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German Pages 414 [416] Year 2020
Sarah Ihden Relativsätze im Mittelniederdeutschen
Lingua Historica Germanica
Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Herausgegeben von Stephan Müller, Claudia Wich-Reif und Arne Ziegler
Band 23
GGSG
Gesellschaft für germanistische Sprachgeschichte e.V.
Sarah Ihden
Relativsätze im Mittelniederdeutschen
Korpuslinguistische Untersuchungen zu Struktur und Gebrauch
Gedruckt mit Unterstützung der Irmgard-Schreckenbach-Stiftung.
ISBN 978-3-11-067769-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067846-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067854-3 ISSN 2363-7951 Library of Congress Control Number: 2020937842 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine leicht bearbeitete Version meiner im Dezember 2018 an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg eingereichten Dissertationsschrift zur Erlangung des Grades der Doktorin der Philosophie. Am Gelingen der Arbeit – vom Beginn des Promotionsprojektes bis zur Fertigstellung des Druckes – haben einige Menschen einen wesentlichen Anteil; ihnen möchte ich auf diesem Weg einen ganz herzlichen Dank aussprechen. Bei Prof. Dr. Stephan Müller, Prof. Dr. Claudia Wich-Reif und Prof. Dr. Arne Ziegler bedanke ich mich für die Aufnahme meiner Monographie in die Reihe „Lingua Historica Germanica“. Außerdem danke ich Dr. Elisabeth Kempf, Laura Burlon und David Jüngst vom Verlag de Gruyter für die kompetente Beratung und die freundliche Betreuung während des Druckprozesses. Ein herzlicher Dank gilt ferner der Irmgard-Schreckenbach-Stiftung, die die Publikation dieser Arbeit mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert hat. Ganz besonders bedanke ich mich bei meiner Betreuerin Prof. Dr. Ingrid Schröder, die in mir die Begeisterung für die mittelniederdeutsche Sprache geweckt und die mich zu jeder Zeit während der Promotion mit wertvollem Rat unterstützt hat. Meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Heike Zinsmeister danke ich vor allem für die hilfreichen Hinweise zur Anwendung statistischer Verfahren in meiner Studie. Für die Übernahme des Drittgutachtens zu meiner Dissertationsschrift geht außerdem ein großer Dank an Prof. Dr. Andreas Bieberstedt. Einen herzlichen Dank möchte ich außerdem meinen lieben Freundinnen und geschätzten Kolleginnen Dr. Yvonne Hettler und Anabel Recker aussprechen, die nicht nur durch gründliches Korrekturlesen und einen intensiven Austausch über unterschiedliche philologische Fragen und Herausforderungen, sondern auch durch ihre freundschaftliche Unterstützung und Motivation zum Gelingen meines Promotionsprojektes beigetragen haben. Auch meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur danke ich für die vielfältige Unterstützung – Fabian Barteld für die computerlinguistische Expertise, Katharina Dreessen für die regen Diskussionen über komplizierte Fälle der mittelniederdeutschen Syntax, Dr. Sabina Tsapaeva für die Hilfe bei der Übersetzung schwieriger Textstellen und Lara Neumann für den Rat zum Einsatz von Statistik in der Linguistik. Einen großen Dank möchte ich außerdem an meine Familie richten. Bei meinen Eltern, Sylvia und Reiner Ihden, bedanke ich mich für ihre Unterstützung und das Verständnis in der arbeitsintensiven Zeit während des Promotionsprojektes; meiner Schwester, Dr. Tanja Ihden, danke ich vor allem für den kritischen Austausch zur Anwendung von Signifikanztests in korpuslinguistischen Auswertungen. Zu guter Letzt gilt für umfangreiches und intensives Korrekturlesen, für hilfreiche Hinweise und für Geduld und Verständnis ein ganz besonderer Dank an Dr. Mark Emanuel Amtstätter. Sarah Ihden https://doi.org/10.1515/9783110678468-202
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis 1
Einleitung
XIII XV
1
2 Theoretische Grundlegung 5 2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale 5 2.1.1 Der Relativsatzbegriff in der linguistischen Literatur 5 2.1.1.1 Verortung innerhalb der Nebensätze 5 2.1.1.2 Das Einleitungselement des Relativsatzes 8 2.1.1.3 Funktion(en) des Relativsatzes 10 2.1.2 Der Relativsatzbegriff in dieser Arbeit – erste Annäherung an eine Definition 11 2.1.2.1 Überblick 11 2.1.2.2 Nebensatzstatus 13 2.1.2.3 Bezugselement 15 2.1.2.4 Funktion der näheren Bestimmung 16 2.1.2.5 Satzgliedwert 16 2.2 Subklassifizierung der Relativsätze 18 2.2.1 Attributiver Relativsatz 18 2.2.1.1 Restriktiver Relativsatz 20 2.2.1.2 Appositiver Relativsatz 21 2.2.1.3 Weiterführender Relativsatz 23 2.2.2 Freier Relativsatz 28 2.3 Abgrenzung der Relativsätze in der neuhochdeutschen Standardsprache von anderen Satztypen 35 2.3.1 Irrelevanzkonditionalsätze 35 2.3.2 Propositionsfundierte w-Sätze 38 2.3.2.1 Interrogative Nebensätze 39 2.3.2.2 w-Exklamativsätze mit Verbletztstellung 41 2.3.2.3 w-Verbletztsätze als Überschriften 42 2.3.3 Subjunktorsätze 42 2.3.4 Hauptsätze 44 2.4 Formen und Eigenschaften des Relativums 46 2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz 51 2.5.1 Mittelniederdeutsche Relativa und ihr historischer Ursprung 2.5.1.1 d-Pronomen und -Adverbien 51
51
VIII
Inhaltsverzeichnis
2.5.1.2 2.5.1.3 2.5.1.3.1 2.5.1.3.2 2.5.1.3.3 2.5.1.4 2.5.2 2.5.2.1 2.5.2.2 2.5.2.3 2.5.2.3.1 2.5.2.3.2 2.5.2.4 2.5.2.5
3 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.2.3 3.3.2.4 3.3.2.5 3.3.2.6 3.3.2.7 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.3.4 3.3.3.5
w-Pronomen, -Adverbien und -Artikel 54 Relativpartikeln 58 dê 58 sô und alsô 59 unde 61 Übersicht 63 Abgrenzung mittelniederdeutscher Relativsätze von anderen Satztypen 65 Irrelevanzkonditionalsätze 65 Propositionsfundierte w-Sätze 67 Subjunktorsätze 68 Temporal-, Konditional- und Vergleichssätze mit wan, (al)sô und dô 68 Konditionale Adverbialsätze mit dâr / (s)wôr 72 Hauptsätze 74 Definition des mittelniederdeutschen Relativsatzes in dieser Arbeit 78
Die korpuslinguistische Studie 81 Ausgangspunkt: Der mittelniederdeutsche Relativsatz in der Forschung 81 Zielsetzung und Methode der Studie 83 Das Korpus 85 Gesamtkorpus und Teilkorpora 85 Zu den Texten des diachronen Teilkorpus 90 Einführende Hinweise zur Problematik der Abhängigkeiten bei Rechtstexten 90 Schiffsrecht des Hamburger Stadtrechts von 1301 / 06 (Hamb. SchiffsR) 90 Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497 (Hamb. StR) 91 Stader Stadtrecht von 1279 (Stader StR) 93 Bremer Stadtrecht von 1303 / 04–1424 (Bremer StR) 93 Otterndorfer Statuten von 1541 (Otternd. St.) 94 Rechtsbuch des Alten Landes von 1580 (Alt. Land Rechtsb.) 95 Zu den Texten des textsortenspezifischen Teilkorpus 96 Buxtehuder Evangeliar, Johannesevangelium (Buxteh. Ev.) 96 Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497 (Hamb. StR) 96 Griseldis / Sigismunda und Guiscardus (Gris. / Sig.) 96 Veer Koeplude (Veer Koepl.) 97 Lüneburger Liber Memorialis (Lüneb. Lib. Mem.) 98
IX
Inhaltsverzeichnis
3.3.3.6 3.3.4 3.3.4.1 3.3.4.2 3.3.4.3 3.3.4.4 3.3.4.5 3.3.4.6 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.2.1 3.4.2.2 3.4.2.3
Bremer und Hamburger Urkunden (1491–1500) (Brem. Uk., Hamb. Uk.) 99 Zu den Texten des diatopischen Teilkorpus 99 Stader Stadtrecht von 1279 (Stader StR) 99 Schiffsrecht des Hamburger Stadtrechts von 1301 / 06 (Hamb. SchiffsR) 100 Hildesheimer Stadtrecht um 1300 (Hildesh. StR) 100 Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt von 1279 (Duderstadt) 100 Goslarer Kramerrecht von 1281 (Gosl. KramerR) 101 Braunschweiger Sachsenspiegel-Fragmente aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts (Ssp.-fragm.) 102 Annotation 103 Annotation und Datenauswertung 103 Herausforderungen in der Annotation mittelniederdeutscher Relativsätze 108 Wortstellungsvariation 108 Identifizierung der Satzglieder 111 Differenzierung zwischen Präpositionalobjekt und Adverbial 112
4 Analyse 115 4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen 115 4.1.1 Relativsatz 115 4.1.2 Relativsatztypen 122 4.1.2.1 Freie und attributive Relativsätze 122 4.1.2.2 Semantische Typen attributiver Relativsätze 128 4.2 Relativsatzeinleiter 133 4.2.1 Form 133 4.2.1.1 Übersicht 133 4.2.1.2 Potentiell elliptische Relativa 135 4.2.1.3 Relativpronomen 139 4.2.1.4 Relativadverbien 149 4.2.1.5 Relativartikel 154 4.2.1.6 Relativpartikeln 159 4.2.2 Korrelation zwischen Relativsatzeinleiter und Relativsatztyp 4.2.3 Syntaktische Funktion des Relativausdruckes 172 4.2.3.1 Pronomen 172 4.2.3.2 Adverb 175 4.2.3.3 Artikel 177 4.2.3.4 Partikel 179 4.2.4 Zusammenfassung 182 4.3 Wortstellung innerhalb der Relativsätze 183
163
X
Inhaltsverzeichnis
4.3.1 4.3.1.1 4.3.1.2 4.3.1.3 4.3.1.3.1 4.3.1.3.1.1 4.3.1.3.1.2 4.3.1.3.2 4.3.1.4 4.3.1.5 4.3.1.6 4.3.1.7 4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.2.4 4.3.2.5 4.3.2.6 4.3.2.7 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.3.1 4.4.3.2 4.4.4 4.4.4.1 4.4.4.2 4.4.4.3
4.4.4.4 4.4.4.5 4.5 4.6 4.7
Stellung des finiten Verbs 183 Hinweise zur Bezeichnung der Verbstellungstypen 183 Überblick 185 Verbspätstellung 189 Nachfeldbesetzung 189 Anteil der Nachfeldbesetzungen 191 Art der Elemente im Nachfeld 197 Position des finiten Verbs im Verbalkomplex 205 Afinite Konstruktionen 214 Verbzweitstellung 218 Zusammenfassung: Profilierung der Verbletztstellung im mittelniederdeutschen Relativsatz? 223 Exkurs: Bewertung der Quellen für eine angemessene Gesamtdarstellung zum Mittelniederdeutschen 224 Relativpartikeln nach dem Relativausdruck 225 dâr 225 dat 230 dê 234 sô 237 ôk 242 Weitere Relativpartikeln? 245 Zusammenfassung 246 Trennung von Pronominaladverbien 247 Genitivattribute 255 Das Verhältnis des Relativsatzes zum Matrixsatz 261 Stellung des Relativsatzes 261 Syntaktische Funktion freier Relativsätze 266 Referent 271 Art des Referenten 271 Kongruenz zwischen dem Referenten und dem Relativsatz 274 Syntaktische Integration 282 Relativsätze mit Matrixsatz 283 Relativsätze ohne unmittelbaren Matrixsatz 290 Differenzierung der vorangestellten freien Relativsätze sowie der attributiven Relativsätze in Zwischenstellung zum Matrixsatz nach ihrem Grad der syntaktischen Integration 294 Konstruktionen mit Nebensatz in Matrixsatzfunktion 302 Verteilung der Typen syntaktischer Integration im Korpus 306 Nähe freier Relativsätze zu Konditionalsätzen 312 Umfang der Relativsätze 317 In den Relativsatz integrierte Sätze und satzwertige Konstruktionen 325
Inhaltsverzeichnis
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2
Zum Einfluss des Entstehungskontextes 335 Entstehungszeit 335 Zusammenfassung der Ergebnisse 335 Ausbau des mittelniederdeutschen Relativsatzes 338 Textsorte 345 Zusammenfassung der Ergebnisse 346 Zum potentiellen Einfluss der Ausgangssprache bei Übersetzungstexten 350 5.2.2.1 Erzählungen mit hochdeutscher Vorlage 350 5.2.2.2 Bibeltext mit lateinischer Vorlage 352 5.3 Sprachraum 354 5.3.1 Zusammenfassung der Ergebnisse 355 5.3.2 Methodische Konsequenz 357 6
Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
365
Anhang: Signifikanztests Register
397
361
391
XI
Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19
Abb. 20 Abb. 21
Relativsatz nach Satzgliedern strukturiert 105 Relativsatzanteil – textsortenspezifisch 116 Attributive und freie Relativsätze – textsortenspezifisch 124 Attributive und freie Relativsätze – diachron 126 Typen attributiver Relativsätze – textsortenspezifisch 129 Typen attributiver Relativsätze – diachron 131 Relativpronomen – diachron 145 Relativpronomen – textsortenspezifisch 147 d- und w-Pronomen in attributiven Relativsätzen 164 d- / sw- und w-Pronomen in freien Relativsätzen 167 Syntaktische Funktion der Relativausdrücke mit Pronomen – textsortenspezifisch 175 Anteil der nachfeldfähigen Relativsätze mit und ohne Nachfeld – diachron Anteil der nachfeldfähigen Relativsätze mit und ohne Nachfeld – textsortenspezifisch 194 Anteil der nachfeldfähigen Relativsätze mit und ohne Nachfeld – diatopisch Stellungsvarianten im zweigliedrigen Verbalkomplex – textsortenspezifisch Anteil der Verbzweit-, Verbspät- und Verbletztsätze 219 Relativsätze mit Finitum an zweiter Position aufgrund von NF-Besetzung – diachron (Anteil an sämtlichen Relativsätzen) 222 Position des Relativsatzes nach Relativsatztyp 266 Skala der syntaktischen Integration vorangestellter freier Relativsätze und attributiver Relativsätze in Zwischenstellung zum Matrixsatz (deklarativer Hauptsatz) 301 Skala der syntaktischen Integration vorangestellter freier Relativsätze und attributiver Relativsätze in Zwischenstellung zum Matrixsatz (Nebensatz) Umfang der attributiven Relativsätze – textsortenspezifisch 321
https://doi.org/10.1515/9783110678468-204
193
196 209
306
Tabellenverzeichnis Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6 Tab. 7 Tab. 8 Tab. 9 Tab. 10 Tab. 11 Tab. 12 Tab. 13 Tab. 14 Tab. 15 Tab. 16 Tab. 17 Tab. 18 Tab. 19 Tab. 20 Tab. 21 Tab. 22 Tab. 23 Tab. 24 Tab. 25 Tab. 26 Tab. 27 Tab. 28 Tab. 29 Tab. 30 Tab. 31 Tab. 32 Tab. 33
Paradigma der d-Relativpronomen 47 Mittelniederdeutsche Relativa 64 Überschneidung mittelniederdeutscher Subjunktoren, Relativa und Interrogativa 65 Teilkorpus für den diachronen Zugriff 87 Teilkorpus für den textsortenspezifischen Zugriff 88 Teilkorpus für den diatopischen Zugriff 89 Häufigkeit der Relativsätze 116 Übersicht der Relativsatztypen 122 Übersicht zu den Typen attributiver Relativsätze 128 Klassen von Relativsatzeinleitern 133 Relativpronomen 144 Relativadverbien 149 Relativartikel 156 Relativpartikeln 160 Syntaktische Funktion der Relativausdrücke mit Pronomen als Relativum 172 Syntaktische Funktion der Relativausdrücke mit Adverb als Relativum 176 Syntaktische Funktion der Relativausdrücke mit Artikel als Relativum 177 Stellung des Finitums 186 Anteil der nachfeldfähigen Relativsätze mit und ohne Nachfeldbesetzung 192 Art der Phrasen in den Satzgliedern im Nachfeld 197 Syntaktische Funktion der Satzglieder im Nachfeld 202 Stellungsvarianten im zweigliedrigen Verbalkomplex 207 Stellungsvarianten nach Konstruktionstypen 210 Relativsätze mit der Partikel dâr 229 Relativsätze mit der Partikel dê 235 Relativsätze mit der Partikel sô 239 Relativsätze mit der Partikel ôk 244 Stellung der relativen Pronominaladverbien 249 Position attributiver (nicht-weiterführender) Relativsätze 262 Position freier Relativsätze 265 Syntaktische Funktion freier Relativsätze 267 Typen syntaktischer Integration in freien und attributiven Relativsätzen mit deklarativem Hauptsatz als Matrixsatz 307 Durchschnittliche Relativsatzlänge nach Wortanzahl im Relativsatz selbst (ohne intS) sowie inklusive in den Relativsatz integrierter Satzeinheiten (mit intS) 319
https://doi.org/10.1515/9783110678468-205
1 Einleitung Der Bereich der Syntax war innerhalb der Forschung zum Mittelniederdeutschen lange Zeit vernachlässigt worden, was sich u. a. deutlich in den älteren mittelniederdeutschen Grammatiken von Lübben (1882), Colliander (1912), Sarauw (1924) und Lasch (1974 / 1914)1 widerspiegelt: Während darin Phonologie und Morphologie ausführlich beschrieben sind, werden syntaktische Aspekte nur am Rand berührt.2 Eine neue wissenschaftliche mittelniederdeutsche Grammatik, die auch die Syntax umfassend beschreibt, stellt daher noch immer ein dringendes Forschungsdesiderat dar.3 Eine wichtige Basis für eine solche Grammatik bilden einerseits komplexe Beschreibungen der mittelniederdeutschen Syntax – hier existiert bislang nur die dänische Arbeit Forsøg til en middelnedertysk syntax von Nissen (1884)4 – sowie Einzelstudien zu syntaktischen Phänomenen im Mittelniederdeutschen, von denen im Zuge des in den vergangenen Jahrzehnten zunehmenden Forschungsinteresses an der Syntax des Niederdeutschen5 eine Reihe entstanden ist. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang u. a. die Arbeiten von Tophinke (2009, 2012) und Tophinke & Wallmeier (2011) zum syntaktischen Ausbau in mittelniederdeutschen Rechtstexten, von Schröder (1992b), Rösler (1997), Bieberstedt (2005) und Battefeld (2010) zur Verbstellung und Verbalsyntax, von Petrova (2015) und Fleischer (2013) zur Stellung dativischer und akkusativischer Argumente im Satz, von Breitbarth (2014) und Schröder (2014) zur Negation, von Wallmeier (2013) und Dreessen & Ihden (2016) zu sprachlichen Mustern sowie verschiedene kursorische Analysen, z. B. von Fischer & Peters (2012) sowie Dreessen & Ihden (2015).6 Dabei stützen sich v. a. die Studien der jüngeren Forschung auf ganz unterschiedliche theoretische Grundlagen: Neben generativen Arbeiten wie von Petrova (2013) zur Grundwortstellung und Variationen dieser und Farasyn (2018) zu Subjektkongruenz finden sich auch kognitive und konstruktionsgrammatische Ansätze wie in den Arbeiten von Merten (2018) zum Sprachausbau in Rechtstexten und Dreessen (2017, i. E.) zum Einfluss von Belebtheit auf Kasusmarkierung. Die methodische Ebene betreffend basiert der wachsenden Bedeutung von Korpuslinguistik für die historische Syntaxforschung entsprechend ein zunehmender Anteil der jüngeren
1 Die Seitenzahlen beziehen sich in der gesamten Arbeit auf die 2. Aufl. aus dem Jahr 1974. 2 Die nicht fertiggestellte Arbeit von Colliander (1912) bricht im 3. Hauptteil „Syntaktisches“ bereits nach zwei Seiten ab. 3 Zu den Anforderungen an eine neue Grammatik des Mittelniederdeutschen s. Schröder (2014: 152–153). 4 An allgemeinen Darstellungen ist zudem der Handbuchartikel von Härd (2000) zu nennen, der jedoch verständlicherweise lediglich ausgewählte Aspekte enthält. 5 Einen Forschungsüberblick zur Syntax niederdeutscher Dialekte liefert Appel (2007: 13–39). 6 Einen Überblick zu den Arbeiten der skandinavischen Germanisten und Germanistinnen liefert Mähl (2014: 13). https://doi.org/10.1515/9783110678468-001
2
1 Einleitung
Arbeiten auf Korpora, so auch die Studien von Mähl (2014) zu mehrgliedrigen Verbalkomplexen und Ihden (2017, 2019, i. E.) zu Relativsätzen. Die lange Zeit den Forschungsdiskurs dominierende Auffassung, die Syntax des Mittelniederdeutschen unterscheide sich nicht (wesentlich) von der des Mittelund Frühneuhochdeutschen (vgl. z. B. Rösler 1997: 235), wird inzwischen kritisch betrachtet (z. B. von Mähl 2014: 15). Während in diesem Zusammenhang „eine theoretische Diskussion der Frage, was unter einer ‚niederdeutschen‘ syntaktischen Struktur eigentlich zu verstehen ist“ (Berg u. a. 2012: 279) noch aussteht, haben verschiedene Arbeiten zu syntaktischen Phänomenen im Mittelniederdeutschen bereits bestätigt, dass tatsächlich Unterschiede zum Hochdeutschen bestehen. Bartsch & Schultz-Balluff (2015: 244) zeigen in ihrer Untersuchung komplexer Satzgefüge in paralleler Überlieferung von St. Anselm im Hoch- und Niederdeutschen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert u. a. im Bereich der Subjunktoren Unterschiede zwischen den nieder- und den hochdeutschen Texten. Weitere Differenzen zwischen dem Mittelniederdeutschen und dem Hochdeutschen weist Mähl nach: zum einen auf morpho-syntaktischer Ebene im Adjektiv-Adverb-Bereich (vgl. Mähl 2004: 185) und zum anderen in der Verbalsyntax (vgl. Mähl 2014: 264). Auch in Bezug auf die Wortstellung im Satz wurden spezifische niederdeutsche Merkmale der Syntax herausgearbeitet: Fleischer (2013: 70) zeigt in einem Vergleich der ältesten Luther-Bibel mit deren mittelniederdeutscher Übersetzung in der Bugenhagen-Bibel wesentliche Unterschiede in der Abfolge akkusativischer und dativischer Personalpronomen, was laut Fleischer (2013: 70) darauf hindeute, „dass dieser syntaktische Unterschied zwischen Hochdeutsch und Niederdeutsch bei der Übersetzung offensichtlich als so gravierend empfunden wurde, dass eine Änderung geboten schien“. Nicht nur vor dem Ziel einer umfassenden grammatischen Beschreibung des Mittelniederdeutschen, sondern auch mit Blick auf einen Vergleich zwischen hoch- und niederdeutscher Syntax erweisen sich also syntaktische Studien zum Mittelniederdeutschen als notwendig und lohnenswert. Trotz der zahlreichen inzwischen vorliegenden Publikationen gelten große Bereiche der mittelniederdeutschen Syntax in der Forschung noch immer als Desiderat. Hierzu zählt besonders der syntaktische Wandel innerhalb des Mittelniederdeutschen. Tophinke (2012: 22–23) hält in diesem Zusammenhang fest: „Aussagen über Dynamik, Richtung und Verlauf der syntaktischen Ausbauprozesse sind auf der Basis der vorliegenden Untersuchungen nicht möglich.“ Nicht nur mit Bezug auf die zeitliche Entwicklung, sondern deutlich allgemeiner formuliert Mähl (2014: 15), „dass eine systematische Behandlung der mittelniederdeutschen Syntax, die die wichtigen Aspekte Diachronie, Sprachraum und Vielfalt der Textsorten berücksichtigt, immer noch aussteht“. An diesem Punkt setzt die vorliegende korpuslinguistische Studie an, die eine möglichst umfassende Beschreibung des mittelniederdeutschen Relativsatzes zum Ziel hat und sich damit u. a. als Beitrag zu einer neuen wissenschaftlichen mittelniederdeutschen Grammatik versteht. Die Beschreibung basiert auf quantitativen
1 Einleitung
3
und qualitativen Analysen und umfasst zum einen die Struktur des Relativsatzes, zum anderen das Vorkommen dieser strukturellen Merkmale und den Gebrauch der einzelnen Relativsatztypen in verschiedenen Quellen. Dabei findet die diasystematische Variation als Kennzeichen historischer Sprachstufen des Deutschen7 besondere Berücksichtigung: Mithilfe eines differenzierten Korpus mittelniederdeutscher Texte, das sich in verschiedene Teilkorpora gliedert, soll ein möglicher Einfluss von Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum auf Struktur und Gebrauch des Relativsatzes untersucht werden. Die vorliegende Arbeit gliedert sich insgesamt in einen theoretischen und einen methodischen Abschnitt sowie einen umfangreicheren Analyse- und Ergebnisteil. In Kap. 2 erfolgt zunächst die theoretische Grundlegung mit dem Ziel einer klaren Begriffsbestimmung für den mittelniederdeutschen Relativsatz, der den Analysen zugrunde gelegt werden kann. In Kap. 3 der Arbeit werden nach einem Blick auf den Forschungsstand zum mittelniederdeutschen Relativsatz die Zielsetzung und Methode der Studie sowie das Korpus, die den Analysen zugrunde liegenden Annotationen und die Datenauswertung eingehend erläutert. In Kap. 4 erfolgen die Analysen mit Bezug auf die formulierte Fragestellung und Zielsetzung. Kap. 5 widmet sich dem potentiellen Einfluss von Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum, indem für jeden Parameter die Ergebnisse aus dem Analysekapitel zusammengetragen und damit verbundene weiterführende Überlegungen angeschlossen werden. Das abschließende Kap. 6 enthält eine Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse der Untersuchung sowie einen Ausblick auf weitere mögliche und notwendige Forschungen zum mittelniederdeutschen Relativsatz.
7 Für das Mittelhochdeutsche bspw. geht Herbers (2014: 136) auf die Bedeutung zeitlicher, regionaler sowie textsorten- und textbedingter Variation im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer neuen wissenschaftlichen mittelhochdeutschen Grammatik ein. Die Relevanz diasystematischer Variation spiegelt sich in der methodischen Ausrichtung dieser Mittelhochdeutschen Grammatik (Klein u. a. 2009, 2018) wider.
2 Theoretische Grundlegung In den folgenden Kapiteln werden nach einer Definition des Relativsatzes die damit verbundenen Merkmale sowie die Subklassifizierung der Relativsätze synchron auf dem neuhochdeutschen Sprachstand basierend vorgestellt. Auf dieser theoretischen Grundlage wird anschließend in Kap. 2.5 der mittelniederdeutsche Relativsatz in den Fokus gerückt mit dem Ziel einer klaren Begriffsbestimmung und deutlichen Abgrenzung gegenüber anderen Satztypen, die den Analysen zugrunde gelegt werden.
2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale So umfangreich die Forschung zu Relativsätzen nicht nur im Deutschen ist,8 so groß ist auch das terminologische Wirrwarr rund um den Relativsatz. Nicht nur die Auffassung darüber, was als Relativsatz zu bestimmen ist, und folglich der Umfang und die Art der verschiedenen dazu zählenden Typen unterscheiden sich; auch werden bestimmte Begriffe, z. B. zur Benennung dieser Relativsatztypen, unterschiedlich verwendet. Aus diesem Grund ist es notwendig, einer jeden Untersuchung, die sich mit Relativsätzen befasst, eine konkrete Definition des zugrunde gelegten Relativsatzbegriffes voranzustellen. Oft jedoch fehlt diese und muss aus der Analyse und den Ergebnissen geschlossen werden, was die Vagheit des Begriffs verstärkt.
2.1.1 Der Relativsatzbegriff in der linguistischen Literatur 2.1.1.1 Verortung innerhalb der Nebensätze Am häufigsten begegnet in Definitionen und Beschreibungen des Relativsatzes der Hinweis auf seinen Nebensatzstatus. In den Grammatiken und Einführungswerken zur Syntax findet sich der Relativsatz daher als eine Subklasse der Nebensätze wieder. Dabei führt die teilweise sehr unterschiedliche Kategorisierung der Nebensätze gleichzeitig zu einer abweichenden Begriffsbestimmung und Systematisierung der Relativsätze abhängig davon, welches Differenzierungskriterium genutzt wird.
8 Bereits Lehmann (1984: 4) verweist auf den enormen Umfang an Literatur zum Relativsatz. Neben zahlreichen sprachvergleichenden Studien (z. B. Lehmann 1984, Zifonun 2001) stehen nur wenige vergleichende Arbeiten zum Relativsatz in den Dialekten des Deutschen (z. B. Weise 1916, Fleischer 2005). Außerdem ist „über die Diachronie des Relativsatzes [. . .] vergleichsweise wenig Allgemeines bekannt“ (Lehmann 1995: 1199). Dies zeigt sich auch mit Blick auf das Mittelniederdeutsche (s. hierzu Kap. 3.1). https://doi.org/10.1515/9783110678468-002
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2 Theoretische Grundlegung
Um Relativsätze von anderen Nebensätzen abzugrenzen, nutzen u. a. Pittner & Berman (2010: 103–106) das Kriterium der Form und unterscheiden so zwischen Relativsätzen (Der Stift, der Maria gehört, schreibt schlecht)9, eingebetteten Interrogativsätzen (Sie fragt ihn, wer lügt), Konjunktionalsätzen10 (Er sagt, dass er mutiger geworden ist) und infiniten Sätzen (Er versprach, zu essen). Engel (2009: 13–161) hingegen unterteilt die Nebensätze nach ihrer syntaktischen Funktion in Ergänzungssatz-Komplexe, Angabesatz-Komplexe und Attributsatz-Komplexe. Zu den Ergänzungssatz-Komplexen zählen u. a. Subjektsätze (Dass sie unerbittlich blieb, bedrückte mich sehr) und innerhalb dieser die sogenannten „definiten und generalisierenden Nebensätze“ mit einleitendem w-Wort (Wer das gesagt hat, ist mir seit langem bekannt).11 Die Angabesatz-Komplexe enthalten u. a. die Adverbialsätze (Temporal-, Lokalsätze usw.), aber auch die Negativsätze und innerhalb dieser die weiterführenden Angabesätze (Er bezeichnete das Haus als mängelfrei, was so nicht richtig war). Zu den Attributsatz-Komplexen schließlich zählen die Relativsätze wie in der Starenschwarm, den du gesehen hast, darunter auch die weiterführenden Relativsätze wie in Ich empfahl seine Wirtschaftsweise vielen anderen Landwirten, denen das „Wagnis“ jedoch zu groß erschien (vgl. Engel 2009: 138–161). Eine weitere Kategorisierung nach funktionalen Kriterien, nämlich nach der „Satzteilfunktion“, liefern Hentschel & Weydt (2013: 380). Sie unterscheiden innerhalb der Nebensätze zwischen Subjekt-, Objekt- und Prädikativsätzen, zu denen sie jeweils auch die freien Relativsätze zählen (z. B. in Subjektfunktion: Der da drüben kommt, ist mein Nachbar), Adverbialsätzen und Attributsätzen (vgl. Hentschel & Weydt 2013: 380–381). Letztere werden nach dem einleitenden Element in Relativsätze (Der Spion, der aus der Kälte kam) und konjunktionale Attributsätze (Der Moment, als seine Mutter hereinkam) unterteilt (vgl. Hentschel & Weydt 2013: 383–384). Als Sonderform der Attributsätze kommen außerdem die weiterführenden Nebensätze
9 Die Beispiele sind jeweils den genannten Grammatiken und Einführungswerken entnommen (ohne Hervorhebungen), die z. T. einen übermäßigen Anteil an maskulinen Subjekten (vorwiegend Agens) in ihren Beispielen verwenden. Wo es möglich war, wurden zum Zweck einer stärkeren Ausgewogenheit Beispiele mit femininen Subjekten oder anderen Satzgliedern gewählt. 10 In dieser Arbeit wird hierfür nach der Grammatik von Zifonun u. a. (1997) der Terminus „Subjunktorsatz“ verwendet. 11 Die definiten und generalisierenden Nebensätze finden sich bei Engel (2009: 138–142) auch innerhalb der anderen Typen von Ergänzungssatz-Komplexen: bei den Akkusativsätzen (Wen du ausgesucht hast, möchte ich gerne sehen), den Genitivsätzen (Er entsann sich, dessen man ihn im vergangenen Jahr beschuldigt hatte), den Dativsätzen (Wem ich vertraue, helfe ich auch gern), den Präpositivsätzen (Worüber du sprichst, darüber haben wir uns gestern unterhalten), den Situativsätzen (Die Häuser standen, wo vor zwei Jahren noch ein Buchenwald gewesen war) und den Prädikativsätzen (Sie war, wie sie immer gewesen war), die in Übersichten anderer Grammatiken und Syntaxeinführungen den sogenannten freien Relativsätzen entsprechen, sowie bei den Expansivsätzen (Solange die Sitzung dauert, werde ich hier bleiben), die in anderen Arbeiten als Subjunktorsätze klassifiziert werden.
2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale
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(Sie hat mich gestern angerufen, was mich gefreut hat) hinzu – mit dem Hinweis, dass keine einheitliche Definition für diesen Terminus existiere (vgl. Hentschel & Weydt 2013: 385). In einigen Grammatiken werden für die Kategorisierung der Nebensätze sowohl die Form als auch die Funktion einbezogen, bspw. bei Helbig & Buscha (2013), die nach der Form zwischen satzwertigen Konstruktionen (Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen), uneingeleiteten Nebensätzen und eingeleiteten Nebensätzen und innerhalb dieser zwischen Nebensätzen mit w-Fragewort (Er fragt sie, wann sie kommt) – den indirekten Fragesätzen im syntaktischen Sinn –, Subjunktionalsätzen (Er ist nicht zur Arbeit gekommen, weil er krank ist) und Relativsätzen (Er hat Greifswald besucht, wo er geboren ist) unterscheiden (vgl. Helbig & Buscha 2013: 574). Zudem unterteilen sie die Nebensätze nach ihrer syntaktischen Funktion in Subjektsätze (Mich enttäuscht, dass er nicht gekommen ist), Objektsätze (Er begreift, dass er einen Fehler gemacht hat) und Adverbialsätze – entweder als Satzglied im Hauptsatz (Er wohnt, wo seine Eltern wohnen), was in anderen Arbeiten den sogenannten freien Relativsätzen entspricht, oder als freie Angabe (Er wurde ausgezeichnet, weil er Hervorragendes geleistet hat) – sowie in Attributsätze – darunter auch die Relativsätze (Ich brauche das Lehrbuch, das im Katalog angezeigt ist) – und weiterführende Nebensätze (Er arbeitet völlig selbstständig, was mir besonders gefällt) (vgl. Helbig & Buscha 2013: 590– 598). Zu diesen durch ein Relativum eingeleiteten weiterführenden Nebensätzen zählen Helbig & Buscha (2013: 592–593) mit was eingeleitete Relativsätze (Karsten ist gekommen, was erfreulich ist), mit Pronominaladverbien eingeleitete Relativsätze (Peter ist gekommen, worüber wir uns gefreut haben), mit relativ gebrauchten w-Wörtern eingeleitete Nebensätze (Er suchte Streit, weshalb wir uns schnell entfernten) und „freie“ Relativsätze mit d-Pronomen (Sie machte einen Versuch, der aber später restlos scheiterte), in denen der Inhalt des übergeordneten Satzes weitergeführt wird, Subjunktionalsätze mit als, die entweder das eigentliche Geschehen bezeichnen (Es war im August, als er nach Italien wanderte) oder eine unmittelbare Nachzeitigkeit ausdrücken (Wir waren gerade eingetreten, als es regnete), und Subjunktionalsätze mit wie (Er arbeitet fleißig, wie es scheint). Zifonun u. a. (1997: 2241) teilen die Nebensätze ebenfalls anhand des Einleitungselementes zunächst in nicht-eingeleitete und eingeleitete Nebensätze ein und letztere wiederum in Subjunktorsätze (Das Sportfest fiel aus, weil es den ganzen Tag regnete) und w / d-Sätze (Niemand verstand, was mit dieser Behauptung gemeint war). Auf Basis dieser Einteilung nehmen Zifonun u. a. (1997: 2241) eine syntaktisch-semantische Kategorisierung mit den grundlegenden Kategorien Term, Adverbiale und Nomenmodifikator vor. Als Termsätze können Subjunktorsätze mit dass und ob (Eine Tatsache ist, daß Versprechen seltener gehalten als gegeben werden), nicht-eingeleitete V2-Nebensätze (Man befürchtet, die Aktien werden schneller fallen als erwartet) sowie Nebensätze mit w-Elementen (Niemand verstand, was mit dieser Behauptung gemeint war) fungieren (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2241). Innerhalb der Nebensätze in Adverbialfunktion unterscheiden Zifonun u. a. (1997: 2242) zwischen
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2 Theoretische Grundlegung
verbgruppenbezogenen Adverbialsätzen (Er unterhielt sich mit Leuten, wie er es von früher her gewohnt war, nämlich ganz locker und ungelöst) und Satzadverbialsätzen (Er unterhielt sich mit den Leuten, wo es ihm gefiel) – in anderen Übersichten den sogenannten freien Relativsätzen entsprechend. Nomenmodifikatorsätze können nach Zifonun u. a. (1997: 2244) Nebensätze mit w / d-Elementen (Die Erwartungen, die wir hegten, wurden enttäuscht) oder bestimmte Adverbialsätze (Der Tag, als endlich der Regen kam, war einer der letzten Augusttage) sein. Die Grammatik des Duden (2016: 1037–1038, § 1648) unterscheidet bei den Nebensätzen nach „Form“ den Subjunktionalnebensatz (Wenn wir morgen das Spiel gewinnen, sind wir Meister), den uneingeleiteten Verbzweitnebensatz (Ich denke, Agnes wird nachher auch noch kommen), den uneingeleiteten Verberstnebensatz (Siegen wir dieses Jahr nicht, müssen wir es nächstes Jahr überlegter angehen), die satzwertige Infinitivphrase (Anna vergaß, das Licht zu löschen), die satzwertige Partizipphrase (Vom Donnergrollen aufgeschreckt, packten wir die Badesachen zusammen) und den Pronominalnebensatz, dessen Einleitungselement entweder ein Relativum ist (Wir organisieren Badeferien, die auch die Möglichkeit zum Sprachstudium geben) oder ein Interrogativum (Sagen Sie uns, worauf Sie besonderes Gewicht legen). Der Relativsatz fällt hier also in die Gruppe der Pronominalnebensätze. Gleichzeitig differenziert der Duden (2016: 1040, § 1652) auf semantischer Ebene zwischen Relativsätzen (Hunde, die bellen, beißen nicht) auf der einen Seite und allen übrigen Nebensätzen auf der anderen. Hierzu zählen als Subjekt-, Objekt- und Prädikativnebensätze die sogenannten Inhaltssätze (Anna weiß, wem Otto den Zettel gegeben hat) und als Adverbialsätze und weiterführende Nebensätze die sogenannten Verhältnissätze (Man lernt, indem man etwas ausprobiert). Wie zu erkennen ist, hängt das terminologische Wirrwarr rund um den Relativsatz zu einem großen Teil mit den verschiedenen Kategorisierungen von Nebensätzen zusammen, v. a. mit der Überschneidung von formalen und funktionalen Kriterien. Das führt im Ergebnis erstens zu einem unterschiedlich weiten Relativsatzbegriff und zweitens zu einer uneinheitlichen Verwendung von mit diesem in Verbindung stehenden Termini wie „freier Relativsatz“ oder „weiterführender Nebensatz“ zur Bezeichnung besonderer Gruppen innerhalb der Relativsätze, auf die in Kap. 2.2 näher eingegangen wird. 2.1.1.2 Das Einleitungselement des Relativsatzes Ein weiteres Merkmal, das zusätzlich zum Nebensatzstatus in vielen Arbeiten zur Beschreibung des Relativsatzes herangezogen wird, wurde im Zusammenhang mit der Nebensatzkategorisierung bereits mehrfach erwähnt: das den Relativsatz einleitende Element, im Folgenden „Relativum“ genannt. Am häufigsten werden in diesem Zusammenhang die Begriffe „Relativpronomen“ und „Relativadverb“ verwendet, so z. B. bei Imo (2016: 148), dem zufolge Relativsätze von einem Relativpronomen oder einem Relativadverb eingeleitet werden, bei Pittner & Berman (2010: 103), die dies
2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale
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spezifizieren, indem sie d / w-Relativpronomen (der, die, das, welcher, welche, welches) und w-Relativadverbien (wo, wie, wann) aufführen, und bei Hentschel & Weydt (2013: 383–384), die als Einleitungselemente für Relativsätze Relativpronomen (z. B. der), relativ gebrauchte Interrogativa (z. B. wo, was) und wo-Pronominaladverbien (z. B. worum) nennen. Daneben finden sich allgemeinere Angaben wie bei Eroms (2000: 290), dem zufolge Relativsätze ein determinatives d- oder w-Element enthalten, oder bei Helbig & Buscha (2013: 565), die lediglich ein satzgliedwertiges Relativum als Einleitungswort benennen. Deutlich differenzierter hingegen geht die Grammatik des Duden (2016: 1041, § 1653) vor, die bei den Einleitungselementen des Relativsatzes zwischen Relativpronomina, relativen Artikelwörtern, relativen Pronominaladverbien (dort: „Präpositionaladverbien“; z. B. womit, woran), relativem wo (auch woher, wohin) sowie wie und als und relativen Gradpartikeln unterscheidet. Der Duden (2016: 1053, § 1667, 1055, § 1670) zählt folglich auch Vergleichssätze wie Es sehen sich mehr Leute die Seite an, als ich es vermutet habe und Anna warf den Ball, so hoch sie konnte, die in anderen Grammatiken als Subjunktorsätze gewertet werden, zu den Relativsätzen. Der Begriff der relativen Partikel findet sich auch bei Kerkhoff (1968: 10), die erklärt, dass eine Partikel dann als Relativum bestimmt werden kann, wenn sie in ein Relativum mit oder ohne Präposition überführt werden kann (vgl. Kerkhoff 1968: 10–11). Dem folgend liegt laut Kerkhoff (1968: 11) in Die Zeiten, als das anders war, sind vorbei ein Relativsatz vor, wenngleich sie anmerkt: „Nicht jeder wird jedoch ‚als‘ hier noch als Relativ betrachten wollen“. Andererseits handle es sich in Wo er starb, steht ein Kreuz – in vielen Darstellungen als sogenannter freier Relativsatz klassifiziert – um einen Konjunktionalsatz (vgl. Kerkhoff 1968: 11). Die satzeinleitende Funktion der Relativa kommt besonders deutlich in dem von Weinrich (2007: 769) verwendeten Terminus „Relativ-Junktor“ zum Ausdruck. Er verwendet ihn für „Junktoren mit besonderen Referenzangaben“ (Weinrich 2007: 769), die Relativsätze einleiten, und unterteilt sie in Relativ-Pronomen (z. B. die, welche), globale Relativ-Junktoren (was, wer, wo, wie) in Sätzen wie alles, was produziert wird, schafft Abfall oder in den meisten Grammatiken als Irrelevanzkonditionale bewerteten Sätzen wie was du auch tust, bedenke die Nebenfolgen! und komplexe Relativ-Junktoren in Sätzen wie die Firma, in der die ersten Anilinfarben hergestellt wurden, war das Bayer-Werk in Leverkusen und beschreiben Sie bitte genau das Experiment, dessen Ablauf Sie protokolliert haben! sowie die Hochschule, die zu vertreten mir aufgetragen ist, wird [. . .] (vgl. Weinrich 2007: 769–781). Wie eng die Begriffe „Relativsatz“ und „Relativum“ miteinander verwoben sind, zeigt sich u. a. im Handbuch der deutschen Wortarten, in dem Pittner (2009: 727) die Wortart Relativum als „Überbegriff für alle Elemente, die Relativsätze einleiten“, d. h. Relativpronomina, Relativadverbien sowie Relativpartikeln, definiert. Hier wird eine zirkuläre Herangehensweise bei der Definition deutlich: Der Relativsatz wird in vielen Darstellungen mithilfe des Relativums als einleitendes Element bestimmt, das Relativum andererseits anhand seiner Funktion als Relativsatzeinleiter.
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2 Theoretische Grundlegung
Für eine Beschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen wie z. B. des Mittelniederdeutschen würde eine solche Herangehensweise erfordern, dass vom neuhochdeutschen Sprachstand abweichende Einleitungselemente (z. B. Relativpartikeln wie (al)sô) bereits vor der Analyse als solche überhaupt erst gekannt und bestimmt werden müssen, was dem angestrebten induktiven Vorgehen auf den ersten Blick widerspricht.12 Wie in Kap. 2.3.3 gezeigt wird, stellt für einen eingegrenzten Relativsatzbegriff, wie er in dieser Arbeit zugrunde gelegt werden soll, das Einleitungselement dennoch ein unverzichtbares Kriterium dar. 2.1.1.3 Funktion(en) des Relativsatzes Ein weiterer Bestandteil der meisten Definitionen und Beschreibungen des Relativsatzes umfasst dessen Funktion. In vielen grammatischen Darstellungen wird der Relativsatz als Attribut bzw. Attributsatz klassifiziert (so z. B. bei Engel 2009: 156– 159, Hentschel & Weydt 2013: 383–384, Eroms 2000: 289 und Eisenberg 2013: 269– 277), d. h., er fungiert als Attribut zu einem Satzglied im übergeordneten Satz wie das sich mit der Suche nach der Nordwestpassage beschäftigt in (1) als Attribut zum Akkusativobjekt ein Buch und bezieht sich als solches auf dieses Satzglied (vgl. Hentschel & Weydt 2013: 383) – daher auch der Begriff „Relativsatz“. (1)
Zurzeit lese ich ein Buch, das sich mit der Suche nach der Nordwestpassage beschäftigt.
Sätze wie Sie nimmt sich immer viel Zeit für mich, was ich sehr an ihr schätze in (2) – in einigen Grammatiken als „weiterführend“ bezeichnet – sind durch diesen Funktionsbegriff anscheinend nicht erfasst, beziehen sie sich doch nicht auf ein bestimmtes Satzglied im übergeordneten Satz. (2)
Sie nimmt sich immer viel Zeit für mich, was ich sehr an ihr schätze.
Darüber hinaus können Relativsätze als Komplemente13 des Verbs im übergeordneten Satz fungieren, z. B. Wer als Letzter den Raum verlässt in (3) als Subjekt zu muss das Licht ausschalten. (3)
Wer als Letzter den Raum verlässt, muss das Licht ausschalten.
12 Das mag im ersten Moment banal erscheinen, zumal es durchaus Beschreibungen von relativsatzeinleitenden Elementen im historischen Deutschen gibt (s. z. B. Behaghel 1928 oder Kock 1901, 1904). Jedoch ist nicht auszuschließen, dass diese unvollständig sind und durch im Rahmen einer Datenerhebung wie in dieser Arbeit neu hinzukommende erweitert werden müssen. 13 Der Begriff „Komplement“ wird nach Zifonun u. a. (1997: 1028) für diejenigen Einheiten verwendet, durch die „[e]in Verbalkomplex [. . .] zum Ausdruck einer Elementarproposition gesättigt“ wird, d. h. für diejenigen Satzglieder, die im Sinn der Valenztheorie vom Verb gefordert werden.
2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale
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Dieses umfassende Funktionsspektrum des Relativsatzes versucht Kerkhoff (1968: 10) in ihrer Definition abzudecken: Der Relativsatz erscheint stellvertretend für ein im übergeordneten Satz nicht vorhandenes Satzglied, erklärt ein im übergeordneten Satz vorhandenes Satzglied, liefert den Bedeutungsumfang eines Pronomens im übergeordneten Satz oder erläutert den gesamten übergeordneten Satz. Es scheinen gerade diese unterschiedlichen Funktionen des Relativsatzes und die damit verbundenen formalen Merkmale (Präsenz oder Abwesenheit eines Bezugselementes) zu sein, die eine simple und einheitliche Begriffsbestimmung erschweren.
2.1.2 Der Relativsatzbegriff in dieser Arbeit – erste Annäherung an eine Definition 2.1.2.1 Überblick Da eine einheitliche Begriffsbestimmung fehlt, musste zunächst auf Basis der verschiedenen Beschreibungen des Relativsatzes in der linguistischen Literatur entschieden werden, wie weit oder eng der in dieser Arbeit verwendete Begriff für den Relativsatz sein und wie eine dementsprechende Definition aussehen soll. Für den hier angestrebten vergleichsweise weiteren Relativsatzbegriff, der sowohl attributive als auch freie Relativsätze (s. Kap. 2.2) umfasst,14 dient als Ausgangspunkt ein bestimmtes Bündel an Merkmalen des Relativsatzes: Diese sollen anhand der folgenden drei Zitate aus verschiedenen Quellen – einer Grammatik, einer Syntaxeinführung und einer Monographie zum Relativsatz – verdeutlicht werden: Ein Relativnebensatz oder kurz Relativsatz sagt etwas über ein Element im übergeordneten Satz aus. Dieses Bezugselement wird im Relativsatz wieder aufgenommen, und zwar von einem relativen Satzglied. (Duden 2009: 1029, § 1653; Hervorhebungen hinzugefügt)15 Ein Relativsatz ist ein Satz, der sich auf ein i. d. R. nominales Element bezieht und dieses näher spezifiziert. Der Relativsatz und das Bezugselement bilden zusammen ein Satzglied. (Pittner & Berman 2010: 103; Hervorhebungen hinzugefügt) Als Relativsätze sollten wir vorläufig alle untergeordneten Sätze und satzartigen Konstruktionen betrachten, die ein Nominal modifizieren, welches in ihnen selbst eine semantische Rolle hat. (Lehmann 1984: 47; Hervorhebungen hinzugefügt)
Den ersten gemeinsamen Punkt der oben aufgeführten Definitionen bildet das Merkmal, dass es sich bei einem Relativsatz um einen Satz handelt, wobei der von Zifonun u. a. (1997: 86–87) beschriebene syntaktische Begriff von „Satz“ als Einheit 14 Ein sehr enger Relativsatzbegriff umfasst hingegen lediglich die attributiven Relativsätze (s. hierzu Kap. 2.2.1) und innerhalb dieser z. T. auch nicht die weiterführenden Relativsätze (Kap. 2.2.1.3). 15 In der aktuellen Auflage der Grammatik des Duden (2016: 1040, § 1653) fehlt das Merkmal des relativen Satzgliedes, die verkürzte Definition lautet: „Der prototypische Relativsatz oder Relativnebensatz ist ein Nebensatz, der ein Element des übergeordneten Satzes wiederaufnimmt und darüber eine Aussage macht“.
