Reisen zum Ursprung: Das Mauritius-Projekt von Jean Marie Gustave Le Clézio [Reprint 2011 ed.] 9783110945744, 9783484550407

Studie zum Literaturnobelpreisträger! The study discusses J.M.G. Le Clézio's (*1940) travel writings from the per

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German Pages 349 [352] Year 2002

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Table of contents :
Einleitung
Forschungsstand
A. Methodologische Überlegungen
1. Le Clézios extase matérielle als Bewußtseinsexperiment
1.1 Die äußere Natur als Spiegel innerer Prozesse
1.2 Von der Bewußtseinsreise zum mythischen Sonnenhelden
2. Gaston Bachelards imagination matérielle als Dichtungstheorie
2.1 Primitivität und Moderne: Lautréamonts Chants de Maldoror
2.2 Poesie und Wissenschaft: Bachelards Literaturpsychologie
2.3 Zur Technik der aktiven Imagination
B. Zur Initiationsstruktur der Reise
1. Initiation und Erkenntnis
2. Rituale des Übergangs
2.1 Das Strukturmodell: Die Erzählung La montagne du dieu vivant (1978)
2.2 Phase I des Projekts: Der Roman Le chercheur d’or (1985)
2.3 Phase II des Projekts: Der Reiseroman La quarantaine (1995)
C. Reise zum Ursprung des Ich: Konzepte personaler Doppelung
1. Figuren des Animus als Doppelgänger
1.1 ‹Je suis un Indien›: Archaik als anthropologische Konstante
1.2 ‹Devenir autre›: Alterität als experimentelle Konstante
1.3 ‹Je suis l’autre Léon›: Der Vater als existentielle Konstante
2. Die Figur der Anima
2.1 Die Kindgöttin
2.2 Zur Dynamik der Ganzheit: Fisch und Vogel
D. Reise zum Ursprung der Welt: Die Poetik der Elemente
1. Abstieg ins Imaginäre: Das Wasser als onirische Substanz
1.1 Der Jona-Komplex
2. Die Inselquarantäne und der Akt dichterischer Selbstwerdung
2.1 Der Robinson-Komplex
3. Zur Dynamik der Imagination: Der Poet als Feuervogel
3.1 Der Phaeton-Komplex
3.2 Der Phoenix-Komplex
Resümee: Vom gefesselten zum entfesselten Dichten
Literaturverzeichnis
1. Siglen
2. J. M. G. Le Clézio
2.1 Werke
2.2 Artikel und Rezensionen
2.3 Interviews
3. Werke anderer Autoren
4. Sekundärliteratur
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Reisen zum Ursprung: Das Mauritius-Projekt von Jean Marie Gustave Le Clézio [Reprint 2011 ed.]
 9783110945744, 9783484550407

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mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les litteratures romanes depuis la Renaissance

Herausgegeben von / Dirigees par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel

40

Laetitia

Rimpau

Reisen zum Ursprung Das Mauritius-Projekt von Jean-Marie Gustave Le Clezio

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-55040-6

ISSN 0178-7489

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Geiger, Ammerbuch

Vorwort

Die Drucklegung dieser Studie, die im Sommersemester 1999 vom Fachbereich Neuere Philologien der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt als Dissertation angenommen wurde, ist durch die großzügige Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht worden. Danken möchte ich den Herausgebern für die Aufnahme in die /nimejü-Reihe und dem Max Niemeyer Verlag, Tübingen. Besonderer Dank gilt meinem Lehrer Prof. Dr. Friedrich Wolfzettel, der den Fortgang dieser Arbeit stets aufmerksam verfolgt und mit viel Verständnis unterstützt hat. Bei der Fertigstellung des Manuskripts war mir Sandra Lückert mit konstruktiven Anmerkungen und Sorgfalt eine wertvolle Hilfe.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung Forschungsstand

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A. Methodologische Überlegungen

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1. Le Clezios extase matirielle als Bewußtseinsexperiment 1.1 Die äußere Natur als Spiegel innerer Prozesse 1.2 Von der Bewußtseinsreise zum mythischen Sonnenhelden . . . 1.2.1 Das Drogenexperiment Mydriase (1973) 1.2.2 Zum Leserbewußtsein in Vers les Icebergs (1978) 2. Gaston Bachelards imagination matirielle als Dichtungstheorie . . 2.1 Primitivität und Moderne: Lautreamonts Chants de Maldoror 2.2 Poesie und Wissenschaft: Bachelards Literaturpsychologie . . . 2.3 Zur Technik der aktiven Imagination 2.3.1 Das Dualitätsprinzip von Animus und Anima

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B. Zur Initiationsstruktur der Reise

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1. Initiation und Erkenntnis 2. Rituale des Übergangs Schaubild: Initiationsstruktur der Reiseromane Schaubild: Initiationsstruktur der Reiseberichte 2.1 Das Strukturmodell: Die Erzählung La montagne du dieu vivant (1978) 2.2 Phase I des Projekts: Der Roman Le chercheur d'or (1985) . . 2.2.1 Der Reisebericht Voyage a Rodrigues (1986) 2.3 Phase II des Projekts: Der Reiseroman La quarantaine (1995) 2.3.1 Die Rahmenhandlung 2.3.2 Die Binnenhandlung

55 59 64 65 66 68 71 73 74 76

C. Reise zum Ursprung des Ich: Konzepte personaler Doppelung . . . Schaubild: Schema der personalen Doppelung

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1. Figuren des Animus als Doppelgänger 1.1 : Archaik als anthropologische Konstante . . 1.2 : Alterität als experimentelle Konstante 1.3 4«sbruchs seit Le proces-verbal (1963) zentrales Thema, den Unzulänglichkeiten der alltäglichen Welt zu begegnen. Welt meint - und das hat

