teils in der klassisch geprägten Poetiktradition (z.B. G. Fracastoro, F. Patrizi), teils in den poetologischen Intratexten der Dichtungen selbst.24 Nicht sollte freilich übersehen werden, daß aus Piatons Idealstaat die Dichter weitgehend verbannt waren. Damit ist der gleiche Philosoph auch Urheber einer antipoetischen Tradition, die in der Renaissance eine apologetische Poetik ins Leben rief. Die Rhetorik ging der Poetik während der humanistischen renascentia litterarum zeitlich voraus und unterwarf sie bei ihrem Erscheinen unmittelbar ihrem gestaltenden Einfluß. Beide Disziplinen gelten zuweilen als so eng miteinander verschwistert, daß Thomas Sebillet in seiner Art poetique frangais (1548) konstatiert: Et sont l'Orateur et le Poöte tant proches et conjoints, que semblables et egaux en plusieurs choses, different principalement en ce, que Tun est plus constraint de nombres que l'autre. Ce que Macrobe confirme en ses Saturnales, quand il revoque en doute, lequel a et§ plus grand Rhetoricien, ou Virgile, ou Ciceron. 25
23
Vgl. W. Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext desPlatonismus. Heidelberg 1980; S.G. Barberi, "Per una descrizione e interpretazione della poetica di Giordano Bruno." Studi Secenteschi 1 (1960), 39-60; W. Perpeet,
Das Kunstschöne: Sein Ursprung in der italienischen Renaissance. München 1987.
Freiburg/
24
Vgl. Buck, Italienische Dichtungslehren, pp. 87-97; Weinberg, A History of Literary Criticism, vol. I, pp. 250-348; Gombrich, Symbolic Images, pp. 123-195
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Goyet (ed.), Τraitis de poetique, p. 57.
("Icones Symbolicae").
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An der Konstruktion einer rhetorischen Poetik 2 6 sind die Teile der rhetorischen Kunstlehre (partes artis) in unterschiedlicher Funktion beteiligt. Die inventio führt zur Sammlung poetischer Musterbeispiele (exempla), die dispositio zur Rhetorisierung poetischer Text- und Gattungsstrukturen, die elocutio zur Erweiterung der poetischen Sprachmöglichkeiten (copia verborum). Die produktionstheoretische Dreizahl natura - ars - exercitatio gewinnt ebenso an Einfluß wie die rezeptionstheoretische Trias docere -delectare - movere. Decorum und rhetorische Affektpsychologie umschreiben den sozialethischen und wirkungsästhetischen Spielraum dieser Poetik. Die Rhetorisierung der Dichtungstheorie geht sogar so weit, daß die klassische oratio (Sidney) und die DreiPhasen-Struktur inventio - dispositio - elocutio (Puttenham, Opitz) als poetologische Selbstbeschreibungsmodelle dienen. Die Rhetorik transformiert die horazische, aristotelische und neuplatonische Poetik zu einer Rezeptionsästhetik, bildet gleichzeitig jedoch auch - mit der Wende zu piain style, Senecaismus und Empirismus - den Ausgangspunkt für Antirhetorik und Antipoetik im 17. Jahrhundert (Bacon, Sprat, Royal Society). 27 Im Gegensatz zu den übrigen Poetiktraditionen enthält die Hl. Schrift keine literaturtheoretischen Reflexionen; dennoch haben spätere Exegeten aus ihr eine Bibelpoetik28 abgeleitet, die ihrerseits die Richtlinien zur Schaffung einer christlichen Literatur formuliert. Ihre Urheber - Kirchenväter, mittelalterliche Theologen, Humanisten, die religiösen Schrift-
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28
Vgl. dazu J. Dyck, Ticht-Kunst: Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg v.d.H. 1966, repr. Tübingen 1991; R. Barilli, Poetica e retorica. Mailand 1969; A. Kibedi Varga, Rhetorique et Litterature. Paris 1970; H.F. Plett, Rhetorik der Affekte: Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance. Tübingen 1975; B. Vickers, "Rhetoric and Poetics." The Cambridge History of Renaissance Philosophy. Ed. C.B. Schmitt et al. Cambridge 1988, pp. 715-745. Vgl. R. Adolph, The Rise of Modern Prose Style. Cambridge, Mass., 1968; B. Vickers, "The Royal Society and English Prose Style: A Reassessment." Rhetoric and the Pursuit of Truth. Ed. B. Vickers/N. Struever. Los Angeles 1985, pp. 1-76. E.R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München 3 1961, pp. 50 ff., 532 ff. - Weitere Literatur: I. Baroway, "The Bible as Poetry in the English Renaissance: An Introduction." J EG Ρ 32 (1933), 447-480; Η. Fisch, Jerusalem and Albion: The Hebraic Factor in Seventeenth-Century Literature. London 1964; J. Dyck, Athen und Jerusalem: Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977; B.K. Lewalsici, Protestant Poetics and the Seventeenth-Century Religious Lyric. Princeton, N.J., 1979, pt.I: "Biblical Poetics".
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steller selbst - erblickten in alttestamentarischen Werken wie der Genesis, dem Buch Hiob, den Erzählungen von Samson und Judith, den Psalmen Davids und dem Hohelied Salomonis die paradigmatischen Vorbilder für Formen christlicher Epik, Lyrik und Dramatik. Der poetische Charakter der Bibel wurde mit der figürlichen Diktion der Metaphern und Allegorien (Parabeln), der Hyperbeln und Prosopopoiien sowie dem stilus humilis begründet. Als dritter poetologisch relevanter Faktor erscheint das System des vierfachen Schriftsinns, das sich, theoretisch legitimiert seit dem berühmten Brief Dantes an Can Grande della Scala (1319), vom exegetisch-hermeneutischen zu einem produktionsästhetischen Modell für geistliche und weltliche Dichtungen (Ariosto, Spenser, Milton) wandelt. Je nach ihrer konfessionellen Orientierung lehnen sich die christlichen Poetologen an die antiken Literaturkonzeptionen an oder gehen zu ihnen auf Distanz. Trotz Inkohärenz und Widersprüchlichkeit der einzelnen Äußerungen kommt ein beachtliches theoretisches Corpus zusammen, das so unterschiedliche Themen wie metrische Experimente, religiöse Emblematik, Meditationsliteratur und das Jesuitendrama umfaßt. 29 Ob es gerechtfertigt ist, aus den konfessionellen Differenzen eine spezifisch "protestantische" oder "jesuitische" Poetik abzuleiten, mag gewiß mit guten Argumenten zu begründen sein. 30 Die Gefahr, der sich diese verengte Optik aussetzt, besteht freilich darin, daß sie jene überkonfessionellen Gemeinsamkeiten übersieht, welche die Tradition der Bibelpoetik aus dem Geiste von Patristik und Humanismus letztlich prägen. Ohne sie wäre Robert Lowths De sacra poesi Hebraeorum (1753) nicht zustandegekommen. Weitere poetologische Traditionen (z.B. Pseudo-Longin) sowie literaturtheoretische Äußerungen einzelner antiker Autoren (z.B. Plutarch, Donat) sind für die Renaissance im Vergleich mit den erörterten fünf Poetik-Typen von geringerer Bedeutung. Bei diesen Poetik-Typen läßt sich ihrerseits eine Skala der Signifikanz aufstellen. An ihrer Spitze rangieren
29
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Aus der vielfältigen Literatur einige Titel: I. Baroway, '"The Lyre of David': A Further Study in Renaissance Interpretation of Biblical Form." ELH 8 (1941), 119-142; R. Freeman, English Emblem Books. London 1948, repr. 1970; L.L. Martz, The Poetry of Meditation. London 1954, repr. New Haven, Conn., 1962; J.-M. Valentin, Le thiätre des Jesuites dans les pays de langue allemande (1554-1680). 3 vol. Bern 1978. Beispiele: Lewalski, Protestant Poetics; J.N. King/R. Smith, "Recent Studies in Protestant Poetics." ELR 21 (1991), 283-307; A. Raspa, The Emotive Image: Jesuit Poetics in the English Renaissance. Fort Worth, Tex., 1983.
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der horazische und der aristotelische Typus; beide begründen, einschließlich ihrer Mischformen, eigenständige Rezeptionslinien. Dies ist beim neuplatonischen Typus in der Renaissance nur eingeschränkt der Fall; seine Konzepte werden hauptsächlich im Kontext philosophischer Traktate, horazischer und aristotelischer Poetiken sowie, als metapoetische Einsprengsel, der poetischen Werke selbst vermittelt. Demgegenüber verfügt die Rhetorik über eine eigene Texttheorie, die zudem älter, umfassender und wirkmächtiger ist als die drei Poetik-Typen. Da sie sich jedoch mit der Poetizität von Texten eher marginal befaßt, ist sie auf die Verbindung mit den anderen Poetik-Typen essentiell angewiesen. Die Bibelpoetik schließlich gewinnt ihr theoretisches Reflexionspotential aus einer Synthese von exempla der Hl. Schrift, theologischen Dogmen sowie klassischen Poetiktraditionen. Dabei werden höchst unterschiedliche Varianten poetologischen Denkens erzeugt. Sie reichen vom Synkretismus John Miltons über John Bunyans Dichtungsapologetik bis zum literarischen Ikonoklasmus der radikalen Puritaner. Theoretische Innovationen in der Renaissance-Poetik erfolgen nicht durch einen abrupten Bruch mit der Tradition, sondern mittels Eklektik und Synthese. Ein Beispiel dafür ist Sir Philip Sidneys Definition der Dichtung: Poesy therefore is ein art of imitation, for so Aristotle termeth it in his word mimesis, that is to say, a representing, counterfeiting, or figuring forth - to speak metaphorically, a speaking picture - with this end, to teach and delight.31 Während das Mimesis-Konzept von Aristoteles und das Wirkziel des "teach and delight" von Horaz (prodesse - delectare) unter Vermittlung der Rhetorik ( p r o d e s s e = d o c e r e ) stammt, geht das pictura loquensTheorem über Plutarch letztlich auf Simonides von Keos zurück. Als Ganzes dürfte die Definition von J.C. Scaligers Poetices Libri Septem angeregt sein, der die Bildmetaphorik seinerseits mit Piaton und Aristoteles belegt. Das vorliegende Illustrationsbeispiel kann durchaus als Regelfall eines poetologischen Synkretismus gelten. Die Vielfalt klassischer Konzepte und Konstrukte bietet ein breites Spektrum von Kombinationsmöglichkeiten, unter denen der Dichtungstheoretiker die jeweils seiner Intention gemäße realisiert. 32 Je nachdem ob er Aristoteliker oder Neu-
31 32
Sir Ph. Sidney, An Apology for Poetry or The Defence of Poesy. Ed. G. Shepherd. London 1965, pp. 101,159-160 (Kommentar ad loc.). Einige dieser synkretistischen Konzepte sind abgehandelt bei Β. Hathaway, The Age of Criticism: The Late Renaissance in Italy. Ithaca, N.Y., 1962.
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platoniker, ob gelehrter Humanist oder Apologet der volkssprachlichen Literatur, ob höfischer Autor oder Bibelpoet ist, werden die Schwerpunkte der Poetik-Rezeption anders gesetzt. Die Art der Imitation bestimmt den Charakter der Innovation.
3. Formen und Funktionen der
Renaissance-Poetik
Poetiken existieren nicht im gesellschaftsfreien Raum, sondern reagieren auf allgemeine kulturelle und literarische Veränderungen. Drei Diskurstypen erfüllen in der Renaissance diese Aufgabe: (1) die argumentative, (2) die regulative, (3) die topische Poetik. Diese Reihenfolge suggeriert eine chronologische Abfolge, doch erscheint Typ (3) bereits im Frühstadium und Typ (1) noch am Ende der Renaissance. Typ (3), die Poetik der exempla, unterscheidet sich von Typ (1) und (2) durch mangelnde theoretische Explizitheit. Typ (2) dagegen repräsentiert das poetologische System auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Der Normalfall einer Renaissance-Poetik ist eine Mischform aus allen drei Diskurstypen - mit unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Bestandteile. Die argumentative Poetik bildet ein Paradigma mit drei Klassen, die einander nicht selten überschneiden. Entsprechend ihren Funktionen können diese als a) apologetisch, b) eristisch und c) panegyrisch bezeichnet werden. Sie entsprechen - in dieser Reihenfolge - den rhetorischen genera causarum: judizial, deliberativ und demonstrativ. Die apologetische Poetik richtet sich in der Regel an die Gegner, die panegyrische meist an die Freunde der Poesie. Innerhalb des breiten Spektrums der eristischen Poetik werden literarische Kontroversen ausgetragen. Insgesamt erfährt der Diskurstyp der argumentativen Poetik wohl die größte Variationsvielfalt im Zeitraum des 14. - 17. Jahrhunderts. Die apologetische Poetik sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die Dichtung gegen Angriffe von Theologen, Philosophen und Moralisten zu verteidigen. Deren Argumente lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. theologisch: Die Dichter verkünden nicht den einen und wahren Gott, sondern falsche heidnische Götzen; 2. ontologisch: Sie entwerfen ein Scheinbild von Realität; 3. epistemologisch: Sie sind
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notorische Lügner; 4. ethisch: Sie untergraben die öffentliche Moral; 5. pragmatisch: Sie sind zu nichts nütze und daher überflüssig. 33 Unter diesen Misomousoi (Sidney) befinden sich eifernde Theologen und platonische Idealisten, Rationalisten jedweder Couleur und fanatische Sektierer. Die frühen italienischen Dichtungsapologeten (Mussato, Petrarca, Boccaccio) bedienen sich des Arguments der Allegorese; demnach ist Poesie verborgene Theologie, die unter dem schönen Schleier (integument um) erfundener Fabeln tiefe religiöse und philosophische Wahrheiten verhüllt. 3 4 Das gleiche Verfahren, das die Theologen seit dem Altertum auf die Erklärung der Hl. Schrift verwandten, postuliert nun der poeta theologus für die weltliche Poesie. Die Vorwürfe der Schein- und Lügenhaftigkeit werden mit dem Hinweis widerlegt, daß die Autoren ihre Fiktionen selbst als solche kennzeichneten und daß sogar Piaton es nicht verschmähte, in erfundenen Dialogen und Gleichnissen seine Erkenntnisse auszubreiten. Zu großer Popularität gelangt im 16. Jahrhundert das Argument von der Dichtung als einer bittersüßen Medizin, die den Menschen von seinen moralischen Gebrechen kuriert - eine apologetische Bildvariante der Horazischen Dyas des utile-dulce bzw. prodesse-delectare, 35 die die Titelblätter vieler Literaturwerke der Zeit ziert. In England, wo es zwischen Poeten und Puritanern eine lange Auseinandersetzung über Moral und Nutzen von Dichtung und Theater gab, fruchteten alle von Thomas Lodge, Sir Philip Sidney und Thomas Heywood bemühten Rechtfertigungsmechanismen nichts. Im Jahre 1642 schlossen die Puritaner die Theater. Es sollte nicht der letzte Anschlag auf die Literatur und ihre Urheber gewesen sein. Die innerliterarischen Kontroversen der eristischen Poetik zeichnen sich häufig dadurch aus, daß in ihrem Verlauf neue ästhetische Positionen zutage treten. Regelmäßig findet ein Kampf zwischen An33
Zur Literatur- und Theaterfeindlichkeit, besonders in England, vgl. E.N.S.
Thompson, The Controversy between the Puritans and the Stage. New York 1903,
34
repr. 1966; R. Fraser, The War Against Poetry. Princeton, N.J., 1970; J. Barish, The Antitheatrical Prejudice. Berkeley 1981. - Eine Gesamtdarstellung der apologetischen Poetik fehlt; die Studie von M.W. Ferguson, Trials of Desire: Renaissance Defenses of Poetry. New Haven 1983 (über J. du Beilay, Τ. Tasso, Sir Ph. Sidney) ist unzulänglich. Vgl. E.R. Curtius, "Theologische Poetik im italienischen Trecento." ZRPh 60 (1940), 1-15; Buck, Italienische Dichtungslehren, pp. 67-87; R. Bachem, Dichtung
als verborgene Theologie: Ein dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit und seine Vorbilder. Bonn 1956.
35
Zu diesem Topos vgl. Plett, Rhetorik der Affekte, pp. 21,118, 128,134,142.
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hängern der Alten (antiqui) und solchen der Modernen (moderni), zwischen Autoritäts- und Fortschrittsgläubigkeit statt. Vor diesem Hintergrund entstehen heftige gattungstheoretische Debatten. Lodovico Ariostos Orlando Furioso (1532) und Torquato Tassos Gerusalemme Liberata (1581) werfen die Frage auf, ob diese Romanzen als (romantische) Epen bezeichnet werden dürfen, obschon sie die aristotelischen Regeln des (heroischen) Epos nicht einhalten. 36 Giambattista Guarinis II Pastor Fido (1585) löst eine heftige Kontroverse über eine neue Gattung aus, über die Aristoteles in seiner Poetik kein Wort verliert, die (pastorale) Tragikomödie 37 . In beiden Fällen bewirken konkrete literarische Innovationen von hoher Popularität die Revision des klassischen Gattungskanons und seiner Regeln, so daß der Engländer Edmund Spenser u.a. Ariostos und Tassos Werke zu Vorbildern des von ihm geplanten Nationalepos The Faerie Queene (1596) erwählen kann. In der literarischen Praxis verwurzelt ist auch der Disput über die Vorzüge von klassisch-quantitativer Metrik und akzentuierendem Reimvers, wie er in Thomas Campions Observations in the Art of English Poesie (1602) und Samuel Daniels A Defence of Ryme (1603) ausgetragen wird. 38 Eine weitere Fehde, die grenzüberschreitend Gelehrte und Künstler während mehrerer Jahrhunderte in Atem hält, gilt dem Rangstreit (paragone) der artes: Ist die Dichtung der Malerei oder die Malerei der Dichtung überlegen? Seit Leonardo da Vinci und andere Maler für ihre Kunst den Primat beanspruchten, wußte die Poetik darauf ausschließlich mit dem Theorem der Anschaulichkeit (enargeia, evidentia) und der Praxis der ekphrastischen Poesie zu antworten, bis G.E. Lessings Laokoon (1766) mit seiner Unterscheidung von Raum- und Zeitkunst endgültig "die Grenzen der Malerei und Poesie" markierte.39 36
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Vgl. Spingarn, A History of Literary Criticism, pp. 70-77; Weinberg, A History of Literary Criticism, vol. II, pp. 954-1073. Vgl. Weinberg, A History of Literary Criticism, vol. II, pp. 1074-1105; M.T. Herrick, Tragicomedy: Its Origin and Development in Italy, France, and England. Urbana, 111., 1955, repr. 1962. Vgl. D. Attridge, Well-Weighed Syllables: Elizabethan Verse in Classical Metres. Cambridge 1974; O.B. Hardison, Prosody and Purpose in the English Renaissance. Baltimore / London 1989. Zur visuellen Ästhetik: D. Summers, The Judgment of Sense: Renaissance Naturalism and the Rise of Aesthetics. Cambridge 1987; zum paragone: C.J. Farago, Leonardo da Vinci's 'Paragone'. Leiden 1992, pp. 3-155; zur enargeia: P. GalandHallyn, "De la rh£torique des affects ä une m^tapoötique." Renaissance-Rhetorik/Renaissance Rhetoric. Ed. H.F. Plett, pp. 244-265; zur ekphrastischen Literatur: Μ. Krieger, Ekphrasis: The Illusion of the Natural Sign. Baltimore 1992.
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Die panegyrische Poetik setzt gewissermaßen einen Schlußpunkt in der Sequenz der argumentativen Poetiken. Denn im Gegensatz zur judizialen Apologetik und zur deliberativen Eristik muß sie weder die Dichtung gegen äußere Widerstände verteidigen noch eine ästhetische Position gegen eine andere durchsetzen. Vielmehr begnügt sie sich damit, das Lob der Poesie dekorativ in Szene zu setzen. Dies geschieht in verbaler, aber auch in multimedialer Darstellung. 40 Epideiktische Elemente können sich gleichfalls in apologetischen Poetiken einfinden, wie etwa Sidneys Apology bezeugt; verselbständigen sie sich, so entsteht ein Preislied auf die Dichtung, etwa Thomas Churchyards Gedicht "A Praise of Poetrie" (1595) mit dem signifikanten Untertitel: "... some notes therof drawn out of the Apologie, the noble minded Knight, sir Phillip Sidney." Häufiger gelten Äußerungen der panegyrischen Poetik nicht der Dichtung als solcher, sondern bestimmten Dichtern. Fast keine Edition oder Übersetzung der Werke Homers, Vergils, Ovids oder Senecas ist ohne eine einleitende Serie poetischer laudationes möglich. Erst recht wird diese MarketingStrategie bei den modernen Autoren praktiziert. Für den Literaturwissenschaftler sind solche Dokumente deswegen interessant, weil sie Auskünfte zur Kritik, Geschichte und Ästhetik von Literatur erteilen. Dies gilt etwa für Ben Jonsons berühmtes Epitaph auf William Shakespeare, das dessen First Folio-Ausgabe von 1623 vorangestellt ist: "To the memory of my beloued, The AVTHOR MR. WILLIAM SHAKESPEARE: AND what he hath left vs." 4 1 Als eine wahre Fundgrube panegyrischer Poetik erweisen sich die zahlreichen literarischen Nachrufe auf den Tod von Sir Philip Sidney, insbesondere die Anthologien Academiae Cantabrigiensis Lacrymae (1587) und Peplus (1587). Die regulative Poetik, auch kurz Regelpoetik genannt, enthält einen möglichst systematischen Kanon von Axiomen und Vorschriften, die das poetische Theorieverständnis einer Zeit kodifizieren. Die Renaissance kennt zwei Traditionslinien dieses Typs, eine neulateinische und eine volkssprachliche. Beide seien durch je einen Repräsentanten charakterisiert: auf der einen Seite durch Julius Caesar Scaligers Poetices Libri Septem (1561), auf der anderen Seite durch George Puttenhams The Arte 40 41
Geispiele bei R.J. Clements, Picta Poesis: Literary and Humanistic Theory in Renaissance Emblem Books. Rom 1960, Kap. VI. Ben Jonson, [ Worfcs]. Ed. C.H. Herford / P.&E. Simpson. 11 vol. Oxford 1925-1952, vol. VIII, pp. 390-392 (weitere Gedichte auf literarische Autoren: pp. 361-423). Zur Interpretation: H. Papajewski, "Ben Jonsons Laudatio auf Shakespeare: Kategorien des literarischen Urteils in der Renaissance." Poetica 1 (1967), 483-507.
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of English Poesie (1589). Scaligers Dichtungstheorie entwirft auf 400 Seiten ein komplexes Regelwerk, das mit größter Sorgfalt organisiert ist. Jedes der sieben Bücher enthält zahlreiche Kapitel (z.B. Buch III insgesamt 127), die in gelehrtem Latein unter ständigem Rückbezug auf die Antike eine subtile Systematik des Poetischen ausbreiten. Einen deutlichen Gegensatz dazu markiert Puttenhams Darstellung, obwohl sie teilweise von Scaliger beeinflußt ist. Als eine höfische ars poetica, die zugleich eine ars aulica sein will, richtet sie sich an den englischen Gentleman, der bei Hofe eine Karriere anstrebt. Dazu bedient sie sich der englischen Sprache, zahlreicher eingängiger Illustrationen und vor allem einer Fachterminologie, die selbst dem des Lateinischen wenig mächtigen Laien verständlich ist. Während Scaligers Regelpoetik philologische Gelehrsamkeit einfordert, ist Puttenhams nicht minder sorgfältig ausgearbeitete Systematik ganz im Zeichen der höfischen dissimulatio artis konzipiert. 42 Trotz aller Divergenzen sind sich Scaliger und Puttenham freilich in einem Punkt einig, dem Insistieren auf Normen und Vorschriften. Regelpoetiken sind Anweisungspoetiken. Topische Poetiken sind keine Poetiken im landläufigen Sinne, sondern Anthologien beispielhafter KOLVOL τόττου (loci communes, commonplaces), die unter Bezeichnungen wie Kollektaneen, Florilegien, Thesauri oder Commonplace Books bekannt sind. Ihre Quellen sind berühmte Werke antiker oder moderner Autoren, die als nachahmenswert empfohlen werden. Commonplace Books enthalten nahezu alle Formen der Textkonstitution: Sprichwörter, Sentenzen, Beschreibungen, Gleichnisse, Metaphern, Allegorien, Reime usw. Bezogen auf die Literatur, sind solche Kompendien poetische Inventionskammern, welcher sich der Autor nach Bedarf bedienen kann. 4 3 Diese topischen Poetiken (oder poetischen 42
43
Zu einer vergleichenden Analyse der Stilkonzepte in Scaligers und Puttenhams Poetik vgl. H.F. Plett, "The Place and Function of Style in Renaissance Poetics." Renaissance Eloquence. Ed. J.J. Murphy. Berkeley / Los Angeles / London 1983, pp. 356-375. - Die erste eingehende Analyse von Puttenhams Poetik stammt von D. Rölli, Höfische Poetik in der englischen Renaissance: George Puttenhams "The Arte of English Poesie (1589)". München 1995. Vgl. zur Theorie: E. Mertner, "Topos und Commonplace (1956)." Toposforschung: Eine Dokumentation. Ed. P. Jehn. Frankfurt 1972, pp. 20-68; Sr. J.M. Lechner, Renaissance Concepts of the Commonplaces. New York 1962, repr. Westport, Conn., 1974; - zur Praxis: W.G. Crane, Wit and Rhetoric in the Renaissance. New York 1937, repr. Gloucester, Mass., 1964; Th. Verweyen, Apophthegma und Scherzrede. Bad Homburg v.d.H. 1970. - Von den englischen Dichtern George Chapman, Robert Herrick, Ben Jonson, John Milton und Thomas Traherne ist nachweislich bekannt, daß sie ihre eigenen Commonplace Books anlegten.
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Topiken) sind im Gegensatz zu den anderen Poetiken theorielos oder theoriearm; denn sie explizieren ihren Begriff von Poetizität höchstens im Titel oder Vorwort. Ein Illustrationsbeispiel· das von Robert Allott stammt, trägt den folgenden Titel: ENGLANDS I Parnassus:/ OR / The choysest Flowers of our Moderne /Poets, with their PoeticaU comparisons. / Descriptions of Bewties, Personages, Castles, / Pallaces, Mountaines, Groues, Seas, / Springs, Riuers, & c . / [...] / Imprinted at London for N.L.C.B. / and T.H. 1600.
Dieses Commonplace Book enthält in alphabetischer Anordnung ausschließlich Zitate aus Werken englischer Renaissance-Dichter. Leitende Gesichtspunkte sind: Vergleiche, Beschreibungen, Epitheta - Merkmale einer dekorativ-ekphrastischen Poetik, die das horazische ut pictura poesis Theorem verwirklicht. Inventions- oder Memorial-Poetiken dieser Art haben mit ihrem impliziten Poetizitätskonzept die literarische Praxis nicht selten nachhaltiger beeinflußt als poetische Theorien. Die eingangs erwähnten Icones Symbolicae des Christophoro Giarda entstammen ebenfalls derartigen Quellen, folglich auch die Ikonographie der POESIA, deren Bild als Frontispiz dieses Bandes dient.
Ι. Überblicksdarstellungen
AUGUST BUCK
Poetiken in der italienischen Renaissance Zur Lage der Forschung
Im Rahmen des weltweiten Aufschwungs der Renaissanceforschung seit 1945 sind - dank der zentralen Bedeutung der "alma poesis" im epochalen Selbstverständnis der Renaissance - ihre Poetiken Gegenstand einer schwer überschaubaren Fülle von Studien geworden, die jeden Forschungsbericht zu einer rigorosen Auswahl zwingt. Das gilt auch bei einer Beschränkung auf Italien. Daher empfiehlt es sich, Fragestellungen auszuwählen, die als paradigmatisch für die Forschung angesehen werden dürfen und einer ersten Orientierung dienen können. Wie in der Renaissance im allgemeinen kommt auch in bezug auf ihre Poetiken Italien eine führende Rolle zu. Aus dem das literarische Schaffen begleitenden Reflexionsprozeß geht ein Corpus dichtungstheoretischer Schriften hervor, das den absoluten Vorrang Italiens bei der Ausarbeitung der modernen Literaturästhetik begründet. Im italienischen Frühhumanismus begegnet bekanntlich zuerst der das literarische Bewußtsein der Epoche prägende Begriff der Wiedergeburt der antiken Poesie nach einem jahrhundertelangen todesähnlichen Schlummer bzw. ihrer Rückkehr aus dem Exil in das ursprüngliche Vaterland. 1 Indem die aus der produktiven Erinnerimg an die antiken Vorbilder hervorgehende moderne Dichtung über sich selbst reflektiert, entstehen die Poetiken der Renaissance, und zwar zuerst auf italienischem Boden. Vorbedingungen für ihre Erforschung sind einerseits die Erschließung der Quellen, anderseits die bibliographische Erfassung der Sekundärliteratur. Wie auch sonst in der humanistischen Literatur fehlen im Bereich der fast ausschließlich von Humanisten verfaßten Poetiken nach 1
A. Buck, "Zu Begriff und Problem der Renaissance: Eine Einleitung." Zu Begriff und Problem der Renaissance. Ed. A. Buck. Darmstadt 1969, pp. 1-36; J. Schlobach, Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. München 1980; H.-B. Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance. Darmstadt 1989, pp. 1-18.
24
August Buck
wie vor kritische Ausgaben, so daß die Forschung weitgehend auf die editiones
principes
bzw. deren Reprints angewiesen ist. Solche sind i n
stattlicher Zahl vorhanden. Es sei hier nur an die von Bernhard Fabian betreute Reihe der 28 wichtigsten Poetiken des Cinquecento erinnert. 2 Einschlägige Texte finden sich auch in Anthologien und Sammelbänden, so u.a. in den von Bernard Weinberg herausgegebenen Trattati di poetica e retorica del Cinquecento3 und in den von August Buck, Klaus Heitmann
und Walter Mettmann zusammengestellten und eingeleiteten lehren
der
Dichtungs-
Romania*.
Eine umfassende, allerdings auf das 16. Jahrhundert beschränkte Bibliographie der italienischen Renaissance-Poetiken enthält der Anhang von Bernard Weinbergs zweibändiger Geschichte der literarischen Kritik in der italienischen Renaissance.5 Weinbergs Angaben sind zu ergänzen durch W.F. Pattersons knapp 30 Jahre vorher publizierte Liste von "Critical Works Published in Italy during the Sixteenth Century". 6 Weinberg bietet außer den Quellen auch eine Auswahl der entsprechenden Sekundärliteratur. Eine den heutigen Forschungsstand wiedergebende vollständige Bibliographie fehlt bisher. Hilfreich ist ein ausgezeichneter Forschungsbericht von Rainer Stillers aus dem Jahre 1981.7 Die frühesten poetologischen Reflexionen der italienischen Renaissance begegnen in der humanistischen Verteidigung der Dichtung gegen ihre meist aus kirchlichen Kreisen stammenden Gegner; eine relativ umfangreiche Streitschriftenliteratur, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten mehrfach Gegenstand spezieller Untersuchungen gewesen ist.8 2 3
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Poetiken des Cinquecento: Eine Nachdruckreihe. Ed. B. Fabian. München 1967 ff. Trattati di poetica e di retorica del Cinquecento. Ed. B. Weinberg. 3 vol. Bari 1970-1974. Dichtungslehren der Romania aus der Zeit der Renaissance und des Barock. Ed. u. eingel. von A. Buck, Κ. Heitmann, W. Mettmann. Frankfurt a.M. 1972. B. Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance. 2 vol. The University of Chicago Press 1961, vol. II, pp. 1113-1158. W.F. Patterson, Three Centuries of French Poetic Theory. 2 vol. Ann Arbor, Mich., 1935, vol. II, pp. 25-50. R. Stillers, "Dichtungstheorie in der italienischen Renaissance: Ein Bericht über ihre Erforschung seit 1960." Romanistisches Jahrbuch 32 (1981), 48-68. E. Scuderi, "Boccaccio e la difesa della poesia." Orpheus 15 (1968), 183-199; A. Buck, "Boccaccios Verteidigung der Dichtung in den Genealogie deorum." Boccaccio in Europe: Proceedings of the Boccaccio Conference, Louvain, December 1975. Leuven 1977, pp. 53-66; J. Lindhardt, Rhetor, Poeta, Historicus: Studien über rhetorische Erkenntnis und Lebensanschauung im italienischen Renaissancehumanismus. Leiden 1979, pp. 107-151 (über C. Salutati); C.C. Greenfield,
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Die wichtigsten Verteidiger der Dichtung sind Mussato, Petrarca, Boccaccio und Salutati. Sie bedienen sich weitgehend überlieferter Argumente: vor allem der bereits im Altertum praktizierten allegorischen Deutung im Hinblick auf den hinter dem schönen Schleier verborgenen moralischen Gehalt der Dichtung und der theologischen Poetik, welche in der Dichtung eine andere Form der Theologie sieht. Besondere Beachtung hat in der Forschung Boccaccios Verteidigung der Poesie in den beiden letzten Büchern der Göttergenealogien, seines Handbuchs der Mythologie, gefunden. Indem er sich mit den Gegnern der Dichtung, hauptsächlich den Juristen und den Theologen, auseinandersetzt, erhebt er die Dichtung, durch Thomas von Aquin als die niedrigste aller Wissenschaften eingestuft, in den gleichen Rang wie die Philosophie und die Theologie. Unter Berufung auf Ciceros Rede Pro Archia bekennt er sich zu dem von Gott inspirierten Dichter, der die ihm eigene Wahrheit intuitiv erfaßt. Die für den Dichter typische Ausdrucksform ist die "fabula", d.h. die Fiktion, deren sich auch die Propheten des Alten Testaments und Christus in seinen Gleichnisreden bedient haben. Obwohl bis ins 16. Jahrhundert weitere Beiträge zur Verteidigung der Dichtung verfaßt wurden 9 , büßte das Thema an Aktualität ein in dem Maße, wie sich die Position der Dichtung im öffentlichen Bewußtsein festigte, bis schließlich durch die Aufnahme der Poetik in den Kanon der "studia humanitatis" die Poesie als unentbehrliches Bildungselement anerkannt wurde. Im Bewußtsein der Legitimität der Poesie richtete sich nunmehr das Interesse vom Ende des 15. Jahrhunderts an auf die Ausarbeitung von Poetiken, welche das Wesen der Dichtung bestimmen und zugleich die Normen für das Dichten als eine erlernbare Kunst fixieren sollten. Wie groß das Bedürfnis nach Poetiken war, zeigt ihre in die Hunderte gehende Zahl. W.F. Pattersons bereits erwähnte bibliographische Angaben umfassen eine 26 Seiten lange Liste von "Critical Works Published in Italy during the Sixteenth Century", die nicht einmal vollständig ist. 1 0 In keiner Epoche der abendländischen Literaturgeschichte ist über die Dichtung so eingehend und in solcher Breite wie im
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Humanist and Scholastic Poetics 1250-1500. Cranbury, N.J., 1981; V. Zaccaria, "La difesa della poesia nelle Genealogie del Boccaccio." Lettere Italiane 3 8 / 3 (1986), 281-311. Ein Beispiel: "Francesco da Fiano, Contra ridiculos oblucores et fellitos detractores poetarum: Un opuscolo inedito di Francesco da Fiano in difesa della poesia, a cura di M.L. Plaisant." Rinascimento, See. Serie, 1 (1961), 119-162. Patterson, Three Centuries of French Poetic Theory.
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Cinquecento diskutiert worden. Die Poetiken strahlten von Italien auf Europa aus, wo sie zahlreiche Nachfolger fanden. "Die italienischen Renaissancepoetiken" - so Jost Schillemeit - "bleiben bis ins 18. Jahrhundert hinein der mehr oder weniger sichtbare Hintergrund für alles, was in Europa als Poetik auftritt." 11 Entsprechend der für die Renaissance konstitutiven Rückbesinnung auf die Antike haben deren Poetiken autoritative Geltung für jede moderne Reflexion über die Dichtung. Infolgedessen spielt sich in den italienischen Renaissance-Poetiken eine Auseinandersetzung ab mit den antiken Poetiken, zunächst hauptsächlich mit der horazischen, später in wachsendem Maß mit der aristotelischen Poetik, deren Rezeption ein neues Kapitel in der Geschichte der Poetiken eröffnet. Nachdem W e i n berg die Position der Dichtung in der Klassifikation der Wissenschaften aufgezeigt hat 1 2 , verfolgt Rainer Stillers die Verwissenschaftlichung der Dichtungstheorie in den Poetiken des Cinquecento. 1 3 Parallel zu diesem Prozeß vollzieht sich die Ausarbeitung des Regelsystems, das nicht nur für die neulateinische Dichtung, sondern auch für die sich auf der Folie des Humanismus neu konstituierende italienische Nationalliteratur verbindlich ist. 14 Im Rückgriff auf die antike poetologische Literatur entwickeln die Renaissance-Poetiken Vorstellungen, die - ohne daß sich die Autoren i m m e r dessen bewußt gewesen waren - über die antiken Vorlagen hinausgehen bzw. ihnen sogar widersprechen. Es ist eine kreative Rückbesinnung auf die Antike, in deren Zentrum eine Reihe in der Forschung der letzten Jahrzehnte diskutierter poetologischer Schlüsselbegriffe steht. Als vorbildlich kann hier Baxter Hathaway 15 gelten, dessen Studie The Age of Criticism: The Late Renaissance in Italy nicht historisch wie die Weinbergs, vielmehr systematisch unter Berücksichtigung der poetologischen Schlüsselbegriffe angelegt ist. Von ihnen wollen auch wir uns bei der folgenden Betrachtung einiger wichtiger Renaissance-Poetiken leiten lassen.
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J. Schillemeit, "Poetik." Literatur. Ed. W.-H. Friedrich/W. Killy, vol. II/2, Frankfurt a.M. 1965, p. 431. Weinberg, A History of Literary Criticism, vol. I, pp. 1-37. R. Stillers, Humanistische Deutung: Studien zu Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance. Düsseldorf 1988. A. Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance. Tübingen 1952. B. Hathaway, The Age of Criticism: The Late Renaissance in Italy. Ithaca, N.Y., 1962.
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Der Bedeutung nach gebührt die erste Stelle dem Begriff der Nachahmung, bezogen sowohl auf die antiken Musterautoren als auch auf die Natur. Zunächst die Imitatio der Vorbilder: Mit ihr gehorcht die Literatur dem Grundgesetz des Zeitalters, das für fast alle geistigen Betätigungen des Menschen gilt, der Nachahmung der Antike. Sie begegnet außer in der Literatur in den bildenden Künsten, der Architektur, der Philosophie, der Pädagogik, der Historiographie und der Politik, schien doch nach einem berühmten Ausspruch Machiavellis Italien dazu berufen, "per risuscitare le cose morte" 16 , d.h. durch Nachahmung die Antike zu neuem Leben zu erwecken. Daher hat Thomas M. Greene in einer der jüngsten Studien über die Poetik der Renaissance diese mit Recht "eine Ära der Nachahmung" nennen können. 17 Die Forderung nach Imitatio von Vorbildern war ihrerseits antiken Ursprungs und hatte sich auf das Verhältnis der römischen zur griechischen Literatur bezogen. Die von Polybius gerühmte Fähigkeit der Römer, sich Fremdes anzueignen und weiterzubilden, war als "aemulatio Graeca" durch Cicero zu einer Grundkategorie des römischen Selbstverständnisses proklamiert 18 und durch Horaz in die bekannte Mahnung an die zeitgenössischen Dichter gekleidet worden: "vos exemplaria Graeca / nocturna versate manu, versate diurna" - "Ihr Dichter, die griechischen Muster / Legt nicht am Tag aus der Hand noch legt sie abends beiseite." 19 Nach Quintilian besteht die imitatio in der Gestaltung von etwas Neuem an Hand mehrerer Vorbilder; es ist das Prinzip der eklektischen Nachahmung, das die Wahrung eines individuellen Stils gestattet. Wie es dem römischen Dichter nicht darum zu tun war, etwas absolut Neues zu schaffen, vielmehr kraft der imitatio bereits Vorhandenes neu zu formen, so ordnete sich auch der Dichter der Renaissance in die v o n der Antike begründete literarische Tradition ein und maß an ihr seine eigene Leistung. In Anbetracht der Pionierrolle, die Petrarca bei dieser Deutung der imitatio zukommt, ist sein imitatio-Begriff neuerdings 20 wiederholt erörtert worden. Petrarca faßt das zentrale Problem der 16 17
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N. Machiavelli, Opere. Ed. A. Panella. Milano/Roma 1939, vol. II, p. 664. Th. M. Greene, The Light in Troy: Imitation and Discovery in Renaissance Poetry. New Häven/London 1982, p.l. F J. Worstbrock, "Translatio artium." Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), 8 f. Horaz, Ars poetica, vv. 268-269 (Übers.: H. Rüdiger). F. Ulivi, L'imitazione della poetica del Rinascimento. Milano 1959; G.W. Pigman III, "Versions of Imitation in the Renaissance." Renaissance Quarterly 33 (1980), 1-32; Greene, The Light in Troy.
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imitatio in einem Satz zusammen: "Curandum imitatori, ut quod scribit simile non idem sit" 2 1 , dem Original ähnlich, ohne es zu reproduzieren; eine Beziehung zwischen Urbild und Abbild, das nach einem Seneca entnommenen Vergleich dem Verhältnis von Vater und Sohn entsprechen soll, also eine rational nicht ergründbare Verschiedenheit in der Ähnlichkeit. An anderer Stelle veranschaulicht Petrarca die schöpferische Assimilierung des Fremden mit dem gleichfalls aus Seneca stammenden Vergleich des Dichters mit den Bienen, die den Nektar der Blüten in Honig umwandeln, "in aliud et in melius inventa convertere". 22 Als eine solche Empfehlung für die eklektische Nachahmung zur Wahrimg eines eigenen Stils war, wie Jürgen von Stackelberg gezeigt hat, das Bienengleichnis in der Renaissance verbreitet. 23 Wie die imitatio praktisch vor sich geht, hat Petrarca beschrieben: Man liest die Musterautoren unzählige Male, bis sie so ins Gedächtnis eingegangen sind, daß man den Autor vergißt und dessen Worte als die eigenen ansieht. Das gilt jedoch nur für die großen Autoren; anders verhält es sich mit den minores. Ihre imitatio bei Petrarca und bei anderen Dichtern ist ein bisher von der Forschung nicht beachtetes Problem, obwohl - wie Deila Neva gezeigt hat - es neue Aspekte der Dichtungstheorie erhellt. 24 Die Einstellung der zeitgenössischen Kritik war kontrovers. Während Petrarca in der imitatio der nur flüchtig gelesenen minores die Möglichkeit zu einer größeren Selbständigkeit gegenüber dem Modell schätzte, verurteilte Antonio Minturno die Nachahmung minderwertiger Autoren, da jede Nachahmung zu einem Qualitätsverlust gegenüber dem Original führt, d.h. hier eine Steigerung der minderen Qualität zur Folge hat; ein Argument, das sich jedoch prinzipiell gegen jede imitatio richtet. Wenn Pietro Bembo gegen die Befürworter der minores einwandte, der Dichter ahme gemäß seiner natürlichen Veranlagung nur die besten Autoren nach, erhob er diesen Einwand im Kontext seines von Santangelo herausgegebenen und kommentierten Briefwechsels mit Giovanfrancesco
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F. Petrarca, Fam. XXIII, 19. Petrarca, Fam. I, 7. J.v. Stackelberg, "Das Bienengleichnis." Romanische Forschungen 68 (1956), 271293. J. Delia Neva, "Reflecting Lesser Lights: The Imitation of Minor Writers in the Renaissance." Renaissance Quarterly 42 (1989), 449-479.
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Pico della Mirandola über die imitatio.25 Gegenüber dem Philosophen, für den der Dichter die ihm eingeborene Idee der Eloquenz verwirklicht und daher an keine Vorbilder gebunden sein kann, forderte Bembo die imitatio Ciceros als des Autors, in dem die lateinische Prosa ihre höchste Vollkommenheit erreicht hatte. Eine analoge Funktion wies er Vergil für die Poesie zu. Indem Bembo seine Imitationslehre auf die italienische Literatur übertrug und Dante, Petrarca und Boccaccio in den Rang von Klassikern erhob, wurden zum erstenmal die Prinzipien der humanistischen Poetik auf eine Volkssprache angewandt. Ein praktisches Beispiel dafür von europäischer Tragweite hat Bembo selbst als Vater des Petrarkismus gegeben.26 Insofern es sich bei der Nachahmung von Musterautoren in erster Linie um die kunstvolle Rede des Dichters handelte, also um eine rhetorische Fragestellung, waren die humanistischen Poetiken im Zeichen der imitatio weitgehend rhetorisiert. Als der Florentiner Humanist Bartolommeo della Fonte in den Jahren 1490 bis 1492 die von Charles Trinkaus entdeckte erste Poetik der Renaissance verfaßte 27 , übertrug er, sich an Horaz inspirierend, gewisse Prinzipien der Rhetorik auf die Dichtungslehre. Auch Marco Girolamo Vida betrachtet in seiner bis ins 18. Jahrhundert in hohem Ansehen stehenden Ars poetical die Dichtung aus der Perspektive der Rhetorik. Maßgebend sind letzten Endes die Musterautoren, die ihrerseits die menschliche Natur vorbildlich nachgeahmt haben. 29 Für das Epos, dem Vidas besonderes Interesse gilt, ist der Musterautor Vergil. Er steht hoch über Homer: römische Würde gegenüber griechischer Geschwätzigkeit, ein verzerrter Vergleich, den bekanntlich der europäische Klassizismus sich zu eigen gemacht hat.