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2 Theoretische Grundlegung
mit einem finiten Verb sowie den zugehörigen Komplementen und Supplementen – d. h. den Satzgliedern – zugrunde liegt.16 Die zweite in den oben aufgeführten Definitionen genannte Eigenschaft betrifft das mit dem Relativsatz in einer bestimmten Verbindung stehende Element im übergeordneten Satz – von Pittner & Berman (2010: 103) sowie Lehmann (1984: 47) als Nominal weiter spezifiziert. Die Art dieser Verbindung beschreibt das dritte Merkmal: Der Relativsatz liefert eine nähere Bestimmung des zugehörigen Elementes. Für die vierte Eigenschaft schließlich wird der Begriff des Satzgliedes bzw. der semantischen Rolle herangezogen, jedoch mit unterschiedlicher Bezugnahme: Zum einen soll es sich bei dem das Bezugselement wiederaufnehmenden Element um ein Satzglied im Relativsatz handeln; zum anderen sollen Bezugselement und Relativsatz zusammen ein Satzglied bilden. Wie zuvor erwähnt, soll in dieser Arbeit ein vergleichsweise weiter Relativsatzbegriff zugrunde gelegt werden, der die in Kap. 2.2 noch eingehender zu erläuternden Klassen attributiver (darunter auch weiterführender) und freier Relativsätze umfasst. Anhand der Beispielsätze in (4) bis (16)17, die diesen hier zu berücksichtigenden Typen entsprechen, sollen in den folgenden Kapiteln die oben genannten Merkmale des Relativsatzes genauer erläutert werden. (4)
Auf der Tagung gab es eine Teilnehmerin, die die Sprache der Inuit erforscht.
(5)
Das ist ein Text, den ich gut kenne.
(6)
Snookerspieler, die aus China kommen, machen den Briten inzwischen große Konkurrenz.
16 Auf den umfangreichen Forschungsdiskurs zum Terminus „Satz“ kann in diesem Rahmen nicht eingegangen werden; Verweise auf Überblicksdarstellungen zur Diskussion und auf Forschungsliteratur zu den verschiedenen Ansätzen finden sich bei Zifonun u. a. (1997: 86). Pittner & Berman (2010: 96) benennen den „Satz“ als „größte Einheit in der syntaktischen Beschreibung“ und differenzieren zwischen einfachen Sätzen wie Eva schläft und komplexen, aus mehreren Teilsätzen bestehenden Sätzen wie Eva liest, aber Frieda schläft. Das Merkmal des finiten Verbs wird nicht explizit gemacht, kann aber aus den angeführten Beispielen für Teilsätze geschlossen werden. Die Grammatik des Duden (2016: 775–777, § 1164–1165) führt als Basis ihrer syntaktischen Beschreibungen drei sich ergänzende Konzepte des Satzes an, wobei im ersten das Merkmal des finiten Verbs und der zugehörigen Satzglieder wiederzufinden ist. Lehmann (1984) liefert hier keine genaue Definition für den Satz, es findet sich jedoch der Hinweis auf Prädikat und Subjekt als notwendige Bestandteile (vgl. Lehmann 1984: 30). Lehmann (1984: 47) merkt außerdem an, dass Relativsätze „nicht Sätze im strengen Sinne zu sein brauchen“ und wählt den Terminus „satzartige Konstruktionen“, um darunter auch Einheiten mit infiniten Verbalausdrücken zu fassen. In einer späteren Arbeit formuliert Lehmann (1995: 1200): „Ein typischer Relativsatz hat ein finites verbales Prädikat.“ 17 Unterstrichen ist in den Beispielen jeweils der Relativsatz.
2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale
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(7)
Mein Lieblingsessen sind Nudeln, von denen ich immer einen Vorrat zuhause habe.
(8)
Wer sich ein aktuelles iPhone kaufen will, muss tief in die Tasche greifen.
(9)
Selbst Schweine fressen nicht immer, was man ihnen vorsetzt.
(10)
Meine achtzigjährige Großmutter ist noch aktiv im Sportverein, was sie von anderen ihres Alters unterscheidet.
(11)
Einige Papageienarten leben in Regionen, wo ein kühles Klima herrscht.
(12)
Ich lebe inzwischen wieder dort, wo ich als Kind aufgewachsen bin.
(13)
Sie erledigt die Aufgaben, wie sie sie immer erledigt.
(14)
Wer unaufgefordert den Raum verlässt, dessen Namen werde ich mir notieren.
(15)
Ich kenne jemanden, dessen Dissertation innerhalb eines Monats veröffentlicht wurde.
(16)
Wessen Vorgeschichte ich nicht kenne, auf den lasse ich mich gar nicht erst ein.
2.1.2.2 Nebensatzstatus Alle unterstrichenen Sätze in den Beispielen (4) bis (16) in Kap. 2.1.2.1 enthalten ein finites Verb als Teil des Prädikates sowie die zugehörigen Satzglieder – in (4) z. B. das Subjekt die und das Akkusativobjekt die Sprache der Inuit, in (10) das Subjekt was, das Akkusativobjekt sie und das Präpositionalobjekt von anderen ihres Alters. Folglich handelt es sich in allen Fällen um Sätze auf Basis der oben genannten Definition von Zifonun u. a. (1997: 86–87). Darüber hinaus stellen all diese Sätze Nebensätze dar, die Teile kommunikativer Ausdruckseinheiten18 (hier: den in den Beispielen nicht hervorgehobenen Sätzen) sind und als solche in dem jeweils vorliegenden kommunikativen Kontext nicht selbstständig vorkommen können.19 Der Nebensatz was man ihnen vorsetzt bspw. kann in dem Kontext von (9) nicht isoliert als selbstständige Einheit stehen;
18 Kommunikative Ausdruckseinheiten sind nach grammis Einheiten, mithilfe derer sprachliche Handlungen vollzogen werden (vgl. https://grammis.ids-mannheim.de/terminologie/602). 19 Vgl. die Definition von „Nebensatz“ bei grammis unter https://grammis.ids-mannheim.de/termi nologie/163.
14
2 Theoretische Grundlegung
in einem anderen Kontext hingegen wäre dies möglich, z. B. in der Verwendung als Exklamativsatz Was man ihnen vorsetzt! Dass die Bestimmung eines Satzes als Nebensatz im Einzelfall keineswegs banal ist, soll im Folgenden genauer erläutert werden. Was eine klare Unterscheidung zwischen Hauptsatz und Nebensatz erschwert, ist die Tatsache, dass in der linguistischen Literatur, wie am Ende von Kap. 2.1.1.1 erwähnt wurde, teilweise formale, teilweise funktionale Kriterien für die Differenzierung herangezogen werden (vgl. Fabricius-Hansen 1992: 460). Zu den formalen Merkmalen zählt (neben bestimmten Einleitungselementen in Nebensätzen) v. a. die Wortstellung, d. h. Verbletztstellung vs. Nicht-Verbletztstellung,20 zu den funktionalen die (Un-)Abhängigkeit bzw. die oben erwähnte (Un-)Selbstständigkeit gegenüber einem anderen Satz (vgl. Fabricius-Hansen 1992: 460) – ein prototypischer Nebensatz ist dem folgend ein Nebensatz mit Verbletztstellung, der nicht selbstständig, sondern von einem anderen Satz abhängig und in diesen integriert bzw. ihm untergeordnet (subordiniert) ist. Diese Integration zeigt sich daran, dass der untergeordnete Satz im übergeordneten die Funktion eines Satzgliedes (z. B. als Subjekt, Objekt, Adverbial etc.) oder eines Satzgliedteils, nämlich eines Attributs, übernimmt (vgl. Fabricius-Hansen 1992: 462). Während ein Satz wie in (17) formal durch ein subordinierendes Element (Subjunktor oder Relativum) sowie die Verbletztstellung und funktional durch seinen Status als Satzglied bzw. Satzgliedteil im übergeordneten Satz (hier: Adverbial) eindeutig als subordiniert markiert ist, ist die Zuordnung von Sätzen wie in (18), in denen eine funktionale, aber keine formale Integration vorliegt, schwieriger. Derartige Abweichungen berücksichtigt FabriciusHansen (1992) in ihrem Modell der Subordination, die sie als „radiale Kategorie“ (Fabricius-Hansen 1992: 466) auffasst – mit prototypischen Nebensätzen wie in (17) im Zentrum und marginalen Varianten wie in (18).21 (17)
Da ich viel zu tun habe, werde ich es nicht pünktlich schaffen.
(18)
Ich verspreche dir, ich komme pünktlich.
20 In dieser Arbeit werden für die Beschreibung der Satzstruktur das Konzept und die Terminologie des Topologischen Feldermodells genutzt. Dieses Modell geht ursprünglich auf Erdmann (1886: 181–197) und Drach (1963) zurück und wurde anschließend in zahlreichen Arbeiten weiter bearbeitet, z. B. von Engel (1970), Höhle (1986), Abraham (1992) und Pafel (2009), vgl. hierzu die Übersicht bei Zifonun u. a. (1997: 1498). 21 Zu den prototypischen Fällen der Subordination zählt Fabricius-Hansen (1992: 475) Sätze, die formal Nebensätze darstellen, d. h. Verbletztstellung aufweisen, semantisch integriert und ohne eigene Illokution sind wie das Beispiel in (17). Marginale Fälle sind zum einen formale Nebensätze, die semantisch nicht integriert sind und auch eine eigene Illokution aufweisen können wie der Satz was sie von anderen ihres Alters unterscheidet oben in (10); zum anderen gelten als marginal formale Hauptsätze, d. h. mit Verberst- oder Verbzweitstellung, die aber semantisch integriert sind und keine eigene Illokution tragen und somit funktional prototypischen Nebensätzen entsprechen wie das Beispiel in (18) (vgl. Fabricius-Hansen 1992: 475–476).
2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale
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In Ergänzung zur oben genannten Definition von Nebensätzen als nicht selbstständige Einheiten gelten unter Bezug auf die bei Fabricius-Hansen (1992) angewendeten Kriterien der formalen und funktionalen Integration in dieser Arbeit als Nebensätze diejenigen Sätze, die nicht selbstständig, sondern von einem übergeordneten Satz abhängig und in diesen entweder formal oder funktional integriert sind. Bezogen auf die vorliegende Korpusstudie ist folglich die Bestimmung von Relativsätzen mit Verbletzt- oder Verbspätstellung22 als Nebensätze unproblematisch. Schwieriger hingegen erscheint der Umgang mit Relativsätzen, die Verbzweitstellung aufweisen, also formal nicht eindeutig als subordiniert markiert sind. Diese Sätze werden daher in Kap. 2.3.4 ausführlicher betrachtet. 2.1.2.3 Bezugselement Die Überprüfung des zweiten in den obigen Relativsatzdefinitionen genannten Merkmals zeigt, dass die meisten der hervorgehobenen Sätze in den Beispielen (4) bis (16) in Kap. 2.1.2.1 in Relation zu einem Bezugselement im übergeordneten Satz stehen. Dieses stellt entweder eine Nominalphrase dar wie Snookerspieler in (6) oder kann in eine solche überführt werden wie dort in (12) in das nominale Bezugselement Ort23 oder Meine achtzigjährige Großmutter ist noch aktiv im Sportverein in (10) in die Nominalphrase die Tatsache, dass meine achtzigjährige Großmutter noch aktiv im Sportverein ist.24 Daneben begegnen aber auch Konstruktionen ohne Bezugselement im übergeordneten Satz wie in (9) und (13). Ergänzt man gedanklich eine Phrase mit einem möglichen Bezugsausdruck, handelt es sich dabei stets um ein nominales Element wie bei Selbst Schweine fressen nicht immer [das], was man ihnen vorsetzt in (9) oder um eine Präpositionalphrase, die wiederum ein solches Nominal enthält, wie bei Sie erledigt die Aufgaben [auf die Art], wie sie sie immer erledigt in (13). Strukturelle Ähnlichkeit mit den Relativsätzen in (9) und (13) hat auch der Satz Wer unaufgefordert den Raum verlässt in (14), denn dieser könnte in einem anderen Kontext ebenso wie die Relativsätze in (9) und (13) ohne Bezugselement stehen, z. B. in Wer unaufgefordert den Raum verlässt, wird bestraft. Tatsächlich jedoch enthält der übergeordnete Satz in (14) den im Bezug zum Relativsatz stehenden Ausdruck dessen und ähnelt damit in gewisser Weise auch den oben beschriebenen Relativsätzen mit Bezugselement. Was ihn jedoch klar von diesen unterscheidet, ist seine Stellung vor dem übergeordneten Satz und die daraus folgende Konsequenz, dass es sich bei dessen in (14) nicht wie bei z. B. Snookerspieler in (6) um ein Element handelt, das im
22 Zu diesen Verbstellungsbezeichnungen s. das Kap. 3.4.2.1 zur Wortstellungsvariation. 23 Konkret können solche als Bezugsausdrücke fungierenden Adverbien wie dort im übergeordneten Satz zu Präpositionalphrasen wie an dem Ort umgewandelt werden; die darin enthaltene Nominalphrase dem Ort schließlich entspricht dann dem Bezugselement für den Relativsatz. 24 Auf die Möglichkeit, das Bezugselement in eine Nominalphrase aufzulösen, greift u. a. Engelen (1969: 53) in seiner Relativsatzdefinition zurück. Eine Paraphrasierung wie bei (10) durch die Tatsache, dass [. . .] schlagen z. B. Zifonun u. a. (1997: 2328) vor.
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2 Theoretische Grundlegung
Relativsatz wiederaufgenommen wird, sondern um ein auf den Relativsatz rückverweisendes Korrelat. 2.1.2.4 Funktion der näheren Bestimmung Das im übergeordneten Satz tatsächlich vorhandene oder hinzudenkbare nominale Bezugselement wird durch den Relativsatz näher bestimmt, z. B. eine Teilnehmerin in (4) in Kap. 2.1.2.1 durch die die Sprache der Inuit erforscht, [das] in (9) durch was man ihnen vorsetzt oder die Tatsache, dass meine achtzigjährige Großmutter noch aktiv im Sportverein ist in (10) durch was sie von anderen ihres Alters unterscheidet. In einem Relativsatz ohne vorangehendes Bezugselement, aber mit folgendem Korrelat ergibt sich die Bedeutung dessen ebenfalls durch den Relativsatz bzw. den Rückverweis auf diesen. Dies liegt darin begründet, dass es sich bei den Korrelaten um deiktische Ausdrücke handelt, deren nähere Bedeutung sich erst im Bezug zu den Elementen, auf welche sie verweisen, konstituiert (vgl. Bühler 1965: 80). 2.1.2.5 Satzgliedwert Im Zusammenhang mit dem Merkmal des Satzgliedwertes müssen die beiden folgenden Anwendungsbereiche unterschieden werden: a) In den meisten der oben aufgeführten Fälle mit vorhandenem Bezugselement im übergeordneten Satz hat das wiederaufnehmende Element (Relativum) Satzgliedstatus im Relativsatz: Es kann z. B. Subjekt sein wie die in (4) in Kap. 2.1.2.1, Objekt wie den in (5) oder auch Adverbial wie wo in (11) und (12). Beispiel (15) jedoch zeigt, dass das Relativum auch als Attribut wie hier dessen zum Subjekt Dissertation fungieren kann.25 Ähnlich verhält es sich in den Sätzen ohne Bezugselement bzw. mit folgendem Korrelat: In (9), (13) und (14) hat das durch den Relativsatz näher bestimmte Nominal in diesem die Funktion eines Satzgliedes: was in (9) ist Akkusativobjekt, wie in (13) Modaladverbial und wer in (14) Subjekt. In Beispiel (16) hingegen liegt mit wessen ein Attribut zum Akkusativobjekt Vorgeschichte vor. Das in der Grammatik des Duden (2009: 1029, § 1653) verwendete Merkmal des relativen Satzgliedes führt also zu einem zu engen Relativsatzbegriff, der nicht alle oben aufgeführten Beispiele erfasst. b) In den Fällen mit tatsächlich vorhandenem Bezugselement im übergeordneten Satz kann der Relativsatz zusammen mit diesem ein Satzglied bilden, wobei der Relativsatz selbst als Attribut zum Bezugsausdruck fungiert – z. B. ergibt in (6)
25 Es sei darauf hingewiesen, dass für das Gegenwartsdeutsche die Formen dessen und deren unterschiedlich bewertet werden. Während Pittner (2009: 730) von Relativpronomen im Genitiv ausgeht, klassifiziert die Grammatik des Duden (2016: 281–282, § 375 sowie 303, § 402) sie als relative Artikelwörter, die ihre Form (Genitiv) behalten und nicht mit dem folgenden Substantiv kongruieren (vgl. Duden 2016: 282, § 375). In der vorliegenden Arbeit wird die ursprüngliche Lesart als Pronomen im Genitiv und folglich als Genitivattribut angewendet.
2.1 Relativsatz – Begriffsbestimmung und Merkmale
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Snookerspieler zusammen mit dem Attribut die aus China kommen das Subjekt des übergeordneten Satzes. In Sätzen wie (11) hingegen, in denen das nominale Bezugselement (hier: Regionen) Teil einer Präpositionalphrase (hier: in Regionen) ist, die wiederum ein Satzglied darstellt (hier: Lokaladverbial), hat das Bezugselement allein keinen Satzgliedwert. Folglich können der Bezugsausdruck und der auch in diesen Sätzen als Attribut zu diesem fungierende Relativsatz zusammen kein Satzglied bilden. Dieses Merkmal nach Pittner & Berman (2010: 103) ist folglich ebenfalls nicht ausreichend geeignet, um Relativsätze zu bestimmen. Im Ergebnis der Anwendung der oben genannten Merkmale auf die Beispiele, die alle hier zu berücksichtigenden Typen von Relativsätzen umfassen, lässt sich als Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung zunächst die folgende Definition festhalten: Bei Relativsätzen handelt es sich um eine Gruppe von Nebensätzen, die auf syntaktischer Ebene in zwei Typen zu gliedern ist: Typ 1 bestimmt ein im übergeordneten Satz vorhandenes, dem Relativsatz vorausgehendes Bezugselement (im Folgenden auch „Referent“ genannt)26 näher und fungiert als Attribut zu diesem. Das Bezugselement stellt entweder eine Nominalphrase dar wie in (4) bis (7), (11) und (15) oder kann wie in (10) in eine Nominalphrase oder wie in (12) in eine Präpositionalphrase mit Bezugselement als Nominalphrase umgewandelt werden. Typ 2 füllt i. d. R. eine im übergeordneten Satz eröffnete Leerstelle, ist also Satzglied in diesem übergeordneten Satz wie in (8), (9) und (13). Geht der Relativsatz dem übergeordneten Satz voran, kann die durch den Relativsatz gefüllte Leerstelle durch eine Phrase mit auf den Relativsatz verweisendem Korrelat vertreten sein wie in (16).27 Vorangehende Relativsätze vom Typ 2 mit Korrelat können zudem wie in (14) als Attribut im übergeordneten Satz fungieren. Diese Definition führt, wie angekündigt, zu einem verhältnismäßig weiten Relativsatzbegriff, der wiederum formale Überschneidungen mit bestimmten anderen Satztypen zur Folge hat. Auf die hier angestrebte Abgrenzung von diesen Sätzen und die daraus folgende Konsequenz für den zu verwendenden Relativsatzbegriff wird daher in Kap. 2.3 genauer einzugehen sein. Da von den erwähnten Überschneidungen jeweils eine bestimmte Teilklasse der Relativsätze betroffen ist, widmet sich das folgende Kapitel zunächst den bereits erwähnten Subklassen des Relativsatzes.
26 In der Literatur findet sich dafür neben „Bezugselement“ bzw. „Bezugswort“ auch der Begriff „Antezedens“ (z. B. bei Holler-Feldhaus 2003). 27 Auch wenn ein Relativsatz auf den Matrixsatz folgt, kann im Matrixsatz ein Element für den Relativsatz eingefügt werden wie bei Selbst Schweine fressen nicht immer [das], was man ihnen vorsetzt in (9); dieses Element wird dann allerdings nicht als Korrelat eines freien Relativsatzes klassifiziert, sondern als Bezugselement eines attributiven Relativsatzes.
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2 Theoretische Grundlegung
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze Relativsätze können anhand ganz unterschiedlicher Kriterien in Subklassen gegliedert werden. Lehmann (1984: 48–49) bspw. differenziert die Relativsätze zunächst anhand ihrer Stellung zum sogenannten Nukleus, dem Referenten, außerdem anhand der Art ihrer Unterordnung und anderer interner struktureller Merkmale. Eng mit der Stellung zum Referenten ist die syntaktische Funktion des Relativsatzes verbunden – ein Klassifizierungskriterium, das in der Definition in Kap. 2.1.2 verwendet wird und das zu den zwei folgenden – im Wesentlichen so auch in vielen Grammatiken und Syntaxeinführungen unterschiedenen – Typen führt: dem attributiven Relativsatz und dem sogenannten freien Relativsatz.28
2.2.1 Attributiver Relativsatz Attributive Relativsätze stellen sozusagen die prototypischen Relativsätze dar und werden folglich auch vom engsten Relativsatzbegriff umfasst. Sie entsprechen dem Typ 1 der Relativsatzdefinition dieser Arbeit, d. h., sie fungieren als Attribut – daher die Bezeichnung – zu einem Referenten im übergeordneten Satz (im Folgenden „Matrixsatz“ genannt). Bei diesem Referenten handelt es sich um eine Nominalphrase bzw. ein Element, das entweder in eine Nominalphrase oder eine den paraphrasierten Referenten als Nominalphrase enthaltene Präpositionalphrase umgewandelt werden kann. In den unten aufgeführten Beispielen (19) bis (24) ist sehr leicht erkennbar, dass es sich bei den hervorgehobenen Referenten um Nominalphrasen handelt und dass diese ganz unterschiedlicher Art und Länge sein können: nur aus dem Substantiv als Kopf der Nominalphrase bestehend wie Hunde in (19), zusätzlich mit einem Determinierer, z. B. einem possessiven Artikelwort wie bei Mein Freund in (22) oder dem Definitartikel wie bei Die Art in (24) und zum Schwimmen in (23) (hier mit der vorangehenden Präposition klitisiert), mit Determinierer und attributivem Adjektiv wie bei einer renommierten Ärztin in (20) oder aus mehreren beigeordneten Substantiven bestehend wie bei Pollen, Tierhaare und Lebensmittel in (21). In den Beispielen (25) und (26) können die jeweils aus einem Adverb bestehenden Referen-
28 So z. B. bei Eroms (2000: 293–300), der zwischen restriktiven und appositiven Relativsätzen, weiterführenden und freien Relativsätzen unterscheidet, und bei Pittner & Berman (2010: 103–105), die attributive und freie Relativsätze aufführen. Inwiefern inbesondere der Begriff „weiterführender Relativsatz“ heterogen verwendet wird, zeigt Kap. 2.2.1.3. Selbst der scheinbar klare Terminus „attributiver Relativsatz“ wird zwar überwiegend, jedoch nicht in allen Darstellungen zum Relativsatz gleich gefasst: Kerkhoff (1968: 15–17) bspw. zählt Sätze wie Vertrauʼ auf den, der alles schuf und Dort, wo der dicke Baum steht, war sein Grab, die i.d.R. als attributive Relativsätze gewertet werden, nicht als Attributsätze, sondern als Objektsätze bzw. Adverbialsätze.
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
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ten so und dort in Präpositionalphrasen umgewandelt werden, die eine als Referent fungierende Nominalphrase enthalten: so in (25) lässt sich paraphrasieren zu auf die Art, wobei der folgende Relativsatz Attribut zur Nominalphrase die Art ist. In (26) ist dort ersetzbar durch an dem Ort mit dem Relativsatz als Attribut zur Nominalphrase dem Ort. In Beispiel (27) schließlich dient als Referent für den Relativsatz der gesamte Inhalt des Matrixsatzes Ich habe meine Heimatstadt verlassen. In solchen Fällen ist eine Umwandlung in die Nominalphrase die Tatsache o. ä. möglich (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2328), in (27) also: Die Tatsache, dass ich meine Heimatstadt verlassen habe, bedaure ich sehr. (19)
Hunde, die andere Fahrgäste verletzen können, müssen einen Maulkorb tragen.
(20)
Ich gebe Ihnen den Namen einer renommierten Ärztin, die sich mit dieser Krankheit sehr gut auskennt.
(21)
Ich muss Sie darauf hinweisen, dass Pollen, Tierhaare und Lebensmittel, die Allergien auslösen, so weit wie möglich gemieden werden sollten.
(22)
Mein Freund, der ein großer Fußballfan ist, kommt auch mit ins Stadion.
(23)
So oft wie möglich gehe ich zum Schwimmen, was ein gutes Training für meine Kondition ist.
(24)
Die Art, wie du das Problem angehst, erscheint mir sinnvoll.
(25)
Mach es einfach so, wie du es seit Jahren machst!
(26)
Sollen wir uns dort treffen, wo wir uns auch beim letzten Mal getroffen haben?
(27)
Ich habe meine Heimatstadt verlassen, was ich sehr bedaure.
Darüber hinaus veranschaulichen die Beispiele, dass auch die Matrixsätze ganz unterschiedlicher Art sein können: Es kann sich sowohl um Hauptsätze als auch um Nebensätze wie in (21) handeln und um verschiedene Satzarten wie Deklarativsätze, Fragesätze wie in (26), Imperativsätze wie in (25) und andere. In Bezug auf die Position der Matrixsätze fällt jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Alle Matrixsätze gehen entweder dem Relativsatz voraus oder umschließen diesen, wobei der Referent stets im linken Teil erscheint. Da ein vorangehendes Bezugselement notwendig ist, gibt es nur nachgestellte oder integrierte attributive Relativsätze, aber keine vorangestellten.
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2 Theoretische Grundlegung
Ein Vergleich der Sätze (19) und (22) zeigt außerdem ein unterschiedliches semantisches Verhältnis zwischen dem Relativsatz und seinem Referenten und damit einhergehend eine unterschiedliche Funktion des Relativsatzes: Während der Relativsatz die andere Fahrgäste verletzen können in (19) für das Gesamtverständnis des Matrixsatzes Hunde müssen einen Maulkorb tragen notwendig ist, könnte der Relativsatz der ein großer Fußballfan ist in (22) ohne Weiteres weggelassen werden, ohne den eigentlichen Inhalt des Matrixsatzes Mein Freund kommt auch mit ins Stadion zu beeinflussen. Dieses unterschiedliche Verhältnis ist die Basis für eine weitere Differenzierung innerhalb der attributiven Relativätze in restriktive Relativsätze wie in (19) und appositive Relativsätze wie in (22). 2.2.1.1 Restriktiver Relativsatz Der restriktive Relativsatz dient dazu, die Gruppe der Referenten einzugrenzen (vgl. Pittner & Berman 2010: 103) und so ein Objekt eindeutig zu bestimmen (vgl. Lehmann 1995: 1200). Folglich dienen als Referenten zum einen Ausdrücke mit verhältnismäßig allgemeiner Semantik wie Mensch, Mann und Erfahrung (z. B. In dieser Stadt leben Menschen, die ihre Namen nicht kennen) (vgl. Eroms 2000: 293). Zum anderen eignen sich als Referenten Nominalphrasen mit Demonstrativa mit -jenig- (Jeder Rezipient erhält genau diejenige Zeitung, die er haben will), negativen Indefinita (Julia fand nichts, was ihr weiterhelfen konnte) und verallgemeinernden Indefinita (Sie zeigt mir alles, was man so im Haus machen kann) (vgl. Duden 2016: 1041, § 1654). Gerade in Sätzen mit derartigen Bezugsphrasen wird die Notwendigkeit des restriktiven Relativsatzes für das Verständnis des Matrixsatzes bzw. der Einfluss auf die Bedeutung dieses Matrixsatzes deutlich. In einem Satz wie Ich kenne niemanden, der Musik hasst ist ohne den Relativsatz die Aussage des Matrixsatzes unvollständig und damit in diesem Fall auch inkorrekt, denn es ist auszuschließen, dass es irgendeinen Menschen gibt, der niemand anderen kennt. Der restriktive Relativsatz ist also für das Gesamtverständnis und den Inhalt des Matrixsatzes zwingend notwendig. Dieses inhaltlich enge Verhältnis zwischen dem Referenten und dem Relativsatz geht mit einer intonatorischen Integration in die Bezugs-NP einher, d. h., Referent und Relativsatz bilden eine ununterbrochene Intonationseinheit (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2007). Im Gegensatz zum Deutschen, wo Relativsätze unabhängig von ihrem semantischen Typ durch Komma vom Matrixsatz abgetrennt werden, wird in einigen anderen Sprachen wie dem Englischen die intonatorische Integration durch den Verzicht auf ein Komma auch orthographisch wiedergegeben: Lediglich appositive Relativsätze werden durch Komma abgetrennt. Enthält die Bezugs-NP ein Determinativ, kann die intonatorische Integration außerdem durch eine besondere Betonung dieses Determinativs verstärkt werden (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2008). Eroms (2000: 291) weist darauf hin, dass das Determinativ auch unbetont sein oder sogar fehlen kann. Allerdings könne in diesen letztgenannten Fällen der Referent um ein Demonstrativum
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
21
mit -jenig- ergänzt werden, um die restriktive Lesart erkennbar zu machen, d. h. in (19) in Kap. 2.2.1: [Diejenigen] Hunde, die andere Fahrgäste verletzen können, müssen einen Maulkorb tragen. In engem Zusammenhang mit der intonatorischen Integration steht auch die Position des Referenten: Laut der Grammatik des Duden (2016: 1042, § 1654) erscheint der Relativsatz entweder unmittelbar hinter dem Referenten, was zu einer Aufspaltung des Matrixsatzes durch den Relativsatz führen kann (z. B. Anna brachte eine Variante, die alle überzeugte, ins Spiel), oder aber am Ende des Matrixsatzes, wobei zwischen dem Referenten und dem Relativsatz weitere Satzglieder auftreten können (z. B. Anna brachte eine Variante ins Spiel, die alle überzeugte). Stehen Referent und Relativsatz nicht unmittelbar nebeneinander, kann keine intonatorische Integration in die Bezugs-NP vorliegen, wohl aber in den Matrixsatz. Aus diesem Grund sollte als Merkmal des restriktiven Relativsatzes im Gegenwartsdeutschen29 allgemeiner – wie z. B. bei Pittner & Berman (2010: 103) – die intonatorische Integration in den Matrixsatz formuliert werden. 2.2.1.2 Appositiver Relativsatz Im Gegensatz zu restriktiven Relativsätzen sind appositive Relativsätze für das Gesamtverständnis des Matrixsatzes und eine eindeutige Identifikation des Referenten nicht notwendig. Ihre Funktion besteht vielmehr darin, zusätzliche Informationen zum Zweck der Erläuterung oder Veranschaulichung zu liefern (vgl. Duden 2016: 1042, § 1654). Der Referent muss daher definit sein, d. h. im gegebenen Kontext auch ohne den Relativsatz eindeutig bestimmt. Eine prototypische Bezugs-NP bilden daher z. B. Personalpronomen und Eigennamen, da sie inhärent definit sind. Werden Eigennamen allerdings mit einem Definitartikel verbunden, kann Restriktivität herbeigeführt werden (vgl. Lehmann 1984: 264); erst durch den Kontext wird deutlich, ob eine restriktive oder appositive Lesart vorliegt. So enthalten etwa (28) und (29) dieselbe Bezugs-NP: (28) liefert die Information, dass es mehrere Müllers gibt, daher ist der Relativsatz für die Bestimmung derjenigen Müllers, die die Sprecherin kaum kennt, notwendig, er ist also restriktiv. In (29) hingegen besteht kein Hinweis auf mehrere Familien mit demselben Namen und der Kontext (Gestern habe ich mit Frau Müller gesprochen) verdeutlicht, dass Sprecherin und Hörerin genau wissen, auf welche Frau Müller und Familie Müller sie sich in ihrem Gespräch beziehen. Folglich handelt es sich in (29) trotz des Definitartikels vor dem Namen um einen appositiven Relativsatz. (28)
Die Müllers, die in der Stadt wohnen, kenne ich kaum. Mit den Müllers aus dem Dorf habe ich regelmäßig Kontakt.
29 Für frühere Sprachstufen des Deutschen wie das Mittelniederdeutsche dagegen können auf den intonatorischen Verhältnissen basierende Kriterien nicht herangezogen werden.
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(29)
2 Theoretische Grundlegung
Gestern habe ich mit Frau Müller gesprochen. Die Müllers, die seit kurzem ziemlich gut verdienen, wollen jetzt auch ein Haus bauen.
Die appositive Lesart ist u. a. daran erkennbar, dass der Relativsatz in eine Parenthese umgewandelt werden kann, z. B. Volker, der gern angelt, hat gestern zwei Fische gefangen zu Volker – er angelt gern – hat gestern zwei Fische gefangen (vgl. Duden 2016: 1042, § 1654). Auch die Verwendung von Abtönungspartikeln wie ja oder übrigens weist auf einen appositiven Relativsatz hin (vgl. Duden 2016: 1042, § 1654, Zifonun u. a. 1997: 2013), so z. B. in Schokolade, die übrigens nicht grundsätzlich ungesund ist, esse ich wahnsinnig gern. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zum restriktiven der appositive Relativsatz intonatorisch nicht integriert ist, sondern ein Intonationsbruch zwischen der Bezugs-NP und dem Relativsatz vorliegt (vgl. Lehmann 1984: 263), der durch erkennbare Pausen zu Beginn und Ende des Relativsatzes hervorgehoben werden kann (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2008). Die Position des Referenten betreffend unterscheidet sich der appositive Relativsatz vom restriktiven dahingehend, dass der Referent i. d. R. dicht am Relativsatz steht (vgl. Duden 2016: 1042, § 1654). Dies ist mit der hinweisenden Funktion der Bezugs-NP erklärbar: Während für restriktive Relativsätze prototypische Referenten den folgenden Relativsatz andeuten und auch bei größerer Entfernung dieser noch eindeutig der Bezugs-NP zugeordnet werden kann, ist dies bei appositiven Relativsätzen nicht gegeben. Daher ist zwischen dem Referenten und dem restriktiven Relativsatz ein verhältnismäßig großer Abstand mit sogar weiteren bei- oder untergeordneten Sätzen möglich, wohingegen dies in Konstruktionen mit einem appositiven Relativsatz ungewöhnlich erscheint, vgl. (30) mit einem restriktiven und (31) mit einem appositiven Relativsatz: (30)
Morgen treffe ich denjenigen Mann um acht zum Abendessen in einem schicken Restaurant und werde ihn hoffentlich näher kennenlernen, zu dem ich laut Profilübereinstimmung am besten passe.
(31)
Morgen treffe ich Hugo um acht zum Abendessen in einem schicken Restaurant und werde ihn hoffentlich näher kennenlernen, zu dem ich laut Profilübereinstimmung am besten passe.
In Bezug auf den Inhalt des Relativsatzes ließe sich aus den bisher erfolgten Erläuterungen schließen, dass der appositive Relativsatz stärker als der restriktive zur inhaltlichen Ausführung und Erweiterung beiträgt, liefert er doch zusätzliche Informationen. Eroms (2000: 291) weist jedoch darauf hin, dass – obgleich die wesentliche Funktion des restriktiven Relativsatzes darin besteht, den Referenten eindeutig zu bestimmen – auch in restriktiven Relativsätzen die Proposition von kommunikativer Relevanz ist. Auch aus diesem Grund gestaltet sich die Abgrenzung zwischen restriktivem und appositivem Relativsatz in manchen Fällen schwie-
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
23
rig. Meist trägt jedoch der Kontext zu einer eindeutigen Zuordnung bei (vgl. Eroms 2000: 291). So ist ein Satz wie In Hamburg gibt es vier U-Bahn-Linien, die über den Hauptbahnhof fahren zunächst einmal semantisch ambig: Gibt es in Hamburg insgesamt nur vier U-Bahn-Linien, so liegt ein appositiver Relativsatz vor. Existieren hingegen mehr als vier U-Bahn-Linien, von denen aber genau vier über den Hauptbahnhof fahren und die anderen nicht, handelt es sich um einen restriktiven Relativsatz, der notwendig ist, um die Menge der Referenten einzuschränken und so zu einer eindeutigen Identifikation beizutragen.30 2.2.1.3 Weiterführender Relativsatz Einen Sonderfall innerhalb der appositiven Relativsätze bilden Fälle wie in (32) und (33), in denen sich der Relativsatz entweder auf einen Referenten im vorangehenden Matrixsatz oder auf den gesamten Inhalt des Matrixsatzes bezieht. (32)
Wir wollten unsere Lehrerin besuchen, die aber nicht zu Hause war. (Beispiel aus Duden 2016: 1042, § 1655)
(33)
Wir wollten unsere Lehrerin besuchen, was wir schon lange geplant hatten.
In der Literatur werden diese Sätze oft als „weiterführende Relativsätze“ oder auch „weiterführende Nebensätze“ bezeichnet. Wie bereits angesprochen, wird dieser Terminus z. T. sehr unterschiedlich verwendet.31 Im Wesentlichen sind dabei die drei folgenden Gruppen zu unterscheiden: a) Der Relativsatz bezieht sich nur sehr lose auf seinen Referenten im Matrixsatz. Die Grammatik des Duden (2016: 1042, § 1655) bezeichnet diesen Typ als „weiterführenden Relativsatz“ und gibt Beispiele wie oben in (32) und Ich komme eben aus Prag, wo ich Zeuge eines Unglücks geworden bin. Ähnliche Sätze finden sich bei Engel (2009: 155) unter dem Begriff „weiterführende Angabesätze“, die einen neuen Sachverhalt anschließen.
30 Zifonun u. a. (1997: 2015) weisen darauf hin, dass laut einigen Forschenden wie z. B. Stechow (1980) kein Bedeutungsunterschied zwischen restriktiven und appositiven Relativsätzen auszumachen sei, sondern sich dieser erst durch die Pragmatik ergebe. Da in diesem Rahmen auf die Diskussion nicht im Detail eingegangen werden kann, sei lediglich angemerkt, dass in dieser Arbeit der Argumentation von Zifonun u. a. (1997: 2015) folgend von zwei durchaus semantisch zu differenzierenden Relativsatztypen ausgegangen wird. 31 Das merken z. B. Zifonun u. a. (1997: 2328) an und verweisen auf die Übersichten hierzu bei Helbig (1980), Holly (1988) und Brandt (1990). Helbig (1980: 13) weist darauf hin, dass der Terminus „weiterführender Nebensatz“ ursprünglich von Behaghel (1928: 771–772) stammt, der ihn jedoch zunächst für appositive Relativsätze vom Typ Wir wollten unsere Lehrerin besuchen, die aber nicht zu Hause war (s. o.), deren Aussage gegenüber der des Hauptsatzes „selbständige Geltung“ habe (Behaghel 1928: 771), verwendet hat.
24
2 Theoretische Grundlegung
b) Der Relativsatz drückt etwas auf den Inhalt des Matrixsatzes zeitlich Folgendes aus. Für diesen Verwendungsbereich nutzt u. a. Kerkhoff (1968: 20) den Begriff „weiterführender Relativsatz“ und liefert das Beispiel Er bereitete mir ein Mahl, das mir sehr übel bekam. Lehmann (1984: 272–273) bezeichnet solche Sätze als „kontinuativ“ und führt aus, dass sie textsemantisch wie Hauptsätze fungieren, indem sie den Diskurs voranbringen.32 Eroms (2000: 295) wiederum subsumiert unter dem Terminus „weiterführender Relativsatz“ zwei verschiedene Typen, von denen der erste die hier beschriebenen Sätze mit nominalem Referenten umfasst, die etwas zeitlich Folgendes anführen. Laut Eroms (2000: 295) bieten diese Sätze mit ihrem „assertierenden“ Charakter die Möglichkeit, „eine unabhängige Prädikation, die normalerweise in einem Aussagesatz zu erwarten wäre, in einer Struktur unterzubringen, die formal nicht selbständig ist“. In diesem Zusammenhang diskutiert Eroms (2000: 296) auch, ob solche Sätze als eine Sonderform der Aussagesätze zu bewerten seien. c) Innerhalb der „weiterführenden Relativsätze“ unterscheidet Eroms (2000: 296) von der soeben beschriebenen Gruppe den Typ 2 in Sätzen wie Sie verkaufte die Apotheke, was sie später noch bereuen sollte, der keinen nominalen Referenten aufweist, sondern sich auf den gesamten Matrixsatz bezieht und eine Bewertung des Satzes liefert;33 allerdings handle es sich hierbei nicht nur um Sprecherbewertungen. Ausschließlich für Relativsätze dieser Art verwenden Hentschel & Weydt (2013: 385) sowie Helbig & Buscha (2013: 592) den Begriff „weiterführender Relativsatz“. Bei Lehmann (1984: 273) findet sich hierfür der Terminus „Satzrelativsatz“, der diesen wiederum von Kerkhoff (1968: 26) übernommen hat, und Zifonun u. a. (1997: 2328) wählen die Kategorie „diktums- und propositionsaufgreifende Nebensätze“. Brandt (1990: 4) fasst die verschiedenen Verwendungen des Begriffs „weiterführender Relativsatz“ in der Literatur zu zwei Gruppen zusammen: Die semantische Definition einerseits gilt für Relativsätze mit einer Nominalphrase als dem Referenten im Matrixsatz. Hierzu zählen also die oben beschriebenen Typen a) und b). Die syn-
32 Von diesen kontinuativen Sätzen wie Sie gab das Buch Emil, der es zur Bibliothek brachte, die auf den Matrixsatz folgen, unterscheidet Lehmann (1984: 272–273) die sogenannten parenthetischen Relativsätze wie Emil, der das Buch zur Bibliothek brachte, muß es irgendwo auf dem Wege verloren haben, die in den Matrixsatz integriert sind und Hintergrundinformationen bzw. etwas bereits Bekanntes oder Nebensächliches liefern. 33 Eine Bezugnahme auf einen nicht-nominalen Referenten findet sich u. a. im Deutschen auch in Konstruktionen mit aufeinander folgenden Hauptsätzen, wie eine entsprechende Umformung des obigen Beispiels aus Eroms (2000: 296) veranschaulicht: Sie verkaufte die Apotheke. Das sollte sie später noch bereuen. Diese Form anaphorischer Referenz wird in der Forschung unter Verwendung verschiedener Termini betrachtet, z. B. als „Komplexanapher“ (Consten u. a. 2007, dort: „complex anaphor“) oder Diskursdeixis (Webber 1988, dort: „discourse deixis“). Einen Überblick zur Forschung und zur unterschiedlichen Terminologie liefern Kolhatkar u. a. (2018: 548–558).
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
25
taktische Definition andererseits umfasst Relativsätze, die sich auf einen ganzen Satz beziehen. Dies entspricht dem hier vorgestellten Typ c). In dieser Arbeit wird der Terminus „weiterführender Relativsatz“ im Sinn dieser syntaktischen Definition verwendet; er umfasst damit Sätze wie das oben in (33) angeführte Beispiel. Im Folgenden soll daher ausschließlich auf diesen Typ näher eingegangen werden. Zunächst ist eine Spezifizierung in Bezug auf den Referenten des weiterführenden Relativsatzes notwendig. Das oben formulierte Merkmal, dass sich weiterführende Relativsätze auf den gesamten Matrixsatz beziehen, muss dahingehend korrigiert bzw. erweitert werden, dass das Bezugselement, wie Brandt (1990: 20) ausführt, unterschiedlichen Umfangs, d. h. auch größer oder kleiner als ein Satz, sein kann.34 Die folgenden Beispiele aus Brandt (1990: 20) veranschaulichen dies: (34)
In den Jahren vor 1789 türmten sich die Probleme in Frankreich. Die keimende Manufakturindustrie wurde von einer Depression heimgesucht, und für die wachsende Bevölkerung gab es nicht genügend Arbeit, die Staatsschuld war zu unfaßbaren Beträgen angewachsen, die adligen Gutsherren begannen, alte, längst vergessene Rechte gegenüber den Bauern wieder in Anspruch zu nehmen, das emporstrebende Großbürgertum opponierte gegen die Vorrechte des Adels, und die Getreideernte schlug mehrere Jahre hintereinander fehl – was alles zu einer äußerst brissanten [sic] Situation im Lande beitrug. (Reihung von Hauptsätzen)35
(35)
Wenn sie kommen, was ich hoffe, werden wir zusammen ins Gebirge fahren. (Nebensatz)
(36)
Er wollte nach Italien fahren, was er schließlich auch tat. (Infinitivphrase)
(37)
Sie ist immer freundlich, was er wirklich nicht ist. (Adverb + Adjektivphrase)
(38)
Er kann schon schwimmen, was sie nicht kann. (Infinitiv)
(39)
Er gab mir zehn Mark, was damals viel Geld war. (Nominalphrase)
34 S. hierzu auch Holler-Feldhaus (2003: 86–87). Aus eben diesem Grund wird hier gegenüber dem u. a. von Lehmann (1984) verwendeten Begriff „Satzrelativsatz“ der Terminus „weiterführender Relativsatz“ präferiert, wenngleich auch dieser nicht optimal ist, da – wie Saltveit (1975: 34) zurecht kritisch anmerkt – „es in der deutschen Sprache kaum einen Satz gibt, der nicht in irgendeiner Weise ‚weiterführend‘ wäre“. 35 Die Beispiele in (34) bis (39) wurden zusammen mit den Angaben zum Referenten in Klammern wörtlich übernommen; die Unterstreichung der Bezugselemente wurde zur Veranschaulichung hinzugefügt.
26
2 Theoretische Grundlegung
Problematisch für die Abgrenzung von den anderen appositiven Relativsätzen erscheinen auf den ersten Blick Sätze wie in (39), denn sie beziehen sich ebenso wie nicht-weiterführende Relativsätze auf eine Nominalphrase. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass in einem nicht-weiterführenden appositiven Relativsatz wie in (40) das Personalpronomen Genus- und Numeruskongruenz zu seinem Referenten (hier: zehn Mark) aufweist (s. Kap. 2.4). In (39) liegt eine solche Kongruenz nicht vor, denn das Relativum was bezieht sich nicht auf das vom Referenten bezeichnete Individuum, sondern auf eine dadurch repräsentierte abstraktere Einheit wie hier die Geldsumme (vgl. Brandt 1990: 20–21). (40)
Meine Eltern geben mir jeden Monat zehn Mark, die ich am liebsten für Bücher ausgebe.
Als Relativum im weiterführenden Relativsatz werden neben was auch Pronominaladverbien mit wo- (womit, woran etc.) wie in (41)36 sowie w-Adverbien (weshalb, wohingegen etc.) wie in (42) verwendet (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2328). Sehr selten ist die Verbindung aus relativem Artikelwort welch- und einem Substantiv mit vorangehender Präposition wie in (43) (vgl. Brandt 1990: 34). Das Beispiel (44) aus dem Duden (2016: 304, § 403) zeigt, dass diese Konstruktion auch ohne Präposition möglich ist. (41)
Wir sollen bis nächste Woche einen zehnseitigen Bericht schreiben, worauf ich überhaupt keine Lust habe.
(42)
Jeden Morgen suche ich meinen Schlüssel, weswegen ich immer zu spät komme.
(43)
Gestern habe ich die Möbel umgestellt, bei welcher Gelegenheit ich auch gleich dahinter putzen konnte.
(44)
Die Zeitung schrieb, der Künstler habe unkonzentriert gewirkt, welchen Eindruck ich nur bestätigen kann. (Beispiel aus Duden 2016: 304, § 403)
Holler-Feldhaus (2003: 89–90) zeigt, dass sich weiterführende Relativsätze auf Referenten unterschiedlicher semantischer Typen beziehen können, nicht nur auf Tatsachen wie in (45), sondern auch auf Ereignisse wie in (46), auf Dinge und Sachverhalte,
36 Zu weiterführenden Relativsätzen mit Pronominaladverbien s. Starke (1982), der u. a. ausführlich auf semantische Beziehungstypen wie Grund-Folge-Relation, Mittel-Zweck-Verhältnis u. a., die mit der Verwendung verschiedener Pronominaladverbien korrespondieren, eingeht.
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
27
die eine Person glaubt, wie in (47), auf Fragen wie in (48) oder auf etwas, das sich eine Person wünscht, wie in (49). (45)
Grass sagte die Lesung ab, was bedauerlich ist.
(46)
Karl hat den K2 bestiegen, was Otto auch gelungen ist.
(47)
Max glaubte, dass Grass die Lesung absagte, was Anna nicht gedacht hätte.
(48)
Maria will wissen, welche Prüfungen sie ablegen muß, was ihr aber niemand sagt.
(49)
Karl möchte eine Maus halten, was seine Mutter ihm aber nicht erlaubte. (Beispiele aus Holler-Feldhaus 2003: 90)
Die weiterführenden Relativsätze scheinen aufgrund ihres „weiterführenden“ Inhaltes, der die Handlung und den Diskurs vorantreibt, den Hauptsätzen ähnlicher als den Nebensätzen zu sein. Reis (1997: 127) führt aus, dass sie für den Matrixsatz syntaktisch nicht notwendig seien, da mit dem Referenten keine offene Forderung verknüpft sei, die vom Relativsatz erfüllt werden müsse. Die inhaltliche Anbindung im weiterführenden Relativsatz entspräche eher der in Hauptsätzen erfolgenden Anbindung durch Anaphern, Konjunktoren und Konjunktionaladverbien,37 weshalb Reis (1997: 127) den weiterführenden Relativsatz als gegenüber dem zugehörigen Hauptsatz unintegriert bewertet.38 Brandt (1990: 27) untersucht den weiterführenden Relativsatz sowohl aus syntaktischer als auch pragmatischer Perspektive und formuliert die Hypothese, dass er in irgendeiner Weise kommunikativ relevanter als andere Nebensätze sei und ihm daher der gleiche Status wie dem vorangehenden Hauptsatz zukomme. Mithilfe des sogenannten dennoch-Tests ermittelt Brandt (1990: 69–70, 131) innerhalb der nicht-restriktiven Relativsätze zwei Funktionsklassen mit unterschiedlicher kommunikativer Relevanz. Zur einen Gruppe zählen die weiterführenden Relativsätze, die sich syntaktisch wie Hauptsätze verhalten und auch hinsichtlich ihrer kommunikativen Relevanz mit diesen gleichwertig sind. In die andere Gruppe gehören die übrigen appositiven Relativsätze wie das oben unter (32) angeführte Beispiel Wir wollten unsere Lehrerin besuchen, die aber nicht zu Hause war, die syntaktisch eher
37 Besonders deutlich ist diese Parallele in Relativsätzen wie in (42), die mit einem w-Konjunktionaladverb eingeleitet werden. 38 S. auch Holler-Feldhaus (2003: 89), die als Merkmal der weiterführenden Relativsätze ebenfalls deren syntaktische Unintegriertheit festhält.
28
2 Theoretische Grundlegung
Subjunktorsätzen entsprechen und gegenüber dem Hauptsatz eine geringere kommunikative Relevanz aufweisen (vgl. Brandt 1990: 69–70, 131).39 Holler-Feldhaus (2003: 96) benennt in Bezug auf die syntaktischen und diskursstrukturellen Eigenschaften weiterführender Relativsätze als eine Besonderheit dieser Konstruktion, dass „zwei durch eine symmetrische Diskursrelation verbundene Diskurseinheiten auch syntaktisch verknüpft werden“, wodurch die Diskursrelation besonders betont wird. Auf diese Weise werde Kohärenz geschaffen und – im Vergleich zu einer Konstruktion aus zwei Hauptsätzen – der kognitive Aufwand für den Rezipienten verringert. Der Grund liegt darin, dass der mögliche Referent auf den Bezugssatz festgelegt wird, während bei zwei Hauptsätzen der Bezugsraum für das zu Beginn des zweiten Satzes stehende Demonstrativpronomen größer sein könnte (vgl. Holler-Feldhaus 2003: 96).