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Rundschau (20.5.2000), p. 22 und Mark Terkessidis, «Denkmal für Bastarde», in: Die Zeit 26 (21.6.2000), p. 55. Gerda Zeltner-Neukomm ist eine kenntnisreiche Interpretin Le Clezioscher Texte, die - neben zahlreichen Rezensionen in der Neuen Zürcher Zeitung die 1968 wegweisende Studie Das Ich und die Dinge. Versuche über Ponge, Cayrol, Robbe-Grillet, Le Clezio, Köln/Berlin vorlegt. Auf sie wird kontextbezogen eingegangen. Bernd-Jürgen Kiltz, Transpersonales Erzählen bei]. M. G. Le Clezio, Frankfurt/ Bern/Las Vegas 1977; Johannes Oswald, Reisen auf die andere Seite des Bewußtseins. Untersuchungen zum literarischen WerkJ. M. G. Le Clezios, Münster 1984 und Astrid Arriens, J. M. G. Le Clezio als Erzähler moderner Mythennovellen, Diss. Christian-Albrechts-Universität Kiel 1992. Die kürzlich erschienene Dissertation von Irmgard Scharold, Epiphanie, Tierbild, Metamorphose, Passion und Eucharistie: Zur Kodierung des zu nennen, da die Hinwendung zu Mythen, mythischen Strukturen sowie mythischem Denken auf die Beschäftigung mit der Kultur der Indianer zurückzuführen ist. Cf. ibid., p. 3.

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sich bis zu La quarantaine bewahrt - immer auch Sprachwelt. Die Texte bis 1975 reflektieren die alltägliche Sprache im Kontext der modernen Stadt und ihrer Bewohner, 15 die Texte seit Voyages de l'autre cöte thematisieren zunehmend die poetische Sprache eines Schreibenden im Kontext mystischer Naturerfahrung. 16 Die andere Seite eröffnet ein Spektrum sozial-, kultur- und sprachkritischer Befindlichkeiten, das mit der Figur des indien (Indianers/Inders) zu fassen ist. Die Abkehr von der europäischen Identität und Hinwendung zur außereuropäischen Alterität ist eine Konstante der Le Clezioschen Texte, die auf dem rousseauistischen Paradigma Kultur versus Natur gründen. Mit Voyages de l'autre cöte setzt aber auch ein Wandel ein, der sich auf formale Techniken des Erzählens bezieht, die zunehmend vom Experimentellen zu Traditionellem zurückkehren. 17 Durchgängig finden sich jedoch vom Erstlingsroman Le proces-verbal bis zum monumentalen Familienroman La quarantaine poetologische wie sprachkritische Überlegungen, die nach neuen Formen suchen. Die Romane Le livre des fuites und Voyages de l'autre cöte umreißen bereits im Titel programmatisch den Radius: 18 und stellen Strategien der Bewältigung dar, die sich nur vor dem Hintergrund der Verfolgen (Kultur) und dem (Natur) verstehen lassen, ja die sich sogar gegenseitig bedingen. Die Dialektik von Weltflucht und Ich-Suche bildet eine Grundthematik der Le Clezioschen Texte, die insbesondere für die zweite Werkphase geltend gemacht werden kann. In den frühen Romanen La guerre (1970) und Les giants (1973) sind die Fluchtversuche und Revolten ziellos und sinnlos, da das Ich immer wieder an eigene wie fremde Grenzen stößt. Mit Voyages de l'autre cöte sind es erstmals zielgerichtete Suchbewegungen, in denen der Wirklichkeit eine Möglichkeit gegenübersteht. 19 Mit ihr ist

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Cf. Friedrich Wolfzettel, «J. M. G. le Clezio: Guerre et Modernite» in: Beiträge zur Romanischen Philologie XXVIII (1989), p. 87-95. Die Umkehr von der Sprachkrise zur Sprachmagie ist der Philippe Sollers vergleichbar. Der Versuch der «Destruktion der traditionellen Sprache auf der Basis eines materialistischen Sprachmodells» schlägt in «ein plötzliches Interesse für die Mystik» um. Obgleich Le Clezio keiner literarischen Schule zuzurechnen ist, ist diese Feststellung zutreffend. Cf. Rössner, Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, p. 285. Cf. Brigitta Coenen-Mennemeier, «Kind und Kosmos. J. M. G. Le Clezio als Geschichtenerzähler», in: Die Neueren Sprachen 83 (1984), p. 122-145; Christa Bevernis, «Rückkehr zur Sinnproduktion und Lesbarkeit: Michel Tournier J. M. G. Le Clezio», in: Beiträge zur Romanischen Philologie XXV/2 (1986), p. 179-184; Helene Harth, «Jean-Marie Gustave Le Clezio», in: Wolf-Dieter Lange (ed.), Französische Literatur des 20. Jahrhunderts - Gestalten und Tendenzen, Bonn 1986, p. 410-426; Germaine Bree, Le monde fabuleux de J. M. G. Le Clizio, Amsterdam/Atlanta 1990. Anne Fabre-Luce, «La fuite immobile», in: La Quinzaine littiraire 73 (16.5.1969), p. 6 - 7 und Adolf Blümel, «Jetzt ist es Zeit, nach rückwärts zu fliehen. Das Thema der Flucht bei Le Clezio», in: Die Neueren Sprachen 2 (1973), p. 149-159. Cf. hierzu Bieker, «J. M. G. Le Clezio», p. 9 und Coenen-Mennemeier, «Jean-