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Le Epistole "De Imitatione" di Giovanfrancesco Pico della Mirandola e di Pietro
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L. Forster, The Icy Fire: Five Studies in European Petrarchism. Cambridge 1969;
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Bembo. Ed. G. Santangelo. Firenze 1954.
W. Th. Elwert, "II Bembo imitatore." Sprachwissenschaftliches und Literarhistorisches. Ed. W. Th. Elwert. Wiesbaden 1979, pp. 20-54. Ch. Trinkaus, "The Unknown Quattrocento Poetics of Bartolommeo della Fonte."
Studies in the Renaissance 13 (1966), 40-122. M.G. Vida, The De arte poetica of Marco Girolamo Vida: Translated with commentary, and with the text of c. 1517. Ed. R.G. Williams. New York 1976; M.G. Vida, L'arte poetica: Introduzione, testo, traduzione. Ed. R. Girardi. Bari 1982.
Zur imitatio in Vidas Poetik vgl. L. Borsetto, "II furto di Prometeo: Struttura e
scrittura dell'imitazione nei Poeticorum libri di M.G. Vida." La Rassegna della letteratura italiana 85 (1981), 93-108.
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Obwohl die Diskussion über die imitatio im 16. Jahrhundert an Bedeutung verlor und andere poetologische Probleme in den Vordergrund des Interesses rückten, wurde sie noch 1541 durch Bartolomeo Ricci systematisiert. 3 0 Die imitatio, die sich auf die elocutio, die inventio und die dispositio, also auf Ausdruck, Themenwahl und Anordnung des Stoffs bezieht, vollzieht sich auf drei bereits in der Antike unterschiedenen Stufen: sequi, imitari, aemulari31; wobei die letzte Stufe die kreative Aneignung des antiken Autors im Wettstreit mit ihm bedeutet. Allerdings sind in den Poetiken die Übergänge zwischen den einzelnen Erscheinungsformen der imitatio fließend. Zur praktischen Durchführung der imitatio stellte man Autorenkataloge auf und empfahl je nach Genus ein oder mehrere Modelle. Seit Petrarca galten ganz allgemein Cicero für die Prosa und Vergil für die Poesie als die großen Lehrmeister. Ein Beispiel für einen differenzierten Autorenkatalog findet sich in Bartolomeo Riccis erwähntem Traktat über die Nachahmung: Hier werden Plautus und Terenz für die Komödie, Seneca für die Tragödie, Vergil für die Epik, Cicero für die Rhetorik, Tibull für die elegische Dichtung, Horaz für die Lyrik, Martial für das Epigramm angeführt. Neben den Poetiken enthalten auch die zahlreichen pädagogischen Traktate der Humanisten Listen von Musterautoren, die dem Studium der Grammatik, Rhetorik und Poetik zugrunde gelegt werden sollen. Imitatio hat bekanntlich im Lateinischen eine doppelte Bedeutung: einerseits Nachahmung von literarischen Vorbildern, die imitatio auctorum, anderseits Nachahmung der Natur, die imitatio naturae, im Sinne der aristotelischen Mimesis; ein Begriff, dessen Interpretation einer der Brennpunkte in der kritischen Auseinandersetzung mit der aristotelischen Poetik gewesen ist. 32 Für Aristoteles bedeutet Mimesis die dichterische Nachahmung der Natur, vornehmlich des handelnden und leidenden Menschen. Dabei soll die Dichtung die Dinge darstellen unter Wahrung der inneren Notwendigkeit der Handlung und ihrer Wahr30 31 32
B. Ricci, De imitatione libri tres. Venetiis 1541. A. Reiff, Interpretatio, imitatio, aemulatio: Begriff und Vorstellung der literarischen Abhängigkeit bei den Römern. Diss. Köln 1959. Ulivi, L'imitazione; Weinberg, A History of Literary Criticism; A.J. Smith, "Theory and Practice in Renaissance Poetry: Two Kinds of Imitation." Bulletin of the John Rylands Library 47 (1964/65), 212-243; Hathaway, The Age of Criticism; E. Welslau, Imitation und Plagiat in der französischen Literatur von der Renaissance bis zur Revolution. Rheinfelden 1976.
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scheinlichkeit. Dank des Erkennens der Nachahmung erfreut die Dichtung, die keinen ethischen Zweck verfolgt. Dieser aristotelische Mimesisbegriff wurde in den Kommentaren zur Poetik und den aus ihr erwachsenen eigenständigen Poetiken vielfältig umgedeutet. Am verbreitetsten war die Interpretation aus der Perspektive von Horazens Forderung nach der Verbindung von delectatio und utilitas, mit dem Ziel der moralisch-erzieherischen Wirkung der Dichtung. Kronzeuge ist eine Autorität wie Julius Caesar Scaliger, dessen Poetices libri Septem auch außerhalb Italiens, vor allem in Frankreich, in hohem Ansehen standen und daher die Forschung immer wieder beschäftigt haben. 33 Trotz seiner Verehrung für Aristoteles, "imperator noster, omnium bonarum artium dictator perpetuus" 34 , widerspricht ihm Scaliger: Er habe zu Unrecht das Ziel der Dichtung in der Nachahmung gesehen; denn diese ist nur Mittel zum Zweck der Dichtung, die den Menschen durch Unterhaltung belehren, ihn so bessern und dadurch glücklich machen soll. Auch eine ästhetische bzw. hedonistische Interpretation der Mimesis fand vereinzelte Befürworter. Der originellste war Lodovico Castelvetro, dessen Poetik seit 1979 in einer kritischen Edition vorliegt. 35 Leider ist die später erschienene, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehene englische Übersetzung nicht vollständig.36 Da nach Castelvetro die Dichtimg dem Vergnügen und nicht dem Nutzen dient, ahmt der Dichter die Natur in erster Linie deswegen nach, um bei seinem Publikum glaubhaft zu wirken, denn nur so kann er es unterhalten; ein frühes Beispiel wirkungsästhetischer Überlegungen. Sie sind es auch, die Castelvetro dem 33
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J.C. Scaliger, Poetices libri Septem. Facsimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561. Ed. mit einer Einleitung v. A. Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, 1987; R.M. Ferraro, Giudizi critici e criteri estetici nei Poetices libri septem (1561) d i Giulio Cesare Scaligero rispetto alia teoria letteraria del Rinascimento. Chapel Hill 1971; W. Ludwig, "J.C. Scaligers Kanon neulateinischer Dichter." Antike und Abendland 25 (1979), 20-40; A. Buck, "Das Epos in J.C. Scaligers Poetik." Acta Conventus Neo-Latini Amstelodamensis. München 1979, pp. 175-182; I. Reineke, Julius Caesar Scaligers Kritik der neulateinischen Dichter: Text, Übersetzung und Kommentar des 4. Kapitels von Buch VI seiner Poetik. München 1988. Scaliger, Poetices libri septem, 1,2. L. Castelvetro, Poetica d'Aristotele volgarizzata e sposta. Ed. W. Romani. 2 vol. Bari 1978/79. A. Bongiorno, Castelvetro On the Art of Poetry: An Abridged Translation of Lodovico Castelvetro's Poetica d'Aristotele Vulgarizzata et Sposta: With Introduction and Notes. Binghamton, N.Y., 1984.
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Dichter raten lassen, den Leser in Verwunderung zu versetzen. Damit nimmt er eine Forderung der barocken Poetik vorweg, was zur Beliebtheit seines Kommentars im folgenden Jahrhundert beigetragen haben dürfte. Die Deutung der Mimesis implizierte die Lösung eines zentralen Problems der Poetik: das Verhältnis des Dichters zur Wahrheit. Unter den Vorwürfen, die auch noch in der Renaissance gegen die Dichter erhoben wurden, wog die Behauptung ihrer Lügenhaftigkeit so schwer, daß, mit Blumenberg zugespitzt ausgedrückt, sich "die Tradition unserer Dichtungstheorie seit der Antike [...] unter dem Gesamttitel einer Auseinandersetzung mit dem antiken Satz, daß die Dichter lügen, verstehen [läßt]"37. Nachdem man sich zunächst bemüht hatte, dieses Diktum mit Hilfe der schon in der Antike praktizierten allegorischen Auslegung der dichterischen Fiktion im Hinblick auf die in ihr verborgene Wahrheit zu widerlegen, eröffnete der Begriff der Mimesis den Weg, eine eigene dichterische Wahrheit zu postulieren. Da der Dichter Aristoteles zufolge bei der Wahrung der Wahrscheinlichkeit das in der inneren und äußeren Welt liegende Allgemeine sichtbar machen sollte, konnte es sich bei der Mimesis nicht um eine realistische Nachahmung der Natur handeln, vielmehr um deren idealisierende Überhöhung; nicht um die Darstellung der Wirklichkeit, wie sie ist, sondern wie sie sein soll; eine Interpretation der Mimesis, in der sich fast alle italienischen Theoretiker einig waren. Daher konnte Scaliger die kühne Behauptung wagen: "Der Dichter schafft sowohl eine andere Natur wie verschiedene Schicksale und macht sich selbst endlich dadurch zu einem anderen Gott." 38 Freilich begriff man diese andere vom Dichter geschaffene Welt noch nicht als selbständige "Kunstwahrheit" im Sinne einer dichterischen Anverwandlung der empirischen Welt, sondern brachte sie in Zusammenhang mit Erkenntnissen der Philosophie, hatte doch Aristoteles die Dichtung im Vergleich zur Geschichtsschreibung "philosophischer" genannt. Außer auf Aristoteles griff man bei dieser Annäherung an die Philosophie auf Piaton zurück. Damit wurde ein weiterer poetologischer Schlüsselbegriff in die Diskussion einbezogen: der furor poeticus; ein Begriff, der bereits im Quattrocento eine Rolle in den poetologischen Reflexionen im Umfeld der Platonischen Akademie von Florenz gespielt hatte. 37 38
H. Blumenberg, "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans." Nachahmung und Illusion. Ed. H. R. Jauß. München 1964, p. 9. Scaliger, Poetices libri Septem, 1,1.
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Nach Marsilio Ficinos Furor-Lehre steht der Dichter in unmittelbarer Verbindung zu Gott, der ihn inspiriert 3 9 ; eine Auffassung, auf der Cristoforo Landino seine Dichtungslehre begründet. Sie ist wiederholt eingehend untersucht worden, so von Roberto Cardini 40 , Manfred Lentzen 4 1 und zuletzt von Arthur Field 42 in einem Kapitel seiner Darstellung der Ursprünge der Platonischen Akademie von Florenz. Aus der Etymologie von poeta, nämlich dem Verbum iroueCv, folgert Landino, die Tätigkeit des Dichters stehe dem Schaffen Gottes aus dem Nichts näher als dem Tun anderer Menschen: "[il poeta] si parte dal fare e al creare molto s'appresta." 43 Analog zu Gott, der mit Zahl, Maß und Gewicht schafft, tut es der Dichter mit dem Maß der Silben und dem Gewicht der Sentenzen. Das dichterische Werk kann daher in die von Menschen ersonnenen Kategorien nicht eingeordnet werden, vielmehr hat es seinen Platz oberhalb der Hierarchie der Wissenschaften und Künste. Als das Cinquecento zusammen mit dem Florentiner Piatonismus die Vorstellung vom göttlich inspirierten Dichter übernahm, bot sich die Möglichkeit zu einer Interpretation der aristotelischen Poetik aus platonischer Sicht. Diese liegt den beiden bedeutendsten Poetiken des 16. Jahrhundert zugrunde: Girolamo Fracastoros Naugerius sive de poetica dialogusu und Francesco Patrizis umfangreiche Abhandlung Deila Poetica. Während für Fracastoro weder eine kritische Ausgabe noch eine befriedigende monographische Würdigung seiner Dichtungstheorie vorliegt, ist Patrizis Poetik kritisch ediert und in zwei Studien aus jüngster Vergangenheit von Lina Bolzoni bzw. Cesare Vasoli gründlich analysiert worden. 4 5 Beiden Autoren, Fracastoro wie Patrizi, ist es zweifellos in erster 39 40 41 42 43
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A. Buck, Der Einfluß des Piatonismus auf die volkssprachliche Literatur im Florenz des Quattrocento. Krefeld 1965, p. 25 f. R. Cardini, La critica del Landino. Firenze 1973. M. Lentzen, Studien zur Dante-Exegese Cristoforo Landinos. Köln 1971. A. Field, The Origins of the Platonic Academy of Florence. Princeton, N. J., 1989, pp. 231-268. C. Landino, "Discorsi che cosa sia poesia et poeta et della origine sua divina et antichissima." Dante con L'espositioni di C. Landino, e d'Alessandro Velutello, ...ridotto alia sua vera lettura per F. Sansovino. Venetia 1587. G. Fracastoro, Naugerius, sive de poetica dialogus. Facsimile of the first edition of 1555 by R. Kelso. Urbana 1924 (mit englischer Übersetzung). F. Patrizi da Cherso, Deila poetica. Ed. D. Aguzzi Barbagli. 3 vol., Firenze 19691971; L. Bolzoni, "La Poetica di Francesco Patrizi da Cherso: II progetto di un modello universale della poesia." Giornale storico della letteratura italiana 151 (1974), 357-382; 152 (1975), 33-56; C. Vasoli, Francesco Patrizi da Cherso. Roma 1989.
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Linie um die theoretische Erhellung des Phänomens Dichtung zu tun, wohingegen der normative Anspruch in den Hintergrund tritt: Musterbeispiele für die erwähnte Verwissenschaftlichung der Poetik im Sinne von Rainer Stillers. Ausgehend von der aristotelischen Bestimmung der dem Dichter obliegenden Mimesis als Nachahmung des Allgemeinen identifiziert Fracastoro das Allgemeine mit der Idee der Schönheit, an der sich der Dichter inspiriert. Bei der Wiedergabe seiner Inspiration unterscheidet sich die Ausdruckweise des Dichters grundsätzlich von der des Philosophen, des Redners und des Historikers: "poeta vero per se nullo alio movetur fine nisi simpliciter bene dicendi circa unumquodque propositum sibi." 46 Daher kann der Dichter jeden beliebigen Stoff wählen, um denselben in dem nur dem Dichter eigenen dicendi modus in Worte zu fassen. An manchen Stellen seiner Poetik geriet Fracastoro jedoch wieder in die überlieferten Bahnen der Rhetorik und damit in Widerspruch zu dem Begriff der Dichtung als autonomer Weltschau. Im Gegensatz zu Fracastoro interpretierte Francesco Patrizi die FurorLehre in Opposition zu Aristoteles, dessen Charakterisierung der Dichtung als Mimesis er ablehnt. Der Dichter gehorcht nicht dem Trieb, die Natur nachzuahmen, sondern einem von der Außenwelt unabhängigen Enthusiasmus, den eine Gottheit, ein Genius oder ein Dämon in seine Seele eingepflanzt hat. Er ist daher weder auf die Bildung angewiesen noch gar irgendwelchen Regeln unterworfen, die andere aufgestellt haben. Da Patrizi zu den wenigen gehört, die in der Renaissance Longinus gelesen haben, hat ihn diese Lektüre wohl darin bestärkt, die von jedem erworbenen Wissen unabhängige individuelle Begabung des Dichters ins Zentrum seiner Poetik zu stellen. Als "facitore del mirabile" und zugleich als "mirabile facitore" bewirkt der Dichter die Verwunderung seines Publikums durch die Verwandlung der Welt aus poetischer Sicht, die sich letzten Endes jeder rationalen Erklärung entzieht. Mit dem Begriff des den Dichter erleuchtenden Genius weist Patrizi den Weg, den die Literaturästhetik in nicht ferner Zukunft beschreiten sollte. Sobald der Genius in den Dichter selbst verlegt und mit seiner Begabving identifiziert wurde, entstand jenseits der klassizistischen Poetik an der Schwelle der modernen Ästhetik ein neuer Begriff des Dichters.
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Fracastoro, "Naugerius sive de poetica." H. Fracastorii Veronensis Opera omnia. Venetiis 1555, p. 158v.
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Neben den bisher behandelten poetologischen Schlüsselbegriffen imitatio, mimesis, furor poeticus, welche sich auf die Dichtung ganz allgemein beziehen, wurde ein nur eine einzige Gattung betreffender Begriff kaum weniger eifrig erörtert und kontrovers diskutiert: der Begriff der Katharsis, mit dem Aristoteles den Zweck der Tragödie bestimmt. Höchstwahrscheinlich verstand er unter der durch Mitleid und Furcht bewirkten Katharsis die Reinigung des Gemüts des Zuschauers "von derartigen Affekten, d.h. sowohl von Furcht und Mitleid als auch von den ihnen ähnlichen Affekten und Zuständen". 47 Da Aristoteles selbst die beiden Begriffe nicht näher erläutert hat, blieb Raum für verschiedene Deutungen der Katharsis durch die Renaissancepoetiken. Ihre Deutungsversuche, die Weinberg resümiert hat, konzentrieren sich auf den Begriff der Reinigung und bewegen sich in zwei Richtungen: Einerseits deutet man den Begriff moralisch und erwartet von der Tragödie eine exemplarische sittliche Belehrung, andererseits versteht man Reinigung psychologisch als eine emotionale Erleichterung, die der Zuschauer beim Anblick der auf der Bühne entfesselten Leidenschaften empfindet. Sofern mit der Erleichterung ein Lustgefühl verbunden ist, könnte man von einer ästhetischen Wirkung der Tragödie sprechen. Als Beispiel für die moralische Deutung der Katharsis diene zunächst Giambattista Cinthio Giraldi. Seine Konzeption der Tragödie, der er in seinen beim Publikum beliebten Stücken getreulich gefolgt ist, hat P.R. Hörne analysiert. 48 "La tragedia" - so lautet der entscheidende Satz in Giraldis Discorso intorno al comporre delle commedie e deile tragedie "[...] col miserabile e col terribile purga gli animi dai vizi, e gl'induce a buoni costumi." 4 9 Die dem Zuschauer verabfolgte moralische Belehrung wird durch Sentenzen verdeutlicht, von denen Giraldi in seinen Tragödien unter dem Einfluß Senecas reichlich Gebrauch macht. Vincenzo Maggi und Bartolomeo Lombardi gehen in ihrem umfangreichen Kommentar zur aristotelischen Poetik auf den Prozeß der moralischen Reinigung näher ein: Mitleid und Furcht reinigen die Seele von den schlimmsten Lastern Zorn, Geiz und Wollust und ersetzen sie durch 47 48 49
M. Kommerell, Lessing und Aristoteles: Untersuchung Uber die Theorie der Tragödie. Frankfurt/M. 1946, p. 66. P.R. Home, The Tragedies of Giambattista Cinthio Giraldi. London 1962, pp. 2347.
G. Giraldi Cintio, Ragionamenti de' romanzi, delle commedie e delle tragedie. Milano 1864, vol. II, p. 12.
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die entgegengesetzten Tugenden: "ira, uerbi gratia, depulsa succedit mansuetudo." 50 Wenn durch die Katharsis die "perturbationes" aus der Seele ausgetrieben werden, leben die gebesserten Menschen friedlich zusammen; also eine über den Einzelnen hinausreichende heilsame Wirkung der Tragödie auf die Gesellschaft. Es lag nahe, den heilsamen Einfluß der Katharsis einem medizinischen Prozeß gleichzusetzen; so Antonio Sebastiano Minturno in einer auf italienisch abgefaßten Poetik: "Νέ piü forza haurä il Physico di spengere il feruido ueleno della infermitä, che'l corpo afflige, con la uelenosa mediana; che'l Tragico di purgar l'animo delle impetuose perturbationi con lo empito degli affetti in uersi leggiadramente espressi."51 Ein häufiger Theaterbesuch härtet die Seelen der Zuschauer ab, so daß sie die Schläge des Schicksals leichter ertragen können. Hier ist die Bühne nicht moralische Anstalt, sondern seelisches Training. Indem Minturno den psychologischen Aspekt der Reinigung betont, dürfte er der modernen Interpretation am nächsten kommen. Obwohl die Auseinandersetzung mit den poetologischen Schlüsselbegriffen in ihrer theoretischen Tragweite über die Renaissance hinausreichte, dominierte letztlich das zeitgenössische Interesse der dichterischen Praxis an der Ausarbeitung des Regelwerks einer normativen Poetik, an der selbst ein genialer Dichter wie Torquato Tasso mit seinen Discorsi
dell'arte
poetica
e del poema
eroico
mitwirkte. Die Gültigkeit der
auf dem Glauben an die Erlernbarkeit des Dichtens beruhenden normativen Poetik konnte nur dann in Frage gestellt werden, sobald man sich auf die schöpferische Freiheit des Dichters besann. Ansätze dazu sind uns bei Fracastoro und Patrizi begegnet. Am Ausgang des Jahrhunderts führte Giordano Bruno die normative Poetik ad absurdum: "la poesia non nasce da le regole [...] ma le regole da le poesie: e perö tanti son geni e specie di vere regole, quanti son geni e specie di veri poeti." 52 Indem die Auflehnung gegen die Regeln zugleich einen Protest gegen die uneingeschränkte Autorität der Antike implizierte, liegen hier die Ursprünge eines Modernismus, der im 17. Jahrhundert das Selbstverständnis einer neuen Epoche, des Barock, kennzeichnet.
50 51
Weinberg, A History of Literary Criticism, p. 408. A.S. Minturno, L'Arte Poetica. Venetia 1564; Neudruck: Β. Fabian. München 1971,
_ Ρ· 7 7 · 52
G. Bruno, "Degli eroici furori." Opere italiane. Ed. G. Gentile. Bari 1907-1908, vol. II, p. 310 f.
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Zwischen Legitimation und systematischem Kontext Z u r Stellung der Mythologie in der italienischen Renaissancepoetik
I. Der These Jean Seznecs, der Renaissancehumanismus habe gegenüber dem Mittelalter kein essentiell neues Verständnis der antiken Mythologie entwickelt, 1 ist oft und zu Recht widersprochen worden. Seznec gibt dem Selbstverständnis der humanistischen Auseinandersetzung mit den Mythen ein zu geringes Gewicht gegenüber der Deutungspraxis, in der, wenigstens von der Form her, in der Tat viel Mittelalterliches weiterlebt. Seznec überschätzt auch die Rolle der mythographischen Handbücher; deren Funktion in der Tradierung der mythologischen "Realien", der Stoffe, Gestalten und Ikonographie steht außer Frage, sie sind aber für die innerliterarische Rezeption der Mythen nicht repräsentativ. 2 Demgegenüber konnte die Forschung den gewichtigen Beitrag dichterischer Vermittlertexte, besonders der Übertragung, Kommentierung und Nachahmung der Ovidischen Metamorphosen nachweisen. 3 Ein dritter Bereich ist jedoch wenig diskutiert worden: das Verhältnis zwischen der heidnischen Götterwelt und der dichtungstheoretischen Reflexion der Renaissance. Wenn Eugenio Garin schon vor rund 40 Jahren für die frühhuma1 2
3
Jean Seznec, La suruivance des dieux antiques. London 1940. Vgl. z.B. Bodo Guthmüller, Ovidio Metamorphoseos vulgare: Formen und Funktionen der volkssprachlichen Wiedergabe klassischer Dichtung in der italienischen Renaissance. Boppard 1981, p. 19 f. Stellvertretend sei verwiesen auf Bodo Guthmüller, Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance. Weinheim 1986; Maria MoogGrünewald, Metamorphosen der Metamorphosen: Rezeptionsarten der ovidischen Verwandlungsgeschichten in Italien und Frankreich im XVI. und XVII. Jahrhundert. Heidelberg 1979; Ann Moss, Ovid in Renaissance France: A Survey of the Latin Editions of Ovid and Commentaries Printed in France Before 1600. London 1982.
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nistische Poetik des 14. und beginnenden 15. Jahrhunderts feststellte, "che la grande polemica sulla poesia classica sia indissolubilmente legata alla polemica sugli dM dei Gentiii", 4 so kann man dies nicht nur auf die spätere italienische Renaissancepoetik ausweiten. Man darf darüber hinaus behaupten: der Umgang mit der Mythologie, einem der zugleich selbstverständlichsten und heikelsten Gegenstände der frühneuzeitlichen Literatur, verdeutlicht, daß auch die systematische Poetik des Cinquecento zu großen Teilen nicht "teorizzazione dottrinaria", 5 sondern ebenso intensiv eine kontinuierliche Bemühung um Legitimierung einer an antiker Dichtung orientierten Literatur ist. Im folgenden soll daher anhand einiger exemplarischer Aspekte gezeigt werden, daß die "Verortung" der Mythologie in der systematischen Poetik des 16. Jahrhunderts auf Probleme zurückweist, die schon in der frühhumanistischen Verteidigung der Dichtung da sind, und daß umgekehrt einige Fragen der frühhumanistischen Poetik erst in der Dichtungstheorie des 16. Jahrhunderts differenzierte Antworten finden.
II. Ich beginne mit einem Blick auf Boccaccios Genealogia deorum gentilium (ca.1350-75), um das frühhumanistische Verhältnis zwischen Poetik und Mythologie zu skizzieren. Die Bedeutung der Genealogia für einen frühneuzeitlichen Literaturbegriff beruht auf einer doppelten Leistung. In den 13 mythographischen Büchern rekonstituiert Boccaccio die alte Götterwelt als ein zusammenhängendes Ganzes und als einen spezifischen Wissensbereich, der nicht, wie z.B. in der spätmittelalterlichen Ovid-Auslegung, dem zeitgenössischen enzyklopädischen Wissen oder der christlich-moralischen Belehrung, sondern primär der Antike selbst zugeordnet wird. 6 In den beiden letzten Büchern schließt sich eine ausführliche Verteidigung der Dichtung an, der erste humanistische Versuch, die zahlreichen, zuvor hauptsächlich von Mussato und Petrarca, später von Salutati vorgetra4
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6
Eugenio Garin, "Le favole antiche." Medioevo e Rinascimento: Studi e ricerche. Bari 1966, pp. 66-89, hier: p. 72. Giancarlo Mazzacurati, "Prologo e promemoria sulla 'scoperta' della 'Poetica' (1500-1540)." Conflitti di culture net Cinquecento. Napoli 1977, pp. 1-41, hier: p.lf. Vgl. Guthmüller, "Bersuire und Boccaccio: Der Mythos zwischen Theologie und Poetik." Studien, pp. 21-33.
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genen Argumente pro und contra systematisch zu ordnen und aus ihnen eine differenzierte Bestimmung von Wesen, Form und Funktion der Dichtung herzuleiten. Welcher Zusammenhang besteht aber zwischen mythographischer Arbeit und Dichtungstheorie? Die humanistische Ausgrenzung der Mythologie aus dem Kontext einer zeitgenössischen Aktualisierbarkeit und die Zuordnung zu antikem Wissen bzw. antiker Literatur barg die Gefahr, die Mythen als etwas nur noch "archäologisch" Interessantes erscheinen zu lassen. Insofern war Boccaccios Absicht erst dann erfüllt, wenn die Mythologie in ihrer neugewonnenen Besonderheit als ein essentielles Element in das humanistische DichtungsVerständnis integriert war. Das aber - so der Autor - sei erst vollendet, wenn er alle Kritikpunkte gegen die Poesie entkräftet habe. 7 Denn obwohl sich die sodann erörterten Vorwürfe nicht nur auf die Mythologie beziehen, treffen doch in der Kritik an ihr dem Gehalt nach auch die wesentlichen übrigen Argumente gegen die Poesie in komprimierter Form zusammen: Kritik an Dunkelheit, Wahrheitsmangel, Immoralität, Unglaubwürdigkeit, Nutzlosigkeit und Gefährlichkeit der mythologischen Dichtung. 8 In einem ersten Schritt werden zunächst die immoralischen Götterfabeln als ein Sonderfall aus der mythologischen Dichtung ausgegrenzt, nämlich einer Minderheit schlechter Dichter zur Last gelegt.9 Damit ist das Feld frei für eine Bestimmung des Wesens und der Funktion der Poesie als "scientia veneranda" 1 0 und auch der Rolle mythologischer Fiktionen. Ich erläutere diesen speziellen Zusammenhang thesenartig: 1. Dichter sind von ihrem formalen Verfahren her "fabularum compositores"; die mythologischen Fiktionen sind "fabulae" par excellence. Doch ist das Fabulieren ebensowenig die eigentliche Aufgabe des Dichters wie für den Philosophen die Bildung eines Syllogismus.11
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Vgl. Boccaccio, Gen. XIV, prohemium: "Que quidem tunc peregisse reor, dum obiecta iam dudum aut obicienda in poesim et poemata ab hostibus poetici nominis rationibus veris retudero." - Giovanni Boccaccio, Genealogie deorum gentilium libri. Ed. Vincenzo Romano. 2 vol. Bari 1951, p. 680. Boccaccio, Gen. XIV, 5, p. 696: "Preterea eorum poemata esse dicunt obscura nimis atque mendacia lasciviis plena et deorum gentilium nugis atque ineptiis referta [··•]."
Boccaccio, Gen. XIV, 6, p. 699: "Lasciventium quippe ingeniorum culpa hec est." ω Ebd. 11 Boccaccio, Gen. XIV, 9, p. 705 f.
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2 Dem Wesen nach kommt das Reden der Dichter von Gott und ist deshalb immer nur wenigen zugestanden. Darum schafft die poetische Sprache auch einen Abstand zur gewöhnlichen. 3. Dazu gehört neben der rhetorischen Trias (Ersinnen seltener Erfindungen, reflektierte Anordnung, Ausgestaltung zu einem ungewohnten Textzusammenhang) vor allem das Verhüllen der intendierten Wahrheit unter Fiktionen - "velamento fabuloso atque decenti veritatem contegere".12 4. Die hervorragenden Dichter der heidnischen Antike waren "mithici theologi", die unter ihren Fiktionen naturphilosophische, moralphilosophische, geschichtliche und gelegentlich auch die Götter betreffende Wahrheiten verbargen. 13 5. Deshalb ist die Dunkelheit der Poesie kein Zeichen mangelnden dichterischen Vermögens oder Ursache fehlenden Nutzens. Die Schwierigkeit des Verstehens fördert Wert und Dauerhaftigkeit der in der Lektüre enthüllten Erkenntnis: "cariora sunt enim, que cum difficultate quesivimus, accuratiusque servantur".14 6. Insofern lügen die Dichter auch nicht, wenn sie etwa von Vielgötterei reden, obwohl feststeht, daß es nur einen Gott gibt. Sie stellen die Götterwelt nicht aufgrund einer Überzeugung dar - "non credentes neque firmantes, sed more suo fingentes".15 Die Götterfabeln gehören also in den Bereich der Fiktion, die ein wesensmäßiges und notwendiges Verfahren der Dichtung ist. 7. Die Mythen sind aber nicht nur als "fictiones" ungefährlich, sondern auch deshalb, weil ihr religiöser Gehalt mit der christlichen Lehre "auf ewig begraben" ist.16 Schon Boccaccio will die heidnische Götterwelt ideologisch entschärfen und als literarisch-fiktionalen Gegenstand verstanden wissen. Im Vergleich zur Literaturtheorie der späteren italienischen Renaissance ist sein Begriffsinstrumentarium aber noch nicht differenziert genug, um die "fabulae" als solche ästhetisch zu legitimieren. Noch muß die mythologische Fiktion über den mehrfachen Sinn der Allegorese funktionalisiert werden, in dem ihr eigentliches Daseinsrecht verankert ist.
12 13 14 15 16
Boccaccio, Boccaccio, Boccaccio, Boccaccio, Boccaccio,
Gen. Gen. Gen. Gen. Gen.
XIV, 7, p. 699. XV, 8, p. 768. XIV, 12, p. 717. XIV, 13, p. 719. XV, 11, p. 779.
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III. Ich mache nun einen Sprung um gut hundert Jahre und wende mich der systematischen Poetik der italienischen Renaissance zu, die nach gegenwärtigem Wissen mit dem um 1490 enstandenen De poetice Bartolommeo Deila Fontes beginnt und in den großangelegten Theorien des späten Cinquecento gipfelt. Die Mythologie bleibt auch in dieser Epoche einer der umstrittensten Punkte der Rezeption antiker Literatur. Besonders im Gefolge der Gegenreformation flackern Zweifel an einem legitimen Umgang mit heidnischer, speziell mythologischer Dichtung heftig auf. Bezeichnend ist hier ein um 1576 verfaßter Traktat des Klerikers Lorenzo Gambara, der in seiner Jugend selbst Dichtung in der Nachfolge der Ovidischen Metamorphosen geschrieben haben will, die er unter dem Eindruck des Tridentinum und der erneuten Lektüre der Kirchenväter jedoch vernichtet habe.17 Es ist nicht verwunderlich, daß etwas später eine anonym überlieferte Verteidigung der Dichtung und ihrer Mythologie entsteht; offensichtlich sind die seit zwei Jahrhunderten vorgetragenen Argumente weiterhin aktuell geblieben. 18 Gern zitiert man in diesem Zusammenhang auch Torquato Tasso, der in den Discorsi del poema eroico einem in moderner Dichtung verwandten mythologischen Apparat nicht nur Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit abspricht, sondern auch jede Schönheit und jede Wirksamkeit; 19 denn: die moderne Zeit brauche die "vera religione", die Mythen brächten aber die Gefahr von "falsa pietä e falso culto d'Iddio". 20 Derartige Haltungen sind bezeichnend für das ideologische Klima, 21 doch bei weitem nicht repräsentativ für die poetologische Reflexion über die Mythologie. Sie steht zunächst vor demselben zweifachen Problem wie Boccaccio: dem der
17
18
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20 21
Lorenzo Gambara, "Tractatio de perfectae poeseos ratione." Trattati di poetica e retorica del Cinquecento. Ed. Bernard Weinberg. 4 vol. Bari 1970-74, vol. III, pp. 207-234. "De re poetica libellus incerti auctoris". Trattati. Ed. Weinberg, vol. III, pp. 447483. Torquato Tasso, "Discorsi del poema eroico." Opere. Ed. Ettore Mazzali. Napoli 1969, vol. II, pp. 575-781, hier: p. 612: "Quanto dunque il meraviglioso che portano seco i Giovi e gli Apollini sia scompagnato da ogni probability, da ogni verisimilitudine, da ogni credenza, da ogni grazia a da ogni autoritä, ciascuno di mediocre giudizio se ne poträ facilmente awedere leggendo i moderni scrittori [...]." Tasso, "Discorsi", p. 613. Vgl. auch Helga Grubitzsch-Rodewald, Die Verwendung der Mythologie in
Giambattista Marinos "Adone". Wiesbaden 1973, p. 15.
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Eingrenzung des Mythos und der Integration in ein Literaturverständnis, das den Götterfabeln ihre ideologische und moralische Anfechtbarkeit nimmt. Gerade weil herausragende Theoretiker wie Minturno, Scaliger, Castelvetro oder Patrizi auf eine Synthese der seit der beginnenden Renaissance entwickelten Kriterien zur Beschreibung, Deutung und Wertung der Dichtung abzielen, versteht es sich, daß die Prinzipien des Frühhumanismus sich hier zumeist wiederfinden. Das gilt vor allem für die produktionsästhetischen Aspekte der Wesensbestimmung von Dichtung. Hier wird die Mythologie weiterhin häufig in der theologischen Poetik verankert, die zudem eine neue Qualität im Piatonismus des 15. Jahrhunderts gewonnen hatte. Stellvertretend sei ein Passus aus Minturnos L'arte poetica zitiert; die Auffassung vom Ursprung der Dichtung als prisca theologia wird hier mit der Inspirationstheorie verknüpft, um das Reden zu und von den Göttern als einen Gegenstand zu erweisen, der dem Wesen der Dichtung besonders affin ist: Laonde come ne' chori de gl'intelletti celestiali ä celebrare la diuina maestä creatrice e padrona di tutto, gli antichi Apollo e le Muse preposero; cosi tra gli huomini a' Poeti, i quali sono giä sotto il reggimento delle Muse e d'Apollo, in guisa d'interpreti delle diuine cose, il medesimo officio attribuirono. Ε perö l'antica poesia tutta era degl'Iddij [...]. Lodaua anchora, e pregaua gli Heroi posti nel numero degl'Iddij [..J.22 Was hier als geradezu "natürliche" Kausalbeziehung erscheint, münzt Girolamo Muzio in ein Postulat um; moderne Dichtung kann einen göttlichen Rang durch bewußte Einbeziehung der Mythologie wiedergewinnen: Quinci prender dovrai suggetto antico, Onde favoleggiar senza contrasto Possa tua penna, e trar di cielo in terra Giove e Minerva e dire i lor consigli. Ch6 Ί poema έ divin, ηέ senza i döi Poetar si conviene [...].23 Selbst ein rationalistischer Castelvetro, der sowohl die theologische Poetik wie die dichterische Inspiration zu einer bloßen "credenza del vulgo" er22
23
Antonio Sebastiano Minturno, L'Arte poetica (1564). Nachdruck München 1971, p. 167 f. - Eine ähnliche Formulierung findet sich schon in Minturnos De poeta (1559). Nachdruck München 1970, p. 378. Girolamo Muzio, "Dell'arte poetica", V. 821-26. Trattati. Ed. Weinberg, vol. II, pp. 165-209, hier: p. 188.
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klärt, 24 hält an der spezifischen Funktion mythologischer wie allgemein göttlicher Stoffe fest: derartige Werke seien von "uomini magnanimi e d'alto cuore" für ebensolche Leser ersonnen. 25 Die in diesem Beispiel mit angesprochene wirkungsästhetische Perspektive zeigt oft eine noch deutlichere Akzentverlagerung. So vertritt ein früher Theoretiker wie Deila Fonte noch den an Boccaccio erinnernden Standpunkt, die dichterische Redeform bzw. die verhüllende Fiktion diene dazu, den göttlichen, wohl auch den mythologischen Gegenständen der Dichtung eine ihnen angemessene Würde gegenüber der alltäglichen Welt zu bewahren. 26 Demgegenüber resultiert z.B. für Minturno - er sei ein weiteres Mal exemplarisch herangezogen - die Würde, die mythologische Gegenstände der Dichtung verleihen, nicht mehr aus deren hermeneutischem Anspruch, sondern aus Qualitäten der ästhetischen Wirkung: la presenza delle diuine persone rende la fauola piü magnifica, e piü bella, e l'adorna di certa marauigliosa maestä, che prende, e ritiene gli animi de' riguardanti con sommo lor diletto.27
Wohlgemerkt schließen die erwähnten Äußerungen zur Affinität von Mythologie und göttlichem Rang der Dichtung die allegorische Deutbarkeit, die im frühen Humanismus argumentativ notwendig war, weder unbedingt aus noch ein. Es ist jedoch offensichtlich und wird sich im folgenden bestätigen, daß die mythologischen Fiktionen zunehmend in ihrer ästhetischen Eigenwertigkeit interessieren.
IV. Bei der Allegorese selbst kann man eine entsprechende Verschiebung beobachten. Die Dichtungstheorien widmen ihr in der Regel keinen breiten Raum. Als grundsätzliche Deutungsmöglichkeit wird sie eher zugestanden denn propagiert. Oft wird ihre Gültigkeit sogar eingeschränkt. So 24
25 26
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Lodovico Castelvetro, Poetica d'Aristotele vulgarizzata e sposta. Ed. Werther Romani. 2 vol. Roma/Bari 1978/79, vol. I, p. 92. Castelvetro, Poetica d'Aristotele, vol. I, p. 109. Charles Trinkaus, "The Unknown Quattrocento Poetics of Bartolommeo de IIa Fonte." Studies in the Renaissance 13 (1966), 40-122 (Text des De poetice 95 ff.), hier: 102: "quae ad deos, quae ad heroas, quae ad inferos, quae ad superos pertinent, denique quaecunque venerando suspicimus, si denudentur et simplicius efferantur, necesse est ut evilescant et concidant." Minturno, L'Arte poetica, p. 83.
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nennen viele Theoretiker, wenn sie von den Gegenständen der Dichtung oder bestimmter Genera sprechen, Götter- und Heldenstoffe in einem Atemzug; das legt die Deutung nahe, sie bevorzugten eine euhemeristische Auffassung der Mythen, die ja zugleich der Aufwertung der ereignishaften Seite entgegenkommt. Wenn etwa Vida bei der Besprechung des Epos zunächst Göttern und Helden einen nur ähnlichen Wert für die Dichtung zuzuerkennen scheint, so verschwinden wenig später die Unterschiede.28 Götter- und Heldengestalten und ihre Taten werden poetisch analog behandelt, d.h. für den Leser der Renaissance - das scheint mir hier das Entscheidende zu sein - werden beide gleichermaßen zu literarischen Figuren.29 Darüber hinaus begegnet man immer wieder der Forderung, die allegorische Auslegung gerade mythologischer Stoffe einzuschränken und sie vor allem jenen Texten vorzubehalten, die eine allegorische Sinnschicht als erklärte "intentio auctoris" haben. Scaliger spricht die Deutung der "fabula" im Sinn einer "narratio ficta relata ad veritatem" einem großen Teil antiker, insbesondere mythologischer Werke ab: z.B. Hesiod, Ovid, Kallimachos, Homer. Das alles seien "mera priscorum figmenta", mit denen die Autoren auf keinerlei höhere Wahrheit abzielten.30 Patrizi will die Allegorie als Wesensmerkmal der Dichtung sogar auf die beiden frühesten Zeitalter seiner Einteilung der Literaturgeschichte begrenzen, zu denen er etwa Homer oder Hesiod nicht mehr rechnet.31 Noch dezidierter ist der Standpunkt, den Fabbrizio Beltrami an den Anfang seiner Betrachtungen zur Allegorie stellt, in deren Verlauf es auch um mythologische Dichtung gehen wird: Er trennt von vornherein die intendierte und damit hermeneutisch legitime Allegorie von der erst interpretativ an den Text herangetragenen und daher illegitimen Allegorese: "Ma so ancora che altro έ sporre i sentimenti veri e propri de' scrittori, altro e con allegorie e con mistiche interpretazioni storcer quelli in altro sentimento 28
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Vgl. The De Arte Poetica Of Marco Girolamo Vida. Ed. Ralph G. Williams. New York 1976, p. 4 (I, 33 f. u. 41 f.): "Sed nullum e numero carmen praestantius omni, / Quam quo post divos heroum facta recensunt [...]." und: "Nam licet hic divos, ac dis genitos heroas / In primis doceam canere, & res dicere gestas [...]." Vgl. auch in Minturnos De poeta Formulierungen wie "Deorum Heroumque laudes" (p. 268); "Deorum laudes, aut virtutes clarissimorum hominum" (p. 289); "Qui res Deorum Heroumque virtutes conscripserunt" (p. 407). Julius Caesar Scaliger, Poetices libri Septem. Nachdruck d. Ausg. Lyon 1561. Stuttgart-Bad Cannstatt 21987, p. 138 f. Francesco Patrizi da Cherso, Deila poetica. Ed. Danilo Aguzzi Barbagli. 3 vol. Firenze 1969-71, vol. II, p. 248.
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et a suo capriccio." 3 2 Ähnlich hatte sich bereits Giraldi Cinzio über die nachträgliche Homer- und Vergilallegorese mokiert. Den modernen Interpreten mythologischer Dichtungen rät er: "E lasciano questa ambizione ai Greci, i quali per far parere i loro favolatori e i loro poeti piü che u m a n i , stanno su queste vanitä." Nicht als verhüllte Rede, sondern als Werke von "poeti umani", von "favolatori" sollen die mythologischen Dichtungen verstanden werden. 3 3 Erneut sticht also das ästhetische Gefallen an den Fiktionen selbst, nicht an einer ethischen, naturphilosophischen oder anderen allegorischen Bedeutung hervor; und es ist konsequent, wenn
auch dort, w o die
Mythenallegorese gleichwohl erörtert wird, die Vereinbarkeit der fiktionalen Seite mit ästhetischen Ansprüchen gefordert wird. So will der vorhin zitierte Beltrami keine Allegorie als gelungen hinnehmen,
deren
Litteralsinn nicht den Prinzipien der Mimesis u n d der W a h r s c h e i n lichkeit genüge; denn andernfalls könne auch der übertragene Sinn k e i n e Wirkung erzielen: Ε perö deve il poeta [...] aver l'occhio di non proporre l'impossibilitä nella scorza della lettera, acciö abbia Ί popolo poi da ricercare la possibilitä nella medolla con molta fatica, et indamo poi finalmente.34 Die Überzeugung von einer Steigerung des Erkenntniswerts durch e i n e n schwierigen Bezug zwischen "scorza" und "midolla" hätte danach aufgrund ästhetischer Zweifel ausgedient. Etwas Entsprechendes geht aus einer Kritik Minturnos an einigen von Homers Götterdarstellungen h e r vor. Wahres, so erörtert er in einer Passage in De poeta,
müsse so mit
Falschem gemischt sein, daß das Wahre nach dem W e g n e h m e n der "integumenta"
offen und bloß zu erkennen sei. Wer aber hätte geglaubt,
Homer habe mit den Liebesgeschichten, Zwistigkeiten, I m m o r a l i t ä t e n seiner Götter, also mit Handlungen, die man nicht einmal
Menschen
zugesteht, einen anderen Sinn im Auge gehabt? Das W a h r e müsse so dargestellt werden, daß man den Leser bzw. Hörer ergötze und ihn zur
32
33
34
Fabbrizio Beltrami, "Alcune considerazioni intorno aH'allegoria." Trattati. Ed. Weinberg, vol. IV, pp. 321-332, hier: p. 321. Giovambattista Giraldi Cinzio, "Discorso intorno al comporre dei romanzi." Scritti critici. Ed. Camillo Guerrieri Crocetti. Milano 1973, pp. 45-167, hier: p. 91. Beltrami, "Alcune considerazioni", p. 322.