2.2.2 Freier Relativsatz Von den oben beschriebenen attributiven Relativsätzen ist auf syntaktischer Ebene eine zweite Gruppe von Relativsätzen abzugrenzen, die dem Typ 2 der Definition in Kap. 2.1.2 entspricht. Diese Sätze füllen i. d. R. eine im übergeordneten Satz eröffnete Leerstelle, haben also eine Satzgliedfunktion in diesem übergeordneten Satz.40 In der Literatur wird für diese Gruppe meist der Terminus „freier Relativsatz“ verwendet.41
39 Brandt (1990) verwendet für Sätze, die in dieser Arbeit unter dem Begriff „weiterführender Relativsatz“ subsumiert werden, den Terminus „Satzrelativsatz“. Derselben Gruppe wie diese Satzrelativsätze gehören bei Brandt (1990: 69) auch appositive Relativsätze, die ein Konjunktionaladverb wie aber, jedoch und auch enthalten (z. B. Sie machten dann ihr Experiment, das auch gelang), an. Brandt (1990: 69) bezeichnet im Ergebnis ihrer Analyse diese Sätze, die syntaktisch und pragmatisch Hauptsätzen entsprechen, als „weiterführende Relativsätze“ und stellt sie den appositiven Relativsätzen mit geringerer kommunikativer Relevanz gegenüber. 40 Es sei jedoch auf Ausnahmen wie in Beispiel (14) in Kap. 2.1.2.1 hingewiesen, in denen keine Satzgliedfunktion des Relativsatzes vorliegt. Zur Erklärung s. Kap. 2.1.2.5. 41 Als passender bewerten Zifonun u. a. (1997: 2262) den Begriff „generalisierende / indefinite Sätze“ von Engel (1988). Auch Pittner (2009: 737) kritisiert die Bezeichnung „freier Relativsatz“, denn diese „ist eigentlich ein Widerspruch, da sich Relativsätze per definitionem auf ein Element im übergeordneten Satz oder im Fall von Satzrelativsätzen auf ganze Sätze oder Satzteile beziehen, freien Relativsätzen jedoch ein solcher Bezugspunkt im übergeordneten Satz fehlt“. Der Begriff „freier Relativsatz“ findet sich bereits bei Behaghel (1928: 752), jedoch für sogenannte „beschreibende“, „weiterführende“ Relativsätze; gemeint sind appositive Relativsätze mit einem – wie es die Grammatik des Duden (2016: 1042, § 1655) formuliert – „ganz lockeren Verhältnis“ zum Referenten im Matrixsatz (s. Kap. 2.2.1.3). Dass der Begriff „freier Relativsatz“ selbst in aktuellen grammatischen Darstellungen nicht einheitlich verwendet wird, zeigt sich z. B. bei Imo (2016: 148), der ihn für diejenige Untergruppe der appositiven Relativsätze verwendet, die in dieser Arbeit als weiterführende Relativsätze bezeichnet werden.
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
29
Im Gegensatz zu attributiven Relativsätzen, die sich auf einen notwendigerweise vorangehenden Referenten im Matrixsatz beziehen, können freie Relativsätze nicht nur wie in (50) dem Matrixsatz nachgestellt oder wie in (51) in diesen integriert auftreten, sondern ihm auch wie in (52) vorangehen.42 Im Fall vorangestellter freier Relativsätze kann im Vorfeld des Matrixsatzes wie in (53) ein Korrelat für die im Relativsatz ausgedrückte Einheit stehen. Handelt es sich um einen Relativsatz in adverbialer Funktion, stimmen die Adverbialklasse des Relativums und des Korrelates überein wie in (54).43 (50)
Du glaubst immer, was dir andere sagen.
(51)
Ich habe, was ich schon längst erledigen sollte, noch immer nicht getan.
(52)
Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.44
(53)
Wer ein Schimpfwort benutzt, (der) muss 50 Cent in die Kaffeekasse geben.
(54)
Wo du bist, (da) will auch ich sein.
(55)
Du glaubst immer (das), was dir andere sagen.
(56)
Derjenige, der ein Schimpfwort benutzt, muss 50 Cent in die Kaffeekasse geben.
Aufgrund seiner Satzgliedfunktion im Matrixsatz ist der freie Relativsatz syntaktisch für diesen unentbehrlich45 und hat folglich stets eine restriktive Lesart (vgl. Pittner &
42 Zu den topologischen Eigenschaften freier Relativsätze s. Bausewein (1990b: 152–153), die die Mittelfeldstellung und die Extraponierbarkeit der freien Relativsätze als Argument dafür wertet, „daß freie Relativsätze ein latentes Bezugselement haben, und daß dieses Bezugselement nicht in den freien Relativsatz integriert ist“ (Bausewein 1990b: 153). Zu Strukturanalysen freier Relativsätze s. neben Bausewein (1990b) u. a. Groos & Riemsdijk (1981). 43 Vgl. Pittner (2009: 737), die für nachgestellte freie Relativsätze auf ein Übereinstimmen der Adverbialklasse von Relativum und dem im Matrixsatz hinzudenkbaren Referenten (z. B. in Er wohnt (dort), wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen) hinweist. 44 Da sich diese Arbeit mit mittelniederdeutschen Relativsätzen befasst, sei der Hinweis erlaubt, dass dieses Sprichwort seinen Ursprung im Sachsenspiegel Eikes von Repgow – dem bedeutendsten mittelalterlichen Rechtstext – hat und die Regel formuliert, dass derjenige, der zuerst an der Mühle ankommt, zuerst sein Getreide mahlen darf. 45 Aus diesem Grund wird dieser Typ zuweilen auch als „notwendiger Relativsatz“ bezeichnet, im Gegensatz zu den syntaktisch „nicht-notwendigen“ attributiven Relativsätzen (vgl. Hentschel & Weydt 2013: 384). Diesen Begriff nur im Bereich der syntaktischen Notwendigkeit anzuwenden, ist problematisch und kann leicht zu terminologischer Heterogenität führen, da eine Notwendigkeit – wenngleich nicht syntaktisch, so doch inhaltlich – auch bei den restriktiven attributiven Relativsätzen vorliegt.
30
2 Theoretische Grundlegung
Berman 2010: 104). Besonders deutlich wird dies, wenn man einen freien Relativsatz in einen attributiven Relativsatz mit vorangehendem Referenten umwandelt, z. B. (50) in (55) und (53) in (56) – wie sich zeigt, handelt es sich dabei stets um einen restriktiven Relativsatz. Pittner (2009: 744) gibt an, dass freie Relativsätze nicht nur mit w-, sondern auch mit d-Relativum eingeleitet werden können und liefert das Beispiel Die dort stehen, bekommen keine Karten mehr. Da anders als das w-Pronomen, dessen Paradigma auf Singularformen für das Maskulinum begrenzt ist,46 das d-Pronomen Genus- und Numerusdifferenzierung ermöglicht, ist es für eine spezifische Referenz eher geeignet; das w-Pronomen wird daher meist in generalisierender Funktion verwendet (vgl. Pittner 2009: 744).47 Mithilfe des Relativpronomens wer bspw. kann statt auf eine bestimmte Person auf eine größere Personengruppe referiert werden. Durch die Verwendung von auch immer im Relativsatz wird diese verallgemeinernde Bedeutung verstärkt (vgl. Pittner 2009: 744). Dadurch rückt der freie w-Relativsatz stark in die Nähe von Irrelevanzkonditionalia, worauf in Kap. 2.3.1 ausführlicher eingegangen wird. Obwohl also die d-Pronomen im freien Relativsatz ebenso möglich sind und in Bezug auf die Art der Referenz auch einen Vorteil gegenüber den w-Formen bieten, sind sie im tatsächlichen Sprachgebrauch heute selten48 und wirken Zifonun u. a. (1997: 2275) zufolge in einigen Fällen archaisierend, in anderen umgangssprachlich.49 Noch dominanter als bei den Pronomen sind die w-Formen im Bereich der Relativadverbien, wo d-Adverbien eine Ausnahme darstellen (vgl. Pittner 2009: 745).50 Die Beispiele (57) bis (60) veranschaulichen dies: (57)
Wo wir letztes Jahr im Urlaub waren, sind wir auch dieses Jahr wieder.
46 Auf die Diskussion zum Genus und Numerus des Pronomens wer und der damit verbundenen Frage, ob wer auch für eine Referenz auf weibliche und Pluralentitäten zu verwenden ist, kann hier nicht eingegangen werden, s. dazu die umfassenden Ausführungen bei Pittner (1996b, 1998). 47 Zur Wahl des Pronomens im freien Relativsatz in Abhängigkeit von der Art der Referenz (spezifisch vs. nicht-spezifisch) s. ausführlicher Bausewein (1990b), der zufolge diese Korrelation nicht nur bei freien Relativsätzen, sondern im Fall des Pronomens im Neutrum auch bei attributiven Relativsätzen bestehe: was wird bei unspezifischer Referenz verwendet, das bei spezifischer (vgl. Bausewein 1990b: 148–149). 48 Dies wird u. a. dadurch abgebildet, dass in Grammatiken als Beispiele für freie Relativsätze fast ausschließlich Sätze mit w-Pronomen angeführt werden. 49 Als Beispiel für eine archaisierende Wirkung führen Zifonun u. a. (1997: 2274) den Satz Es sterben, denen heilig war das Wort an, als Beispiel für eine umgangssprachliche Verwendung Die noch nichts bekommen haben, sollen sich melden. Zu freien Relativsätzen mit d-Pronomen s. ausführlicher Fuß & Grewendorf (2014). 50 Als Beispiel führt Pittner (2009: 745) da an, auf das im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Relativsätze von Subjunktorsätzen in Kap. 2.3.3 genauer eingegangen wird.
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
(58)
Wir fahren Sie, wohin Sie wollen.
(59)
Ich treffe mich mit dir, wann du willst.51
(60)
Ich denke gerade, woran ich in solchen Situationen immer denke.
31
Als Komplementsätze können freie Relativsätze grundsätzlich für alle Komplemente verwendet werden, können also eine ganz unterschiedliche Satzgliedfunktion im Matrixsatz haben: als Subjekt wie in (61), Prädikativ wie in (62), Genitivobjekt wie in (63), Dativobjekt wie in (64), Akkusativobjekt wie in (65), Präpositionalobjekt wie in (66) oder Adverbial wie in (67). Wie Pittner & Berman (2010: 104) ausführen, sind dabei die syntaktische Funktion des Relativsatzes im Matrixsatz und die des Relativums im Relativsatz i. d. R. identisch wie in (61) bis (67). Im Fall der Adverbialsätze bedeutet dies, dass das Relativum dieselbe adverbiale Funktion im Relativsatz wie der Relativsatz im Matrixsatz innehat (vgl. Pittner 1999: 226). Bei den Subjekt- und Objektsätzen werden in diesem Zusammenhang die Begriffe „Kasusidentität“ (Eisenberg 2013: 275) bzw. „Kasusattraktion“ (engl. „case attraction“) (Pittner 1995: 200, 1996a: 121) verwendet. (61)
Wer das gesagt hat, ist mir seit langem bekannt.
(62)
Sie wurde, was sie von Anfang an hatte werden sollen.
(63)
Er entsann sich, dessen man ihn im vergangenen Jahr beschuldigt hatte.
(64)
Wem ich vertraue, helfe ich auch gern.
(65)
Wen du ausgesucht hast, möchte ich gerne sehen.
(66)
Worüber du sprichst, darüber haben wir uns gestern unterhalten.
(67)
Wo sich dieser Betrieb niederlässt, werdet ihr Arbeit finden. (Beispiele aus Engel 2009: 138–142)
(68)
Ich tue nur, was mir Spaß bereitet. (Relativsatz ist Akkusativobjekt, Relativum ist Subjekt)
51 Pittner (2009: 733) führt unter den Relativadverbien wann als „veraltet“ auf – vermutlich bezieht sie sich hiermit jedoch nur auf die Verwendung in attributiven Relativsätzen. Die Grammatik des Duden (2016: 589–590, § 856) bewertet wann ausschließlich als Interrogativadverb, was vermutlich darin begründet liegt, dass sein Verwendungskontext stark eingeschränkt ist und es daher sehr selten vorkommt. Sätze wie in (59) belegen jedoch eindeutig eine Verwendung als Relativum. Zur Abgrenzung von Interrogativa s. Kap. 2.3.2.1.
32
2 Theoretische Grundlegung
Nachdem die als „Matching-Effekt“ bezeichnete Bedingung lange als Voraussetzung für die korrekte Verwendung freier Relativsätze galt (vgl. Pittner 2009: 738),52 ist inzwischen Stand der Forschung, dass Konstruktionen mit freien Relativsätzen unter bestimmten Bedingungen davon abweichen können. Wichtig ist zunächst die Feststellung Pittners (1991: 342), dass „sich die Matching-Regel nicht auf den abstrakten Kasus, sondern auf die konkrete, morphologische Kasusform“ bezieht. Da das Paradigma des Pronomens im Neutrum für den Nominativ und den Akkusativ dieselbe Form (das bzw. was) aufweist, sind Sätze wie in (68), in denen der Relativsatz im Matrixsatz eine andere Funktion als das Relativum im Relativsatz innehat, unproblematisch. Doch auch Sätze mit zwei nicht identischen Kasusformen können als grammatisch gelten, sofern der vom Matrixverb geforderte Kasus dem vom Verb im Relativsatz geforderten Kasus auf der folgenden Hierarchie vorangeht: Nominativ > Akkusativ > Dativ / Präpositionalkasus (vgl. Pittner 1991: 342).53 Die folgenden Beispiele aus Bausewein (1990a: 165) belegen dies: (69)
Wen es zum Lehrerberuf hinzieht, bevorzugt eher die geisteswissenschaftlichen und philologischen Fächer. (Nom > Akk) Wem die ätherischen Öle zu scharf sind, greift zu der leicht salzig schmeckenden Solezahnpasta. (Nom > Dat) Erforscht wird, wofür’s Geld gibt. (Nom > Präp) Sie lädt ein, wem sie zu Dank verpflichtet ist. (Akk > Dat) Jeder muss tun, wofür er bestimmt ist. (Akk > Präp)
In Konstruktionen, die dieser Regel nicht folgen, muss wie in (70) der vom Matrixverb geforderte Kasus in einem Korrelat im nachgestellten Matrixsatz ausgedrückt werden. (70)
Wer meine Hilfe braucht, dem helfe ich. (Dat < Nom)
Die prototypischen freien Relativsätze übernehmen, wie oben beschrieben, Satzgliedfunktion im Matrixsatz. Eine Ausnahme stellen jedoch freie Relativsätze mit
52 Diesen Matching-Effekt weisen Bresnan & Grimshaw (1978: 336) auch für freie Relativsätze im Englischen nach. Zum Matching-Effekt in freien Relativsätzen s. außerdem Groos & Riemsdijk (1981) sowie Suñer (1984). 53 Grundlagen dieser von Pittner (1991: 342) differenziert dargelegten Regel finden sich bereits bei Neckel (1900: 24), der für das Althochdeutsche formuliert: „Die allgemeine regel für die diskrepanz der kasus aber ist: das pronomen richtet sich nach demjenigen verbum, das den genitiv oder dativ verlangt; nominativ und accusativ können leichter ergänzt werden.“ Zur Kasusattraktion im Alt- und Mittelhochdeutschen s. Pittner (1996a: 121–124). Vgl. auch Groos & Riemsdijk (1981: 205–206), die zwischen „matching languages“ und „non-matching languages“ unterscheiden und zu letzteren u. a. die früheren Sprachstufen des Deutschen zählen.
2.2 Subklassifizierung der Relativsätze
33
folgendem Korrelat in Funktion eines Genitivattributes wie in (71) dar.54 Da sie das Merkmal, das i. d. R. als entscheidendes für die Bestimmung von freien Relativsätzen gegenüber attributiven Relativsätzen herangezogen wird, nicht erfüllen, erschweren sie eine einheitliche Definition für die Gruppe der freien Relativsätze. Eine Unterscheidung zwischen attributiven Relativsätzen und freien Relativsätzen als Genitivattribut ist dennoch unproblematisch, da erstere ausschließlich nach dem Referenten stehen können wie in (72) und (73), während letztere immer vor ihrem Korrelat im Matrixsatz erscheinen wie in (71). (71)
Wen ich nicht gut kenne, dessen Hilfe nehme ich ungern an.
(72)
Ich nehme die Hilfe einer Person, die ich nicht gut kenne, ungern an.
(73)
Ich spreche jemanden, den ich nicht kenne, ungern an.
Eine besondere Konstruktion, die im Rahmen der freien Relativsätze Erwähnung finden muss, stellt der sogenannte Spaltsatz wie in Es war ein Journalist, dem er den Hinweis verdankte (vgl. Duden 2016: 1056, § 1672)55 dar. Spaltsatzkonstruktionen (engl. „clefts“ oder „cleft sentences“) bestehen aus einem meist als Relativsatz realisierten Nebensatz56 und dem zugehörigen Matrixsatz, der eine Kopulakonstruktion mit einem Kopulaverb, dem korrelativen Pronomen es und einem weiteren Element, der Cleft-Konstituente57, enthält (vgl. Huber 2002: 7–8).58 Sie werden zur Fokussierung der Cleft-Konstituente verwendet und daher auch als fokussierende Strukturen bzw. Konstruktionen bezeichnet (vgl. Huber 2002: 161). Das Phäno-
54 In den Grammatiken und Syntaxeinführungen werden diese Sätze zumeist ignoriert; nur sehr selten finden sich Beispiele für freie Relativsätze in Funktion eines Genitivattributes, so z. B. bei Eroms (2000: 289). Zu freien Relativsätzen als Genitivattribut im Zusammenhang mit der Kasushierarchie s. Vogel (2003: 277–282). 55 Bei Kerkhoff (1968: 29) als „der komplementäre (ergänzende) Relativsatz“ aufgeführt. 56 Außerdem kann als Nebensatz ein dass-Satz auftreten (vgl. Zifonun u. a. 1997: 528) wie in Es ist lange her, dass ich sie gesehen habe. 57 Als Cleft-Konstituente wird das Element bezeichnet, das bei Aufspaltung eines Satzes (z. B. Maria mag Peter) aus diesem heraus in den Matrixsatz der Spaltsatzkonstruktion gestellt wird (z. B. Es ist Peter, den Maria mag) (vgl. Huber 2002: 8). Hierbei kann es sich nach Zifonun u. a. (1997: 528) um eine Nominal-, Präpositional- oder Adverbphrase handeln. 58 Von den Spaltsätzen abzugrenzen sind die Pseudo-Spaltsätze mit einem vorangehenden freien w-Relativsatz als Nebensatz und ohne korrelatives es im Matrixsatz wie in Wer kommt, ist Peter sowie die invertierten Spaltsätze bzw. invertierten Pseudo-Spaltsätze mit Cleft-Konstituente plus Kopulaverb und folgendem w-Relativsatz wie in dem englischen Satz The car is what I need; im Deutschen ist ein zusätzliches es im Matrixsatz erforderlich wie in Das Auto ist es, was wir brauchen (vgl. Huber 2002: 9–11, Altmann 2009: 1, Birkner 2008: 317–318).
34
2 Theoretische Grundlegung
men der Spaltsätze wird in der Forschung vielfach beschrieben und diskutiert,59 insbesondere in Bezug auf den Status des Nebensatzes und der Konstruktion insgesamt sowie die morphosyntaktische Analyse ihrer Elemente. Das korrelative es bezeichnet Huber (2002: 140, 159) als „satzstellvertretendes“ bzw. „satzvorgreifendes Element“. Der Satz, den es vertritt, wird laut Altmann (2009: 25) traditionell als freier Relativsatz klassifiziert. Allerdings enthält der Nebensatz mit der Cleft-Konstituente ein potentielles Bezugselement mit Genus- und Numeruskongruenz zum Relativpronomen (vgl. Birkner 2008: 324), sodass er „ein ähnliches Verhältnis mit der Cleft-Konstituente eingeht wie ein attributiver Relativsatz“ (Huber 2002: 159). Dass der Nebensatz kein Attribut dieser Cleft-Konstituente sein kann, zeigt Huber (2002: 145)60 daran, dass in einer Spaltungskonstruktion wie Es ist Peter, der kommt der Relativsatz und sein potentieller Referent nicht ohne Veränderung der Lesart zusammen verschoben werden können (* Peter, der kommt, ist es61), was im Fall attributiver Relativsätze möglich ist. Spaltsätze teilen also gewisse Eigenschaften sowohl mit freien als auch mit attributiven Relativsätzen und lassen sich keinem von beiden Typen eindeutig zuordnen, was sich in den unterschiedlichen Forschungsansichten zum Status des Nebensatzes in Spaltsatzkonstruktionen widerspiegelt,62 sondern stellen vielmehr eine eigene Gattung dar (vgl. Huber 2002: 26). Da ihnen kein echter Referent zugeordnet werden kann, den sie attribuieren, und folglich auch eine semantische Differenzierung zwischen restriktiv und appositiv nicht möglich ist, stehen sie den freien Relativsätzen näher und werden in dieser Arbeit als solche gewertet, wenngleich sie u. a. aufgrund des vorangehenden Korrelates es die Eigenschaften dieses Relativsatztyps nicht vollständig erfüllen.63 In Kap. 4.4.3.2 wird im Zusammenhang mit Kongruenzmustern auf Spaltsätze noch einmal zurückzukommen sein. Für eine grundlegende Beschreibung des Relativsatzes auf Basis einer einheitlichen Definition sind die vorangehenden Ausführungen zu den Merkmalen des Relativsatzes und seinen Subklassen noch nicht ausreichend. Relativsätze weisen nämlich, wie an verschiedenen Stellen bereits angeklungen ist, zahlreiche Parallelen zu anderen Sätzen auf, die in konkreten Fällen die Festlegung, ob es sich um einen Relativsatz handelt oder nicht, erschweren. Aus diesem Grund ist es notwendig, im Folgenden zunächst anhand der neuhochdeutschen Standardsprache genau darzule-
59 Die ersten Forschungen um 1970 stammen aus dem anglo-amerikanischen Raum, wo die Konstruktion deutlich häufiger als im Deutschen auftritt (vgl. Altmann 2009: 13). 60 Ebenso Altmann (2009: 28). 61 Das Symbol * wird in dieser Arbeit für ungrammatische Konstruktionen verwendet. 62 Eisenberg (2013: 468) bspw. nennt diesen Relativsatz „nichtrestriktiv“, d. h. einen appositiven attributiven Relativsatz. Als restriktiv hingegen wird er z. B. von Knowles (1986: 316), Motsch (1970: 98, 100) sowie Reeve (2012: 25) bewertet. Altmann (2009: 28) wiederum geht von einem freien Relativsatz aus. 63 Auf weitere Merkmale freier Relativsätze, die auf Spaltsätze nicht zutreffen, geht Altmann (2009: 25–28) genauer ein.
2.3 Abgrenzung der Relativsätze von anderen Satztypen
35
gen, worin die genannten Parallelen bestehen und auf welcher Basis für den in dieser Arbeit verwendeten Relativsatzbegriff eine Abgrenzung vorgenommen wird.
2.3 Abgrenzung der Relativsätze in der neuhochdeutschen Standardsprache von anderen Satztypen In Kap. 2.1.2 wurde gezeigt, dass ein Relativsatz entweder als Attribut zu einem Referenten im Matrixsatz fungieren oder aber Satzgliedfunktion im Matrixsatz übernehmen kann. Allerdings füllen andere Nebensatztypen ebenfalls diese Funktionen aus: Auch Interrogativ- und Subjunktorsätze können als Subjekt-, Objekt- oder Adverbialsätze, aber auch als Attribute verwendet werden, wie die Beispiele in (74) bis (80) veranschaulichen. Aufgrund formal identischer Satzeinleiter ist v. a. die Abgrenzung freier w-Relativsätze von Interrogativsätzen problematisch. Hinzu kommen jedoch diverse weitere Überschneidungen, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird. (74)
Wer den Eröffnungsvortrag halten wird, wurde noch nicht entschieden. → Interrogativsatz als Subjektsatz
(75)
Ich weiß, wer den Eröffnungsvortrag halten wird. → Interrogativsatz als Objektsatz
(76)
Die Frage, wer den Eröffnungsvortrag halten wird, ist noch nicht geklärt. → Interrogativsatz als Attributsatz
(77)
Dass du die Organisation übernehmen willst, freut mich. → Subjunktorsatz als Subjektsatz
(78)
Ich hoffe, dass du die Organisation übernehmen wirst. → Subjunktorsatz als Objektsatz
(79)
Wenn die Veranstaltung beginnt, musst du ein paar Begrüßungsworte sprechen. → Subjunktorsatz als Adverbialsatz
(80)
In dem Moment, als sie die Begrüßungsworte sprach, kamen noch weitere Gäste. → Subjunktorsatz als Attributsatz
2.3.1 Irrelevanzkonditionalsätze Die in Kap. 2.2.2 erwähnte Nähe zu Irrelevanzkonditionalia betrifft auf der einen Seite ausschließlich freie Relativsätze mit einleitendem w-Relativum und auf der
36
2 Theoretische Grundlegung
anderen Seite eine bestimmte Untergruppe der Irrelevanzkonditionalia. Zifonun u. a. (1997: 2319–2322) machen darauf aufmerksam, dass der Terminus „Irrelevanzkonditionale“ zur Bezeichnung einer semantischen Kategorie verwendet wird – Irrelevanzkonditionalia enthalten Bedingungen, die die Gültigkeit der Proposition im Matrixsatz nicht beeinflussen (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2319, Pittner 2009: 742) – und führen die verschiedenen sprachlichen Mittel zum Ausdruck eines Irrelevanzkonditionale auf, z. B. durch ob eingeleitete Subjunktorsätze wie Ob die Regierungen dies wollen oder nicht in (81), durch eine Gradpartikel und wenn eingeleitete Subjunktorsätze wie Selbst wenn sie auf uns zukommen in (82) und sogenannte „gegenstandsfundierte W-Sätze“ (Zifonun u. a. 1997: 2270) mit auch (immer) wie bei Wie das Land auch bewirtschaftet wird in (83). Zu Irrelevanzkonditionalia eben dieser letztgenannten Gruppe besteht die strukturelle Nähe der freien w-Relativsätze, deren generalisierende Bedeutung durch die Verwendung von auch (immer) verstärkt werden kann – einem Ausdruck, der häufig auch in Irrelevanzkonditionalsätzen vorkommt (vgl. Pittner 2009: 744), vgl. hierzu das Irrelevanzkonditionale in (83) mit dem freien Relativsatz in (85). (81)
Ob die Regierungen dies wollen oder nicht: eine psychologische Abkopplung Europas von den Vereinigten Staaten wäre wohl unabwendbar, wenn die Verwundbarkeit Amerikas abnimmt, die Europas jedoch zunimmt.
(82)
Selbst wenn sie auf uns zukommen, braucht dies kein Angriff zu sein.
(83)
Wie das Land auch bewirtschaftet wird: einzeln oder gemeinsam – die Bauern müssen im Konsum kaufen.
(84)
Wer auch immer dieses Amt antreten mag, er gehört zu den Protagonisten im Prozeß der Selbstklärung der Grünen. (Beispiele aus Zifonun u. a. 1997: 2320–2322)
(85)
Wie das Land bewirtschaftet wird, soll es auch in Zukunft bewirtschaftet werden.
(86)
Wer auch immer dieses Amt übernimmt, (der) muss sich großen Herausforderungen stellen.
Was w-Irrelevanzkonditionalia mit auch (immer) und freie w-Relativsätze voneinander unterscheidet, ist laut Pittner (2009: 742) der Status ihrer syntaktischen Integration: Während freie Relativsätze wie in (85) eine syntaktische Funktion im Matrixsatz übernehmen (hier als Modaladverbial), weisen Irrelevanzkonditionalia wie in (83) keine solche syntaktische Integration auf. Schwieriger ist eine Abgrenzung jedoch in Fällen wie (84) – bei Zifonun u. a. (1997: 2322) als Beispiel für ein Irrelevanzkonditio-
2.3 Abgrenzung der Relativsätze von anderen Satztypen
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nale angeführt – und (86) – einer Konstruktion mit freiem Relativsatz. Anders als im eindeutigen Beispiel in (83) wird in (84) im Matrixsatz eine Leerstelle für die durch den w-Satz ausgedrückte syntaktische Funktion eröffnet – allerdings ist diese im Matrixsatz durch die Nominalphrase er in eben dieser Funktion (Subjekt) besetzt. Gleiches liegt in (86) mit der Nominalphrase der als Subjekt vor, denn wie in Kap. 2.2.2 gezeigt wurde, kann im Fall vorangestellter freier Relativsätze der Matrixsatz ein Korrelat in der durch den Relativsatz ausgedrückten syntaktischen Funktion enthalten. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in (86) ein Demonstrativpronomen die Stelle des Subjekts füllt, in (84) hingegen ein Personalpronomen. Zwar deuten die Beispiele in der Literatur darauf hin, dass in der neuhochdeutschen Standardsprache als Korrelate freier Relativsätze i. d. R. Demonstrativa fungieren; dennoch scheint es sich hier um ein verhältnismäßig weiches Kriterium zu handeln, das zudem auf Relativsätze in einer früheren Sprachstufe des Deutschen, in der andere sprachliche Gegebenheiten vorliegen, schwer anwendbar ist (s. Kap. 2.5.2.1). Das Kriterium der syntaktischen Integration umfasst Pittner (2009: 742) zufolge nicht nur die oben bereits erläuterte syntaktische Funktion im Matrixsatz, sondern auch die topologische Position des w-Satzes: Irrelevanzkonditionalia treten laut Pittner (2009: 742) im Gegensatz zu freien Relativsätzen nicht im Vorfeld, sondern vor dem Vorfeld auf. Freie Relativsätze mit Korrelat im Matrixsatz wie in (86) jedoch widerlegen die Annahme und zeigen, dass freie Relativsätze durchaus vor dem Vorfeld des Matrixsatzes stehen und folglich syntaktisch weniger in diesen integriert auftreten können. Daher ist auch dieses Kriterium nicht für eine eindeutige Abgrenzung der freien Relativsätze von den Irrelevanzkonditionalsätzen geeignet. Das einzige zweifelsfrei und konsequent anwendbare Kriterium stellt folglich die syntaktische Funktion des Relativsatzes im Matrixsatz dar. Um die Frage nach dem Umgang mit Sätzen wie in (84) zu klären, sind daher weitere Abgrenzungskriterien notwendig. Pittner (1999: 275) führt u. a. den Aspekt der Umformbarkeit in einen attributiven Relativsatz an und argumentiert, dass es sich bei Sätzen wie in (87) nicht um einen freien Relativsatz handele, da sich dieser nicht in einen attributiven Relativsatz paraphrasieren lasse. Dieses Argument steht jedoch in ganz enger Verbindung zum Korrelat, denn während eine Umwandlung in (88) keinen grammatisch korrekten attributiven Relativsatz ergibt, ist dies in (89) der Fall – der Unterschied beschränkt sich also auch hier einzig auf die beiden verschiedenen Korrelate – Demonstrativum vs. Personalpronomen. (87)
Was du auch einwenden magst, es wird uns nicht beeinflussen. (Beispiel aus Pittner 1999: 275)
(88)
* Das, was du auch einwenden magst, es wird uns nicht beeinflussen.
(89)
Das, was du auch einwenden magst, das wird uns nicht beeinflussen.
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2 Theoretische Grundlegung
Da es sich beim Irrelevanzkonditionale, wie eingangs erwähnt, um eine semantische Kategorie handelt (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2319), bei den freien Relativsätzen hingegen um eine syntaktisch motivierte Klasse, sind ambige Fälle wie in (84) die unweigerliche Konsequenz. Da von den oben beschriebenen Kriterien für eine Abgrenzung beider Gruppen ausschließlich die syntaktische Funktion des freien Relativsatzes im Matrixsatz zweifelsfrei und konsequent anwendbar ist, wird hier im Sinn einer syntaktisch homogenen Klasse der freien Relativsätze dafür plädiert, strukturell und semantisch ambige Fälle wie in (84) als freie Relativsätze zu werten.
2.3.2 Propositionsfundierte w-Sätze Zu den Irrelevanzkonditionalia tritt eine weitere Gruppe von Nebensätzen, die eine strukturelle Ähnlichkeit mit durch w-Relativum eingeleiteten freien Relativsätzen wie in (90) aufweist: Es handelt sich um Sätze wie in Ich frage mich, wo die Lebensqualität besonders hoch ist in (91), die in der Literatur traditionell als „indirekte Fragesätze“ bezeichnet werden. Dieser Terminus ist insofern problematisch, als obund w-Sätze von Ausdrücken ganz unterschiedlicher Art regiert werden wie in (91) bis (93), nicht nur von solchen, die auf Fragehandlungen referieren wie in (91) (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2254).64 In den aktuellen Grammatiken finden sich daher vermehrt alternative Bezeichnungen bzw. Kategorisierungen. Um nicht nur Sätze zu erfassen, die im semantisch-kognitiven Sinn Fragen darstellen, wählen z. B. Helbig & Buscha (2013: 566) den Begriff „indirekte Fragesätze im syntaktischen Sinne“. Die Grammatik des Duden (2016: 1040, § 1652) wiederum verwendet die Kategorie „Inhaltssätze“ und grenzt diese gegenüber „Relativsätzen“ und den sogenannten „Verhältnissätzen“ ab. Zifonun u. a. (1997: 2264) unterscheiden zwischen „gegenstands- und propositionsfundierten W-Sätzen“ – basierend auf dieser Terminologie soll im Folgenden innerhalb der w-Sätze zwischen den freien Relativsätzen einerseits und den propositionsfundierten w-Sätzen andererseits differenziert werden. (90)
Ich wohne, wo die Lebensqualität besonders hoch ist.
(91)
Ich frage mich, wo die Lebensqualität besonders hoch ist.
(92)
Endlich verstand ich, wie das Problem zu lösen war.
(93)
In der Zeitung las ich, wo und wie sich der Unfall ereignet hatte.
64 Vgl. auch Paul (1989: 420, § 457), der darauf hinweist, dass indirekte Fragesätze „nicht nur von Verben des Fragens (oder allgemeiner: Wissen-Wollens) abhängig [sind], sondern auch von Verben, die die Bedeutung des Aussagens oder Mitteilens, der sinnlichen oder geistigen Wahrnehmung oder Erfahrung haben“.
2.3 Abgrenzung der Relativsätze von anderen Satztypen
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2.3.2.1 Interrogative Nebensätze Zu den propositionsfundierten w-Sätzen zählen verschiedene im Folgenden vorzustellende Satztypen, darunter auch die traditionell als „indirekte Fragesätze“ bezeichnete Gruppe. Hier werden dafür die Begriffe „interrogative Nebensätze“ bzw. „Interrogativsätze“ verwendet, wenngleich die Sätze, wie oben beschrieben, nicht nur auf Fragehandlungen referieren. Pittner (2009: 740) formuliert als Quintessenz der Dichotomie bei Zifonun u. a. (1997: 2264), dass die propositionsfundierten w-Sätze „Sachverhaltsbeschreibungen [enthalten], während freie Relativsätze mithilfe eines Sachverhalts Personen und Dinge benennen“. Dieser elementare Unterschied zeigt sich am deutlichsten bei dem Versuch, einen w-Satz, der freier Relativsatz oder propositionsfundierter wSatz sein kann, in einen Relativsatz mit einem Referenten – also einen attributiven Relativsatz – oder Korrelat – einen vorangestellten freien Relativsatz – umzuformen. Wie in Kap. 2.4 eingehender erläutert wird, müssen der Referent bzw. das Korrelat kongruent zum Relativum sein: Bei einem Satz mit Relativadverb wie wo in (94) bedeutet dies, dass es sich beim Referenten bzw. Korrelat um ein Adverb derselben semantischen Klasse (hier: lokal) handeln muss (vgl. Pittner 2009: 736–737). Bei einem Relativpronomen wie wer in (95) müssen Referent bzw. Korrelat ebenfalls in Form eines Pronomens erscheinen und in Genus und Numerus mit dem Relativum übereinstimmen. (94)
Ich wohne (dort), wo die Lebensqualität am höchsten ist. → freier Relativsatz
(95)
Wer auf hohe Lebensqualität setzt, (der) sollte in dieser Stadt wohnen. → freier Relativsatz
In Interrogativsätzen wie in (96) und (97) entsteht beim Einfügen eines solchen Referenten bzw. Korrelates kein grammatisch korrekter Satz. Vorangestellte Interrogativsätze wie in (97) lassen nur das Pronomen im Neutrum das zu; in nachgestellten Interrogativsätzen wie in (96) ist gar kein Referent möglich (vgl. Bausewein 1990a: 171–172, Zifonun u. a. 1997: 2267).65 (96)
Ich frage mich (* das / * dort), wo die Lebensqualität am höchsten ist. → Interrogativsatz
(97)
Wo die Lebensqualität am höchsten ist, (das / * dort) frage ich mich. → Interrogativsatz
65 Bausewein (1990a: 171–172) geht nur auf das Einfügen von Referenten ein, Zifonun u. a. (1997: 2267) beziehen sich auf das Korrelat das in propositionsfundierten w-Sätzen.
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2 Theoretische Grundlegung
Die in diesem Zusammenhang erwähnte Kongruenz zwischen dem Relativum und dem Referenten bzw. Korrelat hängt eng mit dem grundlegenden syntaktischen Unterschied zusammen, dass in freien Relativsätzen die Wahl des w-Elementes durch die Valenz des Verbs im Matrixsatz bedingt ist (vgl. Bausewein 1990a: 173), vgl. hierzu die Beispiele in (94) und (98). (98)
* Ich wohne, wer auf hohe Lebensqualität setzt.
In propositionsfundierten w-Sätzen dagegen ist das w-Element unabhängig vom Verb im Matrixsatz, d. h. von der Funktion des w-Satzes im Matrixsatz (vgl. Bausewein 1990a: 172–173, Zifonun u. a. 1997: 2266–2267). Derselbe Matrixsatz kann daher einen propositionsfundierten w-Satz mit ganz unterschiedlichen w-Elementen einbetten, wie die Beispiele in (99) bis (101) illustrieren: (99)
Sie erfuhr, wer die Tat begangen hatte.
(100) Sie erfuhr, wie / wo / wann das Verbrechen geschehen war. (101) Sie erfuhr, wessen Besitztümer gestohlen worden waren. Zu den weiteren beide w-Satz-Typen unterscheidenden Eigenschaften zählt die Möglichkeit, propositionsfundierte w-Sätze, nicht aber freie Relativsätze, in obSätze bzw. dass-Sätze umzuwandeln (vgl. Bausewein 1990a: 171, Zifonun u. a. 1997: 2268), vgl. hierzu das Beispiel in (102) mit denen in (103) und (104). (102) * Ich wohne, ob / dass die Lebensqualität besonders hoch ist. (103) Ich frage mich, ob die Lebensqualität besonders hoch ist. (104) Ich weiß, dass die Lebensqualität besonders hoch ist. Darüber hinaus führen Bausewein (1990a: 172) und Zifonun u. a. (1997: 2273) an, dass nur in propositionsfundierten w-Sätzen die Verwendung der w-Elemente welcher und was für ein möglich ist, vgl. hierzu das Beispiel in (105) mit dem in (106).66
66 Weitere Unterschiede, auf die hier nicht eingegangen wird, finden sich bei Bausewein (1990a: 170–176) sowie Zifonun u. a. (1997: 2266–2275). S. außerdem Helgander (1971: 206), der die Unterschiede zwischen Relativsätzen und indirekten Fragesätzen mit der unterschiedlichen Herkunft der relativen und der interrogativen w-Pronomen in Verbindung bringt. Zu Unterschieden zwischen freien Relativsätzen und Interrogativsätzen im Englischen s. Bresnan & Grimshaw (1978).
2.3 Abgrenzung der Relativsätze von anderen Satztypen
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(105) * Ich wohne, in welcher / was für einer die Lebensqualität besonders hoch ist. (Stadt) (106) Ich frage mich, in welcher / was für einer die Lebensqualität besonders hoch ist. (Stadt) Auf Basis der beschriebenen Unterschiede zwischen freien Relativsätzen und propositionsfundierten w-Sätzen kann also in verschiedenen Tests ermittelt werden, ob es sich bei einem vorliegenden w-Satz um den einen oder anderen Satztyp handelt. Hilfreich ist dies auch im Fall strukturell homonymer w-Sätze wie Wer dieses Buch geschrieben hat, ist bekannt in (107), denn hier lässt der Kontext grundsätzlich beide Lesarten zu: die als freier Relativsatz (Die Person, die das Buch geschrieben hat, ist bekannt) oder die als interrogativer Nebensatz (Es ist bekannt, wer die Person ist, die das Buch geschrieben hat).67 Durch die Umwandlung in einen Satz mit Korrelat (s. o.), ergeben sich zwei grammatisch korrekte Sätze, wie die Beispiele in (108) und (109) zeigen. Nur anhand des vorliegenden inhaltlichen Kontextes kann entschieden werden, welche Lesart die wahrscheinlichere ist (vgl. Bausewein 1990a: 167). (107) Wer dieses Buch geschrieben hat, ist bekannt. (108) Wer dieses Buch geschrieben hat, der ist bekannt. → freier Relativsatz (109) Wer dieses Buch geschrieben hat, das ist bekannt. → propositionsfundierter w-Satz
2.3.2.2 w-Exklamativsätze mit Verbletztstellung Neben den interrogativen Nebensätzen weisen auch die w-Exklamativsätze mit Verbletztstellung wie in (111) eine strukturelle Ähnlichkeit mit freien w-Relativsätzen wie in (110) auf. Da es sich bei den w-Exklamativsätzen jedoch um selbstständige Varianten propositionsfundierter w-Sätze handelt (vgl. Zifonun u. a. 1997: 674), während freie Relativsätze unselbstständig sind und vom Verb im Matrixsatz gefordert werden, ist eine Abgrenzung anhand des sprachlichen Kontextes i. d. R. unproblematisch. Aus diesem Grund muss auf diesen Satztyp hier nicht näher eingegangen werden.68
67 Zu verschiedenen Typen von Homonymien zwischen freien Relativsätzen und interrogativen Nebensätzen s. Zaefferer (1984: 54–61), der als grundlegenden Test die oben erläuterte Paraphrasierung in einen ob- oder dass-Satz verwendet. 68 Zu „w-Verb-Letzt-Exklamativsätzen“ s. u. a. Oppenrieder (1989: 219–222). Ausführlicher zu strukturellen Unterschieden zwischen freiem Relativsatz und w-Exklamativsatz s. Rosengren (1992).
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2 Theoretische Grundlegung
(110) Wen der kennt, den kenne ich selbst auch. (111) Wen der alles kennt! Ich wünschte, ich wäre nur mit halb so viel großen Künstlern bekannt. 2.3.2.3 w-Verbletztsätze als Überschriften Auch zu Sätzen wie in (113) weisen die freien Relativsätze wie in (112) auf den ersten Blick eine strukturelle Ähnlichkeit auf. (112) Ich schreibe die Hausarbeit, wie ich sie immer schreibe. (113) Wie Sie eine gelungene Hausarbeit schreiben. In dem folgenden Artikel verraten wir Ihnen die besten Tricks für eine studentische Hausarbeit. Es handelt sich um w-Verbletztsätze, die oft als Textüberschriften oder Buchtitel fungieren (vgl. Weuster 1983: 54). Sie weisen keinen Matrixsatz auf und werden deshalb von Oppenrieder (1989: 215) zu den „nicht-eingebetteten Verb-Letzt-Sätzen“ gezählt. Fügt man in Gedanken einen Matrixsatz hinzu, handelt es sich i. d. R. um Sätze der Art Hier erfahren Sie oder Wir zeigen Ihnen (vgl. Weuster 1983: 54, Oppenrieder 1989: 214), die den Status der w-Verbletztsätze als propositionsfundierte w-Sätze deutlich erkennen lassen. In diesen Sätzen, so Weuster (1983: 54), „zielt die Äußerung nicht darauf ab, Informationen zur Ergänzung der Proposition zu gewinnen, sondern sie verweist darauf, daß der durch das w-Wort gekennzeichnete Teil der Proposition in einem bestimmten Zusammenhang erläutert wird“. Der w-Satz übernimmt laut Oppenrieder (1989: 215) die Funktion der Ankündigung einer Information. Da die w-Verbletztsätze als Überschriften ebenso wie die w-Exklamativsätze mit Verbletztstellung keinen Matrixsatz aufweisen und daher syntaktisch vollkommen unintegriert sind, ist eine Abgrenzung von den syntaktisch integrierten freien Relativsätzen ebenfalls unproblematisch. 2.3.3 Subjunktorsätze Da Relativsätze, Irrelevanzkonditionalia und propositionsfundierte w-Sätze dieselben Satzeinleiter – w-Pronomen und w-Adverbien – enthalten, ist eine strukturelle Ähnlichkeit dieser Nebensatztypen sofort offensichtlich. Die Überschneidung mit Subjunktorsätzen hingegen erschließt sich erst bei näherer Betrachtung. Im ersten Moment scheint eine Abgrenzung leicht möglich zu sein. Hierfür wird in der Literatur meist der Status des einleitenden Elementes herangezogen. So stellen Pittner & Berman (2010: 106) heraus, dass Subjunktoren im Gegensatz zu Relativpronomen und -adverbien keine Satzgliedfunktion im Matrixsatz innehaben. Ihre wesentliche Funktion besteht darin, aus satzförmigen Einheiten Nebensätze zu bilden (vgl. Zifo-
2.3 Abgrenzung der Relativsätze von anderen Satztypen
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nun u. a. 1997: 2240). Sie sind daher vor dem Prozess der Einbettung noch nicht in den Teilsätzen vorhanden, sondern erscheinen dort erst durch diese Einbettung (vgl. Helbig & Buscha 2013: 565). In Sätzen wie Ich komme nicht mit ins Kino, weil ich keine Zeit habe in (114) und Sie fragt sich, ob es morgen schneien wird in (115) wird dies sehr gut deutlich: (114) Ich komme nicht mit ins Kino, weil ich keine Zeit habe. ← Ich komme nicht mit ins Kino. + weil + Ich habe keine Zeit. (115) Sie fragt sich, ob es morgen schneien wird. ← Sie fragt sich. + ob + Es wird morgen schneien. Problematischer sind Sätze wie Sie sieht immer fern, wenn ihre Mutter nicht zuhause ist in (116) und Sie sah fern, als ihre Mutter hereinkam in (117), wenn sie mit einem Bezugselement bzw. Korrelat wie zu der Zeit oder in dem Moment im Matrixsatz paraphrasiert werden: (116) Sie sieht immer fern, wenn ihre Mutter nicht zuhause ist. ≙ Sie sieht immer zu der Zeit fern, wenn ihre Mutter nicht zuhause ist. ≙ Sie sieht immer zu der Zeit fern, zu der ihre Mutter nicht zuhause ist. (117) Sie sah fern, als ihre Mutter hereinkam. ≙ Sie sah in dem Moment fern, als ihre Mutter hereinkam. ≙ Sie sah in dem Moment fern, in dem ihre Mutter hereinkam. Helbig & Buscha (2013: 590) nehmen für Nebensätze grundsätzlich ein Korrelat im Matrixsatz an; da es sich um bedeutungsarme Wörter wie Tatsache, Ort und Zeit handele, könnten sie meist weggelassen werden, in einigen Fällen jedoch seien sie syntaktisch obligatorisch wie darüber in (118): (118) Wir sprechen gerade darüber, ob wir heute Abend ins Kino gehen sollen. Vor diesem theoretischen Hintergrund könnten nun Sätze wie in (116) und (117) in solche mit Korrelat im Matrixsatz umgewandelt werden. Durch eine gleichzeitige Paraphrasierung der nebensatzeinleitenden Elemente in entsprechende Präpositionalphrasen mit w- oder d-Pronomen schließlich wird die Interpretation als Relativsatz verdeutlicht (vgl. Lehmann 1984: 324). Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die nebensatzeinleitenden Elemente wenn und als in Grammatiken des Deutschen i. d. R. nicht der Gruppe der Relativa mit ihren w- und d-Formen zugerechnet werden. Lehmann (1984: 323) allerdings bewertet beide als Relativsatzeinleiter und argumentiert damit,
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2 Theoretische Grundlegung
dass wenn dem Paradigma wer – wo – wie usw. angehört69 und als wiederum in komplementärer Verteilung zu wenn erscheint, was auf eine gemeinsame Funktion schließen lasse. Anders als Lehmann (1984) zählen Zifonun u. a. (1997: 2240–2248) Sätze mit wenn und als wie in (116) und (117) zu den Subjunktorsätzen. Diese unterscheiden sie auf Basis des satzeinleitenden Elementes von den w / d-Sätzen, zu denen die Relativsätze gehören. Maßgeblich ist für sie also die Bestimmung der einleitenden Wörter als entweder Subjunktor oder Relativum. Der in dieser Arbeit zugrunde gelegte Relativsatzbegriff soll Sätze wie in (116) und (117), die Lehmann (1984) zwar als Relativkonstruktionen bewertet, die in den Grammatiken des Deutschen jedoch weitestgehend einheitlich als Subjunktor- und nicht als Relativsätze kategorisiert werden, ausschließen. Da diese Sätze aber die syntaktisch motivierten Kriterien eines Relativsatzes, wie er in Kap. 2.1.2 dieser Arbeit definiert wurde, vollständig erfüllen, bedarf es zur weiteren Eingrenzung des Relativsatzbegriffes eines zusätzlichen Merkmals. Als einziges verlässlich und konsistent anwendbares Kriterium eignet sich hierfür der Satzeinleiter. Auf die in Kap. 2.1.1.2 erwähnte Kritik hinsichtlich einer Anwendung auf historische Sprachdaten wird in Kap. 2.5 zum mittelniederdeutschen Relativsatz noch einmal einzugehen sein.
2.3.4 Hauptsätze Bislang wurde wegen des grundlegenden gemeinsamen Merkmals der Verbletztstellung in den Nebensätzen des Gegenwartsdeutschen ausschließlich die Abgrenzung der freien Relativsätze von anderen Nebensatztypen thematisiert. Auch eine Abgrenzung von Hauptsätzen ist jedoch notwendig, da es das Phänomen der sogenannten „relativischen Verbzweitsätze“ (Endriss & Gärtner 2005) gibt, die also dieselbe Stellungseigenschaft wie Hauptsätze aufweisen, vgl. hierzu die Beispiele in (119) und (120) miteinander: (119) Ich habe eine Freundin, die joggt jeden Morgen um die Alster. → V2-Relativsatz 69 Tatsächlich sind laut Pfeifer (2004: 1538) wann – was im Gegenwartsdeutschen als Relativum mit temporalem Bezug fungieren kann (s. Kap. 2.4) – und wenn die „ursprünglich umlautlose und umgelautete Form desselben Wortes und daher in älterer Sprache bedeutungs- und funktionsgleich [. . .]. Die heute geltende Unterscheidung in wann Adv. ‚zu welcher Zeit, unter welcher Bedingung‘ und wenn Konj. (konditional) ‚unter der Bedingung, daß‘, (temporal) ‚sobald, sooft‘, (konzessiv) wenn . . . auch (gleich, schon) oder Wunschsätze einleitend ‚ich wünschte, daß‘ entwickelt sich im 18. Jh. [. . .], setzt sich endgültig aber erst im 19. Jh. durch“. Zum Subjunktor wann / wenn im älteren Deutsch s. v. a. Behaghel (1928: 342–348), der als übergeordnete Funktion das Einführen einer Annahme oder Tatsache – also eine konditionale Bedeutung – angibt. S. auch Dal (1966: 210), die für das mhd. swanne / swenne eine Vermischung von temporaler und konditionaler Bedeutung beschreibt.