eine temporäre Erlösung aus der conditio humana verbunden, da das Ich über seine Grenzen hinaus wieder Teil von Dingen, Welt und Kosmos werden kann. Das Projektionsspektrum der anderen Seite impliziert die Überwindung der Subjekt-Objekt-Entfremdung und die für die Traumstruktur kennzeichnende Umkehrung von Raum, Zeit und Bewußtsein. Raymond Jean weist bereits 1965 auf die conscience du corps als Form der körperhaften Weltbegegnung hin, 20 in der Ich und Sprache als Teil der Naturwelt und des Naturrhythmus anzusehen sind. Der in L'extase matirielle (1967) - dem ersten und einzigen theoretischen Manifest - von Le Clezio gepriesene voyage vers la matiere ist in diesem Sinn immer auch als ein voyage of the word21 zu verstehen. Die vorliegende Studie setzt sich das Ziel, die Facetten dieser Reise als Innenweltdiskurs zu entwickeln. Doch werfen wir zunächst einen Blick auf die Forschungsergebnisse der letzten drei Jahrzehnte und die Frage, wie sie zu bewerten sind. Gerda Zeltner-Neukomm ist die erste, die bereits 1968 in Das Ich und die Dinge Le Clezios Texte unter dem Titel Die weiße Waffe der Wut22 in der französischen Literaturlandschaft nicht nur situiert, sondern auch zentrale Techniken und Motive anspricht. Sie deutet Le proces-verbal mit den theoretischen Prämissen von L'extase matirielle und stellt Nähen und Unterschiede zu Existentialismus, Nouveau Roman und Tel Quel heraus. Für sie ist Le Clezios Verwandtschaft zum Existentialismus eines Camus offenkundig, obwohl sie ihm einige Jahre später attestiert, «scandaleusement inclassable» 23 zu sein. In ihrer prägnanten Analyse werden zentrale Aspekte des Le Clezioschen Reiseparadigmas angesprochen, das Motiv der anderen Seite, die elementare Materie sowie der Sprach- und Ecriturebegriff. Zeltner-Neukomm konstatiert eine auffällige «Sehnsucht nach Einheit mit der »24 und einen Drang, die Welt vom Nullpunkt und in ihrer Unmittelbarkeit und «kreaturhaften Elementarkraft» 2 5 zu erfahren. Die «bloße Materie» erweise sich bei Le Clezio, so Zeltner-Neukomm, nicht als Ursache einer stolzen, son-

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Marie Gustave Le Clezio», in: Kritisches Lexikon der Romanischen Gegenwartsliteraturen (KLRG), Tübingen 1986, p. 1. Raymond Jean, «L'univers biologique de J.-M.-G. Le Clezio», in: ders., La litterature et le reel. De Diderot au , Paris 1965, p. 258-263, hier p. 258. Maurice Cagnon/Stephen Smith, «J. M. G. Le Clezio: Fiction's double bind», in: Raymond Federman (ed.), Surfiction. Fiction Now ... and Tomorrow, Chicago 1975, p. 215-226, hier p. 219. Zeltner-Neukomm, «Jean Marie Gustave Le Clezio Die weiße Waffe der Wut», in: dies., Das Ich und die Dinge, p. 121 -149. Gerda Zeltner, «Jean-Marie Gustave Le Clezio: Le roman antiformaliste», in: Michel Mansuy (ed.), Positions et oppositions sur le roman contemporain, Paris 1971, p. 215-226, hier p. 215. Zeltner-Neukomm, «Jean Marie Gustave Le Clezio Die weiße Waffe der Wut», p. 149. Ibid., p. 123.

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dem einer ohnmächtigen Revolte, aus der nicht geistige Freiheit, sondern «Befreiung vom Geist» hervorgehe. 26 Dieser zentrale Gedanke hat seine Gültigkeit bis zu La quarantaine bewahrt: Erst aus der Akzeptanz der Unterlegenheit gegenüber der Natur und der mystischen Vorwegnahme des Todes kann die Überlegenheit im Sinne geistiger Erneuerung hervorgehen. Das «Versinken und Eintauchen» 27 sowie der «Hunger nach Leben und Schöpfung», 28 die darauf ausgerichtet sind, die in der Materie innewohnenden Energien künstlerisch nutzbar zu machen, sind ebenso zu nennen, wie die Metamorphose als Verfahren und «Grundvokabel zur Kennzeichnung dieser Welt.»29 ZeltnerNeukomm bezeichnet Le Clezios Sprachnihilismus als Angriff auf die Welt und als Interiorisierung der Welt («Sprachblick»).30 Der Dualismus von Sprachnegation (Revolte) und Sprachfindung (Magie) ist in allen hier thematisierten Texten angelegt. Die Durchdringung von Ich und Welt - die sogenannte extase matirielle - ermöglicht eine Umkehrung: Das Lebendige stirbt, das Anorganische wird belebt. Diese Metamorphose versteht sich nur vor dem Hintergrund eines angehaltenen, erstarrten Sprachkörpers, der - reduziert auf ein Wort oder Schrei - seiner Neubelebung vorausgeht. Daß es sich um «das leidenschaftliche Wunschbild eines Mystikers»31 handelt, für den Schreiben bewußtseinserweiternd und erkenntnisfördernd ist, stellt ZeltnerNeukomm zurecht fest: «Zwar gilt auch sein Schreiben der Erkenntnis; dieses jedoch, so möchte man sagen, beginnt erst genau dort, wo der Spiegel aufhört.»32 Es ist eine Ecriture, die jenseits der Reflexion hinter dem Spiegel «jede unmittelbare Erfahrung von Realität und Wahrheit»33 sucht. Bernd-Jürgen Kiltz untersucht in seiner Dissertation Transpersonales Erzählen bei J. M. G. Le Clezio (1977) die Romane Le proces-verbal und Les geants unter soziopoetischer Perspektive im Umkreis (und in Abgrenzung) von Nouveau Roman, Nouveau Nouveau Roman und Tel Quel. Kiltz versucht, im Kontext der Entfremdungsthematik das «moderne Ich» im Konflikt mit der «zunehmend bedrohlicheren Welt einer Wettbewerbsgesellschaft» 34 herauszuarbeiten und das poetologische Konzept eines - wenn auch «unsystematischen Romantheoretikers» - freizulegen. 35 Die seit L'extase matirielle erkennbare «Suche nach transpersonalen Verbindlichkeiten»36 biete Möglichkeiten der Kompensation, die sich auch in Formen des Erzählens zeigten. Die Absage an die Autonomie von Ich und Sprache sowie das des 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