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Bewunderung hinreiße. 3 5 Obwohl es hier auf den ersten Blick um eine moralische Schwierigkeit zu gehen scheint, ist diese nicht der Angelpunkt. Vielmehr wird, wie der Kontext zeigt, aus der alten, teils auf Piaton, teils auf die Patristik zurückgehenden Kritik an den lasziven Götterfabeln ein ästhetisches Problem. Homer konnte kritisiert werden, weil er seine Fiktionen nicht angemessen gestaltete bzw. weil er in der Gestaltung seiner Fiktionen die dichterische Intention nicht unmißverständlich erkennen ließ. In eine ähnliche Richtung geht ein Vergleich, den Scaliger zwischen Homers und Vergils Götterdarstellungen unternimmt. Der Vergleich fällt zuungunsten des Griechen aus, wiederum nicht primär aufgrund moralischer Vorbehalte, sondern weil Homer seine Fiktionen schlechter als Vergil erfinde; sie seien unglaubhaft, ja kindisch, sie seien "sine arte" und deshalb selbst über die Allegorese nicht zu retten. 36
V. Ich bin bisher auf die beiden traditionellen Aspekte der theologischen Poetik und der Allegorese eingegangen, um zum einen die Kontinuität zwischen frühhumanistischer Poetik und systematischer Theoriebildung hinsichtlich des Mythenverständnisses anzudeuten. Zugleich sollte aber schon deutlich werden, daß diese beiden Bereiche nicht mehr diejenigen sind, in denen man eine solidere Rechtfertigung mythologischer Dichtung zu finden hofft. Die erwähnten Bemühungen, den Stellenwert der Allegorese neu zu bestimmen, verbindet die Absicht, die Mythologie aus dem Dilemma zwischen "wahr" und "falsch" herauszuholen, das der Hauptgrund ihres fortbestehenden Legitimationsbedarfs war. Dieses Dilemma war solange nicht zufriedenstellend zu lösen, als sowohl in der Kritik wie in der Verteidigung die ideologische Problematik ("Widersprechen die Mythen dem wahren Glauben?") begrifflich nicht von der ästhetischen ("Sind die Mythen als Dichtungen für den Leser überzeugend?") geschieden wurde. Nachhaltig konnte das nur gelingen, wenn die Fiktion, die in der Allegorese als bloß bedingter Faktor der eigentlich intendierten Wahrheit gerechtfertigt war, selbst zum Gegenstand einer
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Minturno, De poeta, p. 136. Scaliger, Poetices libri, p. 216a-b.
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differenzierten Bestimmung wurde und sich in eine übergreifende ästhetische Konzeption der Literatur einordnen ließ. Bezeichnend für eine noch unscharfe Trennung der außerliterarischen Wahrheit von einer innerliterarischen Wahrscheinlichkeit ist eine Passage in Marco Girolamo Vidas De arte poetica: Ein mythologisches Beispiel (zweifellos ist die Ilias gemeint) dient einer Illustration der dichterischen Verknüpfung von Wahrem ("vera") mit Erfundenem ("ficta") sowie der hierin liegenden Möglichkeit, bildhaft die Ursachen v o n Dingen oder Erscheinungen ("variarum semina rerum") darzustellen. Eine solche Darstellungsabsicht liege nun vor, wenn Götter in menschliche Kriege eingriffen und für feindliche Lager Partei nähmen, bis schließlich Zeus im Rat der Götter die Leidenschaften dämpfe. Tatsächlich aber, betont Vida, lebten die Götter ihrer Natur nach in völliger Heiterkeit und seien unserer Anschauung entzogen: [...] nam ficta potes multa addere veris, Et petere hinc illinc variarum semina rerum. Nonne vides, ut nostra deos in proelia ducant, Hos Teucris, alios Danais socia arma ferentes, Certantesque inter se odiis, donee pater ipse Concilium vocet, atque ingentes molliat iras? Quum secura tarnen penitus natura deorum Degat, & aspectu nostra summota quiescat.37
Geht es im ersten Teil dieser Passage um Wahrheit im Sinn einer ethischen oder naturphilosophischen Bedeutung der Göttergestalten, so stehen sich im zweiten Teil fiktive Göttergeschichte und wahres Sein des Göttlichen gegenüber, ohne daß jedoch die Doppeldeutigkeit des "verum" und damit die Diskrepanz unterschiedlicher Argumentationsebenen zum Bewußtsein käme. Es erscheint deshalb als eine folgerichtige Entwicklung, wenn die poetologische Diskussion sich auf die Mythen als Fiktionen konzentriert, die gegenüber dem Kriterium der außerästhetischen Wahrheit indifferent werden. Ein solches generelles Interesse an der fiktiven Geschichte, am Stoff des Mythos, den man nicht mehr vorrangig in seiner dienenden, sinntragenden Funktion, sondern als Spielraum poetischer Gestaltung betrachtet, begegnet etwa dort, wo die Mythologie als Beispiel der variierenden Bearbeitung eines tradierten Materials behandelt wird. Solche Gesichtspunkte finden sich vor allem bei Giraldi Cinzio und bei Castelvetro,
37
Vida, De arte poetica, pp. 64-66 (II, 345-352).
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d.h. bei Autoren, die auch in anderer Hinsicht zu den "moderni" unter den Theoretikern zählen. 38 Giraldi hält sogar die Verwendung bestimmter mythologischer Fiktionen für unabdingbar in einem Gedicht, das ansprechend ("grato") sein will; er denkt dabei an Geschichten wie "le mutazioni degli uomini in arbori, di navi in Ninfe, di frondi in navi, i congiungimenti degli iddii con gli uomini". 3 9 Und obwohl Giraldi wenig später im Einklang mit dem Literaturverständnis seiner Zeit fordert, der Dichter fingiere, um zu belehren, "ad ammaestramento della vita", 4 0 scheint ihn die Verknüpfung jener eher phantastischen Mythen mit der didaktischen Aufgabe hier kaum zu kümmern.
VI. Die Mythologie wird also als ein innerliterarisches Phänomen verstanden, das man von seinem pagan-religiösen Kontext lösen kann. Das mag überraschen, weil zeitgenössische Mythographen wie Lilio Gregorio Giraldi, Natale Conti oder Vincenzo Cartari gerade den religiösen Hintergrund der Mythen und dessen Widerspiegelung in der Kunst und in anderen Dokumenten aufrufen wollen. Doch auch innerhalb der Dichtungstheorie geht der ästhetischen Aufwertung der Mythen die historische Reduktion voraus, ja, diese stellt eigentlich die Vorbedingung für jene dar. So verteidigt der vorhin erwähnte Giraldi Cinzio die Götterwelt, die er selbst in seinem Epos Ercole verwendet, auch unter historischem Blickwinkel: sie sei "quella superstiziosa religione", auf die sich die antiken Autoren stützten. 41 Ähnlich betonen andere Theoretiker wie Minturno oder Castelvetro wiederholt, daß die Gottesvorstellungen antiker Dichtungen antiken Überzeugungen entsprächen. 42 Am deutlich38
39 40 41
42
Vgl. ζ. B. Giraldi Cinzio, "Discorso", p. 73 ff.; Castelvetro, Poetica d 'Aristotele, vol. II, p. 215 f. Giraldi Cinzio, "Discorso", p. 76. Giraldi Cinzio, "Discorso", p. 77. Giovambattista Giraldi Cinzio, "Lettera a Bernardo Tasso sulla poesia epica." Trattati. Ed. Weinberg, vol. II, pp. 455-476, hier: p. 464. Minturno, De poeta, p. 45: "Accusatur Homerus, quöd neque de Dijs quae uera essent conscripserit, neque Ulis quae conuenirent tribuerit. At qui de illis ipsis non quae Plato iubet esse scribenda, sed quae tradidit poeta, ferebantur." Castelvetro, Poetica d'Aristotele, vol. II, p. 186: "[...] Aristotele in questa Poetica [...] non seguita l'opinioni delle sette de' filosofi intorno alla credenza degl'iddii e dell'operazioni loro, ma parla degl'iddii e dell'operazioni loro
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sten tritt die geschichtliche Einstellung bei Francesco Patrizi zutage, der die Mythologie in antiker Dichtung als ein Problem der wissenschaftlichhistorischen Deskription verstehen will. An den Mythen interessiert ihn primär nicht die Frage ihrer Legitimität oder Glaubwürdigkeit, sondern die Tatsache, daß sie ein historisch dokumentiertes und über Dokumente allein zugängliches Phänomen sind.43 Insofern kann er auch den Kontrast zwischen wahrer und falscher "divinitä" auf ein terminologisches Problem reduzieren, nämlich die Homophonie der antiken und der modernen Gottesbezeichnung.44 Um die historische Abgrenzung gegenüber dem modernen, den antiken "superstizioni" überlegenen Glauben scheint es auch zu gehen, wenn Minturno die Götterwelt der antiken Dichtung in Analogie setzt zu Gott, Engeln und Heiligen des Christentums, wie sie in zeitgenössischer Epik auftreten: Hauea l'antica [poesia] gl'Iddij cosi i Celesti, come gl'Infernali, e terreni. La modema hä gli Angioli, & i Santi nel Cielo, & un solo Iddio; & in terra i Religiosi, & i Romiti. Hauea quella gli oracoli, e le Sibylle. Questa hä i negromanti, e le maghe. Quella l'incantatrici; quali furon Circe e Calysso. Questa le fate. In quella i messaggieri di Gioue eran Mercurio, & Iride. In questa alcun degli Angioli da Dio si manda.45 Aber die Überlegenheit der modernen Religion (die für Minturno außer Zweifel steht) ist hier nicht das Argumentationsziel. Vielmehr verbindet sich hier in charakteristischer Weise die historische Relativierung mit der Aufwertung des ästhetischen Eigenwerts der Mythologie: Dichtung passe sich an geschichtliche Veränderungen an, so an "religione" und "costumi", aber ihre "regola" bleibe konstant. Das ästhetische Kriterium wird hier dem ideologischen übergeordnet. Der religiöse Horizont der beiden Epochen interessiert nur insofern, als er als ein Gegenstand der poetischen Darstellung der werkinternen Stimmigkeit genügen muß. Aus demselben Grund hält Giraldi Cinzio es für gerechtfertigt, wenn er in seinem Ercole Mythologisches verwendet, d.h. in einer zeitgenössischen Dichtung, die einen (pseudo-)antiken Ereignisrahmen wählt. Dagegen verstieße - so Gi-
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secondo la credenza del popolo commune, secondo la quale dee regolare il poeta i suoi poemi." Vgl. Patrizi, Deila poetica, vol. I, p. 188 ff. Patrizi, Deila poetica, vol. I, p. 188: "[...] siaci lecito di usare questo nome di divinitä, in quel significato che i Latini il presero quando con esso i dei loro e le cose de' dei vollono dinotare, poi ch'altra voce non ci puö questi concetti esprimere." Minturno, L'Arte poetica, p. 31.
Rainer Stillers
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raldi - die antike Götterwelt in einer christlich-modernen Handlung gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, also wiederum aus poetologischen, nicht aus ideologischen Gründen. 46 Noch einmal wird somit deutlich, daß die Mythologie sich nicht mehr als ein "falso" gegenüber dem "vero" zu verantworten hat, sondern als ein "finto" gegenüber dem "verisimile". So vermag man selbst dort, wo sich dennoch ein Widerspruch zwischen Glauben und Mythologie zu Wort meldet, rein poetologisch zu argumentieren: Dichtung - so begründet Minturnc - habe eben die Fähigkeit, auch das Unmögliche glaubhaft darzustellen. 47 Die ästhetische Relativierung des Mythos im Gefolge der historischen leitet jedoch m.W. kein Theoretiker vergleichbar explizit her wie Castelvetro. Bei der Frage, inwieweit mythologische Dichtung als wahrscheinlich gelte, widerspricht er vorangehenden Aristoteles-Kommentatoren (vermutlich denkt er an Maggi), die sie der Verbindung von unmöglichem Gegenstand und glaubhafter Wirkung zuordnen, etwa weil die Mythen eine falsche, also unmögliche Religion seien, an die das antike Volk jedoch geglaubt habe. Ebensowenig fallen für Castelvetro mythologische Gestalten wie Pegasus oder der fliegende Daedalus unter die unmöglichen, weil naturwidrigen, aber glaubhaft dargestellten Dinge. Entscheidend sei allein die Bedingung, daß mythologische Dichtung der "istoria" oder der "fama" folge.48 Damit interessieren die Mythen nur noch als Gegenstände, die durch Überlieferung - in erster Linie textuelle Überlieferung - existieren, aus dieser Überlieferung ihre Eigengesetzlichkeit beziehen und auf deren Grundlage auf spezifisch vorgeprägte Erwartungen beim Leser, Hörer oder Zuschauer treffen. So räumt Giraldi Cinzio, was die vorhin erwähnten Sagen der Verwandlung von Menschen in Bäume, Schiffen in Nymphen, Bäumen in Schiffe und die der Verbindimg von Göttern mit Menschen angeht, zwar ein, sie alle seien in sich falsch und unmöglich, trotzdem aber akzeptabel, weil der "uso", die literarische Tradierung sie legitimiert habe.49 Ein besonders treffendes Beispiel findet sich bei Scaliger. Wenig klug, bemerkt er, sei die Kritik einiger Kommentatoren an einer unglaubwürdigen Herkunft der Rosse des Aeneas, die im siebten Buch der Aeneis mit Kirkes Hilfe aus den Rossen des Helios gezeugt werden: "Nam eadem 46 47 48 49
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Giraldi Cinzio, "Discorso", p. 83 ff. Minturno, De poeta, p. 47. Castelvetro, Poetica d'Aristotele, vol. II, p. 187; ähnlich p. 216. Giraldi Cinzio, "Discorso", p. 76.
Mythologie in der italienischen Renaissancepoetik
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ratione" (d.h. mit demselben Grad an Wahrscheinlichkeit) "potuit Circe suffurari semen equorum, qua Solis esse filia." 50 Die ästhetischen Kriterien müssen hier sichtlich eine enorme Elastizität beweisen; ja sie werden annähernd tautologisch bestimmt: Wahrscheinlich ist in der Welt der Mythologie, was von der Tradition akzeptiert wurde bzw. was den Gesetzen der mythologischen Welt entspricht. Trotzdem folgt aus dieser relativen Autonomie der Mythologie keine ästhetische Willkür. Die von Giraldi geschätzte Vergil-Episode, in der die Schiffe des Aeneas in Nymphen verwandelt werden, kritisiert Castelvetro heftig: nicht weil der Episode die Wahrscheinlichkeit fehle, sondern weil sie für die Handlungsmotivation nicht zwingend notwendig sei und daher nicht überzeuge.51 Der Hadesabstieg des Aeneas verstoße gegen das Prinzip des "convenevole", weil Vergil die in anderen Mythen beobachtbaren Charakteristika der Prophetie ungerechtfertigt überschreite. 52 Und auch die Verwandlung Amors in Ascanius kritisiert Castelvetro nicht deshalb, weil eine solche Verwandlung nicht möglich sei, sondern wiederum, weil sie handlungsintern nicht hinreichend motiviert sei. Denn Amor hätte Dido ja wie üblich auch durch einen goldenen Pfeil verliebt machen können. 5 3 Die phantastische, aber vertraute Welt des Mythos wird mithin eher akzeptiert als der Verdacht formalästhetischer Unvollkommenheit!
VII. In den vorangehenden Beobachtungen habe ich auf eine größere Zahl einzelner Beispiele zurückgegriffen, um trotz der Verstreutheit der meist kurzen Erörterungen zur Mythologie in den dichtungstheoretischen Texten übergreifende, typische Tendenzen aufzuzeigen. Ich fasse die wichtigsten Schritte noch einmal zusammen. 1. Die frühhumanistische Poetik - sie wurde am Beispiel Boccaccios skizziert - steht vor dem Problem, der antiken Mythologie einen partikularen Status zuzuerkennen, sie aber gleichzeitig in ein humanistisches Literaturverständnis zu integrieren. Dies leistet sie vor allem durch eine neue 50 51 52 53
Scaliger, Poetices libri, p. 85. Vgl. Castelvetro, Poetica d'Aristotele, vol. I, p. 274. Castelvetro, Poetica d'Aristotele, vol. I, p. 293 f. Castelvetro, Poetica d'Aristotele, vol. I, p. 187.
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Rainer Stillers
Funktionalisierung der Mythenallegorese: die Götterfabeln sind eine genuin dichterische, durch göttlichen Ursprung nobilitierte Ausdrucksform antiken Wissens. 2. In der systematischen Poetik des späten 15. und des 16. Jahrhunderts wirken allegorisches Verständnis und theologische Poetik weiter, doch treten der stofflich-fiktionale Eigenwert der Mythen und dessen ästhetische Wirkmöglichkeiten stark in den Vordergrund. 3. Die historische, "religionsgeschichtliche" Relativierung der Mythen wird zur Voraussetzung einer dichtungsinternen Aufwertung der Götterfabeln; sie haben sich primär nicht mehr gegenüber außerliterarischen Kriterien, sondern gegenüber poetologisch-ästhetischen Prinzipien zu legitimieren. Wenn also die Renaissance das literarische "Überleben" der antiken Götter sichert, dann wohl gerade durch eine doppelte Perspektive: indem sie die Mythen als ein poetisches Material versteht, das zum einen ein Prüfstein der ästhetischen Erfindung und Formung darstellt, zum anderen als eine Art "Leerform" auch neuartigen Funktionalisierungen allegorischen wie nicht-allegorischen - offensteht. So scheint mir auch das außerordentlich weite, vom moralischen Ernst bis zum witzigen Spiel reichende Spektrum barocker Mythenverwendung weniger Zeichen eines Autoritätsverlusts des humanistischen Antikeideals 54 als eine Ausschöpfung des in der Renaissance gewonnenen Spielraums zu sein. Und wenn sehr viel später, an der Schwelle zur Romantik, ein klassizistischer Verfechter der mythologischen Tradition emphatisch fragt: "[...] donde mai si possano trarre tante belle allegorie, tante splendide vesti, sotto le quali rappresentare poeticamente i concetti, quante ce ne somministra la mitologia dei greci?" 55 - dann ruft er im Kern noch einmal die von der Renaissancepoetik konstituierte, ästhetische und allegorische Doppelfunktion der Mythen auf. Nur: diesmal vermag dieses Konzept das Fortleben der alten Götter nicht noch einmal zu sichern.
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Vgl. Grubitzsch-Rodewald, Die Verwendung der Mythologie, p. 16 ff. Paride Zaiotti, "Intorno al sermone Sulla mitologia di V. Monti." Discussioni e polemiche sul Romanticismo (1816-1826). Ed. Egidio Bellorini. 2 vol. Reprint Bari 1975, vol. II, pp. 806-824, hier: p. 812 (Hvh. von mir).
THOMAS LEINKAUF
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert Seine philosophische Bedeutung und Hinweise auf sein Verhältnis zur Theorie von Poesie und Kunst1 Poetae (sunt) qui ad ideam proprii artificii respicientes nullam pulchritudinem praetermittere volunt. (Fracastoro)
I. Nahezu zeitgleich entstehen im 15. und 16. Jahrhundert differenzierte Theorien zum Begriff des Schönen und zur Struktur des Poetischen. Sie spiegeln, je verschieden, zwei zentrale Momente des geistigen Geschehens der Renaissance: einerseits die Erforschung der komplexen Strukturen des Seins in ihrem Bezug auf einen metaphysisch (nicht subjektivistisch) begründeten Begriff der Seele, die selbst den Inbegriff dieses Seins darstellt, durch die Philosophie und andererseits die akribische Erforschung der komplexen Strukturen von Texten in ihrem Bezug auf einen Leser, der Interpret, Restitutor und Autor dieser Texte ist, durch eine immer mehr ihre eigenen Bedingungen reflektierende Philologie. Ich will im folgenden keine Analysen zur Renaissance-Poetik im engeren Sinne geben, wohl aber zum Verhältnis von Philosophie und Poetik, d.h. ich will versuchen, zentrale Bedeutungsaspekte, die der Begriff des Schönen in systematischen theoretischen Ansätzen besaß, aufzuzeigen, Bedeutungsaspekte, die in impliziter oder expliziter Weise den Rahmen der Vorstellungen bildeten, die einem Autor zur Verfügung stehen konnten, der im 15. oder 16. Jahrhundert poetologisch tätig sein wollte. Das hierbei 1
Vgl. zum folgenden 1h. Leinkauf, "Das Schöne, Teil III: 15. und 16. Jahrhundert." Historisches Wörterbuch der Philosophie. Ed. J. Ritter & K. Gründer. Basel/ Stuttgart 1993, vol. VIII, col. 1356-1364. Dort auch weiterführende Literatur zur philosophischen Diskussion.
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Thomas Leinkauf
aufgewiesene Verständnis des Schönen selbst trägt allerdings einerseits eher - im besten Sinne - konservative als innovative Züge, d.h. es tradiert Sacheinsichten einer bis auf Piaton zurückgehenden Tradition; andererseits ist es, wie ich meine, genau diese philosophisch konsistente Theorie des Schönen, die als Basis für innovative Prozesse, Schwerpunkt- und Gewichtungsverlagerungen oder gar Abstoßungsprozesse diente, die das ausmachen, was an der renaissancistischen oder frühneuzeitlichen Theorie des Schönen und seiner ästhetischen Wirkungen eben nicht in den antiken und spätantiken Vorgaben aufgeht. Dies wird z.B. insbesondere deutlich in der Konjunktur der Traktate zu Wesen und Tätigkeit Amors und den psychologisch subtilen Analysen der im Horizont der wirkenden Liebe auftretenden Affekte und ihres Verhältnisses zur Vernunft. Diskussionen über den Begriff des Schönen waren zudem nicht zugleich notwendigerweise poetologische Diskussionen, sondern sie bezogen sich, vor dem Hintergrund der im folgenden zu skizzierenden Tradition, primär auf ontologisch-metaphysische und die aus diesen ableitbaren psychologischen und ethischen Zusammenhänge. Die philosophiegeschichtliche Rekonstruktion bleibt also darauf angewiesen, daß für sie nur in der vor dem Hintergrund des metaphysisch-theologisch geprägten Verständnisses des Schönen entwickelten Theorie eines metaphysiologisch fundierten Affektbegriffes, der komplexe Sachverhalte wie Attraktivität, Faszination, Elevation
und insbesondere Inspiration
(platonische furor
poeticus-Lehre)
weitestmöglich rational verhandelbar und einsichtig machen wollte, das größte Potential an Schnittmenge zwischen Philosophie und Poetologie liegen kann. 2 Da es zudem evident ist, daß die genuin dichtungstheoretische Entwicklung, trotz manifester Bezugnahmen etwa auf Piaton oder Augustinus, auf die lateinischen Humanisten oder Aristoteles, sich eher neben denn in der philosophischen Debatte vollzog und ein deutliches Abhängigkeitsverhältnis - wie etwa dasjenige Cr. Landinos zur Theorie des Ficino 3 - oder etwa die Personalunion von philosophischem 2
3
Vgl. etwa die Hinweise auf die Wirkungsgeschichte der platonischen Inspirationslehre bei B. Hathaway, The Age of Criticism: The Late Renaissance in Italy. Ithaca, Ν. Y., 1962, p. 341 f.; R. Stillers, Humanistische Deutung: Studien zu Kommentar und Literaturtheorie in der italienischen Renaissance. Düsseldorf 1988, pp.98 ff., 135 (Robortello). A. Buck, Italienische Dichtungslehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance. Tübingen 1952, p. 91 f.; ders., Der Einfluß des Piatonismus auf die Oolkssprachliche Literatur des Florentiner Quattrocento. Krefeld 1965, p. 26 f.; R. Weiss, Cristoforo Landino: Das Metaphorische in den "Disputationes Camaldulenses". München 1981. Zu erwähnen wären natürlich auch A. Poliziano und
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
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und poetologischem Theoretiker - wie im Falle des F. Patrizi4 - eher die Ausnahme bildet, steht also zu vermuten, daß insbesondere im 16. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Poetologien, die Schnittmenge von Philosophie und Dichtungstheorie von eher kleinem Umfang sein und der Begriff des Schönen selbst in einem genuin ästhetischen Kontext fast keine Rolle spielen wird. Warum das so ist, sollte im folgenden deutlich werden. Dieser Begriff des Schönen und seine sprachlichen Repräsentanten 'schön', 'das Schöne', 'Schönheit' (pulchre, pulchrum, pulchritudo, venustas;
bello,
bellezza)
stehen im 15. und 16. Jahrhundert bei
philoso-
phischen Autoren durchgehend in einem metaphysisch-ontologischen Kontext, der die empirischen Bezugnahmen auf das Schöne mit dem theologischen Grund desselben zu vermitteln suchte. In diese Tradition gehören etwa N. Cusanus, M. Ficino, G. Pico della Mirandola, F. Giorgi, F. Cattani da Diacceto, L. Ebreo, C. Gemma, G. Bruno. Bei den sogenannten Künstler-Theoretikern, die seitL. B. Alberti nachweislich in Auseinandersetzung mit philosophischen Autoren ihre Theorien des Schönen entfalteten 5 , wenn auch kaum mit deren systematischem, prinzipientheoretischem Anspruch, konzentriert sich das Nachdenken über das Schöne primär auf dessen empirische Gestalt und Bedingungen und auf die intrinsischen Probleme seiner Wirkung sowie des kritischen Urteils über das Schöne. Diese Filiation, die mit den Namen L B. Alberti, L da Vinci, A. Dürer, L. Dolce, P. Lomazzo, F. Zuccari skizziert werden kann, übernimmt jedoch aus der philosophischen, platonischen und christlichen Tradition Theoreme zum proportional-symmetrischen Schönheitsbegriff und zum intelligibel-göttlichen Grund des Schönen. Sie bereitet intensiv die Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts mit ihren Zentralthemen Geschmacksurteil6,
4
5
6
Künstleringenium7
und Paragone8
vor. N o c h e i n m a l
Lorenzo de' Medici, vgl. Buck, Der Einfluß des Piatonismus, pp.18 f., 27. L. Bolzoni, L'universo dei poemi possibili: Studi su Francesco Patrizi da Cherso. Roma 1980; Th.Leinkauf, II neoplatonismo di F.Patrizi come presupposto della sua critica ad Aristotele. Firenze 1990. Vgl. Stillers, Interpretation, p.366 ff. Vgl. etwa P. Lomazzo, Idea del tempio della pittura. Milano 1590 (ND Hildesheim 1965), c. 26. Das ganze Kapitel ist im Grunde ein Auszug aus Ficino, De amore (1469). Ed. R. Marcel. Paris 2 1978, V 3-6 (nachgewiesen schon durch E. Panofsky, Idea: Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunstgeschichte. Hamburg 1924, p. 122 ff.). A. Dürer, Schriften und Briefe. Leipzig 1978, p.144: "Was aber die Schönheit sei, das weiß ich nit"; p. 146: "allein Gott hat ein zureichendes Urteil über das Schöne"; "Vier Bücher von menschlicher Proportion" (1512 ff.). Ebd., p. 161; L. Dolce, Dialogo della pittura (Venedig 1557). Scritti d'arte del cinquecento. Ed.
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Thomas Leinkauf
anders sieht es bei den Dichtungstheoretikern aus, in deren Argumentationen sich im 15. Jahrhundert hauptsächlich der Florentiner Platonismus in Gestalt der furor- und amor-Lehren und im 16. Jahrhundert zunehmend der Einfluß der durch die Rezeption der aristotelischen Poetik bestimmten Nachahmungs- und Affekttheorien spiegeln.
II. In der metaphysisch-ontologischen Tradition, an der die Theoretiker der Renaissance bewußt anknüpfen, impliziert der Begriff des Schönen unmittelbar den vor-ästhetischen und rein intelligiblen Horizont, der im philosophischen Verständnis des Wahren und Guten formuliert worden war. Schönheit wird daher in der Tradition des Dionysius Areopagita 9 oder des Boethius 1 0 als Gottesname und als absolute Eigenschaft des göttlichen Wesens verstanden: so wird Gott etwa von Cusanus als pulchritudo absoluta gedacht 11 , von Ficino als pulchritudo prima oder 12 mera infinita pulchritudo und von G. Bruno als divina belt ade13. Schön-
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13
P. Barocchi. [Bari 1960-1962], Torino 1978, vol. I, p. 155 ff.; Lomazzo, Idea, c. 31, p. 110. Vgl. R. Klein, "Giudizio et gusto dans la theorie de l'art au cinquecento." La forme et I'intelligible. Paris 1970, p. 341 ff. Dürer, "Van der Malerei." Schriften und Briefe, p. 143: "von Natür dorzu geschick"; Dolce, Dialogo, p. 157; P. Lomazzo, Traftato dell'arte della pittura, scoltura et architettura. Milano 1584, II c. 2; Lomazzo, Idea c. 8, p. 38; c. 9, p. 41: "quel dono divino, che accompagna solo quelli che sono nati con quest'arte." Vgl. hierzu die einschlägige Textauswahl von P. Barocchi in Scritti d'arte del cinquecento. Vgl. Dionysius Areopagita, De divinis nominibus 701 C-D und Albertus Magnus, Super Dionysium de divinis nominibus, c. TV nn. 71 sqq. (Op. omnia XXXVII/1, p. 180 ff.), bes. n. 73 (p. 183): "dicendum, quod pulchritudo est in deo et summa et prima pulchritudo, a qua emanat natura pulcritudinis in omnibus pulchris, quae est forma pulchrorum." Zur Rezeption durch Cusanus vgl. die Hinweise im Apparat der Ausgabe der Predigt Tota pulchra es von G. Santinello: Padua 1959. Vgl. Boethius, Consolatio philosophiae, III m. 9: "pulchrum pulcherrimus ipse mundum mente gerens." N. Cusanus, Tota pulchra es, p. 31,6 ff., p. 34,12 ff., p. 36,2; "De visione Dei", c. 6. Philosophisch-theologische Schriften. Ed. W. Dupr£. 3 vol. Wien 1967, vol. III, p. 114. Im folgenden zitiert als: 3, p. 114 D. M. Ficino, Theologia Platonica XI 4. Ed. R. Marcel. 3 vol. Paris 1964-1970 (=M.), vol. II, p. 121. Im folgenden zitiert als: Theol. Plat. XI 4 (2, p. 121 Μ.). De amore VI 18. Ed. R. Marcel. Paris 21978, p. 238. G. Bruno, Eroici furori I 3. Dialoghi italiani. Ed. G. Aquilecchia. 2 vol. Firenze 2 1985, (=A.), vol. II, p. 989. Im folgenden zitiert als: Eroici fur. 13 (2, p. 989 Α.).
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
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heit bleibt also ein absolutes Gottesprädikat neben dem Guten, der Wahrheit und der Mächtigkeit14. Alle endlichen, relativen und partikularen Erscheinungen von Schönem, seien sie sinnliches oder intelligibles Schönes, stehen in einem grundlegenden und absoluten Bezug zu dieser Schönheit Gottes, sind deren partizipierende, abgeschattete Ausstrahlungen (splendor, respondentia, relucentia15)
u n d Manifestationen ( m a n i f e s t a t i o , ostensio16).
A u s der
Koinzidenz und Konvergenz des absoluten Schönen mit dem absoluten Wahren und absoluten Guten in Gott wird in dieser Tradition die ontologische, epistemologische und ethische Normativität des einzelnen und relativen Schönen abgeleitet. Letzteres wird daher als Explikat des absoluten Schönen verstanden: "Pulchritudo ipsa pulchrorum omnium est mensura." 17 Die Bedeutung, die das Schöne als Inzitament für die grundlegende Umwendung und Orientierung der Seele im Sinne der platonischplotinischen ττερυαγωγή18 und des christlichen raptus-conversio-Zusammenhanges bei den genannten Autoren gewinnt, läßt sich nur dadurch verständlich machen, daß im Schönen etwas als auf sinnliche und/oder intelligible Weise gegenwärtig gedacht wurde, was die Dimensionen des Sinnlichen und Geistigen, als deren Grund, zugleich übersteigt. 19 Als Grund des Schönen ist Gott die versammelnde Einheit aller vielheitlichen Bestimmungen des Schönen und daher zu denken als Seins- und Sinngrund des einzelnen Schönen, der jede ästhetische und noetische Beschäftigung mit dem Schönen notwendig durchdringt und bestimmt. Das Affiziert-Werden der Seele durch das sinnliche Schöne konnte so als Zeichen für die Gegenwart des absolut Schönen genommen und der 14
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18 19
N.Cusanus, De possest, n.10. Opera omnia iussu et auctoritate academiae litterarum heidelbergensis. Hamburg 1932 ff. (=h), h XI 2, pp. 12-13; De venatione sapientiae, c. 2 n. 6; c. 7 n. 18; G. Bruno, De la causa 1 (1, p. 203 A.); 3 (1, p. 283 A.); Eroici fur. II 1 (2, pp. 1100,1102 Α.), 4 (2, p. 1158 f. Α.). Cusanus, Tota pulchra, pp. 33,3 ff.; 38,17; De genesi, c.l n. 150-151 (h IV pp. 109110); De venatione sapientiae, c.2 n.6; Ficino, De amore II 5, p. 152; 6, p. 153; VI 8, p. 238; Theol. Plat. XI 4 (2, p. I l l Μ.); XII 3 (2, p. 164); L. Ebreo, Dialoghi d'amore, III. Roma 1535. Ed. C. Gebhardt. Heidelberg 1929, pp. 10 r , 17 v , lOCF; Bruno, Eroici fur. I 3 (2, pp. 991-992 Α.); II 1 (2, pp. 1107.1073.1076 A.); Lomazzo, Idea, c. 26. Cusanus, De ludo globi, I (3, p. 266 D.); De pace fidei, c.4 n.12 (h VII pp. 12-13). Ficino, Theol. Plat. XI4 (2, p. 121 M.): "pulchritudo ipsa pulchrorum omnium est mensura [...] prima essentia et prima pulchritudo sunt idem." Ebd., p. 124: "Deus" = "mensura immensurabilis, mensura prima." Piaton, Politeia VII 514 A ff., 518 D; Plotin IV 8,1,33.4,28 f. Bruno, Eroici fur. I 3 (2, pp. 991-992 Α.).
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Thomas Leinkauf
Beschäftigung auch mit dem erscheinenden Schönen die Dignität eines philosophischen Geschäftes zuerkannt werden. Die im Affizieren sich äußernde Wirkung des Schönen auf die Seele als ganze (d. h. auf Sinnlichkeit und Intellekt), seine Attraktivität, ist der empirische Ausdruck seiner sachlich trans-empirisch, z.B. im Horizont der idealen Zahlstrukturen oder des Ethischen, begründeten Normativität als Bild der absoluten, göttlichen Schönheit; so kann z.B. C. Gemma, mit Verweis auf die Platoniker, zwischen einer pulchritudo interna, die einer interna perfectio und d.h. dem Gut-Sein einer Sache bzw. der Seele entspricht, und einer pulchritudo externa unterscheiden, die zuerst aufgefaßt wird und den initialen Faktor für die Bewegung der Seele zum Intelligiblen darstellt. 20 Die Reaktion der Seele auf die Wirkung des Schönen ist Ausdruck der Entsprechung ihrer äußeren und inneren Vermögen zu der Einheitsnatur und der Intelligibilität des Schönen. 21 Gegenüber diesem Schönen kann die Seele sich nicht anders als vollständig zustimmend und d.h. liebend verhalten: "Percioche έ impossibile che uno possa voltarsi ad amar altra cosa, quando una volta ha compreso nel concetto la divina bellezza; ed έ impossibile che possa far di non amarla." 22 Ich möchte vorschlagen, vor diesem grundsätzlich theologischen Hintergrund einen ontologisch-kosmologischen (a) und einen psychologischepistemischen (b) Aspekt im Verständnis des Schönen zu unterscheiden. Beide Aspekte bildeten gleichsam den objektiven und subjektiven Pol innerhalb einer Theorie oder eines systematischen Ansatzes, sie verweisen aufeinander und haben ihren sachlichen Grund in einem und demselben Prinzip. Man kann, natürlich etwas verkürzend, sagen, daß der objektive Pol im Verständnis des Schönen dieses als Strukturprinzip des Seins begreift, daß also das Schön-Sein eines Seienden eine inbegriffliche Repräsentanz des Wahren, Guten und Schönen an eben diesem einzelnen Seienden ist. Mit dem schon erwähnten C. Gemma, einem Platoniker aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, läßt sich dieser komplexe
20
21
22
C. Gemma, De arte cyclognomica. 2 vol. Antverpiae: Plantini 1569, I p. 89; Cusanus, Sermo XLI: Confide filia n. 27 (h XVII/2, p. 161): "forma extrinseca, pulchritudo intrinseca." Lomazzo, Idea, c. 26, p. 89: "la vera bellezza ä solamente quella che della ragione si gusta, & non da queste due finestre corporali." Begründung unter Rekurs auf Ficino, De amore V, pp. 84-85: die harmonische Verhältnisstruktur des Schönen ist selbst nicht sinnlich, sondern intelligibel zahlhafte Form und als solche nur dem Intellekt zugänglich.
Bruno, Eroicifur. II 1 (2, p. 1102 Α.).
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Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
Zusammenhang auf die Kurzformel bringen: "In rebus omnibus interna perfectio produxit externam, illam ut bonitatem, hanc vero ut pulchritudin e m possumus appellere." 2 3 Die innere V o l l k o m m e n h e i t
einer Sache
besteht in der je erreichten Verwirklichung ihrer intelligiblen idealen Sachbestimmung oder ihres Wesens.
Dieses O p t i m u m
oder ihrer
Verwirklichung ist das für sie Gute, und dieses für sie Gute steht zugleich in einem unauflöslichen Verhältnis zu dem an sich Guten, zu der absoluten Vollkommenheit
aller Dinge in Gott. Selbstidentität ist Über-
einstimmung mit den Bedingungen, die das ontologische Optimum ausmachen: für diese Übereinstimmung steht auch das vor-prädikative Verständnis von Wahrheit, das darin besteht, daß wahr ist, was an einer Sache seiender
Ausdruck ihrer Übereinstimmung mit den idealen oder
absoluten Vorgaben im
Intellekt Gottes ist. Schönheit ist daher für
Gemma, der eindeutig in der Tradition Ficinos steht 2 4 , einerseits die das innere Optimum repräsentierende externa
perfectio
rei, andererseits und
in einem weiteren Sinne überhaupt dasjenige, was man als den A u ß e n aspekt der Ideen bezeichnen könnte: "Quod enim est universo corpus, id pene in idearum propagine pulchritudo." 2 5 Der subjektive Pol dagegen thematisiert das diesem
ontologischen
Grundsachverhalt korrespondierende Verhalten der Seele bzw. des Intellektes, also die vielfältigen und vielschichtigen, die ganze Innenseite des Menschen durchdringenden Pathemata einerseits und die sich darin u n widerstehlich anzeigende und durchsetzende Rückwendung der Seele in ihren
göttlichen
Ursprung, ihr nach außen u n d
innen
Tätigsein, andererseits. Ist der ontologisch-kosmologische
gewendetes Aspekt der-
jenige, der das Schöne in engerem, gegenständlichem Sinne umfaßt, so der psychologisch-epistemische derjenige, der den Horizont des Eros oder A m o r s absteckt, also den Bereich der Vermittlung der Seele mit dem Sachgrund ihres Affiziertseins. Ich werde jetzt kurz diese beiden Aspekte des Schönen diskutieren.
23 24
25
Gemma, De arte cyclognomica, I c.7, pp. 87-88. Vgl. Th. Leinkauf, "Piaton und der Piatonismus bei Marsilio Ficino." Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), 735-756. Gemma, De arte cyclognomica, p. 87. Dort auch die Bemerkung: "quod anima corpori, id pulchritudini bonitas."
Thomas Leinkauf
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Zum ontologisch-kosmologischen
Aspekt des Schönen (a)
Die Normativität und Maß-gebende Kraft des intelligiblen Schönen ist, in der Aufnahme insbesondere Plotins 26 , ontologisch verstanden worden 1. als die den gesamten Bereich des Seins durchdringende und formierende Grundproportionalität der Einheit Einheit.27
in der
Als solche wurde das Schöne mit
Vielheit Piaton 2 8
oder als
entfaltete
und in der christ-
lichen Auslegungstradition von Sap. 11,21 29 beschreibbar vor allem als harmonia,
proportio,
commensuratio,
fassung im Begriff der
concinnitas30
numerus
und deren Z u s a m m e n -
als ein die varietas der innerwelt-
lichen Formen fügendes Prinzip. 3 1 Diese proportionalen
Strukturmo-
mente gliedern das dimensionale körperliche Sein als Schönes, sie sind jedoch nicht selbst dimensional-körperlich, sondern spirituell-intelligibel. 32 Ihre Substanz ist zahlhaft, und in der Zahl konnte so ein genuin 26 27
28 29
30
31
32
Plotin, Enn. 16, V 8. Vgl. auch die Beobachtungen R. Wittkowers zur Architektur Palladios in Grundlagen der Architektur im Zeitalter des Humanismus (1949). München 1983, p. 81. Panofsky, Idea, p. I l l , Anm. 220 ordnet die proportional-symmetrische Schönheits-Bestimmung noch als "rein phänomenale Schönheitsdefinition im Sinne der συμμετρία und εΰχρουα" dem Aristotelismus in der Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts zu. Piaton, Symp. 206 CD, 210 Α ff.; Phileb. 64 Ε f.; Tim. 41 B, 47 A, 87 A. Vgl. H. Krings, Ordo: Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländischen Idee (1941). Hamburg 1982, p. 55 ff.; W. Beierwaltes, "Augustins Interpretation von Sapientia 11,21." Revue des etudes augustiniennes 15 (1969), 51-61. Cusanus, De ven. sap., c. 30 nn. 90-91;gen., 2, pp. 400,434 D.; ldiota de mente, c.6, 3, p. 328 D.; L. B. Alberti, De re aediflcatoria (1452), IX 5. Ed. Orlandi. Milano 1966, p. 815; Ficino, Theol. Plat. XI 5 (2, p. 128 Μ.); XV 13 (3, p. 73 Μ.); De amore V 6, pp. 188-189; Commentarius in Philebum Piatonis. Opera omnia (Basel 1576). Turin 1962, p. 1253 zu 64 Ε f.; G. Pico della Mirandola, Commento II 9. In: De hominis dignitate, Heptaplus etc. Ed. E. Garin. Firenze 1942 (=G.), p. 497 f.; D. Barbara, I died libri d'architettura di M. Vitruvio. Vinezia: Marcolino 1556, pp. 24,57-58; Ebreo, Dialoghi d'amore III, pp. 101 v , 102 v -104 v ; A. Palladio, I quattro libri 11 p. 6; II 1 p. 3; IV prooem; Lomazzo, Idea, c.19, p. 66f., c. 26, p. 84, c. 33, pp. 128-129; Bruno, Lampas triginta statuarum. Opera latina. Ed. D. Fiorentino, Tocco et al. Napoli 1879 ff. (=Op.lat.), III p. 61,3 ff.; De umbris idearum , Op. lat. U/1, p. 27; Eroici furori I 3 (2, p. 992 A.); F. Commanini, II Figino. Ed. Barocchi, Scritti d'arte, II p. 405. Varietas steht schon früh im Kontext von pulchrum und decorum, vgl. Origenes, Peri archon II 3 , 3 (Koetschau pp. 118-119); Hieronymus, epist. 124,5; Cusanus, De ven. sap., c. 30 n. 90; Degenesi, c.l n. 150-151 (h IV p. 109 f.); Bruno, De la causa 1 (1, p. 192 A.); W. Perpeet, Das Kunstschöne: Sein Ursprung in der italienischen Renaissance. Freiburg/München 1987, pp. 270-277. Bruno, Eroici fur. I 3 (2,992 Α.); Lomazzo, Idea, c. 26, pp. 84-85.
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
61
intelligibler, Geist-affiner Indikator des Göttlichen selbst verortet werden. Cusanus schreibt, vermutlich in Aufnahme des Bonaventura (Itinerarium mentis in Deum, c.2n.l0): Si acute respicis, reperies pluralitatem rerum non esse nisi modum intelligendi divinae mentis. Sic irreprehensibiliter posse dici conicio primum rerum exemplar in animo conditoris numerum esse. Hic ostendit delectatio et pulchritudo, quae omnibus rebus inest, quae in proportione consistit, proportio vero in numero.
Sein ist in diesem theoretischen Zusammenhang dann identisch mit Schön-Sein bzw. Schönheit. 33 Denn etwas ist nur oder hat ausschließlich dann Bestand, wenn es in seiner Vielheitlichkeit auf Einheit bezogen ist. Der Bezug von Vielem auf eine sie messende und bestimmende Einheit wird aber als Proportion oder Ordnung gedacht. So konnte L. Paccioli die Dignität des absoluten Paradigma von Proportion, die divina proportio des Goldenen Schnittes, vollständig aus spekulativen Theoremen ableiten, die ansonsten der philosophisch-theologischen Gotteslehre vorbehalten waren. Die divina proportio ist, indem sie die Bestimmungen der Einheit, Dreifaltigkeit, Unsagbarkeit (nicht Quantifizierbarkeit), der Ubiquität im dimensionalen Substrat, der Invarianz und der operationalen Dynamik in sich versammelt, Bild des einen und dreifaltigen Gottes im Geschaffenen. 34 Und so kann Lomazzo in seiner Idea del tempio della pittura sagen: "La vera bellezza έ solamente quella che della ragione si gusta, & non da queste due finestre corporali" 35 , und dies aus denselben Gründen, die Paccioli von der Göttlichkeit seiner geometrischen Verhältnisse sprechen ließ: die harmonischen Grundrelationen des Schönen sind für Lomazzo rein intelligibler und zahlhafter Natur und in ihrem Sein nur dem Intellekt zugänglich. Und 2. wurde sie, in der Aufnahme von Plotin 16,1,31-40; 2,19-23 (είδος, ev), VI 7,22,1-7; 2,25-26 (χάρυς) und Dionysius Areopagita, div.nom. IV (701 C), verstanden als die innerweltliche Gegenwart eines Bildes der absoluten Einheit, als einfache Schönheit der einfachen Dinge (simplicia). In diesem Sinne wurde die ontologische Normativität als eine nichtmaterielle, die Materie jedoch organisierend und strukturierend beherrschende 36 Einheit über oder vor der Vielheit beschreibbar, als charts,
33 34
35 36
Cusanus, Idiota de mente, c.6 n.94 (h V, p. 140); Plotin V 8, 9, 36 ff.; 10, 29 f. L. Paccioli, Divina proportione. Venedig 1509, c. 5. Ed. C. Winterberg. Hildesheim 1974 ( 1 1889), pp. 43-44. Lomazzo, Idea, c. 26. Plotin I 6,2,13-23.