2.3 Abgrenzung der Relativsätze von anderen Satztypen
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(120) Gestern habe ich Anna getroffen. Die joggt immer noch jeden Morgen um die Alster. → Hauptsatz Relativsätze mit Verbzweitstellung im Gegenwartsdeutschen sind inzwischen sehr gut erforscht; im Fokus stehen dabei eine Beschreibung ihrer Merkmale sowie die Diskussion um ihren syntaktischen Status. Im Folgenden sollen zunächst die von Endriss & Gärtner (2005: 208–209)70 ermittelten Eigenschaften der relativischen Verbzweitsätze zusammengefasst werden: Erstens müssen sie extraponiert, d. h. dem Matrixsatz nachgestellt sein (vgl. Endriss & Gärtner 2005: 196), vgl. hierzu das Beispiel in (121) mit dem in (122): (121) In diesem Semester besuche ich ein Seminar, das beschäftigt sich mit Wortarten. (122) * Ein Seminar, das beschäftigt sich mit Wortarten, besuche ich in diesem Semester. Zweitens fungieren als Einleitungselemente der relativischen Verbzweitsätze ausschließlich die mit den Relativpronomen identischen schwachen d-Demonstrativa (vgl. Endriss & Gärtner 2005: 197); die w-Formen sind ausgeschlossen, wie ein Vergleich von (121) oben mit (123) illustriert: (123) * In diesem Semester besuche ich ein Seminar, was beschäftigt sich mit Wortarten. Drittens muss die als Referent fungierende Nominalphrase im Matrixsatz ein Indefinitum mit weitem Skopus enthalten, weshalb z. B. die Determinierer kein- und jed- an dieser Stelle ausgeschlossen sind wie in den Beispielen (124) und (125) (vgl. Endriss & Gärtner 2005: 198): (124) * In diesem Semester besuche ich kein Seminar, das beschäftigt sich mit Wortarten. (125) * In diesem Semester besuche ich jedes Seminar, das beschäftigt sich mit Wortarten. Viertens handelt es sich beim Matrixsatz um einen Deklarativsatz (vgl. Endriss & Gärtner 2005: 199),71 der verhältnismäßig informationsarm ist und lediglich der Ein-
70 Diese wiederum basieren auf den Arbeiten von Gärtner (2001, 2002). 71 Zum Zusammenhang zwischen dem Skopus und der Satzart s. Gärtner (2001: 119–120).
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2 Theoretische Grundlegung
führung eines neuen Referenten dient,72 während die wesentliche Information im Relativsatz transportiert wird (vgl. Endriss & Gärtner 2005: 208–209, Pittner 2009: 744).73 Laut Pittner (2009: 744) gewinnt der Relativsatz durch die Verbzweitstellung ein stärkeres Gewicht. Endriss & Gärtner (2005: 209) halten fest, dass die Unvollständigkeit des Matrixsatzes im Extremfall zu Unakzeptabilität führen kann, d. h., dass der Matrixsatz für sich alleinstehend nicht möglich wäre. Sein informationsarmer Charakter zeigt sich auch darin, dass das Verb häufig „aus einer Gruppe ‚Existenz anzeigender‘ Prädikate“ (Endriss & Gärtner 2005: 209) wie sein, haben oder kennen stammt, wie auch das Beispiel oben in (119) veranschaulicht. Aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften bewertet Gärtner (2001: 139) die relativischen Verbzweitsätze als Hybrid zwischen Hypotaxe und Parataxe. Einerseits läge dieselbe Funktion und Lesart wie bei (restriktiven) Relativsätzen vor, andererseits handle es sich syntaktisch nicht um Relativsätze (vgl. Gärtner 2001: 99), weshalb Gärtner (2001: 105) eine parataktische Analyse vorschlägt. Aufgrund seiner restriktiven Lesart ist der relativische Verbzweitsatz im Gegenwartsdeutschen problemlos von einem unabhängigen Satz – einem Hauptsatz – mit d-Demonstrativum zu unterscheiden. Die Anwendung dieser Abgrenzung auf historische und speziell mittelniederdeutsche Sprachdaten wird in Kap. 2.5.2.4 thematisiert. Nachdem in diesem Kapitel gezeigt wurde, dass für einen eingegrenzten Relativsatzbegriff, wie er in dieser Arbeit präferiert wird, das Einleitungselement als notwendiges Kriterium hinzugenommen werden muss, soll das folgende Kapitel ausgehend von der neuhochdeutschen Standardsprache zunächst einen grundlegenden Überblick über die möglichen Formen der Relativsatzeinleitung im Deutschen und damit verbundene Prinzipien verschaffen, bevor in Kap. 2.5.1 als Ausgangspunkt für die Bestimmung des mittelniederdeutschen Relativsatzes genauer auf die Relativa im Mittelniederdeutschen eingegangen werden kann.
2.4 Formen und Eigenschaften des Relativums Innerhalb der Gruppe relativsatzeinleitender Wörter, d. h. der Relativa, unterscheidet Pittner (2009: 727) zum einen zwischen deklinierbaren Relativa, zu denen die 72 Nach Pittner (2009: 744) handelt es sich daher bei den Matrixsätzen relativischer Verbzweitsätze um sogenannte „präsentative Sätze“. Für das Englische werden präsentative Konstruktionen in Sätzen wie There was a farmer had a dog umfassend von Lambrecht (1988) analysiert. Endriss & Gärtner (2005) sowie Ebert u. a. (2007) orientieren sich aufgrund der Ähnlichkeit der VerbzweitRelativsätze mit den präsentativen Strukturen zwar an Lambrechts Analyse, zeigen jedoch auch, dass beide nicht komplett deckungsgleich sind. So sind in relativischen Verbzweitsätzen bestimmte Quantifizierer wie nichts ausgeschlossen, während präsentative Konstruktionen sie erlauben (vgl. Ebert u. a. 2007: 424). 73 Eine umfassende informationsstrukturelle Analyse liefern Endriss & Gärtner (2005) sowie Ebert u. a. (2007).
2.4 Formen und Eigenschaften des Relativums
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nach Kasus, Genus und Numerus flektierenden Relativpronomen zählen, und unflektierbaren Relativadverbien und -partikeln. Zum anderen ist im Deutschen eine Differenzierung nach dem Anlaut des Relativums in d- und w-Relativa möglich, die auf eine unterschiedliche Entwicklung dieser beiden Reihen zurückzuführen ist (genauer hierzu in Kap. 2.5.1). Die d-Relativpronomen sind formgleich mit den Demonstrativpronomen bzw. Definitartikeln der, die, das und flektieren wie diese. Im Genitiv und im Dativ Plural liegen jedoch davon abweichende Formen vor (vgl. Pittner 2009: 729–730), wie die Übersicht in Tabelle 1 zeigt:74
Tab. 1: Paradigma der d-Relativpronomen (nach Pittner 2009: 730).
Nom Gen Dat Akk
Mask
Neut
Fem
Pl
der dessen dem den
das dessen dem das
die deren / derer der die
die deren / derer denen die
Das Flexionsparadigma der w-Pronomen ist auf Singularformen für das Maskulinum (wer, wessen, wem, wen) und das Neutrum (was, wessen, was / wem, was) begrenzt (vgl. Pittner 2009: 732).75 Als weiteres Relativpronomen führt Pittner (2009: 731) das mit dem Interrogativpronomen formgleiche welch- auf, das ebenfalls wie der Definitartikel flektiert wird und bevorzugt in der Schriftsprache und in einem gehobenen Stil Verwendung findet sowie zum Zweck der Vermeidung von Wiederholungen (vgl. auch Duden 2016: 303, § 403). Die Grammatik des Duden (2016: 303–304, § 403) weist darauf hin, dass welch- nicht nur als Pronomen wie in (126), sondern vereinzelt auch als Relativartikel in weiterführenden Relativsätzen wie in (127) fungiert. (126) Das ist der Kerl, welcher uns noch Geld schuldet. (127) Die Zeitung schrieb, der Künstler habe unkonzentriert gewirkt, welchen Eindruck ich nur bestätigen kann. (Beispiele aus Duden 2016: 303–304, § 403)
74 Genaueres zur Entstehung der Formen dessen, deren und derer findet sich bei Lühr (1991). Zur Verwendung von deren und derer im Gegenwartsdeutschen s. Bærentzen (1995). 75 Zur Frage von Genus und Numerus in Relativsätzen mit w-Pronomen s. Kap. 2.2.2.
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2 Theoretische Grundlegung
Relativpronomen bilden Nominalphrasen wie in (128) und können wiederum Teil größerer Nominalphrasen wie in (130)76 oder auch von Präpositionalphrasen wie in (129) sein (vgl. Pittner 2009: 728). Relativartikel wie welch- fungieren stets als Determinierer zu einem Substantiv und sind als Kopf einer Determinativphrase immer auch Teil einer Nominalphrase (vgl. Zifonun u. a. 1997: 76), die wiederum als eigenständige Phrase wie in (131) oder Teil einer Präpositionalphrase wie in (132) vorkommt: (128) Der Aufsatz, [den]NP ich schon vor zwei Wochen einreichen sollte, ist jetzt endlich fertig. (129) Das erscheint mir wie eine Idee, [mit [der]NP]PP alle zufrieden sein können. (130) Eltern, [[deren]NP Kinder]NP im Teenageralter sind, haben es oft schwer. (131) Sie will morgen nach der Arbeit an den Strand gehen, [[welche]DP Idee]NP ich toll finde. (132) Sie will morgen nach der Arbeit an den Strand gehen, [mit [welchem]DP Vorschlag]PP ich einverstanden bin. Innerhalb der Relativadverbien sind nach Pittner (2009: 733–734) die sogenannten reinen Adverbien wo, wohin, woher (lokal), wann (temporal), wie (modal), weshalb, weswegen und warum (kausal) von den Pronominaladverbien, bestehend aus wo- und einer Präposition (z. B. womit, worauf etc.), zu differenzieren. Die Pronominaladverbien stehen in Konkurrenz zu Konstruktionen mit Präposition und d-Relativpronomen wie in (133) (vgl. Pittner 2009: 745). Pittner (2009: 745) formuliert hierfür die Einschränkung, dass Pronominaladverbien nur bei unbelebten Referenten verwendet werden können (vgl. (134) und (135) miteinander)77 und ergänzt, dass jedoch auch in
76 Zu dem Beispiel in (130) ist ergänzend anzumerken, dass Pittner (2009: 728) die Formen dessen und deren in Kombination mit einem folgenden Substantiv als Relativpronomen im Genitiv und damit als Nominalphrase in Funktion eines Genitivattributs wertet, während die Grammatik des Duden (2016: 281–282, § 375) sie in diesen Konstruktionen als Relativartikel ohne Kasuskongruenz mit dem folgenden Substantiv einordnet. Dem Duden (2016) folgend würde dann in (130) deren als DP – analog zu welche in (131) und welchem in (132) – gekennzeichnet. In der korpuslinguistischen Studie dieser Arbeit werden genitivische Formen des Pronomens in diesen Konstruktionen wie bei Pittner (2009: 728) als Relativpronomen und nicht als Relativartikel bestimmt. 77 Einen Einfluss der Belebtheit führt die Grammatik des Duden (2016: 595, § 863) z. B. auch im Bereich der Interrogativa an und stellt dort eine Dichotomie zwischen der Verbindung aus Präposition und Pronomen für belebte Entitäten (z. B. Vor wem hast du Angst?) und dem Pronominaladverb für unbelebte Entitäten (z. B. Wovor hast du Angst?) auf, ergänzt jedoch, dass sich die Verbindun-
2.4 Formen und Eigenschaften des Relativums
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diesen Fällen häufig die Verbindung aus Präposition und Relativpronomen vorkommt, dass also Sätze wie in (136) gegenüber Sätzen wie in (135) bevorzugt werden.78 (133) Sie ist ein Mensch, mit dem man über alles reden kann. (134) * Sie ist ein Mensch, womit man über alles reden kann. (135) Das erscheint mir wie eine Idee, womit alle zufrieden sein können. (136) Das erscheint mir wie eine Idee, mit der alle zufrieden sein können. Reine Relativadverbien bilden Adverbphrasen, relative Pronominaladverbien mit wohingegen Präpositionalphrasen; beide können im Satz als Adverbial fungieren, die Pronominaladverbien zusätzlich auch als Präpositionalobjekt (vgl. Pittner 2009: 728, 734). Zu den besonderen Merkmalen der Relativpronomen und -adverbien zählt die mit ihrer Referenzfunktion in engem Zusammenhang stehende Kongruenz zum Referenten. Relativpronomen kongruieren in Genus und Numerus mit ihrem Referenten im übergeordneten Satz, während sich der Kasus aus der Valenz im Relativsatz ergibt (vgl. Pittner 2009: 736), s. z. B. oben in (128) das Pronomen den im Maskulinum Singular (entsprechend dem Referenten der Aufsatz) und im vom Verb einreichen im Relativsatz geforderten Akkusativ. Ein als Referent fungierendes Personalpronomen der ersten oder zweiten Person kann im Relativsatz zusätzlich zum Relativpronomen, das nach der dritten Person Singular markiert ist, erscheinen, um die Personenkongruenz herzustellen wie in (137) (vgl. Pittner 2009: 736). In solchen Fällen kongruiert das Verb im Relativsatz mit dem zusätzlich eingefügten Personalpronomen (vgl. Duden 2016: 1013–1014, § 1600). (137) Wir, die wir immer vor zu engen Beziehungen gewarnt haben, werden nun mit angegriffen. (Beispiel aus Duden 2016: 1014, § 1600; Hervorhebung hinzugefügt) Im Gegensatz zu Relativpronomen können Relativadverbien zwar keine flexionsmorphologische Kongruenz zu ihrem Referenten aufweisen, dafür aber eine semantische: Der Adverbialtyp des Relativums (lokal, temporal, modal, kausal) wird
gen aus Präposition und Pronomen v. a. in der gesprochenen Sprache auch für unbelebte Entitäten (z. B. Vor was hast du Angst?) ausbreiten. 78 Vgl. auch die Grammatik des Duden (2016: 1050, § 1663), der zufolge bei einem Substantiv als Referent die Verbindung aus Präposition und Pronomen „üblicher“ als das entsprechende Pronominaladverb ist. Auf den Faktor der Belebtheit geht sie an dieser Stelle nicht ein, verweist lediglich auf den Artikel zur Belebtheit im Bereich der Interrogativa (vgl. Duden 2016: 595, § 863).
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2 Theoretische Grundlegung
durch die Semantik des Referenten (Ort, Zeit, Art, Grund) bestimmt (vgl. Pittner 2009: 737), wie die Beispiele in (138) bis (141) illustrieren: (138) Das ist genau der Ort, wo ich schon immer leben wollte. (lokal) (139) Der Einbruch geschah in einer Woche, wo die Bewohner im Urlaub waren. (temporal) (140) Die Art, wie du mit mir sprichst, gefällt mir nicht. (modal) (141) Meine Höhenangst ist einer der Gründe, weshalb ich nie fliegen würde. (kausal) Als Relativpartikel im Gegenwartsdeutschen führt Pittner (2009: 745) wo an und weist auf deren stilistisch und regional erheblich begrenzten Gebrauch hin. Standardsprachlich ist wo nur als Relativum in Funktion eines lokalen Adverbs wie in (142) oder eines temporalen wie in (143), d. h. als Relativadverb möglich (vgl. Duden 2016: 1050–1051, § 1664).79 (142) Er hat nämlich über Vermittlung des Arbeitsmarktservice inzwischen einen neuen Job gefunden bei einer Firma, wo er sich wohlfühlt. (Internetbeleg aus Duden 2016: 1050, § 1664) (143) Aber auch der Zeitpunkt, wo das Kind zum ersten Mal »Nein« sagen wird, rückt näher. (Internetbeleg aus Duden 2016: 1051, § 1664) Steht wo hingegen in Sätzen, die standardsprachlich mit einem Relativpronomen (i. d. R. in Subjekt- oder Objektfunktion) eingeleitet werden, wie in (144), handelt es sich um eine Relativpartikel. (144) Die Arbeit, wo mir gefällt, darf ich nicht machen. (Internetbeleg aus Duden 2016: 1052, § 1666)
79 S. auch Eisenberg (2013: 277), der mit Bezug auf die Grammatik des Duden (1998: 765, § 1332) festhält: „[. . .] es ist aber durchaus unklar, wo genau die Grenze für wo als Relativadverb verläuft.“ Zur Erklärung von wo in relativer Funktion liefert Eisenberg (2013: 277) außerdem den folgenden Hinweis: „Dass gerade wo in die Rolle eines ‚universellen Relativadverbs‘ schlüpft, hängt sicherlich mit seiner lokalen Grundbedeutung zusammen. Wir wissen aus vielen anderen Zusammenhängen, dass das Lokale besonders häufig metaphorisiert wird und Grundstrukturen für viele andere Inhaltsbereiche abgibt“ (statt Fettdruck wie im Original der beiden Zitate wurde Kursivierung verwendet).
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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Die Partikel wo hat „eine rein subordinierende Funktion“ (Pittner 2009: 745) und unterscheidet sich damit von den Relativpronomen, -artikeln und -adverbien, denen eine Doppelfunktion aus Referenz und Subordination zukommt. In der Literatur existiert für das relative wo daher neben dem Begriff „Relativpartikel“ auch die Bezeichnung „Konjunktion“ bzw. „Subjunktion“.80 In einigen deutschen Dialekten wie dem Alemannischen und Bairischen kann die Partikel wo im Relativsatz auch zu einem d-Relativpronomen hinzutreten wie in (145).81 (145) . . . dea Mo (dea) wo seine Schu verlora hot (Beispiel aus Brandner & Bräuning 2013: 132)
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz Nachdem die Definition und die Subklassifizierung des Relativsatzes sowie seine Abgrenzung zu anderen Satztypen und die Formen und Eigenschaften der Relativa zunächst von der neuhochdeutschen Standardsprache ausgehend betrachtet wurden, widmet sich das folgende Kapitel dem mittelniederdeutschen Relativsatz. Bevor auf die Überschneidung mit anderen Sätzen genauer eingegangen werden kann, soll zunächst ein Überblick zu den mittelniederdeutschen Relativa und ihrem historischen Ursprung erfolgen.
2.5.1 Mittelniederdeutsche Relativa und ihr historischer Ursprung 2.5.1.1 d-Pronomen und -Adverbien Zum Ursprung der niederdeutschen Relativpronomen hält Lübben (1882: 112) zunächst fest: „Im Niederdeutschen (wie im Deutschen überhaupt) gibt es kein eigenes Relativpronomen.“ Sowohl die hoch- als auch die niederdeutschen Relativpronomen sind aus den entsprechenden Demonstrativpronomen entstanden (vgl. Pittner 2009: 752). Zur genauen Entwicklung des Relativsatzes mit d-Pronomen bestehen zwei gegensätzliche Theorien, die im Folgenden zusammengefasst werden sollen.82 Der ersten Theorie zufolge befand sich das Demonstrativum ursprünglich im Matrixsatz, d. h., der Relativsatz enthielt kein einleitendes Element, war also asyndetisch (vgl. Dal 1966: 198). Diese asyndetischen Relativsätze wie in (146) und (147) stellen nach Dal (1966: 198) die älteste Form des Relativsatzes im Deutschen dar. Im
80 Die Grammatik des Duden (2016: 1051, § 1666) bspw. verwendet den Begriff „Relativsubjunktion“. 81 Ausführlicher zu wo als Relativadverb und als Relativpartikel s. Pittner (2004). 82 Ein Forschungsüberblick zur Entstehung des Relativsatzes findet sich bei Wunder (1965: 404– 408).
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2 Theoretische Grundlegung
Althochdeutschen und Altsächsischen waren sie deshalb möglich, weil das Subjektpronomen noch nicht obligatorisch war (Pro-Drop) (vgl. Pittner 2009: 752).83 (146) so egrohtful is the thar alles geweldid (Hel. 3502, aus Behaghel 1928: 759)84 ‚So barmherzig ist der, [der] da alles beherrscht.‘ (147) er sprah zi then es ruahtun (O. I., 23, 35, aus Behaghel 1928: 761)85 ‚Er sprach zu denen, es wollten.‘ In diesen Konstruktionen hatte das Demonstrativum im Matrixsatz ursprünglich eine kataphorische Funktion, indem es auf den folgenden Relativsatz verwies (vgl. Pittner 2009: 752). Pittner (1996a: 139) macht auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung des Relativpronomens und des ebenfalls aus dem Demonstrativum hervorgegangenen Definitartikels aufmerksam und erklärt die Entwicklung folgendermaßen: Die ursprünglich nachgestellten und betonten Demonstrativpronomen verloren ihre Betonung und wurden vorangestellt. Wegen dieser Veränderung war das Demonstrativpronomen nicht länger in der Lage, auf den nachfolgenden Relativsatz zu verweisen, und die Relativpronomen wurden von ihren früheren Bezugs-Elementen getrennt. Deswegen wurde das Pronomen im Matrixsatz wiederholt.
Als Argument für diese erste Theorie führt Pittner (2009: 753) das im Alt- und Mittelhochdeutschen noch mögliche Phänomen der sogenannten Kasusattraktion an, bei dem sich der Kasus des Relativpronomens nach der Valenz des Verbs im Matrixsatz richtet und nicht nach den syntaktischen Gegebenheiten im Relativsatz (vgl. auch Dal 1966: 199).86 Während in (146) das Pronomen the im Matrixsatz und im Relativsatz dieselbe Funktion hat und daher kein Hinweis auf die ursprüngliche Position des Pronomens besteht, ist then in (147) von der Valenz des Matrixverbs abhängig, was laut Pittner (2009: 753) darauf schließen lässt, „dass das fragliche Pronomen noch als ein Teil des übergeordneten Satzes aufgefasst 83 Pittner (2009: 752) geht hier ausschließlich auf das Althochdeutsche ein. Das Pro-Drop-Phänomen im Altsächsischen wird verhältnismäßig kurz bei Behaghel (1897: 298) behandelt. Eine ausführlichere Untersuchung liefert Walkden (2014: 190–195), der im Heliand u. a. einen signifikanten Einfluss der Satzart auf die Verwendung von Nullsubjekten (in Hauptsätzen häufiger als in Nebensätzen) und der Art des nicht realisierten Elementes (Pronomen der dritten Person Singular häufiger als Pronomen anderer Genera und Numera) nachweist. 84 Behaghel (1923: XIX–XXXI) liefert keine weiteren Informationen zur Textausgabe der Quelle, bei der es sich vermutlich um die von ihm selbst herausgegebene Edition des Heliand handelt. Behaghel (1923: XIX) merkt hinsichtlich seiner Quellen im Allgemeinen an: „Wo nichts Besonderes bemerkt ist, sind die Anführungen jeweils aus den neuesten Auflagen genommen.“ 85 Behaghels (1923: XXVII) Quelle: Otfrids Evangelienharmonie; genauere Informationen zur Edition fehlen. 86 Ausführlicher zur Kasusattraktion s. Pittner (1996a).
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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wurde“. Durch eine Verschiebung der Satzgrenze und die Reanalyse des Pronomens als Relativsatzeinleiter wurde aus dem ursprünglichen Demonstrativum das Relativum (vgl. Pittner 2009: 754).87 Lenerz (1984: 66) hingegen argumentiert, dass die Pronomen in einigen Fällen auch dann noch den vom Matrixverb geforderten Kasus aufweisen, wenn sie anhand der Versgliederung bereits eindeutig als Teil des folgenden Satzes zu bestimmen sind. Das größte Problem in der oben erläuterten Theorie stellt nach Lenerz (1984: 65) der Übergang des Pronomens in den Relativsatz unter Verschiebung der Satzgrenze und Reanalyse dar, denn ein solcher Prozess lasse sich nur mithilfe einer umfassenden Beschreibung der syntaktischen Struktur erklären, im Rahmen derer der folgende Satz einleitend eine syntaktische Stelle für das dorthin übertretende Pronomen bereithalte. Hinzu kommt, dass laut Lenerz (1984: 66) die im Rahmen der ersten Theorie angenommene Leerstelle im asyndetischen Relativsatz grundsätzlich ungrammatisch sei. Aus diesen Gründen unterstützt Lenerz (1984: 64) die zweite Theorie zur Entstehung des Relativsatzes, der zufolge das Demonstrativpronomen ursprünglich initiales Element eines asyndetisch angeschlossenen Satzes war und in diesem eine anaphorische Funktion hatte, also auf den vorausgehenden Satz verwies. Später wurde es als subordinierendes Element reanalysiert (vgl. Pittner 1996a: 139). Der Vorteil dieser Erklärung liegt darin, dass keine Satzgrenzenverschiebung angenommen werden muss; problematisch allerdings ist das Phänomen der Kasusattraktion (vgl. Lenerz 1984: 67).88 Bei den aus ihren demonstrativen Pendants entstandenen mittelniederdeutschen Relativpronomen handelt es sich um das Maskulinum dê, das Neutrum dat, das Femininum dê und die Pluralform dê wie in (148) bis (151), deren Flexionsparadigma vollständig dem der Demonstrativa entspricht. (148) De sik vore to deme morde gaff, De wart des vredes en leyde-staf (Schachb. 603, aus Kock 1904: 7)89
87 Auf die einzelnen Schritte dieses Übergangsprozesses geht Pittner (1996a: 140–141) umfassender ein. 88 Laut Pittner (1996a: 140) lässt sich das Phänomen der Kasusattraktion ausschließlich mithilfe der erstgenannten Theorie erklären. Weitere Gegenargumente zu Lenerz‘ (1984) Kritik an dieser Theorie finden sich bei Pittner (1996a: 139). Neben den beiden hier vorgestellten Auffassungen vom Pronomen als ursprünglichem Teil entweder des vorangehenden oder des folgenden Satzes kann nach Lenerz (1984: 59) grundsätzlich auch das Pronomen als Teil beider Sätze im Sinn einer sogenannten Apokoinu-Konstruktion analysiert werden; Lenerz (1984: 59) merkt allerdings kritisch an, dass eine eindeutige Darstellung dieser Variante mit Hilfe herkömmlicher Strukturbeschreibungen nicht möglich sei. Pittner (1996a: 126– 127) geht ausführlicher auf den möglichen Ursprung des Relativsatzes in einer Apokoinu-Konstruktion ein. Im Ergebnis schließt sie diese Erklärung jedoch aufgrund unterschiedlicher Eigenschaften von asyndetischen Relativsätzen und Apokoinu-Konstruktionen aus. 89 Die Hervorhebungen in (148) bis (153) wurden hinzugefügt.
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2 Theoretische Grundlegung
‚Der sich vorher dem Mord hingab, der wurde eine Stütze des Friedens.‘ (149) Begherde he icht, dat se vormochte (Schachb. 3957, aus Kock 1901: 8) ‚Begehrte er irgendetwas, über das sie bestimmte.‘ (150) in deme drudden boke disser croniken, de dar anheft anno domini MCCCCLXXXIII (LübC II 435: 18, aus Kock 1904: 11) ‚in dem dritten Buch dieser Chronik, die da beginnt Anno Domini MCCCCLXXXIII‘ (151) Do weren den dit myshagede (LübC II 400: 14, aus Kock 1904: 7) ‚Dort waren, denen das mishagte.‘ Laut Dal (1966: 200) hat der Übergang vom Demonstrativum zum Relativum ebenso wie die Pronomen auch die Adverbien erfasst. Im Mittelniederdeutschen findet sich als Relativadverb das lokale dâr wie in (152).90 Dieses ist auch Bestandteil der relativ verwendeten d-Pronominaladverbien, die laut Sarauw (1924: 137) für gewöhnlich statt der Verbindung aus Präposition und Relativpronomen verwendet werden und die Härd (2000: 1461) zufolge meist in Distanzstellung erscheinen wie dar [. . .] mede in (153).91 (152) Franckrick dat is de Schoel, dar men leert alle Künst (Laur. 1: 229, aus Kock 1904: 15) ‚Frankreich, das ist die Schule, wo man alle Künste lehrt / lernt.‘ (153) want ick nicht en hebbe, dar ick myn kynd mede vode (Veghe 250, aus Sarauw 1924: 137) ‚weil ich nichts habe, womit ich mein Kind füttern kann.‘
2.5.1.2 w-Pronomen, -Adverbien und -Artikel Dal (1966: 200) formuliert für das Hochdeutsche als Ausgangspunkt der w-Relativa die Verbindungen mit vorangehendem und nachfolgendem so92 in einer generali90 Das temporale mittelniederdeutsche dô wird in dieser Arbeit als Subjunktor gewertet und daher nicht als Relativum berücksichtigt, s. hierzu Kap. 2.5.2.3.1. 91 Wie Härd (2000: 1461) bemerkt, tritt die Distanzstellung der Pronominaladverbien v. a. bei dâr in demonstrativer oder relativer Funktion auf, während sie satzintern seltener vorkommt. Zur Distanzstellung der Pronominaladverbien in den rezenten niederdeutschen Dialekten s. Fleischer (2002), zur relativischen Verwendung der Pronominaladverbien mit wor- s. v. a. Fleischer (2002: 121–124). 92 Zu den unterschiedlichen Schreibungen der Partikel sei angemerkt, dass für das mittelniederdeutsche Lexem die Form nach dem Mittelniederdeutschen Handwörterbuch von Lasch u. a. (ab 1956) verwendet wird, mit Bezug auf das historische Deutsch allgemein oder das Hochdeutsche hin-
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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sierenden Bedeutung. Nach Paul (1920: 199, § 410) war analog zu den d-Pronomen das w-Relativum ursprünglich Teil des Matrixsatzes93 und das zweite so hatte, wie Dal (1966: 200–201) festhält, folglich die Funktion eines Nebensatzeinleiters. Im Lauf der Zeit schwindet es (vgl. Pittner 2009: 754) und das vorangehende Adverb geht eine klitische Verbindung mit dem Pronomen ein (swer, swar usw.), bis es im 14. Jahrhundert ebenfalls verlorengeht und im Ergebnis die Formen der w-Relativa mit den Interrogativa zusammenfallen (vgl. Dal 1966: 201). Sarauw (1924: 138) zeigt, dass im Niederdeutschen ein ganz ähnlicher Wandel stattgefunden hat: Den Ursprung bilden auch hier Konstruktionen mit vorangehendem und folgendem sô (sô wê sô, sô wat sô etc.), das bereits früh entfallen kann. Hiervon ist allerdings nicht regelhaft zunächst das zweite und dann das erste sô betroffen, sondern es finden sich in den mittelniederdeutschen Texten sowohl die Verbindung aus Relativum + sô wie in (154) als auch die umgekehrte Folge aus sô + Relativum wie in (155). Sarauw (1924: 138) hält fest, dass die Partikel im Lauf des Mittelalters vollständig getilgt wird, und führt frühe Belege ohne sô aus dem 14. Jahrhundert an. (154) wat so twist geschut (Jaroslaw, aus Sarauw 1924: 138)94 ‚was [für ein] Streit aufkommt‘ (155) so we den droge, enkonde nene kulde lyden (Reinke 176: 9, aus Kock 1904: 43) ‚Wer den trägt, müsste keine Kälte leiden.‘ Als w-Relativadverbien kommen im Mittelniederdeutschen das lokale wôr wie in (156) und das modale wô wie in (157) sowie die Pronominaladverbien mit wôr- als adverbialem Bestandteil wie wornah in (158) vor. (156) Wor du bist to gaste beden, Sone, dar scaltu luttingh reden (Cato 332, aus Kock 1904: 51) ‚Wohin du als Gast gebeten wurdest, Sohn, da sollst du wenig reden.‘ (157) Dar schal nemant moghen hogher tu=ghen . den syn erue wert ys . edder syn eruetynsz . vnde des erues werderynghe schal stan in den E rad=mannen .
gegen eine vereinfachte Schreibung ohne Längenzeichen gewählt wird. Gleiches gilt für das in Kap. 2.5.1.3.2 erwähnte wo. 93 Paul (1920: 199, § 410) zufolge hatte das w-Pronomen ursprünglich die Funktion eines Indefinitums, sô huёr sô überträgt er daher als „so einer wie“ mit sô huёr als Bestandteil des Matrixsatzes. 94 Die Hervorhebungen in (154) bis (165) wurden hinzugefügt.
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2 Theoretische Grundlegung
wo se dat erue schatten also schal men dat holden . (Hamb. StR, Bl. 128v,b, Z. 11 – Bl. 129r,a, Z. 3)95 ‚Da soll niemand höher zeugen dürfen, als sein Erbe oder sein Erbzins wert ist. Und des Erbes Bewertung soll den Ratsherren zukommen. Wie [hoch] sie das Erbe schätzen, so soll man es halten.‘ (158) So krigen alle beid wornah en steit de Sinn (Laur. 2: 797, aus Kock 1904: 51) ‚So kriegen alle beide, wonach ihnen der Sinn steht.‘ Eine ähnliche Entwicklung hat nhd. welch- in generalisierender Bedeutung genommen, denn es geht ebenfalls auf die Verbindung mit so zurück. In dieser Konstruktion fungierte es ursprünglich als Determinierer eines folgenden Substantivs wie in (159) und später auch als Pronomen (vgl. Dal 1966: 203–204). (159) swelch mīn bote ie baldest reit, die reise er zwēne tage vermeit (Wolfram, aus Dal 1966: 203)96 ‚Welcher meiner Boten [auch immer] am schnellsten ritt, die Reise schaffte er nicht in zwei Tagen.‘ Von diesem generalisierenden welch- unterscheidet Dal (1966: 202) das relative welch- in definiter Verwendung, das nicht auf die Verbindung mit so zurückzuführen ist, sondern auf das Interrogativum. Ebert (1978: 25) zufolge fand sich welch- als bestimmtes Relativum zuerst im Mittelniederländischen des 13. und 14. Jahrhunderts und gelangte vorwiegend über die Kanzleisprache vom niederrheinischen Gebiet bis ins Hochdeutsche und Niederdeutsche. Es hatte zunächst die Funktion eines relativen Determinierers wie in (160),97 die das d-Pronomen aufgrund seiner
95 Beispiele aus dem eigenen Untersuchungskorpus dieser Arbeit, die aus dem Referenzkorpus Mittelniederdeutsch / Niederrheinisch“ (kurz: ReN) stammen (s. Kap. 3.3), werden in der diplomatischen Transkription nach dem ReN wiedergegeben (s. hierzu Barteld u. a. 2017: 232–233); Beispiele aus nicht im ReN vorhandenen Texten werden so wiedergegeben, wie sie in der jeweiligen Quelle (z. B. Edition) stehen; zur Veranschaulichung wurden Hervorhebungen durch Unterstreichung und Fettdruck hinzugefügt. Die aus dem Korpus des Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete (kurz: ASnA) stammenden Bremer und Hamburger Urkunden wurden an die Transkription im ReN angepasst. Alle Beispiele aus dem Untersuchungskorpus erhalten als Quellenangabe die im Relativsatzkorpus dieser Arbeit verwendete Textabkürzung (zu den Abkürzungen s. Kap. 3.3.2 bis 3.3.4); bei Texten aus dem ReN werden zusätzlich die Blatt- und Zeilennummer der Textvorlage angegeben, bei aus Editionen entnommenen Texten die Seitenzahl und, sofern vorhanden, die Nummer des Artikels, bei den ASnA-Urkunden die Nummer der Urkunde. 96 Bei Dal (1966) finden sich keine weiteren Informationen zu den Textausgaben ihrer Quellen. Das angeführte Beispiel stammt aus Wolframs Parzival, IV. Buch, 189, 25–26. 97 Dal (1966: 202) und Ebert (1978: 25) verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff „adjektivisch“, der vermutlich die attribuierende Funktion von welch- zum Ausdruck bringen soll. In dieser
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Formgleichheit mit dem Definitartikel nicht erfüllen konnte und für die das w-Pronomen mit seinem stark begrenzten Flexionsparadigma nicht ausreichend geeignet war (vgl. Ebert 1978: 25).98 (160) ich schick üch disz Büchlin, welches Büchlin üwer Gnad von mir ufnemen wöll (Niclas Wyle, 1460, aus Dal 1966: 202) ‚Ich schicke euch dieses Büchlein, welches Büchlein euer Gnaden von mir entgegennehmen.‘ Als Determinierer hielt sich welch- jedoch nicht lange, sondern erschien auch als Pronomen wie in (161) und setzte sich in dieser Funktion durch (vgl. Dal 1966: 202).99 Dal (1966: 204) weist auf die Nähe zwischen generalisierendem und definitem welch- in Sätzen wie (161) hin, die zur starken Verbreitung des definiten Relativums beigetragen habe. (161) welchen die Götter verdammen, der solls . . . wiedergeben (Lessing, aus Dal 1966: 204) Das mittelniederdeutsche welk- weist Kock (1904: 46) zum einen in Funktion eines Determinierers wie bei to weliker wis in (162) nach, zum anderen als Relativpronomen – zunächst in generalisierender Bedeutung wie welleken in (163) und ab dem 15. Jahrhundert auch mit definiter Referenz wie welks in (164). (162) to weliker wis he ene ghebroken hebbe, to der wis claghe he up ene (Ssp. 33: 33, aus Kock 1904: 48) ‚Auf welche Weise er ihn [= den Frieden] gebrochen hat, auf diese Weise klage er [= der Kläger] auf ihn [= den Beklagten].‘ (163) Binnen der kindere iartale stet dat an eren kore, dat de herre belene welleken se willen (Ssp. 33: 33, aus Kock 1904: 46) ‚Solange die Kinder unmündig sind, steht es in ihrem Willen, dass der Herr einsetzt, wen sie wollen.‘
Arbeit werden den Klassifizierungen der gängigen neuhochdeutschen Grammatiken entsprechend (s. z. B. Zifonun u. a. 1997: 36, Duden 2016: 252, § 350, 304, § 403) die Termini „Determinierer“ und „Artikel“ präferiert. 98 Bei Dal (1966: 202) und Ebert (1978: 25) findet sich der Hinweis darauf, dass welch- in dieser Funktion vermutlich das lateinische qui zur Vorlage hatte, das sowohl als Interrogativum als auch Relativum verwendet werden konnte und ebenfalls die Funktion eines Determinierers erfüllte. 99 Dal (1966: 202) zufolge ist es bereits bei Luther häufiger Pronomen als Determinierer: werdet ihr finden ein Füllen angebunden, auf welchem nie kein Mensch gesessen ist.
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2 Theoretische Grundlegung
(164) Dat he dat falsche Haer, welks men Perrüke nömt, Hefft erstlick upgebracht (Laur. 2: 390, aus Kock 1904: 47) ‚Dass er das falsche Haar, welches man Perücke nennt, zuerst eingeführt hat.‘ Auf welk- geht laut Lasch (1974 / 1914: 220, § 410) die Form wol (auch wel) wie in (165) mit ausgefallenem k zurück, die Kock (1904: 46) zufolge vor dem Ende des 15. Jahrhunderts selten ist und v. a. vom 16. bis zum 18. Jahrhundert mit dem Pronomen wê gleichwertig verwendet wird. (165) Wol myn Wordt hoeldt, ys ane vaer (Schlöm. 4946, aus Kock 1904: 48) ‚Wer mein Wort einhält, ist ohne Gefahr.‘
2.5.1.3 Relativpartikeln 2.5.1.3.1 dê Im vorangehenden Kapitel wurde mit sô, das vor oder nach einem w-Relativum stehen kann, bereits eine Relativpartikel aufgeführt, ohne sie als solche explizit zu bezeichnen. Da in der Forschung der Begriff „Relativpartikel“ nicht einheitlich verwendet wird, soll zunächst festgehalten werden, dass in dieser Arbeit unter den Ausdruck „Relativpartikel“ zwei Gruppen von Lexemen subsumiert werden, die sich in ihrer Distribution und Funktion voneinander unterscheiden: Zur ersten Gruppe zählen die für dieses Kapitel relevanten Partikeln, die in der Position eines Relativums stehen, d. h. den Relativsatz einleiten. Die zweite Gruppe bilden Partikeln, die in Kombination mit einem Relativum erscheinen; sie selbst dienen nicht als Relativsatzeinleiter. Auf diese Partikeln und ihre Funktion innerhalb des Relativsatzes wird in Kap. 4.3.2 des Analyseteils dieser Arbeit genauer eingegangen. In der Beschreibung derjenigen Lexeme, die in beiden genannten Gruppen vorkommen, soll jedoch bereits in diesem Kapitel kurz auf ihre Doppelfunktion hingewiesen werden. Zu diesen Lexemen zählt u. a. die Partikel dê, die als selbstständiges Relativum laut Kock (1904: 1) überwiegend im Altsächsischen (dort: the) vorkommt,100 wo sie zunächst einen Lokativ oder Instrumental ausdrückt (vgl. auch Neckel 1900: 60), d. h. eine Alternativkonstruktion zum Relativadverb und der Konstruktion aus Präposition und Relativpronomen darstellt. Später steht dê auch nach temporalen Bezugsausdrücken wie deme daghe in (166) und findet sich in diesem Kontext noch vereinzelt im Mittelniederdeutschen (vgl. Kock 1904: 2). Zudem weist Kock (1904: 2) dê im Altsächsischen stellvertretend für ein Pronomen im Nominativ oder Akkusativ wie in (167), nur vereinzelt hingegen im Genitiv oder Dativ nach.
100 Auf die Schwierigkeit der Abgrenzung gegenüber dem in einigen Flexionsformen identischen Demonstrativpronomen geht Kock (1904: 1) näher ein.
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(166) in deme daghe, the dhe brutlechte hevet ghewesen (aus Lübben 1882: 113)101 ‚an dem Tag, da die Hochzeit gewesen ist.‘ (167) them salte, the man bi sewes stae wido tewirpit (Hel. 1370, aus Kock 1904: 2) ‚das Salz, das man am Seegestade weithin verwirft‘ (Übersetzung von Genzmer 1989: 45)
2.5.1.3.2 sô und alsô Als weitere Partikel, die sowohl selbstständig als auch in Kombination mit einem Relativum vorkommt, ist das mittelniederdeutsche sô zu nennen. Als selbstständige Partikel findet sich so in den früheren Sprachstufen sowohl des Hoch- als auch des Niederdeutschen.102 Behaghel (1928: 729) zeigt, dass das relative so seinen Ursprung in dem vergleichenden Subjunktor hat. Von so in bereits relativer Funktion ist nach Schröbler (1966: 146) nur in denjenigen Fällen auszugehen, in denen es mit dem Relativpronomen gleichwertig verwendet wird wie in (168). In diesem Kontext ist so laut Behaghel (1928: 730) im Altsächsischen und Althochdeutschen noch nicht belegt; seinen Höhepunkt erlebt es erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sowie im 16. und 17. Jahrhundert, bevor es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits wieder verschwindet.103 (168) ich hete ir doch vil lihte ein teil geseit der vil grossen liebe so min herze an si hat (Rudolf von Rotenburg VII 2,1–2, aus Paul u. a. 2007: 405, § S 163)104 ‚Ich hätte ihr doch vielleicht einen Teil der sehr großen Liebe gestanden, die mein Herz an ihr hat.‘ Die Ursache für den Verlust der Relativpartikel sieht Schröbler (1966: 145, 147) zum einen in der Mehrdeutigkeit von so, zum anderen in der Tatsache, dass es im Gegensatz zu Relativpronomen nicht die Möglichkeit bietet, Kasusunterschiede abzubilden. Damit in engem Zusammenhang steht der Befund Behaghels (1928: 730), dass das re-
101 Lübben (1882: 113) liefert keine Information zur Textausgabe der Quelle. Die Hervorhebungen in (166) und (167) wurden hinzugefügt. 102 Belege zum Mittelhochdeutschen finden sich bei Paul u. a. (2007: 405, § S 163). Die Frühneuhochdeutsche Grammatik von Ebert u. a. (1993: 447, § S 268) liefert mehrere Beispiele, unter denen jedoch nur eines mit tatsächlich relativ verwendetem als ist. Die übrigen entsprechen Vergleichssätzen – vermutlich deshalb schreiben die Autoren hier von „als in scheinbar relativer Funktion“ (Ebert u. a. 1993: 447, § S 268). 103 Kocks (1904: 3) Befund, die mittelniederdeutsche Relativpartikel sô sei bereits vom 9. bis zum 17. Jahrhundert belegt, basiert darauf, dass er als Belege auch Konstruktionen mit vergleichendem sölk, sôdân, sô oder einem ähnlichen deiktischen Element als Teil des Bezugsausdruckes im Matrixsatz zählt. 104 Die Hervorhebungen in (168) bis (173) wurden hinzugefügt.
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lative so i. d. R. stellvertretend für ein Subjekt oder Akkusativobjekt steht, sehr selten hingegen für ein Genitiv- oder Dativobjekt. Ágel (2010: 211) ermittelt als entscheidende Bedingung für den Verlust der Relativpartikel so im Deutschen den bei Fleischmann (1973: 137–138) beschriebenen Systemwandel der d / s- und w-Junktoren: Während im Althochdeutschen noch beide Gruppen sowohl Verbzweit- als auch Verbletztstellung auslösen, d. h., auch d / s-Formen relativ verwendet werden konnten, kommen im Gegenwartsdeutschen die Mitglieder der d / s-Gruppe nur noch adverbial vor und diejenigen der w-Gruppe entweder interrogativ (mit Verbzweitstellung) oder relativ (mit Verbletztstellung). Im Bereich der relativen Verwendung werden also die d / s-Formen von den w-Formen abgelöst. Dieser Systemwandel bewirkt laut Ágel (2010: 212), „dass so als Relativum systemwidrig wird“.105 Hinsichtlich einer möglichen Textsortenspezifik im Gebrauch der Relativpartikel so bemerkt Schieb (1978: 508), dass so „in ausgesprochen kanzlei- und amtssprachlicher Tradition steht“. Brooks (2006: 132–133) bestätigt dies in seiner Arbeit zu oberdeutschen Drucken des 16.–18. Jahrhunderts: In den Kanzleitexten sowie den dieser Textsorte nahestehenden Festaktprotokollen und juristischen Traktaten wird so deutlich häufiger als in den übrigen Textsorten verwendet. Es erlebt jedoch eine weitere Verbreitung auch über diesen Kernbereich hinaus. So weist es Baldauf (1983: 184–185) z. B. häufig in Luthers Briefen – darunter ein großer Anteil privater Briefe – nach und folgert daraus, „daß so als Relativsatzeinleitung auch ein Element der gesprochenen Sprache Luthers ist bzw. ein Element von Luthers ‚privater‘ Schriftlichkeit“ (Baldauf 1983: 185). Ebert u. a. (1993: 447, § S 268) zufolge findet sich die Partikel so ab dem 16. Jahrhundert in Predigten, Briefen und sogar in der erzählenden Prosa. Der Subjunktor sô wird laut Behaghel (1928: 67) in vielen Kontexten durch das später aufkommende, bedeutungsgleiche Lexem alsô ersetzt. Folglich erscheint es auch als Relativpartikel in derselben Distribution und Funktion wie das relative sô. In dieser Arbeit werden sô und alsô nur dann als Relativpartikel gewertet, wenn der Matrixsatz kein Vergleichselement enthält und die Partikel – wie bei Schröbler (1966) beschrieben – dem Relativpronomen gleichwertig verwendet wird wie in (169) und (170) (s. Kap. 2.5.2.3.1). Da Kock (1904: 5) lediglich zwei Belege für alsô in Funktion
105 Diesem Systemwandel entsprechend wird im Gegensatz zur Partikel so die Relativpartikel wo, die im 16. Jahrhundert aufkommt und lediglich in bestimmten Dialekten verwendet wird (vgl. Ágel 2010: 202–203), beibehalten, denn wo ist als Mitglied der w-Gruppe in relativischer Verwendung mit Verbletztstellung systemkonform. Ausführlicher zur Relativpartikel wo s. Brandner & Bräuning (2013), die die These vertreten, dass das relative wo aus dem vergleichenden so entstanden ist und damit denselben Ursprung wie die Relativpartikel so hat.
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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einer Relativpartikel liefert,106 sind Aussagen zur diachronen Verbreitung von relativem sô und alsô und zum Ersatz des einen Lexems durch das andere nicht möglich. (169) dyt weren de word, So ik en lerede (Reinke 6006, aus Kock 1904: 2) ‚Dies waren die Worte, die ich sie lehrte.‘ (170) dat se eme eynen richtedach hedden geleget up den dach, als se synen vrunden screven (Münstersche Chronik, aus Lübben 1882: 190) ‚dass sie für ihn einen Gerichtstag auf den Tag gelegt hätten, den sie seinen Freunden schrieben.‘ Neben sô und alsô in Funktion eines Relativsatzeinleiters wie in (169) und (170) wird im Mittelniederdeutschen das Lexem sô auch als generalisierende Partikel vor einem w-Relativum – dabei häufig in Klitisierung – verwendet (vgl. Kap. 2.5.1.2). Wie die Beispiele veranschaulichen, ist diese Kombination nicht nur bei den Pronomen wê und welk- wie in (171) und (172) möglich, sondern auch beim Relativadverb wôr wie in (173). (171) he wint to uoremunden . . . swen he mit penninghen ghemeden magh (Ssp. 28: 2, aus Kock 1904: 43) ‚Er gewinnt zum Vormund [. . .], wen er mit Pfennigen mieten kann.‘ (172) Swelken schaden it dot, den sal he gelden (Ssp. 62: 10, Kock 1904: 50) ‚Welchen Schaden es bringt, den soll er bezahlen.‘ (173) Swar dat kint is vry und echte, dar behalt it sines uader recht (Ssp. 18: 18, aus Kock 1904: 52) ‚Wo das Kind frei und ehelich [geboren] ist, dort behält es seines Vaters Recht.‘
2.5.1.3.3 unde Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Lexemen dê und sô tritt die Partikel unde ausschließlich in Funktion eines Relativsatzeinleiters auf. Für das Mittelhochdeutsche, wo unde in diesem Kontext ebenfalls belegt ist, halten Paul u. a. (2007: 406, § S 163) fest, dass sich die Partikel „aus der ebenfalls beschränkten Funktion von und als unterordnender Konjunktion von modal-vergleichender Bedeutung“ entwickelt habe. Es be-
106 Die anderen bei Kock (1904: 5) angeführten Beispiele enthalten – wie auch bei sô – stets einen vergleichenden Ausdruck als Referenz im Matrixsatz und stellen daher keine eindeutigen Belege für alsô in Funktion einer Relativpartikel dar.