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Ibid., p. 148. Ibid., p. 128. Ibid., p. 138. Ibid., p. 144. Ibid. Ibid., p. 128. Ibid., p. 136. Ibid. Kiltz, Transpersonales Erzählen bei J. M. G. Le Clezio, p. 23. Cf. ibid., p. 15. Ibid., p. 24.

Schreibenden 37 wirke sich auf Le Clezios veränderte Welt- und Gattungswahmehmung aus. Kiltz spricht von «anonymen, weil vorbewußten Strukturen der Sprache»,38 die auf die Sprachkrise in der Literatur, insbesondere der von Tel Quel zurückzuführen seien. Das Fehlen authentischer zwischenmenschlicher Beziehungen habe zur Folge - und hier grenzt Kiltz Le Clezio von den Tel Quelisten ab daß kollektive Substrukturen in das Ich, daß «die Gesellschaft in das Individuum»39 hineinverlagert werde: «D.h. Gesellschaft wird von Le Clezio konzeptuell so angelegt, daß sie dem selbstverständlichen Besitz des Einzelnen entzogen ist und stets neu als Tiefenstruktur des Ich entdeckt werden muß.» 40 Es wird sich zeigen, daß der Rekurs auf das Transpersonale bis zu den Mauritius-Texten ein konstanter Faktor bleibt. Es stellt sich nur die Frage, ob man in soziologischen Termini von «Tiefenstrukturen des Ich»41 sprechen sollte. Der ideologiekritische Ansatz, Literatur als Produkt ihrer gesellschaftlichen Bedingungen anzusehen, ist in bezug auf Suche nach Authentizität gerechtfertigt, hinsichtlich psychologischer Individualprozesse eher fragwürdig. Wenn Kiltz von der Ecriture «als Potenz» und «Art der Selbsttherapie» spricht, dann gerät die soziologische Argumentation an ihre Grenzen. Im Gegensatz zur Fixierung auf Außenweltvorgänge, die im Sinne einer Schulung in sinnlicher Wahrnehmung42 betrachtet werden, geht es uns nicht um «die Anpassung des Ich an die Realität», noch um eine «Apologie der Phantasie inmitten einer Umwelt» 43 oder das «Abgleiten ins Phantastisch-Utopische», 44 sondern vornehmlich um innerweltliche Prozesse des Ich. Was bei Kiltz ausgespart bleibt, wird von Jennifer Waelti-Walters in ihrer zweiten Monographie zu Le Clezio nachgeholt 45 leare ou l'evasion impossible. Etude psycho-mythique de l'ceuvre de J. M. G. Le Clezio (1981) ist das erste Beispiel einer tiefenpsychologischen Interpretation, in der im literarischessayistischen Werk (von Le proces-verbal bis zu L'inconnu sur la terre [1978]) eine mythische Struktur nachgewiesen wird. Der Ikarus-Mythos dient als Muster, die vergeblichen Fluchtversuche der Protagonisten zu deuten. Auf der Grundlage von Erich Neumanns Archetypenlehre entwickelt Waelti-Walters ein Netz wiederkehrender Bilder und Symbole, in denen das gewaltsame Streben der Helden nach Rationalität der Übermacht des weiblichen Unbewußten gegenübersteht. Die Vertikalität (langer Aufstieg und schneller Sturz) bildet die Grundpolarität der Le Clezioschen Bildbereiche. Die Tatsache, daß sie die

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Cf. ibid., p. 184. Ibid. Ibid., p. 193. Ibid. Ibid. Ibid., p. 263. Ibid., p. 261. Ibid., p. 262. Bei der ersten handelt es sich um eine allgemeine Werkeinführung. WaeltiWalters, /. M. G. Le Clezio. 13