62
Thomas Leinkauf
gratia, splendor,
forma
oder species37,
alles Bestimmungen, die die ur-
sprüngliche Lichthaftigkeit und d.h. Intelligibilität des Schönen thematisieren. 3 8 Diese Einheit konnte in einem bestimmten platonischen Verständnis von gratia,
orphisch-neu-
das diese mit den
mythischen
Chariten resp. Grazien verbindet, auch als in sich differenzierte, d.h. ternarische,
die göttliche Dreifaltigkeit abbildende Einheit
ausgelegt
w e r d e n , in der im Wesen Amors Schönheit als affizierend-attrahie39
render Hervorgang Rückkehr
des absoluten Grundes und reagierende Begierde als
in diesen Grund vermittelt werden. Eine signifikante Aus-
nahme von dem Verständnis des einfachen
Schönen bildet G. Pico della
Mirandola, der, wie L. Ebreo und gegen Plotin, Cusanus, Ficino, Schönheit nicht
als Gottesprädikat zuläßt und zugleich damit den
Dingen" (τά
37
38
39
ά,ττλα, simplicia)
das Schön-Sein-Können
"einfachen
kategorisch ab-
Cusanus, De ven. sap., c.12 n.32: "species"; Alberti, De re aedif. IX 5 (815): "concinnitas"; Ficino, De amore I 4 (142), II 2 (147), V 2 (181), 4 (185), 6 (190): "gratia". Vgl. W. Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Piatonismus. Heidelberg 1980, p. 32 ff. F. Cataneus Diacceto, De pulchro libri III (1499/1514). Ed. S. Matton. Pisa 1986, I 9, p. 75; A. Nifo, De pulchro Uber. Romae: Baldus 1531, cc. 23-24, p. 14 Β f.; Ebreo, Dialoghi d'amore III, pp. 104 v , 106r v : "forma", "gratia formale"; Bruno, De la causa 2 (1, p. 235, 239 Α.): "specie", "forma"; Eroici fur. I 3 (2, p. 995 f. Α.): "specie intelligibile". Diese Begriffe beerben auch den Terminus claritas des Areopagiten (div.nom. IV 701 CD), der von Albertus Magnus als über dem proportionalen Gefüge des S. aufscheinend interpretiert wurde: "ad rationem universalis pulchritudinis exigitur proportio aliqualium ad invicem vel partium vel potentiarum vel quorumcumque quibus supersplendeat claritas" (c. 4 n. 76 p. 185). Hierzu vgl. Plotin VI 7,22,2526: κάλλος τό έπΐ τη συμμετρύφ έττι,λαμττόμενον ; III 8,11, 26-33.39; Cusanus, Tota pulchra es, p. 33,22 f.: "claritas", p. 34,2-3. Patrizi versteht claritas zusammen mit splendor und forma als Definitionsbegriff des genuinen Gegenstandes des Intellektes (F. Patrizi, Nova de universis philosophia. Ferrariae: Mamarellus 1591, Panarchia XV p. 39 r B). Festzuhalten ist, daß der Einheits- bzw. Formaspekt des Schönen zwar dessen ursprünglichen Bezug zum Einen (Gott) deutlicher werden läßt als der symmetrisch vielheitliche Aspekt, daß aber gerade für Plotin gilt, daß das Eine selbst über der Schönheit zu suchen ist, vgl. VI 9,11,11-21. Patrizi, Nova de universis philosophia, Panaugia I p. 2V B: "pulchritudo in divinitatis lumine sedet"; IV p. U r Β, VIII p. 18f. A. G. Pico, Conclusiones de modo intelligendi hymnos Orphei, n.8. Opera omnia. Ed. Gianfrancesco Pico della Mirandola. Basileae 1557, I p. 106; Ficino, De amore II 1 p. 145 ff.: "pulchritudo-amor-voluptas"; De vita coelitus comparanda III (Op. omn., p. 536); In Plotini de triplici reditu animae (Op. omn., pp. 1559, 1561). Vgl. E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance (1958). Frankfurt/M. 1981, pp. 50 ff., 58 f.
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
63
spricht: Schönheit ist für ihn substantiell eine proportionale und harmonische Vermittlung von Verschiedenem oder Gegensätzlichem. 40 Beide Aspekte verweisen auf die grundsätzlich zweiwertige und produktiv ambivalente Natur des Schönen: es ist in sich zugleich und ine ins auf die Einheit Gottes konstitutiv bezogene Einheit bzw. Form (unitas, forma) und auf die Vielheit der Dimensionalität des von Gott Geschaffenen konstituierend bezogene Einheit. Der einvielheitliche Charakter des zahlhaften, proportionierten, symmetrischen Schönen hat im Schönen selbst noch einen Grund reiner Einheit, der es in einen unmittelbaren abbildlichen Bezug zum Göttlichen stellt. Durch diesen Einheitsgrund werden die beiden genannten onto logischen Dimensionen des Schönen als Aspekte einer Sache deutbar. Bei den hier genannten Autoren wird, unter Rückgriff auf die platonische Gleichsetzung von Einem und Gutem, der intelligible Einheitsgrund des Schönen auch als das Gute selbst gedacht oder zumindest das Gute als innere, nicht-sinnliche Schönheit gegen das Schöne im engeren Sinne als Erscheinung oder Explikat dieses inneren Grundes abgesetzt.41 Dieser Einheitsgrund im Schönen selbst ist der Grenzpunkt rational, d.h. diskursiv zureichender Beschreibung, und er ist der Ausgangspunkt der transzendierenden Einigungsbewegung der Seele zu Gott. Hier findet sich in den Texten dann eine auf transdiskursive unmittelbare Anschauung und göttliche Illumination oder Entrükkung zurückgreifende Terminologie (raptus-Topos).42 Insgesamt ist der ontologische Aspekt des Schönen zu verstehen im Blick auf die Offenbarung und Selbstexplikation Gottes im geschaffenen Sein. So ist die Welt als Schöpfung Gottes prinzipiell schön, und so ist alles Schöne in dieser schönen Schöpfung ein intensives Abbild des
40
Pico della Mirandola, Commento
Mysterien, pp. 106-107.
41
42
II 8 ( p. 495 ff G.). Vgl. Wind,
Heidnische
Gemma, De arte cyclognomica, I pp. 87-88: "Primum quo ad naturam boni pulchrique, in rebus omnibus interna perfectio produxit externam, illam ut bonitatem, hanc vero ut pulchritudinem possumus appellere: ut sit intrinseci boni exterius pulchrum, velut latentis animi figura magis conspicua [...] occulta bonitas confestim rapiat intuentes, praesertim cum nos opporteat passim, ab apparente foris imagine duci ad rerum abditas formas, & a sensibili pulchritudine ad intelligibilis notionem."
Ficino, Theol. Plat. III 1 (1, p. 136 M.): "incitari"; De amore V 6 p. 190; De raptu Pauli, Op. omn. p. 697 ff.: "raptum, rapere"; Cusanus, Tot a pulchra es, p. 36,9 ff.: "excitatio-conversio"; Pico, Commento III 4 (pp. 527ff., 529-530 G.): "raptus Pauli"; Bruno, Eroicifur. I 3 (2, p. 988 A.) mit Plotin IV 7,10; ebd. II 1 (2, p. 1107 Α.).
64
Thomas Leinkauf
Göttlichen. 4 3 Dieser kosmologische Aspekt wird insbesondere von F. Diacceto in Verbindung mit Piatons Vorstellung von der Welt als eines harmonisch proportionierten "Lebewesens" diskutiert. 4 4 Die Schönheit, die schon in ihrer absoluten göttlichen Form Ausdruck der innertrinitarischen Selbstvermittlung i s t 4 5 , entfaltet innerweltlich eine Relation aus pulchritudo-intellectus-amor,
ternarische
die epistemologische
und
heilsgeschichtliche Dimension verknüpfen kann, da die Schöpfung als natürliche Umgebung des Menschen selbst schön ist und daher U m k e h r punkt sein k a n n . 4 6 Das Schöne ist in seiner zweiten,
ontologischen,
explikativen und proportional-symmetrischen Bedeutung also der stärkste innerweltliche Konversions-Indikator*7,
in ihm schlägt die Entfaltung
bzw. der Hervorgang Gottes aus sich in seine Rückkehr zu sich u m : Nam cum hie mundus pulcher esse debuit et partes eius non potuerunt esse praecise similes, sed variae, ut immensa pulchritudo in ipsarum varietate perfectius reluceret, quando omnia quantumcumque varia non forent pulchritudinis expertia: placuit creatori varietati concreare ordinabilitatem talem, quoordo, qui est ipsa pulchritudo absoluta, in cunctis simul reluceret. Per quem suprema infimorum infimis supremorum conexa concordanter in unam universi pulchritudinem conspirarent, per quam cuncta de gradu suo contenta ad finem universi pace et quiete, qua nihil pulchrius fruerentur.48 Diese Rückkehr betrifft den zweiten zentralen Aspekt der Diskussion des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert, den der Erkenntnis und der ethischen Implikation des Schönen, dem ich mich jetzt zuwenden möchte.
43
44 45
46
47
48
Cusanus, De docta ignorantia II 13 n.175; De ven. sap. c.2 n.6, 4 n.10; Ficino, De amore 12 pp. 140-141; VI 18 p. 236; Ebreo, Dialoghi d' amore ΙΠ p. 124 v , vgl. 100 r ; Bruno, De la causa 2 (1, p. 235 Α.): die Welt ist eine "bella architettura"; Lomazzo, Idea, c.26, p. 89; Palladio, / quattro libri, IV prooem. p. 3: "questa bella machine del mondo". Vgl. etwa Diacceto, De pulchro I 2 p. 16 und Piaton, Tim. 30 D, 37 D, 92 C. Cusanus, Tota pulchra es, p. 37, 3-4: "pulchritudo absoluta quae Deus est, seipsam intuetur et in sui ipsius amorem ardescit." Dies ist zu vergleichen mit der psychologischen Wirkung des Schönen, wie sie z.B. Ficino in De amore V 6 p. 190 skizziert hat: "animos nostros movet atque delectat, delectando rapit, rapiendo ardenti inflammat amore." Innergöttlich fällt signifikanter Weise der raptus weg, nicht jedoch das von selbst Affiziertsein, das konsubstantial und ontologisch homogen beschreibbar war. Vgl. in der Aufnahme Piatons, Plotins, Ficinos Gemma, De arte cyclognomica I pp. 52, 63, 87 ff.; De naturae divinis characterismis. 2 vol. Antverpiae: Plantini 1575,1 p. 30 ff. Bruno, Eroici fur. I 3 (2, p. 992 Α.): "indice"; II 1 (2, p. 1076 f. Α.): "la natura che mi ha messa questa bellezza avanti gli occhi" etc. Cusanus, De ven. sap., c. 30 n. 90 (h XII pp. 86-87).
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
Zum psychologisch-epistemischen
Aspektdes
65
Schönen (b)
Einen epistemologischen und ethischen Aspekt erhielt das Schöne im Kontext der Diskussion von amor und desiderium.49 Diese Diskussion wurde durchgehend bestimmt von der Präsenz des platonischen Symposion und Phaidros sowie deren spätantiker und patristischer Wirkungsgeschichte.50 Neben Ficinos Symposion-Kommentar und meist unter dessen Einfluß sind wichtig L Ebreo, Dialoghi d'amore (1535), F. Cattani da Diacceto, I tre libri d'amore (1561) und B. Ochino, Triginta dialogi (1563).51 Grundsätzlich wurde das Schöne als auf dialektische Weise in der Liebe wirkend gedacht: nämlich einmal bestimmt durch die dämonische Zwischenstellung Amors zwischen Einheit und Vielheit, Intelligiblem und Sensiblem, Göttlichem und Menschlichem, mythologisch: zwischen Reichtum (poros) und Armut (penia). 52 Das Schöne bzw. die Schönheit ist in der epistemisch-psychischen Dimension der Liebe zugleich gegenwärtig und nicht gegenwärtig; Liebe lebt, wie Erkenntnis, aus dem Zusammenspiel von intensiv erfahrenem Mangel und von dem die Intensität dieser Erfahrung bestimmenden Vor-Schein der mangellosen Präsenz des Schönen. 53 Schönheit ist hierbei durchweg verstanden als Außenaspekt, als Hervorglänzen der göttlichen Einheit, Wahrheit und Güte. Sie erhält, in der Aufnahme antiker Terminologie aus Rhetorik und Poetik, einen Wirkungsaspekt zugesprochen, der sich als auratische, ganzheitliche Affizierungsdimension verstehen läßt, die mit dem strikten Einheitsaspekt im erscheinenden und intelligiblen Schönen koinzidiert. 54 Im desiderium nach den absolut normativen weil unbedingt 'Maß'-geblichen Grundformen des Einen, Wahren und Guten, das durch dessen schönen Schein erregt wird, ist für das ganze 15. und 16. Jahrhundert ein zentraler
49
50 51
52
53
54
Vgl. Th. Leinkauf, "Amor in supremi opificis mente residens." Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), 265-270. Plotin VI 7,21-22; V 8,2-3,7-8. Vgl. J. Ch. Nelson, Renaissance Theory of Love. New York 1958, p. 108 ff.; Ε. Cantimori, Italienische Häretiker. Basel 1949, p. 245 f. Piaton, Symp. 202 D-E, 203 E, 204 Β: μεταξύ. Vgl. insbes. Ficinos Kommentar De amore und die davon beeinflußten Disputationes Camaldulenses des Cristoforo Landino. Ficino, De amore 13, p. 138 ff.; VI 2, p. 200,6-7, p.206 ff.; Bruno, Eroicifur. I 3 (2, pp. 995-996 Α.). "amoenitas", "gratia" (= χάρις), "venustas". Nifo, De pulchro c.23, p.14 B: "gratia" = "splendor sive esse a divina ipsa natura communicatum"; siehe die Hinweise oben.
66
Thomas Leinkauf
konversionaler und anagogischer, vom Irdisch-Sinnlichen zum Überirdisch-Intelligiblen hinführender Grundzug des Schönen in den Texten präsent. 55 Die aus der platonisch-neuplatonischen Tradition kommende Formatierung der Diskussion über das Schöne und die Liebe mußte sich allerdings mit christlichen Theologumena verbinden und vermitteln. Die Theoretiker des 15./16. Jahrhunderts beerbten diesbezüglich insbesondere Augustinus und Dionysius Areopagita mit ihrer mittelalterlichen Wirkungsgeschichte. Entscheidend für die Bestimmung des spannungsreichen Zusammenhanges pulchritudo-amor/desiderium wurden mehrere, in bestimmten Aspekten modifizierte und sich gegenseitig stützende traditionelle Theoreme: 1. im Anschluß an Dionysius Areopagita, der unter Rückgriff auf Piaton und Plotin das griechische καλόν etymologisch durch καλευν, rufen, auslegt 56 , die Interpretation des Wirkungsaspektes des Schönen als vocare ad se und allicere bzw. excitare57, das die attrahierende und die menschliche Seele in ihren Grund konvertierende Kraft des Schönen unmittelbar als semantischen Horizont ihres Begriffes einleuchtend machen will. 2. gehört hierzu auch der Grundgedanke, daß jedes Seiende in der Welt den ternarischen Charakter des Göttlichen als dessen Spur (vestigium) in sich trägt und daß das Schöne die ausgezeichnetste Weise des Erscheinens (manifestatio, theophania) des Göttlichen in diesem Sinne ist. Das Schöne als gratia/charis wurde so gedacht als Moment eines kreishaften, explikativkomplikativen oder hervorgehend-zurückkehrenden Wirkungszusammenhanges. 5 8 3. Wie die Schönheit das sich ursprünglich nur der Seele in ihren zentralen sinnlichen und geistigen Vermögen (visus, auditus, cogitatio, mens) Zeigende ist, so ist am or die in reiner Form nur der Seele vorbehaltene Reaktion auf dieses Sich-Zeigen: "Amor nihil aliud est, quam pulchritudinis desiderium." 59 Liebe wird dadurch spezifisch abgesetzt von 55
Cusanus, Tota pulchra es, p. 34,12 f.: "desiderium"; Ficino, Op. omn., pp. 631-632: "amor nihil aliud est quam pulchritudinis desiderium"; Diacceto, De pulchro I
10, p. 79 f.; III 4, pp. 190 ff., 198,206); Gemma, De arte cyclogn. I pp. 112 ff., 136; Patrizi, Nova de universis philosophia, Panarchia XIX p. 42 r B: "amor" =
56
57 58
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"anagogus, & reductor ad ipsum bonum". Dionysius Areopagita, De divinis nom. IV 7, 701 D.
Cusanus, Tota pulchra es, p. 34; Ficino, De amore V 2, p. 181. Vgl. Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen, p. 32. Ficino, De amore II 2-3, p. 146 ff.; Gemma, De arte cyclogn., I p. 87 f.: "circulus
amoris"; Bruno, Eroicifur. I 3 (2, pp. 1002-1004 Α.) zum "circolo". Ficino, Op. omn., pp. 631-632.
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
67
animalischen Formen des desiderium, die, wenn überhaupt, so nur auf die sinnliche Außenseite und die sinnlich-affizierende Kraft des Schönen bezogen sind. 60 Das nicht-rationale natürliche Seiende bezieht sich unmittelbar, d.h. instinktiv und intuitiv auf das ihm Wesensgemäße, sein bonum, da dieses in seiner maßgeblichen formierenden species als normativ Bestimmendes die Abweichungen und Mängel körperlichen Seins korrigiert. Das rationale intelligierende Seiende bezieht sich zugleich instinktiv und reflexiv auf sein ihm a priori einwohnendes ideales Ziel 61 , zu dem es sich permanent in Mangel-bestimmter Differenz befindet (iamor). Die Deckung mit dem, was wesensgemäß ist, ist in sich ein Gut (bonum) und erschließt sich für die Reflexion zugleich als ein Schönes (pulchrum). Das im Körperlichen konstitutiv (ontologisch) und revokativ (psychologisch-epistemisch) erscheinende, unkörperliche Schöne verweist auf seinen intelligiblen Grund, der mit dem der Seele identisch ist, und evoziert dadurch einen ekstatischen, ausschließlich der Seele vorbehaltenen Reaktionstypus: die Liebe.62 4. Die vom Schönen ausgelöste liebende und konversionale Bewegung der Seele ist eine intellektuelle und voluntative Bewegung, nie eine nur voluntative. Sie ist, ausgehend vom sinnlichen Schönen, dieses auf seine intelligible Struktur hin überschreitend, Rückgang der Seele (bzw. des Intellektes) in sich. Die augustinische Umformung des neuplatonischen Gedankens der abstrahierenden Rückkehr in sich63 lebt an zentraler Stelle fort im Topos der Präsenz Gottes oder der pulchritudo absoluta im Innersten der Rationalseele selbst64. 5. Physisch-animalischer Trieb zur conservatio sui, der sich als appetitus und inclinatio zu dem für das Einzelseiende sich in je verschiede60 61
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63
64
Bruno, Eroicifur. 13 (2, pp. 986 f., 991 f. Α.). Ficino, Theol. Plat. XII 5 (2, pp. 174 ff., 178 ff. M.) mit Rekurs auf Augustinus, ver. rel. 29, 53-32-58; Dürer, "Lob der Malerei." Schriften und Briefe, p. 153: "[...] ein guter Maler ist inwendig voller Figur, und obs müglich war, daß er ewiglich lebte, so hätt er aus den inneren Ideen, dovan Plato schreibt, allbeg etwas Neus durch die Werk auszugießen"; p. 152: "obere Eingießungen"; "Speis der Malerknaben" (1513). Ebd. p. 160; "Großer ästhetischer Exkurs". Ebd. p. 225. Ficino, De amore II 9, p. 159; V 4, p. 185; VII15, p. 260. Vgl. P. O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino (1943). Frankfurt/M. 1972, p. 238 ff.; Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen, p. 36 f. Plotin V 1,10; VI 9, 7 u.ö.; Augustinus, Conf. VII 10, 16; X 6,9-10; 27, 38; ver. rel. 39, 72. Ficino, De amore VI 13, pp. 228-229; Bruno, Eroicifur. I 1 (2, pp. 1086-1087 Α.): "[la mente] venir al piü intimo di se, considerando che Dio e vicino, con se e dentro di βέ piü ch'egli medesimo esser non si possa."
68
Thomas Leinkauf
ner Weise zeigenden und vorgegebenen Guten äußert, das es in seinem Sein und damit in der Realisierung seiner Idee erhält 65 , und psychischrationaler Trieb, der sich als amor bzw. desiderium zu dem für ein rationales Wesen Guten äußert, werden in der Weise enggeführt und parallel gesehen, daß die Seele gleichsam durch die liebend-intellektuelle Beschäftigung mit den Modi des Schönen ihre eigentliche natürliche conservatio betreibt, die für sie erst in der ekstatischen und kontemplativen Selbstüberschreitung zum Göttlichen hin sich beruhigt und erfüllt. 66 Die Entwicklung der Theorie des Schönen geht im 15. und insbesondere im 16. Jahrhundert, soweit ich sehe, dahin, daß der subjektive Pol, also die Dimension der Auseinandersetzung mit den Affektions- oder Wahrnehmungsverhältnissen und emotionalen oder rational-urteilenden Reaktionsformen der Seele, eine stärkere Gewichtung erfährt, ohne daß freilich, zumindest bei systematisch konsistent argumentierenden Autoren, dessen ontologische Basis aus dem Blick gerät. Es kommt also in der Philosophie noch nicht durchgehend zu einer radikalen Trennung von mittelalterlich-ontologischer und neuzeitlich-ästhetischer Auffassung. Man kann höchstens sagen, daß kunst- und dichtungstheoretische Autoren unter dem Einfluß von Piatons furor poeticus-Lehre und Aristoteles' Poetik dazu tendieren, in ihren Überlegungen der Thematik des Schönen keinen Raum mehr zu geben und sich ausschließlich auf ästhetische und produktionstheoretische Probleme zu konzentrieren.
III. Ich will nun diese Ergebnisse in einem letzten Schritt mit Hinweisen auf die kunst- und dichtungstheoretische Diskussion des 16. Jahrhunderts konfrontieren. Es wird sich zeigen, daß, wie vermutet, aus der philosophischen Diskussion fast ausschließlich der psychologisch-epistemische Aspekt des Schönen (b) in diese Texte Eingang gefunden hat und somit der ontologische Hintergrund, aus und vor dem er ursprünglich entwickelt wurde, immer mehr aus dem Blick geraten ist. Zuerst ein Beispiel
65
66
Bruno, Eroici fur. II 1 (2, p. 1106 buono." Für Ficino ist hier der Begriff der Philosophie des Marsilio Ficino, 1123-1124 Α.): "trasformazione",
Α.): "ogni cosa naturalmente appete il bello e contemplatio einschlägig, vgl. Kristeller, Die p. 201 ff. Bruno, Eroici fur. II 2 (2, pp. 1121, "unio".
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
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aus dem Bereich der Reflexionen zu den diversen Gattungen bildender Kunst, hier der Malerei. Der Dialogo della pittura (1557) des Lodovico Dolce 67 bewegt sich im Horizont des für das 16. Jahrhundert typischen humanistisch-höfischen Diskurses über die Natur und Struktur der Kunst und Kunstgattungen. Er reflektiert bei aller philosophischen Unbedarftheit dennoch die zu Beginn dieses Jahrhunderts zentralen Probleme, die man bei einem solchen Diskurs durchgehend mit den Themen des ingenium des Künstlers im Verhältnis zu seinen erworbenen handwerklichen Fähigkeiten, des kategorischen oder nicht-kategorischen Gegensatzes von Natur und Kunst, des paragone der Kunstgattungen - insbesondere von Malerei und Poesie - , aber auch der einzelnen Künstler oder Stilrichtungen innerhalb einer Gattung oder des Wesens des Schönen oder der Schönheit selbst hatte. Dolce arbeitet die dignitä der Malerei gerade mit Blick auf die im Vermögen des Intellektuellen situierte Dignität des Menschen bzw. Künstlers heraus. 68 Dabei wird für die Folgezeit wichtig, daß das Urteil (giudicio) in seiner auf distinkte Form und Intelligibilität bezogenen grundlegenden Funktion der Negation/Ablehnung bzw. Affirmation/Zustimmung und in seiner Intention auf die vera forma zum Kriterium der richtigen Position des Menschen zur Natur und des Künstlers zur Erscheinung des Schönen wird: "Cosi, per saper con fondamento discernere il bello dal brutto, fa bisogno d'uno avedimento sottile e d'un'arte separata. La qual cosa e propria del pittore." 69 Das Schöne ist, als Gegenstand eines möglichen und für die Kunst notwendigen Urteiles, zu denken als "una convenevole proporzione che comunemente ha il corpo umano, e particolarmente tra se ogni membro." 70 Dolce schweigt sich über eine nähere Bestimmung des Schönen aus, expressis verbis bleibt es beim Topos des symmetrischproportionalen, einvielheitlichen Schönen und bei Hinweisen auf die Vollkommenheit (perfezzion di bellezza).71 Deutlich wird nur, daß für die Malerei verschiedene, schon bei Alberti, Leonardo, Dürer u.a. geforderte gestalterische Momente erfüllt sein müssen, um die Aufgaben der Kunst
67
Benutzte Ausgabe: L. Dolce, "Dialogo della pittura." Trattati d'arte del Cinquecento. Ed. P. Barocchi. Vol. I. Bari 1960, pp. 141-206. - Zu Dolce vgl. Mark W.
Roskill, Dolce's 'Aretino' and Venetian Art Theory of the Cinquecento. New
68 ω 70 71
York 1968. Dolce, "Dialogo Dolce, "Dialogo Dolce, "Dialogo Dolce, "Dialogo
della della della della
pittura", p. 155 ff. pittura", pp. 155-156, 176. pittura", p. 155; vgl. auch p. 172. pittura", p. 172.
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als einerseits Nachahmung der (schönen) Natur 7 2 und andererseits Vervollkommnung der Natur73 erfüllen zu können. Dabei lassen sich alle diese Momente (invenzione, disegno, varietä) bis auf eines (venustä, grazia) den rational-diskursiven Bedingungen des Urteils zuordnen, denn sie sind Form-gebundene oder Form-bildende Momente. 74 Dieser Urteilsaffinen Natur der Formbestimmungen disegno und varietä korrespondiert eine apriorische Form-affine Natur des menschlichen Intellektes.75 Der Aspekt der venustä jedoch entzieht sich der Logik des Urteils, und die Wendung, die Dolce hierfür findet: "έ quel non so che" 76 , wird eine enorme Konjunktur in der ästhetischen Debatte des 17. und 18. Jahrhunderts erleben, für die dieser opake zentrale Gehalt des Geschmacksurteils zum ständigen Inzitament wurde, bis Kant in der Kritik der Urteilskraft eine 'formale' Lösung vorschlagen wird. Diese Schönheit geht anscheinend über die proportionale Formschönheit hinaus und verweist auf den in der Tradition vor und bis Dolce immer wieder thematisch gewordenen Einheitsaspekt am Schönen, der, in der Folge Plotins, die eigentliche Dignität des Schönen ausmacht (bei Cusanus, vor allem Ficino, Ebreo) und die absolute, unteilbare Vollkommenheit des Weltgrundes im Einzelnen aufscheinen läßt. Dolce läßt den Leser jedoch über diesen möglichen Status seiner venustä oder grazia im unklaren; für eine vorsichtige Interpretation könnte es jedoch aufschlußreich sein, die von ihm durchgeführte Zuordnung des esoterischen, über die Masse der Vielen herausgehobenen uomo ingenioso zum apriorischen mentalen Besitz einer "certa imagine di perfezzione"77 und die rational unaufschließbare Präsenz des Schönen als venustä im Kunstwerk zusammenzustellen. 78 Zumindest wäre so das Konzept in sich stimmig verstehbar; denn das Ingenium des Künstlers bzw. Kunstkritikers - dessen Herkunft genauso unklar ist wie die der Anmut - wäre dann der innerweltliche 'Ort', in welchem die das einvielheitliche Werkgefüge überhöhende 72 73 74
75
76 77 78
Dolce, "Dialogo della pittura", pp. 152-153. Dolce, "Dialogo della pittura", p. 172. Dolce, "Dialogo della pittura", pp. 171-172: "perciochö la invenzione si appresenta per la forma, e la forma non 6 altro che disegno"; die varietä gehört z u m Bereich der proporzione und distinzione (p. 173). Dolce, "Dialogo della pittura", p. 155: "Si come la natura, comune madre di tutte le cose create, ha posta in tutti gli uomini una certa intelligenza del bene e del male, cosl [...] del bello e del brutto"; vgl. Alberti, De re aedif. IX 5. Dolce, "Dialogo della pittura", p. 195. Dolce, "Dialogo della pittura", p. 157. Dolce, "Dialogo della pittura", pp. 195-196.
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
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Anmut, als Ausdruck intensiver Einheit, aus dem Bereich des Intelligiblen und Göttlichen in den der sinnlichen Darstellung und den der seelischen Rezeption vermittelt würde. Der gehobene Sprachstil im Kontext der Verwendung des Begriffes venustä jedenfalls legitimiert deren Verständnis als einer spirituellen, ja göttlichen Größe: "la venustä [...] che tanto suole aggradire, cosi ne' pittori come ne' poeti, in guisa che empie l'animo altrui d'infinito diletto." 79 Die Verknüpfung der venustä mit der 'Leichtigkeit' (leggerezza) zur Kennzeichnung und Auszeichnung der maniera Raffaels verweist auf einen Zusammenhang, den wir noch bei G. Bruno in Eroici furori80 finden. Die zentralen poetologischen Traktate des 16. Jahrhunderts dagegen bleiben, sicher beeinflußt durch ihre starke Anlehnung an die aristotelische Poetik, ihren Rekurs auf Piatons Dichtungsverständnis (Ion, Phaidros, Politeia) und ihre Konzentration auf methodologisch-rhetorische Strategien der Komposition sprachlicher Kunstwerke, merkwürdig stumm, was Überlegungen zum Schönen selbst und zu seinen oben diskutierten Kontextbegriffen betrifft. Es tauchen terminologisch wie sachlich höchstens vereinzelte Erwähnungen, nicht jedoch systematische Erörterungen des Wesens des Schönen auf. So gibt etwa L. Castelvetro in seinem ausführlichen Kommentar zur Poetik des Aristoteles bezeichnenderweise noch nicht einmal zu der einschlägigen Stelle 1450 b 35 f.: τό γαρ καλόν ev μεγέθβί καυ τάξβ, έστί. eine schönheitstheoretische Ausführung. 81 Auch in Μ. G. Vidas De arte poetica (1527) findet sich, soweit ich sehe, zu unserem Thema nichts Einschlägiges 82 , und noch F. Patrizis bahnbrechende Abhandlung Deila Poetica ist fast ausschließlich mit den wirkungs- und rezeptionsästhetischen psychologischen Aspekten des mirabile, der meraviglia oder des condurre in stupore beschäftigt. 83 In J. C. Scaligers kompendiöser Sichtung und Diskussion der poetologischen Tradition dage79 80 81
82
83
Dolce, "Dialogo della pittura", pp. 195-196. Bruno, Eroici fur. I 2 (2, p. 984 Α.): grazia und leggiadria. L. Castelvetro, Poetica d'Aristotele vulgarizzata e sposta. Ed. W. Romani. 2 vol. Bari/Roma 1978, vol. I, pp. 217-232. Μ. G. Vida, De arte poetica. Ed. Ralph G. Williams. New York 1976. Die Stellen wie II 325-327 (p. 64): "Disce etiam, pulchri tibi si cura ordinis ulla est, Res tantum semel effari. repetita bis aures Ferre negant [...]" oder etwa III 335 f. (p. 106) zu concordantia, numerus, sortus geben weder Definitionen noch Hinweise, die über den rein grammatisch-rhetorischen Zusammenhang (Wortstellung, Rhythmus) im Sinne z.B. Quintilians hinausgingen. F. Patrizi da Cherso, Della poetica. Ed. D. Aguzzi-Barbagli. 3 vol. Firenze 19691971. Vgl. etwa II pp. 281 f. (poeta=facitore del mirabile), 289-292, 297 ff., 357 ff.
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gen, seinen Poetices libri Septem84, finden wir zumindest eine kurze Ausführung zur Bedeutung des griechischen Begriffes κάλλος im Zusammenhang eines Rekurses auf Hermogenes: κάλλος duobus verbis item expressit: Venustas & pulchritudo est, omnium quibus oratio conficitur, convenientia quaedam & modus, quacum succus quidam & qualitas, tanquam color orationis elucet. Venustas tarnen alia est a pulchritudine: tametsi absque ilia esse non potest. Est enim Venustas, quam Graeci χάρ/τα vocant: pulchritudinis perfectio. 85
Und etwas weiter wird pulchritudo definiert als: "partium [...] ex modo, figura, colore conflata species delectablis" 86 . Schönheit ist für Scaliger Produkt oder Ausdruck eines kausalen Gefüges, dessen konstitutive Momente sämtlich in der klassischen Theorie des Schönen eine grundlegende Rolle spielen: modus, figura, numerus, situs, color bringen proportio und convenientia hervor, diese wiederum das, was pulchritudo ist. 8 7 Zusammen mit der der Schönheit übergeordneten venustas erhalten wir somit eine Skizze der Ordnung des ontologischen Schönheitsbegriffes, den wir in Abschnitt II a diskutiert haben. Scaliger verbindet diese Hinweise jedoch nicht mit seinen poetologischen Ausführungen und gibt uns keine differenzierte Analyse dessen, was Schönheit im poetologischen Prozeß insbesondere und vor allem neben dem Hauptkriterium der imitatio88 für eine ästhetische Funktion besitzen könnte oder warum sie eben keine mehr besitzt. Dennoch, wer z.B. in I c.2 gelesen hat, daß Scaliger 'Poetik' von iroLeCv im Sinne von facere (gegen fingere/fictio) ableitet und den Dichter in der für das Renaissance-Denken typischen Weise als einen "anderen Gott" ansetzt (velut alter Deus condere), dem das spezifisch menschliche Proprium einer vis numerosa zur Produktion seiner Dichtungs-Welt zur Verfügung stehe 89 , der darf zumindest vermuten, daß Scaliger der Gedanke einer theologisch normativen Verankerung des Schönen noch nicht völlig fremd geworden ist. Denn sofern 1. in der Dichtung genuin etwas geschaffen wird, 2. dessen zahlhaft-proportionales Gefüge als Schönheit bezeichnet werden kann, 3. das produzierende Vermögen als zahlhafte Kraft, d.h. als etwas gemäß absolut verbindlicher
84
85 86
87 88
89
J. C. Scaliger, Poetices statt 1964.
libri Septem. Lyon 1561. Ed. A. Buck. Stuttgart-Bad Cann-
Scaliger, Poetices, IV c.l, p. 177 A. Scaliger, Poetices, IV c.l, p. 177 C. Scaliger, Poetices, IV c.l, p. 177D; vgl. B: pulchritudo=convenientia Vgl. Buck, "Einleitung" zu Scaliger, Poetices, p. VIII.
Scaliger, Poetices, I c.2, p. 3 A.
[συμμετρία].
Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahrhundert
73
und maßstäblicher Einheiten hervorbringende Kraft, verstanden wird und 4. dieser ganze Zusammenhang von Produzierendem, Produktion u n d Produkt in strikte Analogie zu dem Z u s a m m e n h a n g
von
Gott,
Schöpfungsakt und Welt gesetzt wird, insofern ist auch noch genau der Horizont des philosophischen, nicht primär ästhetischen Begriffs des Schönen präsent. Aber: sowenig dieser Horizont bei Scaliger selbst n o c h eine bestimmende Kraft u n d Funktion hat, sowenig repräsentativ ist selbst dieser schmale Befund bei Scaliger für die Poetologien des 16. Jahrhunderts. Theorie des Schönen und Theorie des Herstellens v o n sprachlichen Kunstwerken sind hier fast vollständig auseinandergetreten; die Bedingungen des Herstellens und der Rezeption werden nicht m e h r metaphysisch
abgeleitet,
ihre
Normativität
nicht
mehr
auf
den
transempirischen Grund von Normativität bezogen. Eine wichtige Ausnahme hierzu ist, und das wurde etwa von Buck schon richtig gesehen, der kurze aber wichtige Traktat Naugerius
sive de poetica dialogus
des G. Fracastoro 9 0 . Tatsächlich spielt der Begriff pulchritudo
(1533)
in Fracas-
toros Abhandlung eine ungewöhnlich zentrale Rolle, die uns eher an L. Ebreo oder vor allem an Ficino denken läßt. Vor dem Hintergrund des aristotelischen Diktums, daß allein die Dichter sich auf das Allgemeine (universale)
beziehen, die Historiker und andere aber auf das kontingent
Einzelne (singulare) 9 1 , setzt er einen platonisch gefärbten Schönheitsbegriff an: poeta vero illi assimiletur qui non hunc, non illum vult imitari, non uti forte sunt, & defectus multos sustinent, sed universalem, & pulcherrimam ideam artificis sui contemplatus res facit, quales esse deceret.92 Ziel des Dichters ist, in rhetorischer Tradition, die universalis dicendi93,
idea
bene
wobei wichtig ist, daß Fracastoro der universalen Maßstäblich-
keit dieser Idee eine ebenso universale und, wie es scheint, metaphysischtranszendente Idee des Werkes, also des im poetischen Sagen Gesagten vorordnet. Darauf deutet nicht nur das Wort contemplatus 90
91
92 93
im vorigen
In: G. Fracastoro, Opera omnia. Venetiis 1555, pp. 153-164. Buck, Italienische Dichtungslehren, p. 96 f. sieht hier einen Syntheseversuch von Piatonismus und Aristoteiismus. Anders dagegen schon Murray W. Bundy in seiner Introduction zu: G. Fracastoro, Naugerius sive de poetica dialogus. With an English translation by R. Kelso and an introduction by M. W. Bundy. Urbana, 111., 1924, pp. 15, 22. Fracastoro, Naugerius, p. 158 A: "alii singulare ipsum, poeta vero universale consideret." Fracastoro, Naugerius, p. 158 B. Fracastoro, Naugerius, p. 158 C.
74
Thomas Leinkauf
Zitat, das sowohl platonische (Demiurgen-Topos) als auch aristotelische (Prioriät des Eidos vor dem Artefakt) Wurzeln hat, sondern auch der Gedanke, daß allein der Dichter sich eine von empirischen Bedingungen freie, intelligibel allseitig bestimmbare und dadurch erst universal schöne ideale Vorstellung seines Gegenstandes (res) machen kann, um dieser idealen Vorstellung dann eine ebenso ideale und schöne Realisierung im modus dicendi zu verleihen. 9 4 Der Dichter ist nicht restringiert auf die einfache Deskription oder Erklärung von empirisch Einzelseiendem, sondern er hat vielmehr umgekehrt und exklusiv die Lizenz, in und an diesem Einzelnen sein universales Moment, sein Allgemeines zum Gegenstand seiner Kunst zu machen: ii [sc. alii] enim singulare imitantur, hoc est rem nudam uti est, poeta vero non hoc, sed simplicem ideam pulchritudinibus suis vestitam, quod universale Aristoteles vocat.95 Dieses Allgemeine ist das Schöne, und für Fracastoro gehört zu diesem Schön-Sein, in dem in eigentümlicher Weise platonische Idee und aristotelisches κατθόλου verschmolzen sind, der Gedanke der Wahrheit, die Sachhaltigkeit gegenüber bloßem Schein meint 96 , der Vollständigkeit bzw. Universalität 9 7 und der der harmonischen Zusammenstimmung98. Alle drei Aspekte erhalten, bei aller Kürze der Durchführung, doch eine theologisch-metaphysische Basis im Göttlichen, aus dessen unendlicher Kraft wiederum sowohl die Ekstase des furor poeticus als auch diejenige des raptus animi abgeleitet werden. 99 Fracastoro scheint so einer der wenigen dichtungstheoretischen Autoren im 16. Jahrhundert zu sein, bei denen der Begriff des Schönen noch im Sinne unseres ontologisch-normativen Aspektes (a) eine Rolle spielt.
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95 96 97 98 99
Fracastoro, Naugerius, p. 158 C: "Vult quidem & ipse [sc. poeta] & docere & persuadere & de aliis loqui, sed non quantum expedit, & satis est ad explicandam rem: tanquam astrictus eo fine, verum ideam sibi aliam faciens liberam & in universum pulchram, dicendi omnes ornatus, omnes pulchritudines quaeret, quae illi rei attribui possunt". Fracastoro, Naugerius, p. 158 C. Fracastoro, Naugerius, p. 163 C-D. Fracastoro, Naugerius, pp. 158 C, 163 D. Fracastoro, Naugerius, p. 160 B. Fracastoro, Naugerius, p. 160 D.
KARL KOHUT
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie 0.
Einleitung
1596 schrieb Alonso Löpez Pinciano im Vorwort seiner Poetik Philosophia Antigua Poetica, er habe dieses Werk verfaßt, weil in Spanien zwar alle Genera der Dichtung blühten, nicht aber die Poetik; auf diesem Gebiet habe Spanien - so würden wir heute sagen - einen immensen Nachholbedarf.1 Nun gehören Aussagen dieser Art zu den gängigen Topoi, mit denen die Notwendigkeit des eigenen Werks traditionell begründet wurde; in diesem Fall jedoch entsprach sie den Fakten, wie von der modernen Forschung bestätigt wird. 1953 sprach Antonio Vilanova v o n der "enormen Leere" zwischen der Poetik Juan del Encinas von 1496 und der Poetik des Miguel Sänchez de Lima von 1580.2 Manche Forscher nennen andere Werke und Jahre als Eckdaten, womit die Aussage Vilanovas nur nuanciert, nicht aber widerlegt wird. Der spanische Humanismus, so kann man die Ergebnisse dieser Arbeiten zusammenfassen, hat in seiner Blütezeit keine Poetik hervorgebracht, weshalb er in der internationalen Forschung über die Poetik des Renaissance-Humanismus zu Recht nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies war kurzgefaßt der Forschungsstand zu Beginn der 70er Jahre. 3 1
2
3
Alonso Löpez Pinciano, Philosophia antigua poetica. Ed. Alfredo Carballo Picazo. 3 vol. Madrid 1973 ( ^ ό ) , vol. I, p. 8. Antonio Vilanova, "Preceptistas de los siglos XVI y XVII." Historia de las literaturas hispänicas III: Renacimiento y barroco. Ed. Guillermo Diaz-Plaja. Barcelona 1953, pp. 562-692, hier: p. 568. Vgl. meine Arbeit Las teorias literarias en Espafla y Portugal durante los siglos XV y XVI: Estado de la investigaciön y problemätica. Madrid 1973. Der vorliegende Artikel ist zugleich die kurze Zusammenfassung einer mehr als zwanzigjährigen Auseinandersetzung mit der Thematik, was den durchgängigen Rückgriff auf eigene Arbeiten erklärt, und der Versuch eines Neuansatzes, indem ich die Problematik von Geschichte und Literatur in die Diskussion um die spanische Renaissance-Poetik einführe. U m unnötige Wiederholungen zu
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Karl Kohut
Obwohl der Forschungsboom der folgenden Jahrzehnte auch auf dieses im Kontext der Poetik-Forschung wie auch der Hispanistik - abgelegene Gebiet übergriff, gelang es trotz intensiver Suche nicht, weitere Poetiken ausfindig zu machen. Das gleiche gilt weitgehend auch für Kommentare zur Poetik des Aristoteles, denen in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zukommt. Der vermutlich wichtigste Fund in diesem Bereich ist die Entdeckung, daß Antonio Lull in seiner Rhetorik von 1558 die Poetik des Aristoteles paraphrasiert und kommentiert hat. Aber dieser Text blieb aus Gründen, über die nur spekuliert werden kann, fast unbeachtet. Ich werde später darauf zurückkommen. Die übrigen Funde sind einige wenige fragmentarisch erhaltene Texte oder auch nur die Kunde von Texten, die möglicherweise geschrieben wurden, aber verlorengegangen sind, oder aber nie ausgeführt wurden.4 Wir können deshalb die Aussage als gesichert ansehen, daß zwischen dem Ende des 15. und dem Ende des 16. Jahrhunderts in Spanien keine Poetik geschrieben worden ist. Das bedeutet aber nicht, daß es in diesem Jahrhundert keine poetologische Reflexion gegeben hätte. Die Forschung der letzten zwanzig Jahre hat sie zumindest in großen Zügen aufgearbeitet.5 Man findet sie vor allem in Rhetoriken, daneben in Prologen, Kommentaren und reflektierenden Passagen in Werken ganz unterschiedlicher Art. Der spanische Humanismus, so können wir heute formulieren, hat zwar keine Poetik, aber er
4
5
vermeiden, habe ich die Literaturangaben bewußt knapp gehalten und beschränke mich hier weitgehend auf neuere Veröffentlichungen, die noch nicht in meine früheren Arbeiten eingegangen sind. S. die kurze Liste der erhaltenen Fragmente und nicht erhaltenen oder realisierten Projekte in meiner Arbeit: Teorias literarias, pp. 16-19. Vor kurzem hat Juan Francisco Alcina Rovira den von mir erwähnten Pedro Juan Nüftez als Autor des ersten spanischen Kommentars zur aristotelischen Poetik herausgestellt, vgl. Juan Francisco Alcina Rovira, "El comentario a la ρ optica de Aristöteles de Pedro Juan Nuftez." Excerpta Philologica 1/1 (1991), 19-34, hier: 19. Antonio Lull gebührt demgegenüber, wie ich meine, zeitlich und inhaltlich der Vorrang (die Rhetorik Lulls erschien 1558, der Kommentar Nuftez' ist nur in einem handschriftlichen Entwurf von 1573/74 erhalten). Zu Lull s. weiter unten und meinen Artikel, "Rhetorik, Poetik und Geschichtsschreibung bei Juan Luis Vives, Sebastian Fox Morcillo und Antonio Lull." Texte, Kontexte, Strukturen (Festschrift Κ. A. Bühler). Ed. A. de Toro. Tübingen 1987, pp. 351-370. Spanische Version, überarbeitet in: Revista de Literatura 52 (1990), 345-374. Als wichtigste Arbeiten zu diesem Komplex sind zu nennen: Antonio Garcia Berrio. La formaciön de la teoria literaria moderna, vol. I, Madrid 1977/vol. II, Murcia 1980 und Christoph Strosetzki, Literatur als Beruf: Zum Selbstverständnis gelehrter und schriftstellerischer Existenz im spanischen Siglo de Oro. Düsseldorf 1987.