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2 Theoretische Grundlegung
steht daher ein enger Zusammenhang zwischen relativem und und der im Vergleich dazu jüngeren Verwendung von so als Relativsatzeinleiter, die – wie in Kap. 2.5.1.3.2 gezeigt wurde – ebenfalls auf einen vergleichenden Subjunktor zurückgeht. Diese Parallele zeigt sich u. a. darin, dass laut Schröbler (1966: 140), die vergleichendes und relatives und im Mittelhochdeutschen untersucht, in Handschriften des 13., 14. und 15. Jahrhunderts und einerseits mit dem Relativpronomen gleichwertig erscheint, in anderen Fällen aber durch als(e) oder so ersetzt wurde, was auf die Lesart als vergleichende Partikel i. S. v. nhd. wie hindeutet. Aus diesem Grund differenziert Schröbler (1966: 140) innerhalb der betreffenden unde-Sätze zwischen zwei Klassen: 1) und als vergleichendem Subjunktor in der Bedeutung des neuhochdeutschen wie wie in (174) und 2) der Relativpartikel und, die mit einem Relativpronomen in einem beliebigen Kasus gleichwertig ist wie in (175). Nur Sätze dieser zweiten Klasse bewertet Schröbler (1966: 140) als „relativ“.107 (174) wer hât nâch iu gesant, daz ir getorstet rîten her in ditze lant zuo alsô starken leiden unt ich von iu hân (NL 1787, 3 (C), aus Schröbler 1966: 141–142)108 ‚Wer hat nach euch geschickt, dass ihr wagt herzureiten in dieses Land zu so starkem Leid, wie ich [es] von euch habe.‘ (175) nû sît mir willekomen ze dem und ich nû haben mac (Erec 305–6, aus Schröbler 1966: 139) ‚Nun seid mir willkommen zu dem, das ich nun haben kann.‘ Daneben gibt es laut Schröbler (1966: 142) ambige Belege, die beide Lesarten zulassen und daher besonders deutlich den Wandel von der vergleichenden zur relativen Funktion von und abbilden.109 Beide Gebrauchsweisen von und finden sich laut Schröbler (1966: 145) z. T. zeitlich parallel, allerdings nimmt im späteren Mittelhochdeutschen die Häufigkeit des relativen und leicht zu. Dennoch bleibt es – wie auch das vergleichende und – eher eine Randerscheinung, was Schröbler (1966: 145) zum einen auf die Mehrdeutigkeit von und zurückführt, zum anderen darauf, dass und im Gegensatz zum Relativpronomen keine Kasusunterschiede markieren und nicht mit Präpositionen kombiniert auftreten kann. Diese Umstände haben Schröbler (1966: 145) zufolge dazu geführt, dass das relative und im Mittelhochdeutschen verlorengegangen ist.
107 Gleichwohl merkt Schröbler (1966: 140–141) an: „Gewiß darf man auch das vergleichende und, wie das nhd. vergleichende ‚wie‘, in einem allgemeineren Sinne relativ nennen, insofern als es Korrespondenz zu einem Satzglied von mehr oder minder betontem deiktischen Charakter bezeichnet.“ 108 Die Hervorhebungen in (174) bis (177) wurden hinzugefügt. 109 Zur Entstehung der Relativpartikel und aus dem vergleichenden Subjunktor s. auch Behaghel (1925: 194–195).
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Im Niederdeutschen ist Kock (1904: 5) zufolge ein relatives unde nicht belegt; dabei ist zu beachten, dass er diese Funktion von unde nur in Sätzen mit „abhängiger Wortfolge“ anerkennt. Sätze wie in (176) und (177) mit Verbzweitstellung wie in durch unde beigeordneten Hauptsätzen bewertet er folglich nicht als Relativsätze. (176) do was in vreslande beseten een vrese, unde was een guder hande man (LübC I 377: 11, aus Kock 1904: 5) ‚Da war in Friesland ein Friese ansässig, der war ein adliger Mann.‘ (177) Et was eyn monik, vnde lep vth sinem orden (Seelentrost, aus Lübben 1882: 180)110 ‚Es war ein Mönch, der lief aus seinem Orden.‘ Diese Klassifikation nach Kock (1904) wird in dieser Arbeit aus verschiedenen Gründen abgelehnt: Zum einen ist aufgrund der im Mittelniederdeutschen noch freieren Verbstellung ein Satz wie in (176) und (177) nicht ohne Weiteres aufgrund seiner Wortfolge als nicht abhängig zu bestimmen. Rein formal liegt tatsächlich eine Verbzweitstellung vor, insofern als sich das Finitum an zweiter Position im Satz befindet. Da das Mittelniederdeutsche jedoch sehr offen für Ausklammerung nach rechts ist (vgl. Petrova 2013: 61–64), ist eine solche Wortfolge auch in einem subordinierten Satz möglich. Zum anderen belegen gerade die Beispiele in (176) und (177) die Abhängigkeit des unde-Satzes, insofern als er wie ein restriktiver Relativsatz für die Bestimmung des Referenten im vorangehenden Satz zwingend notwendig ist. Dies äußert sich in den beiden Belegen auch darin, dass der vorangehende Satz ohne den folgenden inhaltlich unvollständig ist und nicht alleinstehen könnte. Aus diesen Gründen werden die angeführten Beispiele von Kock (1904) als Belege für die Existenz der Relativpartikel unde im Mittelniederdeutschen gewertet.
2.5.1.4 Übersicht Basierend auf der Forschungsliteratur lassen sich die im Mittelniederdeutschen verwendeten Relativa – differenziert nach den auch im Analysekapitel 4.2 zugrunde gelegten Gruppen von Pronomen, Adverbien, Artikeln und Partikeln sowie nach den d / s- und w-Formen und weiteren Formen – in der Übersicht in Tabelle 2 darstellen. Da die meisten niederdeutschen Relativsatzeinleiter denselben historischen Ursprung wie ihre hochdeutschen Pendants haben, sind die einzelnen Mitglieder der oben aufgeführten Klassen mittelniederdeutscher Relativa den in Kap. 2.4 beschrie-
110 Lübben (1882: 177) liefert zur Quelle lediglich die Angabe „(a. 1407.) (Van den tein geboden godes. Manuscript.)“.
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2 Theoretische Grundlegung
Tab. 2: Mittelniederdeutsche Relativa. Relativpronomen
Relativadverbien
Relativartikel
Relativpartikeln
d / sFormen
dê (Mask.) dat (Neut.) dê (Fem.) dê (Pl.)
dâr (lokal) Pronominaladverbien mit dâr- (z. B. dâran, dârmēde . . . )
–
dê sô / alsô
wFormen
wê (Mask.) wat (Neut.) welk- (genus-, kasus-, numerusdifferenziert) wol (nicht genus-, kasus-, numerusdifferenziert)
wôr (lokal) wô (modal) Pronominaladverbien mit wôr- (z. B. wôran, wôrmēde . . . )
welk- (genus-, kasus, numerusdifferenziert)
sonstige
unde
benen Relativa des Gegenwartsdeutschen sehr ähnlich. Anders als in der Gegenwartssprache, die als Relativpartikel nur wo kennt, verfügt das ältere Deutsch über verschiedene relativsatzeinleitende Partikeln. Sowohl im Hoch- als auch im Niederdeutschen begegnen und bzw. unde, das jedoch eher eine Randerscheinung darstellt, sowie sô / alsô, das während seiner Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert v. a. in kanzlei- und amtssprachlichen Texten häufig verwendet wird. Sowohl unde als auch sô / alsô können auch als Junktoren fungieren, sind also ambig, und sie erlauben keine Kasus-, Genus- und Numerusdifferenzierung. In diesen Eigenschaften sieht Schröbler (1966) die Ursache für ihren Untergang. Das in Dialekten des Gegenwartsdeutschen verwendete wo weist genau dieselben Merkmale auf, hat sich jedoch bis heute gehalten, was Schröblers (1966) These entkräftet. Für die Partikel sô / alsô ist daher eher der Erklärungsansatz von Ágel (2010) zu unterstützen, demzufolge neben anderen Faktoren v. a. der von Fleischmann (1973) beschriebene Systemwandel in der d / s- und der w-Reihe mit dem Ergebnis einer dichotomischen Verteilung von w-Formen als Relativa in Nebensätzen und d / s-Formen als Adverbien in Hauptsätzen zur Systemwidrigkeit und folglich zum Verlust von sô / alsô in Funktion der Relativpartikel geführt hat. Auf Basis dieser Übersicht zu den als Relativa im Mittelniederdeutschen verwendeten Lexemen werden im folgenden Kapitel Überschneidungen mit anderen Satztypen, wie sie für die neuhochdeutsche Standardsprache in Kap. 2.3 bereits beschrieben wurden, speziell für die im Fokus dieser Arbeit stehenden mittelniederdeutschen Relativsätze genauer betrachtet. Dabei soll geprüft werden, ob sich auch auf die mittelniederdeutschen Daten das zusätzlich eingebrachte Kriterium des Relativsatzeinleiters zur Abgrenzung eignet.
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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2.5.2 Abgrenzung mittelniederdeutscher Relativsätze von anderen Satztypen Die Übersicht in Tabelle 3 zu Subjunktoren, Relativpronomen und -adverbien und Interrogativpronomen und -adverbien im Mittelniederdeutschen veranschaulicht, dass auch der mittelniederdeutsche Relativsatz zahlreiche Überschneidungen mit anderen Satztypen aufweist. Wie in der neuhochdeutschen Standardsprache stellt auch hier v. a. die Abgrenzung freier w-Relativsätze von Interrogativsätzen eine Schwierigkeit dar. Tabelle 3 zeigt jedoch neben den w-Formen weitere ambige Satzeinleiter, z. B. das Lexem dâr, das sowohl Subjunktor als auch Relativadverb sein kann.
Tab. 3: Überschneidung mittelniederdeutscher Subjunktoren, Relativa und Interrogativa. Subjunktor
dat, efte, (al)sô, dâr, wôr, wô ...
ein man mot wol swine be-seen dhar he se koft [. . .] (Stader StR, Bl. v, Z. –) ‚Ein Mann muss wohl Schweine begutachten, wenn er sie kauft [. . .]‘
Relativpronomen
dê, dat, wê, wat, welk- . . .
Relativadverb
dâr, wôr, wô, dē̆rhalven, dârmēde, wôrümme . . .
vnde he leth bereiden wat noth was to der hochtid (Gris. / Sig., Bl. v, Z. –) ‚Und er ließ vorbereiten, was für die Hochzeit notwendig war.‘ [. . .] Vnde scal dy voren dar du nicht ne wult (Buxteh. Ev., S. , Z. –) ‚[. . .] und soll dich [dahin] führen, wohin du nicht willst.‘
Interrogativ- wê, wat, welk- . . . pronomen Interrogativ- wanne, wô, wôrmēde . . . adverb
hir vmme wet ik nicht wat ik don schal [. . .] (Gris. / Sig., Bl. r, Z. ) ‚Deshalb weiß ich nicht, was ich tun soll.‘ De schypman vragede wo se hete . (Veer Koepl., Bl. v, Z. –) ‚Der Schiffer fragte, wie sie heiße.‘
Zu den aus Tabelle 3 ersichtlichen Überschneidungen kommen Ambiguitäten im Bereich der Relativpartikeln – z. B. beim auch als Subjunktor verwendeten sô / alsô – sowie die Ähnlichkeit mit d-Form eingeleiteter Relativsätze zu Hauptsätzen hinzu. Für all diese Fälle sind möglichst genaue Kriterien zur Abgrenzung notwendig. Diese sollen in den folgenden Kapiteln ermittelt und schließlich dafür genutzt werden, die hier zugrunde gelegte Begriffsbestimmung für den Relativsatz zu spezifizieren. 2.5.2.1 Irrelevanzkonditionalsätze Die in Kap. 2.3.1 beschriebene Überschneidung freier w-Relativsätze mit Irrelevanzkonditionalsätzen betrifft auch das Mittelniederdeutsche. Als entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung kann auch auf die mittelniederdeutschen Daten die Satzgliedfunktion des
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2 Theoretische Grundlegung
freien Relativsatzes im Matrixsatz angewendet werden. Auf diese Weise lässt sich ein Satz wie in (178) als Relativsatz, ein Satz wie in (179) hingegen als Irrelevanzkonditionalsatz bestimmen. (178) We ock nich souentein jhar errecket, mach nich tuge wesenn, [. . .] (Otternd. St., S. 321, Art. 5,4) ‚Wer auch [immer] noch nicht siebzehn Jahre alt ist, darf nicht Zeuge sein [. . .]‘ (179) were de lemenisße an einem finger, in welckem gelede dat were, daruor sollen tein marck gegeuenn werden, [. . .] (Otternd. St., S. 329, Art. 18,16) ‚Wäre die Lähmung an einem Finger – in welchem Glied [auch immer] sie wäre –, dafür sollen zehn Mark gegeben werden [. . .]‘ Das von Pittner (2009: 742) für die neuhochdeutsche Standardsprache herangezogene Kriterium der syntaktischen Integration, demzufolge Irrelevanzkonditionalsätze im Gegensatz zu freien w-Relativsätzen weniger stark integriert sind und daher oft vor dem Vorfeld erscheinen, ist für eine historische Sprachstufe wie das Mittelniederdeutsche, wo sich eine derartige auf die topologische Position bezogene syntaktische Integration von Nebensätzen erst im Lauf der Zeit etabliert,111 nicht geeignet. Hinzu kommt, dass im Mittelniederdeutschen nicht nur Demonstrativa, sondern z. B. auch Personalpronomen als Korrelat im folgenden Matrixsatz fungieren können112– auch eine Differenzierung anhand der Form des Korrelates ist also nicht möglich. Aus diesen Gründen wird, der Argumentation in Kap. 2.3.1 folgend, für das Mittelniederdeutsche die Gruppe der freien w-Relativsätze in Abgrenzung zu den Irrelevanzkonditionalia hier weiter gefasst als in vielen gängigen neuhochdeutschen Grammatiken. Die Bestimmung als Relativsatz basiert allein auf dem Merkmal der syntaktischen Funktion im Matrixsatz und umfasst damit auch Sätze wie in (180) und (181). (180) so we so dat deit . de scal dat beteren mit iij . marken silueres to der stat koͮre . (Hamb. SchiffsR, Bl. 91v,b, Z. 6–9)
111 Dies belegen u. a. die Arbeiten von Behaghel (1929) und Horacek (1957). Auf die syntaktische Integration des Relativsatzes wird in Kap. 4.4.4.1 des Analyseteils ausführlich eingegangen. 112 S. Tophinke & Wallmeier (2011: 109), die folgendes Beispiel für einen Subjektsatz, d. h. einen freien Relativsatz in Subjektfunktion, mit he als Korrelat anführen: Swelich kopman kompt inde stat mit sime gode he sal hebben geliken vrede alse en borgere [. . .] (Braunschweig 1227, Wilhelm 1932: 4, aus Tophinke & Wallmeier 2011: 109) ‚Welcher Kaufmann auch immer mit seinem Gut in die Stadt kommt, er soll denselben Frieden wie ein Bürger haben.‘
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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‚Wer das tut, der soll das büßen mit drei Mark Silber zur städtischen Bestimmung.‘ (181) So we dit bricht . he scal id beteren mit . iij . mark . silueres . (Hamb. SchiffsR, Bl. 99r,a, Z. 10–12) ‚Wer das bricht, der soll es büßen mit drei Mark Silber.‘ 2.5.2.2 Propositionsfundierte w-Sätze Nicht nur mit den Irrelevanzkonditionalsätzen, sondern auch mit den propositionsfundierten w-Sätzen weisen die mittelniederdeutschen freien w-Relativsätze gewisse Überschneidungen auf. Zur Abgrenzung freier w-Relativsätze von den ihnen formal ähnelnden interrogativen Nebensätzen, den w-Exklamativsätzen sowie den als Überschriften fungierenden w-Verbletztsätzen im Mittelniederdeutschen eignet sich der in Kap. 2.3.2 für die neuhochdeutsche Standardsprache beschriebene Ansatz aus der Grammatik von Zifonun u. a. (1997: 2266): Die dort vorgestellte Differenzierung von gegenstandsfundierten w-Sätzen zur Referenzierung auf Objekte und propositionsfundierten w-Sätzen zur Beschreibung von Sachverhalten (vgl. Pittner 2009: 740) kann z. B. durch die Anwendung verschiedener Tests in den meisten Fällen zweifelsfrei vorgenommen werden. Dadurch lassen sich auch im Mittelniederdeutschen interrogative Nebensätze wie in (182), w-Exklamativsätze113 und als Überschriften fungierende w-Sätze wie in (183), die sämtlich propositionsfundiert sind, von den gegenstandsfundierten freien w-Relativsätzen wie in (184) unterscheiden. Bei den w-Exklamativsätzen und den als Überschriften fungierenden w-Sätzen kommt als Kriterium hinzu, dass sie im Gegensatz zu den freien Relativsätzen selbstständig sind, d. h. keinen Matrixsatz aufweisen, sondern selbst einen Hauptsatz darstellen. (182) Do he nu vormiddels der schrifft wol was vnderricht wat der vrowen begere was . do wart syn hertte myt vnbegripelyker vrolicheyt dorghaten (Gris. / Sig., Bl. 16v, Z. 30 – Bl. 17r, Z. 2) ‚Als er nun mithilfe der Schrift gut [darüber] unterrichtet war, was das Begehren der Frau war, da wurde sein Herz von unbegreiflicher Fröhlichkeit durchflossen.‘ (183) Wo Johan van Florentz reeth na Genay . dat he Ambrosius vruwe bedregen wolde . (Veer Koepl., Bl. 2v, Z. 30–31)
113 Beispiele für w-Exlamativsätze finden sich in den hier untersuchten mittelniederdeutschen Texten nicht.
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‚Wie Johann von Florenz nach Genay ritt, um Ambrosiusʼ Frau zu betrügen.‘ (184) wene gy wyllen . de scal my willekamen syn . (Veer Koepl., Bl. 6v, Z. 13) ‚Wen ihr wollt, der soll mir willkommen sein.‘
2.5.2.3 Subjunktorsätze In Kap. 2.3.3 wurde erläutert, dass zur Vermeidung eines sehr weiten Relativsatzbegriffes, der auch bestimmte in den meisten Grammatiken als Subjunktorsätze klassifizierte Sätze einschließen würde, als zusätzliches Kriterium der Relativsatzeinleiter herangezogen werden muss. Da eine Festlegung der mittelniederdeutschen Relativa vor der Analyse dem angestrebten induktiven Verfahren dieser Arbeit widersprechen würde, wurden die potentiellen Relativsätze für das Untersuchungskorpus zunächst allein auf Basis der syntaktisch motivierten Definition in Kap. 2.1.2 ermittelt und Zweifelsfälle gesichert. Für die Einleitungselemente in diesen Zweifelsfällen, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird, wurde anschließend anhand der sprachlichen Gegebenheiten im Korpus eine Bestimmung als entweder Relativum oder Subjunktor vorgenommen. 2.5.2.3.1 Temporal-, Konditional- und Vergleichssätze mit wan, (al)sô und dô Im Mittelniederdeutschen betrifft die Überschneidung von Relativsatz und Subjunktorsatz zunächst einmal die Wörter wan (auch wenne, wente), (al)sô (auch als(e)) und dô, die laut Mittelniederdeutschem Wörterbuch von Schiller & Lübben (1875–1881, Bd. 5: 584, 1: 61, 527) und dem Mittelniederdeutschen Handwörterbuch von Lasch u. a. (ab 1956: Bd. 1: 62, 435) (nur alsô und dô) sowie der mittelniederdeutschen Grammatik von Sarauw (1924: 233) als temporale Subjunktoren fungieren können. Bei (al)sô ist zudem die Verwendung als vergleichender und bei wan als konditionaler Subjunktor möglich. In den mittelniederdeutschen Texten des hier verwendeten Korpus hat wan die Funktion, entweder zwei Handlungen zeitlich zueinander in Beziehung zu setzen und miteinander zu verbinden wie in (185) oder einen Nebensatz mit konditional-hypothetischer Bedeutung wie in (186) einzuleiten.114 In diesen Funktionen entspricht es dem neuhochdeutschen wenn und wird hier wie dieses als Subjunktor klassifiziert. (185) unde wan se alle mit sekerheyt dor gekomen weren, konden se denne [. . .] (LübC 2,45) ‚Und als sie alle in Sicherheit durchgekommen waren, konnten sie dann [. . .]‘
114 In Einzelfällen kann die Unterscheidung zwischen temporaler und konditional-hypothetischer Verwendung schwierig sein, s. hierzu für die neuhochdeutsche Standardsprache Zifonun u. a. (1997: 2284–2285).
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(186) wan ik it jummer seggen dorste, so [. . .] (R. V. 228) ‚Wenn ich es sagen dürfte, dann [. . .]‘ (Beispiele aus Schiller & Lübben 1875–1881, Bd. 5: 584; Hervorhebungen hinzugefügt) Ursprünglich wird alsô als Subjunktor mit der modalen Funktion des Vergleichens bzw. Gleichsetzens zweier Größen verwendet.115 Der Matrixsatz enthält als Bezugspunkt des Vergleiches meist das Adverb alsô wie in (187) oder ein ähnliches deiktisches Element wie so in (188), likerwis in (189) und alsodanne in (190). In dieser Funktion entspricht alsô dem neuhochdeutschen wie in Vergleichssätzen, die i. d. R. als Subjunktorsätze bestimmt werden.116 (187) he wolde ome gol des vnde suluers also vele wedder geuen alse he wolde (Alexander Helmst., Bl. 60v, Z. 2–4, ReN 0.7)117 ‚Er wollte ihm so viel Gold und Silber wiedergeben, wie er wollte.‘ (188) Darumme segghe ik gade vnde dy so groten danck als ick kann vmme de tyd [. . .] (Griseldis, Bl. 11r, Z. 16–17, ReN 0.7) ‚Darum spreche ich Gott und dir so großen Dank aus, wie ich kann, für die Zeit [. . .]‘ (189) de mach se gheuen liker wis . also se se dreghen hadde . (Brem. StR 1303,08 Kopie, Bl. 13v,a, Z. 23–25) ‚Der soll sie genauso geben, wie er sie getragen hatte.‘
115 Ausführlicher zu hochdeutschem also und so als vergleichendem Subjunktor im älteren Deutsch s. Dal (1966: 211–213). Zu den verschiedenen Verwendungsweisen s. außerdem Behaghel (1928: 66–68, 276–293), der zur Etymologie von also angibt: „also geht hervor aus Zusammenrückung von al und so, ist daher urprünglich stärker als so = ‚ebenso, ganz wie‘“ (Behaghel 1928: 66). D. h., also hatte ursprünglich eine verstärkende Bedeutung. Zu Vergleichssätzen mit als und wie im Gegenwartsdeutschen s. Eggs (2006). 116 Eine Ausnahme liefert die Grammatik des Duden (2016: 1055, § 1670), die von einer Phrase aus Gradpartikel so und Adjektiv oder Adverb eingeleitete Sätze wie Anna warf den Ball, so hoch sie konnte zu den freien Relativsätzen zählt. Zifonun u. a. (1997: 2333) hingegen bestimmen solche Fälle als Vergleichssätze, die Teile von Gradphrasen sind, mit als und wie in Funktion von Adjunktoren. 117 Beispiele aus dem ReN, die nicht aus dem Korpus dieser Arbeit stammen, werden in der diplomatischen Transkription nach dem ReN wiedergegeben und erhalten als Quellenangabe die im ReN verwendete Textsigle sowie die Nummer der verwendeten Korpusversion. Zudem werden Blatt- und Zeilennummern angegeben.
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(190) tho deme ersten hebbe ik . ghenomen van deme kummenduͦre alsodanne lant also snepel vor ghe hat hadde tor vore . to buwende vnde tho zeghende . van der tyt [. . .] (Brem. Uk. 1301–1350, Bl. 1, Z. 5–6, ReN 0.7) ‚Erstens habe ich von dem Komtur so ein Land genommen, wie [es] Schnepel zuvor besessen hat, um [dort] zu bauen und zu säen ab der Zeit [. . .]‘ Darüber hinaus dient alsô im Mittelniederdeutschen auch der Einleitung temporaler Adverbialsätze. Dass sich die temporale Bedeutung von alsô aus der komparativen entwickelt hat, zeigt sich besonders deutlich in dem mittelniederdeutschen Satz in (191), wo – ebenso wie in Vergleichssätzen – im Matrixsatz ein zweites alsô zum Zweck der Verknüpfung steht.118 Diese Funktion von alsô entspricht exakt der des neuhochdeutschen Subjunktors als. Aufgrund seiner primären Funktion als Einleiter von Vergleichssätzen und temporalen Adverbialsätzen wird das mittelniederdeutsche alsô in dieser Arbeit als Subjunktor gewertet. (191) also nu dyt wiff hir ouer was, also quam do or here to hus (Locc. Erz. 23b, aus Schiller & Lübben 1875–1881, Bd. 5: 584; Hervorhebung hinzugefügt) ‚Als nun die Ehefrau dabei war, da kam da ihr Mann nach Hause.‘ Auch das temporale dô wird im Mittelniederdeutschen – ebenso wie die zuvor beschriebenen Subjunktoren wan und alsô – zur Einleitung eines temporalen Nebensatzes wie in (192) verwendet. Es entspricht damit dem neuhochdeutschen als und wird daher ebenso wie wan und alsô hier zu den Subjunktoren gezählt. (192) Do he vor den berch kam do offerde he den godden (Alexander Helmst., Bl. 68r, Z. 3–5, ReN 0.7) ‚Als er an den Berg kam, da opferte er den Göttern.‘ Dal (1966: 208) hält mit Bezug auf das Hochdeutsche fest, dass sich die Verwendung von da119 als Subjunktor temporaler Adverbialsätze aus Konstruktionen entwickelt hat, „in denen das Wort als relatives Adverb auf ein Nomen mit zeitlicher
118 Zu temporalem also im Mittelhochdeutschen s. Paul u. a. (2007: 415, § S 173), die darauf hinweisen, dass in den temporalen also-Sätzen die ursprünglich modale Bedeutung z. T. noch zu spüren ist. Zum temporalen Subjunktor also im Frühneuhochdeutschen s. Ebert u. a. (1993: 456, § S 285), die zeigen, dass im nachgestellten Matrixsatz häufig noch ein Korrelat (z. B. adverbiales da) steht. 119 Bei Behaghel (1928: 90) findet sich der Hinweis, dass die Subjunktoren da (lokal) und do (temporal) nur bis zum Ende der mittelhochdeutschen Zeit getrennt werden können, da im Lauf des Mittelhochdeutschen beide zu do zusammenfallen. Laut Dal (1966: 207) beruht dieser Zusammenfall „nicht nur auf lautlicher Entwicklung, sondern auch auf einer bedeutungsmäßigen Annäherung zwischen den beiden Wörtern“.
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Bedeutung bezogen wird“.120 Auch das mittelniederdeutsche dô tritt in Konstruktionen mit temporalem Bezugselement im Matrixsatz wie in (193) auf. Das neuhochdeutsche Pendant da wird u. a. von Pittner (2009: 745) in Sätzen wie Die Zeiten, da der Empfang der Westsender verpönt war, sind längst vorbei (Beispiel aus Redder 1990: 144) als Relativpartikel bestimmt.121 (193) Des behelt he se by syk bauen de tid do se manbere was (Griseldis, Bl. 16r, Z. 15–16, ReN 0.7) ‚Deshalb behielt er sie bei sich über die Zeit hinaus, da sie heiratsfähig war.‘ Neben dem mittelniederdeutschen dô sind auch wan und alsô in Konstruktionen mit temporalem Bezugselement zu finden wie in (194) und (195). (194) [. . .] in deme Jare wan se de eme lenen wille [. . .] (Hamb. Uk. 1401–1450, Bl. 19, Z. 36, ReN 0.7) ‚[. . .] in dem Jahr, wenn sie ihm die leihen wird [. . .]‘ (195) [. . .] van deme yare als se wedder vp clommen [. . .] (Mandeville, Bl. 8r, Z. 15– 16, ReN 0.7) ‚[. . .] ab dem Jahr, als sie wieder emporklommen [. . .]‘ Auch die neuhochdeutsche Standardsprache kennt als-Sätze mit einem solchen Kontext wie z. B. Der Tag, als endlich der Regen kam, war einer der letzten Augusttage (Beispiel aus Zifonun u. a. 1997: 2244). Zifonun u. a. (1997: 2245) ordnen anhand des satzeinleitenden Elementes die neuhochdeutschen als-Sätze generell den Subjunktorsätzen zu (s. Kap. 2.3.3) und erklären für als in Kontexten mit temporalem Bezugselement, dass auch eine Verwendung als Nomenmodifikator möglich ist und der Adverbialsatz in diesen Fällen in die Kategorie des Attributsatzes wechseln kann (vgl. Zifonun u. a. 1997: 2247). Auch in dieser peripheren Funktion als Nomenmodifikator gehören die als-Sätze nach Zifonun u. a. (1997: 2245) aber der übergeordneten Gruppe der Subjunktorsätze an. In der neuhochdeutschen Standardsprache wird mit da- und als-Sätzen mit temporalem Bezugselement ganz unterschiedlich verfahren. Für die Untersuchung mittelniederdeutscher Relativsätze in dieser Arbeit sind jedoch eine klare Begriffsbestimmung und ein einheitlicher Umgang mit Sätzen wie in (193) bis (195) notwendig. Eine konsequente Anwendung der hier vorgeschlagenen Kombination aus syntaktisch motivierter
120 Vgl. auch Axel-Tober (2012: 272), die darauf aufmerksam macht, dass diese Entwicklung einer Adverbialsatzkonstruktion aus einer Relativkonstruktion bei vielen Adverbialsubjunktoren ähnlich verlaufen sei. 121 Zur Verwendung von neuhochdeutschem da als temporales Relativum s. Redder (1990: 144–159).
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Definition und dem Kriterium des Satzeinleiters hat bei der oben erfolgten Einordnung von wan, (al)sô und dô in temporaler, konditionaler oder vergleichender (d. h. modaler) Funktion122 als Subjunktor zur Folge, dass auch Sätze mit bspw. einem temporalen Bezugselement als Subjunktorsätze und nicht als Relativsätze gewertet werden.123 Zu den Subjunktorsätzen zählen diesem Vorgehen entsprechend zudem Sätze mit (al)sô wie in (196), deren neuhochdeutsche Pendants mit wie in den Grammatiken meist den freien Relativsätzen zugeordnet werden. (196) Nen mynsche sprekt Also he spreket (Buxteh. Ev., S. 62, Z. 2–3, ReN 0.7) ‚Kein Mensch spricht, wie er spricht.‘
2.5.2.3.2 Konditionale Adverbialsätze mit dâr / (s)wôr Wie in den vorangehenden Kapiteln zu sehen war, bestehen bei den relativen w / dPronomen und -Adverbien zahlreiche Homonymien zu den Einleitungselementen von Irrelevanzkonditionalia und propositionsfundierten w-Sätzen. Hinzu kommt im Mittelniederdeutschen die Ähnlichkeit von Relativsätzen und konditionalen Adverbialsätzen, die mit den homonymen Adverbien dâr oder wôr eingeleitet werden. Laut Mittelniederdeutschem Handwörterbuch von Lasch u. a. (ab 1956: Bd. 1: 397) sind für dâr drei Bedeutungs- und Funktionsbereiche zu unterscheiden: „adv., conj., 1. räumlich: demonstrativ: da, dort, relativ: wo [. . .] 2. zeitlich: da, als damals als (vgl. dô). 3. conj.: bedingend, einräumend, adversativ: wenn, wofern, sofern; während; wohingegen.“ In seiner temporalen Funktion wird mit dâr hier ebenso wie mit dem entsprechenden dô (s. Kap. 2.5.2.3.1) verfahren, es wird also zu den Subjunktoren gezählt. Darüber hinaus kann es jedoch auch als lokales Relativadverb wie in (197) oder als konditionaler Subjunktor wie in (198) verwendet werden. (197) Wen he wedder ten wel in dat lant dar he ge boren is (Alexander Helmst., Bl. 49r, Z. 15–17, ReN 0.7) ‚Wenn er wieder in das Land ziehen will, wo er geboren wurde.‘ (198) Borghen muͦt he auer be setten . dar he nen erue heuet . vor des richteres wed de . vnde uor buͦte . (Brem. Ssp., Bl. 24v,a, Z. 25–28, ReN 0.7)
122 Die beschriebenen temporalen und vergleichenden alsô-Sätze sind abzugrenzen von Sätzen, in denen alsô die Funktion einer Relativpartikel hat (s. Kap. 2.5.1.3.2). 123 Eine Klassifizierung von Sätzen mit temporalem Bezugselement wie in (193) bis (195) als Relativsätze ginge mit einer Bestimmung von als und anderen Nebensatzeinleitern in ähnlichen Kontexten als Relativum einher. Dies wiederum würde im Sinn einer konsistenten Definition erfordern, auch die Nebensatzeinleiter in (185), (191) und (192) als Relativum und folglich die Nebensätze dort als Relativsätze zu werten, was in der vorliegenden Arbeit jedoch ausgeschlossen werden soll.
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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‚Bürgen muss er aber bestimmen, wenn er kein Erbe hat, für das Pfand und das Bußgeld des Richters.‘ Ähnlich verhält sich wôr (auch wâr, wûr), das laut Mittelniederdeutschem Handwörterbuch von Lübben & Walther (1995: 555) „wo, wohin, woher“, aber auch „wofern, wenn, falls“ bedeuten und damit sowohl lokales Relativadverb als auch Subjunktor eines konditionalen Adverbialsatzes sein kann. In Relativkonstruktionen mit lokalem Referenten wie in (197) ist eine Bestimmung als Relativsatz problemlos möglich. Schwieriger hingegen ist die Abgrenzung in Sätzen wie in (199), bei denen es sich entweder um einen freien Relativsatz mit lokaler Semantik oder um einen konditionalen Adverbialsatz handeln kann. (199) Swor eyn besproken man is sines rechtes . [. . .] he schal des doch ent=ghelden . (Stader StR, Bl. 99r, Z. 1–4) ‚Wo / Wenn es einen verdächtigen Mann gibt [. . .], soll er das doch büßen.‘ Die semantische Überschneidung ist dadurch zu erklären, dass ein Ort, mit dem zwei bestimmte Handlungen oder Umstände in Verbindung gebracht werden, leicht als Voraussetzung für die Handlung im Matrixsatz interpretiert werden kann. In Sätzen mit dem Kopulaverb sîn / wēsen wie in (199) ist dies am besten nachvollziehbar.124 Axel-Tober (2012: 312) belegt derartige Konstruktionen auch für das Mittelhochdeutsche und bewertet sie formal als freie Relativsätze, „die allerdings wie Konditionalsätze interpretiert werden“. Sie erklärt das damit, dass ein lokaler freier Relativsatz wie in (200) „auf den ersten Blick im Gwd. durch einen universell quantifizierenden freien Relativsatz übersetzt werden [kann] (‚Wo immer ihr ihn trefft, wo ich dabei bin, sollt ihr ihn dort des Verrats bezichtigen‘)“ (Axel-Tober 2012: 312). Da jedoch der Matrixsatz kein lokales korrelatives Adverb aufweist, sondern das in Konditionalgefügen verbreitete so, klassifiziert Axel-Tober (2012: 312–313) Sätze wie in (200) als sogenannte „konditionale Relativsätze“.125 (200) Wo yrn findet da ich bin, so solt yrn zihen verretery, (Lancelot 23, 21, aus Axel-Tober 2012: 312)
124 Vgl. für das Hochdeutsche den Wandel des temporalen do zum kausalen Subjunktor da. S. dazu z. B. die Untersuchung von Arndt (1960). 125 In der Forschung wird diese konditionale Semantik zunächst für andere Kontexte beschrieben, nämlich für durch Pronomen eingeleitete freie Relativsätze wie in de dit up eyn laken malede, noch scholde dat gantz selsen laten (R. V. 1517, aus Behaghel 1928: 774) ‚Wer das auf eine Leinwand gemalt hätte, [so] wäre das ganz seltsam anzusehen‘. Behaghel (1928: 773) bezeichnet diese Fälle als Relativsätze, die „Mischungen mit hypothetischen Sätzen“ eingehen. Ausführlicher untersucht diese Gruppe von Relativsätzen im Mittelhochdeutschen u. a. Lötscher (1992). In Kap. 4.5 dieser Arbeit wird auf diese Sätze genauer eingegangen.
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2 Theoretische Grundlegung
‚Wo / Wenn ihr ihn trefft, wo ich bin, so sollt ihr ihn des Verrates bezichtigen.‘ Auch in den untersuchten mittelniederdeutschen Texten treten dâr und wôr in den beschriebenen homonymen Kontexten häufig mit korrelativem sô im folgenden Matrixsatz auf, das die konditionale Semantik erzwingt. Insgesamt sind dâr und wôr in den betreffenden Kontexten vorwiegend in Rechtstexten belegt und dort auch in den Sätzen ohne Korrelat wie sô im Matrixsatz fast ausschließlich in einer überwiegend konditionalen Bedeutung. Dies zeigt sich u. a. in Übertragungen ins Gegenwartsdeutsche wie in der Edition des Hamburger Ordeelbooks nach einer Handschrift von 1493 von Eichler (2005). Im Gegensatz zur Analyse von Axel-Tober (2012) werden solche Sätze in dieser Arbeit daher nicht den Relativsätzen zugeordnet, sondern als konditionale Adverbialsätze klassifiziert. Aufgrund der überwiegend konditionalen Semantik der dâr- und wôr-Sätze in den beschriebenen homonymen Kontexten werden zu den freien Relativsätzen nur eindeutige Belege gezählt, in denen der folgende Matrixsatz als Korrelat ein lokales Adverb wie dâr enthält. 2.5.2.4 Hauptsätze Die für die neuhochdeutsche Standardsprache in Kap. 2.3.4 beschriebene Überschneidung von Verbzweitstellung aufweisenden und durch ein d-Relativum eingeleiteten Relativsätzen mit Hauptsätzen besteht auch im Mittelniederdeutschen. Relativsätze mit Verbzweitstellung in historischen Sprachstufen des Deutschen wurden bereits in verschiedenen Arbeiten erforscht. In ihrem Aufsatz zu pronominaler Wiederaufnahme im Althochdeutschen gehen Petrova & Solf (2010) in einem Exkurs auf strukturell ambige Sätze wie in (201) ein, die entweder als Relativsätze oder Hauptsätze interpretiert werden können, und zeigen, dass diese „relativsatzähnlichen Strukturen mit Verb-Zweit-Stellung“ (Petrova & Solf 2010: 356) dieselben grammatischen und distributionellen Eigenschaften wie die von Endriss & Gärtner (2005) untersuchten relativischen Verbzweitsätze im Gegenwartsdeutschen aufweisen (vgl. Petrova & Solf 2010: 356–358). (201) sum tuomo uuas In sumero burgi / their niforhta got ‚Ein Richter war in einer Stadt, der sich vor Gott nicht fürchtete.‘ (T 200,31– 32, inkl. Übersetzung aus Petrova & Solf 2010: 356) Petrova & Solf (2010: 359) setzen für das Althochdeutsche dieselbe Analyse wie Endriss & Gärtner (2005: 196), die sich wiederum auf Gärtner (2001: 105) beziehen, für das Gegenwartsdeutsche an und klassifizieren einen Satz wie in (201) als Hauptsatz mit Demonstrativpronomen, „dessen Leistung darin besteht, ein Vor-Topik im vorangehenden Diskurs wieder aufzunehmen und es erstmalig als Topik einer Aussage zu realisieren“.
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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Eine Untersuchung nicht nur alt-, sondern auch mittelhochdeutscher Belege für relativische Verbzweitkonstruktionen wie in (202) (mit initialem Pronomen) und (203) (mit Adverb und Pronomen) mit Bezug auf die von Gärtner (2001) herausgearbeiteten Merkmale liefert Axel-Tober (2012: 235–246) im Rahmen ihrer Arbeit zu nicht-kanonischen Nebensätzen im älteren Deutsch. Im Ergebnis ihrer Betrachtung hält Axel-Tober (2012: 246) fest, dass sich die grammatischen Eigenschaften der Konstruktion im älteren Deutsch und im Gegenwartsdeutschen decken, „sodass man davon ausgehen kann, dass hier strukturelle Kontinuität vorliegt“. (202) Ein swester het wir die hiez Kungunt von Eystet (Christine Ebner 16,23, aus Axel-Tober 2012: 237) ‚Eine Schwester hatten wir, die hieß Kunigunt von Eystet.‘ (203) Da bi iſt ein inſula da inne iſt ein holz daz heizit eben. (Lucidarius (G) 370, aus Axel-Tober 2012: 236) ‚Da ist eine Insel, darin ist ein Holz, das heißt Eben.‘ Für das historische Niederdeutsch wurden relativische Verbzweitsätze von Petrova (2013) analysiert, die in ihrer Arbeit zur mittelniederdeutschen Syntax ausgehend von der ermittelten Basiswortstellung (Objekt-Verb oder Verb-Objekt) auf verschiedene Formen der Variation dieser Grundstruktur (z. B. verbfinale Hauptsätze, mehrfache Vorfeldbesetzung) eingeht. Petrova (2013: 82) weist zunächst darauf hin, dass aufgrund der Verbstellungsvariation im Mittelniederdeutschen Sätze wie in (204) strukturell ambig sind und zwei verschiedene Interpretationen zulassen: 1) Es liegt mit dem finiten Verb in der Satzmitte aufgrund der Herausstellung schwerer Konstituenten nach rechts nur an der Oberfläche eine abweichende Verbstellung vor, es handelt sich also um einen Relativsatz; 2) der Satz weist an der Oberfläche Verbzweitstellung auf, was eigentlich eine Bewertung als Hauptsatz zur Folge hätte. (204) dar synt noch welke ander menchen, de untfangen das hillighe sacramente mit den gheloven (Veghe 27,19, aus Petrova 2013: 82) ‚Da sind noch andere Menschen, die empfangen das Heilige Sakrament mit dem Glauben.‘ Petrova (2013: 88) zeigt unter Bezugnahme auf die bei Endriss & Gärtner (2005) beschriebenen Eigenschaften relativischer Verbzweitsätze im Gegenwartsdeutschen, dass es sich bei Sätzen wie in (204) tatsächlich um Relativsätze mit abweichender
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2 Theoretische Grundlegung
Verbstellung handelt und dass sie sowohl formal als auch funktional mit den relativischen Verbzweitsätzen im Gegenwartsdeutschen identisch sind.126 In den oben aufgeführten Beispielen ist eine Bestimmung als relativischer Verbzweitsatz auf der Basis der erläuterten Merkmale ohne Weiteres möglich: Alle betreffenden Sätze sind nachgestellt und durch ein d-Demonstrativum eingeleitet, der Referent enthält ein Indefinitum mit weitem Skopus und der Matrixsatz ist eher informationsarm und könnte kaum alleinstehend vorkommen (am ehesten noch in (203)). Aufgrund der Verbstellungsvariation kommen allerdings im älteren Deutsch nicht nur eindeutig bestimmbare Sätze wie diese vor, sondern auch Sätze wie in (205) und (206). (205) der im fast wol stunt uff synem schönen hare, das was kruselecht und liecht als ein golt (Lancelot 91, 4, aus Axel-Tober 2012: 217) ‚[. . .] der ihm sehr gut stand auf seinem schönen Haar, das war kräuselig und leuchtend wie Gold.‘ (206) Er saß off ein starck roß und was wol gewapent und hett ein glene in syner hant, die was kurcz und groß, . . . (Lancelot 65, 22, aus Axel-Tober 2012: 218) ‚Er saß auf ein starkes Ross auf und war gut bewaffnet und hatte eine Lanze in seiner Hand, die war kurz und groß [. . .]‘ Axel-Tober (2012: 217–218) klassifiziert einen Satz wie in (205), bei dem keine restriktive Lesart vorliegt, als Hauptsatz, da er sich sowohl syntaktisch als auch semantisch wie ein solcher verhält. Neben diesen rein parataktischen Konstruktionen existieren laut Axel-Tober (2012: 218) auch Sätze wie in (206), die man mit einem relativischen Verbzweitsatz oder auch einem Hauptsatz ins Gegenwartsdeutsche übersetzen könne, wobei lediglich ein prosodischer Unterschied (hoher Grenzton
126 Allerdings stützt sich Petrova (2013) in ihrer Untersuchung auch auf die folgenden Belege, die aufgrund des verhältnismäßig stärkeren Informationsgehaltes im Matrixsatz durchaus diskussionswürdig sind und nicht zwingend als Relativsätze mit Verbzweitstellung bestimmt werden müssen, sondern auch als ambig ausgezeichnet werden könnten: Darvan scop he hundert an den rat de het he senatores (SW 79,40, aus Petrova 2013: 87) ‚Davon setzte er einhundert in den Rat, die nannte er Senatoren.‘ In den tiden quam up de grote Gnegius Pompeius de orlogede wider den koning Metridatam lange tid (SW 85,5, aus Petrova 2013: 88). ‚Zu der Zeit kam der große Gnaeus Pompeius an die Macht, der kämpfte lange gegen den König Metridatus.‘ Auf ambige Sätze wird an späterer Stelle dieses Kapitels in einer Klassifizierung potentieller Relativsätze mit Verbzweitstellung auf Basis ihrer Lesart genauer eingegangen.
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
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vor dem relativischen Verbzweitsatz vs. finaler Grenzton vor dem Hauptsatz) bestehe. Axel-Tober (2012: 218–219) bewertet diese Sätze folgendermaßen: Ich gehe [. . .] davon aus, dass solche Beispiele in der Schriftsprache (also ohne prosodische Evidenz) im Mhd. grundsätzlich ambig waren und auch eine Lesart als relativische Verbzweitkonstruktion zuließen, denn es gibt ja [. . .] unambige Evidenz für die Existenz letzterer Konstruktion in Form von Beispielen, bei denen die ‚parataktische‘ Lesart aufgrund pragmatischer Unvollständigkeit ausgeschlossen werden kann.
Auf der Grundlage ihrer Belege differenziert Axel-Tober (2012: 220–221) zwischen drei Klassen: 1) der nicht-restriktiven Hauptsatzkonstruktion, 2) der restriktiven relativischen Verbzweitkonstruktion und 3) der Verbzweitkonstruktion, die beide Lesarten erlaubt. Zur Unterscheidung dieser drei Klassen zieht Axel-Tober (2012: 221) die von Brandt (1990: 39–40) zitierten grammatischen und lexikalischen Indikatoren nach Becker (1978: 11–12) heran: So ist z. B. eine restriktive Lesart i. d. R. nicht möglich, wenn es sich beim Referenten um ein deiktisches Pronomen, einen Eigennamen, ein Unikum, ein Pronomen der 1. oder 2. Person oder den Determinierer dieser oder jener handelt. Die Determinierer und Pronomen derjenig-, kein-, wer / was, jed-, niemandund jemand- hingegen erzwingen eine restriktive Lesart. Mit den Determinierern und Pronomen ∅, der, ein-, einig-, manch-, solch-, viel-, all-, Kardinalia, Ordinalia und Possessiva als Referenten schließlich können ambige Sätze stehen. Weltwissen, Kontext usw. bestimmen dabei laut Axel-Tober (2012: 221), ob es sich tatsächlich um ambige Sätze handelt. Für diese Arbeit wurden, basierend auf der Einteilung von Axel-Tober (2012), als Relativsätze nur solche Verbzweitsätze ins Korpus aufgenommen und in der Analyse berücksichtigt, die der Klasse 2) der restriktiven relativischen Verbzweitkonstruktion entsprechen wie in (207), denn nur sie sind der Definition in Kap. 2.1.2.2 entsprechend eindeutig funktional als subordiniert markiert und somit als Relativsätze bestimmbar. Sätze mit nicht-restriktiver Lesart wie in (208) oder ambige Sätze wie in (209), die nicht eindeutig funktional als Nebensätze markiert sind, werden daher nicht weiter untersucht.127 (207) Dar was eyn minsche de hadde achte vnde drittich iar ene suke ghe had (Buxteh. Ev., S. 31, Z. 7–9) ‚Da war ein Mensch, der hatte achtunddreißig Jahre eine Krankheit gehabt.‘
127 Nicht-restriktive potentielle Relativsätze, in denen möglicherweise nur aufgrund von Ausklammerung nach rechts das Finitum an zweiter Stelle steht, die tatsächlich aber einen Verbletztsatz darstellen (zur Wortstellungsvariation s. Kap. 3.4.2.1), können mit dieser Methode nicht als Relativsätze berücksichtigt werden. Dies mag einerseits unbefriedigend erscheinen, andererseits bietet es den entscheidenden Vorteil einer zuverlässigen und konsistenten Annotation, da es die schwierige Einzelfallentscheidung, ob es sich bei einem Satz mit dem Finitum an zweiter Stelle tatsächlich um einen Verbzweit- oder einen Verbletztsatz handelt, unnötig macht.
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2 Theoretische Grundlegung
(208) N deme lande ytalia in deme neddergange der sunnen licht ein hoch berch geheten Uesaus Des hoge reket ouer alle wolken in der luteren klarer lucht (Gris. / Sig., Bl. 2r, Z. 14–16) ‚In dem Land Italien im Untergang der Sonne liegt ein hoher Berg geheißen Vesaus, dessen Höhe ragt über alle Wolken in der leuchtenden klaren Luft.‘ (209) Nicht veern van deme pallas was ein dorpeken dar ynne wo neden klene vnde arme luden (Gris. / Sig., Bl. 3v, Z. 9–11) ‚Nicht fern vom Palast war ein Dörfchen, darin wohnten niedere und arme Leute.‘ Die Ausführungen zur Abgrenzung der Relativsätze von Hauptsätzen haben sich bis hier auf attributive Relativsätze beschränkt, da es sich bei den relativischen Verbzweitsätzen im Gegenwartsdeutschen ausschließlich um Sätze dieses Typs handelt. Verbzweitstellung kann jedoch im Mittelniederdeutschen grundsätzlich in jedem Relativsatztyp vorkommen, d. h. auch in freien Relativsätzen wie in (210). Da diese jedoch aufgrund ihrer syntaktischen Funktion im Matrixsatz stets eine restriktive Lesart aufweisen, sind sie eindeutig als Relativsätze bestimmbar. Handelt es sich wie in (210) um einen mit w-Element eingeleiteten Satz, kann zudem – unabhängig von der syntaktischen Funktion – keine Ambiguität zu deklarativen Hauptsätzen mit dPronomen oder -Adverb bestehen, sondern nur zu interrogativen Hauptsätzen, von denen sie i. d. R. anhand des gegebenen Kontextes problemlos abgrenzbar sind.128 (210) So we wil sinen willen don de mach bekennen de lere wer se uan gode si efte ik se uan my suluen hebbe ghesproken (Buxteh. Ev., S. 56, Z. 4–7) ‚Wer seinen [= Gottes] Willen durchsetzt, der kann erkennen, ob die Lehre von Gott ist oder ob ich sie selbst gesprochen habe.‘
2.5.2.5 Definition des mittelniederdeutschen Relativsatzes in dieser Arbeit Wie gezeigt wurde, genügt die zunächst als Ausgangspunkt verwendete allein auf der syntaktischen Funktion basierende Definition am Ende von Kap. 2.1.2 nicht, um freie Relativsätze im Mittelniederdeutschen von einer bestimmten Gruppe der Subjunktorsätze klar abzugrenzen und führt zu einem sehr weiten Relativsatzbegriff, der in dieser Arbeit vermieden werden soll. Zur Eingrenzung und eindeutigen Begriffsbestimmung ist daher zusätzlich das Kriterium des Satzeinleiters notwendig.