Ambivalenz von Haß und Liebe sowie den Evasionsdrang als unbewältigten sexuellen Konflikt des Autors deutet, 46 zeigt, daß sie methodisch Charles Mauron nähersteht als Erich Neumann. Die Inbezugsetzung von unbewußten Bildgestaltungen und der Geschichte des Autors entspricht dem mythe personnel (eines Moi criateur und Moi social), den Mauron in seiner Psychocritique entwickelt. 47 Der Gang der vorliegenden Arbeit wurde zunächst entscheidend von Waelti-Walters Thesen beeinflußt. Mit der Frage, ob es für die Texte seit Voyages de l'autre cöte auch einen Mythos gäbe, mit dem die Werkstruktur zu erfassen sei, haben wir uns länger befaßt. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß wir vier Mytheme heranziehen, um die Initiationsstruktur Le Clezioscher Texte und die Wertigkeit der Bildbereiche näher zu bestimmen: Die Mythen von Jona, Robinson, Phaeton und Phoenix dienen uns als Komplexe, um Konstanten und Varianten eines immer wieder neu inszenierten Schöpfungsrituals zu veranschaulichen. Mit Johannes Oswalds Dissertation Reisen auf die andere Seite des Bewußtseins. Untersuchungen zum literarischen Werk J. M. G. Le Clizios (1984) ist die Bewußtseinsreise erstmals Hauptgegenstand einer Untersuchung. Im Unterschied zu Kiltz, der den Blick auf sozioökonomische Zusammenhänge richtet, versteht Oswald Reisen nicht als äußere Bewegung einer Figur in Raum und Zeit, sondern ausschließlich als innere des Geistes,48 den er mit Bewußtsein gleichsetzt. Oswald erarbeitet Einflüsse fernöstlicher Philosophie (Buddhismus, Taoismus, Zen), indianischer Mythologie und christlicher Religion, die er in den Texten bis Voyages de l'autre cöti nachweist. Die Grundlage bildet der angestrebte Übergang vom menschlichen ins kosmische Bewußtsein. Am Beispiel von Le deluge (1966) und Les giants zeigt er die Unmöglichkeit der «negativen Protagonisten», aus ihrem irdischen Bewußtsein auszubrechen. Erst mit dem «positiven Entwicklungsroman» 49 Voyages de l'autre cöte sei der Wendepunkt im Le Clezioschen Werk markiert und der Übergang in ein positiv-kosmisches Bewußtsein möglich. Die Gemeinsamkeit der Kiltzund Oswald-Studie ist der Aspekt der Totalität. Bei Kiltz ist das Transpersonale, bei Oswald das Kosmische Ausdruck überwundener Entfremdung. Im Unterschied zu Waelti-Walters sieht Oswald in Voyages de l'autre cöte den Wendepunkt zur möglichen Evasion. Das spielerische Bewußtseinsexperiment stelle eine Form gelungener Transzendenz dar, eine Feststellung, die weiter reicht, da mit dem Roman auch die zweite Werkphase inauguriert wird. Bei Oswald ist sowohl die Forschungsliteratur 50 als auch die genaue Bestimmung 46 47 48 49 50

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Waelti-Walters, Icare ou l'evasion impossible, p. 89. Cf. Charles Mauron, Des metaphores obsedantes au mythe personnel. Introduction ά la Psychocritique, Paris 1962, p. 207 -240. Cf. Oswald, Reisen auf die andere Seite, p. 5. Ibid., p. 301. Die zentralen Arbeiten von Waelti-Walters (1977 und 1981) sind ebensowenig aufgeführt wie die von Ruth Holzberg (1981) und Teresa di Scanno (1983).

dessen, was die eigentlich sei, weniger stark gewichtet: «Jede Erscheinungsform der Materie verspricht Zugang zur Transzendenz», 51 heißt es beispielsweise, wobei weder Geschichten noch Wind im herkömmlichen Sinn als sichtbare Materie zu bezeichnen sind. Die Gleichsetzung von Transzendenz und anderer Seite 52 erscheint uns problematisch, da sie sehr wohl als Erfahrung des Bewußtseins und Denkens beschrieben wird. Indem Oswald weder Alfred Kubins Roman Die andere Seite (1909) nennt noch auf phantastische, märchen- und traumhafte Aspekte eingeht, entfällt - insbesondere für Voyages de l'autre cöte - der zentrale Aspekt der Bewußtseinsreise und ihrer Struktur. Le Clezios Neigung zum Eklektizismus überträgt sich auch auf die des Interpreten: «Le Clezio kann in diesem Sinne als Integralist bezeichnet werden, gelingt es ihm doch, in seinen Werken sehr unterschiedliche, jedoch nicht beliebige, Aspekte gleichberechtigt zu integrieren.» 53 Bruno Tritsmans thematisch-komparatistische Studie Livres de pierres. Segalen - Caillois - Le Clezio - Gracq (1992)54 geht dem von Oswald ungelösten Problem der genaueren Bestimmung der vor allem in bezug auf die Ecriture-Konzeption nach. Er untersucht literarische und essayistische Texte Le Clezios zwischen 1967 und 1986 kursorisch nach dem Bildbereich des Mineralischen. Es handelt sich um einen zentralen Beitrag für unsere Überlegungen zur imagination materielle der Erde. Tritsmans kommt zu dem wichtigen und richtigen Ergebnis, daß die Rückkehr in einen mineralischen Raum vor allem als «quete poetique» 55 angesehen werden muß. Wüste und Gesteinslandschaften seien Chiffre des Poetischen, da sie Grenzräume des Nicht-Menschlichen und somit Sprachfreien seien 56 Der Le Cleziosche «discours elementaire» 57 eröffne dem Ich eine Möglichkeit, sich in seiner Totalität und als Teil der Materie zu begreifen. Was bei Kiltz das Transpersonale, bei Oswald das Kosmische ist, wird bei Tritsmans ailleurs genannt: «Cet ailleurs se manifeste dans cet espace denude». 58 Dieses Anderswo impliziert gleichermaßen Transzendenz, die - und das ist das Innovative dieser Studie - auf die elementare Materie (hier am Beispiel des Erdhaften) zurückgeführt wird. Die Kategorie der Natur als imaginäre Instanz wird hier erstmals angesprochen und in Beziehung zu poetologischen Überlegungen gestellt. Die vorliegende Arbeit erweitert den elementaren Diskurs> zu einer Poetik der Elemente, indem die Le Clezioschen Texte zwischen 1985 und 1995 auch nach den Bildbereichen von Wasser, Luft und Feuer untersucht werden. 51 52 53 54 55 56 57 58