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
77
hat Literaturtheorien hervorgebracht, denen philosophisch häufig ein hoher Rang zukommt. In der Folge will ich diese Theorien in drei Schritten darstellen. Ausgehend von einem kurzen Resümee der poetologischen Reflexion des 15. Jahrhunderts werden in einem zweiten Schritt die Theorien des 16. Jahrhunderts diskutiert, in denen - wie ich zeigen werde - die Problematik von Historiographie und Literatur im Mittelpunkt steht; im dritten und letzten Schritt will ich diese Problematik in den Kontext von Geschichte und Literatur im 16. Jahrhundert stellen und von da aus eine neue Interpretation der Literaturtheorien des 16. Jahrhunderts vorschlagen.
1. Die Literaturtheorien
des 15.
Jahrhunderts
In der poetologischen Reflexion des 15. Jahrhunderts lassen sich vier Stränge unterscheiden, die jeweils unterschiedlichen literarischen, ideologischen und sozialen Kontexten zugeordnet sind, und zwar: - die Hofkultur; - die Theologie; -
der Humanismus; die Historiographie.
Nach Bedeutung, Repräsentativität und Wirkung kommt den Literaturtheorien im Kontext der Hofkultur der erste Rang zu. Die beiden wichtigsten Texte stammen von einer der zentralen Gestalten des 15. Jahrhunderts, dem Marques de Santillana. In beiden Fällen handelt es sich um Prologe, und zwar zu den Proverbios von 1437 und zu seinem Cancionero von ca. 1450. Der Prolog des Juan Alfonso de Baena zu dessen Cancionero, den er um 1445 verfaßt hat, steht diesen beiden Texten an Bedeutung nur wenig nach. 6 Diese drei Werke stehen in der Tradition der 6
Die Prologe Santillanas und Baenas zu den Cancioneros werden zitiert nach: Las
Poiticas castellanas de la edad media. Estudio preliminar, ediciön y notas de
Francisco Löpez Estrada. Madrid 1984, pp. 29-38, 51-63. Santillanas Prolog zu den Proverbios wird zitiert nach: Marquis de Santillana [Iftigo Löpez de Mendoza]. Obras. Ed. Jose Amador de los Rios. Madrid 1852, pp. 21-28. S. dazu die Einleitungen von Löpez Estrada zu seiner Ausgabe der Poeticas castellanas
1984; vgl. zu Baena: Charles F. Fraker, Jr., Studies on the "Cancionero de Baena". Chapel Hill, N.C., 1966 und Wolf-Dieter Lange, El Fraile Trobador: Zeit, Leben
78
Karl Kohut
provenzalisch-katalanischen Artes de trovar, wobei Enrique de Villenas Arte (ca. 1423) ein wichtiges Bindeglied darstellt, unterscheiden sich jedoch in einem entscheidenden Punkt: während diese weitgehend grammatische oder metrische Traktate sind, spielen bei Santillana und Baena Grammatik oder Metrik keine Rolle; ihre Theorien stellen vielmehr eine philosophische Verteidigung der Dichtung dar, die wesentlich vom italienischen Frühhumanismus - vor allem Boccaccios Göttergenealogien - beeinflußt ist. Santillana und Baena setzen implizit einen doppelten Literaturbegriff voraus, als Unterhaltung und als Philosophie. In der höfischen Gesellschaft dieser Zeit gehörte die Lyrik zu den bevorzugten Unterhaltungen. Der vollkommene Hofmann sollte dichten können, durfte dies aber nur spielerisch tun, scheinbar ohne es je gelernt zu haben und ohne sich dabei anzustrengen. Dichten stand mit Tanzen auf einer Ebene, und so findet man am Ende einiger Biographien dieser Zeit die stereotype Formel "Er dichtete und tanzte gut"7. Von dieser Literatur sprechen aber weder Santillana noch Baena. Ihnen geht es um die Literatur als Philosophie, wobei sie beide der Versdichtung gegenüber der Prosa den Vorzug geben, weil ihr höhere Würde, Alter und Autorität zukomme. Die Verteidigung der Dichtimg ruht auf zwei Argumenten, in denen diese vertikal mit Gott und horizontal mit der Gesellschaft verbunden wird. Santillana wie auch Baena sprechen der Dichtung im Sinne der christlich umgeformten platonischen Tradition göttlichen Ursprung zu. Die göttliche Inspiration kann jedoch nur dann wirksam werden, wenn der Dichter adlig und gelehrt ist, wie es besonders Baena betont. Wichtiger ist jedoch beiden Autoren der Aspekt der Wirkung, insofern als sie nachweisen wollen, daß die Dichtung als Philosophie im religiösen Kontext gottgefällig, für die Gesellschaft nützlich ist und spezifisch im
7
und Werk des Diego de Valencia de Leon (13507-1412?). Frankfurt/M. 1971. Folgende meiner Arbeiten fasse ich hier zusammen: "La teoria de la poesia cortesana en el Prölogo de Juan Alfonso de Baena." Actas del coloquio hispanoalemän Ramön Menendez Pidal. Ed. W. Hempel & D. Briesemeister. Tübingen 1982, pp. 120-137 und "Das 15. Jahrhundert." Geschichte der spanischen Literatur. Ed. Christoph Strosetzki. Tübingen 1991, pp. 35-83. Typische Beispiele sind die Porträts von Juan II de Castilla und Alvaro de Luna in der Crönica de Juan II de Castilla (Biblioteca de Autores Espaftoles, vol. 68, 691 und 693). Vgl. dazu meinen Aufsatz "Der Platz der Literatur in den Wissenschaftssystemen des XV. Jahrhunderts: Ein Abriß der Entwicklung in Spanien." Bildung und Ausbildung in der Romania: 3. Iberische Halbinsel und Lateinamerika. Ed. R. Kloepfer u.a. München 1977, pp. 32-49. Spanische Version: Iberoromania N.F. 7 (1978), 67-87.
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
79
höfischen Kontext nicht im Gegensatz zur Waffentüchtigkeit steht. Sie vermittelt im weitesten Sinn Wissen und Erkenntnis, sie gibt Kunde von Gott und seinen Geboten und öffnet den Weg zu den Wissenschaften. Diese Verteidigung wendet sich gegen Angriffe von zwei Seiten. Im Kontext der Hofkultur spielte besonders das von zahlreichen kastilischen Adligen geteilte Vorurteil eine große Rolle, die Dichtung schwäche die Waffentüchtigkeit. Die Diskussion um diesen Punkt reiht sich in die bereits aus der Antike überlieferte Reflexion über die Waffen und die Wissenschaften ein, die in Spanien zum Topos der armas y letras wurde. 8 Der dem Hochadel angehörende und überdies erfolgreiche Krieger Santillana hatte es natürlich sehr viel leichter als der bürgerliche Baena, die Dichtung gegenüber diesem Vorwurf zu verteidigen. Der zweite Angriff auf die Dichtung kam aus theologischen Kreisen. Während es sich im Fall des Adels um ein gesellschaftliches Vorurteil handelte, das verschriftlicht nur in seiner Abwehr faßbar ist, handelt es sich im Bereich der Theologie um eine Vielzahl von Texten, die in ihrer Gesamtheit eine theologische Dichtungstheorie bilden. 9 Die beiden wichtigsten Autoren - Alonso de Cartagena und Alonso de Madrigal standen in enger Verbindung zur Hofkultur der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Beide stellen sie die Lüge der Dichtung der Wahrheit der heiligen Schrift gegenüber, wobei Cartagena zu einer rigoristischen Haltung neigt, die sich am Ende seines Lebens noch verstärkt, während Madrigal offener ist. Etwa um die Jahrhundertmitte setzt sich die rigoristische Richtung durch, die in der zweiten Jahrhunderthälfte bestimmend wird 10 und bis weit in das 16. Jahrhundert hineinreicht. Beide bisher genannten Stränge der literartheoretischen Reflexion sind vom italienischen Frühhumanismus beeinflußt. Eine im engeren Sinn humanistische Literaturtheorie entsteht aber erst am Ende des Jahrhunderts. Der zentrale Text ist das zweite Buch der spanischen 8
9
10
Vgl. August Buck, "Arma et litterae" - "Waffen und Bildung": Zur Geschichte eines Topos. Stuttgart 1992. Vgl. zum folgenden meinen Artikel "Der Beitrag der Theologie zum Literaturbegriff in der Zeit Juans II. von Kastilien. Alonso de Cartagena (1384-1456) und Alonso de Madrigal, genannt El Tostado (1400?-1455)." Romanische Forschungen 89 (1977), 183-226. Als repräsentativ für diese Entwicklung kann Sänchez de Arevalo gelten, der aber stärker im italienischen Kontext zu sehen ist. Vgl. meinen Artikel "Sänchez de Arävalo (1404-1470) frente al humanismo italiano." Actas del Sexto Congreso International de Hispanistas, celebrado en Toronto del 22 al 26 de agosto de 1977. Toronto 1980, pp. 431-134.
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Karl Kohut
Grammatik des Antonio de Nebrija von 1492, das die erste erhaltene Metrik des kastilischen Spanisch darstellt.11 Nebrija überträgt die Begriffe der lateinischen Metrik auf das Spanische und läßt dadurch erkennen, daß er die traditionelle spanische Metrik für unzulänglich hält, ohne daß er dies jedoch explizit sagen würde. Ebenso implizit ist die zweite wichtige Aussage des Kapitels: die großen kastilischen Autoren des 15. Jahrhunderts können neben den Autoren der klassischen Antike und der modernen Literaturen, vor allem der italienischen, bestehen. Diese sehr weitgehende Aussage läßt sich daraus ableiten, daß Nebrija die neue Metrik an den Werken vor allem Juan de Menas, daneben Santillanas, Jorge und Gömez Manriques und anderer erläutert, und er zitiert diese Autoren so ausgiebig, daß man von einer veritablen Anthologie sprechen konnte. Im Gegensatz zu Frankreich negiert der spanische Humanismus nicht die vorausgehende volkssprachliche Literatur, sondern kanonisiert sie; man kann sogar sagen, daß Nebrijas Grammatik die nationale Dichtungstradition begründet. Nebrija bricht das Buch unvermittelt mit dem Hinweis auf eine Arte de poesia castellana ab, die ein Freund mit großer Eleganz verfaßt habe. 12 Die moderne Forschung hat mehrere Namen vorgeschlagen, von denen jedoch keiner allgemein akzeptiert worden ist. Das gilt auch und besonders für Juan del Encina, einen Schüler Nebrijas, der in seinem Arte (1496) ausdrücklich an dessen Grammatik anknüpft, wenn er schreibt, daß er für die Dichtung tun wolle, was jener für die Grammatik geleistet habe.13 Encina führt die kastilische Dichtimg auf die italienische und über sie auf die römische Literatur zurück; die provenzalisch-katalanische Linie wird nicht einmal erwähnt. Aber er paraphrasiert nur ungelenk Argumente seines Lehrers; in der Metrik fällt er sogar hinter ihn zurück, da er wieder auf die spanischen Bezeichnungen zurückgreift, die Nebrija verworfen hatte. So bleibt die Grammatik Nebrijas das zentrale Dokument des jungen spanischen Humanismus am Ausgang des 15. Jahrhunderts.
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12
13
Der Wert der Metrik ist in der modernen Forschung umstritten; Emiliano Diez Echarri, Teorias metricas del siglo de oro: Apuntes para la historia del verso espaflol. Madrid 1970 ( 1 1949), p. 59 sieht sie eher kritisch, Petra Braselmann, Humanistische Grammatik und Volkssprache: Zur Cramitica de la lengua castellana von Antonio de Nebrija. Düsseldorf 1991, p. 222 eher positiv. Antonio de Nebrija, Gramätica castellana. Texto establecido sobre la ed. princeps de 1492 por Pascual Galindo Romero y Luis Ortiz ΜύΛοζ. Madrid 1946, p. 57. Potticas castellanas, p. 78. S. dazu die Einführung von Löpez Estrada, pp. 67-75. Zu Nebrija und Encina vgl. Kohut, "Das 15. Jahrhundert."
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
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Die Historiographie ist bisher nicht in den Zusammenhang der Literaturtheorien des 15. Jahrhunderts gestellt worden, zu Unrecht, wie ich meine, da sie auf die Literaturtheorien des 16. Jahrhunderts großen Einfluß haben sollte. Wie bei den anderen Strängen der theoretischen Reflexion auch besteht das Textcorpus aus einer kleinen Zahl von Texten, unter denen der Prolog des Fernän Pärez de Guzmän zu seinem Werk Generaciones y semblanzas der wichtigste ist. 14 Nach den Worten v o n Täte handelt es sich um den "ersten kastilischen Traktat über die Natur der Geschichte und die Pflichten des Historikers", der das "Erwachen eines historischen Bewußtseins in der intellektuellen Minderheit Kastiliens im 15. Jahrhundert bezeugt". 1 5 Man kann den Prolog auf die letzten Lebensjahre des Autors, also die zweite Hälfte der 50er Jahre des 15. Jahrhunderts datieren. Pärez de Guzmän stellt die Glaubwürdigkeit der Geschichtsschreibung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, die er an drei Bedingungen knüpft. Als erstes soll der Autor weise und rhetorisch geschult sein; ganz im Sinne Ciceros knüpft P£rez de Guzmän den schönen Stil an die moralische Integrität des Autors. Die zweite Bedingung bezieht sich auf den Ursprung der Information, die der Historiker verarbeitet. Der Historiker soll bei den Ereignissen, von denen er berichtet, anwesend gewesen sein; und da er nicht überall sein kann, soll er sich in allen anderen Fällen auf den Bericht glaubwürdiger Personen stützen. Dieses Konzept wurde von den griechischen Historikern Herodot, Thukydides und Polybius entwickelt und gelangte über Macrobius in die Literatur des christlichen Mittelalters. 16 Die dritte Bedingung schließlich lautet schlicht, daß der Historiker erst über einen Herrscher schreiben solle, wenn dieser gestorben sei, damit er frei von Zwängen schreiben könne. 17 Die im 16. Jahrhundert noch sehr rudimentäre Theorie des Romans das ist in Spanien nicht anders als in Italien oder Frankreich - stellt diesen explizit in den Kontext der Historiographie. Der erste und zugleich wichtigste Beleg ist der Prolog des Amadis de Gaula, der postum 1508 erschien. Der Autor Rodriguez de Montalvo stellt eine dreistufige Hierarchie der historias unter den Kriterien der Wahrheit und des Nut14 15 16
17
Fernän P£rez de Guzmän, Generaciones y semblanzas. Ed. R.B. Täte. London 1965. Perez de Guzmän, Generaciones, p. XV. Vgl. dazu die Darstellung der Geschichte dieses Konzepts bei Victor Frankl, El "Antijovio" de Gonzäles Jiminez de Quesada y las concepciones de realidad y verdad en la epoca de la contrarreforma y del maierismo. Madrid 1963, pp. 82-101. P£rez de Guzmän, Generaciones, pp. 1-3.
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Karl Kohut
zens auf, wobei historia literarisches wie auch historiographisches Erzählen meint. Der Wahrheit am nächsten kommen die Historiker, denen es wie Livius darum geht, die innere Größe der Handelnden darzustellen. Weiter von der Wahrheit entfernt sind die Historiker, die das äußere Geschehen in den Mittelpunkt ihrer Werke stellen. Das reale Geschehen ist meistens kurz und ohne Schmuck, weshalb die Historiker es in ihrer Darstellung ausschmücken müssen, damit es von der Nachwelt für erinnerungswürdig gehalten wird. Das gilt für die griechische Mythologie ebenso wie für zahlreiche Überlieferungen des Mittelalters. Am weitesten entfernen sich die Geschichten von der Wahrheit, die erfunden sind und von wunderbaren Dingen außerhalb der Ordnung der Natur berichten. In diese dritte Kategorie gehört sein eigenes Werk, das demnach unter dem Postulat der Wahrheit an unterster Stelle steht. Unter dem Postulat des moralischen Nutzens ist es den höherrangigen Werken jedoch gleichwertig, da es wie sie gute Beispiele und Lehren enthält. 18 Der entscheidende Punkt in Rodriguez de Montalvos Apologie des Romans liegt darin, daß er historisches und literarisches Erzählen zwar unter Berufung auf die Wahrheit hierarchisch abstuft, aber dessenungeachtet prinzipiell für vergleichbar hält.
2. Die Literaturtheorien
des 16.
Jahrhunderts
Die vier Stränge der literartheoretischen Reflexion im 15. Jahrhundert entwickeln sich im 16. Jahrhundert unterschiedlich weiter. Die für das 15. Jahrhundert wichtigste und repräsentative Form, die Theorie der höfischen Literatur, hatte bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts an Bedeutung verloren, was sich auf gesellschaftliche Veränderungen zurückführen läßt. Der Arte de trovar des Juan del Encina ist nur noch ein anachronistisches Nachspiel, was auch für einige wenige artes oder verwandte Texte zu Beginn des 16. Jahrhunderts gilt. Die literartheoretische Reflexion im Kontext der Theologie hingegen setzt sich fort und durchdringt alle anderen Bereiche; sie ist, so kann man formulieren, im 16. Jahrhundert allgegenwärtig. Die in der Grammatik Nebrijas so vielversprechend angelegte humanistische Linie bricht hingegen fast völlig ab, was für die Metrik ebenso gilt wie für die Poetik. Die zeitlich nächste Metrik 18
Garci Rodriguez de Montalvo, Amadis de Gaula. Ed. Juan Manuel Cacho Blecua. 2 vol. Madrid 1987-1988 ^ΙδΟβ), vol. I, pp. 219-225.
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
83
erscheint erst 1580 (Miguel Sänchez de Lima), die nächste Poetik sogar erst 1596 (Alonso Löpez Pinciano). Dafür rückt die Geschichtsschreibung, die in der literartheoretischen Reflexion des 15. Jahrhunderts scheinbar n u r eine marginale Rolle gespielt hatte, in das Zentrum. Zugleich damit verlagert sich das Schwergewicht der literartheoretischen Reflexion auf die Rhetorik, die in Spanien erst zu Beginn des Jahrhunderts erscheint u n d bald zur wichtigsten Gattung der humanistischen
Theoriebildung
über Sprache und sprachliche Formen aufsteigt. 19 In diesem Prozeß stellen zwei frühe Traktate von 1514 und 1523 des Juan Luis Vives gleichsam Bindeglieder dar. 2 0 Beide tragen den programmatischen Titel Veritas
fucata,
geschminkte Wahrheit. Der erste Traktat
ist kurz und vergleicht die Erfindungen der Dichter mit Schminke, die das reine Antlitz der Wahrheit verdeckt; die Lieder der Dichter sind deshalb "Speise der D ä m o n e n " 2 1 . Wesentlich differenzierter argumentiert 19
20
21
Vives
Zur spanischen Rhetorik im 16. Jahrhundert s. Jos£ Rico Verdu, La retorica espaAola de los siglos XVI y XVII. Madrid 1973; Luisa Löpez-Grigera, "An Introduction to the Study of Rhetoric in 16th Century Spain." Dispositio 8 (1983), 1-18; Don Abbott, "La Retörica y el Renacimiento: An Overview of Spanish Theory." Renaissance Eloquence: Studies in the Theory and Practice of Renaissance Rhetoric. Ed. James J. Murphy. Berkeley/Los Angeles/London 1983, pp. 95-104; Dietrich Briesemeister, "Rhetorik und Humanismus in Spanien." Renaissance-Rhetorik/Renaissance Rhetoric. Ed. Heinrich F. Plett. Berlin/New York 1993, pp. 92-106. Zum Verhältnis von Poetik, Rhetorik und Dialektik vgl. W. S. Howell, "Poetics, Rhetoric, and Logic in Renaissance Criticism." Classical Influences on European Culture, A.D. 1500-1700. Ed. R. R. Bolgar. Cambridge 1976, pp. 155-162. Die Grundlagen der folgenden Ausführungen sind meine Arbeiten: "Literaturtheorie und Literaturkritik bei Juan Luis Vives." Juan Luis Vives. Ed. August Buck. Hamburg 1981, pp. 35-47 und "Rhetorik, Poetik und Geschichtsschreibung." Zu Vives vgl. weiterhin Jozef Ijsewijn, "Vives and Poetry." Roczniki Humanistyczne 26 (1978), 21-34; Emilio Hidalgo-Serna, "Vergessenheit der geschichtlichen Sprache und ihrer Funktion: J. L. Vives' Humanismus als notwendiger Wendepunkt des Philosophierens." Einleitung zu: Juan Luis Vives, Über die Gründe des Verfalls der Künste. De causis corruptarum artium. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Ed. Emilio Hidalgo-Serna. München 1990; Valerio del Nero, Linguaggio e filosofia in Vives: L'Organizzazione del sapere nel "De Disciplinis" (1531). Bologna 1991. Fox Morcillo und Antonio Lull sind in diesem Kontext von der Forschung noch nicht beachtet worden; zu letzterem notiert Lopez Grigera kurz: "another author for whom a good study is really needed" ("Introduction", p. 16). Die Werke Vives' werden nach dem Abdruck in den Opera omnia zitiert; "Veritas fucata I" ist in VII 101-108, "Veritas fucata II" in II 517-531 enthalten. Juan Luis Vives, Opera omnia. Ed. Gregorio Mayans. Valencia 1964 ( 1 1782-1790), vol. VII, p. 106.
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Karl Kohut
im zweiten Traktat, was sich bereits in seinem Untertitel andeutet: Geschminkte
Wahrheit
oder über die poetische
Freiheit: wie weit die Dich-
ter von der Wahrheit abweichen dürfen. Das Werk berichtet in Form eines Dialogs vom Kampf zwischen Veritas und falsum, der natürlich mit einem Sieg von Veritas endet, die aber bereit ist, unter zehn Bedingungen falsum zu tolerieren, ohne daß sich daraus jedoch ein kohärentes System ableiten ließe. Ein erstes Kriterium trennt die historische von der vorhistorischen Zeit mit dem Beginn der olympischen Zeitrechnung als Grenze. Der Dichter darf über alles Geschehen vor dieser Grenze frei verfügen, da Vives es für unmöglich hält, in dieser frühen Zeit Wahrheit von Lüge zu trennen. Für die historische Zeit bleibt die Wahrheit das höchste Gebot; aber anders als im ersten Traktat läßt Vives hier Abweichungen in dreifacher Hinsicht zu. Der Dichter darf erstens die Wahrheit rhetorisch ausschmücken, zweitens alle Stoffe bearbeiten, die gleichsam allgemeiner Besitz sind, und ihnen eigene Erfindungen hinzufügen, und er darf schließlich ganz allgemein seine Materie frei erfinden, sofern seine Werke nur dem moralischen Nutzen dienen. Dem falsum zugeordnet und somit aus dem Bereich des Erlaubten ausgeschlossen werden alle Werke, die weder wahr noch moralisch nützlich sind, wobei explizit die milesischen Fabeln genannt werden. Der erstaunlichste Punkt ist hierbei, daß der Humanist Vives sich ganz ähnlicher Argumente wie vor ihm Montalvo bedient. Auch Vives trennt nicht prinzipiell zwischen historiographischem und literarischem Erzählen, sondern hält beides unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit und des moralischen Nutzens für vergleichbar. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Autoren besteht allein darin, daß der Verfasser des Ritterromans für sich den moralischen Nutzen in Anspruch nimmt und damit sein Werk für gerechtfertigt hält, während der Humanist dem Roman eben diesen moralischen Nutzen abspricht. Vives entwickelt die in den beiden Traktaten angelegte Theorie in De disciplinis von 1531 und seiner ein Jahr später erschienenen Rhetorik weiter, wobei er zwischen den beiden Werken das wissenschaftstheoretische Paradigma wechselt. In De disciplinis stellt er Dichtung und Geschichtsschreibung in den Aufgabenbereich des Grammatikers und verbleibt damit wie zuvor Nebrija in der Tradition der spätantiken Theorie in der Nachfolge des Donatus.22 Ein Jahr später sieht er beide als Untergattungen der Rhetorik an und begründet damit das Paradigma, das für 22
Vives, Opera omnia, vol. VI, pp. 77-109, 320-344.
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
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den spanischen Humanismus bis zum Ende des Jahrhunderts wirksam bleiben sollte. Die folgenden Überlegungen beschränken sich deshalb auf die Rhetorik. Der systematische Anknüpfungspunkt zu seinen frühen Traktaten ist die narratio, auf die Vives im dritten Buch seiner Rhetorik zu sprechen kommt. 23 Er unterscheidet die verschiedenen Formen der Erzählung nach den Absichten des Redners: der Belehrung wird historia zugeordnet, der Überzeugung narratio probabilis und apologi, der Unterhaltung fabulae licentiosae. Obwohl diese dreistufige Ordnung zunächst mit den rhetorischen Begriffen der Belehrung, Überzeugung und Unterhaltung eingeführt wird, enthält sie zugleich eine Hierarchisierung nach den Postulaten der Wahrheit und Moral, denen in der Folge entscheidende Bedeutung zukommt. Historia steht auf der höchsten, fabulae licentiosae auf der untersten Stufe; jene muß wahr und moralisch gut sein, diese ist erfunden, also unwahr, und ohne moralisches Ziel. Wenn historia die an sie gestellten Bedingungen nicht erfüllt, fällt sie auf die unterste Stufe hinab. Die dazwischen stehenden Formen sind zwar unter dem Kriterium der Wahrheit unvollkommen, da narratio probabilis nur wahrscheinlich sein muß und apologi nicht einmal dieser Beschränkung unterliegt; dennoch werden beide durch ihr moralisches Ziel gerechtfertigt. Da das Grundgesetz der historischen Erzählung die Wahrheit ist, muß der Autor versuchen, die Ordnung der Ereignisse so weit als möglich in sein Werk zu übertragen. Er darf die Erzählung nur sehr behutsam rhetorisch ausschmücken, da nach Vives' Meinung jede Rhetorisierung die Erzählung literarisiert oder, mit anderen Worten, von der Wahrheit wegführt. Vives nimmt damit einen zentralen Gedanken der aktuellen Diskussionen um Literatur und Geschichte vorweg. Nach der Wahrheit steht die moralische Funktion der historia an zweiter Stelle, die der Historiker auf zwei Wegen erreichen kann, über die Auswahl der Ereignisse oder eingeschobene Urteile. Der Historiker soll Vives zufolge nur v o n Ereignissen berichten, die dem Leser im täglichen Leben nützen und ihn zu einem besseren Leben führen. Vor allem wendet sich der überzeugte Pazifist Vives gegen die Verherrlichung von Kriegstaten, die er für ein Grundübel der antiken wie auch der modernen Geschichtsschreibung hält. Die eingeschobenen Urteile ermöglichen es dem Autor, die berichteten Ereignisse dem Leser gegenüber zu werten. Streng genommen bedeutet vor allem der erste Weg eine Abweichung vom Postulat der 23
Vives, Opera omnia, vol. II, pp. 197-237.
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Karl Kohut
Wahrheit, was Vives aber nicht thematisiert, möglicherweise weil es i h m nicht einmal bewußt ist. De facto wird die Wahrheit der Erzählung damit dem moralischen Nutzen untergeordnet. Die anderen Formen der Erzählung behandelt Vives nur kurz. Die wahrscheinliche Erzählung hält er von der Sache her an sich für überflüssig, da nichts wahrscheinlicher als die Wahrheit ist. Ihre Notwendigkeit ergibt sich nur aus der Schwäche der Menschen, denen Wahrscheinliches häufig glaubhafter als die Wahrheit selbst erscheint. Allein aus diesem Grund toleriert Vives diese Art der Erzählung, allerdings nur unter der Bedingung, daß der moralische Nutzen gewahrt bleibt. Dies ist besonders bei der Tierfabel der Fall, bei der die Wahrscheinlichkeit aber eingeschränkt ist. Es ist sicher nicht wahrscheinlich, daß Tiere reden; die Wahrscheinlichkeit liegt hier darin, daß sie reden und handeln, wie es nach menschlichem Urteil dem jeweiligen Tier angemessen ist: der Löwe stolz, der Hase furchtsam usw. In der letzten Variante ist die Erzählung weder wahr noch wahrscheinlich noch in irgendeiner Form nützlich. Vives nennt sie fabulas licentiosas oder fabulas milesias, womit der Roman angesprochen ist, der damit den negativen Gegenpol zur Geschichte bildet. Völlig anderer Art sind die poeticae fabulae, womit Vives zur Dichtung überleitet, ohne daß jedoch erkennbar würde, daß er fabula von da ab im Sinne des griechischen Mythos gebraucht. Der Aspekt der Unwahrheit bleibt auch bei den poeticis fabulis unterschwellig stets präsent, was vor allem darauf zurückzuführen ist, daß die Kriterien der Wahrheit und des moralischen Nutzens auch die Darstellung der Dichtung bestimmen. Die erfundenen Handlungen der Dichter, um den von Vives gebrauchten Begriff möglichst sinngemäß, wenn auch etwas umständlich zu übersetzen, haben ihren Ursprung in der Unbildung und Leichtgläubigkeit des Volks. Insofern ist die Dichtung analog zur wahrscheinlichen Erzählung anzusehen, bei der Vives ähnlich argumentiert hatte. Allerdings weitet Vives das Feld so sehr aus, daß die Dichtung einen eigenen Stellenwert erhält. Sie ist gleichzeitig unter dem Aspekt der narratio der historia untergeordnet und als Dichtung der Geschichtsschreibung nebengeordnet. Daraus folgen innere Widersprüche, die bei der Darstellung der großen literarischen Formen, Drama und Epos, sichtbar werden. Dem Postulat der Wahrheit folgend müßte Vives beide Gattungen verurteilen, da die Handlung des Dramas nach seiner Meinung völlig und die des Epos zumindest teilweise erfunden ist. Das würde jedoch bedeuten, daß er fast die gesamte
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
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Literatur gerade auch der Antike verurteilen müßte. Vives kann dieser trotz seines Rigorismus extremen Folgerung nur durch die Einführung eines neuen Kriteriums entgehen, nämlich der Größe und Würde des Gegenstands, die er religiös definiert. Wenn die Dichtung - wie Piaton und nach ihm Horaz gesagt haben - von Gott eingegeben ist, dann müssen ihre Gegenstände auch Gott wohlgefällig sein, da es sich sonst um einen profanen, nicht einen göttlichen Wahn handeln würde. Folgerichtig gibt Vives der religiösen Dichtung eindeutig den Vorzug. Vives vermischt in seiner als Teil der Rhetorik begriffenen Poetik präskriptive und deskriptive Elemente, wobei erstere jedoch eindeutig vorherrschen. Sie bestimmen auch den Vergleich von Geschichte und Literatur. Beide haben die Erzählung gemeinsam, deren Ziel im Sinne der Rhetorik die Belehrung ist. Nun wäre es aber sinnlos, Falsches oder Unnützes zu lehren. Da der Geschichtsschreibung per definitionem die wahre Erzählung zugeordnet wird, bleibt für die Dichtung nur die erfundene oder zumindest teilweise erfundene Erzählung übrig. Nur die Größe des Gegenstands und die moralische Absicht können die moralische Minderwertigkeit der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung zumindest teilweise ausgleichen. Und da es keinen höheren Gegenstand als Gott gibt, folgt daraus, daß allein die religiöse Dichtung den gleichen Rang wie die Geschichtsschreibung erreicht. Ich habe die Literaturtheorie Vives' so ausführlich behandelt, weil sich an ihr die Probleme der literartheoretischen Reflexion des spanischen Humanismus paradigmatisch aufzeigen lassen, und kann es mir danach erlauben, zwei weitere wichtige Werke kurz zusammenzufassen. Sebastiän Fox Morcillo geht in seinem Dialog De historiae institutione von 1557 von der Erkenntnis aus, daß die Rede bei Dichtern, Philosophen und Historikern prinzipiell die gleiche ist und sie alle somit der Rhetorik unterworfen sind. Er konzentriert sich auf die historiographische Rede, da er sie für die bei weitem wichtigste hält, und begnügt sich damit, sie gegenüber der Philosophie und der Dichtung abzugrenzen. Der Dialog über die Geschichte stellt somit gleichsam einen Ausschnitt aus einer gedachten umfassenden Rhetorik dar. Wie bei Vives stellen auch bei Fox Morcillo Wahrheit und moralischer Nutzen die höchsten Kriterien dar. Aber Fox Morcillo geht über Vives hinaus und spricht der Dichtung ganz allgemein jeden Nutzen ab, wodurch diese als ganzes aus seinem System fällt, was er dadurch kompensiert, daß er im Gegensatz zu Vives die Geschichtsschreibung
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rhetorisch schmücken will und damit literarisiert. Die Geschichtsschreibung ist somit der Philosophie überlegen, da sie dem Leser die Wahrheit in schöner Form darbietet; diese hat sie mit der Literatur gemein, der sie wiederum die Wahrheit und den Nutzen voraus hat. Damit wird die Geschichtsschreibung zur wichtigsten Gattung der Rede und zur Königin der Wissenschaften, die alle anderen Disziplinen in sich vereint. 24 Mit der Rhetorik von Antonio Lull, die 1558, also nur ein Jahr nach dem Dialog von Fox Morcillo erschienen ist, beginnt ein neuer Abschnitt in der Gegenüberstellung von Geschichtsschreibung und Literatur. Lull behandelt sie ähnlich wie Vives im letzten Buch seines Werks. 25 Allerdings kehrt er die Hierarchie um: die Dichtung steht an höchster Stelle unter den Gattungen der Rede, gefolgt von der Philosophie, der Geschichtsschreibung und der Volksrede. Diese Umkehrung hat ihre Ursache in gleicher Weise in philosophischer Reflexion und persönlichen, nicht weiter begründbaren Vorlieben. Im Gegensatz zu den beiden anderen Autoren geht Lull von der aristotelischen Poetik aus. Die angesprochenen Vorlieben gelten der schönen Sprache, die er in der Dichtung und eben nicht in der Geschichtsschreibung findet. Dies bestimmt auch seine Theorie der Geschichtsschreibung, in der die Sprache im Vordergrund steht und methodische Überlegungen darüber, wie der Historiker die Wahrheit sichern kann, weitgehend fehlen. Die Rhetorik Lulls markiert die Wende von der Rhetorik zur Poetik. Das der Dichtung gewidmete Buch ist der erste Kommentar eines spanischen Autors zur aristotelischen Poetik. Aber Lull vollzog die Wende nur zum Teil, da er eben eine Rhetorik und nicht eine Poetik schrieb. Von der Systematik des Werks her bleibt die Poetik Teil der Rhetorik; in der Hierarchie der Gattungen jedoch steht die Dichtung an der Spitze. Sein Werk ist deshalb in sich widersprüchlich, was möglicherweise die Ursache dafür ist, daß seine Bedeutung in der Ideengeschichte des spanischen Humanismus bis heute nicht erkannt worden ist. Erst vier Jahrzehnte
24
Sebastian Fox Morcillo, De Historiae institutione, Dialogus. Antverpiae 1557; die entscheidenden Passagen sind: pp. 17 r -26 r , 66 r -71 v , 76 v -78 r , 87 v -102 v und
25
Antonio Lull, De oratione libri Septem. Basileae 1558. Das siebte und letzte Buch nimmt die Seiten 491-532 ein; die Geschichtsschreibung wird in Kap. 4, pp. 509-514, die Dichtung in Kap. 5, pp. 514-530 behandelt. Zu Lull s. Antonio Garcia Berrio, La formaciön de la teoria literaria moderna, vol. II, pp. 48-68; Lull wird hier unter der Perspektive des Horaz behandelt, weshalb ihm die Bedeutung des Autors für die Rezeption der aristotelischen Poetik entgeht.
l l l r f.
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
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später setzte sich mit der Philosophia antigua poetica des Alonso Löpez Pinciano die aristotelische Poetik als Grundlage der poetologischen Reflexion in Spanien durch, und damit auch die Höherwertung der Dichtung gegenüber der Geschichtsschreibung. Die Poetik des Löpez Pinciano bezeichnet einen Neuanfang der poetologischen Reflexion in Spanien, die aber wie die gesamte Blütezeit der spanischen Literatur dem Barock zuzuordnen ist, weshalb ich sie nicht in diese Darstellung der spanischen Renaissance-Poetik einbeziehe. Die Erkenntnisse aus der Analyse der Rhetoriken von Vives, Fox und Lull lassen sich weitgehend auch auf die übrige literartheoretische Reflexion des 16. Jahrhunderts übertragen. Ich will das kurz an drei Texten aufzeigen. Der erste ist der Diälogo de la lengua26, den Juan de Vald£s vermutlich 1535 verfaßt hat, also kurz nach Erscheinen der Rhetorik des Vives. Der Autor war seinen Zeitgenossen als religiöser Reformer in der Nachfolge des Erasmus bekannt, nicht aber als Grammatiker oder Rhetoriker. Er hatte wohl beabsichtigt, den Dialog zu veröffentlichen, was aber aus uns nicht bekannten Gründen unterblieb. Er wurde erst 200 Jahre später, 1737, gedruckt. Der Diälogo de la lengua ist eine grammatische Abhandlung in der humanistischen Form des Dialogs. Die Literatur erscheint darin als sechster unter sieben Punkten unter der Fragestellung der Musterautoren. 27 Insofern steht der Traktat in der Nachfolge Nebrijas. Wie dieser zählt auch Vald£s, wenngleich mit Vorbehalten, Juan de Mena zu den vorbildlichen Autoren. Aber er knüpft nicht nur an den Humanisten Nebrija an, sondern auch an Rodriguez de Montalvo. Wie dieser vergleicht er Geschichtsschreibung und Literatur und weist jener das Primat zu. Die Ritterromane sind voller Lügen und machen den Leser damit unfähig, wahre und ernste Geschichtsschreibung zu rezipieren. Unter dem Aspekt der sprachlichen Modellautoren rehabilitiert Valdäs jedoch zumindest die ersten Ritterromane Amadis, Palmerin und Primaleön28, während er unter den historiographischen Werken des 15. und der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts keines in dieser Form zu würdigen vermag. Der Vergleich zwischen Geschichtsschreibung und Ritterroman endet trotz der
26 27 28
Juan de Vald^s, Diälogo de la lengua. Ed. Christina Barbolani. Madrid 1982. Vald£s, Diälogo, pp. 239-256. Vald6s, Diälogo, p. 248.
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prinzipiellen Option für erstere nicht mit einer völligen Verdammung des Romans, wie wir sie von Vives her kennen. Bei dem zweiten Text handelt es sich um drei Briefe, die der nicht näher bekannte Humanist Pedro de Rhua 1549 veröffentlicht hat 29 und in denen er die Werke des damaligen Erfolgsautors Antonio de Guevara einer strengen Kritik unterzieht. Die Kriterien sind die gleichen, die wir bei Vives kennengelernt haben: Wahrheit und moralischer Nutzen. Guevara sei - so schreibt er - zur Wahrheit verpflichtet: als Chronist, Theologe und Bischof müsse er "die Wahrheit lieben, die Wahrheit schreiben, die Wahrheit predigen, in der Wahrheit leben und für sie sterben". Guevara hingegen gebe "Fabeln für Geschichte {fibulas por historias), eigene Erfindungen für Erzählungen anderer [aus] und zitiere von anderen Autoren, was sie nicht oder anders gesagt haben" 3 0 . Damit verstoße er gegen das Grundprinzip der Geschichte, deren Ziel "allein der Nutzen sei, der in der Wahrheit beschlossen liege" 31 . Das Interesse dieser Briefe liegt in ihrer Nähe zur theoretischen Reflexion Vives', woraus sich die Hypothese ableiten läßt, daß in ihnen die von Vives entwickelten theoretischen Prinzipien auf die Praxis der Literaturkritik übertragen werden. Der dritte Text schließlich ist das 1564 erschienene neuscholastische Werk De locis theologicis von Melchor Cano 32 , das bis ins 19. Jahrhundert zu den grundlegenden Werken der theologischen Ausbildung gehörte. Cano führt in seinem Werk die Historiographie als zweiten Weg neben der Philosophie ein, auf dem die menschliche Vernunft zu sicheren Erkenntnissen finden kann. 3 3 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß Cano wie die Humanisten die Dichtung in die Diskussion mit einbezieht und sie gegenüber der Geschichtsschreibung abwertet. Humanismus und neuscholastische Theologie (die ja ihrerseits stark vom Humanismus ihrer Zeit beeinflußt war) argumentieren auf diesem Feld in prinzipiell ähnlicher Form, so daß man die paradoxe Formulierung wagen kann, daß die humanistische Literaturtheorie theologisch und die theologische Poetik humanistisch geprägt ist.
29
30 31 32 33
Pedro de Rhua, "Cartas del Bachiller Pedro de Rhua." Epistolario espaflol. Vol. I. Madrid 1945, pp. 229-250 ( 1 1549). Rhua, "Cartas del Bachiller", p. 237. Rhua, "Cartas del Bachiller", p. 239. Melchor Cano, De locis theologicis libri duodecim. Lovanii 1564. Die Ausführungen zur Geschichtsschreibung sind im 11. Buch enthalten.
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
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Die hier analysierten Werke sind repräsentativ für die poetologische Diskussion im 16. Jahrhundert. Obwohl sie ganz unterschiedlichen Bereichen angehören, geben sie mit der alleinigen Ausnahme der Rhetorik Lulls der Geschichtsschreibung den Vorzug vor der Dichtung. Daraus lassen sich drei Fragen ableiten, die miteinander in engem Bezug stehen: 1. Warum bricht die bei Nebrija angelegte Linie der literartheoretischen Reflexion ab und wird erst ein Jahrhundert später wieder aufgenommen? 2. Warum bevorzugen die Humanisten die Rhetorik gegenüber der Poetik? Und schließlich 3. Wie ist es zu erklären, daß die Problemstellung von Literatur und Geschichte in den Vordergrund rückt? Die drei Fragen lassen sich meines Erachtens nur dann befriedigend beantworten, wenn wir über den engeren Bereich der Poetik hinausgehen und die allgemeine historische und literarische Entwicklung mit einbeziehen.
3. Literatur
und Geschichte
im Spanien
des 16.
Jahrhunderts
Die folgenden Überlegungen haben den Charakter einer Hypothese und müssen vor allem durch eine systematische Analyse der historiographischen Literatur des Jahrhunderts abgesichert werden. 1492, das Erscheinungsjahr der Grammatik Nebrijas, ist in vielfacher Hinsicht ein entscheidendes Jahr. Die Reconquista war abgeschlossen, und durch die Ausweisung der Juden im gleichen Jahr war nach der Meinung der Zeitgenossen mit der staatlichen und der territorialen auch die religiöse Einheit erreicht. Nebrija sah im berühmten Prolog seiner Grammatik das imperiale Ausgreifen Spaniens voraus. Was er nicht vorausahnen konnte, war die Form, in der dieses geschah. Durch die Entdeckung Amerikas und die Heiratspolitik der Herrscher wurde Spanien urplötzlich zur zentralen europäischen Macht und zum Zentrum der kolonialen Ausbreitung. Diese Stellung behielt es bis zum Ende des Jahrhunderts. In diesen Jahrzehnten machte Spanien Geschichte, wie besonders den Chronisten der Entdeckung und Eroberung Amerikas bewußt war, die dieses Geschehen über alles stellten, was aus der klassischen Antike überliefert worden war. Dem Vorrang der Geschichte entsprach das Primat der Geschichtsschreibung, wie man wiederum besonders eindrucksvoll an den Texten über Amerika aufzeigen kann. In den ersten achtzig Jahren
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Karl Kohut
gibt es zur Entdeckung und Eroberung nur historiographische Texte im weitesten Sinn, aber keine Dichtung in irgendeiner Form. Die erste Dichtung über Amerika, das Epos Araucana des Alonso de Ercilla, erschien erst 1569. Aber dieses Epos bestätigt das Primat der Geschichte, denn der Autor will es als historisches Werk verstanden wissen 34 , und er beruft sich auf die gleichen Kriterien der Wahrheit wie die Historiker. Die poetische Form des Epos ist für ihn nichts als eine Einkleidung, die an dem prinzipiellen Postulat der Wahrheit nichts ändert. Das gleiche können wir an den folgenden Epen zur Geschichte Amerikas erkennen; erst gegen Ende des Jahrhunderts setzt eine bewußte Poetisierung und damit ein Abrücken vom absoluten Wahrheitsanspruch ein. Der Ritterroman, sicher die erfolgreichste literarische Gattung des Jahrhunderts, nahm für sich in Anspruch, wie die Historiographie Geschichte zu erzählen, wodurch der Romanautor zum Konkurrenten des Historikers wurde. Der Roman wurde dadurch zu einem zentralen Problem der humanistischen Literaturtheorie. Nun wurde der Roman in der aus der Antike überlieferten Poetik nicht beachtet, was für sich allein schon ausreichte, ihn unabhängig von aller moralischen Verurteilung aus dem System der Literatur auszuschließen. Aber der Roman war im 16. Jahrhundert zu mächtig, um ihn schlichtweg zu ignorieren. In der Poetik hatte er aus den genannten Gründen keinen Platz; weit wichtiger war jedoch der Umstand, daß ihre überlieferten Kategorien zu einer Theoriebildung über dieses Phänomen nicht ausreichten. Im Gegensatz dazu bot die Rhetorik mit der narratio eine Kategorie an, die es erlaubte, historiographisches und literarisches Erzählen begrifflich zu fassen und miteinander zu vergleichen. Folgerichtig bedienten sich die spanischen Humanisten der Rhetorik und nicht der Poetik, um den Komplex von Geschichtsschreibung und Literatur zu behandeln. Eine indirekte Bestätigimg dieser Argumentation ist bei Lull zu finden, der als einziger der hier behandelten Autoren die Dichtung über die Geschichtsschreibung stellt und zugleich den Ritterroman positiv wertet. 35 Das späte Erscheinen der spanischen Poetik ist deshalb kein weiterer Beleg für die vieldiskutierte "kulturelle Verspätung" Spaniens, auch wenn in Spanien selbst zu dieser Zeit viel über die Rückständigkeit des 34
35
Die entscheidenden Passagen stehen im Prolog; aber der Autor kommt im Verlauf seines Werks mehrfach darauf zurück: Alonso de Ercilla, La Araucana. Ed. Marcos A. Morinigo & Isaias Lerner. 2 vol. Madrid 1979 ( 1 1569-1589). Lull, De oratione libri septem, pp. 215, 518.