128 In (210) kann außerdem aufgrund der für Relativa verwendeten Verbindung aus verallgemeinernder Partikel sô und dem Pronomen (s. Kap. 2.5.1) ein Interrogativsatz ausgeschlossen und der Satz als Relativsatz bestimmt werden.
2.5 Der mittelniederdeutsche Relativsatz
79
Für die hier untersuchten mittelniederdeutschen Relativsätze wird daher die folgende spezifizierte Definition zugrunde gelegt: Bei Relativsätzen handelt es sich um eine Gruppe von Nebensätzen, die durch ein Relativum eingeleitet wird und auf syntaktischer Ebene in zwei Typen zu gliedern ist: Typ 1) bestimmt ein im übergeordneten Satz vorhandenes, dem Relativsatz vorausgehendes Bezugselement, das entweder eine Nominalphrase darstellt oder in eine solche umgewandelt werden kann, näher und fungiert als Attribut zu diesem Bezugselement. Typ 2) füllt i. d. R. eine im übergeordneten Satz eröffnete Leerstelle, ist also Satzglied in diesem übergeordneten Satz. Geht der Relativsatz dem übergeordneten Satz voran, kann die durch den Relativsatz gefüllte Leerstelle durch eine Phrase mit auf den Relativsatz verweisendem Korrelat vertreten sein. Vorangehende Relativsätze vom Typ 2) mit Korrelat können zudem als Attribut im übergeordneten Satz fungieren.
3 Die korpuslinguistische Studie 3.1 Ausgangspunkt: Der mittelniederdeutsche Relativsatz in der Forschung Das Forschungsinteresse und die Zielstellung dieser Arbeit ergeben sich aus dem in Kap. 1 umrissenen Forschungsdesiderat im Bereich der mittelniederdeutschen Syntax. Trotz einer verstärkten Hinwendung zu syntaktischen Phänomenen im Mittelniederdeutschen und verschiedener in diesem Rahmen entstandener Publikationen (s. Kap. 1) sind weite Bereiche noch nahezu unerforscht. Hierzu zählt auch der mittelniederdeutsche Relativsatz. Die meisten Arbeiten zur historischen Syntax des Deutschen, denen man Darstellungen zum Relativsatz entnehmen kann, konzentrieren sich vollkommen auf das Hochdeutsche (z. B. Dal 1966). Behaghel (1928) zumindest berücksichtigt neben hochdeutschen Belegen auch niederdeutsche. Eine mit den mittel- und frühneuhochdeutschen Grammatiken vergleichbare umfassende Beschreibung der syntaktischen Gegebenheiten im Mittelniederdeutschen, die sich u. a. mit den Nebensätzen und folglich auch mit dem Relativsatz befasst, fehlt jedoch bislang.129 Petrova (2013) widmet sich in ihrer Arbeit The Syntax of Middle Low German der Ermittlung der Grundwortstellung (Objekt-Verb oder Verb-Objekt) und der Beschreibung oberflächenstruktureller Variation und betrachtet in diesem Zusammenhang v. a. Wortstellungsvariation am linken und rechten Satzrand (vgl. Petrova 2013: 7). Dabei geht Petrova (2013: 81–88) in einem Kapitel auch auf die Verbstellungsvariation in mittelniederdeutschen Relativsätzen ein. Ihr Fokus liegt auf Sätzen, in denen das Finitum unmittelbar auf den Relativausdruck folgt (Rel + Vfin + x). Sie zieht eine Parallele zu den u. a. bei Endriss & Gärtner (2005) beschriebenen relativischen Verbzweitsätzen im Gegenwartsdeutschen und überprüft die Merkmale dieser Konstruktion an mittelniederdeutschen Belegen (vgl. Kap. 2.3.4 und 2.5.2.4). Im Ergebnis formuliert Petrova (2013: 88), dass die mittelniederdeutschen Relativsätze mit der Abfolge Rel + Vfin + x sowohl formal als auch funktional mit den relativischen Verbzweitsätzen im Gegenwartsdeutschen identisch sind. Abgesehen davon, dass sich Petrovas (2013) Untersuchung zum mittelniederdeutschen Relativsatz auf einen speziellen Aspekt beschränkt, lässt ihre Methode nur schwer allgemeingültige Aussagen zu. Zum einen ist die Datenbasis für eine Arbeit, die grundsätzliche Merkmale in der Wortstellung des Mittelniederdeutschen aufdecken soll, mit insge-
129 Der Relativsatz selbst wird in den mittel- und frühneuhochdeutschen Grammatiken unterschiedlich intensiv behandelt, s. hierzu den ausführlichen Vergleich bei Zifonun (2003: 69–72). https://doi.org/10.1515/9783110678468-003
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3 Die korpuslinguistische Studie
samt acht exzerpierten Quellen noch verhältnismäßig gering.130 Zum anderen geht Petrova eher deduktiv vor, indem sie zur Veranschaulichung der beschriebenen Phänomene und Untermauerung ihrer Argumentation Belege heranführt und an diesen ihre Analysen vornimmt. Dieses deduktive Verfahren zeigt sich auch in ihrem für diese Arbeit relevanten Kapitel zu Relativsätzen mit abweichender Verbstellung, das sich ausschließlich mit den relativischen Verbzweitsätzen nach Endriss & Gärtner (2005) befasst und nicht auf Verbzweitkonstruktionen eingeht, die deren Merkmale nicht erfüllen und entsprechend anders zu bewerten sind.131 Während Petrovas (2013) Arbeit insgesamt einen sehr guten Einblick in wichtige Phänomene der mittelniederdeutschen Syntax liefert, bilden ihre Analysen zum Relativsatz lediglich einen kleinen Teilbereich ab und lassen daher eine umfassende Beschreibung des mittelniederdeutschen Relativsatzes als Desiderat in der historischen Sprachforschung bestehen. Bei der einzigen umfangreicheren Einzelstudie zu mittelniederdeutschen Relativsätzen handelt es sich um die Arbeit von Kock (1904), der in anderen Studien auch hochdeutsche und englische Relativsätze untersucht (Kock 1901, 1897). Sie stellt eine gute Quelle für Belege zu den verschiedenen Relativsatzeinleitern dar, wobei der Fokus allerdings dem Titel Die niederdeutschen Relativpronomen entsprechend auf den Pronomen liegt und Relativadverbien bspw. nur am Rand berücksichtigt werden.132 Die Differenzierung seiner Belege basiert auf einem Schema, in dem Kock (1904: 17) die Stellung des Relativsatzes, die Form der Relativa und ihre Kasus sowie die syntaktische Funktion des Relativausdruckes und des Referenten im Matrixsatz miteinander verbindet. Abseits der umfassenden Belegstrecken zu den Pronomen liefert Kock (1904: 57–68) auch Ausführungen zu besonderen Relativsatztypen, z. B. mit partitivem Genitiv oder mit konditionaler Semantik. Seine Belege entstammen insgesamt 45 Texten vom 9. bis zum 19. Jahrhundert; Kock betrachtet also den Relativsatz in der breiteren niederdeutschen Sprachgeschichte und geht nicht explizit und differenziert auf das Mittelniederdeutsche ein. Trotz der verhältnismäßig großen Datengrundlage sind Aussagen zur Verteilung der einzelnen Formen und Satztypen nicht möglich, da Kock (1904) keine absoluten Häufigkeiten angibt, sondern stattdessen den Kommentar „(sehr / ziemlich / recht) gewöhnlich“ setzt. Die älteren mittelniederdeutschen Grammatiken von Lübben (1882), Colliander (1912), Sarauw (1924) und Lasch (1974 / 1914) zeigen, wie in Kap. 1 erwähnt, einen starken Fokus auf Phonologie und Morphologie und berücksichtigen die Syntax gar nicht oder wie Sarauw (1924: 232–236), der im Anhang u. a. auf Junktoren und auf
130 S. hierzu außerdem Mähls (2014: 40) Kritik: „Problematisch scheint mir u. a. die totale Fokussierung auf die Sächsische Weltchronik in den syntaktischen Diskussionen (die Mehrheit der Belege entstammt der Sächsischen Weltchronik), da die Quelle nicht unproblematisch ist.“ 131 Zur kritischen Betrachtung der von Petrova (2013) angeführten Belege für relativische Verbzweitsätze im Mittelniederdeutschen s. auch Anm. 126 in Kap. 2.5.2.4. 132 Das Relativum welk- in Artikelfunktion findet sich bei Kock (1904: 48) als „adjektivisch“ gebrauchtes Relativpronomen wieder.
3.2 Zielsetzung und Methode der Studie
83
die Negation eingeht, nur am Rand. Relativsätze werden von Lasch (1974 / 1914: 220, § 409) lediglich in einem kleinen Abschnitt innerhalb des Kapitels zu den Demonstrativa tangiert; Nissen (1884: 5–6) widmet ihnen immerhin mehrere Absätze; etwas ausführlicher noch gehen Lübben (1882: 112–115) und Sarauw (1924: 135–139) auf Relativsätze bzw. -pronomen ein. Die aktuelle Minimalgrammatik Mittelniederdeutsch von Dietl (2002) entspricht dem Titel gemäß eher einer Überblicksdarstellung und enthält auf syntaktischer Ebene lediglich eine Liste verschiedener Haupt- und Nebensatzjunktoren sowie einen kurzen Absatz zur Negation, jedoch keinerlei Ausführungen zum Relativsatz. In einigen gegenwärtigen Einzeluntersuchungen zur mittelniederdeutschen Syntax wird der Relativsatz mit betrachtet. Tophinke (2009: 171–174) geht in einer ihrer Arbeiten zum syntaktischen Ausbau bzw. Wandel im Mittelniederdeutschen auch explizit auf attributive und freie Relativsätze, v. a. auf deren syntaktische Integration, ein. Wertvolle Hinweise zur syntaktischen Integration freier Relativsätze in mittelniederdeutschen Rechtstexten finden sich auch in Wallmeiers (2013: 113–114) Dissertation zu sprachlichen Mustern sowie in der Arbeit von Merten (2018: 304–312) zu Funktionswort-Konstruktionen. Eine umfassende Untersuchung zu einem Teilaspekt der mittelniederdeutschen Relativsätze liefert Farasyn (2017, 2018), die im Rahmen ihrer Dissertation zu Subjektkongruenz im Mittelniederdeutschen u. a. Kongruenzmuster in nicht-restriktiven Relativsätzen mit einem Personalpronomen der ersten oder zweiten Person in Funktion des Referenten im Matrixsatz untersucht. Farasyn stützt ihre Analysen auf Belege aus insgesamt 21 Texten zweier mittelniederdeutscher Korpora: des Referenzkorpus Mittelniederdeutsch / Niederrheinisch (1200–1650) und des Corpus of Historical Low German. Auf ihre Analysen wird in Kap. 4.4.3.2 dieser Arbeit genauer eingegangen.
3.2 Zielsetzung und Methode der Studie Wie der Überblick in Kap. 3.1 aufzeigt, stellt eine ausführliche Darstellung des Relativsatzes innerhalb der Forschung zur mittelniederdeutschen Syntax nach wie vor ein Desiderat dar, das mithilfe der vorliegenden Arbeit behoben werden soll. Das Ziel dieser Studie besteht darin, die Eigenschaften mittelniederdeutscher Relativsätze möglichst umfassend zu beschreiben. Im Rahmen der Analyse mittelniederdeutscher Relativsätze sollen u. a. die Fragen beantwortet werden, – welche Relativsatztypen in welcher Häufigkeit verwendet werden, – welche Formen der Relativsatzeinleiter vorkommen und in welchen syntaktischen Funktionen, – welche Merkmale die Wortstellung innerhalb der Relativsätze aufweist, – wie stark die syntaktische Integration des Relativsatzes in den Matrixsatz ist und – wie lang die Relativsätze sind, d. h., wie viele Wörter sie umfassen.
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3 Die korpuslinguistische Studie
Hinsichtlich des Vorkommens bestimmter Merkmale in verschiedenen Texten ist der übergeordneten Frage nachzugehen, ob die Parameter Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum einen Einfluss auf die Verteilung der strukturellen Merkmale des mittelniederdeutschen Relativsatzes haben. Eng an diese Ziele ist das methodische Vorgehen der Studie geknüpft. Es wurde ein möglichst induktives Vorgehen angestrebt und daher ein strikt deskriptiver Zugriff auf das Thema gewählt: Die strukturellen Merkmale des mittelniederdeutschen Relativsatzes und ihr Vorkommen in verschiedenen Texten sollen identifiziert und mit so wenig Vorannahmen wie möglich beschrieben werden. Dabei wird eine diasystematische Betrachtung vorgenommen, um den potentiellen Einfluss der Parameter Zeit, Textsorte und Raum zu prüfen. Unterscheidet sich z. B. der Gebrauch attributiver und freier Relativsätze in einem Stadtrecht von dem in Erzählungen? Finden sich in nordniedersächsischen Quellen andere Relativsatzeinleiter als in ostfälischen? Oder verändert sich im Lauf der Zeit der Grad der syntaktischen Integration des Relativsatzes in den Matrixsatz? Das Ziel, möglichst induktiv vorzugehen und das tatsächliche Vorkommen abzubilden, wird zudem durch den korpuslinguistischen Ansatz unterstützt: Die verschiedenen Forschungsfragen sollen mithilfe korpusbasierter Analysen beantwortet werden. Korpora sind für eine möglichst genaue und umfassende Beschreibung syntaktischer Phänomene in früheren Sprachstufen des Deutschen inzwischen unabdingbar. Bereits in älteren Arbeiten zur historischen Syntax wird z. T. auf Sprachdaten zugegriffen. Diese dienen i.d.R. jedoch lediglich dazu, bestimmte Phänomene durch Beispiele zu veranschaulichen bzw. die Analyse durch Beispiele zu stützen. Die historische Syntaxforschung arbeitete in der Vergangenheit vorwiegend qualitativ und lieferte keine Häufigkeiten (vgl. Fleischer 2011: 69). Zudem liegen älteren Studien i. d. R. Belegsammlungen zugrunde, bei denen es sich nicht um Korpora im Sinn der folgenden Definition von Lemnitzer & Zinsmeister (2015: 39) handelt: Ein Korpus ist eine Sammlung schriftlicher oder gesprochener Äußerungen in einer oder mehreren Sprachen. Die Daten des Korpus sind digitalisiert, d. h. auf Rechnern gespeichert und maschinenlesbar. Die Bestandteile des Korpus, die Texte oder Äußerungsfolgen, bestehen aus den Daten selber sowie möglicherweise aus Metadaten, die diese Daten beschreiben, und aus linguistischen Annotationen, die diesen Daten zugeordnet sind.
Die Korpuslinguistik erlebt in den letzten Jahren auch im Bereich der historischen Sprachforschung einen enormen Aufschwung. Das Bestreben, die tatsächlichen sprachlichen Gegebenheiten zu beschreiben, äußert sich in einer zunehmenden Anwendung korpuslinguistischer Methoden, z. B. auch im Bereich der Grammatikschreibung.133 Für das Deutsche ist bereits eine ganze Reihe historischer Korpora
133 Beispielhaft sei hier auf die im Entstehen befindliche mittelhochdeutsche Grammatik von Klein, Solms und Wegera verwiesen – erschienen sind bislang Teil III zur Wortbildung (Klein u. a. 2009) sowie Teil II (Klein u. a. 2018) zur Flexion –, die auf dem Bochumer Mittelhochdeutsch Korpus
3.3 Das Korpus
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entstanden oder befindet sich gegenwärtig im Aufbau.134 Diese Korpora bieten völlig neue Möglichkeiten für die historische Syntaxforschung: Zum einen erleichtern v. a. linguistisch annotierte Korpora das Suchen bestimmter Phänomene in einem großen Rahmen; zum anderen ermöglichen sie quantitative Auswertungen, die insbesondere in der historischen Sprachforschung von besonderer Bedeutung sind, „da auf diese Art und Weise bestimmte Wandelerscheinungen deutlicher heraustreten als bei einem rein qualitativen Vorgehen“ (Fleischer 2011: 69). In diesem Zusammenhang weist Fleischer (2011: 69) darauf hin, dass die zunehmende Berücksichtigung quantitativer Methoden zu einer „Neubewertung einer Konstruktion“ führen kann. Als Beispiel führt Fleischer (2011: 69–70) die sogenannte doppelte Negation an, die lange als typische Struktur der mittelhochdeutschen Verneinung angesehen wurde, bis eine quantitative Untersuchung von Jäger (2008: 121) gezeigt hat, dass sie nie die häufigste Variante innerhalb der Optionen zur Negation darstellte.135 Dies verdeutlicht, dass nur mithilfe einer korpusbasierten Untersuchung das Ziel dieser Arbeit, die Merkmale des mittelniederdeutschen Relativsatzes möglichst umfassend zu beschreiben und das tatsächliche Vorkommen dieser strukturellen Merkmale im Mittelniederdeutschen zu erfassen, umgesetzt werden kann. Die zugrunde liegenden Daten werden quantitativ-qualitativ ausgewertet: Die Angabe von Häufigkeiten wird das Vorkommen der einzelnen Merkmale und die Verteilung auf verschiedene Texte, Textsorten, Entstehungszeiten und Sprachräume abbilden. Zudem werden die Phänomene stets auch qualitativ anhand von Belegen aus den Quellen betrachtet. Der gewählte korpusbasierte Ansatz soll zudem ein möglichst induktives Vorgehen ermöglichen, das für eine Identifizierung und differenzierte Beschreibung der Merkmale des mittelniederdeutschen Relativsatzes zwingend notwendig ist.
3.3 Das Korpus 3.3.1 Gesamtkorpus und Teilkorpora Eines der in Kap. 3.2 erwähnten im Entstehen befindlichen Korpora stellt das Referenzkorpus Mittelniederdeutsch / Niederrheinisch (1200–1650) (im Folgenden ReN genannt) dar, das diplomatisch transkribierte und grammatisch annotierte Texte über das Such- und Visualisierungstool ANNIS (Krause & Zeldes 2016) zur Verfü-
basiert. Zu Herausforderungen und notwendigen Prinzipien einer korpusbasierten mittelhochdeutschen Grammatik s. Wegera (2000). 134 Einen guten Überblick zu linguistisch annotierten Korpora historischer Sprachstufen des Deutschen liefert Dipper (2015: 521–526). 135 Jäger (2008: 115, 120) zeigt in ihrer Untersuchung der ersten einhundert negierten Sätze dreier mittelhochdeutscher Texte, dass die doppelte Negation nur zu 4 % (Berthold) bis maximal 27 % (Lancelot) vertreten ist.
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3 Die korpuslinguistische Studie
gung stellt. Das Korpus enthält mittelniederdeutsche und niederrheinische Handschriften, Drucke und Inschriften in einer nach den Parametern Raum, Zeit und Feld der Schriftlichkeit strukturierten Auswahl (vgl. https://www.slm.uni-hamburg. de/ren.html).136 Ein so strukturiertes Korpus ist für Analysen der historischen Syntax besonders gut geeignet, da es ein ausgewogenes und nahezu vollständiges Bild der syntaktischen Gegebenheiten liefert137 und die Ergebnisse der Analysen im Korpus allgemeingültige Aussagen zulassen.138 Auf diese Weise liefert das ReN eine wichtige Grundlage für die Erarbeitung einer neuen wissenschaftlichen mittelniederdeutschen Grammatik (vgl. Schröder u. a. 2017: 43).139 Es bietet sich daher auch als Ausgangspunkt für Studien zum mittelniederdeutschen Relativsatz, die als Beitrag zu einer solchen Grammatik zu verstehen sind, an. Die in der vorliegenden Arbeit berücksichtigten Parameter Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum wurden zur Bildung der Teilkorpora herangezogen. Während zur Entstehungszeit keine weiteren Ausführungen notwendig sind, verdienen die anderen beiden Parameter an dieser Stelle eine kurze Erläuterung. Der Sprachraum des Mittelniederdeutschen gliedert sich nach Peters (2000a: 1480–1482) in die folgenden regionalen Schreibsprachen: Westfälisch, Ostfälisch, Nordniederdeutsch und Südmärkisch. Bei weiterer Differenzierung tritt zum Ostfälischen das Elbostfälische an der Elbe und der Saale hinzu (vgl. Peters 2000a: 1481); innerhalb des Nordniederdeutschen ist zwischen dem Nordniedersächsischen, dem Ostelbischen, wozu auch die lübische Schreibsprache zählt, dem Groningisch-Ostfriesischen und dem baltischen Mittelniederdeutsch zu unterscheiden (vgl. Peters 2000a: 1481–1482). Auf dieser Gliederung basiert im Wesentlichen auch die diatopische Strukturierung des ReN in Nordniedersächsisch, Lübisch, Westfälisch, Ostfälisch und Elbostfälisch auf dem
136 Weitere Informationen zum Korpusdesign finden sich auf der ReN-Webseite unter https:// www.slm.uni-hamburg.de/ren/korpus/korpusdesign.html sowie bei Peters & Nagel (2014). 137 Eine gewisse Einschränkung liegt insofern vor, als lediglich die geschriebene Sprache untersucht werden kann, da für das Mittelniederdeutsche – wie für andere historische Sprachstufen – Sprachdaten lediglich in Form schriftlicher Quellen vorliegen. 138 Eine strukturierte Textauswahl wurde in allen aus der ursprünglichen Initiative Deutsch Diachron Digital hervorgegangenen historischen Referenzkorpora (Altdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch, Mittelniederdeutsch / Niederrheinisch) vorgenommen: Das Korpus Altdeutsch enthält aufgrund der geringeren Überlieferungsmenge sogar sämtliche überlieferten althochdeutschen und altsächsischen Texte (https://www.deutschdiachrondigital.de/projekt/); die Referenzkorpora Frühneuhochdeutsch und Mittelniederdeutsch / Niederrheinisch haben Texte nach Raum, Zeit und Textsorte strukturiert aufgenommen (vgl. https://www.ruhr-uni-bochum.de/we gera/ref/korp_design.htm, https://www.slm.uni-hamburg.de/ren/korpus/korpusdesign.html). Das Referenzkorpus Mittelhochdeutsch enthält Texte verschiedener Korpora, von denen das Korpus der Mittelhochdeutschen Grammatik eine nach Raum, Zeit und Textsorte strukturierte Auswahl bietet (vgl. https://www.linguistics.rub.de/rem/corpus/index.html). 139 Zu den Möglichkeiten des ReN für die mittelniederdeutsche Grammatikographie s. Schröder (2014). Zu konkreten Nutzungsszenarien s. außerdem Barteld u. a. (2017).
3.3 Das Korpus
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Gebiet des sogenannten niederdeutschen Altlandes sowie Ostelbisch, Südmärkisch und baltisches Niederdeutsch im Bereich der hochmittelalterlichen Ostsiedlung (vgl. Barteld u. a. 2017: 227). Zusätzlich ist das ReN in verschiedene sogenannte „Felder der Schriftlichkeit“ (Peters & Nagel 2010: 15) gegliedert. Diese Terminologie wurde als „Beschreibungsebene oberhalb des Textsortenspektrums“ gewählt (Peters & Nagel 2014: 167). Der Begriff der „Textsorte“140 ist auf historische Texte aufgrund der zeitlichen Distanz weniger leicht anwendbar als auf gegenwartssprachliche (vgl. Meier & Möhn 2000: 1470). Für historische Texte, darunter auch mittelniederdeutsche, werden daher verschiedene Klassifizierungsversuche vorgenommen, die z. T. eine ganz unterschiedlich starke Differenzierung aufweisen.141 Eine feine Gliederung in Textsorten wie Stadtrechte, Erzählungen, Chroniken etc. ist aufgrund der Überlieferungslage in dieser Arbeit nur im Teilkorpus zur textsortenspezifischen Analyse (s. u.) anwendbar, nicht jedoch in den anderen Teilkorpora. In diesen wird daher die Großgliederung im ReN in verschiedene Felder der Schriftlichkeit zugrunde gelegt. Entsprechend den drei genannten Parametern, deren möglicher Einfluss in der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll, gliedert sich das Gesamtkorpus der Studie in drei Teilkorpora, in denen jeweils die beiden nicht relevanten Parameter möglichst konstant gehalten wurden. Das Teilkorpus für den diachronen Zugriff enthält nordniedersächsische Rechtstexte vom 13. bis zum 16. Jahrhundert (Tabelle 4). Tab. 4: Teilkorpus für den diachronen Zugriff. Entstehungszeit
Text
/ / –
Stader Stadtrecht Schiffsrecht aus dem Hamburger Stadtrecht Rotes Buch Bremer Stadtrecht Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts Otterndorfer Statuten Rechtsbuch des Alten Landes
140 Nach Brinker u. a. (2014: 139) werden „Textsorten“ definiert als „konventionell geltende Muster für komplexe sprachliche Handlungen und lassen sich als jeweils typische Verbindungen von kontextuellen (situativen), kommunikativ-funktionalen und strukturellen (grammatischen und thematischen) Merkmalen beschreiben“. 141 Zu den Klassifizierungen mittelniederdeutscher Texte von Hyldgaard-Jensen (1985), SchmidtWiegand (1989) und Meier & Möhn (2000), die in diesem Rahmen nicht näher beschrieben werden können, s. die Zusammenfassung bei Mähl (2014: 21–22).
88
3 Die korpuslinguistische Studie
Für das Teilkorpus zur textsortenspezifischen Analyse wurden um 1500 entstandene nordniedersächsische Texte verschiedener Textsorten und damit auch Textgruppen ausgewählt (Tabelle 5).142 In den Analysen wird auf die jeweilige Textsorte statt auf die übergeordnete Gruppe Bezug genommen, da davon auszugehen ist, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Textsorten derselben Textgruppe (z. B. zwischen den Textsorten Stadtrecht und Zunftordnung innerhalb der Textgruppe Rechtstext) bestehen und der ausgewählte Text weniger stellvertretend für die Textgruppe als vielmehr für die entsprechende Textsorte steht. Verstexte wurden ausgeschlossen, da sie sich aufgrund des Einflusses des Verses auf Wortfolge und -formen für syntaktische Untersuchungen weniger eignen.
Tab. 5: Teilkorpus für den textsortenspezifischen Zugriff. Textsorte / -gruppe
Text
Bibeltext / Religiöse Texte Stadtrecht / Rechtstexte Erzählungen / Literarische Texte
Buxtehuder Evangeliar (Joh), um Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts, Griseldis / Sigismunda und Guiscardus, Veer Koeplude, Lüneburger Liber Memorialis, – Urkunden aus Bremen, – Urkunden aus Hamburg, –
Stadtbuch / Verwaltungstexte Urkunden / Urkunden
Das Teilkorpus für die diatopische Betrachtung schließlich umfasst einerseits nordniedersächsische und andererseits ostfälische Rechtstexte, die jeweils um 1300 entstanden sind (Tabelle 6).143 In den Teilkorpora für den diachronen und diatopischen Zugriff musste, wie oben erwähnt, als einer der konstanten Parameter die Textgruppe der Rechtstexte zugrunde gelegt werden, da nicht genügend Texte derselben Textsorte zur Verfügung
142 Wenngleich bei der Textauswahl versucht wurde, möglichst verschiedene Textsorten aufzunehmen, kann das Teilkorpus nicht das gesamte Textsortenspektrum des Mittelniederdeutschen abbilden. 143 Zum Umfang der Texte sei angemerkt, dass nicht alle Quellen vollständig aufgenommen wurden, da sich das ReN bei längeren Texten auf maximal ca. 20.000 Worteinheiten beschränkt. Genaue Angaben zu den im ReN ausgewählten Textabschnitten finden sich in den Metadaten des Korpus ReN 0.7 in ANNIS (PID: http://hdl.handle.net/11022/0000-0007-CA03-2). Zum Umfang der in dieser Arbeit verwendeten Texte s. Kap. 3.3.2, 3.3.3 und 3.3.4. Zur Nutzung des ReN in ANNIS s. Barteld u. a. (2018b). Die Textauswahl ist vom Umfang der einzelnen Quellen, der sich z. T. sehr stark unterscheidet, abhängig. Da die nordniedersächsischen Erzählungen um 1500 verhältnismäßig kurz sind, wurden statt nur eines Textes zwei ausgewählt. Einige der zur Verfügung stehenden ostfälischen Rechtstexte um 1300 sind ebenfalls sehr kurz, weshalb insgesamt vier Texte aufgenommen wurden, um eine annähernd vergleichbare Datenbasis zu erhalten.
3.3 Das Korpus
89
Tab. 6: Teilkorpus für den diatopischen Zugriff. Sprachraum
Text
nordniedersächsisch
Stader Stadtrecht, Schiffsrecht aus dem Hamburger Stadtrecht Rotes Buch, / Hildesheimer Stadtrecht, um Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt, Goslarer Kramerrecht, Braunschweiger Sachsenspiegelfragmente, . H. . Jh.
ostfälisch
standen; im Teilkorpus zur textsortenspezifischen Betrachtung wiederum finden sich Texte verschiedener Textsorten und damit auch unterschiedlicher Textgruppen. Wie Tabelle 4 bis Tabelle 6 zeigen, sind einige Texte in mehreren Teilkorpora vertreten. Insgesamt enthält das Korpus für die Studien zum mittelniederdeutschen Relativsatz sechzehn Quellen, von denen zwölf aus dem ReN stammen. Bei den Hamburger und Bremer Urkunden konnte nicht auf die Texte im ReN, die wiederum aus dem Korpus für den Atlas spätmittelalterlicher Schreibsprachen des niederdeutschen Altlandes und angrenzender Gebiete (im Folgenden ASnA genannt) entnommen wurden,144 zurückgegriffen werden, da das ReN eine strukturierte Auswahl an Urkunden aus Bremen und Hamburg von 1301 bis 1500 enthält, hingegen für das hier verwendete Korpus zur textsortenspezifischen Betrachtung möglichst viele Urkunden um 1500 benötigt wurden. Aus diesem Grund wurden für die vorliegende Studie Urkunden des ASnA von 1491 bis 1500 ins Korpus aufgenommen.145 Auch im Teilkorpus für den diachronen Zugriff musste auf Quellen außerhalb des ReN zurückgegriffen werden, da das ReN keine nordniedersächsischen Rechtstexte aus dem 16. Jahrhundert enthält. Als Ergänzung wurden die Otterndorfer Statuten auf Basis der Edition von Dettmer (1973: 318–330) und das Rechtsbuch des Alten Landes nach der Edition von Krause (1882: 10–72) ausgewählt.146 Auf die einzelnen Texte des Untersuchungskorpus soll im folgenden Kapitel in kurzer Form eingegangen werden.
144 Informationen zum ASnA finden sich bei Peters & Fischer (2007). 145 Ein herzlicher Dank geht an Dr. Robert Peters, der die ASnA-Transkripte der Bremer und Hamburger Urkunden für diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat. 146 Die zusätzlich aufgenommenen Urkunden sowie die beiden Rechtstexte wurden nicht nach den Konventionen des ReN transkribiert und vollständig grammatisch annotiert, da dies für die spätere Analyse der Relativsätze nicht notwendig war. Stattdessen wurden die Texte mit Annotationen zur Markierung der Relativsätze versehen (s. Kap. 3.4.1).
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3 Die korpuslinguistische Studie
3.3.2 Zu den Texten des diachronen Teilkorpus 3.3.2.1 Einführende Hinweise zur Problematik der Abhängigkeiten bei Rechtstexten Beim Umgang mit mittelalterlichen Rechtstexten ist zu berücksichtigen, dass bestimmte Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Texten bestehen können: zum einen zwischen Stadtrechten unterschiedlicher Städte, zum anderen zwischen Stadtrechtsquellen einer Stadt, die verschiedenen Entstehungszeiten zuzuordnen sind. Das Hamburger Stadtrecht von 1270 bspw. fand in unterschiedlichem Ausmaß Eingang in die Stadtrechte anderer Städte wie Stade und Bremen (vgl. Lappenberg 1966: LXXVI– LXXX). Aus diesem Grund sind die im diachronen Teilkorpus verwendeten Stadtrechte von Stade und Bremen nicht nur inhaltlich, sondern vermutlich auch sprachlich zu einem gewissen Grad durch die Hamburger Vorlage beeinflusst. Auch die Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497 basiert inhaltlich zu einem wesentlichen Teil auf dem älteren Hamburger Stadtrecht von 1270. Sofern bestimmte Abschnitte der Vorlage wortgetreu übernommen wurden, ist die später niedergeschriebene Quelle auch sprachlich durch die früher entstandene beeinflusst und könnte daher einen vergleichsweise älteren Sprachstand aufweisen. In den folgenden Kapiteln wird für die genannten Korpustexte aufgeführt, in welchem Umfang Textmaterial aus dem Hamburger Stadtrecht von 1270 übernommen wurde. In den späteren Analysen wird – v. a. bei der Frage des potentiellen Einflusses von Entstehungszeit, Sprachraum und Textsorte auf die Strukturen des mittelniederdeutschen Relativsatzes – die Abhängigkeit von der älteren Vorlage stets mit berücksichtigt. 3.3.2.2 Schiffsrecht des Hamburger Stadtrechts von 1301 / 06 (Hamb. SchiffsR) Bevor genauere Angaben zum Schiffsrecht147 möglich sind, muss auf die ersten Stadtrechtskodifikationen der Stadt Hamburg und ihr Verhältnis zueinander eingegangen werden. Das älteste Stadtrecht stellt das sogenannte Ordeelbook von 1270 dar, dessen Originalhandschrift verlorengegangen ist (vgl. Reincke 1917a: 22).148 Als Vorlage für das Ordeelbook diente eine ganze Reihe verschiedener Rechtstexte: Neben dem Landrecht des Sachsenspiegels Eikes von Repgow, mit dem laut Eichler (2005: 15, Anm. 41)
147 In Klammern werden in den Überschriften die Kurzsiglen der Texte angegeben, wie sie im Folgenden der Arbeit verwendet werden. 148 Da das spätere Stadtrecht, das Rote Buch, wie Reincke (1917a: 22) ausführt, mindestens seit der Mitte des 14. Jahrhunderts vom Rat als Stadtbuch verwendet wurde, war das Ordeelbook vermutlich schon damals nicht mehr vorhanden. Zur Geschichte der Rechtsschriftlichkeit in Hamburg sei auf Eichler (2005: 10–11) verwiesen, der dem Proömium des Ordeelbooks entnimmt, „dass Rat und Bürgermeister als Institutionen zu diesem Zeitpunkt bereits bestanden“ und folglich auch eine Rechtsordnung besessen haben müssen. Da jegliche Überlieferung fehlt, ist jedoch unklar, ob ein solches Recht bereits verschriftlicht worden war und wenn ja, ob in lateinischer oder niederdeutscher Sprache (vgl. Eichler 2005: 10–11).
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61 der insgesamt 168 Artikel des Ordeelbooks eine Übereinstimmung aufweisen, hat der Verfasser auch städtische Übereinkünfte, das schleswigsche Stadtrecht, das Gesetz Mosis sowie römisches Recht einbezogen (vgl. Reincke 1928: 225–226). Im Jahr 1301 entstand mit dem sogenannten Roten Buch eine Neufassung des Hamburger Stadtrechts, die jedoch nicht mit wesentlichen inhaltlichen Veränderungen einherging: Neben formalen Abweichungen die Reihenfolge und Gliederung der Artikel betreffend finden sich zusätzlich zu sämtlichen Artikeln des Ordeelbooks lediglich einige aus der Rechtspraxis notwendig gewordene Ergänzungen wieder (vgl. Eichler 2005: 29–30). Eichler (2005: 32) formuliert daher, „dass das Stadtrecht von 1301 keine bedeutsame Revision war, sondern eine geordnete Aufzeichnung der geltenden Fassung des Stadtrechts unter Berücksichtigung aller Änderungen und Nachträge seit dem Inkrafttreten des Ordeelbook im Jahre 1270“. Die besondere Bedeutung des Roten Buchs ist v. a. darin zu sehen, dass es die älteste im Original erhaltene Handschrift hamburgischen Stadtrechts darstellt (vgl. Eichler 2005: 29).149 Das Schiffsrecht findet sich noch nicht im Ordeelbook von 1270, sondern erst im Roten Buch von 1301 / 06, allerdings nicht als Teil des eigentlichen Stadtrechts, sondern an dessen Ende angefügt (vgl. Eichler 2005: 24).150 Die Bearbeitung wurde im Jahr 1301 begonnen und 1306 abgeschlossen (vgl. Reincke 1928: 245). Im ReN wurde das Schiffsrecht von 1301 daher auch als eigenständiger Text und nicht als Bestandteil des Stadtrechts von 1301 aufgenommen. Es wurde vollständig erfasst und enthält laut Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS insgesamt 3.659 Token, darunter 2.946 mittelniederdeutsche Wörter.151 3.3.2.3 Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497 (Hamb. StR) Bei der ins Korpus aufgenommenen Bilderhandschrift handelt es sich um eine von mehreren Überlieferungsquellen der zweiten Revision des Hamburger Stadtrechts aus dem Jahr 1497.152 Der Verfasser dieses Stadtrechts, Bürgermeister Hermann Lan-
149 Die Originalhandschrift befindet sich im Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg unter der Signatur „Senat Cl VII Lit. L a Nr. 2 Vol. 1 b“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. Eine Edition liefert Lappenberg (1966: 75–86). 150 Reincke (1939: 167) zeigt allerdings, dass bestimmte Teile des Schiffsrechts schon im Jahr 1270 vorhanden gewesen sein müssen. Lappenberg (1966: CXXXVII) führt sogar an, dass „ein Schreiben des Rathes zu Hamburg an den zu Lübeck, welches nach den darin genannten Lübecker Rathmannen in die Jahre 1256 bis 1261 zu setzen ist, und vom Hamburger Schiffrechte handelt, beweiset, dass es älter ist als das Jahr 1270“. Allerdings seien zum späteren Schiffsrecht hin einige Veränderungen, z. B. Präzisierungen, vorgenommen worden (vgl. Lappenberg 1966: CXL). 151 Für die Angabe der mittelniederdeutschen Wörter wurden von der Gesamtzahl der Token die Summen der Token für fremdsprachliches Material, nicht annotierte Worteinheiten (z. B. aufgrund von Schreiberfehlern), Zahlen und Interpunktionszeichen subtrahiert. 152 Einen Überblick zu den Handschriften liefert Lappenberg (1966: CXVIII–CXXIV). Wann genau die hier verwendete Bilderhandschrift fertiggestellt wurde, ist nicht bekannt, laut Reincke (1968: 148) muss sie aber vor dem Jahr 1503 begonnen worden sein. Binder (1988: 99) hin-
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genbeck, hat darin die Artikel des älteren hamburgischen Rechts vollkommen neu angeordnet und sie in insgesamt fünfzehn Stücke gegliedert; dabei blieb die Substanz des Hamburger Stadtrechts erhalten, es wurden jedoch einige Bestimmungen präzisiert (vgl. Eichler 2005: 34). Den Artikeln des eigentlichen Stadtrechts gehen eine umfangreiche Vorrede, der Ratseid, ein allgemeines Inhaltsverzeichnis, das Register des Stadtrechts sowie eine Anweisung für die Eintragung von Veränderungen voran (vgl. Reincke 1917a: 27–28). Insgesamt betrachtet stellt das Stadtrecht von 1497 laut Eichler (2005: 37) „eine verbesserte, modernisierte Fassung des Roten Stadtbuches bzw. des Ordeelbook“ dar. Zusätze späterer Hände finden sich Reincke (1917a: 28) zufolge kaum im Text: Lediglich der Ratseid enthält Änderungen aus dem 16. Jahrhundert. Langenbeck hat zusätzlich zum Stadtrecht von 1497 auch eine Glosse, die sogenannte Langenbecksche Glosse, verfasst, die in zahlreichen Handschriften überliefert ist.153 Da die Revision wesentlich auf dem Hamburger Ordeelbook von 1270 basiert, ist es möglich, dass der Text dieser Vorlage nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich ähnelt und daher einen vergleichsweise älteren Sprachstand abbildet. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass eine Angleichung an den Sprachstand der Entstehungszeit vorgenommen wurde. Diese Überlegungen werden in der späteren Analyse zu berücksichtigen sein. Das ReN hat als Quelle der Stadtrechtsrevision von 1497 die Bilderhandschrift zugrunde gelegt,154 die „wegen ihrer prachtvollen Ausführung mit Deckfarbenmalereien als die Originalhandschrift des um 1500 neu gestalteten Hamburger Stadtrechts und als Ratsexemplar angesehen“ wird (Binder 1988: 94).155 Die insgesamt 604 Seiten umfassende Bilderhandschrift wurde im ReN in einem Ausschnitt (Bl. 1r–8r, 50r–267r) aufgenommen; das Schiffsrecht wurde nicht erfasst. Insgesamt umfasst der Textausschnitt laut Metadaten des ReN156 24.566 Token, davon 21.044 mittelniederdeutsche Wörter.
gegen gibt an, die Handschrift sei „wahrscheinlich zwischen 1503 / 06 und 1511 entstanden“. In dieser Arbeit wird den Angaben im ReN folgend für die Datierung 1497 als das Jahr der Beschlussfassung zur Stadtrechtsreform herangezogen (vgl. Reincke 1968: 148). 153 Ausführlicher zur Langenbeckschen Glosse s. Lappenberg (1966: CXXIV–CXXXVII). 154 Die Originalhandschrift liegt im Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg unter der Signatur „Senat Cl VII. Lit. L a Nr. 2 Vol. 1 c“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. Eine Edition des Stadtrechts von 1497 liefern Lappenberg (1966: 165–320) (mit Auszügen aus der Langenbeckschen Glosse) sowie Reincke (1917b, 1968: 11–134). 155 Eine Beschreibung der Bilderhandschrift von 1497 findet sich bei Lappenberg (1966: CXVIII– CXIX). 156 Zum Zeitpunkt der Analysen für diese Arbeit war der Text noch nicht in ANNIS veröffentlicht; die Angaben stammen aus den Metadaten des erst später publizierten ReN 1.0 (PID: http://hdl. handle.net/11022/0000-0007-D829-8).
3.3 Das Korpus
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3.3.2.4 Stader Stadtrecht von 1279 (Stader StR) Das hamburgische Stadtrecht von 1270 wurde in Stadtrechte verschiedener Städte übernommen (vgl. Lappenberg 1966: LXXVI–LXXXIII), darunter in das Stader Stadtrecht, eine Handschrift aus dem Jahr 1279 aus Stade.157 Als „unmittelbare Vorlage“ nennt Korlén (1950: 16) eine „Rechtsmitteilung, die von Hamburg aus in der Form einer Abschrift des Ördelboks vorauszusetzen ist“. Allerdings wurden Korlén (1950: 16) zufolge für Stade aus dem hamburgischen Stadtrecht von 1270 insgesamt 23 Artikel getilgt. Andererseits enthält das Stader Stadtrecht drei Artikel, die nicht auf dem Ordeelbook basieren (vgl. Korlén 1950: 16–17).158 Hinzu kommen spätere Ergänzungen, darunter die Verordnung über vlotvöricheit sowie Burspraken aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts (vgl. Korlén 1950: 13). Am Ende eines jeden Kapitels freigelassene Blätter wurden z. T. mit Nachträgen gefüllt, die etwa aus der Zeit von 1300 bis 1500 stammen (vgl. Korlén 1950: 13). Der im ReN erfasste Text des Stader Stadtrechts enthält von den insgesamt 112 Blättern der Handschrift (vgl. Korlén 1950: 13) einen Auszug (Bl. 14v–106r), der bis auf das Register den gesamten Inhalt umfasst. Insgesamt liegen damit laut Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS 19.216 Token, davon 16.317 mittelniederdeutsche Wörter, zugrunde. 3.3.2.5 Bremer Stadtrecht von 1303 / 04–1424 (Bremer StR) Nicht nur auf das oben beschriebene Stader Stadtrecht, sondern auch auf das Stadtrecht von Bremen hatte das Hamburger Ordeelbook einen erheblichen Einfluss. In das Bremer Stadtrecht von 1303 / 04 wurde eine geschlossene Gruppe von insgesamt 45 Artikeln aus dem Ordeelbook beinah wörtlich übernommen (vgl. Haase 1953: 63, Eckhardt 1931: 17). Insgesamt aber, so Haase (1953: 65) „überwiegt das eigengeprägte Bremer Recht bei weitem die aus Hamburg eingeführten Rechtssätze“. Aus diesem Grund ist beim Bremer Stadtrecht insgesamt eine geringere sprachliche Beeinflussung durch das Ordeelbook von 1270 als bei der Hamburger Revision von 1497 zu erwarten. Erst die Analysen in Kap. 4 werden zeigen können, wie nah tatsächlich beide Texte auf sprachlicher Ebene der Vorlage sind. Eckhardt (1931: 23–24) weist in der Originalhandschrift des Bremer Stadtrechts von 1303 / 04 verschiedene Schreibschichten nach: einen Altbestand mit Eintragungen vor 1330, eine mittlere Novellenschicht, die Nachtragungen zwischen 1330 und 1349 enthält, und eine jüngste Schicht mit Novellen von 1349 bis 1416. Laut Elmshäuser (2003: 75) reichen die Nachträge insgesamt bis in das Jahr 1424. Die Novel-
157 Die Originalhandschrift befindet sich im Stadtarchiv Stade unter der Signatur „Hs. St. St. I“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. Eine Edition findet sich bei Korlén (1950: 61–117). 158 Ein genaue Gegenüberstellung der Artikel im Hamburger Ordeelbook und im Stader Stadtrecht in Form einer Konkordanztafel liefert Korlén (1950: 17–18).
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len wurden an freien Stellen in der Handschrift nachgetragen, z. T. erst Jahrzehnte nach deren Entstehung, was ihre Datierung erheblich erschwert (vgl. Eckhardt 1931: 18–19). Im ReN wurde von der insgesamt 108 Blätter umfassenden Handschrift des Bremer Stadtrechts von 1303 / 04159 ein Auszug (Bl. 9v–59r) aufgenommen, der laut Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS insgesamt 26.322 Token, darunter 23.323 mittelniederdeutsche Wörter, umfasst. 3.3.2.6 Otterndorfer Statuten von 1541 (Otternd. St.) Zu den oben beschriebenen Stadtrechten, die auf Basis der ReN-Texte ins Korpus aufgenommen wurden, kommen zwei spätere Rechtstexte hinzu. Zu diesen zählen die Otterndorfer Statuten, eine Stadtrechtshandschrift aus dem Jahr 1541.160 Das Strafrecht der Otterndorfer Statuten ist, wie Dettmer (1973: 298–299) zeigt, stark von ostfälisch-sächsischem Recht beeinflusst. Durch seine Nähe v. a. zum ostfälischen Sachsenspiegel und zum sächsischen Weichbildrecht unterscheidet es sich inhaltlich z. B. vom ebenfalls auf sächsischem Recht basierenden Stader Stadtrecht von 1279 (vgl. Dettmer 1973: 299).161 Für das Korpus dieser Arbeit wurde der Text der Otterndorfer Statuten nach der Edition von Dettmer (1973: 318–330) übernommen.162 Die Statuten enthalten nach einer Einleitung insgesamt achtzehn Artikel und sind damit deutlich kürzer als die Stadtrechte von Hamburg, Stade und Bremen. Insgesamt liegen ca. 4.700 Textwörter nach der Edition zugrunde.
159 Die Originalhandschrift befindet sich im Staatsarchiv Bremen unter der Signatur „2-P.5.b.2. a.1“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. Eine Edition findet sich bei Eckhardt (1931: 29–120). 160 Die Originalhandschrift befindet sich im Archiv des Landkreises Cuxhaven unter der Signatur „KreisA CUX Mag. Ott. AR 0060“ (https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction.ac tion?detailid=v6050954). 161 Von 1400 bis 1481 galt in Otterndorf das Stader Stadtrecht, ab 1481 das Sachsenspiegelrecht des Landes Sadelbande und der Vogtei Lauenburg und ab 1541 mit den Otterndorfer Statuten das sächsische Weichbildrecht (vgl. Dettmer 1973: 44). 162 Dettmer (1973: 318) hat die Statuten wörtlich und möglichst buchstabengetreu nach der Originalurkunde wiedergegeben; den Absätzen innerhalb eines jeden Artikels hat er Nummerierungen zugefügt; Groß- und Kleinschreibung richten sich nicht nach dem Original, die Großschreibung wurde am Satzanfang sowie bei Personen- und Ortsnamen, Monats- und Festbezeichnungen, dem Wort Gott und dafür stehenden Beschreibungen verwendet; Interpunktionszeichen sind nach modernen Regeln gesetzt, Sätze beginnen nur mit den Absätzen der Artikel, innerhalb der Artikel werden Kommata und Semikola verwendet.
3.3 Das Korpus
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3.3.2.7 Rechtsbuch des Alten Landes von 1580 (Alt. Land Rechtsb.) Um für die diachrone Betrachtung eine ausreichend große Datengrundlage auch für die späteren Entstehungszeiten zu erhalten, wurde ein weiterer nordniedersächsischer Rechtstext aus dem 16. Jahrhundert aufgenommen: das Rechtsbuch des Alten Landes.163 Krause (1882: 4–5) beschreibt als Basis seiner Edition zwei Handschriften: Die ältere Handschrift A wurde im Jahr 1580 von Nicolaus Elerdes geschrieben und enthält u. a. das Landrecht von 1517 sowie Findungen von 1550 bis 1575. Die jüngere Handschrift B wurde vor 1634 geschrieben und weist zahlreiche hochdeutsche Formen sowie Mischformen auf. Auch sie enthält u. a. das Landrecht von 1517 sowie verschiedene Findungen.164 In seiner Edition hat Krause (1882: 7) „das Rechtsbuch selbst“ aufgenommen und dabei die hochdeutschen Teile der Handschrift B nicht berücksichtigt. Zur Fassung und zum Inhalt seiner Edition vermerkt Krause (1882: 8): Ich stelle aus den mir vorliegenden Recensionen die erreichbar älteste Fassung her, ohne etwas zu neuern. Daran schließe ich, der Anordnung von A folgend, die Anleitungen zum praktischen Verfahren in concreten Beispielen und Vorschriften, an richtiger Stelle aus B einschaltend, natürlich mit Nachweis, was mehr geboten ist; endlich die Ordele und Findungen in ähnlicher Weise.
Die Überschriften sowie die Nummerierung der Abschnitte hat Krause (1882: 9–10) hinzugefügt; die Orthographie wurde teilweise angepasst; die in den jüngeren Teilen vorkommenden hochdeutschen Formen wurden allerdings beibehalten. Da die Edition im Wesentlichen auf der Handschrift A basiert und nur in sehr beschränktem Umfang Ergänzungen aus der jüngeren Handschrift B enthält,165 wird als Entstehungsdatum 1580 angesetzt. Für das Korpus wurde der Text nach der Edition von Krause (1882: 10–72) bis zum Abschnitt „Wo de Wuntbroke und ander schaden geachtet werden“ aufgenommen. Die wenigen noch folgenden Abschnitte wurden, da sie größtenteils hochdeutsch sind, nicht mehr berücksichtigt. Insgesamt liegen für das Rechtsbuch des Alten Landes damit ca. 15.700 Textwörter zugrunde.