Oswald, Ibid., p. 300sq. Cf. ibid., p. 302. Ibid., p. 305. Das Kapitel «Paysages mineraux I: Le Clezio», p. 53-73. Tritsmans, Livres de pierres, p. 58. Cf. ibid. sowie Holzberg, L'ceil du serpent und Michel, Line mise en recit du silence. Tritsmans, Livres de pierres, p. 64. Ibid., p. 69. 15

Die Dissertation von Astrid Arriens, J. M. G. Le Clezio als Erzähler moderner Mythennovellen (1992), stellt den neuesten Beitrag zur deutschen Le Clezio-Forschung dar. Das novellistische Werk 59 - bis dahin in der Forschung unterrepräsentiert - untersucht Arriens nach Mythen- und Märchenstrukturen. Das Initiationsschema der quite mythique (Isolation aus der Gemeinschaft - Weg zum Mittelpunkt - Resozialisierung) strukturiert den Gang der Arbeit, dessen Textkorpus die Novellen zwischen 1965 und 1989 umfaßt. Arriens stellt sie auch in einen formal-stilistischen Entwicklungszusammenhang und kommt zu dem Ergebnis, daß Le Clezio vom experimentellen zu einem poetischeren Erzählstil zurückkehrt und «zunehmend sicherer und professioneller erzählt.» 60 Dies trifft in gleicher Weise auf das Romanwerk zu. Das Verdienst dieser Arbeit ist die Aufarbeitung der Novellentheorie im 20. Jahrhundert, in deren Zusammenhang die Le Clezioschen Konstanten und Varianten mythischen Erzählens gestellt werden; wobei mythische Erzählverfahren - im Sinne zeitgenössischer Literaturkritik - als postmodern verortet werden. Arriens verweist, dies ist für unsere Überlegungen interessant, auch auf Le Clezios Nähe zum Sprachskeptizismus Samuel Becketts, zu Erzähltechniken Michel Tourniers 61 oder zum magischen Realismus lateinamerikanischer Autoren wie Luis Borges, Julio Cortäzar oder Alejo Carpentier. 62 Die Frage, welche Einflüsse sich für Le Clezios Konzeption des mythischen Denkens finden lassen, beantwortet die Interpretin mit zahlreichen Namen und Methoden, u.a. mit Claude Levi-Strauss, Gilbert Durand, Mircea Eliade und der Tiefenpsychologie. 63 Sie konstatiert ein auffälliges Mißverhältnis zwischen den «überbewerteten Romanen» und den «erzähltechnisch weitaus interessanteren» und «hochwertigen Novellen», 64 die «ein Maß an Originalität» hätten, «das von den Romanen nicht erreicht wird.» 65 Wir stimmen insofern zu, als daß auch wir am Beispiel der Erzählung La montagne du dieu vivant 66 ein mythisches Initiationsschema erarbeiten, an dem sich Romane und Reise-

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Cf. auch Francis Marotin, Mondo et autres histoires de J. M. G. Le Clezio, Paris 1995; Georges Molinie/Alain Viala, Approches de la reception und CoenenMennemeier/Johannes Oswald/Franz-Rudolf Weller [et al.], /. M. G. Le Clezio. Lullaby et autres histoires. La Ronde et autres faits divers. Dokumente und Analysen zum ErZählwerk Le Clezios, Frankfurt 1990. Arriens, J. M. G. Le Clizio als Erzähler moderner Mythennovellen, p. 299. Cf. ibid., p. 42sq. Cf. ibid., p. 42-49. Wobei Arriens nicht klar zwischen der Psychoanalyse Freuds und der Analytischen Psychologie Jungs unterscheidet. Hier liegt unseres Erachtens eine Schwachstelle der Arbeit, da zu viele unterschiedliche methodische Anleihen in Tiefenpsychologie, strukturaler Anthropologie und imaginaire-Forschung gemacht werden, die zur Folge haben, daß begriffliche Unscharfen entstehen. Cf. ibid., beispielsweise p. 7sq. und p. 50-53 und p. 153. Ibid., p. 27 und p. lsq. Ibid., p. 46. Aus der Novellensammlung Mondo et autres histoires, Paris 1978.

berichte orientieren. 67 Wir relativieren den Standpunkt, da die «quete mythique» - so Aniens Annahme - in den Romanen nur «spürbar», 68 aber nicht nachweisbar sei.