Die spanische Poetik zwischen Rhetorik und Historiographie
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Landes geschrieben wurde. 3 6 Der Eindruck einer Verspätung entsteht nur dann, wenn man die literarische Entwicklung Spaniens und Italiens miteinander vergleicht, ohne sie in den größeren Kontext der Geschichte zu stellen. Um dies zu erläutern, muß ich auf Nebrija zurückkommen. Er hatte seine Lehrjahre in Italien verbracht und war mit dem Ziel zurückgekehrt, die "Barbarei", wie er schrieb, aus seinem Land zu vertreiben. Dabei überholte er seine Lehrmeister, denn seine Grammatik ist die erste der aus dem Latein hervorgegangenen modernen Sprachen. Das gleiche gilt für die Poetik, die bei ihm bereits als Projekt greifbar wird. W e n n diese Linie danach jäh abbricht, muß das deshalb andere Gründe haben. Meine These lautet, daß die auf ihn folgenden spanischen Humanisten einen anderen Weg gegangen sind, weil sie trotz aller Hinwendung zur Antike aufmerksam die gesellschaftliche und literarische Entwicklung ihres Landes verfolgt haben. Am Ende des 16. Jahrhunderts hat Spanien seine welthistorische Rolle ausgespielt. Es ist mehr als ein historischer Zufall, daß zur gleichen Zeit die Blüte der Dichtung ihren Höhepunkt erreicht. Spanien macht nicht mehr Geschichte, sondern erzählt und poetisiert sie, es wendet sich v o n der Außenwelt ab und der Innenwelt zu. Damit wird zugleich das Verhältnis von Geschichtsschreibung und Literatur neu bestimmt. Die Kategorien der Rhetorik reichen dazu nicht mehr aus. Folgerichtig bedient sich die literartheoretische Reflexion nach fast hundertjähriger Pause wieder der Poetik. Dieses Wiedererscheinen der Poetik ist aber nur ein Indiz unter anderen, und sicher nicht das wichtigste, für den tiefgreifenden historischen und kulturellen Wandel Spaniens.
36
Das Konzept stammt von Sänchez Albornoz und wurde nach ihm von Curtius aufgegriffen, der deshalb seinerseits von Lida de Malkiel heftig angegriffen wurde. Vgl. meine Zusammenfassung in Teorias literarias, p. 41 f., wo ich selbst wenn auch unter Vorbehalt - die Geschichte der spanischen Poetik in diesen Zusammenhang gestellt habe.
BERNHARD ASMUTH
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum Mit einem Hinweis auf die von Celtis eröffnete Lebendigkeit des Schreibens
1. Abgrenzung des Themas und barocke Anfänge Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum: Der Titel wirft ein Netz aus, in das viel hineinpaßt, räumlich, sprachlich und zeitlich. Bezogen auf die Frühzeit, um die es geht, umfaßt der Raum nicht nur das heutige Deutschland, Österreich und den größten Teil der Schweiz, sondern auch die nach 1945 an Polen abgetretenen Ostgebiete, das Elsaß mit dem bis 1681 deutschen Straßburg, mit Einschränkung auch die Niederlande, die zur Zeit der Humanisten Agricola und Erasmus und offiziell sogar bis 1648 zum Deutschen Reich gehörten. Zu den sprachlichen Zeugnissen dieses Kulturraums zählen nicht nur deutschsprachige, sondern auch die hier entstandenen oder gedruckten lateinischen Texte, die im 16. und 17. Jahrhundert in der Überzahl waren. Vor allem aber sind die Anfänge hiesiger Poetik, ist jedenfalls das, was aufgrund bisheriger Forschung darunter verstanden werden kann, von beträchtlicher zeitlicher Ausdehnung. Will man nicht die knappe Notiz des Tacitus (Germania, Kap. 2) zu den "carminibus antiquis", den alten Liedern der Deutschen, schon als poetologisches Dokument werten, so läßt sich die Geschichte der Poetik in dem umrissenen Gebiet insgesamt in folgende Epochen gliedern: 1. das Mittelalter, 2. die lateinsprachige Epoche des Humanismus, 3. das Zeitalter deutschsprachiger Regelpoetiken von Opitz bis Gottsched, das in etwa der Barockzeit entspricht, 4. das Jahrhundert der philosophischen Ästhetiken von Baumgarten über Kant und Hegel bis zu Friedrich Theodor Vischer, das die Gip-
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
95
felleistungen deutscher Literatur von Lessing über Goethe und Schiller bis hin zum Realismus des 19. Jahrhunderts begleitet, 5. die literarische Moderne seit dem späten 19. Jahrhundert, in der die Programme der Poeten, die Konzepte großer Einzeldenker von Nietzsche über Benjamin, Lukäcs und Adorno bis hin zu den Propheten postmodernen Zeitgeistes und schließlich auch die weniger spektakulären Erkenntnisse der Literaturwissenschaft, etwa zur Erzähltheorie, miteinander wetteifern. Wenn im Hinblick auf die über tausendjährige Geschichte der Poesie und damit letztlich auch der Poetik unseres Sprachgebiets von Anfängen die Rede ist oder war, so konnte sich das auf mehr als die erste Hälfte des Gesamtzeitraums beziehen. Der vage Plural "Anfänge" deutet die Schwierigkeit der Fixierung an. Im engeren Sinne betraf er bisher meist erst die dritte der fünf Epochen. Repräsentativ hierfür ist Borinskis Buch, das bis etwa 1970 den einschlägigen Erkenntnisstand verkörperte. 1 Borinski versteht unter Renaissance - der inzwischen veralteten, vor Wölfflin gültigen Auffassung gemäß - auch und besonders die Barockzeit. Er streift das, was wir heute Renaissance nennen, also die Zeit vor 1600, in seinem Eröffnungskapitel nur sammelnd und benennend als "erste Spuren", wendet sich ausführlicher erst Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey zu, sieht also, wie die Überschrift seines zweiten Kapitels ausweist, im engeren Sinn erst "Die Einführung der Renaissance-Poetik durch Opitz" gewährleistet. Ähnlich beginnt auch Markwardt seine dreibändige Darstellung mit Opitz. Über die von Borinski ermittelten zahlreichen Zeugnisse aus der Zeit des Humanismus berichtet er nur resümierend in einer Einleitung. Noch knapper ist Wiegmanns Abriß. 2 "Praktisch erst mit dem Barock setzt eine relevante Poetikproduktion ein", heißt es auch in dem jüngsten Lexikonbeitrag.3 In der Tat hat Opitz einen Anfang gesetzt. Mit dem schmalen Büchlein von 1624, dessen gut 50 Seiten er in fünf Tagen niedergeschrieben haben will, ebnete der Schlesier dem Dichten in der Volkssprache, das in der frühen Neuzeit in Deutschland länger als in den romanischen Nach1
2
3
Karl Borinski, Die Poetik der Renaissance und die Anfange der literarischen Kritik in Deutschland. Berlin 1886. Nachdruck Hildesheim 1967. Bruno Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik. Vol. I: Barock und Frühaufklärung. Berlin 3 1964 (zuerst 1937). - Hermann Wiegmann, Geschichte der Poetik. Stuttgart 1977, pp. 39-41. Michael Titzmann, "Poetik." Literaturlexikon. Ed. Walther Killy. Vol. XIV. Gütersloh/München 1993, p. 217.
96
Bernhard Asmuth
barländern verpönt war, und damit zugleich der Barockdichtung den Weg. 4 Stimmen des 17. und 18. Jahrhunderts ebenso wie neuere Literaturgeschichten loben seine Pionierleistung. Über "die Bahn, so ich gebrochen", war er sich auch selber im klaren. 5 Dieser ersten Poetik deutscher Sprache folgten weitere, die das 17. Jahrhundert geradezu als das Zeitalter deutscher Poetik erscheinen lassen. In den gut hundert Jahren zwischen der ersten und letzten deutschen Regelpoetik, also zwischen Opitz' Poeterey und Gottscheds Critischer Dichtkunst (1730), entstanden etwa 40 entsprechende Werke 6 , durchweg Anweisungspoetiken zu Metrik, Stilistik und Gattungslehre mit eher knappen Hinweisen zu allgemeineren Fragen (ζ. B. Mimesis, natura /ars), offenbar allesamt aus der Feder von Protestanten. Das "Fehlen deutschsprachiger Poetiken in den katholischen Territorien" 7 erklärt sich durch die dortige Beibehaltung des Lateinischen, besonders bei den Jesuiten, die übrigens weiterhin auch lateinisch dichteten. Die Konzentration der Forschung auf deutschsprachige, so erst durch Opitz begründete Poetiken hat die Untersuchung und Dokumentation der vorbarocken, hauptsächlich lateinischen Dichtungslehre im deutschen Sprachgebiet lange behindert. Eine umfassende Darstellung und Dokumentation dieser Poetik steht bis heute aus. Sie müßte nicht nur die Texte des Humanismus, sondern auch die poetologischen Äußerungen lateinischer und deutscher Sprache aus dem Mittelalter bzw. die dazu vorliegenden Erkenntnisse einer zusammenhängenden Betrachtung zugänglich machen. Der folgende Überblick dient einer ersten Orientierung, die im Untertitel angedeutete Konzentration auf Celtis einer exemplarischen Verdeutlichung.
4
5
6
7
Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Ed. Richard Alewyn. Tübingen 1963. Martin Opitz, "TrostGedichte in Widerwertigkeit Des Krieges" (1633). Das Zeitalter des Barock: Texte und Zeugnisse. Ed. Albrecht Schöne. München 1963, p. 700. Vgl. Rudolf Baur, Didaktik der Barockpoetik: Die deutschsprachigen Poetiken von Opitz bis Gottsched als Lehrbücher der 'Poeterey'. Heidelberg 1982, p. 238. Baur, Didaktik der Barockpoetik, p. 236. - Auszüge aus 12 dieser Werke bietet: Poetik des Barock. Ed. Marian Szyrocki. Stuttgart 1977. - Noch nicht berücksichtigt ist dort Kaspar Stieler, Die Dichtkunst des Spaten (1685). Ed. Herbert Zeman. Wien 1975.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum 2. Poetik
im
97
Mittelalter
Hinsichtlich des Mittelalters ist in einem Band über Renaissancepoetik Beschränkung geboten. Einige Hinweise zur Text- und Forschungslage dieser Anfangsepoche deutscher Dichtungstheorie seien jedoch erlaubt, schon um die Andersartigkeit des anschließenden Zeitalters deutlicher hervortreten zu lassen. Anders als in der Renaissance verraten die poetologischen Zeugnisse noch kaum nationales Gepräge, sieht man von Otfrieds von Weißenburg Bekenntnis zu "fränkischer Zunge" ("fr£nkisga zungun") in seiner Evangelienharmonie 8 oder von Meinungsäußerungen wie Walthers von der Vogelweide Preislied auf deutsche Frauen einmal ab. Ein zweiter Unterschied betrifft die Intensität und den Verbindlichkeitsgrad der dichtungstheoretischen Reflexion. Diese war, jedenfalls im Hinblick auf volkssprachliche Poesie, weniger ausgeprägt als später im Humanismus. Die klassische Poetik, speziell die des Aristoteles, bildete noch keine verbindliche Bezugsbasis. Eher hielt man sich an die Überlieferung der Rhetorik. Wichtiger als die Theorie fand man im übrigen die Nachahmung literarischer Muster. "Im Mittelalter wurden die Meisterwerke des traditionellen literarischen Kanons regelrecht als Poetiken qua Beispiel aufgefaßt" 9 , und auch sie ließ man nur gelten, soweit sie sich in die christliche Weltanschauung einfügten. Zu einem genaueren Bild der "Literaturtheorie im deutschen Mittelalter" führt die verdienstvolle Monographie von Haug, wenngleich sie den mit dem Titel angezeigten Rahmen nicht ganz ausfüllt. Haug konzentriert sich auf die Prologe der mittelhochdeutschen Epen des späten 12. und des 13. Jahrhunderts (besonders Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Rudolf von Ems), die dem von Chrätien de Troyes vorgegebenen französischen Strukturmodell folgen. Er zeigt, wie die Dichter im Umgang mit gängiger Exordialtopik individuelles Profil gewinnen, wie sie die gewählten Stoffe mit der christlichen Welt- und Werteordnung in Einklang bringen und wie sie ihre eigene Rolle gegenüber fürstlichen Auftraggebern und Publikum definieren. 8
9
Otfried von Weißenburg, "Evangelienbuch I [Auszug]." Die deutsche Literatur: Mittelalter 2. Ed. Helmut de Boor. München 1965, pp. 922-929. - Vgl. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter: Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 2 1992, pp. 29-42. Douglas Kelly, "Ars versificatoria." Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Ed. Gert Ueding. Vol. I. Tübingen 1992, p. 1074.
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Diese Fixierung auf eine Prolog-Poetik macht, wie Haug selber einräumt, seine Studie "in jeder Hinsicht ergänzungsbedürftig".10 Eine umfassende Betrachtung mittelalterlicher Dichtungstheorie sollte auch einbeziehen - das von Haug ausgeklammerte Spätmittelalter11, die mittelhochdeutsche Lyrik (Minnesang, Sangsprüche), speziell das in ihr artikulierte Schwanken zwischen hoher und niederer Minne (bei Walther von der Vogelweide), die Hochschätzung der Dichtung als (Gesangs-)"Kunst" im System der artes liberales (ζ. B. bei Konrad von Würzburg 12 ), auch Lob und Tadel von Dichterkollegen, ζ. B. in sogenannten Scheltsprüchen 13 , - die besonders im Spätmittelalter ausgeprägte lehrhafte Dichtung weltlichen Inhalts mit Äußerungen zu Dichtern und Dichtimg 14 , vereinzelt auch über Regeln des Dichtens (ζ. B. über die Regulierung der Silbenzahl in dem Gedicht eines tinbekannten Autors in der Kolmarer Liederhandschrift 15 ), - geistliche und Bibeldichtung sowie Kommentare zu den poetischen Büchern der Bibel (Psalter, Hohes Lied). Darüber hinaus gälte es auch, die lateinische Literatur ins Auge zu fassen, jedenfalls soweit sie im deutschen Sprachraum entstand oder wirksam war. Dem steht zwar entgegen, daß seit der Geburt der Germanistik aus dem nationalen Geist der Romantik das Fach seine Zuständigkeit auf deutschsprachige Texte beschränkt hat, man die lateinischen Werke des mittelalterlichen Deutschland selbst heute noch lieber "dem größeren,
10 11
12
13
14 15
Haug, Literaturtheorie, p. 5. Vgl. hierzu etwa Thomas Cramer, Geschichte der deutschen Literatur im späten Mittelalter. München 1990. Beispieltexte in Die deutsche Literatur: Mittelalter 1. Ed. Helmut de Boor. München 1965, pp. 663-686. Beispiele in Die deutsche Literatur: Mittelalter 1, pp. 698-701. Zum Lob von Hartmanns klarem und zum Tadel von Wolframs dunklem Stil in Gottfrieds Tristan vgl. Haug, Literaturtheorie, p. 219 f. - Biographische und bibliographische Informationen zu Konrad und zu weiteren der hier und im folgenden genannten Autoren des Mittelalters und der Renaissance bieten: Die deutsche Literatur des Mittelalters: Verfasserlexikon. Ed. Kurt Ruh. Vol. I ff. Berlin/New York 2 1978 ff. - Literaturlexikon. Ed. Walther Killy. Vol. I-XII. Gütersloh/München 1988-1992. Vgl. etwa Cramer, Geschichte der deutschen Literatur, pp. 43 ff., 100 ff. Die deutsche Literatur: Mittelalter 1, pp. 684-686.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
99
übervölkischen Raum der mittellateinischen Literatur" zuordnet. 16 Zumindest in poetologischer Hinsicht bedeutet dies jedoch eine Verkürzung, weil eigentliche Poetiken des Mittelalters in volkssprachlicher Form weder aus Deutschland noch aus anderen Ländern bekannt sind. Die lateinische Literatur des mittelalterlichen Europa ist kein isolierter Bereich, sondern beim Verständnis einer nationalen Kultur wie der deutschen grundsätzlich mitzubedenken. Das betrifft im Hinblick auf die Poetik des deutschen Sprachraums die mittellateinischen, in Frankreich beheimateten Poetiken 1 7 , zwischen deren Theorie und der mittelhochdeutschen Dichtungspraxis es Entsprechungen gibt18 (in diesen Umkreis gehört der Laborintus des in Paris und Orleans ausgebildeten Eberhard von Bremen als einzige mittelalterliche Poetik eines Deutschen 19 ), möglicherweise auch informierende und kommentierende Werke zu Dichtern und Dichtungen (ζ. B. Konrads von Hirsau Dialogus super auctores), lateinische Dichtungen mit programmatischen Implikationen, wie die Lese-Dramen der Roswitha (Hrotsvit) von Gandersheim, die den "heidnischen" Terenz zu ersetzen suchten, Übertragungen poetologisch bedeutsamer Werke ins Lateinische, an denen Männer aus dem deutschen Sprachraum führend beteiligt waren (Wilhelm von Moerbeke aus Brabant übersetzte Aristoteles, u.a. seine Poetik, aus dem Griechischen; Hermann der Deutsche Kommentare des Averroes zu Aristoteles, auch zur Poetik, aus dem Arabischen).
3. Die Forschung
zur
Renaissancepoetik
Die Renaissancepoetik in Deutschland und ihre Erforschung unterliegen grundsätzlich derselben Schwierigkeit wie die mittelalterlichen Texte. Auch hier wirkt die Sprachengrenze zwischen lateinischer Dichtung und 16
17 18
19
Helmut de Boor, Die deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung: 770-1170. München 4 1960 (= H. de Boor & Richard Newald, Geschichte der deutschen Literatur von den Anßngen bis zur Gegenwart. Vol. I), p. 102. Texte bei Edmond Faral, Les arts poitiques du XIle et du XIIIe stiele. Paris 1924. Vgl. Barbara Bauer, "Aemulatio." Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Ed. Gert Ueding. Vol. I. Tübingen 1992, pp. 152-155,158. Text bei Faral, Les arts poitiques, pp. 336-377.
100
Bernhard Asmuth
Poetik einerseits und der wenig anspruchsvollen und von poetologischen Äußerungen kaum begleiteten deutschen Dichtung auf der anderen Seite wie eine Wasserscheide. Im Unterschied zum Mittelalter entfaltet sich diese Poetik aber in einem wesentlich breiteren Spektrum von - nunmehr gedruckten - Texten, und, was wichtiger ist, sie gewinnt jetzt ein spezifisch deutsches Profil. Hinsichtlich des 16. Jahrhunderts ist allerdings nicht nur das Interesse an der Poetik, sondern überhaupt an der in Deutschland entstandenen Literatur bis heute verhältnismäßig gering. Alewyn sprach 1931 von einem "Gesetz des Vakuums", das nach "Auffüllung dieser Lücke" dränge. 20 Newald meinte 1953, daß sich die Forschung vielleicht weniger im Fluß, mehr im Versickern und nur vereinzelt in quellhaftem Strömen zeigt. Ein beliebtes Gebiet ist das Zeitalter nie gewesen. Systematisch sind nur wenige Bezirke und einzelne Gestalten erforscht worden. Dissertationen haben es nur wenig heimgesucht. 21
Zu den Dissertationen bemerkte Fromm in einem Bericht: "Humanismus und Reformation sind mit 9 (von 661 [...]) Themen traditionell schlecht vertreten." 22 Ursachen des Desinteresses waren fehlende Lateinkenntnisse und "der katastrophale Mangel an Editionen, von historisch-kritischen Ausgaben ganz zu schweigen". 23 Buck erwähnt noch 1972 neben den Italienern und einigen Franzosen für die Renaissance keinen Deutschen, nennt Opitz immer noch als ersten deutschen Poetiker. 24 Gemessen an dem Ansehen, das die Barockforschung seit den 60er Jahren durch Editionen und durch Beiträge zu Emblematik und Rhetorik gewonnen hat, wirkt der Erkenntniszuwachs zur Renaissance auch in der jüngeren Vergangenheit bescheiden. Was die Neulateiner betrifft, "muß ihre Literatur auch heute noch als eines der unerforschtesten Gebiete der
20
21
22 23
24
Richard Alewyn, "[Rez.] Georg Ellinger: Geschichte der neulat. Lit. Deutschlands im 16. Jh. (1929)." Deutsche Barockforschung. Ed. R. A. Köln/Berlin 1965, p. 426. Richard Newald, "Deutsche Literatur im Zeitalter des Humanismus: Ein Literaturbericht." DVjs 27 (1953), 309. Hans Fromm, "Bibliographie und deutsche Philologie." DVjs 33 (1959), 457. Rolf Tarot, "Literatur zum dt. Drama und Theater des 16. und 17. Jhs.: Ein Forschungsbericht." Euphorien 57 (1963), 411. August Buck, "Dichtungslehren der Renaissance und des Barock." Renaissance und Barock. Ed. Α. B. Frankfurt/M. 1972, pp. 28-60.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
101
deutschen Literaturgeschichte gelten", hieß es 1976. 2 5 Entner registrierte: "Bisher ist die humanistische
Poetik Deutschlands im 16. J a h r h u n d e r t
höchstens beiläufig als wenig ergiebiges Vorfeld i m R a h m e n
von
Un-
tersuchungen zur deutschen sogenannten Barockpoetik behandelt word e n . " 2 6 Das gilt a u c h n o c h für die Bücher von Fischer, S i n e m u s
und
S c h m i d t . 2 7 Überblicke zur deutschen Literatur der Reformationszeit k l a m m e r n das Neulateinische und damit die Poetiken nach wie vor aus 2 8 oder streifen sie n u r i m Vorübergehen. 2 9 Entner hat mit seinem leicht marxistisch eingefärbten, ansonsten zuverlässigen Beitrag v o n 1972, der bislang wichtigsten Studie zur v o r b a rocken Poetik in Deutschland, jedoch eine gründlichere und v o m Barock unabhängige Betrachtung eingeleitet 3 0 , die er 1984 fortsetzte. 3 1 A u s der Vielzahl der poetologischen Texte, die für den deutschen
Humanismus
relevant und deren Titel überwiegend seit Borinski bekannt sind, greift er sechs heraus, an denen er zeittypische Fragestellungen verdeutlicht. Es handelt sich u m W e r k e von Konrad Celtis (1486), Laurentius C o r v i n u s (1496), Heinrich Bebel (1506), Joachim von Watt alias V a d i a n u s (1518),
25
26
27
28
29
30 31
Eckart Schäfer, Deutscher Horaz: Conrad Celtis, Georg Fabricius, Paul Melissus, Jacob Balde: Die Nachwirkung des Horaz in der neulateinischen Dichtung Deutschlands. Wiesbaden 1976, p. VIII. Heinz Entner, "Zum Dichtungsbegriff des deutschen Humanismus: Theoretische Aussagen der neulateinischen Poetik zwischen Konrad Celtis und Martin Opitz." Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert. Ed. Ingeborg Spriewald u. a. Berlin/Weimar 1972, p. 460, Anm. 228. Ludwig Fischer, Gebundene Rede: Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968. - Volker Sinemus, Poetik und Rhetorik im frühmodernen deutschen Staat. Göttingen 1978. - Reiner Schmidt, Deutsche Ars Poetica: Zur Konstituierung einer deutschen Poetik aus humanistischem Geist im 17. Jahrhundert. Meisenheim am Glan 1980. - Fischer zieht zur Geschichte des aptum bzw. decorum auch humanistische Poetiken aus Deutschland heran (Celtis, Bebel, Pontanus), Sinemus erörtert Abdias Praetorius' De poesi Graecorum ( 2 1571), Schmidt humanistische Vorstufen barocker Prosodie und Wortbildungslehre. Barbara Könneker, Die deutsche Literatur der Reformationszeit: Kommentar zu einer Epoche. München 1975. - Herbert Walz, Deutsche Literatur der Reformationszeit: Eine Einfuhrung. Darmstadt 1988. Hans Rupprich, Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Vol. I. München 1970, pp. 656-661. Entner, "Zum Dichtungsbegriff des dt. Humanismus", pp. 330-398,457-479. Η. Entner, "Der Weg zum 'Buch von der Deutschen Poeterey': Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert." Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Ed. Η. E. u.a. Berlin/ Weimar 1984, pp. 11-95, 439-449.
102
Bernhard Asmuth
Jacob Pontanus (Spanmüller) (1594) und Johannes Caselius (1569). Das zu dem "Erzhumanisten" Celtis von Entner Ermittelte hat Worstbrock 1983 weitergedacht. 32 Als editorische Leistung verdient die Neuausgabe und Übersetzung der Poetik Joachim von Watts Erwähnung. 33 Bibliographisch nach wie vor hilfreich ist die Rhetorik-Bibliographie von Breuer und Kopsch. 34 Ergänzungen und Verdeutlichungen ermöglicht ein polnischer Katalog. 35
4. Konzepte
der
Renaissancepoetik
Eine zusammenfassende Untersuchung in der Art, wie sie Baur für die Barockpoetiken geliefert hat, steht für die gut 40, im weiteren Sinne (mit Grammatiken usw.) rund 70 lateinischen Werke zur Poetik, die zwischen Celtis und Opitz in Deutschland Verbreitung fanden, bis heute aus. Die Texte sind von sehr unterschiedlicher Art. Neben den vorherrschenden, ζ. T. von Ausländern stammenden (Johannes Despauterius, Antonio Mancinelli) Anweisungspoetiken (Celtis, Bebel, Ulrich v o n Hutten 1511, Johannes Murmellius 1515, Pierre Pontanus 1520, Eobanus Hessus 1526, Georg Sabinus 1551, De utraque copia, verborum et rerum, praecepta [anonym] 1568; vgl. auch Mauritius Helingus' Libellus versificatorius 1590), die sich am liebsten Ars versificandi oder wie im Mittelalter Ars versificatoria nennen, sich also vor allem mit metrischen, weniger mit Stil- und Gattungsfragen befassen und sich inhaltlich mit den selbständigen Prosodien (Johannes Clajus 1570, Ludolfus Lithcomus 1626) bzw. Metriken (J ac °t> Wimpfeling 1505, Jacob Micyllus 1561) und den traditionellen Prosodieteilen der Grammatiken (Valentin Ickelsamer 1534, Lorenz Albert 1573, Albert Oelinger 1573, Johannes Clajus 1578) berüh32
33
34
35
Franz Josef Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum' des Konrad Celtis: Ein Lehrbuch eines dt. Humanisten." Studien zum stadtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ed. Bernd Moeller, Hans Patze & Karl Stackmann. Göttingen 1983, pp. 462-498. Joachim von Watt (Vadianus), De poetica et carminis ratione: Kritische Ausgabe mit dt. Übersetzung und Kommentar von Peter Schäffer. 3 vol. München 19731978. Dieter Breuer & Günther Kopsch, "Rhetoriklehrbücher des 16. bis 20. Jahrhunderts: Eine Bibliographie." Rhetorik: Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.-20. Jahrhundert. Ed. Helmut Schanze. Frankfurt/M. 1974, pp. 218-355. Biblioteka universytecka we Wroclawiu, Katalog drukow XV-XV1II w. ζ zakresu poetyki i retoryki. Ed. Adam Skura. Wroclaw 1987.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
103
ren 36 , gibt es etliche Lob- und Verteidigungsreden bzw. -Schriften zur Dichtung (Thomas Murner 1509, Bonifacius Helfricht 1548, Zacharias Orth 1558, Johannes Caselius 1568, Gregor Bersmann 1575), einige Poetiken im engeren Sinne, die das Substantiv Poetica oder das Adjektiv poeticus im Titel führen (Vadianus, Georg Fabricius 1580 u. ö., Jacob Pontanus 1594; vgl. auch Johannes Corvinus' Carminum structura 1496), außerdem Sammlungen poetischer Stellen, Phrasen oder Wörter (Albrecht von Eyb 1459: Margarita poetica37, Hermann Torrentinus 1510, Georg Fabricius 1559, Johannes Büchler 1671), Kommentare zu den Poetiken von Horaz (Jodocus Willichius [Wilke] 1545, Vitus Amerbach 1547, Johannes Sturm 1576) und Aristoteles (Daniel Heinsius 1611) sowie zu den Tragödien von Sophokles (Joachim Camerarius 1568), vereinzelt auch Schriften zu Lyrik (Joannes Honorius Cubitensis 1493) und Tragödie (Johannes Schosser 1569) bzw. Drama.38 Sprachlich und sachlich aus dem Rahmen fällt Adam Puschmanns Grunttlicher Bericht des deutschen Meister Gesanges und der deutschen Versen oder Rittmis von 1584. Im folgenden sei über die bei Borinski, Markwardt, Entner, vereinzelt auch andernorts vorgestellten Quellen und Befunde nicht im Detail berichtet. Vielmehr seien drei Tendenzen herausgegriffen, die darin wirksam und für die frühneuzeitliche Poetik des deutschen Sprachraums charakteristisch erscheinen: 1. die Besinnung auf die nationale, auch nationalsprachliche Eigenart, 2. die - vor allem durch Luther betriebene - christliche Didaxe und 3. die Beteiligung am eigentlichen Humanismus. Deutsch, christlich, humanistisch: Das sind die Konzepte, in deren Rahmen sich die vorbarocke Poetik in Deutschland bewegt.
4.1. Deutsche Themen und
Sprachformen
Die Begeisterung für nationale Eigenart und Vergangenheit, die unter den
36 37 38
Zu Oelinger, Albert und Clajus vgl. Schmidt, Deutsche Ars Poetica, pp. 84-107. Vgl. Rupprich, Die deutsche Literatur, vol. I, p. 656 f. Vgl. Philipp Melanchthon, "Epistola de legendis Tragoediis et Comoediis" (1545). Corpus Reformatorum. Vol. V. Halle 1838. Nachdruck New York/London 1963, pp. 567-572. - Auszüge aus der Tragödientheorie des 16. Jhs. (Celtis, Melanchthon, Luther, Johann Vogelsang, Joachim Camerarius, Jacob Micyllus, Georg Fabricius, Jacob Pontanus) druckt und übersetzt David E. R. George, Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. München 1972, pp. 47-84.
104
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deutschen Humanisten aufkam 39 , äußert sich in Celtis' Editionen der Germania des Tacitus (1500) und der wiederentdeckten Schriften der Roswitha (Hrotsvit) von Gandersheim (1501), weiterhin in den Darstellungen deutscher Geschichte des Bayern Johannes Turmair alias Aventinus, der auf Latein und ab 1526 auch auf Deutsch eine Bayerische Chronik schrieb, und des Elsässers Beatus Rhenanus (Rerum Germanicarum libri III, 1531), schließlich auch in ersten Grammatiken zur deutschen Sprache (Ickelsamer 1534, Albert, Oelinger, Clajus) und einer Orthographia Deutsch (Fabian Frangk 1531), die den sprachpflegerischen Bemühungen des 17. Jahrhunderts vorarbeiten. Im Rahmen der Poetiken klingen patriotische Töne bei Heinrich Bebel an 40 , ebenso bei Joachim von Watt, der auf die altdeutsche Heldendichtung hinweist. 41 Auch gelehrte und lateinsprachige Dichter wie Paul Melissus Schede äußern sich - sogar auf deutsch - in diesem Sinne. 4 2 Für die poetische Praxis bedeutsam sind erste Reflexionen über die metrische Eigenart des Deutschen, wie sie Paul Rebhuhn, "ein Humanist, Schulmeister und protestantischer Pfarrer"43, 1540 im Vorwort seiner Bearbeitung des Pammachius-Dramas von Thomas Naogeorg mit der Empfehlung anstellt, in Form von Jamben und Trochäen eine "gewisse Anzahl der Silben [...] zu halten, auch nicht wider den Accent zu stolpern". 44 Seine Überlegungen wie auch die der Grammatiker Oelinger, Albert und Clajus 45 nehmen einiges von dem vorweg, was Opitz mit seiner Reform des deutschen Verses dann allgemein durchsetzte. Theobald Höck oder Hock meint 1601 in seinem Gedicht Von Art der Deutschen Poeterey: Warumb sollen wir den vnser Teutsche sprachen / Jn gwisse Form vnd Gsatz nit auch mögen machen / Vnd Deutsches Carmen schreiben /
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41
42
43 44 45
Zusammenfassend dazu Entner, "Der Weg zum 'Buch von der Deutschen Poeterey"', p. 85 ff. Vgl. Entner, "Zum Dichtungsbegriff des dt. Humanismus", p. 366.
Watt, De poetica et carminis ratione, Kap. 4, vol. II, pp. 49-51. Vgl. Entner, "Der Weg zum 'Buch von der Deutschen Poeterey'", p. 71. Vgl. Entner, "Der Weg zum 'Buch von der Deutschen Poeterey'", p. 86.
Dieter Breuer, Deutsche Metrik und Versgeschichte. München 1981, p. 155.
Nach Andreas Heusler, Deutsche Versgeschichte. Vol. III. Berlin 21956, p. 110. Nach Breuer, Deutsche Metrik, p. 156. Zu Clajus vgl. Entner, "Der Weg zum Buch von der Deutschen Poeterey"', pp. 82-84.
105
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum Die Kunst zutreiben / Bey Mann vnd Weiben. 46
4.2. Der christliche Der christliche
Beitrag
Anteil an der Poetik der Renaissance ist auf den ersten
Blick eher negativer Art, erscheint als Behinderung, gegen die es die Poesie und deren Rückgriff auf "heidnische" Autoren zu schützen galt. So erklären sich die in Deutschland wie anderswo verbreiteten, ζ. B. von Caselius unternommenen Versuche, Dichtung und ihre Ausrichtung an der Antike gegen fromme Einwände von Theologen zu verteidigen 47 oder sie gar als Tochter der Theologie 48 oder "verborgene Theologie" 49 auszugeben. Andererseits hat christliches Denken auf Poesie und Poetik auch befruchtend gewirkt, in Deutschland, dem Ausgangsland der Reformation, offenbar mehr als anderswo. Luther trat für die Umorientierung
vom
Latein zur Volkssprache ein und machte diese gesellschaftsfähig. Er verfaßte bzw. verdeutschte Kirchenlieder, rief die deutschen Poeten auf, sich daran zu beteiligen. Er bemühte sich um die Gattung der äsopischen Tierfabel. Seine Sympathie gegenüber dem Drama wirkte dessen Verdächtigung als Teufelskunst entgegen, ebnete dem Schultheater den Weg. "Comödien zu spielen soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen", heißt es in den Tischgesprächen.50
Luthers Notiz zu den Büchern Judith und Tobias des Alten
Testaments liest sich als Einladung zum Dichten von
46
Bibeldramen:
Nach Breuer, Deutsche Metrik, p. 159. - Zum Gesamtzusammenhang vgl. Wilhelm Kühlmann, "Nationalliteratur und Latinität: Zum Problem der Zweisprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands." Nation
und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Ed. Klaus Garber. Tübingen 1989,
47
48
pp. 164-206. Vgl. Entner, "Zum Dichtungsbegriff des dt. Humanismus", p. 388 ff.
Watt, De poetica et carminis ratione, Kap. 17. Zu früheren Entsprechungen vgl. Ernst Robert Curtius, "Theologische Poetik im italienischen Trecento." Zeit-
schrift fiir romanische Philologie 60 (1940), 1-15; August Buck, "Dichtung und 49 50
Dichter bei Cristoforo Landino." Romanische Forschungen 58/59 (1947), 235.
Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey, Kap. 2, p. 7. Nach Walz, Deutsche Literatur der Reformationszeit, p. 113.
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Bernhard Asmuth
"Judith gibt eine gute / ernste / dapffere Tragedien / So gibt Tobias eine feine liebliche / gottselige Comedien."51 Die Schwerpunktverlagerung vom Epos zum Drama in der Dichtungstheorie der frühen Neuzeit, wie sie etwa bei Scaliger zu beobachten ist, erklärt sich also nicht nur aus der Wiederentdeckung der Poetik des Aristoteles, sondern auch aus der Verwendbarkeit des Theaters als besserer Kanzel. Noch stärker als Luther haben die Jesuiten die Propagandawirkung des Schauspiels erkannt, genutzt und, wie Jacob Pontanus (1594) und später Jacob Masen (1657), theoretisch begleitet. Die Blüte der katholischlateinischen und der protestantisch-deutschsprachigen Schulbühne bis hin zum barocken "Kunstdrama" der Schlesier Gryphius und Lohenstein verdankt sich dem Wettbewerb der Konfessionen und ihrer Gymnasien bzw. Gelehrtenschulen.
4.3. Humanistische
Poetik
Das humanistische Konzept repräsentieren zunächst und vor allem der aus der Gegend um Schweinfurt stammende Konrad Celtis und dessen Schüler. 52 Mit seiner Ars versificatoria et carminum, "die er vermutlich im Sommer 1486 schrieb und in Leipzig publizierte"53, war Celtis der erste deutsche Humanist, der sich als Verfasser einer Poetik hervortat. Er schrieb auch lateinische Gedichte, etwa eine Ode An den Dichterfreund Apollo, er möge aus Italien nach Deutschland kommen, in der es heißt: "Komm denn mit dem klingenden Saitenspiel ins / Land der Barbaren."54 Seine Schüler wandten sich teils metrischen Fragen, wie der Schlesier Laurentius Corvinus, teils, wie der Schweizer Joachim von Watt, all-
51
52
53 54
"Vorrede auffs Buch Tobie." In: M. Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deutsch. Wittenberg 1545. Nachdruck Darmstadt 1972, vol. II, p. 1731. Vgl. Walz, Deutsche Literatur der Reformationszeit, p. 113. Über die Forschungslage zu Celtis und zur Literatur der frühen Neuzeit in Deutschland referiert Klaus Garber, "Zur Konstitution der europäischen Nationalliteraturen." Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Ed. K. G. Tübingen 1989, pp. 39-44. Entner, "Zum Dichtungsbegriff des dt. Humanismus", p. 351. Summa poetica: Griechische und lateinische Lyrik von der christlichen Antike bis zum Humanismus. Ed. Carl Fischer. München 1967, p. 677.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
107
gemeinen Aspekten der Dichtungstheorie zu. Dem Humanismus zuordnen lassen sich auch die von Deutschen verfaßten Horaz-Kommentare und die Bemühungen um die Poetik des Aristoteles (Jacob Pontanus, Daniel Heinsius). 55 Schon eine Generation vor Celtis hatte Peter Luder in Heidelberg humanistische Vorlesungen über Dichtung angeboten und dies in seiner erhaltenen Antrittsrede von 1456 programmatisch angekündigt. Anfang und erster Höhepunkt des deutschen Humanismus gehen der Reformation also um Jahrzehnte voraus. Die Lutheraner führten durch Philipp Melanchthon, den "praeceptor Germaniae", von Wittenberg aus diese Bestrebungen weiter. Während
nationales und
christlich-reformatorisches Denken der
frühneuzeitlichen Poetik in Deutschland eine erkennbar eigene Prägung verleihen, ist der deutsche Humanismus in seinem Bemühen um Wiederbelebung der Antike von dem anderer europäischer Länder schwer zu unterscheiden. Bei genauerer Betrachtung deutet sich allerdings auch in dieser Hinsicht deutsche Eigenart an. Dies gilt etwa für die Dichtungsdefinition von Celtis, auf die Entner und Worstbrock aufmerksam gemacht haben.
5. Die Dichtungsdefinition von Celtis als Vorläufer zu den Kreativität und Lebendigkeit
Schreibidealen
Ahnlich wie in mittelalterlichen Dichtungslehren herrscht in Celtis' Ars versificandi
die metrische Unterweisung vor. 56 Das Werk erweist sich in
den metrischen Teilen "fast zur Gänze als eine Kompilation" 57 lateinsprachiger Quellen deutscher und italienischer Herkunft. Mit letzteren mag Celtis durch seinen Heidelberger Lehrer Rudolf Agricola bekannt geworden sein; "diesem habe er, der er selbst noch nicht in Italien
55 56 57
Vgl. Entner, "Zum Dichtungsbegriff des dt. Humanismus", p. 382. Vgl. Rupprich, Die deutsche Literatur, vol. I, p. 657 f. Zur Textlage vgl. Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum"', p. 466, Anm. 15. Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum"', p. 469.
108
Bernhard Asmuth
gewesen sei, alle Fähigkeiten zu verdanken", bekennt er in seinen einleitenden Distichen Ad
lectorem.58
Andererseits äußert Celtis über das Wesen der Dichtung Gedanken, die "in Deutschland gänzlich neuartig, epochal neuartig waren" 5 9 und die, soviel man weiß, auch über das zeitgenössische Ideengut der Nachbarländer hinausgehen; "die erste zusammenhängende Dichtungslehre des italienischen Humanismus, die bekannt ist, die 'De poetice libri III' des Bartolommeo della Fonte, entstand nicht vor 1490"60, also erst nach Celtis' Ars. Allerdings entwickelte Cristoforo Landino seine Gedanken zur Dichtung und damit den wichtigsten Beitrag des Florentiner Piatonismus zur Poetik (der dann in seinen Dante-Kommentar Aufnahme fand) bereits seit seiner Antrittsvorlesung von 1458.61 Die Beschreibung der Dichtkunst und ihrer Zielsetzung, die Celtis zu Beginn des Abschnitts "De compositione materiali carminum" liefert, ist ein hochinteressantes Zeugnis poetischer Theoriebildung, insofern sie eine Reihe älterer Vorstellungen verknüpft und durch neue Elemente anreichert. Von diesen Theoremen, die sich in ähnlicher Kombination später auch außerhalb Deutschlands, etwa bei Vida oder Scaliger, finden, haben einige die weitere Geschichte der Poetik und Ästhetik entscheidend geprägt. Die Passage, wichtig vor allem in ihrer zweiten Hälfte, lautet in Entners Übersetzung: Dem Dichter obliegt es, Sitten und Handlungen, Geschichte, Orte und Völkerschaften, die Gestalt der Länder, die Flüsse, die Bahnen der Gestirne sowie mit symbolischen Zeichen das Wesen der Dinge und die seelische und geistige Bewegtheit der Menschen in bilderreicher schöner Gestaltung der Rede und der dichterischen (Vers-)Form darzustellen, Abbilder der Dinge mit gewählten Worten in zierlichem, gesetzmäßig geregeltem Versbau auszudrücken. Mit Recht wird also das Versmaß als das Werkzeug des Dichters so charakterisiert: Es beobachtet eine bestimmte Ausdehnung der Versfüße nach Maßgabe der Zahl der Silben wie ihrer Zeitdauer, wobei nichts verkürzt oder zerdehnt wird und ein wahres Bild der Dinge zum Ausdruck kommt. Es ist nicht damit getan, daß
38 59 60
61
Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum"', p. 466. Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum'", p. 474. Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum"', p. 476.