163 Die Bezeichnung „Altes Land“ umfasst das Marschland südlich der Elbe von Harburg bis zur Flussmündung und von Moorburg bis zur Schwinge (vgl. Furcht 1934: 7). 164 Die Originale der Handschriften A und B befinden sich im Niedersächsischen Landesarchiv Stade, Handschrift A unter der Signatur „NLA ST Dep. 10 Nr. 00238“ (https://www.arcinsys.nieder sachsen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v1128845), Handschrift B unter der Signatur „NLA ST Dep. 10 Nr. 00239“ (https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction.action? detailid=v1128841). 165 Hierzu zählen neben wenigen kleineren Abschnitten v. a. das Ordel des Obersten Deichgerichtes von 1571, die Lehnrechts-Ordele zum Jorke von 1599 sowie der Abschnitt „Wo de Wuntbroke und ander schaden geachtet werden“.
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3 Die korpuslinguistische Studie
3.3.3 Zu den Texten des textsortenspezifischen Teilkorpus 3.3.3.1 Buxtehuder Evangeliar, Johannesevangelium (Buxteh. Ev.) Neben den zahlreichen Rechtstexten für die diachrone Betrachtung wurde für den textsortenspezifischen Zugriff eine Reihe nordniedersächsischer Texte verschiedener Textsorten ins Korpus aufgenommen. Hierzu zählt als Bibeltext das Buxtehuder Evangeliar, eine um 1480 möglicherweise im Alten Kloster vor Buxtehude entstandene Evangelienhandschrift (vgl. Utermöhlen 1992: 21, Schröder 1992a: 45).166 Diese enthält die vier Evangelien in mittelniederdeutscher Sprache in nahezu vollständiger Form: Lediglich die ersten siebzehn Verse des Matthäus-Evangeliums auf dem heute nicht mehr vorhandenen ersten Blatt fehlen (vgl. Schröder 1992a: 45).167 Schröder (1992a: 50–51) zeigt, dass der Text keine unmittelbare Übersetzung der lateinischen Vulgata darstellt, sondern als Zwischenstufe eine volkssprachliche Vorlage gehabt haben muss, die allerdings nicht bekannt ist. Auf einen möglichen Einfluss der ursprünglichen lateinischen Vorlage wird in Kap. 5.2.2.2 dieser Arbeit einzugehen sein. Das ReN enthält aus der Buxtehuder Evangelienhandschrift das vollständige Johannesevangelium (Bl. 1–157 von insgesamt 321 Blättern). Insgesamt umfasst der Text laut Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS 19.644 Token, davon 18.242 mittelniederdeutsche Wörter. 3.3.3.2 Bilderhandschrift des Hamburger Stadtrechts von 1497 (Hamb. StR) S. die Ausführungen in Kap. 3.3.2.3. 3.3.3.3 Griseldis / Sigismunda und Guiscardus (Gris. / Sig.) Aus dem Bereich der literarischen Texte wurden für das Korpus die Erzählungen Griseldis und Sigismunda und Guiscardus168 ausgewählt, die gemeinsam in einem Hamburger Druck aus dem Jahr 1502 überliefert sind (vgl. Lange 1909: 21).169 Es handelt sich nicht um genuin mittelniederdeutsche Texte, denn beide Erzählungen stammen ursprünglich aus Boccaccios Decamerone (vgl. Gotzkowsky 1991: 204, 222). Die Übersetzung der Griseldis aus dem Italienischen ins Lateinische von Petrarca
166 Das Original der Handschrift befindet sich in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen unter der Signatur „Thott 8, 8°“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. 167 Zu weiteren kleineren Auslassungen s. Schröder (1992a: 45). 168 Die vollständigen Titel der Erzählungen lauten „De historie van der duldicheyt der vrowen geheten Griseldis“ und „Uan sigismunda Des vorsten dochter van Salernia Unde van deme iungelinge Gwiscardo“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. 169 Das Original befindet sich in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen unter der Signatur „77 / 1–12, 4°“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. Eine Edition liefert Langhanke (2005: 135–162).
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wurde zur Grundlage weiterer Bearbeitungen und Übertragungen, hierunter auch die 1461 / 62 entstandene und 1471 erschienene frühneuhochdeutsche Fassung Steinhöwels (vgl. Gotzkowsky 1991: 204). Langhanke (2005: 51) fasst auf Basis der Forschung der 1920 / 30er Jahre zu mittelniederdeutschen Volksbüchern170 in Bezug auf die Sprache der Griseldis zusammen, „dass die mittelniederdeutsche Fassung eine wortgenaue Übersetzung der ‚Griseldis‘-Novelle in der oberdeutschen Fassung von Heinrich Steinhöwel ist, so dass Syntax und Grammatik also hochdeutsch geprägt sind“. Auch die Erzählung Sigismunda und Guiscardus wurde zunächst ins Lateinische und anschließend von Niklas Wyle ins Deutsche übersetzt (vgl. Gotzkowsky 1991: 222); auch hier diente der hochdeutsche Text als Vorlage für den mittelniederdeutschen. Im Gegensatz zur reinen Übersetzung der Griseldis liegt bei Sigismunda und Guiscardus eine niederdeutsche Fassung mit stärkerer „Selbständigkeit der Textgestaltung in formaler und inhaltlicher Hinsicht“ (Kilian 1936: 68) vor.171 Der Einfluss des Hochdeutschen auf die Erzählungen wird in Kap. 5.2.2.1 dieser Arbeit thematisiert. In das ReN wurden beide Erzählungen nahezu vollständig aufgenommen, mit Ausnahme der Blätter 6 und 7, die im zugrunde gelegten Original fehlen (vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS). Insgesamt enthält der vom ReN erfasste Text laut Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS 9.057 Token, davon 8.796 mittelniederdeutsche Wörter. 3.3.3.4 Veer Koeplude (Veer Koepl.) Da die Erzählungen Griseldis und Sigismunda und Guiscardus im Vergleich zu den meisten übrigen nordniedersächsischen Korpustexten verhältnismäßig kurz sind, wurde für den Bereich der Literatur eine weitere Quelle aufgenommen: die Erzählung der Veer Koeplude,172 ein Hamburger Druck aus dem Jahr 1510 (vgl. Collijn 1909: 12).173 Auch hier liegt ursprünglich eine Novelle Boccaccios zugrunde, d. h., es handelt sich bei dem niederdeutschen Text um eine Übersetzung oder Bearbeitung (vgl. Collijn 1909: 12). Die Historie von den vier Kaufleuten ist Raith (1936: 28–29)
170 S. zum einen Kilian (1936: 69), der konstatiert, dass „[d]ie Griseldis [. . .] eine wörtliche und vollkommen unveränderte Fassung ihrer hochdeutschen Vorlage dar[stellt]“, zum anderen Siggelkow (1929: 78), der zusammenfasst, dass die mittelniederdeutsche Übersetzung der Griseldis „bis in Einzelheiten von Wortlaut und Satzbau ihrer Vorlage“ folgt. 171 Vgl. auch Beckers (1977: 48), demzufolge es sich bei Sigismunda und Guiscardus um eine „überdurchschnittlich selbständige stilistische und kompositorische Umgestaltung der hochdt. Vorlage durch den niederdt. Bearbeiter“ handelt. 172 Der vollständige Titel lautet „Eyne schone Historie van veer koepluden . vnde eyner thuchtigen vramen vrouwen“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. 173 Das Original befindet sich in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg unter der Signatur „Scrin A / 226“, vgl. die Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS. Eine Edition liefert Raith (1936: 65–79).
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zufolge in drei niederdeutschen und zwei hochdeutschen Drucken sowie einer niederländischen Fassung überliefert. Der Bewertung von Mechel (1914: 7), der Nürnberger Druck von 1484 sei „vermutlich das hochdeutsche Original und somit der Ausgangspunkt für alle weiteren Ausgaben“, widerspricht Raith (1936: 28) entschieden und stellt im Ergebnis eines Vergleichs der Drucke fest: Keiner der überlieferten Drucke repräsentiert die ursprüngliche Fassung (am ehesten vielleicht noch das Magdeburger Fragment). Wir können uns aber mit Hilfe der ndl. Übersetzung (und der Boccaccio-Novelle) ein ungefähres Bild davon machen. Sie war ebenso ausführlich wie die nd. Fassung: die hd. Fassung macht durchaus den Eindruck einer gekürzten Ausgabe [. . .]. Damit ist indes über den Sprachtypus der ursprünglichen Fassung noch nichts ausgesagt; denn es kann ebensogut die nd. Fassung auf einer ausführlichen hd. Fassung beruhen, von der uns zufällig nur eine gekürzte Bearbeitung überliefert ist. (Raith 1936: 34)
Es kann nur vermutet werden, dass die verschiedenen Drucke einander beeinflusst haben (vgl. Raith 1936: 30), das genaue Verhältnis der hoch- und niederdeutschen Drucke zueinander ist jedoch nicht eindeutig bestimmbar (vgl. Raith 1936: 35). Zur möglichen Abhängigkeit des niederdeutschen Textes vom hochdeutschen hält Beckers (1977: 49) fest, dass die Erzählung der Veer Koeplude „freier und selbständiger behandelt ist als im Falle der Griseldis“ und dass sich der niederdeutsche Text vom hochdeutschen „durch eine Reihe größerer und kleinerer Zusätze und Umstellungen, die der Erzählung größere Klarheit und eine angenehme Fülle verleihen“ (Beckers 1977: 50), unterscheidet. Das ReN enthält den Hamburger Druck in vollständiger Form. Der Text umfasst laut Metadaten des ReN 0.7 in ANNIS insgesamt 4.691 Token, davon 4.084 mittelniederdeutsche Wörter. 3.3.3.5 Lüneburger Liber Memorialis (Lüneb. Lib. Mem.) Aus dem Bereich der Verwaltungstexte wurde ein nordniedersächsisches Stadtbuch ins Korpus aufgenommen: die Handschrift des Lüneburger Liber Memorialis.174 Bei Stadtbüchern handelt es sich nach Lasch (1987 / 1925: 1)175 im weiteren Sinn um „die Amts- und Geschäftsbücher, die die Stadtregierung im Interesse der städtischen Verwaltung führte“. Sie beinhalten daher Lasch (1987 / 1925: 1) zufolge „alles, was für Haushalt, Verwaltung und Regierung der Stadt, zur Wahrung der Rechte ihrer Bürger bedeutungsvoll war“, z. B. Verträge, Statuten, Zunftvorschriften, polizeiliche Bestimmungen und privatrechtliche Verordnungen, Kopien von
174 Die Originalhandschrift befindet sich im Stadtrachiv Lüneburg unter der Signatur „AB – 6 / 1“, vgl. die Metadaten des ReN. Zum Zeitpunkt der Analysen für diese Arbeit war der Text noch nicht in ANNIS veröffentlicht; die Angaben stammen aus den Metadaten des erst später publizierten ReN 1.0 (PID: http://hdl.handle.net/11022/0000-0007-D829-8). Teileditionen finden sich bei Lasch (1987 / 1925: 24–27) sowie bei Bodemann (1881: 105–120, 122–127, 128–130, 131–134). 175 Die Seitenzahlen beziehen sich in der gesamten Arbeit auf die 2. Aufl. aus dem Jahr 1987.
3.3 Das Korpus
99
Briefen und Anstellungseide der städtischen Beamten. Das bedeutet wiederum, dass Stadtbücher nicht auf ein singuläres Entstehungsdatum zu reduzieren sind, sondern Eintragungen aus einem längeren Zeitraum enthalten. Zum Lüneburger Liber Memorialis bemerkt Reinecke (1899: 45): Die ersten 79 Blätter sind um 1490 von Einer [sic] Hand niedergeschrieben, offenbar als Abschrift eines älteren Denkbuches, das im Jahre 1408 begonnen war [. . .]. Spätestens von 1491 an wurde der vorliegende Band als Originalmemorialbuch benutzt, die folgenden, durchweg jüngeren Eintragungen rühren von den verschiedensten Händen her; die Aufzeichnungen umfassen in erster Linie Verordnungen des Rates, ferner Urkunden, Briefe, Eidesformeln u. a., sie gehen bis 1614.
Der in das ReN aufgenommene Text enthält von den insgesamt 277 Blättern der Handschrift einen Auszug (Bl. 131v–154r) mit Eintragungen von 1501 bis 1519 und umfasst laut Metadaten des ReN insgesamt 19.109 Token, davon 17.266 mittelniederdeutsche Wörter. 3.3.3.6 Bremer und Hamburger Urkunden (1491–1500) (Brem. Uk., Hamb. Uk.) Urkundentexte sind im Korpus in Form von 25 Bremer und 27 Hamburger Urkunden aus dem Zeitraum von 1491–1500 vertreten. Sie werden hier aufgrund derselben Quelle in einem Kapitel vorgestellt; im Analyseteil dieser Arbeit werden sie jedoch differenziert betrachtet. Wie in Kap. 3.3.1 erwähnt, dienen als Grundlage die ASnATranskripte der Urkunden aus Bremen und Hamburg.176 Zum Inhalt der ASnA-Urkunden findet sich bei Peters u. a. (2017: 6) der folgende Hinweis: Unter Urkunden werden Verkaufs-, Vertrags- und Schenkungsurkunden, Notariatsinstrumente, Testamente und, in wenigen Einzelfällen, auch im Ausstellungsjahr der Original-Ausfertigung angefertigte Transsumpte und Vidimi (etwa beim Ortspunkt Bremen) zusammengefasst.
Die ins Korpus aufgenommenen Bremer Urkunden haben einen Umfang von ca. 8.600 Wörtern; die Hamburger Urkunden enthalten ca. 11.800 Wörter.
3.3.4 Zu den Texten des diatopischen Teilkorpus 3.3.4.1 Stader Stadtrecht von 1279 (Stader StR) S. die Ausführungen in Kap. 3.3.2.4.
176 Ein genaues Verzeichnis der im ASnA verwendeten Urkunden aus Bremen und Hamburg von 1491–1500 samt den Aufbewahrungsorten findet sich bei Peters u. a. (2017: 781, 829–830). Für das Korpus dieser Arbeit wurden sämtliche Urkunden dieses Zeitraums ausgewählt, mit Ausnahme von Hbg 1497 c, einem Stadtrechtstext.
100
3 Die korpuslinguistische Studie
3.3.4.2 Schiffsrecht des Hamburger Stadtrechts von 1301 / 06 (Hamb. SchiffsR) S. die Ausführungen in Kap. 3.3.2.2. 3.3.4.3 Hildesheimer Stadtrecht um 1300 (Hildesh. StR) Das Hildesheimer Stadtrecht ist in einer Handschrift um 1300 überliefert (vgl. Doebner 1980: 299) und zählt damit neben den Stadtrechten von Stade, Braunschweig, Lübeck und Visby zu den ältesten in niederdeutscher Sprache verfassten Stadtrechtstexten (vgl. Peters 2000b: 1412).177 Für dieses wurden die bestehenden 54 Artikel des 1249 in Latein verfassten Stadtrechts ins Niederdeutsche übersetzt (vgl. Lockert 1979: 165– 167) und dabei z. T. neu angeordnet (vgl. Gebauer 1922: 83). Sie enthalten Bestimmungen zum Verhältnis des bischöflichen Vogtes zur Bürgerschaft und zum Rat, aber auch Regelungen zum Straf- und Zivilrecht (vgl. Lockert 1979: 165). Den größten Teil der insgesamt 176 Artikel der Handschrift von 1300 machen zum alten Stadtrecht neu hinzugekommene Bestimmungen zum Erb- und Familienrecht, zur Stellung des Rates sowie zum Prozessrecht und umfangreiche Zollregelungen aus (vgl. Lockert 1979: 167–168, Gebauer 1922: 83). In das ReN wurde bis auf wenige Artikel der größte Teil des Hildesheimer Stadtrechts aufgenommen.178 Insgesamt enthält der Text damit laut Metadaten des ReN 9.306 Token, davon 7.819 mittelniederdeutsche Wörter. 3.3.4.4 Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt von 1279 (Duderstadt) Das Braunschweiger Stadtrecht ist der Stadt Duderstadt in Form zweier Urkunden aus dem Jahr 1279 mitgeteilt worden. Die erste Mitteilung sollte Hänselmann (1900: 131) zufolge „für die nach dem Tode Herzog Albrechts (August 15) in Aussicht genommene Verleihung Herzog Heinrichs als Grund- und Vorlage dienen“. Sie wurde zwischen dem 15. August und dem 5. Oktober 1279 verfasst.179 Die Anordnung des Textes entspricht laut Hänselmann (1900: 131) den braunschweigischen Stadtrechtsurkunden von 1227 und 1265; inhaltliche Unterschiede bestehen dahingehend, dass einige der 66 Artikel dieser älteren Urkunden abgewandelt oder ausgelassen
177 Die Originalhandschrift liegt im Stadtarchiv Hildesheim unter der Signatur „Best. 50 Nr. 19“, vgl. die Metadaten des ReN sowie die Angaben im Handschriftencensus unter http://www.hand schriftencensus.de/16478. Zum Zeitpunkt der Analysen für diese Arbeit war der Text noch nicht in ANNIS veröffentlicht; die Angaben stammen aus den Metadaten des erst später publizierten ReN 1.0 (PID: http://hdl. handle.net/11022/0000-0007-D829-8). Der Text des Stadtrechts findet sich u. a. bei Doebner (1980: 280–299). 178 Es fehlen innerhalb des Artikels 173 der Text ab dem zweiten Absatz (ab [S]welich vleischowere [. . .], s. Doebner 1980: 298) sowie die folgenden Artikel 174 bis 176. 179 Vgl. die Angaben im Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 bei Boor u. a. (2004: 127) sowie unter http://tcdh01.uni-trier.de/cgi-bin/iCorpus/CorpusIndex.tcl?hea=qf&nav= &for=qfcoraltdu&cnt=qfcoraltdu&xid=CW50173.
3.3 Das Korpus
101
wurden, während andere hinzugekommen sind.180 Die zweite Urkunde ist auf den 5. Oktober 1279 datiert.181 Darin beurkundet dem Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 zufolge Herzog Heinrich, „daß er seinen lieben Bürgern von Duderstadt das im folgenden in Extenso mitgeteilte Stadtrecht Braunschweigs verliehen hat“.182 Da die Urkunde vom 5. Oktober auf der Mitteilung zwischen dem 15. August und dem 5. Oktober 1279 basiert, weichen beide Urkunden abgesehen von den Eingangs- und Schlussformeln nur unwesentlich voneinander ab. Aus diesem Grund wurde für das Korpus dieser Arbeit nur eine der beiden Urkunden, die ältere Mitteilung, ausgewählt. Als Grundlage dient das ReN, das beide Urkunden nach der Edition im Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300183 gemeinsam in einem Text (Sigle: „Brs. Dud. 1279a / b“) aufgenommen hat. Insgesamt umfasst die hier zugrunde gelegte Urkunde 2.740 Token, davon 2.432 mittelniederdeutsche Wörter. 3.3.4.5 Goslarer Kramerrecht von 1281 (Gosl. KramerR) Beim Goslarer Kramerrecht aus dem Jahr 1281 handelt es sich um das älteste in deutscher Sprache verfasste Gilderecht (vgl. Scheuermann 2003: 2665) und gleichzeitig den ältesten Rechtstext in Goslar (vgl. Cordes 1934: 25).184 Dass dieser ausgerechnet die Gilde der Krämer und nicht etwa der Kaufleute oder der Handwerker betrifft, führt Cordes (1934: 25) auf die besondere Stellung der Kramergilde in Goslar
180 Der Text der Urkunde von 1227 findet sich bei Hänselmann (1873: 4–7), der Text der Urkunde von 1265 bei Hänselmann (1873: 11–14). 181 Vgl. die Angaben im Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 bei Wilhelm (1932: 360) sowie unter http://tcdh01.uni-trier.de/cgi-bin/iCorpus/CorpusIndex.tcl?hea=qf&nav= &for=qfcoraltdu&cnt=qfcoraltdu&xid=CW10426. 182 http://tcdh01.uni-trier.de/cgi-bin/iCorpus/CorpusIndex.tcl?hea=qf&nav=&for=qfcoralt du&cnt=qfcoraltdu&xid=CW10426. 183 Das Original der älteren Urkunde zwischen dem 15. August und dem 5. Oktober 1279 befindet sich im Stadtarchiv Duderstadt (vgl. Boor u. a. 2004: 591), das Original der jüngeren vom 5. Oktober 1279 liegt im Staatsarchiv Wolfenbüttel (vgl. Wilhelm 1932: 506). Der Text der älteren Mitteilung (1279a) findet sich bei Boor u. a. (2004: 127–131) sowie unter http://tcdh01.uni-trier.de/cgi-bin/iCor pus/CorpusIndex.tcl?hea=qf&nav=&for=qfcoraltdu&cnt=qfcoraltdu&xid=CW50173, der Text der jüngeren Urkunde (1279b) bei Wilhelm (1932: 360–364) sowie unter http://tcdh01.uni-trier.de/cgi-bin/ iCorpus/CorpusIndex.tcl?hea=qf&nav=&for=qfcoraltdu&cnt=qfcoraltdu&xid=CW10426. Eine Edition der jüngeren Mitteilung zwischen dem 15. August und dem 5. Oktober 1279 liefert außerdem Hänselmann (1900: 131–135). Der Text der Urkunde vom 5. Oktober 1279 ist auch bei Jaeger (1977: 5–11) abgedruckt. 184 Die Originalhandschrift befindet sich im Stadtarchiv Goslar unter der Signatur „A 9579“, vgl. die Metadaten des ReN. Zum Zeitpunkt der Analysen für diese Arbeit war der Text noch nicht in
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3 Die korpuslinguistische Studie
zurück.185 Sprachlich nimmt das Goslarer Kramerrecht von 1281 eine Sonderstellung ein und hebt sich von den späteren Zeugnissen der Goslarer Schriftsprache ab (vgl. Cordes 1934: 26). Die sprachlichen Merkmale weisen auf einen Schreiber aus dem südostfälischen Raum hin (vgl. Cordes 1934: 27, Korlén 1945: 33) – laut Cordes (1934: 27) „wird man sich den Schreiber vom Süden geholt haben, weil in Goslar selbst überall noch lat. geschrieben wurde“.186 In Bezug auf den Inhalt des Textes ist mit Meier & Möhn (2008: 61, Anm. 3) zusammenfassend festzuhalten: „Er regelt das Verhältnis der Gilde zur städtischen Obrigkeit und gleichzeitig wesentliche Bereiche der Gildeorganisation (Führung, Versammlungen, Normen, Normenkontrolle, interne Gerichtsbarkeit).“ Ins ReN wurde das vollständige Kramerrecht von 1281 aufgenommen; es umfasst laut Metadaten des ReN insgesamt 2.777 Token, davon 2472 mittelniederdeutsche Wörter. 3.3.4.6 Braunschweiger Sachsenspiegel-Fragmente aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts (Ssp.-fragm.) Der Sachsenspiegel, das erste in deutscher Sprache verfasste Prosawerk und gleichzeitig eine der bedeutendsten Rechtsquellen des Mittelalters, wurde laut dem Lexikon des Mittelalters zwischen 1220 und 1235 von Eike von Repgow verfasst (vgl. http://apps.bre polis.net/lexiema/test/Default2.aspx).187 Er enthält sächsisches Recht und gliedert sich inhaltlich in einen Teil zum Landrecht und einen zum Lehnrecht. Die handschriftliche Überlieferung umfasst 341 Landrechts- und 94 Lehnrechtstexte (vgl. Ebel 1990: 1231). Im Sachsenspiegel werden u. a. die Verwandtschaftsgrade ausführlich beschrieben; daneben finden sich ehegüter- und erbrechtliche Vorschriften, Bestimmungen zum Zusammenleben im Dorf, Vorschriften zum mittelalterlichen Gerichtsverfahren sowie zu Verbrechen und Strafen (vgl. Lexikon des Mittelalters http://apps.brepolis.net/lexiema/ test/Default2.aspx). Die Braunschweiger Sachsenspiegel-Fragmente wurden in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben (vgl. Borchling 1925: XXIV) und zählen
ANNIS veröffentlicht; die Angaben stammen aus den Metadaten des erst später publizierten ReN 1.0 (PID: http://hdl.handle.net/11022/0000-0007-D829-8). Der Text ist abgedruckt im Urkundenbuch der Stadt Goslar bei Bode (1896: 306–313). 185 So geht bspw. aus einer Urkunde von 1293 hervor, dass drei Vertreter der Kramergilde Mitglieder des sitzenden Rates waren (vgl. Cordes 1934: 25). Darüber hinaus hebt sich die Kramergilde durch eine „verhältnismäßig hochstehende Buchführung“ (Cordes 1934: 25) von den Handwerkergilden ab. 186 Korlén (1945: 33) führt darüber hinausgehend an, dass die Annahme eines südostfälischen Schreibers, die er unterstützt, nicht mit der Ansicht von Cordes (1934: 27), es handle sich bei der Handschrift um die Originalaufzeichnung, zu vereinbaren sei und dass stattdessen „der Schreiber selbst nicht in der südlichen, sondern bereits in der Goslarer Tradition stand und die von dieser abweichenden Kriterien aus einer Vorlage übernahm“. 187 Eine ausführliche Bibliographie zur Sachsenspiegel-Forschung liefern u. a. Kümper (2004) und Kisch (1973).
3.4 Annotation
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damit zu den ältesten Textzeugen des Sachsenspiegels (vgl. Meier & Möhn 2008: 54, Anm. 2).188 Sprachlich ist der Text in den Grenzbereich des Ostfälischen zum Elbostfälischen einzuordnen (vgl. Borchling 1925: XXV). Ins ReN wurde nicht der gesamte Text der Bruchstücke aufgenommen; fragmentarische Spalten wurden nicht berücksichtigt. Insgesamt umfassen die Braunschweiger Sachsenspiegel-Fragmente laut Metadaten des ReN 3.398 Token, davon 2.916 mittelniederdeutsche Wörter.
3.4 Annotation 3.4.1 Annotation und Datenauswertung Wie in Kap. 3.3.1 erwähnt wurde, stammen die meisten der Korpustexte aus dem ReN, wo sie zuvor diplomatisch transkribiert und mit Annotationen zur Wortart (PoS) und Flexionsmorphologie sowie zum Lemma versehen wurden. Sämtliche Texte des ReN sind mit der finalen Korpusversion ReN 1.0 vom 14.08.2019 in ANNIS veröffentlicht, wo sie u. a. nach den vergebenen Annotationen durchsucht werden können. Da zum Zeitpunkt der Analysen für die vorliegende Arbeit die benötigten Texte noch nicht in ANNIS publiziert waren, wurden sie aus dem vom ReN verwendeten Annotationswerkzeug CorA (Bollmann u. a. 2014) in Form einer csv-Datei exportiert, in der mithilfe eines Skriptes sämtliche Relativsätze ermittelt wurden.189 Hierfür konnten zum einen die im ReN vergebenen PoS-Tags190 für ein relatives Pronomen (DPRELS), Adverb (AVREL) oder Artikelwort (DRELA) genutzt werden, zum anderen zusätzlich vergebene Kommentare.191 Bei den nicht aus dem ReN stammenden, zusätzlich aufgenommenen Texten (Otternd. St., Alt. Land Rechtsb., Brem. Uk., 188 Die Originalhandschrift liegt in der Stadtbibliothek Braunschweig unter der Signatur „Fragm. 1“, vgl. die Metadaten des ReN. Zum Zeitpunkt der Analysen für diese Arbeit war der Text noch nicht in ANNIS veröffentlicht; die Angaben stammen aus den Metadaten des erst später publizierten ReN 1.0 (PID: http://hdl.handle.net/11022/0000-0007-D829-8). Abbildungen der Fragmente finden sich bei Oppitz (1992: 1144–1155). Eine Edition des Textes liefert Borchling (1925: 84–94); in Auszügen wird er zudem bei Meier & Möhn (2008: 53–54) abgedruckt. Eine Übersicht der vorhandenen Blätter der Handschrift und der darauf befindlichen Artikel des Sachsenspiegels gibt Oppitz (1990: 400–401). 189 Für die Programmierung dieses Skriptes sowie die Hilfestellungen bei der Anwendung gilt Fabian Barteld ein herzlicher Dank. 190 Zum Tagset des ReN s. Barteld u. a. (2018a). 191 Im ReN erfolgt die Entscheidung zwischen demonstrativen und relativen Pronomen, Adverbien und Artikelwörtern verbstellungsbedingt: Relativa werden ausschließlich in Sätzen mit Verbspätoder Verbletztstellung annotiert. Folglich können potentielle Relativsätze mit Verbzweitstellung nicht anhand des PoS-Tags für den Satzeinleiter identifiziert werden. Aus diesem Grund wird in diesen Sätzen während der Annotation ein entsprechender Kommentar (z. B. „Relativsatz mit V2“) gesetzt, s. hierzu das Annotationshandbuch des ReN bei Barteld u. a. (2018c).
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3 Die korpuslinguistische Studie
Hamb. Uk.) wurde in dem auf der jeweiligen Edition basierenden Text der Beginn eines jeden Relativsatzes mit einem entsprechenden Tag versehen. Die so ermittelten potentiellen Relativsätze wurden inklusive Kontext von mehreren Satzeinheiten in ein Tabellendokument überführt, in dem die Relativsätze nach Satzgliedern strukturiert und entsprechend den Forschungsfragen annotiert wurden. Um möglichst vorurteilsfrei die Struktur der Relativsätze beschreiben zu können, basiert die Annotation auf einem vergleichsweise freien Schema (genauer hierzu in Kap. 3.4.2.1), das als Fixpunkte den Relativausdruck192 mit dem Relativum und das verbale Element mit dem Finitum und im Fall eines Verbalkomplexes den weiteren Bestandteilen dieses Verbalkomplexes ansetzt. Um diese beiden Elemente wurden die übrigen Satzglieder des Relativsatzes in Spalten mit formalisierten Benennungen (z. B. „Rel + 1“) angeordnet, wie Abbildung 1 veranschaulicht. Für alle Satzglieder des Relativsatzes wurden die Art der Phrase und der syntaktischen Funktion annotiert. Beim Relativausdruck wurden die Art des Relativums, d. h., ob es sich um ein d / w-Relativpronomen, -adverb oder -artikelwort oder um eine Relativpartikel handelt, sowie die weiteren Bestandteile des Relativausdruckes annotiert. Die verbalen Elemente enthalten Annotationen u. a. zur Art des Verbs (Vollverb, Modalverb, Auxiliarverb) und Form (Finitum, Infinitiv, Partizip) sowie zur Position im Verbalkomplex. Hinzu kommen für außerhalb der nach Satzgliedern strukturierten Relativsätze verschiedene Annotationen z. B. zur Position des Relativsatzes im Verhältnis zum Matrixsatz (vorangestellt, nachgestellt oder integriert), zum syntaktischen Relativsatztyp (z. B. Subjektsatz, Attributsatz etc.), zum semantischen Typ der Attributsätze (restriktiv, appositiv oder ambig), zum Referenten und zur Verbstellung im Relativsatz. Für die quantitative Datenauswertung wurden die Häufigkeiten der verschiedenen Annotationen mithilfe der Filterfunktion im Tabellendokument ermittelt und zusammengestellt. In der vorliegenden Arbeit werden sie in Tabellen sowie verschiedenen Diagrammen präsentiert. Zu Vergleichszwecken werden neben den absoluten auch normalisierte Häufigkeiten – abhängig von der jeweiligen Datenmenge entweder in Prozentzahlen oder in relativen Häufigkeiten als Dezimalzahlen – angegeben.193 Die Aussagekraft der Daten wurde mithilfe verschiedener Signifikanztests im Statistikprogramm SPSS überprüft: Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Phänomenen
192 Zum Relativausdruck gehören das Relativum sowie alle weiteren Lexeme, die gemeinsam mit diesem ein Satzglied bilden. 193 Laut Hedderich & Sachs (2016: 71) werden Prozentzahlen bei einer Gesamthäufigkeit von n ≥ 100 verwendet; zu Vergleichszwecken können Prozentzahlen – allerdings ohne Kommastelle – auch bei Gesamthäufigkeiten ab n ≈ 80 gesetzt werden. Da in den hier untersuchten Texten aufgrund der unterschiedlichen Datenmenge z. T. stark voneinander abweichende Gesamthäufigkeiten vorkommen, werden zu Vergleichszwecken Prozentzahlen dann verwendet, wenn in der Mehrheit der Texte eine Gesamthäufigkeit von n ≥ 100 vorliegt. In den übrigen Fällen werden relative Häufigkeiten in Form von Dezimalzahlen angegeben.
dar_PAVREL du_PPER et_PPER here du inne_PAVAP ne heft wi{R_n}nest_VVFIN nicht $.$ $.$_!!ED!!
D gesamter RS
E Rel-1
F
G
dar_PAVREL
Rel
H
du_PPER
I Rel + 1
Abb. 1: Relativsatz nach Satzgliedern strukturiert (stark komprimierter Ausschnitt).
31402 3145
1
A B C Kon- MatrixTextstellen- text satz links links/ ID linker Teil
J
et_PPER
K Rel + 2
L
inne_PAVAP
M Rel + 3
N
wi{R_n}nest _VVFIN $.$_!!ED!!
O VerbR_ rechter Rand
P
vn{R_n}d de born is dep $.$
Q R Matrix- Kontext satz rechts rechts/ rechter Teil
3.4 Annotation
105
106
3 Die korpuslinguistische Studie
und der Textsorte sowie dem Sprachraum wurden mithilfe des Chi-Quadrat-Tests nach Pearson geprüft, die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen und der Entstehungszeit mithilfe der Rangkorrelation nach Spearman. Die Signifikanztests dienen dazu, die statistische Relevanz der beobachteten Zusammenhänge zu ermitteln und Aussagen hierzu generalisierbar zu machen. In der Korpuslinguistik besteht eine besondere Herausforderung im Verhältnis zwischen der Grundgesamtheit und der Stichprobe. Für sich gegenwärtig im Gebrauch befindliche Sprachen wie das Neuhochdeutsche bspw. kann die Grundgesamtheit nicht bestimmt werden und somit auch nicht das Verhältnis zwischen Stichprobe und Grundgesamtheit (vgl. Lemnitzer & Zinsmeister 2015: 49). Auch bei korpuslinguistischen Untersuchungen mit historischen Sprachdaten liegt oft keine die Grundgesamtheit exakt abbildende, d. h. repräsentative Stichprobe vor. Dies hängt jedoch v. a. damit zusammen, dass die Korpuserstellung auch durch verschiedene Faktoren wie die Zugänglichkeit der Quellen oder die für eine zu bewältigende Analyse notwendige Reduktion auf eine bestimmte Textmenge beeinflusst wird. So kann für diese Studie bspw. das Teilkorpus zur textsortenspezifischen Betrachtung nicht Quellen sämtlicher Textsorten des Mittelniederdeutschen enthalten und auch nicht in einem der Überlieferung entsprechenden Verhältnis. Das Problem der Grundgesamtheit in der Korpuslinguistik und die damit zusammenhängende Frage nach der Eignung bisher üblicher Signifikanztests wird gegenwärtig verstärkt diskutiert. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung schlägt Koplenig (2019) Permutationstests als parameterfreie Alternative zu geläufigen Verfahren wie dem t-Test vor. Da diese Permutationstests in der Korpuslinguistik bislang noch nicht etabliert sind und in der Diskussion um den Einsatz solcher Tests für linguistische Analysen noch offene Fragen bestehen, wurden als andere nicht-parametrische Tests, die mit dem Skalenniveau der vorliegenden Korpusdaten kompatibel sind, die beiden oben erwähnten Verfahren – der Chi-Quadrat-Test nach Pearson sowie die Rangkorrelation nach Spearman – gewählt. Im Zusammenhang mit dem Einsatz von Signifikanztests in dieser Arbeit ist auch darauf hinzuweisen, dass nicht nur statistisch signifikante Verhältnisse zur Beschreibung der sprachlichen Gegebenheiten genutzt werden können. Gewisse Tendenzen können – wenn auch mit Vorsicht – durchaus in Daten abgelesen werden, die z. B. aufgrund sehr geringer Belegzahlen keine statistische Signifikanz aufweisen. Die bereits erwähnte Menge der Datengrundlage stellt eine weitere Herausforderung der historischen Linguistik dar. Die Art der Untersuchung bedingt ganz unterschiedliche Datenmengen: Während phonologische Phänomene, die eine hohe Frequenz aufweisen, auch mit einer verhältnismäßig niedrigen Textmenge untersucht werden können, wird für niedrigfrequente Erscheinungen wie in der Syntax eine deutlich größere Datengrundlage benötigt (vgl. Fleischer 2011: 72). Für Untersuchungen zum Einfluss von Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum wie in
3.4 Annotation
107
dieser Arbeit sind zudem strukturierte Korpora zwingend notwendig.194 Aufgrund der Überlieferungslage ist die Bildung derartiger Korpora für historische Sprachstufen des Deutschen jedoch besonders schwierig (vgl. Fleischer 2011: 74). Selbst im ReN, einem nach den Parametern Raum, Zeit und Feld der Schriftlichkeit strukturierten Korpus,195 konnten aus verschiedenen Gründen (Überlieferung, Zugang zum Original) nicht alle Rasterfelder gefüllt werden.196 Dies musste auch bei der Erstellung des in dieser Arbeit zugrunde gelegten Korpus berücksichtigt werden. Zudem war hinsichtlich der Größe des Korpus ein Mittelweg notwendig, den Klein (2007: 15) folgendermaßen beschreibt: „Der Umfang annotierter historischer Sprachkorpora muss so beschränkt werden, dass das Korpus einerseits für die intendierten Untersuchungen groß genug ist und andererseits nur so groß, dass Erstellung und Annotation des Korpus realisierbar sind.“ Das Korpus dieser Studie ist, wie in Kap. 3.3 gezeigt wurde, aufgrund seiner Struktur für die Untersuchung eines möglichen Einflusses von Entstehungszeit, Textsorte und Sprachraum geeignet; allerdings weisen einige der Texte einen deutlich geringeren Umfang als andere auf, was sich wiederum im Bereich der zu untersuchenden Phänomene im mittelniederdeutschen Relativsatz in teilweise geringen Belegzahlen niederschlägt. Wie die meisten korpusbasierten sprachhistorischen Arbeiten steht daher auch diese in einem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch generalisierbarer Aussagen anhand statistisch signifikanter Häufigkeiten einerseits und dem Erkennen und Beschreiben gewisser Phänomene trotz geringer Belegzahlen oder gar an Einzelbelegen andererseits. Nicht nur hinsichtlich der Datenmenge stellt historisches Sprachmaterial eine Herausforderung dar, es bringt auch besondere Anforderungen an die Annotation mit sich.197 In Bezug auf die Annotation mittelniederdeutscher Relativsätze haben sich hier v. a. drei Aspekte ergeben, die im Folgenden genauer erläutert werden sollen.
194 Zum Prinzip des strukturierten Korpus s. für das Mittelhochdeutsche Wegera (2000: 1306). 195 Zur Korpusstruktur s. Peters & Nagel (2014: 167–169), Barteld u. a. (2017: 227–229) sowie die ReN-Webseite unter https://www.slm.uni-hamburg.de/ren/korpus/korpusdesign.html. S. zudem die Anmerkungen zu Beginn von Kap. 3.3.1. 196 So finden sich im ReN bspw. literarische Texte aus dem nordniedersächsischen Sprachraum erst ab dem 15. Jahrhundert, mit einer starken Konzentration auf das 16. Jahrhundert. 197 Da im Folgenden der Fokus auf Herauforderungen in der Annotation mittelniederdeutscher Relativsätze, wie sie für diese Arbeit erfolgt ist, liegt, sei zumindest am Rand auf grundlegende Schwierigkeiten in der Annotation historischer Sprachdaten, z. B. auf der Ebene von PoS und Flexionsmorphologie (s. hierzu Schröder u. a. 2017: 49–51) hingewiesen. Bei der automatischen Annotation ist v. a. die graphische Variation zu berücksichtigen; Methoden zur Reduktion dieser Variation wurden bei Barteld u. a. (2015, 2016) entwickelt. Für die manuelle Annotation stellen u. a. Ambiguitäten auf morphologischer Ebene eine Schwierigkeit dar; zum Umgang mit diesen Ambiguitäten s. Barteld u. a. (2014) sowie Barteld u. a. (2018a).
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3 Die korpuslinguistische Studie
3.4.2 Herausforderungen in der Annotation mittelniederdeutscher Relativsätze 3.4.2.1 Wortstellungsvariation Zu einem der Aspekte, die mit großen Herausforderungen in der Annotation verbunden sind, zählt die bereits in Kap. 2.3.4 erwähnte Wortstellungsvariation, besonders die von Petrova (2013: 14) nachgewiesene starke Variation am rechten Satzrand. Dreessen & Ihden (2015: 257) zeigen in einer kursorischen Studie, dass in mittelniederdeutschen dat-Nebensätzen die Verbletztstellung zwar am frequentesten ist, daneben jedoch ein verhältnismäßig hoher Anteil an Sätzen eine davon abweichende Verbstellung aufweist, die v. a. auf die Nachfeldbesetzung sowie die Folge Finitum vor Infinitum im Verbalkomplex zurückzuführen ist.198 Auf dem Gegenwartsdeutschen basierende Modelle zur Beschreibung der Wortstellung im Satz sind daher nur bedingt für die historische Syntax geeignet. Im topologischen Feldermodell nach Höhle (1986), das basierend auf der Position des Finitums Verberst-, Verbzweit- und Verbletztsätze voneinander unterscheidet, wird die mögliche Besetzung eines Nachfeldes durchaus berücksichtigt. Tatsächlich finden sich Sätze mit Nachfeldbesetzung wie in (1) auch im Gegenwartsdeutschen, v. a. in der gesprochenen Sprache. Unter dieser Annahme kann trotz der abweichenden Verbstellung aufgrund der Ausklammerung der Satz als Verbletztsatz klassifiziert werden. In einem mittelniederdeutschen Satz wie in (2) wäre dies ebenso gut möglich. (1)
Ich kann die neuen Nachbarn nicht ausstehen, die mich jeden Tag nerven mit ihrer lauten Musik.
(2)
Siet den de dar dreghet de sunde der werl de / (Buxteh. Ev., S. 5, Z. 12–14) ‚Seht den, der da die Sünde der Welt trägt.‘
Problematisch ist jedoch der Umgang mit Sätzen, in denen unmittelbar auf den Relativausdruck das Finitum folgt und auf dieses wiederum weitere Satzglieder wie in (3) und (4), denn hierbei kann es sich entweder um einen Verbzweitsatz mit dem Relativausdruck im Vorfeld handeln oder um einen Verbletztsatz mit Nachfeldbesetzung mit dem Relativausdruck in der linken Satzklammer – eine eindeutige Zuordnung ist nicht ohne Weiteres möglich (vgl. Kap. 2.3.4).199 Während Sätze wie in
198 Diese Wortstellungsvariation findet sich nicht nur in früheren Sprachstufen des Niederdeutschen, sondern auch des Hochdeutschen. Für das Mittelhochdeutsche bspw. zeigt Prell (2001: 74–75), dass in eingeleiteten Nebensätzen die Letztstellung des finiten Verbs mit einem Anteil von 62,5 % noch nicht die Norm darstellt. 199 In vielen grammatischen Darstellungen wird der Relativausdruck in die linke Satzklammer eingeordnet, so z. B. im Modell von Höhle (1986: 330) und bei Altmann & Hofmann (2008: 72) sowie in der Grammatik von Zifonun u. a. (1997: 1501). Daneben existiert jedoch auch die Ansicht, das Relativum stehe im Vorfeld und die linke Satzklammer sei in Relativsätzen nicht besetzt. Wöllstein (2014: 33)
3.4 Annotation
109
(3) den für das Gegenwartsdeutsche ausführlich beschriebenen relativischen Verbzweitsätzen gleichen (s. Kap. 2.3.4), sind Sätze wie in (4) im Gegenwartsdeutschen ausgeschlossen. (3)
hijr is eyn kint dat heft vif gerstene brot vnde twe vische (Buxteh. Ev., S. 41, Z. 7–9) ‚Hier ist ein Kind, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische.‘
(4)
Swe is vn echt de ne mach nemande spreken an sin lif . eder an sine ere dat emme schedelic si . (Hildesh. StR, Bl. 29r,a, Z. 12–15) ‚Wer unfrei ist, der darf niemandem im Hinblick auf sein Leben oder seine Ehre etwas vorwerfen, das ihm schadet.‘
Aufgrund der stärkeren Wortstellungsvariation im Mittelniederdeutschen ist davon auszugehen, dass Sätze der Form Rel + Vfin + x zum einen insgesamt häufiger vorkommen und sich zum anderen dahinter sowohl Verbzweitsätze wie in (3) verbergen als auch Sätze wie in (4), bei denen es sich aufgrund von Ausklammerung nach rechts vermutlich tatsächlich um Verbletztsätze nach dem Höhle-Modell handelt. Um die Relativsätze möglichst vorurteilsfrei beschreiben und die Variation hinsichtlich der Stellung des Finitums abbilden zu können, wird in der Übersicht in Kapitel 4.3.1.2 zur Verbstellung auf eine solche Zuordnung zunächst verzichtet. Stattdessen werden die Sätze anhand der oberflächlich sichtbaren Stellung des Finitums voneinander unterschieden. Sätze wie in (3) und (4) werden folglich gleichermaßen als Relativsätze mit Verbzweitstellung beschrieben. Um außerdem die Variation am rechten Satzrand aufzuzeigen, werden als Relativsätze mit Verbletztstellung nur solche eingeordnet, in denen sich das Finitum tatsächlich an letzter Stelle im Satz befindet wie in (5). Alle übrigen Fälle, in denen das Finitum an einer späteren als der zweiten Stelle, aber nicht an letzter Position steht wie in (2), werden als Relativsätze mit Verbspätstellung bestimmt (s. hierzu auch Kap. 4.3.1.1). (5)
Unde nemand was daer deme des nycht verwunderde (Gris . / Sig., Bl. 4r, Z. 28–29) ‚Und dort war niemand, den das nicht verwunderte.‘
bspw. geht davon aus, dass in der linken Satzklammer nur „funktional markierte Köpfe“ mit vorwiegend grammatischer statt lexikalischer Bedeutung und keine phrasalen Elemente stehen. Als Argument für die Zuordnung des Relativausdruckes ins Vorfeld führt Wöllstein (2014: 35) u. a. an, dass in süddeutschen Dialekten Relativsätze einen Relativausdruck mit dem folgenden Subjunktor dass aufweisen können (z. B. in die Frau, mit der dass ich gesprochen habe), dass dort also Vorfeld (durch den Relativausdruck) und linke Satzklammer (durch den Subjunktor) besetzt sind. In dieser Arbeit wird der Relativausdruck der Argumentation Wöllsteins (2014) folgend dem Vorfeld zugeordnet.
110
3 Die korpuslinguistische Studie
Ebenso wie im topologischen Feldermodell strikt zwischen Verberst-, Verbzweitund Verbletztsätzen unterschieden wird, besteht auch im Bereich von Hauptsatz und Nebensatz im Gegenwartsdeutschen eine dichotome Differenzierung. Dabei weisen Hauptsätze i. d. R. Verbzweitstellung auf, Nebensätze hingegen Verbletztstellung. Daneben existieren allerdings auch Ausnahmen, z. B. Nebensätze mit Verbzweitstellung wie in (6). (6)
Ich verspreche dir, ich komme pünktlich.
Die Struktur eines Satzes weist also nicht eindeutig auf seinen Status als Hauptoder Nebensatz hin. Die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensatz selbst jedoch ist im Gegenwartsdeutschen fest. Tophinke (2009: 162) kritisiert, traditionelle Beschreibungsmodelle mit einer solchen Differenzierung seien „nicht geeignet, die in den mittelalterlichen Texten beobachtete Variabilität angemessen zu beschreiben“, da neben den formal eindeutigen Nebensätzen auch nicht eindeutig bestimmbare Zwischen- und Übergangskonstruktionen vorkommen.200 Besser anwendbar seien nach Tophinke (2009: 165–168) und Tophinke & Wallmeier (2011: 101–102) funktionale Ansätze, in denen Subordination als graduelles Phänomen verstanden wird und damit auch Stufen zwischen Koordination und Subordination erfasst werden. Eine Möglichkeit stellt das in Kap. 2.1.2.2 erwähnte Modell von Fabricius-Hansen (1992) dar, das Subordination als ein radiales Phänomen mit Kern und Randbereichen erfasst.201 Durch die in dieser Arbeit präferierte Differenzierung von Verbzweit-, Verbspätund Verbletztstellung kann hinsichtlich der Stellung des Finitums im Relativsatz die angesprochene Variabilität gut abgebildet werden. Daneben zeigen sich Zwischen- und Übergangskonstruktionen nicht nur in der Wortstellung im Relativsatz selbst, sondern auch in seiner syntaktischen Integration in den Matrixsatz. Hierauf wird in Kap. 4.4.4 ausführlicher eingegangen. Eine eindeutige Differenzierung von Haupt- und Nebensätzen und von Verbzweit- und Verbletztsätzen, wie sie im Gegenwartsdeutschen möglich ist, kann also für das Mittelniederdeutsche nicht übernommen werden. Dennoch ist die Grundidee des topologischen Feldermodells – die auf der Position des Verbs bzw. der verbalen Bestandteile basierende Einteilung des Satzes in bestimmte Felder – durchaus für die Annotation mittelniederdeutscher Relativsätze geeignet. Als fixe
200 In Bezug auf die diachrone Entwicklung einer Differenzierung von Haupt- und Nebensatz hält Tophinke (2012: 21) zusammenfassend fest: „Konsens der sprachhistorischen Forschung im Bereich der komplexen Syntax ist die Ansicht, dass die Unterscheidung von Haupt- und Nebensätzen bzw. der Subordination und der Koordination bis in das 16. Jahrhundert hinein – zumindest teilweise – schwierig ist.“ 201 Auch bei Lehmann (1988) wird Subordination mithilfe eines Kontinuums als graduelles Phänomen beschrieben.