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In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns nicht von der traditionellen Le ClezioKritik: «Und wenn seinem [Le Clezios, L. R.] novellistischen Werk in der Kritik Beachtung geschenkt wird, dann meist nur, um zur Untermauerung von Thesen herangezogen zu werden, die die Romane betreffen.» Arriens, ibid., p. 1. Ibid., p. 7. 17

Α. Methodologische Überlegungen

1. Le Clezios extase materielle als Bewußtseinsexperiment Der Essay L'extase mat0rielle1 stellt ein frühes theoretisches Manifest des Autors dar, in dem grundlegende poetologische Gedanken entwickelt werden. In der Forschung wird er stets zitiert, jedoch blieb seine Schlüsselstellung für das literarische Werk bislang - vor allem unter psychologischen Kriterien unbeachtet, da es sich um einen auf den ersten Blick konzeptlos wirkenden Text handelt. 2 Im folgenden werden einige, wesentliche Aspekte der extase materielle vorgestellt, da es um ein Verfahren geht, das bis zu La quarantaine literarisch umgesetzt wird. Allgemein ist die materielle Ekstase als eine Form des anderen Zustands zu beschreiben, der mit Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften zu vergleichen ist. 3 Gemeint ist eine Art religiöses Erlebnismuster, 4 bei dem - in Anlehnungen an die Mystik - die Grenzen zwischen Geist und Materie, zwischen Ich und Welt fließend werden. Es geht um den Versuch, Sichtbares und Unsichtbares in Beziehung zu setzen und, im Idealfall, das Transzendente durch die Welt zu erfahren. In dieser Zustandsform wird der Mensch wieder zum Teil von Welt, Natur und Kosmos. Wir stimmen Teresa di Scanno zu, wenn sie feststellt, daß die extase matirielle ein Verbindungspunkt zwischen den einzelnen Texten darstellt und in Bezug zu den initiatischen Reisen steht: L'extase materielle semble bien constituer une pierre de touche pour la pensee de l'auteur, un pivot entre les ceuvres qui precedent et Celles qui ont suivi. Une halte, avant d'entreprendre le chemin du sacre, les voyages initiatiques [...].5

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Im folgenden mit dem Sigle EM zitiert. Waelti-Walters schreibt «The Ecstasy of Matter is perhaps an easier book to read and understand than it is to analyse.» In: J. M. G. Le Clezio, p. 57-68, hier p. 68. Teresa di Scanno spricht in ihrem Aufsatz «Angoisse individuelle et sentiment oceanique dans L'extase matirielle de Le Clezio» von «un livre assez enigmatique», in: Letterature II (1979), p. 111-133, hier p. 111. (Dieser Beitrag ist wiederabgedruckt in ihrer Monographie La vision du monde de Le Clizio [1983].) Cf. auch Oswald, Reisen auf die andere Seite des Bewußtseins, p. 157163. Cf. Ulrich Karthaus, Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werke Robert Musils, Berlin 1965, p. 117-159. Zur begrifflichen Unterscheidung von Epiphanie und Ekstase cf. Rainer Zaiser, Die Epiphanie in der französischen Literatur. Zur Entmystifizierung eines religiösen Erlebnismusters, Tübingen 1995, p. 15-25. Scanno, «Angoisse individuelle et sentiment oceanique dans L'extase materielle de Le Clezio», p. 133. 19

Diese zögerlich formulierte Vermutung ist unseres Erachtens zutreffend. Es zeigt sich nämlich, daß der Text in Form und Inhalt bereits wesentliche Themen formuliert, an denen sich die Le Cleziosche Ecriture bis ins späte Werk orientiert. L'extase materielle ist als ein verschlüsseltes literarisches Bekenntnis anzusehen, in dem der Autor vor dem Hintergrund der traditionellen Debatte eines idealistischen Materialismus der Frage nachgeht, ob Geist oder Materie das primäre und bestimmende Prinzip sei. Neben der philosophischästhetischen Ausrichtung 6 beschreibt der Essay das Spannungsfeld vor allem als psychologisches Phänomen zweier verschiedener Bewußtseinsinhalte. In der Analytischen Psychologie C. G. Jungs werden sie als Archetypen, als angeborene, unbewußte, psychische Dispositionen vorgestellt. Zusammenfassend wäre also das, was wir Materie oder Energie in der Außenwelt nennen, nur eine archetypische Vorstellung, wie auch das, was wir Geist nennen, d.h. jenes Faktum, das sich als inspiriertes Gedankengut oder Sinn auf einer archetypischen Vorstellung beruht. 7 Das zentrale Thema in L'extase materielle ist das Leiden am Bewußtsein und die Suche nach Methoden, diesem Leiden zu entgehen. Die materielle Ekstase kann als Erlösungsmythos angesehen werden, die für das gesamte MauritiusProjekt bestimmend bleibt. Sie ist eine Form der Metamorphose - gleichsam strafend und befreiend - , in der eine geistige Verbindung mit Grundformen nichtmenschlichen Seins durch mimetische Versenkung gesucht wird: «Tu obliges aux metamorphoses.» (EM, 246) heißt es programmatisch. Es handelt sich um Reisen in die stoffliche Welt, die widerständig und zugleich herausfordernd sind. 8 Diese Materialität stellt das Experimentierfeld dar, an dem sich das Denken abarbeiten und verändern kann: «Das Wesen des Materialismus besteht nicht in der Behauptung, alles sei nur Stoff, vielmehr in einer metaphysischen Bestimmung, dergemäß alles Seiende als das Material der Arbeit erscheint.» 9 Wie kann man sich den seltsamen seelischen Prozeß, in dem sich Geist und Materie dem Bewußtsein zeigen, als eine extase materielle vorstellen? Mit den von der Tiefenpsychologie entwickelten Begriffen läßt sich diesem Phänomen näherkommen. Es handelt sich um Entitäten, die sich dialektisch gegenüberstehen und als Mächte einen nicht steuerbaren Einfluß auf das Bewußtsein ausüben. Die Materie entspricht dem Archetypus der Großen Mutter, 10 mit der sich ein Spektrum von Bedeutungen verbindet: Sie ist das Ziel 6 7 8