Manfred Lentzen, Studien zur Dante-Exegese Cristoforo Landinos. Köln/Wien 1971, p. 31 f. - Vgl. August Buck, Der Einfluß des Piatonismus auf die volkssprachige Literatur im Florentiner Quattrocento. Krefeld 1965, p. 26.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
109
man eine Anzahl von Silben nach festem Maß zusammenfügt, sondern es kommt darauf an, durch wechselnden und eigentümlichen Rhythmus ein wahres B i l d der Dinge im Versbau auszudrücken und so schön zu gestalten, daß die Rede Lebhaftigkeit und lebendige Kraft der Gegenstände annimmt und beim Schreiben das zu Beschreibende wieder lebendig zu werden scheint. Deshalb besteht das größte Verdienst des Schreibenden darin, daß er gleichsam etwas Unerschaffenes, vorher nicht Existentes, beim Schreiben selbst zu schaffen und recht deutlich zu machen scheint. Zweierlei also muß der Poet beherrschen: einmal die fehlerlose und kunstvolle Rhythmisierung der Rede und zweitens die klar umgrenzte, treffende Abbildung der Gegenstände sowie den angemessenen Ausdruck dieser Abbilder. Wovon das erste in der Kunstlehre übermittelt wird, während das zweite durch Nachahmung van Vorbildern bequem zu erlangen ist, wem man nur die anerkannten Schriftsteller fleißig studiert ... 62 Sieht m a n von der imitatio
bzw. aemulatio
veterum
ab, die a m Schluß als
praktische Empfehlung anklingt, so wirken in bezug auf das eigentliche Dichtungsverständnis folgende Theoreme zusammen: 1. die klassische Auffassung der Dichtung als einer Abbildung bzw. Nachahmung (Mimesis) der Wirklichkeit,
62
Entner, "Zum Dichtungsbegriff des dt. Humanismus", p. 352 f.- Die lateinische Fassung lautet (nach Entner, ebenda, p. 463 f., Anm. 36): "Officium poete est, figurato atque decoro orationis et carminis contextu mores, actus, res gestas, Ioca, gentes, terrarum situs, flumina, siderum cursus, rerum naturas translatis signis, mentium animorumque affectus effingere electisque verbis rerum simulacra concinna et legitima quadam verborum mensura exprimere. Recte ergo instrumentum poete, quod est metrum, diffiniunt: quod certam dimensionem pedum secundum sillabarum et temporum numerum obseruat, nihil diminutum neque otiosum continens, vera rerum ymagine expressa. Parum enim est, numerum sillabarum certa mensura comprehendere, nisi per varias figuras et proprias veram rerum in metro ymaginem expresseris ac belle depinxeris, vt viuacitatem et vigorem quendam vitalem rerum secum afferat oratio et scribendo reuiuiscere res videatur. Itaque scribentis in eo summa laus erit, vt quasi non factam rem scribendo efficere clarioremque reddere videatur. Inde hec duo poete necessaria sint: tersa atque polita orationis modulatio et demum definita ac appropriate rerum scribendarum effigiatio debitaque simulacrorum expressio. Quorum alterum ex arte, ex imitatione reliquum facile consequi poterimus, si sedula nobis lectione scriptores reuoluantur ..." Entner gibt den Text nach dem Zweitdruck wieder, dessen Leipziger Ausgabe er (p. 487, Anm. 32) 1487, Worstbrock ("Die 'Ars versificandi et carminum'", p. 466) um 1494 vermutet. Dieter Wuttke ("Celtis." Literaturlexikon. Vol. II. Ed. Walther Killy, Gütersloh/München 1989, p. 395) gibt 1492 an. Vom Erstdruck, den Worstbrock zugrunde legt, weicht der Zweitdruck "nur in Lesarten" ab (Worstbrock, ebenda, p. 466).
110
Bernhard Asmuth
2. die klassische Theorie des Rhythmus bzw. numerus, der als spezielle Form solcher Abbildung begriffen wird63, 3. das seit Aristoteles geläufige, seit Quintilian erstrangige rhetorisch-poetische Ideal der Angemessenheit (decorum, aptum), 4. das ebenfalls vor allem durch Quintilian propagierte rhetorisch-poetische Ziel der Vergegenwärtigung (Hypotyposis, evidentia) abwesender oder vergangener Zustände oder Geschehnisse, die Vorstellung, sie mittels sprachkünstlerischer Mittel dem Zuhörer oder Leser vor Augen rücken zu können, ein Theorem, das im 18. Jahrhundert die Aufwertung der Imagination bzw. Bildlichkeit zur zentralen poetischen Qualität beeinflußt hat und das in der Linguistik seit Karl Bühler als "demonstratio ad oculos" oder "Deixis am Phantasma" diskutiert wird.64 Zu diesen altbewährten, allenfalls in ihrer Kombination neuen Vorstellungen gesellen sich zwei für die Neuzeit charakteristische, die anscheinend in der Renaissance aufgekommen sind, den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit aber beide erst im 18. Jahrhundert erreichten: 5. die Auffassung des Schreibens als Schaffen, des Dichtens als eines schöpferischen, quasi göttlichen Tuns, 6. die Gleichsetzung der vergegenwärtigenden Kraft von Dichtung mit Belebung bzw. Wiederbelebung. Die Auffassung des Dichtens als schöpferischer Tätigkeit berührt sich mit dem altgriechischen Enthusiasmus, ist aber noch mehr dem jüdischchristlichen Glauben an einen Schöpfergott verpflichtet, der die Welt aus dem Nichts geschaffen haben soll. Dieser Glaube an die productio ex 65 nihilo, nicht ex aliquo war der heidnischen Antike eher fremd. Sie dachte sich den göttlichen Demiurgen lieber als bildenden Künstler, der die Dinge und den Menschen nicht aus nichts geschaffen, sondern etwa aus Lehm geformt habe, oder sie stellte sich die Entstehung der Welt als Ergebnis mythischer Paarungen, ζ. B. von Dunkelheit und Chaos, vor. Celtis deutet den Dichter vom passiv Inspirierten renaissancegemäß zum aktiv Schaffenden um.
63 64 65
Vgl. Barbara Bauer, Jesuitische "ars rhetorica" im Zätalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt/M. 1986, p. 177 ff. Vgl. Georg Sitta, Deixis am Phantasma. Bochum 1991. Vgl. Godo Lieberg, Poeta Creator. Amsterdam 1982, p. 161 f.; Ludwig Ott, Grundriß der katholischen Dogmatik. Freiburg 1954, pp. 91-93.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
111
Der Aspekt des selbständig Schöpferischen, schon in Boccaccios Göttergenealogien und in Giannozzo Manettis Traktat De dignitate et excellentia hominis von 1452 anklingend 66 , mag wenig später bei den Florentiner Pia tonikern um Ficino67, die Celtis kurz nach Veröffentlichung seiner Ars während eines Italienaufenthalts auch persönlich kennenlernte, mag besonders bei Landino bereits voll ausgeprägt 68 , "die abbildende Qualität metrischer Mittel bei italienischen Theoretikern zumindest des späteren 15. Jahrhunderts im Gespräch" gewesen sein. 69 Das Bündel der Merkmale, das Celtis mit seiner Dichtungsauffassung schnürt, wirkt dennoch neu, markiert laut Worstbrock eine "als historisch zu bezeichnende Wende", "verleiht Teilen der 'Ars' wahre Züge eines Buches der Renaissance". 70 Celtis, so Worstbrock, "begründete damit in Deutschland einen gänzlich neuen Begriff der Dichtung". Deren Einfluß nachzugehen, sei "Aufgabe einer eigenen Untersuchung, für die es nur wenige Vorarbeiten gibt". 71 Wichtig ist, daß Celtis den Aspekt des Schöpferischen weniger ans Dichten überhaupt als an dessen schriftliche Form bindet. Das erinnert an die Buchstabenmagie der Kabbala, von der Ficino beeinflußt war und die auch in Deutschland wirksam war. 72 Alles in allem bietet Celtis' Dichtungsauffassung Anlaß, von der alten Instrumentalisierung deutscher Renaissancepoetik als bloßer Vorstufe des Zu Boccaccio und Manetti vgl. August Buck, "Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis." Archiv für Kulturgeschichte 42 (1960), 65 f.; zu Manetti auch Eugenio Garin, Der italienische Humanismus. Bern 1947, pp. 61-63. Die vergleichbare Rede De dignitate hominis des Florentiners Giovanni Pico della Mirandola wurde erst 1487 verfaßt und 1496 gedruckt. 67 Ficino meinte, "Die menschl. Seele sei aus Gott und strebe nach Wiedervereinigung mit ihrem Urgrund. Im Erkennen schaffe sie die Dinge geistig nach und nehme so am göttl. Lichte teil." (Brockhaus Enzyklopädie, Bd. VI, Wiesbaden 1968, p. 222) 68 "Aus der Etymologie des Wortes [poeta], dem griechischen Verb 'po[i]ein' folgert Landino, die Tätigkeit des Dichters stehe dem Schaffen Gottes aus dem Nichts näher als dem Tun des Menschen, der etwas aus bereits vorhandenen Teilen zusammensetzt" (Buck, Der Einfluß des Piatonismus, p. 27). - Ähnlich schon Buck, "Dichtung und Dichter bei Cristoforo Landino", p. 242. - Vgl. auch Lentzen, Studien zur Dante-Exegese Cristoforo Landinos, p. 31 f. ® Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum'", p. 477. 70 Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum'", p. 479. 71 Worstbrock, "Die 'Ars versificandi et carminum'", p. 477. 72 Vgl. Johannes Reuchlin, De verbo mirifico (Basel 1494). De arte cabalistica (Hagenau 1517). Faksimile-Neudruck [beider Schriften], Stuttgart 1964. - Reuchlin, vier Jahre älter als Celtis, wurde von diesem in einer Ode besungen, vermutlich aus Anlaß ihres beiderseitigen Aufenthalts in Heidelberg um 1496. 66
112
Bernhard Asmuth
Barock noch stärker als bisher abzugehen. Sein Dichtungsverständnis ist weniger vorbarock als frühmodern. Die Saat seiner Gedanken ging, wie gesagt, erst in der Poetik und Ästhetik des 18. Jahrhunderts richtig auf. Die Auffassung des Dichters als "alter deus" (Scaliger) und "second maker" (Shaftesbury) führte zum Geniekult des Sturm und Drang, wie er sich am markantesten in Goethes anklagend-stolzer Prometheus-Hymne kundtut. Noch innovativer als Celtis' Reflexion poetischen Schöpfertums und von kaum geringerer Nachwirkung ist allerdings seine Zusammenschau von Dichtung und Leben (Punkt 6). Die belebende Kraft, die er der Dichtung zuweist, paßt zwar bestens zum Selbstverständnis der "Renaissance" als Wiedergeburt, als Wiederbelebung antiken Geistes, ist aber, soweit ich sehe, als Theorem frühneuzeitlicher Poetik bisher nicht diskutiert worden, findet auch bei Worstbrock keine nähere Beachtung. Beeinflußt wurde die Verknüpfung von Dichtung und Leben vielleicht durch die antike Metapherntheorie, speziell durch Aristoteles' Hinweis auf die belebenden Metaphern Homers. 73 Stärker wirkte wohl der griechische Enthusiasmus-Glaube in Verbindung mit der stoisch-christlichen Pneuma- bzw. Inspirationslehre 74 , möglicherweise vermittelt durch den Neuplatonismus der italienischen Humanisten. 75 Wichtiger als die Vorgeschichte ist indes, daß auch diese für die Renaissance durchaus charakteristisch erscheinende, aber zunächst eher versteckt wirksame Idee sprachkünstlerischer Belebung 76 über die Epoche hinausweist. Sie hat sich - deutlicher noch als das ja schon in der Renaissance mächtige Kreativitätsdenken - erst in der Epoche der Aufklärung und Empfindsamkeit voll entfaltet. Ihr Weg führt über das Stilprinzip Leben73 74
75
Aristoteles, Rhet. III 11, 1411b-1412a. Vgl. Quintilian, Inst. or. VIII. 6. 9-11. Die antike Stoa begriff Pneuma als Lebenskraft. Anregend sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen zur Natursprachenlehre, zur mystischen Sprachlehre und zur Sprachtheorie des Humanismus, Schottels und Harsdörffers bei Wolfgang Kayser, Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Göttingen 2 1962, pp. 137-186. In diesem Zusammenhang ist das damalige Nachdenken über Unsterblichkeit von Interesse. Ficinos Theologia Platonica von 1483 trägt den Untertitel De im-
mortalitate videlicet animorum ac aeterna felicitate. Ficino war als Arzt übri-
gens auch am irdischen Leben interessiert. Vgl. seine Schrift De vita (Venedig 1498, Nachdruck Hildesheim/New York 1978). - Zum Dogma erhoben wurde der christliche Glaube an die Unsterblichkeit der individuellen Seele erst auf dem 5. Laterankonzil von 1512-17. Vgl. Ott, Dogmatik, pp. 112-114. Ott verweist auf G. Heidingsfelder, "Zum Unsterblichkeitsstreit in der Renaissance." Aus der
76
Geisteswelt des Mittelalters. Münster 1935, pp. 1265-1286. Vgl. auch B. Asmuth, "Angemessenheit." Hist. Wörterbuch der Rhetorik. Vol. I, p. 596.
Anfänge der Poetik im deutschen Sprachraum
113
digkeit, das sich im frühen 18. Jahrhundert als Variante des klassischen Bemühens um Vergegenwärtigung bzw. Anschaulichkeit einbürgerte 77 , über die damals sprichwörtliche vwida vis (animi) und über die organologisch-genetische Dichtungs-, Sprach- und Geschichtsauffassung des Zeitalters Herders und Goethes, die man als "deutschen Denkhabitus" gedeutet hat 7 8 , weiter zum Vitalismus und zur Lebens-, Erlebnis- und Lebenswelt-Philosophie der Zeit um und nach 1900, als man, wie Thomas Mann in seiner Erzählung Beim Propheten mokant bemerkt, "ein gewisses Verhältnis zum Leben" hatte. Das Ideal sprachlicher Lebendigkeit hat sich unter wechselnden ideologischen Vorzeichen bis heute erhalten, inzwischen weniger in bezug auf Dichtung als im Hinblick auf - vor allem schriftliche und durch Stilbildung zu schulende - Gebrauchsprosa. "Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben." So eröffnete Nietzsche 1882 seine an Lou von Salome gerichteten zehn Sätze "Zur Lehre vom Stil". 7 9 "Der Buchstabe tötet, aber der Geist machet lebendig" ( p n e u m a zoopoiei), heißt es im 2. Korintherbrief (3,6). Es ist nicht ohne Paradoxie, daß die Vorstellung vom Leben der Dichtung in eben jener Zeit Fuß faßte, als sich die Buchstaben dank Gutenbergs Erfindung massenhaft ausbreiteten. Alphabetisierung und Aufstieg der Lebendigkeit nicht nur zum Dichtungs-, sondern dann auch zum allgemeinen Schreibideal gehen Hand in Hand. Vielleicht war der tote Zustand des graphischen Mediums nur auszuhalten, indem man es wie seine oralen, klanglich-rhythmischen Entsprechungen als belebend, indem man jedenfalls die dadurch vermittelten poetischen Inhalte als lebendig oder wiederbelebt begriff. Eine besondere, eine sehr literarische, eine höchst "buchstäbliche" Art von Renaissance.
77
78 59
Vgl. Reinhard M. G. Nickisch, Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern
des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 1969, p. 220 f. - Gottfried Willems, Anschaulichkeit. Tübingen 1989, p. 272 ff. - B. Asmuth, "Stilprinzipien, alte und neue: Zur Entwicklung der Stilistik aus der Rhetorik." Stil, Stilistik, Stilisierung. Ed. Eva Neuland & Helga Bleckwenn. Frankfurt/M. 1991, pp. 31-33.
Μ. Η. Abrams, Spiegel und Lampe. München 1978, p. 255.
Vgl. Hans-Martin Gauger, "Nietzsches Auffassung vom Stil." Stil. Ed. Hans Ulrich Gumbrecht & K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M. 1986, pp. 200-214. - Helga Bleckwenn, "'Der Stil soll leben': Nietzsches Lehre vom Stil - aus didaktischer Sicht interpretiert." Stilfragen. Ed. Willi Erzgräber & Hans-Martin Gauger. Tübingen 1992, pp. 42-58.
KEES MEERHOFF
Imitation: Analyse et creation textuelles [Sed] debet imitatio quandam efficere similitudinem, ut cum ipsi genuimus orationem, agnosci tamen possit quod exemplum secuti simus. Philippe M&anchthon, Commentarius in librum De Oratore III.
Depuis un certain nombre d'anndes on observe une attention croissante portäe ä l'articulation des 'sciences du langage' ä la Renaissance. Ainsi, Jacques Chomarat s'attache, dans sa grande th£se, ä dimontrer les multiples rapports entre grammaire et rh^torique chez Erasme; avant lui, Cesare Vasoli avait d£jä pos£ les fondements de ce type de recherche en publiant, d£s 1968, son £tude sur la dialectique et la rh^torique dans l'humanisme europäen. Plus räcemment, deux colloques, l'un en Angleterre, l'autre en France, ont a nouveau aliments la reflexion sur cette fascinante question. Le colloque anglais a notamment d£montr£ l'importance vitale de la rh'ie (t> gdi&c * crew« ) 7hr edrrh,it's Hdthtr)dnd with tbtt Jt'i Zenith mdke Eternity. THE
Fig. 8
Frontispiece of The Devout
Hart, 1638. Re-issue with e m b l e m
pictures of the series Cor Iesu amanti
sacrum.
360
Fig. 9
Karl Josef Höltgen
Jesus knocks at the door of the heart. The Devout
Hart, p. [45].
Emblematic Theory and Practice
Fig. 10
361
Jesus durchsucht das Herz. Johann Rittmeyer, Himmlisches Freuden-Mahl der Kinder Gottes auf Erden. Lüneburg 1761, p. 57 (Courtesy Pennsylvania State University Libraries).
DEREK N.C. WOOD
Aristotle and Milton's Poetics It is with a respect approaching veneration that Milton refers to the Greek philosopher whose Poetics, he says, are infused with "sublime art." 1 Many scholars before and since Ruth Mohl would agree with her opinion that Milton's "preoccupation with Aristotle was a fundamental, lifelong pursuit." 2 W. B. Hunter has shown how Milton entered into the very spirit of the Greek, adapting his terms subtly to explain such Christian theological concepts as the persons of the Trinity.3 It is in this spirit of inventive imitativeness that Milton adapts Aristotelian dramatic theory in his tragedy as well as in Paradise Lost. As B. R. Rees remarks: "Aristotle's theory and Milton's practice were derived from the same original source; they converged upon each other, met and joined [...]"4; Rees was speaking of Samson Agonistes but the same can be said of Paradise Lost, if one allows for the importance of his Virgilian model text. Paradise Regained, Milton's "brief epic", has Aristotelian features in its treatment of mythos, ethos and dianoia, but with its perfect hero and its Biblical antecedents, it is a special case and will not be included in this discussion. Milton's tragedy itself presents special problems. Its interpretation is the site of the most intense controversy in contemporary studies of Milton. Inevitably, this has led to disagreement about the Aristotelian features of Milton's implicit dramatic theory. In the pages below, it will be suggested that Milton's poetics are even more elegantly Aristotelian than is generally affirmed. It is also true that the syncretism of Milton's Christian humanist poetics resulted in 1
2 3
4
John Milton, Complete Prose Works. Ed. Don M. Wolfe et al. 8 vols. New Haven 1953-1982, vol. II, p. 404. Referred to below as CP. The poetry is referred to in The Poems of John Milton. Ed. John Carey & Alastair Fowler. London 1968. Ruth Mohl, John Milton and his Commonplace Book. New York 1969, p. 39. W.B. Hunter, "Milton's Theological Vocabulary." Bright Essence: Studies in Milton's Theology. Ed. W.B. Hunter, C.A. Patrides & J.H. Adamson. Salt Lake City 1972, pp. 15-25. B.R. Rees, Aristotle's Theory and Milton's Practice: "Samson Agonistes". Birmingham 1972, p. 18.
Aristotle and Milton's Poetics
363
brilliant new inventions as he adapted Aristotelian principles to seventeenth century Puritan theology. There have been many valuable discussions of Milton's neo-Aristotelian theory and practice, which I will indicate but avoid rehearsing at length. Irene Samuel notes that Milton accepted Aristotle's view that poetry imitates human actions, finding it so obvious that he did not bother to debate it in his preface to Samson; then, she shows how his own "epic poetry represents a human action; [...] like every such representation, assuming a reality to imitate." 5 As Milton says in the Argument for Book 1: "This first book proposes [...] in brief, the whole subject, man's disobedience and the loss thereupon of Paradise wherein he was placed." On the other hand, Joseph Pequigney points out the kind of modification, perhaps unconscious, that was "common in Aristotelian criticism of the Renaissance": In ascribing a didactic function to poetry, as he habitually does [...], Milton takes a stand with Plato and Horace and the vast majority of Renaissance critics but not with Aristotle. Yet the first sentence of the epistle to Samson Agonistes reveals that the author is unaware of this deviation.6
In Reason of Church Government, Milton questions whether the epic poet should essentially imitate the great epics of the past [...] or whether the rules of Aristotle herein are strictly to be kept, or nature to be follow'd which in them that know art, and use judgement is no transgression, but an inriching of art. 7
What he means by "nature" is something of a puzzle. Pequigney thought it meant "the bent of one's native genius." 8 C. S. Lewis, quite otherwise, thought Milton had in mind a kind of epic unlike Aristotle's: that of Boiardo, Ariosto and Spenser, emphasising love, the marvellous and the unAristotelian "multiple action of interwoven stories." 9 Milton's choice of the "Aristotelian" unified action is helpfully discussed by the writers just cited and also by G. de F. Lord, 10 who examine 5
6
Irene Samuel, "Paradise Lost as Mimesis." Approaches to Paradise Lost. Ed. C.A.
Patrides. London 1968, pp. 15-29. Joseph Pequigney, "Poetics, Milton's." Λ Milton Encyclopedia.
Jr. etal. Lewisburg/London 1979, vol. VI, p. 159.
7 8
9 10
Ed. W.B. Hunter
Milton, CP 3. 237. Pequigney, "Poetics, Milton's", p. 158.
C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost (1942). New York 1961, pp. 5-8. G. de F. Lord "Epic, Paradise Lost and the Classical." A Milton Encyclopedia. Ed. W.B. Hunter Jr. et al. Lewisburg/London 1978, vol. Ill, pp. 48-62.
364
Derek Ν. C. Wood
the poet's response to Aristotle's "complex" and "simple" plots - "intricate" or "explicit" in Milton's words - and the reduced emphasis he places on plot ( m y t h o s ) as against character and thought. The logical, intellectual, structural qualities of Milton's art are noted by his readers: In Fable, Character, and Thought alike, Milton conforms, on the whole, to neoAristotelian principles; it is chiefly in their relative importance that he seems to diverge. His basic orientation is decidedly in the direction of Aristotelian rationalism, and the result is a poem more logical, more tightly conceived and articulated, than any of the epics or tragedies lauded in the Poetics,11
Pequigney finds a Christian unifying principle in the apparently loose, random, transposable incidents in the much-criticised plot of Samson. "An 'uncontroulable intent' (1. 1754) operating from on high shapes the action." The episodes "do not cause one another but are determined by a final cause." 12 In Martin Ε Mueller's words, "a teleological nexus replaces the causal nexus of probability and necessity" which Aristotle considered the "organizing principle of the plot." 13 The unAristotelian moral, didactic function noted above is pervasive. The expectation of a moral purpose in Milton's practice has perhaps led to some misunderstanding of his conception of catharsis. Catharsis is usually said by critics of Milton to have occurred on stage. Samson is frequently assumed to have had a catharsis and so, often, are Manoa and the Chorus. Manoa's purgation has itself been treated by Martin E. Mueller as "a little drama of its own" in a perfect inversion of what Aristotle is supposed to have suggested.14 Radzinowicz suggests that "God has behaved toward Samson like an Aristotelian tragic poet [...] life is the tragedy He records from human history; He designs the tragedy to effect the purgation." 15 Catharsis, then, is used often to describe the maturing or learning process experienced by the fictional characters themselves. If we do not accept Kitto's brilliant suggestion that catharsis was a cleansing of the incidents in the plot, and if we conclude instead that Milton believed that it was an emotional or spiritual or paideutic cleansing, it must come about in the spectators at a dramatic representation of events, not in the
11 12 13
14 15
John M. Steadman, Milton's Epic Characters. Chapel Hill, N. C., 1968, p. x. Pequigney, "Poetics, Milton's", p. 160. Martin E. Mueller, "Pathos and Katharsis in Samson Agonistes." ELH 31 (1964), 156-174, here: 159. Mueller, "Pathos and Katharsis", p. 169. Lady Mary Ann Radzinowicz, Toward Samson Agonistes: The Growth of Milton's Mind. Princeton, N.J., 1978, p. 107.
Aristotle and Milton's Poetics
365
participants in the tragic events themselves. Milton insists in his epigraph to the 1671 edition, that it is the mimesis,
the "imitatio actionis seriae"
that has the "power" he describes and that carries with it its tempering delight. Whatever educative effect the sight of real bloodshed or misery may have, that is what the fictionalised characters in the play experience. The delight is "stirred up by reading or seeing those passions wellimitated." That is what the observer
of a dramatic action experiences.
Seekers after mere horror are "at fault because their effect is not produced by imitation in the proper sense (that is, the representation of h u m a n action, character and 'thought' ...)," as G. F. Else reminds us. 1 6 The great Renaissance puzzlement about what exactly Aristotle m e a n t by mimesis,
which is so forcibly expressed by Francesco Patrizi and, to
some extent, by most of the great Renaissance commentators, did not prevent those theorists from distinguishing between the effect of an e v e n t in life and the effect of its fictional representation. 1 7 That much Aristotle himself had made quite clear: τό τ€ γάρ μψ.ευσ·&αι. σύμφυτον τοΕς άνβρώιτους έκ τταί,δων έστϊ και, τοότψ ötaxpepouoL των άλλων ζψων δτι, μιμητιχώτατόν έσπ, και. τάς μαθήσεις ττουευται, διΛ μιμήσεως τάς πρώτος, και. τό χαίρει.ν τόΕς μιμήμασι ιτάντας. σημεΐον δε τούτου τό συμβαίνον έττί, των έργων & γαρ αύτά λυττηρως όρωμεν, τούτων τάς εικόνας τάς μάλιστα ήκριβωμένας χαίρομεν θεωροΰντες, ουον θηρίων τε μορφάς των άτιμοτάτων και, νεκρών. 18 (Imitation is natural to human beings from the time they are children. They are different from other animals in being more inclined to be imitative, learning their earliest lessons by copying and, as we see, they all get enjoyment from works of imitation. This is proved by what actually happens in our own lives, for we enjoy looking at accurate reproductions of things that are distressful to look at in actuality, repellent animals, for instance, and corpses.) The Christian ethos of Milton's poetry has led critics to see the effect of tragedy in terms of an educative, moral and spiritual process of i m p r o v e ment. Thus, all terms relating to spiritual and moral improvements h a v e come to be treated as if interchangeable with all other terms relating to spiritual, moral and, therefore, emotional improvement. Catharsis
has
been used as if it were interchangeable not only with purgation, purification and expiation but also with calm, peace, relief, grace, conversion, 16 17
18
Gerald F. Else, Aristotle's Poetics: The Argument. Cambridge, Mass., 1957, p. 410. Francesco Patrizi da Cherso, Delia Poetica. Ed. Danilo Aguzzi Barbagli. 3 vols. Florence 1969-1971. Aristotelis de arte poetica liber. Ed. R. Kassel. Oxford 1965,1448b5-12. Referred to below as Po.
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consolation, regeneration and such essentially Christian concepts. There is no reason to believe that Milton would have blurred the meaning of the term in this way or have used it in a sense other than its probable Aristotelian sense of "effect of an imitated action on audience or reader." Milton's preface to Samson Agonistes records his agreement with Aristotle, that "raising pity and fear, or terror" is central to the function of tragedy, the eleos and phobos in the definition. Now, in orthodox readings of Milton's play, Samson's final destructive action is more or less a triumphant Christian victory for the regenerate champion of God. Radzinowicz suggests that "the good mind and the good will issue into an exemplary act which teaches how God gives freedom." 19 For whom, then, are we to feel pity? For Samson, death in the service of God is nothing fearful compared to the brooding terror of the outcast lying in the dust of Gaza, mangled in his "apprehensive tenderest parts" (SA, 624). Rather, it is a satisfying and positive achievement. Less still can we feel pity if this is a divine reward for a process of penitent regeneration. If the play ends in triumph and success for Samson, it does not turn on that fall from good fortune to bad which Aristotle considered an essential feature of the best constructed plot (Po. 53al5). Nor do we feel fear at the spectacle of someone like ourselves suffering undeservedly (53a4-8). If we locate Samson's fall in his capture, his loss of sight and his enslavement at the mill, he evokes sympathy, in Aristotle's reasoning, but not pity and fear because he deserves to fall having sinned through disobedience towards God, uxoriousness and garrulity (53a2-3). Yet few readers are prepared to contemplate the possibility that Samson's end is not a triumph and some have struggled with the consequences of their interpretations, at times with considerable awkwardness. M.E. Grenander says of Samson's death, "There is nothing tragic in it, nor does it involve suffering ... [it is] part of the emotional release of the play." 2 0 This is not how eleos and phobos work in the Aristotelian dynamics. A similar problem relates to the pathos which Aristotle defines in Chapter 11 of the Poetics (52bll-13). Its crucial importance is noted by Rees:
19 20
Radzinowicz, Toward Samson Agonistes, p. 346. M.E. Grenander, "Samson's Middle: Aristotle and Dr. Johnson." University of Toronto Quarterly 34 (1955), 377-389, here: 388.
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the "action bringing pain or destruction is essential to tragedy."21 "The pathos is an act which is destructive to life or painful, such as killings, paroxysms of pain, woundings [...]" - this is Else's translation. 22 Samson's destruction of the Philistines satisfies Aristotle's requirements and should be considered the pathos, but many scholars have been unwilling to concede this. Grenander cannot admit that Samson's death is involved in the pathos and insists that his "internal suffering is the Tragic Incident." 23 This is not Aristotelian. Oedipus' pathos was not his mental anguish but his killing of his father, Laius; in the case of Herakles, it was his killing of his wife and sons, not the misery that followed when his madness passed away. The pathos is something done not a state. As Rees insists, Samson's "pathos is his final, destructive action." 24 It is the Christian regenerative reading that makes it difficult for most scholars to accept the slaughter on Dagon's feast-day as the pathos. For Mueller, this event is not tragic but of the kind "which Aristotle expressly condemns as untragic." 25 What he has in mind is Aristotle's clear stipulation about the kind of act that can move audiences to pity and fear (53bl4-22): if the destructive act is done by an enemy to an enemy there is nothing pathetic either in the deed or the intention. The important thing for Aristotle is that there must be a context of relationship. The act must involve philoi, that is, 'dear ones' or 'close blood relatives.' 26 We shall see when we return to Samson that the pathos and the workings of eleos and phobos are indeed all Aristotelian in character, but this has been obscured by the determination of many readers to force on the play that questionable Christian regenerative reading. The Aristotelian poetics of Paradise Lost have not been complicated by quite the same problems of interpretation. However, here, too, Milton's Christian, affirmative, theodicean purpose results in an inspired transmutation of Aristotelian poetics rather than an orthodoxy. About the pathos in the epic there can be no doubt: it is cataclysmic, affecting all time, space and matter: So saying, her rash hand in evil hour 21
22 23 24 25 26
B. R. Rees, "Pathos in the Poetics of Aristotle." Classical 11, here: 11. Else, Aristotle's Poetics, p. 356. Grenander, "Samson's Middle", p. 386. Rees, Aristotle's Theory and Milton's Practice, p. 15. Mueller, "Pathos and Katharsis", p. 157. Else, Aristotle's Poetics, pp. 412-439.
Quarterly 22 (1972), 1-
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Forth reaching to the fruit, she plucked, she ate: Earth felt the wound, and nature from her seat Sighing through all her works gave signs of woe, That all was lost. (PL 9. 780-84)
Adam hears with horror, knowing at once that Eve's trespass is fatal and that she is lost, "Defaced, deflowered and now to death devote" (9. 901). When he joins her in sin, the pathos is complete: Earth trembled "and nature gave a second groan" (9. 1001). The sky wept. The very first lines of the poem stressed the event that "Brought death into the world, and all our woe" (1. 3). Davis Harding looks at the woes suffered by Odysseus and Aeneas and those inflicted by Achilles: But Milton reminds us Adam's sin of disobedience is the root of all our woe. Contrasted with the woes of which he will write - which are those not of a single man or of a single people struggling to be born, but of Man himself - the sufferings described by Homer and Virgil are made to seem relatively petty and unimportant. This is Milton's way of asserting one aspect in which his subject is superior to the epic subjects of the past. 27
Of eleos and phobos here there can be no doubt. Besides the anticipatory "divine compassion" (3. 141), there is pity for the miserable sinners as Christ comes in judgment (10. 211). Not only do the angels feel pity (10. 25), so even does the self-focussed destroyer, Satan, the unpitied (4.366-375). This is not quite Aristotelian, for pity is to be felt for someone who undeservedly falls into misfortune (Po. 1453al-31). Yet, the distinction Milton makes between the "self-depraved" evil of the fallen angels and the "deceived" sinfulness of the human beings (3.120-134), has the effect of making Adam and Eve more like the pitiable Aristotelian protagonist, who is neither wholly good nor wholly villainous. Fear and horror there are in plenty, and not only at the sight of Death's malicious pleasure (10. 264-285) nor at the "dreadful faces" and hostile weapons of the forbidding angels (12. 625-644); Milton so realistically and successfully humanises the persons whom Dr. Johnson considered barely human that he evokes precisely the kind of fear described by Aristotle: the fear that we ourselves could so easily suffer a tragic misfortune similar to that we see enacted before us. Aristotle's use of the term hamartia has resulted in more misunderstanding than any other critical term he uses except catharsis. When Hanford said in 1925 that Samson's was "the most dignified of all tragic faults 27
Davis P. Harding, The Club of Hercules: Studies in the Classical Background "Paradise Lost". Urbana, 111., 1962, p. 35.
of
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rebellious pride," 28 he was probably unaware of the work that had already been done to discount the old moralistic reading of Aristotle's term. Sixty years later, Milton scholars still seem to cling to the Victorian misunderstanding of the word, speaking of Samson's "sin", his pride, his presumption, his passion, his guilty violence, or rashness or uxoriousness, or some other "tragic flaw". The best corrective to such opinions is Bremer's summary of his authoritative analysis of the contextual and philological evidence: [...] it is justified to define hamartia in Poetics 1453al0/15 as 'tragic error', i.e. a wrong action committed in ignorance of its nature, effect etc., which is the starting point of a causally connected train of events ending in disaster. Hamartia is not 'tragic flaw', i.e. a moral weakness, a defect of character which enlarges itself in its successive stages till it issues in crime; nor is hamartia equivalent to 'tragic guilt', i.e. the state brought about by sinning, an inner attitude which stems from the wicked action, and a kind of burden from which one is relieved only by adequate punishment.29 In sixteenth century Italian translations of Aristotle and commentaries, which Milton read with respect and approval, there is widespread support for the reading preferred by modern classical scholars. A great deal of learned commentary is available by the seventeenth century to direct a student of Aristotle to read hamartia as "ignorance" rather than as "sin" or "tragic flaw". However, Bremer traces very well a process in which some Italians, such as Vettori, seem to misunderstand Aristotle, and others, such as Castelvetro and Beni, disagree with him about the tragic function of evil or immorality. He sees in this the beginnings of a tendency "to imagine that Aristotle was here saying that in a tragedy there ought to be a proper moral correlation between guilt and consequent disaster." 30 By the time of Dacier, Mesnadi£re and Rymer this will harden into a belief in "poetic justice", and later, with the German philosophers, into the theory of "tragische Schuld". However, this is by no means the prevailing opinion in literature available to Milton. As Adkins says, if hamartia means a mistake of fact, "no theory of tragedy based on a moral flaw in the hero need look to Aristotle for support." 31 Now, this covers the vast majority of interpretations of Samson 28 29 30 31
James Holly Hanford, "Samson Agonistes and Milton in Old Age." Studies in Shakespeare, Milton and Donne. New York 1925, p. 183. Jan Maarten Bremer, Hamartia. Amsterdam 1969, p. 63. Bremer, Hamartia, p. 195. A. W. H. Adkins, "Aristotle and the Best Kind of Tragedy." Classical Quarterly 16 (1966), 78-102, here: 101.
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ever published and certainly most of those put out in the last half-century or so, which see Samson as rising from despair to Christian fortitude, or moving through some sort of process of regeneration, or overcoming a series of temptations, or rejecting pride, garrulity, lust, "effeminacy", or whatever. 1 have suggested elsewhere 32 that the characters in this play all exemplify the darkened moral consciousness of fallen humanity under the Law, misconceiving heroism, liberty and redemption, construing these and other concepts in a sense that is literal and limited by their ignorance of Christ and of what Milton calls, in A Treatise of Civil Power, "the divine excellence of his spiritual kingdom, able without worldly force to subdue all the powers and kingdoms of this world, which are upheld by outward force only." 33 That ignorance leads us to Samson's hamartia. In the interpretation suggested here for Milton's tragedy, Samson's hamartia is entirely Aristotelian but it is profoundly Christian at the same time. Samson is ignorant under the Law about the morality of the New Testament. In killing the Philistines, Samson "committed a wrong action in ignorance of its nature." Samson is ignorant of the new covenant that lies ahead, ignorant of the example of Christ, perfect and to be imitated. Under the Mosaic Law was the "state of rigor" to which force was not unbefitting. Those words in A Treatise of Civil Power are an important gloss to Milton's play: the state of religion under the gospel is far differing from what it was under the law: then was the state of rigor, childhood, bondage and works, to all which force was not unbefitting; now is the state of grace, manhood, freedom and faith; to all which belongs willingness and reason, not force: the law was then written on tables of stone, and to be performd according to the letter, willingly or unwillingly; the gospel, our new covnant, upon the heart of every beleever, to be interpreted only by the sense of charitie and inward perswasion [...].34 D. W. Lucas says: "Hamartia is lack of the knowledge which is needed if right decisions are to be taken." 3 5 Samson who is so unreservedly committed to "inexpiable hate" (SA, 839) cannot know in the words of the evangelist, St. John, that "whoso hateth his brother is a murderer"; he is 32
33 34 35
Cf. D. N. C. Wood, '"Exil'd from Light:' The Darkened Moral Consciousness of Milton's Hero of Faith." University of Toronto Quarterly 58 (1988-89), 244-262. See also: "Aristotle, the Italian Commentators and Some Aspects of Milton's Christian Tragedy." Milton Studies 29 (1992), 85-106. Milton, CP 7. 255. Milton, CP 7. 259. Aristotle, Poetics. Introduction, Commentary and Appendixes by D. W. Lucas. Oxford 1968, p. 302.
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ignorant of the new covenant's "brotherhood between man and man all over the world." 36 His ignorance is inevitable because of his place and time in Christian history. In Paradise Lost, surely there can be no question about "ignorance of facts"? As Irene Samuel says, the warning voice sent to Adam in Book 5 should make the tragic event of Book 9 "all but impossible." 37 And yet, although this is a tragedy of sin, of pride and disobedience, it is curious how insistent is the suggestion of human ignorance: Eve "knew not eating death" (9. 792). She thinks that she will "grow mature / In knowledge, as the gods who all things know" (9. 803-804). To be deceived is, of course, to be ignorant of the true situation. She believes the serpent has "reason" and "truth" (9. 738), indeed, has eaten the fruit, lives and has "joy" (9. 770). In her ignorance, she believes that "Here grows the cure of all, this fruit divine" (9. 776). She has high expectation of "knowledge" (9. 790) and fears to lose Adam if later she is unable to renounce Deity (9. 885). Even Adam's behaviour has elements of ignorance: he cannot believe a wise, creating God "will in earnest" destroy them (9. 939). He seems to forget or repress the story of Satan's fall he has just heard from the archangel. Finally, "he took no thought / Eating his fill" (9.1004-1005) of that "fallacious fruit" (9. 1046). There are two important reservations or qualifications that modern classical scholars have made with respect to hamartia. G.F. Else argues that the hamartia should involve philoi: the finest mistake for the purposes of tragedy, like its correlate the finest recognition, will have to do with the identity of a 'dear' person, that is, a blood relative, and will accordingly lead to or threaten to lead to his being slain or wounded.38 Here it seems that we have a brilliant Miltonic invention. The Greek insistence on the importance of blood kinship has been replaced by a Christian conception of a universal human bond in charity, of which Samson would be ignorant under the Law, his hamartia. Even the Philistines are philoi under the new covenant with its new conception of "brotherhood between man and man over all the world." That recognition could only come with Christ. Samson could not know this, because
36 37 38
Milton, CP 3.470, CP 3. 214. Samuel, "Paradise Lost as Mimesis", p. 24. Else, Aristotle's Poetics, p. 383.
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of where he is placed in the linear pattern of human history designed by God. In Paradise Lost, it is clear that philoi are destroyed in a cosmic act of infanticide. "Our woe / With loss of Eden" (1.3-4) is the fruit of the primal human sin. Adam's misery swells as he realises "in me all / Posterity stands cursed: fair patrimony / That I must leave ye, sons" (10. 817-819). Eve brings death to Adam spitefully, afraid he may survive her with another mate (9.826-833). In Samson, there is one more aspect to the brilliance of Milton's invention, for his is a Christian version of yet another feature of hamartia that has been noted by both Dawe and Bremer. Trying to explain why Aristotle has so little to say of the obviously important role of the gods in fifth-century tragedy, Dawe concludes that the old concept of ate has, by Aristotle's time, been subsumed into the philosopher's conception of hamartia. So, he explains, "an error of judgement is something which can be either entirely the responsibility of the man who makes it, or can be something induced, normally by the gods putting a man in such a position that he has little choice but to make a decision that will later recoil on him with disastrous, and above all disproportionate, consequences." 3 9 Herakles' massacre of his wife and children is a terrible instance of this in Euripides' tragedy. Bremer states, "hamartia and ate are correlative: a man "blinded' by divine interference (-&e5-&ev) does wrong and brings ruin upon himself and others." 40 The tragedy in Paradise Lost is Promethean or Oresteian rather than Oedipal: humanity confronts and disobeys God, or commits a deliberate crime, like Atreus and his kin, a crime that brings punishment. The duality of God-Satan, Heaven-Hell, good-evil, is quite unlike the Greek communion of God and human being. The disjunction of God from the human sin is absolute (3. 120-125). And yet the role of Satan may reflect the concept of ate as described by Dawe and Bremer. Satan is one of the "powers" or "spirits of heaven" (5. 824, 837); he was "of the first, / If not the first archangel" (5. 659-660), high among the "Natives and sons of heaven" (5. 790). Certainly his interference blinds his victims who do wrong and spread ruin. Could this be a Christian adaptation of a pre-
39 40
R.D. Dawe, "Some Reflections on Ate and Hamartia." Harvard Studies in Classical Philology 72 (1968), 89-123, here: 94-95. Bremer, Hamartia, p. 196.
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Christian concept Milton absorbed from the Greek drama he was so familiar with? In Milton's tragedy, also, it can be suggested that the pagan theology undergoes a mutation in Christian Reformation context. Milton did believe that God could send good temptations in the way of the free-willed Christian. He also believed God could harden the heart of the sinner. However, it seems that here the relevant mutation of ate is the mystery of the divine ordering of the Universe, the unsearchable dispose of omniscience and omnipotence shaping post-Adamic history and containing in its pattern the lives of all human beings, for all their free will. Samson's ethic of violence is repellent and inimical to the ethic proclaimed by Christ in his words and in his life, but Samson is injected into a world and a dispensation shaped by an Almighty God. What Samson did in conscience was part of God's plan. Everything is part of God's plan. Yet, that terrible act of carnal violence was not only self-destructive - it failed to deliver God's people on earth from the power of the unrighteous. Defeated Puritans in 1671 believed they knew that their cause had been right and yet their failure was ordained as part of God's larger mysterious plan. Caught up in the fury of righteousness, they had killed and had given up their dead. Did they not fear those deaths might be as futile as Samson's in achieving liberty for God's people? Now, they could only concede that God's plans in which they had played their part were incomprehensible. Samson's experience mirrored their own. How can he be blamed? He agonised over the encoded signs that he felt were ethical guides and wondered if the motions that roused him were divine. He could not even be certain his "motions" did not originate in his own proud drive for vengeance. He had been wrong before, it seemed. The terror of Samson's last moments, discounted by so many Milton scholars, is clear in Judges. Would he face a contented God or the horror of a soul dead in one doom with the Philistines? Samson is to be pitied. His terror is to be shared by the audience. "There is only one kind of terror," says Lucas, "that a theatre audience can feel, the terror which they share with those who in the play are aware of their own impending doom." 4 1 The pathos, then, is not Samson's death.42 It is the monstrous destructive act perpetrated on the Philistines, in tribal hostility and in ignorance of 41
42
D. W. Lucas, "Pity, Terror, and Peripeteia." Classical Quarterly N. S. 12 (1962), 52-60, here: 56. Cf. Mueller, "Pathos and Katharsis", p. 170.
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any higher bond uniting human being with human being in charity. To readers who had just lived through an attempt at political deliverance which had been violent and futile, and who could count and remember the dead, the pity and the terror must have been not only poignant but very personal. It remains now to glance at peripeteia and anagnorisis in Milton's poems. About the former, Rees reminds us emphatically that it is "an unpardonable misuse of a key Aristotelian term" to use it of character, when it could only be an element of plot.43 The problems associated with peripeteia are well outlined by D.W. Lucas: the complexity of its meaning, whether it refers to the audience's expectations or the characters', its relation to the main dramatic climax, and above all its special connection with the protagonist's hamartia. The last is especially important in an Aristotelian "complex" plot "because actions based on misapprehension lead to complications." 44 The peripeteia is a special form of change (metabole): it is "an unexpected yet logical shift in the events of the play from happiness to unhappiness or the reverse." 45 The peripeteia cannot be, as is often suggested, Samson's decision to go with the officer. In the most powerfully dramatic fashion, it is situated in the pathos. It is unexpected by the "unsuspicious" guide (SA, 1635), by all the revellers who were struck with "amaze" (1645), thinking "their dreadful enemy their thrall" (1622). The unhappiness of the Philistines and their "years of mourning" (1712) are not in doubt. The peripeteia is logical because it follows from Samson's unChristian ethic which is unflinchingly revealed in the preceding action. For Dennis Burden, "'event perverse' (IX, 405) is quite designedly Milton's phrase for Aristotle's peripety." 46 The reversals in the epic are unexpected only by those who experience them: which is enough. Adam falls from joy to "endless misery /From this day onward" (10. 810-811), but Satan foresees this reversal with confidence: Ah gentle pair, ye little think how nigh Your change approaches, when all these delights Will vanish and deliver ye to woe, More woe, the more your taste is now of joy. (PL 4.366-369)
43 44 45 46
Rees, Aristotle's Theory and Milton's Practice, p. 6. Lucas, "Pity", p. 60. Else, Aristotle's Poetics, p. 344. Dennis H. Burden, The Logical Epic. London 1967, p. 95.