3.4 Annotation
111
Bestandteile des Relativsatzes werden am linken Rand der Relativausdruck, der das Vorfeld besetzt, und rechts davon das Verb bzw. die verbalen Elemente angesetzt, wobei der Bereich zwischen Relativausdruck und Verb – das Mittelfeld – gefüllt sein kann, aber nicht muss, ebenso wie die Bereiche zwischen den Bestandteilen des Verbalkomplexes und der Bereich nach dem Verb, das Nachfeld. Damit wird der Annotation ein möglichst freies und neutrales Schema zugrunde gelegt, in dem die erwartete Variation problemlos abgebildet werden kann. 3.4.2.2 Identifizierung der Satzglieder Wie in Kap. 3.4.1 beschrieben, wurde jeder mittelniederdeutsche Relativsatz in seine Satzglieder strukturiert. Dabei führt allerdings die für das Gegenwartsdeutsche etablierte syntaktische Kategorie des Satzgliedes im Fall der historischen Sprachdaten zu einigen Herausforderungen, die im Folgenden erläutert werden sollen. Glinz (1973: 86) bestimmt als Glied eines Satzes, „was sich gesamthaft versetzen läßt oder was durch Versetzung anderer Stücke von seinem Zusammenhang gelöst werden kann und dadurch eine gewisse Selbständigkeit beweist“. Diese bei Glinz (1973) beschriebene Verschiebeprobe wird in der neuhochdeutschen Grammatik v. a. in Form der sogenannten Vorfeldprobe angewandt, mit der in einfachen Aussagesätzen getestet wird, welche Elemente gemeinsam vor dem finiten Verb, d. h. im Vorfeld, stehen können und daher zusammen ein Satzglied bilden wie in (7) (vgl. Duden 2016: 132, § 205, 788–789, § 1181). (7)
[Für gewöhnlich] gehen [Lisa und ich] [jeden Samstag] [zum Sport]. [Zum Sport] gehen [Lisa und ich] [für gewöhnlich] [jeden Samstag]. [Lisa und ich] gehen [für gewöhnlich] [jeden Samstag] [zum Sport]. [Jeden Samstag] gehen [Lisa und ich] [für gewöhnlich] [zum Sport].
Neben der Verschiebeprobe wird im Gegenwartsdeutschen zur Ermittlung eines Satzgliedes zudem die Ersatzprobe herangezogen (vgl. Glinz 1973: 87), bei der die Wörter der potentiellen Satzglieder durch andere Wörter bei gleichbleibendem Sinn substituiert werden – im Extremfall kann dabei jedes Satzglied durch nur ein Wort ersetzt werden wie in (8). (8)
[Für gewöhnlich] gehen [Lisa und ich] [jeden Samstag] [zum Sport]. [Normalerweise] gehen [wir] [dann] [dorthin].
Greule (1982: 130–131) kritisiert, dass Verschiebe- und Ersatzprobe im Fall historischer Daten wie dem von ihm untersuchten Evangelienbuch Otfrids eher ungeeignet seien. Die eigentliche Erklärung hinter den Eigenschaften Verschiebbarkeit und Ersetzbarkeit sieht Greule (1982: 131) in „einer inhaltlich begründeten Selbständigkeit und gegenseitigen Unabhängigkeit innerhalb der Satzgrenzen“ und bestimmt Satz-
112
3 Die korpuslinguistische Studie
glieder somit als nächstgrößere Bedeutungseinheiten innerhalb eines Satzes. Um die zunächst auf dem Satzverständnis des Deskribenten beruhende Satzgliedbestimmung nicht vollständig der Interpretation zu überlassen, plädiert Greule (1982: 132– 133) für ein Verfahren, bei dem zunächst der althochdeutsche Satz möglichst wortnah übersetzt wird und anschließend die vom Deskribenten als Satzglieder vermuteten Teile durch möglichst nur ein neuhochdeutsches Wort paraphrasiert werden, bspw. „die heilige Maria, die berühmte Jungfrau“ durch „sie“ oder „in Eile und voll Liebe“ durch „so“. In einem derartig paraphrasierten Satz entspräche laut Greule (1982: 132) jedes neuhochdeutsche Wort dem Inhalt eines althochdeutschen Satzgliedes. Tatsächlich greift also auch Greule (1982) zur Überprüfung der Satzglieder auf die Ersatzprobe zurück und zeigt damit, dass eine gesicherte Bestimmung der Satzglieder im historischen Deutschen allein anhand der von ihm beschriebenen abstrakten Merkmale der inhaltlich begründeten Selbständigkeit und gegenseitigen Unabhängigkeit der Satzglieder ohne die Nutzung operationaler Kriterien nicht möglich ist und dass derartige Tests durchaus auch für historisches Sprachmaterial grundsätzlich sinnvoll sind. In der Annotation der mittelniederdeutschen Relativsätze wurden zur Überprüfung der bestimmten Satzglieder daher die Verschiebeund Ersatzprobe, v. a. der Vorfeldtest, genutzt. Während der Annotation wurde jedoch deutlich, dass diese Tests in gewissen Fällen an ihre Grenzen stoßen. Dies betrifft v. a. Genitivattribute, die im Gegenwartsdeutschen nicht als Satzglieder, sondern als Gliedteile klassifiziert werden, die jedoch in den mittelniederdeutschen Daten z. T. eine stärkere Selbstständigkeit als im Gegenwartsdeutschen aufweisen, wie in Kap. 4.3.4 aufgezeigt wird. Da Tests wie die Vorfeldprobe stets von einem neuhochdeutschen Sprachverständnis her durchgeführt werden, besteht grundsätzlich die Gefahr von Zirkelschlüssen. Um diese vollständig auszuschließen, müsste zunächst eine umfassende syntaktische Beschreibung der Satzglieder auf Basis der Valenz im Mittelniederdeutschen vorliegen, die bislang jedoch ein Desiderat darstellt. Aus diesem Grund wurde in der Annotation der mittelniederdeutschen Relativsätze auf die erwähnten Satzgliedproben aus dem Gegenwartsdeutschen zurückgegriffen, die sich von einigen Abweichungen abgesehen grundsätzlich als geeignet für die Anwendung auf das Mittelniederdeutsche erwiesen haben. Gleichzeitig wurde auf eben solche Abweichungen wie die in Kap. 4.3.4 beschriebene syntaktische Eigenständigkeit der Genitivattribute verstärkt geachtet. 3.4.2.3 Differenzierung zwischen Präpositionalobjekt und Adverbial Nicht nur die Identifizierung der einzelnen Satzglieder kann in historischen Sprachstufen wie im Mittelniederdeutschen durchaus eine Herausforderung darstellen; auch die genaue Bestimmung der syntaktischen Funktion ist keineswegs banal. Als besonders problematisch stellt sich hier die in der Forschung häufig thematisierte
3.4 Annotation
113
Differenzierung zwischen Präpositionalobjekten und Adverbialen, wie sie in den Annotationen der mittelniederdeutschen Relativsätze vorgenommen wurde, dar.202 In den Grammatiken des Gegenwartsdeutschen finden sich sehr ähnliche Formulierungen zur Bestimmung eines Präpositionalobjektes: Die Präposition ist „nicht austauschbar“ (Engel 2009: 100, Zifonun u. a. 1997: 1093) bzw. „nicht frei wählbar, sondern fest mit dem Verb verbunden“ (Hentschel & Weydt 2013: 339)203 und wird „vom zugehörigen Verb [. . .] bestimmt“ (Duden 2016: 852, § 1303) bzw. „vom Verb lexikalisch regiert“ (Eisenberg 2013: 299) wie in (9). Wird hingegen die Präposition in einer Präpositionalphrase nicht vom Verb regiert, liegt ein Adverbial vor. Dieses Adverbial wiederum kann entweder als Komplement, d. h. vom Verb gefordertes, notwendiges Satzglied, wie in (10) oder als Supplement, d. h. nicht vom Verb gefordertes, weglassbares Satzglied, wie in (11) fungieren. (9)
Ich stehe total auf dunkle Schokolade / * in dunkler Schokolade / * unter dunkler Schokolade.
(10) Die Erklärung steht auf dem Zettel / im Buch / unter dem Text. (11) Sie arbeitet ungern im Büro / am Schreibtisch / in der Sonne. Basis der Differenzierung zwischen Präpositionalobjekt und Adverbial ist somit die Valenz des Verbs, deren Bestimmung grundsätzlich nicht unproblematisch ist, insbesondere die Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen betreffend.204 Für das Gegenwartsdeutsche ist allerdings die Valenz der Verben inzwischen gut erforscht,205 sodass die Differenzierung zwischen Präpositionalobjekten und Adverbialen im Einzelfall zumeist möglich ist. Die Valenz der neuhochdeutschen Verben
202 Einen Forschungsüberblick zu Präpositionalphrasen in den verschiedenen Grammatiktheorien liefert Eroms (1981: 234–264). In engem Zusammenhang mit dem Präpositionalobjekt steht auch der Begriff des Funktionsverbgefüges, der in der Forschung nicht einheitlich verwendet wird (vgl. Kamber 2008: 9–10). Zum Funktionsverbgefüge s. u. a. Kamber (2008: 21–23), der statt einer weiteren Definition ein Modell der umrahmten Schnittmengen vorschlägt, aus dem sich anhand verschiedener Merkmale (darunter die Präpositionalgruppe) mehr und weniger prototypische Funktionsverbgefüge ergeben. 203 Allerdings führen Zifonun u. a. (1997: 1094) an, dass das zugehörige Verb durchaus zwei verschiedene Präpositionen zulassen kann, z. B. sprechen von / über oder leiden an / unter. 204 Eine umfassende Übersicht zu Testverfahren für die Unterscheidung von Ergänzungen und Angaben findet sich bei Storrer (2003: 767–776). Die in den Grammatiken und der Forschungsliteratur weit verbreiteten Termini „Ergänzung“ und „Angabe“ entsprechen den hier präferierten Begriffen „Komplement“ und „Supplement“ nach der Grammatik von Zifonun u. a. (1997). 205 Zu nennen sind hier neben dem älteren Valenzlexikon von Engel & Schumacher (1978) v. a. das umfangreiche elektronische Valenzwörterbuch E-VALBU des Instituts für Deutsche Sprache, s. https://grammis.ids-mannheim.de/verbvalenz.
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3 Die korpuslinguistische Studie
kann jedoch nicht als Basis für die Annotation historischer Sprachdaten dienen, da sich die Valenz im Lauf der Sprachgeschichte ändern kann (vgl. Heringer 1968: 448). Ebenso wenig sind die auf dem neuhochdeutschen Sprachverständnis basierenden Testverfahren zur Bestimmung von Präpositionalobjekten auf historische Sprachdaten anwendbar (vgl. Waldenberger 2009: 97). Eine vollkommen sichere Abgrenzung von Präpositionalobjekten gegenüber Adverbialen kann lediglich mithilfe eines Valenzwörterbuchs für die entsprechende historische Sprachstufe des Deutschen vorgenommen werden. Da jedoch historische Verbvalenzwörterbücher noch immer ein Desiderat darstellen (vgl. Greule & Lénárd 2005: 243),206 wurden für die Annotation der mittelniederdeutschen Relativsätze die Angaben im Mittelniederdeutschen Handwörterbuch von Lasch u. a. (ab 1956) genutzt, in dem feste Fügungen von Verben, z. B. mit Präpositionalobjekten (die jedoch nicht als solche explizit ausgewiesen sind), oft in den Einträgen der entsprechenden Verben verzeichnet sind. Da dies lediglich als Orientierung dienen kann und längst nicht alle in den Texten vorkommenden Fügungen mit Präpositionalobjekten im Wörterbuch erfasst sind, ist es durchaus möglich, dass die in den mittelniederdeutschen Relativsätzen erfolgte Entscheidung zwischen Präpositionalobjekt und Adverbial in vereinzelten Fällen auf Basis einer zukünftigen umfassenden Untersuchung der Valenz mittelniederdeutscher Verben neu getroffen werden müsste.
206 Für das Althochdeutsche existiert lediglich ein Syntaktisches Verbwörterbuch zu den althochdeutschen Texten des 9. Jahrhunderts von Greule (1999). Aktuell ist für das historische Hochdeutsch ein Historisch syntaktisches Verbwörterbuch des Deutschen (HSVW) im Entstehen begriffen, s. hierzu Greule & Lénárd (2004, 2005) und Greule (2016) sowie die Webseite des Projektes unter https:// histvw.wordpress.com/.
4 Analyse 4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen 4.1.1 Relativsatz Bevor im folgenden Kapitel intensiv auf die verschiedenen zu untersuchenden Aspekte des Relativsatzes eingegangen wird, soll zunächst gezeigt werden, wie viele Relativsätze in den Texten des Korpus vorkommen und damit als Datengrundlage für die Analysen dienen. Insgesamt wurden 3.502 Relativsätze untersucht. Zudem wird der Anteil der Relativsätze an allen Satzeinheiten207 des jeweiligen Textes dargestellt, um zu veranschaulichen, wie frequent dieser Satztyp ist. Wie in Tabelle 7208 zu erkennen ist, beträgt der Anteil der Relativsätze zwischen 8,1 % (Veer Koepl.) und 27,4 % (Duderstadt), differiert also je nach Text sehr stark. Dabei zeigen sich starke Ähnlichkeiten innerhalb bestimmter Textgruppen: zum einen bei den Rechtstexten – v. a. dem Hamburger Schiffsrecht, dem Bremer, Hamburger und Hildesheimer Stadtrecht (20,3–20,7 %) –, zum anderen bei den Urkunden aus Bremen und Hamburg (14,6–14,8 %). Hier scheint sich eine gewisse Textgruppenbzw. Textsortenabhängigkeit anzudeuten, die anhand der Texte des Teilkorpus für den textsortenspezifischen Zugriff in Abbildung 2 genauer betrachtet werden soll. Wie zu erkennen ist, stehen sich das Hamburger Stadtrecht und der Lüneburger Liber Memorialis, d. h. die Textsorten Stadtrecht und Stadtbuch,209 mit einem Relativsatzanteil von 20,7 % und 20,3 % sehr nahe. Dies ist u. a. damit zu erklären, dass der Lüneburger Liber Memorialis eine ganze Reihe rechtlicher Eintragungen – z. B. Statuten, Zunftvorschriften, polizeiliche Bestimmungen und privatrechtliche Verordnungen – enthält (s. Kap. 3.3.3.5).210 Vor diesem Hintergrund könnte er statt als Text eher als Textsammlung bezeichnet werden, die Texte verschiedener Textsorten – z. B. Zunftordnungen, Verträge, Briefe – in sich vereint. Je nach Umfang der entsprechenden Texte ist auch das Stadtbuch insgesamt von den Merkmalen der einen oder anderen Textgruppe – bspw. den Rechtstexten oder den Urkunden – stär-
207 Als Satzeinheit wurde nach dem ReN eine Einheit mit finitem Verb bestimmt, s. das Transkriptionshandbuch von Barteld u. a. (2018d). 208 Die Anordnung der Texte in den Tabellen basiert auf den drei Teilkorpora (s. Kap. 3.3.1): Zuerst werden die Quellen des diachronen Teilkorpus aufgeführt, anschließend die Texte des Teilkorpus zur textsortenspezifischen Betrachtung und schließlich die ostfälischen Quellen des diatopischen Teilkorpus. 209 Zum Verhältnis von Textgruppe und Textsorte s. die Ausführungen zum textsortenspezifischen Teilkorpus in Kap. 3.3.1. 210 Zu den vielfältigen Inhalten von Stadtbüchern s. Lasch (1987 /1925: 1). https://doi.org/10.1515/9783110678468-004
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4 Analyse
Tab. 7: Häufigkeit der Relativsätze. Relativsätze Stader StR Hamb. SchiffsR / Brem. StR / – Hamb. StR Otternd. St. Alt. Land Rechtsb. Buxteh. Ev. Gris. / Sig. Veer Koepl. Lüneb. Lib. Mem. – Brem. Uk. – Hamb. Uk. – Duderstadt Gosl. KramerR Hildesh. StR Ssp.-fragm. . H. . Jh.
Satzeinheiten , % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , %
25,0% 20,7%
20,3%
20,0% 14,7% 15,0%
12,6% 10,9%
10,0% 5,0% 0,0% Bibeltext
Stadtrecht
Erzählungen
Stadtbuch
Urkunden
Abb. 2: Relativsatzanteil – textsortenspezifisch.
ker geprägt.211 Die den Anteil der Relativsätze betreffende starke Ähnlichkeit des Lüneburger Liber Memorialis mit dem Hamburger Stadtrecht legt die Schlussfolgerung nahe, dass entweder die rechtlichen Eintragungen im Stadtbuch einen enormen Anteil am Gesamttext ausmachen und / oder auch die nicht-rechtlichen Eintragungen verhältnismäßig viele Relativsätze enthalten.
211 Der Lüneburger Liber Memorialis enthält Ordnungen verschiedener Handwerksämter, die den Rechtstexten ähneln, sowie Urkunden, aber auch Teile, die keiner dieser beiden Textgruppen zuzuordnen sind, u. a. Briefe an den Rat, in denen z. B. eine Straftat geschildert und Auskunft zur Bestrafung erbeten wird.
4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen
117
Bei den Urkunden ist mit Blick auf Tabelle 7 und Abbildung 2 eine auffällige Homogenität hinsichtlich des Relativsatzanteils (Bremen 14,6 %, Hamburg 14,8 %) festzuhalten. Dies ist insofern nicht überraschend, als sich Urkundentexte allein des zugrunde liegenden Protokolls und der starken Formelhaftigkeit wegen in Aufbau und Struktur sehr ähneln.212 Von dem Stadtrecht und dem Stadtbuch heben sich die Urkunden durch einen vergleichsweise geringeren Anteil an Relativsätzen ab. Die Textsorte Bibeltext wird durch das Buxtehuder Evangeliar mit einem Relativsatzanteil von 12,6 % vertreten, womit sich der Text vom Mittelwert der Urkunden (14,7 %) einerseits und der Erzählungen (10,9 %) andererseits nur leicht unterscheidet. Bei den Erzählungen fällt auf, dass die Differenz der in Tabelle 7 aufgeführten Relativsatzanteile in beiden Quellen dieser Gruppe mit 5,5 % verhältnismäßig hoch ist, d. h., hier liegt – anders als bei den Urkunden – keine Homogenität innerhalb der Textsorte vor. Eine Erklärung für die starke Abweichung im Relativsatzanteil der Erzählungen ist in der grundlegenden Struktur literarischer Texte zu finden: Im Gegensatz zu v. a. den Rechts- und Verwaltungstexten sowie den Urkunden sind sie deutlich weniger formalisiert. Aus diesem Grund ist in literarischen Texten – so auch in den Erzählungen des Korpus – eine stärkere Variation auf syntaktischer Ebene erwartbar. Diese Variation kann, wie anhand von Griseldis / Sigismunda und Guiscardus und Veer Koeplude deutlich wird, sogar bei Texten derselben Tradition vorliegen.213 Dass v. a. die Rechtstexte in Tabelle 7 einen hohen Anteil an Relativsätzen aufweisen, liegt in der spezifischen syntaktischen Struktur dieser Textgruppe begründet: Wallmeier (2013: 113) zeigt in ihrer Untersuchung zu sprachlichen Mustern in der mittelniederdeutschen Rechtssprache am Beispiel des Sachsenspiegels, dass besonders häufig das Muster [Rechtshandlung] [Folge] vorkommt, das durch die folgenden zwei syntaktischen Muster ausgedrückt wird: 1) durch ein Konditionalgefüge mit vorangehendem uneingeleiteten Nebensatz wie in (1); 2) durch eine Relativsatzkonstruktion mit vorangehendem freien Relativsatz wie in (2). (1)
Stirft de man ane kint, sin vader nimt sin erve; ne hevet he des vader nicht, it nimt sin muder mit mereme rechte, den sin bruder. (Sachsenspiegel, I 17 § 1, aus Wallmeier 2013: 113) ‚Stirbt der Mann kinderlos, nimmt sein Vater sein Erbe; hat er keinen Vater, nimmt es seine Mutter mit größerem Recht als sein Bruder.‘
212 Zum Urkundenprotokoll s. Vogtherr (2008: 64). Zu Formelstrukturen innerhalb des Artikelkatalogs mittelniederdeutscher Testamente s. Bieberstedt (2007). 213 Bei beiden Texten handelt es sich um Erzählungen, deren Stoff ursprünglich auf Novellen von Boccaccio zurückgeht (s. Kap. 3.3.3.3 und 3.3.3.4).
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(2)
4 Analyse
Swe so ordel scilt, de spreke aldus: [. . .] (Sachsenspiegel, II 12 § 11, aus Wallmeier 2013: 113)214 ‚Wer ein Urteil fällt, der spreche so: [. . .]‘
Auch in den hier untersuchten Rechtstexten, v. a. den jüngeren bis zum 15. Jahrhundert, sind diese Konstruktionen hochfrequent. Dabei kann das erwähnte Konditionalgefüge entweder mit einem uneingeleiteten Konditionalsatz, wie von Wallmeier (2013: 113) angeführt, oder mit einem eingeleiteten Konditionalsatz wie so wor so ein man sin schip uercoft in (3) beginnen. Die mit dâr / (s)wôr eingeleiteten Sätze haben aufgrund ihrer Nähe zu den freien Relativsätzen einen besonderen Status inne, der in Kap. 2.5.2.3.2 bereits allgemein beschrieben wurde und in Kap. 4.5 vor dem Hintergrund der analysierten Relativsätze noch einmal genauer betrachtet wird. Das hohe Vorkommen des erwähnten Musters mit freiem Relativsatz wie in (2) führt zu einem verhältnismäßig hohen Relativsatzanteil in den Rechtstexten insgesamt. (3)
so wor so ein man sin schip uercoft . so scal he sinen schipmannen gheuen to . xiiij . nacht wekelon . (Hamb. SchiffsR, Bl. 93v,a, Z. 14–18) ‚Wenn ein Mann sein Schiff verkauft, dann soll er seinen Seemännern für vierzehn Nächte Wochenlohn geben.‘
Wie Tabelle 7 zeigt, weisen die Rechtstexte jedoch nicht über Zeit und Sprachraum hinweg den gleichen Anteil an Relativsätzen auf. Innerhalb des Nordniedersächsischen heben sich die beiden jüngsten Texte – die Otterndorfer Statuten von 1541 und das Rechtsbuch des Alten Landes von 1580 – mit einem verhältnismäßig geringeren Anteil von 15,1 % und 11,9 % von den älteren Rechtstexten ab. Hier scheint sich auf den ersten Blick ein Einfluss der Entstehungszeit bemerkbar zu machen. Auffällig ist dabei allerdings, dass das Hamburger Stadtrecht von 1497 einen ganz ähnlichen Relativsatzanteil wie die zwei ältesten nordniedersächsischen Rechtstexte – das Stader Stadtrecht von 1279 und das Hamburger Schiffsrecht von 1301 / 06 – aufweist. Dies lässt sich mithilfe des in Kap. 3.3.2.1 und 3.3.2.3 beschriebenen Hintergrunds zur Stadtrechtsgeschichte Hamburgs erklären: In der Revision von 1497 wurde die Substanz des Hamburger Ordeelbooks von 1270, das auch als Vorlage für die Stadtrechte von Stade und Bremen diente, beibehalten und lediglich präzisiert und ergänzt (vgl. Eichler 2005: 34). Es ist ferner zu vermuten, dass die vorgenommenen Ergänzungen im Sinn eines homogenen Textes in Orientierung am Bestehenden formuliert wurden und sich zumindest auf bestimmten sprachlichen Ebenen nicht wesentlich von diesem unterscheiden. Aus diesem Grund ist – zunächst einmal nur mit Blick auf den Relativsatzanteil – das Hamburger Stadtrecht
214 Die Hervorhebungen in den beiden Beispielen wurden hier nicht übernommen.
4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen
119
weniger zwischen den älteren nordniedersächsischen Rechtstexten um 1300 und den jüngeren aus dem 16. Jahrhundert als vielmehr innerhalb der Gruppe der älteren Texte zu verorten. Ein möglicher Einfluss der Entstehungszeit muss auch deshalb vorsichtig betrachtet werden, weil das Teilkorpus für den diachronen Zugriff Texte verschiedener Textsorten – wenngleich derselben Textgruppe – enthält: Den Stadtrechten aus Stade, Hamburg, Bremen und Otterndorf steht das Rechtsbuch des Alten Landes gegenüber, das mit einem Anteil von 11,9 % deutlich weniger Relativsätze als die älteren Stadtrechte enthält. Dies ist u. a. auf die Abweichungen im Aufbau und in der inneren Struktur zurückzuführen: Während im Landrecht von 1517 die oben beschriebenen Muster der Stadtrechte aus Konditionalgefügen und Relativsatzkonstruktionen durchaus frequent sind, zeigen sich im übrigen Text auch andere Muster: In Berichten zu bestimmten Rechtsfällen liegt ein erzählerischer Stil vor; in Bestimmungen zum Gerichtsverfahren wird verhältnismäßig oft direkte Rede wie in (4) verwendet. (4)
Secht de Schepe: Her Vaget, will gi dat Ordel weten: [. . .] Den secht de Vaget: Wat schal ik denn vorbeden aver miner Iunckeren hegede gueding. De ander schepe fint und secht: Her Vaget wil gi dat Ordel weten: gi schölen vorbedenn allerlei Unrecht, Recht schöle gi beden aver Juwer Junckeren hegede guedinge. De Vaget secht: So do ik alse mi to rechte gefunden is [. . .] (Alt. Land Rechtsb., S. 21) ‚Der Schöffe sagt: Herr Vogt, wollt ihr das Urteil wissen: [. . .] Dann sagt der Vogt: Was soll ich denn im abgehaltenen Landgericht meiner Gutsherren verbieten? Der andere Schöffe entscheidet und sagt: Herr Vogt, wollt ihr das Urteil wissen: Ihr sollt alles Unrecht verbieten, Recht sollt ihr gebieten im abgehaltenen Landgericht eurer Gutsherren. Der Vogt sagt: So handle ich, wie es vor Gericht entschieden wurde [. . .]‘
In den Findungen des Rechtsbuches liegt häufig eine Frage-Antwort-Struktur zugrunde: Das rechtliche Anliegen bzw. die Frage werden formuliert – meist nicht als direkte Frage, sondern als interrogativer Nebensatz wie weme dat tokeme und hören schöle215 in (5) – und darauf folgt die Antwort, die Rechtsfindung. An vielen Stellen finden sich auch hier Konditionalgefüge und Konstruktionen mit freiem Relativsatz wie De dike und damme maken in (5), jedoch nicht so konsequent wie in den älteren Stadtrechten. Im Fall des Rechtsbuches des Alten Landes übt folglich weniger die Entstehungszeit als vielmehr die Textzusammensetzung und die damit verbundene syntaktische Struktur einen entscheidenden Einfluss auf den Relativsatzanteil aus.
215 Zum Zweck des besseren Verständnisses werden die im Fließtext zitierten Auszüge aus den Beispielen in einer vereinfachten Schreibweise u. a. mit einer Normalisierung der Wortgrenzen wiedergegeben.
120
(5)
4 Analyse
So ein spadet gut wer, da mines G. H. greven den spaden up getagen hedden, weme dat to keme und hören schöle? Gefunden: De dike und damme maken, schölen van dem spadeden gude den nutten hebben. (Alt. Land Rechtsb., S. 37, Art. 4) ‚Wenn es ein abgespatetes Gut gibt, in dem die Grafen meines gnädigen Herren den Spaten aufgezogen haben – wem das zukommt und gehören soll? Entschieden: Die Deiche und Dämme machen, sollen den Nutzen von dem abgespateten Gut haben.‘216
Mit den Otterndorfer Statuten hingegen liegt wie bei den älteren Texten aus Stade, Bremen und Hamburg ebenfalls ein Stadtrecht vor, das daher in seiner Struktur diesen Quellen ähneln müsste. Tatsächlich jedoch enthält der Text nur 15,1 % Relativsätze gegenüber 18,9 % (Stader StR) bis 20,7 % (Hamburger StR) in den älteren Rechtstexten. Ob dies mit der späteren Entstehungszeit oder anderen Faktoren zusammenhängt, müsste mithilfe eines breiteren Korpus, das mehrere jüngere Stadtrechte enthält, überprüft werden. An dieser Stelle kann darauf hingewiesen werden, dass sich diachron in der Verwendung freier Relativsätze ein Wandel abzeichnet, der u. a. den Abbau syntaktisch nicht-integrierter Sätze umfasst (s. Kap. 4.4.4). Möglicherweise ist der diachrone Rückgang dieser in älteren Rechtstexten hochfrequenten Konstruktion mit einem geringeren Anteil an freien Relativsätzen und damit auch insgesamt einem niedrigeren Relativsatzanteil in jüngeren Rechtstexten verbunden (s. Anm. 418 in Kap. 4.4.4.5). Dass sich Quellen innerhalb derselben Textgruppe z. T. erheblich voneinander unterscheiden können, zeigt sich auch an den vier ostfälischen Rechtstexten, die alle um 1300 entstanden sind, deren Relativsatzanteile jedoch um bis zu 9,9 % voneinander abweichen. Es handelt sich um einen Sachsenspiegel, zwei Stadtrechte (Duderstadt, Hildesh. StR) und eine Zunftordnung (Gosl. KramerR). Sogar innerhalb derselben Textsorte kann hier keine Homogenität hinsichtlich des Relativsatzanteils festgestellt werden: Die Differenz zwischen dem Anteil im Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt (27,4 %) und im Hildesheimer Stadtrecht (20,4 %) beträgt 7 % und zeigt sich besonders in den Artikelanfängen. Während im Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt die überwiegende Mehrheit der Artikel mit einem freien Relativsatz beginnt, enthält das Hildesheimer Stadtrecht häufiger auch Konditionalsätze. Einen bedeutenden Einfluss auf den Relativsatzanteil haben hier somit nicht nur die Textsorte, sondern auch der Text selbst und dessen individuelle syntaktische Gestaltung. Die Bedeutung der individuellen Textgestaltung für den Relativsatzanteil zeigt sich nicht nur im Großen wie bei den erwähnten Artikelanfängen, sondern auch im Kleinen, wie die Beispiele in (6) und (7) illustrieren: Wo im Oldenburger Sachsenspie-
216 Zum Verständnis des Artikels s. die Anmerkung bei Krause (1882: 37, Anm. 1): „Die Sache heißt Spatenrecht; wer die Deichlast nicht mit seinem Hofe tragen kann, hat den Spaten in den Deich zu stoßen oder stoßen zu lassen und das Gut zu verlaufen [sic].“
4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen
121
gel der Hauptsatz dit hort to der vrowen rade in (6) steht, wird für denselben Inhalt in den Braunschweiger Sachsenspiegelfragmenten das Satzgefüge Dit is dat thvͦ vrouwen rade hort in (7) aus Hauptsatz und integriertem freien Relativsatz verwendet, wodurch der Satz insgesamt eine stärkere Betonung erfährt. U. a. aus informationsstrukturellen Gründen kann also in einem Text eine Konstruktion mit Relativsatz präferiert und so der Relativsatzanteil insgesamt erhöht werden. (6)
dit hort to der vro-wen rade . (Oldb. Ssp., Bl. 19v, Z. 7–8, ReN 0.7) ‚Dies gehört zum Besitz der Frau[en].‘
(7)
Dit is dat thvͦ vrouwen rade hort . (Ssp.-fragm., Bl. 4r,b, Z. 5–6) ‚Dies ist [es], was zum Besitz der Frau[en] gehört.‘
Die Beobachtung textspezifischer Variation muss auch im Teilkorpus für den diatopischen Zugriff berücksichtigt werden. Der auf den Relativsatzanteil bezogene Mittelwert von 19,6 % in den beiden nordniedersächsischen Rechtstexten um 1300 – im Stader Stadtrecht und im Hamburger Schiffsrecht – und 21,8 % in den vier ostfälischen Quellen lässt keinen wesentlichen Unterschied der Sprachräume erkennen. Allerdings ist auf die bereits erwähnte starke Heterogenität innerhalb der Gruppe der ostfälischen Rechtstexte hinzuweisen. Die stärkste Abweichung voneinander weisen hier die Braunschweiger Sachsenspiegelfragmente mit einem Relativsatzanteil von 17,5 % und das Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt mit 27,4 % auf. Für das Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt wurde oben bereits ein Einfluss der individuellen Textgestaltung festgestellt. Im Fall der Braunschweiger Sachsenspiegelfragmente ist aufgrund des fragmentarischen Charakters des Textes die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass das vorhandene Textmaterial einen nicht-repräsentativen Ausschnitt des Gesamttextes darstellt. Die ermittelten Daten erlauben daher nur Aussagen zum konkreten Fragment, während Rückschlüsse auf den gesamten Sachsenspiegel schwierig sind. Ob sich bspw. der Sachsenspiegel als Rechtsquelle hinsichtlich des Relativsatzanteils von Stadtrechten unterscheidet, müsste auf der Basis verschiedener Sachsenspiegel-Überlieferungen geprüft werden. Zusammenfassend lässt sich zu den drei untersuchten Parametern festhalten, dass die Betrachtung der nordniedersächsischen und ostfälischen Rechtstexte keinen erkennbaren Einfluss des Sprachraums ergeben hat. Im diachronen Zugriff hingegen konnte ein deutlicher Unterschied zwischen den Rechtstexten bis 1497 und denen von 1541 und 1580 festgestellt werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der jüngste Text – das Rechtsbuch des Alten Landes – einer anderen Textsorte angehört und sich in Aufbau und Struktur von den Stadtrechten unterscheidet, was auch mit einem geringeren Relativsatzanteil einhergeht. Ein unterschiedlicher Anteil der Relativsätze wurde z. T. auch zwischen Quellen verschiedener Textsorten beobachtet: Hier stehen sich das Stadtrecht und das Stadtbuch mit einem höheren Relativsatzan-
122
4 Analyse
teil sehr nahe und grenzen sich gegenüber dem Bibeltext, den Erzählungen und den Urkunden mit einem geringeren Anteil an Relativsätzen ab. Dass daneben auch eine textspezifische Variation vorliegen kann, wurde zum einen anhand der Erzählungen Griseldis / Sigismunda und Guiscardus und Veer Koeplude gezeigt, zum anderen an den ostfälischen Rechtstexten, innerhalb derer v. a. das Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt mit einem vergleichsweise hohen Relativsatzanteil heraussticht.
4.1.2 Relativsatztypen 4.1.2.1 Freie und attributive Relativsätze Nicht nur der Anteil der Relativsätze selbst, sondern auch die Verteilung der verschiedenen Relativsatztypen in den Quellen des Korpus soll vor dem Hintergrund möglicher Einflussfaktoren betrachtet werden. Auf syntaktischer Ebene sind innerhalb der Relativsätze die attributiven von den freien Relativsätzen zu unterscheiden (s. Kap. 2.2). Tabelle 8 zeigt zunächst den Anteil dieser beiden Typen in Prozentangaben für alle Texte des Korpus. Tab. 8: Übersicht der Relativsatztypen.
Stader StR Hamb. SchiffsR / Brem. StR / – Hamb. StR Otternd. St.
attributiv
frei
n. a.
n
, % , % , % , % , %
, % , % , % , % , %
– – , % – –
217 Bei den nicht annotierbaren Relativsätzen (in allen folgenden Übersichten kurz „n. a.“) handelt es sich in den meisten Fällen um solche, die aufgrund eines ambigen Pronomens, das entweder Referent im Matrixsatz oder Relativum sein kann, entweder als attributive oder freie Relativsätze interpretiert werden können (s. Kap. 4.2.1.2). Im Rechtsbuch des Alten Landes liegt zudem ein Fall mit ausgefallenem Matrixsatz vor: Nadem Clawes Svien kunt Hein Oltermans fruwen in de knaken gebeten, und Clawes it benenet, dat it sin hunt gedan heft, welker de eine den andern it averbringen schal? Gefunden: Dem de hunt gehort heft. (Alt. Land Rechtsb., S. 63, Art. 111) ‚Nachdem Claus Sviens Hund Hein Oltermans Frau in die Knochen gebissen hat, und Claus abstreitet, dass es sein Hund getan hat, welcher eine es dem anderen beweisen soll? Entschieden: Dem der Hund gehört hat.‘ Hinweis: Beim Wort kunt im Text handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Schreibfehler für hunt.
4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen
123
Tab. 8 (fortgesetzt )
Alt. Land Rechtsb. Buxteh. Ev. Gris. / Sig. Veer Koepl. Lüneb. Lib. Mem. – Brem. Uk. – Hamb. Uk. – Duderstadt Gosl. KramerR Hildesh. StR Ssp.-fragm. . H. . Jh.
attributiv
frei
n. a.
n
, % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , %
, % , % , % , % , % , % , % , % , % , % , %
, % , % – – – – – – – – –
Wie zu erkennen ist, weisen innerhalb der nordniedersächsischen Texte die Otterndorfer Statuten mit 83,1 %, die Erzählungen Griseldis / Sigismunda und Guiscardus mit 85,8 % und Veer Koeplude mit 93,5 %, der Lüneburger Liber Memorialis mit 86,6 % und die Urkunden mit 91,1 % (Brem. Uk.) und 83,5 % (Hamb. Uk.) einen deutlich höheren Anteil an attributiven Relativsätzen und damit weniger freie Relativsätze als die übrigen Texte des Korpus auf. Dies lässt zunächst auf einen möglichen Einfluss der Textsorte und eventuell auch der Entstehungszeit schließen, der im Folgenden geprüft werden soll. Abbildung 3 zur Verteilung der attributiven und freien Relativsätze218 in den verschiedenen Textsorten des entsprechenden Teilkorpus zeigt, dass sich der Bibeltext und das Stadtrecht mit einem Anteil von 34 % (Buxteh. Ev.) und 35,0 % (Hamb. StR) an freien Relativsätzen von den Erzählungen, dem Stadtbuch und den Urkunden mit einem erheblich geringeren Anteil von 10,4 % (Gris. /Sig., Veer Koepl.), 13,4 % (Lüneb. Lib. Mem.) und 12,7 % (Brem. und Hamb. Uk.) abgrenzen.219
218 In Abbildung 3 und Abbildung 4 werden die nicht annotierbaren Relativsätze (in Tabelle 8 unter „n. a.“) nicht berücksichtigt. Aufgrund der unterschiedlichen Summen kommt es daher in einzelnen Texten zu geringen Abweichungen in den Prozentangaben zwischen Tabelle 8 und Abbildung 3 sowie Abbildung 4. 219 Die unterschiedliche Verteilung der attributiven und freien Relativsätze in den Quellen verschiedener Textsorten ist statistisch signifikant: Der Chi-Quadrat-Test nach Pearson ergibt einen Signifikanzwert von p < 0,001. Der Effekt ist mit einem Wert von 0,241 für Cramers V gering (s. Tabelle 34 im Anhang). Zur Bewertung des jeweiligen p-Wertes wird als obere Grenze der konventionelle Signifikanzwert von 0,05 herangezogen (vgl. Bortz & Schuster 2010: 101), d. h., dass nur bis zu diesem Wert das Ergebnis als statistisch signifikant eingestuft wird. Ein hochsignifikanter p-Wert, der sich unterhalb des Signifikanzniveaus von 0,001 befindet, wird im Folgenden durch den Ausdruck „p < 0,001“ angegeben.
124
4 Analyse
89,6%
100,0% 80,0%
66,0%
86,6%
87,3%
65,0%
60,0% 40,0%
34,0%
35,0% 10,4%
13,4%
Erzählungen
Stadtbuch
20,0%
12,7%
0,0% Bibeltext
Stadtrecht
attributiv
Urkunden
frei
Abb. 3: Attributive und freie Relativsätze – textsortenspezifisch.
Das in Kap. 4.1.1 beschriebene in den Rechtstexten prominente RechtshandlungFolge-Muster, das u. a. durch eine Relativsatzkonstruktion mit vorangehendem freien Relativsatz ausgedrückt wird, kann als Erklärung für den verhältnismäßig höheren Anteil an freien Relativsätzen im Stadtrecht herangezogen werden. Der ähnlich hohe Anteil an freien Relativsätzen im Bibeltext ergibt sich u. a. aus Sätzen wie in (8), in denen – ähnlich wie in den Rechtstexten – durch das Muster aus Handlung und Folge implizit Handlungsanweisungen erfolgen. Während in den Rechtstexten häufig durch die Verknüpfung einer strafbaren Handlung mit der folgenden Strafe indirekt ein Verbot dieser Handlung ausgedrückt wird, erscheint im Bibeltext das erwähnte Muster eher in der Verbindung einer erwünschten Handlung wie bei so we in mi louet in (8) mit der in Aussicht gestellten positiven Konsequenz wie in de ne scal nummer dorsten und dient so u. a. der Formulierung von Glaubensgrundsätzen. (8)
so we in mi louet de ne scal nummer dorsten (Buxteh. Ev., S. 46, Z. 14–15) ‚Wer an mich glaubt, den soll niemals dürsten.‘
Insgesamt weisen die freien Relativsätze im Bibeltext ein breites Funktionsspektrum auf und finden sich auch in anderen Kontexten als in den erwähnten impliziten Handlungsanweisungen, z. B. als Adverbialsätze mit lokalem dâr wie bei vnde eyn ander scal dy gorden Vnde scal dy voren dar du nicht ne wult in (9) sowie in Konstruktionen mit auf den Matrixsatz folgendem freien Relativsatz wie bei here we is de dy vorraden scal in (10) und simon petrus vnde de dar het didimus weren tosamende in (11), in denen vom neuhochdeutschen Sprachgefühl her eher ein Referent im Matrixsatz erwartbar wäre. (9)
vnde eyn ander scal dy gorden Vnde scal dy voren dar du nicht ne wult (Buxteh. Ev., S. 155, Z. 9–11) ‚Und ein anderer soll dich gürten und soll dich [dahin] führen, wohin du nicht willst.‘
4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen
(10)
125
here we is de dy vorraden scal (Buxteh. Ev., S. 156, Z. 2–3) ‚Herr wer ist [es / der], der dich verraten wird?‘
(11)
simon petrus vnde de dar het didimus weren to samen de vnde mathanael de dar was van cana galilee (Buxteh. Ev., S. 151, Z. 13–16) ‚Simon Petrus und, der da heißt Didymus, waren zusammen und Nathanael, der da aus Kana Galiläa kommt.‘
Auch einige Verbindungen aus vorangehendem freien Relativsatz und folgendem Matrixsatz wie bei wente de du my geuen heft der ne hebbe ik nenen vorloren in (12) wären problemlos in einen vorangehenden Matrixsatz mit einem Referenten und einem folgenden Relativsatz wie z. B. wente ik hebbe nenen van denen vorloren de du my geuen heft umwandelbar. In der vorliegenden Konstruktion wird jedoch ein anderer Fokus gesetzt: In (12) erhält die Proposition des Matrixsatzes durch die Nachstellung mehr Gewicht. Konstruktionen mit freien Relativsätzen können demzufolge im Bibeltext auch zum Zweck der Hervorhebung bestimmter Inhalte verwendet werden. (12)
wente de du my geuen heft der ne hebbe ik nenen vor loren (Buxteh. Ev., S. 133, Z. 5–7) ‚Denn die du mir gegeben hast, derer habe ich keinen verloren.‘
Das Stadtbuch, das in Bezug auf den Relativsatzanteil dem Stadtrecht sehr nahesteht (s. Kap. 4.1.1), hebt sich im Bereich der Relativsatztypen mit einem deutlich geringeren Anteil an freien Relativsätzen in Höhe von 13,4 % vom Stadtrecht mit 35,0 % stärker ab. Diese Verteilung lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich die Mehrheit derjenigen Eintragungen, die zum hohen Relativsatzanteil im Lüneburger Liber Memorialis beitragen – ob rechtlich oder nicht-rechtlich – strukturell von Stadtrechtsartikeln wie im Hamburger Stadtrecht unterscheiden. In solchen Stadtbüchern hingegen, die anders als der Lüneburger Liber Memorialis in einem größeren Umfang Stadtrechtsartikel enthalten, wäre sowohl beim Relativsatzanteil als auch in der Verteilung der syntaktischen Relativsatztypen ein ähnliches Bild wie im Stadtrecht zu erwarten. Dies verdeutlicht, wie heterogen sich die Textsorte Stadtbuch aufgrund der unterschiedlichen möglichen Inhalte darstellt und dass generalisierende Aussagen auf der Grundlage eines Textes dieser Textsorte nur schwer möglich sind. Auf der anderen Seite ist davon auszugehen, dass sich der Lüneburger Liber Memorialis von den Quellen derjenigen Textsorten, die i. d. R. nicht Bestandteil eines Stadtbuches sind, d. h. den Erzählungen und dem Bibeltext, unterscheidet und vor diesem Hintergrund trotz der Heterogenität eine Berechtigung im textsortenspezifischen Teilkorpus hat. Zudem kann es gerade interessant sein, zu erforschen, in welchen Aspekten der Text dem Stadtrecht und in welchen den Urkunden stärker ähnelt.
126
4 Analyse
Dass die Verteilung der beiden Relativsatztypen nicht nur in Quellen unterschiedlicher Textsorten abweicht, sondern auch diachron verschieden ausfällt, verdeutlicht Abbildung 4. In den nordniedersächsischen Rechtstexten bis 1541 ist mit Ausnahme des Hamburger Schiffsrechts ein Anstieg des Anteils attributiver Relativsätze von 54,2 % (Stader StR) auf 83,1 % (Otternd. St.) zu erkennen.220
100,0%
83,1%
80,0% 60,0%
54,2% 45,8%
55,9% 44,1%
40,0%
62,8%
65,0% 55,7% 44,3%
37,2%
35,0% 16,9%
20,0% 0,0% Stader StR 1279
Hamb. SchiffsR 1301/06
Brem. StR 1303/04–1424 attributiv
Hamb. StR 1497
Otternd. St. 1541
Alt. Land Rechtsb. 1580
frei
Abb. 4: Attributive und freie Relativsätze – diachron.
Das für die Rechtstexte charakteristische Rechtshandlung-Folge-Muster in Form eines freien Relativsatzes und folgenden Matrixsatzes findet sich in den Otterndorfer Statuten deutlich seltener als in den älteren Stadtrechten. Stattdessen dominieren Konstruktionen mit einem Referenten wie jēne im vorangehenden Matrixsatz und mit folgendem attributiven Relativsatz wie in (13). Dies hängt mit der im vorangehenden Kapitel erwähnten Abnahme syntaktisch nicht-integrierter Konstruktionen mit Konditionalsatz und / oder freiem Relativsatz zusammen, auf die in Kap. 4.4.4.2 ausführlich eingegangen wird.221
220 Der Anstieg des Anteils attributiver Relativsätze im diachronen Teilkorpus ist statistisch signifikant: Die Rangkorrelation nach Spearman ergibt einen Signifikanzwert von p < 0,001 und einen Korrelationskoeffizienten von ρ = 0,569 und zeigt damit eine starke Korrelation (s. Tabelle 35 im Anhang). 221 So könnte statt der Verbindung aus Konditionalsatz und folgendem Matrixsatz mit integriertem attributiven Relativsatz in (13) auch eine Konstruktion mit syntaktisch nicht-integriertem Nebensatz, wie sie in Kap. 4.4.4.2 beschrieben wird, verwendet werden – bestehend aus Konditionalsatz, freiem Relativsatz und Matrixsatz: Vnde wann gerichte sall geholden werden, we tho rechte tho boscheden vnnde gestahen schal, deme schall de recht dach thom wenigsten dre dage thouorne vorkundijet vnde angetoget werden. ‚Und wenn Gericht gehalten werden soll, wer zum Gericht vorgeladen werden soll, dem soll der Gerichtstag mindestens drei Tage vorher verkündet und angezeigt werden.‘
4.1 Anteil der Relativsätze und Relativsatztypen
(13)
127
Vnde wann gerichte sall geholden werden, schall de recht dach den jennen, alße tho rechte tho boscheden vnnde gestahen schollen, thom wenigsten dre dage thouorne vorkundijet vnde angetoget werden. (Otternd. St., S. 320, Art. 2,3) ‚Und wenn Gericht gehalten werden soll, soll der Gerichtstag denjenigen, die zum Gericht vorgeladen werden sollen, mindestens drei Tage vorher verkündet und angezeigt werden.‘
Aus der beobachteten diachronen Abnahme freier Relativsätze fällt der jüngste Text, das Rechtsbuch des Alten Landes, heraus, denn er steht mit einem Anteil von 44,3 % an freien Relativsätzen dem ältesten Text des Teilkorpus, dem Stader Stadtrecht, mit einem Anteil in Höhe von 45,8 % sehr nahe. Das Rechtsbuch des Alten Landes enthält zwar, wie oben gezeigt wurde, im diachronen Vergleich den geringsten Anteil an Relativsätzen insgesamt, jedoch sind darunter freie Relativsätze – auch in syntaktisch nicht-integrierten Konstruktionen mit folgendem Konditionalsatzgefüge wie in (14) (s. Kap. 4.4.4.2) – noch sehr frequent. (14)
Welk ein gut bisprikt, wen he it jarlank gebruket, mach he damit don und laten wat he wil und gefellich. (Alt. Land Rechtsb., S. 46, Art. 50) ‚Wer ein Gut beansprucht – wenn er es ein Jahr lang benutzt, kann er damit tun und lassen, was er will und [was ihm] passt.‘
Ein Vergleich der nordniedersächsischen und ostfälischen Rechtstexte ist aufgrund der verhältnismäßig großen Abweichungen, v. a. innerhalb der ostfälischen Quellen, nicht sinnvoll. In der Übersicht in Tabelle 8 hebt sich das Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt mit einem mehr als doppelt so hohen Anteil an freien Relativsätzen (81,1 %) als bspw. in den Braunschweiger Sachspiegelfragmenten (36,8 %) deutlich von den übrigen Texten nicht nur des Teilkorpus zur diatopischen Betrachtung, sondern des gesamten Korpus ab. Wie im vorangehenden Kapitel aufgezeigt wurde, beginnt die überwiegende Mehrheit der Artikel im Braunschweiger Stadtrecht für Duderstadt mit einem freien Relativsatz – ein spezifisches Merkmal dieses Textes. Vor dem Hintergrund, dass der Text deutlich kürzer als die älteren nordniedersächsischen Stadtrechte und das Hildesheimer Stadtrecht ist, könnte eine weitere Erklärung für den auffallend hohen Anteil an freien Relativsätzen auch darin zu sehen sein, dass dieser Text auf den Kern der Bestimmungen reduziert ist – ausgedrückt in dem Muster aus freiem Relativsatz und folgendem Matrixsatz – und keine weiteren Erläuterungen enthält, in denen auch mehr attributive Relativsätze erwartbar wären. Gleichzeitig ist es möglich, dass trotz der verhältnismäßig geringen Abweichungen in den Entstehungsdaten der ostfälischen Rechtstexte ein gewisser Einfluss der Diachronie, wie er für die nordniedersächsischen Rechtstexte oben nachgewiesen wurde, auch innerhalb dieser Gruppe in Form einer Abnahme des Anteils freier Relativsätze vom ältesten zum jüngsten Text wirksam wird.
128
4 Analyse
4.1.2.2 Semantische Typen attributiver Relativsätze Neben der syntaktischen Unterscheidung zwischen freien und attributiven Relativsätzen ist im Bereich der attributiven Relativsätze eine weitere Differenzierung zwischen restriktiven und appositiven Relativsätzen möglich (s. Kap. 2.2.1). Innerhalb der appositiven Relativsätze wiederum stellen die weiterführenden Relativsätze einen besonderen Subtyp dar, weshalb sie in der Übersicht in Tabelle 9 gesondert aufgeführt sind. Tab. 9: Übersicht zu den Typen attributiver Relativsätze.
Stader StR Hamb. SchiffsR / Brem. StR / – Hamb. StR Otternd. St. Alt. Land Rechtsb. Buxteh. Ev. Gris. / Sig. Veer Koepl. Lüneb. Lib. Mem. – Brem. Uk. – Hamb. Uk. – Duderstadt Gosl. KramerR Hildesh. StR Ssp.-fragm. . H. . Jh.
restriktiv
appositiv
restr. / appos.
weiterf.
n
% % % % % % % % % % % % % % % %
% % % % % % % % % % % % % – % %