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However, another reversal had not been expected by Satan: his own. He fell nine days and nights from "lost happiness" to "lasting pain", cast out of heaven to a "dungeon horrible" where "hope never comes" (1. 37-66). His first perception is to see a mirror-reversal in Beelzebub (1. 84-94). Reversals, however, need not only be negative: they could be improvements in fortune. Milton's Divine Comedy rises from misery to hope: Ο goodness infinite, goodness immense! That all this good of evil shall produce, And evil turn to good [...] Light out of darkness. (PL 12. 469-473).
The fallen will be "With inward consolations recompensed" (12. 495), as Adam finds "peace of thought" (12. 558) and has hope of "A paradise within" (12. 587). Recognition comes long before this. They "found their eyes how opened" (9.1053) but, with a bitter irony, it is not ignorance they have lost but innocence. They recognise, they perceive, they know - but it is "ill" or evil that they now can recognise. To this their eyes are opened (9. 10701079). Another process of recognition, an educative experience of Christian understanding lies ahead in Books 11 and 12, when Adam learns to measure truly the line of Christian history from Fall to Eschaton. "Greatly instructed I shall hence depart, / Greatly in peace of thought, and have my fill /Of knowledge" (12. 557-559). It may appear, at first, that there is no anagnorisis in Samson Agonistes. The discussions we have had in recent years of Samson's self-recognition, moral progress and intimations of prophetic insight follow from a determination to see the protagonist as a model for Christian self-improvement. However, the play is not about the regenerative process, that is, if what Milton says of that process in Christian Doctrine and Paradise Lost is to be our guide. Samson's penitence began some time after he waked to "guilty shame" (PL 9.1058) and regeneration was well on its way before this play began. Rees's translation of Poetics 1452a29-31 is "a change from ignorance to knowledge, affecting one's relationships with one's kin or one's enemies" 47 and elsewhere he has glossed it as "the discovery of the true identity of other persons in relation to oneself, though sometimes it might be described more correctly as the realization of the circumstances in which one is placed and of which one has hitherto been ignorant." 48 47 48
Rees, Aristotle's Theory and Milton's Rees, "Pathos", p. 1.
Practice, p. 15.
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There can be no doubt that Milton considered true Christ's teaching about Christian relationships in a universal human family, moved by a love which is to be extended to one's enemies. "Death the gate of life" will bring recognition even to Samson, "[...] for those who have died, all intervening time will be as nothing, so that to them it will seem that they die and are with Christ at the same moment." 4 9 For Samson, recognition will seem to come instantaneously at the moment of death. In that moment, this hero of faith will be with Christ, will recognise the futility of his violence, of his hope for the liberation of Israel, of the status of Israel itself. He will recognize his brotherhood with his philoi, the Philistines. This is a uniquely Christian anagnorisis in a uniquely Christian tragedy, with what D. W. Lucas expects from an anagnorisis, "a scene of great concentration marking the passage from ignorance to knowledge." 50 Milton's poetic invention is remarkable. The relationship between the poetics of Milton and those of Aristotle can perhaps best be described by these words of Patrick G. Hogan: "[...] it is perhaps less appropriate to speak of influences or indebtedness, of parallels or sources, than of some more elusive relationship, logical or illogical, that describes or defines just what existed and still exists as a common bond between two great and fertile minds." 51
49 50 51
Milton, CP 6.410. Aristotle, Poetics. Ed. D. W. Lucas, p. 294. Patrick G. Hogan, "Aristotle and Milton." A Milton Encyclopedia. Ed. W.B. Hunter et al. Lewisburg/London 1978, vol. I, p. 83.
PIET Η. SCHRIJVERS
De enthusiasmo poetico: La discussion continuee Burmannus, Vossius, Petitus
Quand on ouvre l'£dition du po£te romain tardif Claudien, qui parut en 1760, le nom de Burmannus saute aux yeux aussi bien sur le frontispice que dans le po£me dödicatoire. Cette Edition fut pr£par£e par Petrus Burmannus I ; eile a termin^e et publice, apr£s la mort du premier en 1741, par son neveu Petrus Burmannus Secundus. L'auteur du poöme dädicatoire deplore tout d'abord la mort du viellard (Burmannus I) et s'äcrie: "Y-aura-t-il un successeur qui comme un autre Hercule soit capable de porter l'Olympe sur ses öpaules?" II existe un h£ritier, non pas indigne du nom de Burmannus, le neveu homonyme qui, ä Ι'instar de son oncle, ferait carriäre comme professeur, philologue, biblioth^caire et poäte näolatin. Celui-ci peut etre pris pour le fils spirituel, et cela d'autant plus que Burmannus Secundus, devenu orphelin ä l'äge de six ans, a £duqu£ ä Leyde sous la tutelle de son oncle. Afin d'eviter une confusion de nom le neveu a ajout£, plus tard dans sa carrtere, le surnom Junior ou Secundus au nom de famille et quelques collogues ont eu la mauvaise habitude de faire des allusions ironiques ä ee surnom Secundus. En effet, tel un autre Εηέε, le jeune Burmannus a port£ son pere spirituel sur le dos. Leurs carrteres montrent une similarity remarquable, comme il ressort de l'aperqu biographique des deux Burmartni: P. Burmannus I (1668-1741): 1696-1715 professeur ä Utrecht 1696 Ιβςοη inaugurate: De eloquentia et poesi 1715-1741 professeur ä Leyde 1724-1741 biblioth£caire de l'universitä de Leyde 1740
£d.-comm. de La Pharsale de Lucain
P. Burmannus II (1713-1778): 1719 sous la tutelle de Burmannus I
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Piet Η. Schrijvers 1735
professeur ä Franeker
1742-1778
professeur ä Amsterdam
1742, le 10 sept.
legon inaugurale: De enthusiasmo
1752
biblioth£caire de la ville d ' A m s t e r d a m
poetico
Je m e rends compte du fait que les deux Burmanni tombent quelque peu hors du cadre chronologique de la Renaissance, mais signalons que tous les deux, et surtout le neveu, ont fortement contribu£ au maintien de la tradition näolatine aux Pays-Bas et en Europe en g&iäral 1 et que, dans leurs id£es poätiques, ils s'inspirent de cette tradition. Nous avons done affaire ä une phase de reception d'idees qui ont et£ en vigueur au 16 e et au 17® siScle. En 1742, le neveu a surpris son auditoire ä l'Athen^e d'Amsterdam en Präsentant sa legon inaugurale sous la forme d'un po£me, intitule De enthusiasmo
poetico2,
qui compte 351 distiques latins (702 vers) et dont la
structure montre une tripartition bien marquee: 1. Les vers 1-176 constituent la r£ponse ä une question bien connue: les meilleurs podmes sont-ils le räsultat d'une inspiration divine, d'un talent donn£ par la nature, ou bien sont-ils arrives ä la perfection gräce aux soucis studieux et ä l'habiletä technique du poete-artisan (vs. 7-12)? an Deus adflatos intraret numine vates corriperetque sacer pectora mota furor, fertilis ingenii num dotibus optima fiant carmina naturae vel stimulantis ope, an potius studio versus limentur et arte, Aonius pura quod probet aure chorus ? Bien que Burmannus ne d£nie pas l'apport de la combinaison horatienne du talent naturel et de l'habilet£ technique, il nous dit (vs. 17-20) qu'il y a tout de m e m e autre chose qui depasse Yingenium
et l'ars: "e'est un dieu,
u n dieu qui inspire rdguli^rement les grands pontes": Est tarnen, est aliud multo felicius illis, quod supra ingenium surgit etartis opus; est Deus, ille Deus magnos qui numine vates missus ab aetheria sede movere solet.
1
2
Cf. le jugement de P. Hofman Peerlkamp, Liber de vita, doctrina et facultate Nederlandorum qui carmina latina composuerunt. Haarlem 1838, pp. 489-490, 512-515. Cf. la pröface en prose, p. 9: "verum iam in ipso muneris mei exordio insanire me ac mente conmotum furere nonnullos forte mussitantes mihi videre videor."
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Le texte de Burmannus renferme ici des allusions tr£s nettes ä VArt Poitique d'Horace et ä la description de la proph£tesse i n s p i r e , la Sibylle de Cumes, faite par Virgile au chant VI de son Eneide (vs. 46). 2. Du point de vue de l'histoire des id£es, les vers 177-472, partie centrale du po£me, sont d'un grand interet, car Burmannus discute ici l'origine de la folie divine. Au d£but (vs. 179ss), il formule tout de suite l'opposition cruciale: "Est-ce-que nous suivons les traces de Piaton [c'est-ädire l'explication surnaturelle de la folie (la mania) po£tique, don des Muses] ou bien partageons-nous l'opinion du savant Aristote qui avait cherchä la cause de la cr£ativit£ du po£te dans un surplus de bile noire [la Constitution m£lancolique] ? " 3 sed quae caussa sacri, quae detur origo furoris in varias partes scripta docentis eunt: seu sequimur magni vestigia sacra Piatonis, seu quod Aristotelis pagina docta refert. 3. La partie finale (vs. 473-702) est une grande piöce brillante: le reve du podte Burmannus transports par la muse Calliopä aux Enfers et ä l'Elysöe, oü il rencontre les mauvais et les bons pontes du passe; c'est lä-aussi que lui apparait l'ombre de son oncle qui venait de mourir en 1742 (l'histoire de la rencontre entre Anchise et Enee au s£jour des ombres - Virgile, 1 'Eniide, chant VI - se r^p£te): Pierides magnis referunt sua templa poetis postque obitum aeterno dant Helicona locum. Vera loquor, vana non semper imagine ludunt somnia nec fallit noctis amica quies. Nam mihi Phoebeum cantanti forte furorem in medio Somnus carmine sistit iter. Bien que, dans sa preface en prose, Burmannus souligne son originality (surtout dans le choix de la forme po£tique de sa Ιεςοη inaugurale), il mentionne quelques pr£d£cesseurs qui, selon ses propres mots, ont ecrit "incidemment" ( a f f a t i m ) sur la fureur (furor) des pontes: 1. Johannes Jovianus Pontanus, auteur e.a. d'un commentaire astrologique In centum Ptolemaei Sententias libri duo (Bale 1531) oü la folie 3
Pour l'histoire de cette tradition aristotölicienne, voir l'ötude fondamentale de R. Klibansky/E. Panofsky/F. Saxl, Saturn and Melancholy: Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art. London 1964; cf. aussi R. et M. Wittkower, Born under Saturn: The Character and Conduct of Artists: A Documented History from Antiquity to the French Revolution. London 1963, ch. 5: "Genius, Madness, and Melancholy."
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humaine est associäe ä une certaine position de la lune par rapport aux planstes Mercure et Saturne. 2. L'inspiration divine subie par le po£te est un thäme populaire dans la po£sie latine, classique et tardive, elle-meme. On le rencontre assez souvent au d£but ou ä la fin d'un plus grand po£me ou d'un recueil. C'est done un cas de ce que E. R. Curtius a appelä "Exordialtopik" ou "Schlußtopik". 4 Dans la tradition n£olatine, on cite ou on utilise r£guli£rement l'ode ä Bacchus de la main d'Horace (Carmina III, 25), l'ouverture de Γέρορέβ de Claudien De raptu Proserpinae et le däbut et la fin de Ι'έρορέε du poäte romain Stace, intituläe La Theba'ide. Les commentateurs savants du 16 e et du 17 e siecle prennent souvent ces passages classiques et c£l£bres comme point de depart pour un expose personnel sur la fureur po£tique. C'est le cas des commentaires nommäs par Burmannus, celui de Bernardinus Parthenius Spilimbergius sur les Odes d'Horace (1584)5 et ceux de l'£rudit Caspar Barthius sur Claudien et Stace (resp. 1650 et 1664). Si ces commentaires ne sont pour la plupart que des collages de citations, ils montrent en tant que source de reception comme l'a signal^ A. Buck dans son £tude sur le genre du commentaire un apport personnel et un dέveloppement historique. Contrairement au commentaire scolaire de Parthenius, le rationaliste Barthius commence avec un certain plaisir sardonique son exposä par un texte de l'£crivain Lucien sur l'enthousiasme simulä des proph^tes et des pontes, passage satirique que Barthius applique d'un air grognon aux pontes de son temps "aussi nombreux que les mouches en Arm£nie". 3. Les deux commentateurs mentionnös sont nommis dans le meme ordre (!) chez Morhofius (Polyhistor literarius, philosophicus et practicus, Lübeck 3 1732), ce prädöcesseur de nos encyclopädies, citö ägalement par Burmannus dans sa preface. II n'est pas sans int£ret de noter que ce vademecum scientifique parle du furor poeticus dans son Polyhistor literarius (liber 7: Poeticus, § 14) tout en discutant de l'enthousiasme dans son Polyhistor practicus (liber 5: De theologis scriptoribus, § 1,36). En effet, plusieurs groupes religieux nomm£s enthusiastae (par ex. les Rose-croix, un auteur mystique comme Jacob Boehme, un sectarien comme David Joris) sont des ph£nomänes vivement discut^s et attaquäsau coursdu 17 e 4
E.R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter.
5
Bern/München
1961, pp. 95-101. L'exemplaire qui se trouve dans la bibliothöque universitaire de Leyde, est pourvu d'annotations de la main de Burmannus I. 3
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siäcle.6 Cet aspect religieux et thiologique de l'enthousiasme en g£n£ral se montre clairement dans le traits, mentionn£ par Burmannus, de la main de Meric Casaubon. 4. Ce traits, intitule A Treatise concerning Enthusiasme, as it is an Effect of Nature, but is mistaken by many for either Divine Inspiration or Diabolicall Possessions (London 1655), est g£n£ralement reconnu comme un des äcrits les plus importants du 17 e si£cle oü l'enthousiasme au sens d'une inspiration personnelle et religieuse, d'une lumi£re int£rieure et d'un don de l'Esprit Divin, fut analyst et rejet£ comme phänomäne psycho-pathologique par un grand nombre de m£ dec ins, de philosophes, de thöologues et d'autres publicistes. L'orientation de l'ouvrage de Casaubon est claire quand on se rend compte du fait que la traduction latine, intituläe De Enthusiasmo Commentarius, a £tä faite et publice par un thäologien (Ιο. Frid. Mayer, Greifswald 1708), qui parle "des tromperies et de la mächancetd de ces pr^tendus 'enthusiastae"'. L'essentiel du traits de Casaubon, rest£ d'ailleurs inachevä, r£side dans le vaste chapitre De enthusiasmo contemplativo et philosophico, oü l'auteur, tel un veritable anthropologue et historien, analyse et critique l'enthousiasme religieux. II ne consacre, d'une manure assez traditionnelle, que six pages ä l'enthousiasme po£tique qui - Selon l'orientation generale du traite - est r£duit ä des causes naturelles (l'explication surnaturelle propose par Piaton est qualifi£e d'absurde). Sans doute notre Burmannus a pris conscience du fait que dans son poöme De enthusiasmo poetico il abordait une question brulante. C'est pourquoi dans sa preface en prose il s'adresse explicitement ä ses collegues-professeurs "d'une discipline plus s£v£re et plus νέηέrable" (c'est-ä-dire la thäologie): "ses coltegues appröcieront qu'il a prouvä par sa discussion poitique que les mortels n'arrivent jamais ä la grandeur sans l'appui du Ciel et sans l'aide de la majesty divine" (une Evidente captatio benevolentiae).7
6
7
Cf. G. Rosen, "Enthusiasm, 'a dark lanthorn of the spirit'." Bulletin of the History of Medicine 42 (1972), 393-421; H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung: Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. "vel denique ut laudi mihi non exiguae vertant illi, qui severioris ac sanctioris disciplinae sectam profitentur, me sub poetico hoc commento demonstrasse nihil arduum et quod supra plebem excellat, egregium moliri posse mortales, nisi coelestis favoris aura adflatos et divini numinis ope adiutos: quod si impetravero, satis magnum operae pretium tulisse praedicabor."
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5. A la fin de sa preface, Burmannus mentionne Petrus Petitus (Pierre Petit), "Philosophus et Doctor Medicus" (mais aussi philologue et po£te, liä au cercle de la Pläiade ä Paris), qui ouvrait l'^dition de ses po£mes par une Dissertatio de furore poetico (Paris 1683). Depuis qu'Aristote avait mis en rapport ginie poötique et mälancolie, le sujet fut r£guli£rement traits dans un contexte m£dico-psychologique. 6. Enfin Burmannus cite le nom de son pr£d£cesseur illustre ä l'Ath^nie d'Amsterdam: G. J. Vossius, qui, dans son De artis poeticae natura ac constitutione liber (Amsterdam 1647), avait consacrä un grand chapitre (12) au furor poeticus. Si on compare les pr£d£cesseurs mentionnis par Burmannus avec le texte de son propre poöme, les deux premieres parties, disons 'scientifiques', sont surtout une paraphrase m£trique, abr£g£e et adapt^e, des exposes de Vossius et de Petitus. La partie finale, "le reve du po£te", est plut6t un exemple d'intertextualit£ litt£raire. Au ddbut de son poäme, Burmannus fait l'^loge de la valeur accordee ä la po£sie au pass£le plus lointain. II prend ici pour modele YArt Poetique d'Horace (vs. 391ss), qui nous raconte qu'un po£te sacre, l'interpräte du ciel, Orphie inspira aux hommes l'horreur du meurtre etc. A l'oppos£ d'Horace, Burmannus ne souligne pas les m£rites moraux (sociaux et p^dagogiques) de ces premiers pontes, mais il fait remarquer que ceux-ci etaient divins et sacr£s, se trouvaient en rapport avec les dieux: bref, ils ont £te des enthousiastes. Une comparaison d£taill£e avec le texte-source (Vossius, De artis poeticae natura ac constitutione liber, chap. 12-13) montre que le professeur Burman a eti, comme on l'a remarquä, 8 plutöt un poäte et un orateur qu'un scientifique attentif aux faits historiques. Pour Vossius l'origine de la poäsie est un grand probleme historique. Comme il adhere ä la thäorie rationaliste d'une Evolution graduelle de la culture humaine en g£n£ral, il ne peut admettre que la po£sie ait imm£diatement commence par des pontes sublimes et parfaits comme Orph£e ou Amphion. Vossius cite favorablement l'opinion de Ciceron (Brutus 18, 71) selon laquelle rien ne peut avoir ete invents et arriver ä son apogee au meme moment. 9 La po^sie elle aussi doit avoir connu une origine primitive qu'il situe chez des bergers faisant paitre leurs troupeaux sur la montagne de l'H£licon. Comme ces deux montagnes, l'Hälicon et le 8 9
Cf. Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, vol. IV, Leiden 1918, col. 359-360. "Nihil est enim simul et inventum et perfectum."
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Parnasse, se trouvent pr£s de la ville de Th£bes et que cette ville a έίέ fondle par le Phänicien Cadmos, Vossius cherche ä renforcer son opinion primitiviste sur l'origine de la poäsie ä l'aide d'une explication ätymologique du nom de ces montagnes: ce sont des noms häbreux. Burmannus ne sait pas apprdcier cette sophistication de Vossius; pour lui il suffit qu'Orphde aussi bien que le beiger Hösiode ait eu de bonnes relations avec les dieux. Remarquons que la question de savoir si la cr£ativit£ poätique est un don naturel, est directement li£e au problöme de l'origine historique de la poisie et cela sur deux niveaux: sur celui de l'origine phylog£n£tique dans l'histoire de Involution culturelle de l'humanitö en g£n£ral, mais aussi sur le niveau ontogän£tique, le däveloppement de l'art po£tique se produisant dans un individu quelconque. Ce dernier aspect explique l'intörgt port£, dans le cadre de ces discussions, aux enfants prodiges; on nous raconte par exemple l'histoire d'un jeune paysan illettre qui commenga tout d'un coup de reciter des vers (des hexametres bien reussis). Une anecdote de ce genre constitue en quelque sorte un dementi ä la poäsie consid£r£e comme 'disciplina'. Au paragraphe 113-140, Burmannus suit la division traditionnelle du furor en quatre domaines, que Vossius a finalement empruntee ä Platon. Ce sont respectivement 1. la divination li£e ä Apollon, 2. le culte des mystöres, associ£ ä Bacchus, 3. la po£sie, don des Muses, 4. l'amour lie ä Vinus et ä Cupidon. La versification de Burmannus montre par rapport au texte-source de Vossius une deuxiäme modification. Le rationaliste Vossius consid^re la divination telle qu'elle a £te pratiqu^e par ex. ä l'oracle de Delphes, comme une forme d'imposture, de tromperie politique et sociale et il donne le commentaire suivant (chap. 12, 2): "Comme les pontes furent nourris par les pretres afin de noter par des vers ambigus ce que les pretres avaient ordonn£, ils ont gard£ ce secret". Les remarques de Vossius, peu flatteuses pour la position sociale des pontes, ont ete omises par Burmannus. Son poeme t£moigne plutöt d'une opinion aristocratique du Statut du po£te (et Burmannus se considäre en premier lieu comme tel). Apr äs avoir repris toute Erudition philologique de Vossius concernant les trois sources des Muses et les reves de vocation subis par les pontes H£siode et Ennius (vs. 141-176), Burmannus räsume et rejette toutes les explications naturelles de la mania poetique, que l'on a prop o s e s au pass£ (vs. 185-215): l'explication aristot£licienne (Burmannus
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nous dit qu' un m£lancolique peut etre £galement poäte, mais il ne l'est pas ä cause du fait d'etre mälancolique), l'explication d£moniaque (Vossius nous enseigne que l'influence exerc£e par des demons fut acceptäe par Avicenne, l'interpr£te arabe d'Aristote), l'explication pathologique (le furor poeticus considärg comme une maladie mentale) et pour finir l'explication astrologique. Selon Burmannus ces quatre explications naturelles sont "des bavardages et des betises" (vs. 215): Ite procul nugae vanique absurda cerebri somnia quae finxit credulitatis amor. On retrouve chez Burmannus une autre argumentation (vs. 257-282) qu'il a probablement empruntäe ä Vossius (o.e. chap. 12,7) en en adaptant la port£e. II nous signale que les talents poätiques sont d'une nature tr£s diverse: un talent lyrique repousse l'£pop4e, 10 et un poete d'amour differe d'un auteur äpigrammatique comme Martial. A l'origine on trouve däjä le fait de la diversity de l'histoire de la literature signale et utilise par Erasme comme argument contre une imitation trop servile (de Ciceron). 11 II s'agit ici d'un lieu commun, appliqu£ d'une maniere un peu forcäe par Burmannus dans son propre po£me; ä la fin il revient au sujet de l'enthousiasme en disant que e'est Dieu qui donne tous ces talents divers aux hommes. Le traits de Vossius (chap. 12) est paraphrase pour la derniöre fois par Burmannus lorsqu'il va distinguer les causes naturelles p r o p o s e s pour la folie po^tique: 1. un surplus de bile noire (rejet£ par Burmannus); 2. les Amotions du po£te (Burmannus mentionne la passion amoureuse, la colore, l'indignation, le deuil, le plaisir); 3. comme Vossius, Burmannus mentionne le vin qui, "pris quelque peu librement, a la propriety de secouer la paralysie du gänie" (Vossius); 4. Vossius et Burmannus mentionnent les effets des instruments musicaux et de la lecture des grands pontes du pass£, "qui transmettent ainsi leurs propres ferveur et imagination aux lecteurs dou£s" (Vossius): alterius recitata novas dant carmina flammas, suscitat et vires languida Musa suas, imbibit ingenium lecti mens mota poetae.
10
u
Cf. les poämes lyriques de l'antiquite, dits recusationes, discutes par J. H. Brouwers, Horatius en Propertius over epiek en lyriek. Nijmegen 1967. Cf. F.-J. Meissner, Wortgeschichtliche Untersuchungen im Umkreis von französisch Enthousiasme und Genie. Geneve 1979, pp. 133-134.
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En lisant l'expos£ de Burmannus sur la poäsie spontanie, sur les Amotions du poäte et les genres lyriques, on pourrait etre porti ä le qualifier de 'priromantique'. Comme l'emploi de cette qualification prete ä confusion, mieux vaut l'Aviter. La forme du poöme de Burmannus est purement classique, alors que pour les id£es il ajetä son regard en arri£re, ä savoir au manuel de Vossius, qui n'£tait pas du tout original. Le frontispice du citebre traits de Robert Burton, intitule The Anatomy of Melancholy (Oxford 1621), montre d£jä presque tous les sujets mentionnis par Vossius et Burmannus dans le cadre de leur discussion du furor poeticus. Tout de mime, dans sa discussion l'origine de la po£sie a associäe par Burmannus aux Amotions du poite, et cela implique que ce thAoricien classiciste porte toute son attention aux genres lyriques, de sorte que Ton peut constater ritrospectivement une continuity entre ces exposes de la Periode classiciste sur l'enthousiasme poätique et la m£lancolie et les id£es (prä)romantiques sur l'originalitä, la spontanste et le ginie des pontes. 12 C'est le grand mirite de Burmannus d'avoir contribuA ä une revalorisation de la mania platonicienne apr£s la condemnation et la demythification de l'enthousiasme, propagäes dans la deuxiäme partie du 17 e siäcle. Sur ce point le po£me de Burmannus est ä comparer avec l'essai de Lord Shaftesbury, A Letter concerning Enthusiasm (1708). Ce "Platon d'Europe" (qualification d'Herder) n'est pas disposä, "dem schwarzen, fanatischen Enthusiasmus das Feld zu überlassen. [...] [er] verkündet [...] einen wahren und göttlichen Enthusiasmus." 13 Burmannus aurait ät£ d'accord avec les mots de Shaftesbury: "No poet [...] can do anything great in his own way without the imagination or supposition of a divine presence, which may raise him to some degree of this passion we are speaking of." 1 4 De la mime fagon, ä la fin de son exposä scientifique, Petrus Petitus, midecin et po£te, präfere "errare cum Piatone". Jusqu'ici (vs. 389), Burmannus s'est servi dans un ordre träs strict des idäes presentees par Vossius au chapitre 12 de son traiti De artis poeticae natura ac constitutione. A la fin de la partie centrale (389-470), il va discuter encore deux probtemes directement Iiis au concept du furor poeticus: 1. le 'writer's block', däfini par Burmannus en ces termes: "Les
12
13 14
Cf. Schings, Melancholie,
passim.
Schings, Melancholie, p. 183.
Anthony Earl of Shaftesbury, "A Letter concerning Enthusiasm."
Characteristics
of Men, Manners, Opinions, Times etc. Ed. J.M. Robertson. 2 vol. London 1900, vol. I, p. 36.
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Muses ne favorisent pas toujours un ddbut heureux; parfois la lenteur de la main droite bloque la route que l'on a prise"; 15 2. les rapports entre le gänie et la folie; comme le dit Burmannus, "le po£te ressent aussi des troubles anormaux dans son corps excite". Ces deux d£veloppements constituent une paraphrase m&rique des passages respectifs du De furore poetico de la main de Petrus Petitus. A l'instar de Petitus, Burmannus cite deux cas cdtebres d'auteurs qui souffraient r£guli£rement du 'writer's block': Julius Caesar Scaliger 16 qui, dans sa discussion des genii Pythagorei, parle de ses propres experiences, 17 et le po£te franqais Ronsard. Le cas de Ronsard montre clairement la faqon dont Burmannus s'est servi de son texte-source. Le m£decin Petitus mentionne dans ce contexte 1 8 tout d'abord la sympatheia des pontes, c'est-ä-dire leur sensibility aux influences du dehors. Sur ce point il compare les po£tes avec les £pileptiques qui, eux-aussi, sont les premiers ou les seuls ä subir ces influences. Cette sensibility explique, selon Petitus, pourquoi les pontes ne sauraient ä chaque moment et ä leur grä enfanter leurs ouvrages ("animi foetus"). Petitus est d'avis que tous les hommes dou£s connaissent ou plutöt subissent ce flux et reflux, et il cite le cas de "Ronsardus noster" qui parfois durant six mois ätait incapable de faire im vers passable et attendait la tomb^e de la ros£e celeste. Une fois que le furor l'avait envahi, il ne se maitrisait plus, mais comme un torrent (c'est une allusion ä l'ode 4,2 d'Horace sur Pindare) il se d^valait sur les champs des Muses et inondait ses carnets. Cette p£riode de creativity ne durait que deux ou trois jours. L'histoire racontäe par Petitus a £tä reprise par Burmannus jusque dans 15 16
17
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"Orsa tamen Musae non semper fausta secundant /dextra sed inceptum lenta moratur iter." "Sic vera heroum suboles regumque propago carminis alternas sensit adesse moras Scaliger et magnis Genios adstare poetis credidit et vires saepe negare suas." J.C. Scaliger, Poetices Libri Septem. Lyon 1561, p. 116: "Ego vero, qui ne cum minimis quidem me conferendum, censeo, si quid unquam nobis excidit imprudentibus, tantundem postea non sperem a me praestari posse. Quae causa est, ut ad scriptionem aut commentationem nunquam accingamur nisi ab ipso Genio invitati, qui nobiscum intus loquitur neque auditur ostendens divinitatis late patentes campos in animis nostris, quos ab officiis corporis suspensos atque abstractos aliis distinet functionibus." — Dans cette partie de sa dissertation (p. 76), Petitus cite ögalement le cas de Naugerius, mentionnö par Fracastoro dans son dialogue Naugerius, sive de poetica; il est suivi par Burmannus: "ictus erat similis, versus dum conderet, oestro / Naugerius, Venetae clarus honore togae." Petrus Petitus, Dissertatio de furore poetico. Paris 1683, p. 59ss.
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ces m^taphores traditionnelles,19 mais il supprime le contexte scientifiquem^dical concernant la sensibility du po^te. En plus, pour Burmannus, c'est l'absence du furor (le 'block') qu'il däcrit comme un mal läthargique, lä oü le mädecin Petitus associe plutot le furor poeticus ä d'autres maladies. Ainsi, on constate au 18 e Steele une revalorisation de la fureur poitique, qui est priv£e de son caractöre pathologique. Alors que Petitus commence son anecdote par "Ronsardus noster", Burmannus d^signe le po^te frangais comme "celui qui doit sa reputation et sa gloire ä l'äpop£e de la Franciade" (vs 413: "Franciados clarum carmine nomen habens"). Nous ne voulons pas exclure que le professeur Burmannus ne s'est pas rendu compte du fait que Petitus avait paraphrase en prose latine un poäme lyrique de Ronsard, ä savoir La Lyre: [...] car faire je ne puis Un trait de vers soit qu'un Prince commande, Soit qu'une Dame ou l'Amy m'en demande, Et ä tous coups la fureur ne me ρ rend, Je bäe en vain, et mon Esprit attend Tantost six mois, tantost un an, sans faire Vers qui me puisse ou plaire ou satisfaire. J'attends venir (certes je n'en ments point) Cette fureur qui la Sybile espoint: Mais aussi tost que par long intervalle Dedans mon coeur du Ciel elle devalle, Colere, ardent, furieuz agitö, Je tramble tout soubz la divinity Et comme on voit ces torrens qui descendent [...].20 Voici du Ronsard en distiques latins, d£clam£ ä l'Ath£n4e d'Amsterdam par l'interm^diaire de Pierre Petit: Dimidia marcens anni quod parte solebat fundere, vix versus unus et alter erant. Languidus et positis latitabat rebus in umbra abjiciens tacitae plectra molesta lyrae. [...] At simul ora furor rediensque inflabat Apollo Ronsardusque novo numine plenus erat, versibus et Chartas instar torrentis inundans: quod calamus vellet scribere, carmen erat. 19
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Cf. S. I. Tucker, Enthusiasm: A Study in Semantic Change. Cambridge 1972, ch. 11, p. 144 ss sur les mitaphores traditionnelles disignant l'enthousiasme dans la litterature anglaise du 18 Steele. P. Ronsard, "Le Premier Livre des Pommes." CEuvres Completes. Ed. G. Cohen. 2 vol. Paris 1950, vol. II, pp. 522-523.
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At male cessabat biduo furor ille peracto Castalio vatem destituente Deo.
Aux vers 455-464, Burmannus mentionne l'auteur savant de La Jerusalem Delivree (Torquato Tasso), qui avait montre des symptömes Stranges de dämence quand son esprit fut agite. Les mädecins le faisaient enfermer et "vine main incompetente purgea sa tete avec de l'heliebore": Mittendum Anticyras Tassum iussere medentes et caput helleboro purgat inepta manus.
Pour Burmannus, ce sont les medicaments qui ont cause la vraie dämence, et il s'£crie: "Que l'on donne plutot ce medicament aux vrais fous; que l'on guärisse par ce moyen-lä plutot les rimailleurs!": Arte mala insanum ventosus reddit Agyrta, pharmaca nam veri caussa furoris erant. Haec melius fatuis detur medicina Vacerris, hac melius Bavii restituantur ope.
Cette tirade, une peu facile, contraste vivement avec le ton s^rieux et scientifique dont Petitus discute le cas de Tasse. Le medecin parisien cite le philosophe Fortunius Licetus (17e s.) qui, ä l'instar d'Hippocrate, avertit les medecins de distinguer la folie pathologique du furor divinus et de ne pas traiter et fatiguer chaque furetts avec des medicaments: "II y a peu de temps certains medecins ont traite de cette fagon-lä le po£te cäläbre Tasse; lorsqu'il etait envahi par une folie divine, ceux-ci ont cru qu'il etait devenu fou ä cause d'une maladie de la bile noire, et par leurs medicaments ils ont rendu le po£te vraiment malade." 21 A l'oppos£ de Burmannus, Petitus defend quelque peu la profession medicale (ses collogues), car ä la fin il fait remarquer que "si ce genie divin n'avait pas montre les symptömes clairs et nombreux de la demence, les medecins ne l'auraient jamais traite et maltraite comme un malade". Du debut du 17 e siäcle jusqu'ä la periode romantique, Torquato Tasso est reste l'exemple typique du genie, fou, meconnu, mal adapte, tout d'abord dans des discussions medicales et historiques, chez Petitus et Burmannus dans leurs exposes poetiques, et ensuite dans la litterature (Goethe, Torquato Tasso, 1789) et dans la peinture (deux tableaux de Delacroix, intitules Tasse ä l'hdpital de Ste Anne - selon la tradition iconographique le peintre a presente le po£te Tasse assis dans l'attitude 21
Petitus, Dissertatio de furore poetico, pp. 76-77.
De enthusiasmo poetico
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typique du 'melancolico penseroso').22 Un de ces tableaux a £t£ d^crit par Baudelaire dans son sonnet Sur le Tasse ä l'höpital des foux, de M. Delacroix expose dans les Galeries des Beaux-Arts (1844, l e version): Ce triste prisonnier, bilieux et malsain, Qui se penche ä la voix des songes, dont l'essaim Tourbillonne, ameutö derrifcre son oreille, Ce rude travailleur, qui toujours Lutte et veille, Est l'embleme d'une äme, et des reves futurs Que le Possible enferme entre ses quatre murs.
En 1888, dans une lettre adressäe ä son frdre Theo, Vincent van Gogh a exprime son admiration pour le tableau de Delacroix en ces termes: "Lui aussi est un de mes fr£res". Dans la troisi£me partie du po£me, Burmannus raconte qu'il etait envahi par le sommeil et que, dans son reve, 23 la Muse Calliope lui apparait - comme une autre Sibylle virgilienne - pour le conduire aux Enfers (la prison des rimailleurs) et aux Champs Elys£ens (la residence des grands pontes). Cette partie du po£me exprimant les predilections d'un professeur de latin au 18 e Steele est tr£s interessante du point de vue de l'histoire de la critique litteraire, mais comme eile ne nous concerne pas pour l'instant, nous n'en parlerons pas. Ce qui importe ici, c'est qu'ä la fin du reve, lorsque Burmannus Secundus, tel un autre Εηέθ, adore les grands pontes ('Heldenschau'), il se tait tout d'un coup parce que l'ombre de son oncle - tout r£cemment defunt - lui apparait (cf. la rencontre Anchise - En£e au chant VI de VEneide): "Petre, mea formate manu, mihi nominis haeres" ("Pierre, forme de ma main, h£ritier de mon nom"). L'oncle lui donne des conseils paternels en l'incitant ä suivre le chemin de la vertu et ä continuer le culte des Muses selon une loi severe ("lege severa"): Me sequere et quam Ada manus tibi nostra solebat pandere, Virtutis tramite carpe viam Castalidumque sacris operatus lege severa fac suus Aonium, Petre, perennet honos.
22
23
Cf. Schings, Melancholie, pp. 266-267; H. Weinrich, "Ein Emblem der Melancholie." Literatur ßr Leser. Stuttgart 1971, pp. 102-108. "Le reve du po£te", thöme traditionnel dans la po4sie ancienne, a ötö d£jä mentionnö par Burmannus, A l'instar de Vossius, dans la premiere partie de son po£me; cf. en g£n£ral A. Kambylis, Die Dichterweihe und ihre Symbolik: Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius. Heidelberg 1965.
390
Piet Η. Schrijvers
A l'aide de cette expression, Burmannus II a bien caract£ris£ les opinions de son oncle sur la poäsie. Dans son commentaire sur Γέρορέβ de Lucain (son dernier ouvrage de 1740), l'oncle avait έΐΐιηϊηέ le po£te Lucain du choeur des pontes ä cause de son furor et de son insattia. Lucain itait pour Burmannus I l'exemple typique et d£test£ d'un po£te qui avait rompu "les lois de la simplicity naturelle et de la v£rit£" ("leges simplicis et naturalis candoris et veritatis", preface de l'ddition). Par sa revalorisation positive du furor poeticus, le neveu s'est £loign£ de son p£re spirituel tout en gardant son admiration et sa gratitude envers l'äducateur. Comme le De enthusiasmo poetico a la Ιεςοη inaugurate du jeune professeur d'Amsterdam, 24 on est curieux d'apprendre le discours inaugural, tenu par l'oncle, ä un age encore plus jeune, ä l'universit£ d'Utrecht (De eloquentia et poesi, 1696). L'oncle lui-meme adore la poesie, mais lä oü pour Burmannus II la poesie est tout d'abord l'expression spontanäe et inspiräe des Amotions, Burmannus I souligne l'utilit£ de la poisie et meme son obligation de corriger les moeurs ("ad morum et honestatis studia", p. 26). II met en relief la difficult^ d'äcrire des vers, "la discipline la plus lourde qui exige beaucoup d'ätude et de travail" (conception formulae par Horace dans son Art Poetique). La fin du discours en prose de l'oncle explique pourquoi, une g£n£ration plus tard, le neveu a dyclami un po£me comme Ιβςοη inaugurale. A la fin la prose n'a pas suffi non plus ä l'oncle et il a termine son discours par un po£me (une soixantaine de vers assez ennuyeux et träs moralisateurs) 25 , qu'il couronne par une priäre emouvante: il souhaite qu'apr£s sa mort il fasse partie du choeur des Muses: Quae iuvenem tenuit, teneat quoque Musa senectam, haec mihi si vitae tempora fata dabunt, cumque meos cineres obscura incluserit urna, pars ego Pierii sim, precor, una chori.
Un an apr£s sa mort, le neveu a rt?alis£ les d£sirs de son äducateur dans son propre reve poetique.
24
25
Pour un 'reportage' de la seance inaugurale, cf. D.J. van Lennep, Illustris Amstelodamensium Athenaei Memorabilia. Amsterdam 1832, p. 193. "Sed age, antequam dicendi finem faciam, suo sermone, et utinam sua suavitate et majestate, Musae se commendent: Hue ades, ο nostris, ades, ο Divina Poesis, cantibus et faciles ad mea vota Deae."
ANDREA GRÜN-OESTERREICH / RICHARD NATE
Renaissance-Poetik Eine Bibliographie der Forschungsliteratur
Die folgende Bibliographie erhebt nicht den Anspruch, einen in jeder Hinsicht umfassenden Überblick über die Forschungsliteratur zur Poetik der Renaissance zu geben. Sie verfolgt vielmehr das Ziel, dem Leser durch die Auswahl repräsentativer und möglichst aktueller Literatur einen ersten Einblick in den Forschungsstand zu vermitteln. Der erste Teil erfaßt die Primärliteratur durch die Aufnahme von Anthologien und ReprintReihen. Zwei weitere Teile umfassen die eigentliche Forschungsliteratur, die nach geographischen (Teil 2) und systematischen Gesichtspunkten (Teil 3) geordnet ist. Während im geographisch geordneten Teil eher allgemeine Darstellungen zur Renaissance-Poetik eines jeweiligen Landes berücksichtigt werden, finden sich im systematischen Teil wesentliche inhaltliche Aspekte, die in den Poetiken der Renaissance eine Bedeutung besitzen. Die hier vorgeschlagenen sachlichen Untergliederungen sollen lediglich als erste Orientierungen für den Benutzer verstanden werden. Forschungsarbeiten, die nur einem Autor gewidmet sind, sind nicht registriert. Die Abkürzungen der Zeitschriften folgen der Μ LA-Praxis.
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Register Personenregister Abbott, Don 83 Abrams, Μ. H. 113 Adkins, A. W. H. 369 Adler, Jeremy 160 Adolph, Robert 12 Adorno, Theodor W. 95 Äsop 134 Agricola, Ignatius 197,199,211-212 Agricola, Rudolf 94, 107, 116-117, 119-123, 124-126,128-129 Aguzzi-Barbagli, Danilo 7,9,394 Ahrens, Rüdiger 148, 297, 300, 314, 396,399 Aischylos 180 Alardus Amstelredamus 122,126 Alatorre, A. 399 Albert, Lorenz 103,104 Alberti, Leon B. 55,60, 62,69, 70 Albertus Magnus 56, 62 Albornoz, Sänchez 93 Albrecht, Dieter 212 Alciatus, Andreas 131,319, 325-326, 342 Alcina Rovira, Juan Francisco 76 Alewyn, Richard 100,193 Allen, Don Cameron 149,166,406 Allison, Alexander W. 403 Allott, Robert 20 Altmann, Lothar 213 Amerbach, Vitus 103
Amphion 173, 174 Anakreon 152 Anaxagoras 274 Aneau, BartMlemy 131-132,153 Aquin, Thomas von 25, 116, 118, 221 Ar^valo, Sänchez de 79 Ariosto, Lodovico 13, 17, 150, 188, 363 Aristophanes 183 Aristoteles 3, 5, 9, 10, 14, 17, 30-32, 34-35, 48, 50, 54, 68, 71, 74, 76, 97, 99, 103, 106, 107, 110, 112, 118, 128, 142, 152, 155, 160, 168, 177, 187, 189, 194, 196, 197, 202-204, 207-208, 214, 221, 234, 242, 258, 261-263, 267-269, 362-370, 372, 374,376,379,382,384 Arndt, Horst 147 Ascham, Roger 155 Asmuth, Bernhard 94-113 Atkins, J. W. Η. 8,396 Attridge, Derek 17,139,406 Auberlen, Eckhard 396 Augustinus, Aurelius 54, 66, 67, 231,236,341 Averroes 99 Avicenna 384 Bachem, Rolf 16
410
Register
Bacon, Francis 5, 12, 286-310, 312314 Badius Ascensius, Iodocus 9 Baena, Juan Alfonso de 77, 78 Baldwin, Anna 396 Baldwin, Charles Sears 8, 393 Bale, John 175 Barbaro, D. 60 Barben, S. G. 11 Barclay, John 194 Bareiss, Karl-Heinz 399 Barilli, Renato 12, 403 Barish, Jonas 16 Barkan, Leonard 406 Baron, Hans 8,401 Baroway, Israel 12, 13,399 Barthius, Caspar 380 Bassus, Caesius 150 Bath, Michael 347 Baudelaire, Charles 389 Bauer, Barbara 99, 110,197-238 Baumgarten, Alexander Gottlieb 94 Baumlin, James S. 168 Baur, Rudolf 96,102,397 Baxter, Timothy M. S. 316 Bebel, Heinrich 101,102,104,187 Beccadelli, L 251,254 Behrens, Irene 3, 148,149, 151, 178, 399 Beierwaltes, Walter 11,60, 62, 66,67 Beltrami, Fabbrizio 44-45 Bembo, Pietro 28-29, 188, 244, 255256 Benham, A. R. 9 Beni, Paolo 369 Benjamin, Walter 95 Bernhart, Walter 406 Berry, Herbert 399
Bersmann, Gregor 103 Bersuire (Bercheur), Pierre 38 Bickmann, Claudia 178 Bidermann, Jacob 197,199,211 Binet, Etienne 343, 345, 349 Bleckwenn, Helga 113 Blumenberg, Hans 32 Boccaccio, Giovanni 16, 25, 29, 3841,43, 51, 78,111,168 Böhme, Jakob 380 Boethius 56, 158 Boiardo, Matteo Maria 363 Boileau-Despräaux, Nicolas 189, 243 Bolzoni, Lina 33, 55 Bonaventura 61 Bongiorno, Andrew 10, 31 Boor, Helmut de 99 Borinski, Karl 95, 101, 103,177, 181, 393,397 Borsche, Tilman 316 Borsetto, L. 29 Borst, Arno 149 Boyce, Benjamin 400 Boyd, John D.401 Boyd, M. J. 243 Bradbrook, Muriel C. 271,272 Braselmann, Petra 80 Braubach, P. 130 Braungart, Georg 195,196,199 Bray, Ren