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Cf. hierzu Lhoste, Conversations avec J. M. G. Le Clezio, p. 15. Marie-Louise von Franz, Psyche und Materie, Einsiedeln 1988, p. 23. Cf. hierzu Jean Onimus, «Angoisse et extase chez J. M. G. Le Clezio» in: Etudes 358 (1983), p. 511-552. Martin Heidegger, «Über den Humanismus», zit. nach Gerard Dubrulle, Philosophie zwischen Tag und Nacht. Eine Studie zur Epistemologie Gaston Bachelards, Frankfurt/Bern u.a. 1983, p. 33. Cf. das grundlegende Werk von Erich Neumann, Die Große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewußten, Zürich/Düsseldorf "1997.

einer Erlösungssehnsucht, die einerseits als nahrungsspendendes und fruchtbares Prinzip, andererseits als verschlingende und zerstörerische Kraft erscheint, dem das Ich passiv ausgesetzt ist. Der Geist, Archetypus des Großen Vaters, stellt als aktives und dynamisches Element den Gegenpol der Psyche dar, den Jung als Bewegungs- und Tätigkeitsprinzip beschreibt. Er kann sich als beflügelnde oder besessene «Totengeistererscheinung» 11 zeigen. Wir werden im Zusammenhang von Animus und Anima darauf eingehen. Das in L'extase matirielle beschriebene innere Drama zeigt die Zerrissenheit eines , der sich nicht im Kontext des autrui, sondern vornehmlich in Bezug zu einer Ding- und Naturwelt definiert. Die Materie wird als bedrohlich, indifferent und zugleich als Erlöserin dargestellt. Sie entspricht in ihrem Doppelaspekt gänzlich der mythischen Ambivalenz, in der sie Gaston Bachelard beschreibt. Materie ist ein Urstoff, der als Inbegriff geistiger Energie gedacht werden muß, die gewissermaßen das Rohmaterial einer unbekannten Sphäre bildet. In verklärender Manier wird sie hier mit moralischen und religiösen Erfahrungswerten aufgeladen: In ihr liegt «harmonie» (EM, 12) und die Kommunikation mit ihr stillt den «goüt pour l'infini» (EM, 187). Die Nähe zu mystischen Erfahrungen ist hier unverkennbar: Hinter der sichtbaren und rational wahrnehmbaren Welt, zu der Sprache und Bewußtsein gehören, verbirgt sich ein «au-delä» (EM, 269), eine unendliche und höhere Wirklichkeit, die es zu finden gilt. Die extase matirielle stellt das Verfahren dar, in diese schwer faßbare und irrationale Sphäre durch die «plus extatique fusion avec la matiere» (EM, 53) zu gelangen. Ekstase meint einen geistigen Ausnahmezustand, in dem der Geist aus dem Körper heraustritt und nicht - wie in der antiken Inspirationstheorie - dem Gott, sondern der Materie Platz macht, mit der er sich verbindet 12 : «La beaute de la vie, l'energie de la vie ne sont pas de l'esprit, mais de la matiere.» (EM, 47) Diese unio mystica mit der «matiere totale» und «matiere brüte» (EM, 269) eröffnet die Möglichkeit, das individuelle Bewußtsein zu überschreiten und mit ihr als Träger des Unbewußten eine «unite precaire» (EM, 269) einzugehen. Jedes Objekt kann Anlaß und Auslöser einer mimetischen Versenkung sein, «Chaque chose porte en soi son infini» (EM, 16). Die extase matirielle als Bewußtseinsexperiment und mystisches Ganzheitserleben ist vergleichbar mit Ritualen archaischer Kulturen und primitiver Religionen, wie sie Eliade beschrieben hat. 13

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Cf. Franz, Psyche und Materie, p. 22sq. Cf. Eliade, Le chamanisme et les techniques archaiques de l'extase, Paris 21968, besonders p. 70-101 und Franz, ibid., p. 359-395. Cf. Eliade, Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Frankfurt 1998, p. 21-61. Wir widersprechen Jean-Xavier Ridon, der behauptet, daß die extase matirielle eine «prise de conscience impersonnelle d'une realite» sei. Sie beinhaltet grundsätzlich das Bestreben, die Realität zu transgredieren oder das Metaphysische in sich zu erfahren, wenn es zum Bespiel heißt «dieu que j'aurais porte en moi» (EM, 314). Cf. Ridon, Henri Michaux. J. M. G. Le Clezio: L'exil des mots, p. 108.

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1.1 Die ä u ß e r e N a t u r als Spiegel innerer Prozesse Ein wesentliches Merkmal des gesamten Textes ist die ihm zugrunde liegende Dialektik zwischen Innen und Außen. 14 Das Ich spricht vornehmlich über seine innere Befindlichkeit in Bildern, die sich auf die Außenwelt beziehen. Es sieht sich in seinem Körper als Gefangenen, der nach Fluchtwegen sucht, die in die Welt führen: «II fallait ouvrir son corps tout entier au vide [...] pour sentir chaque parcelle du monde ä sa place, et ne vouloir esperer rien d'autre que ce que le monde livrait dans le simple etat de son evidence.» (EM, 31) Die Welt meint die Ding- und Naturwelt, die Trägerin von ursprünglichen Energien ist (EM, 229). Die angestrebte mimetische Angleichung des Ich an die Natur ist primär als geistiges Abenteuer zu verstehen, das eine Auslotung neuer Bewußtseinsbereiche zum Ziel hat. Tout est rythme. Comprendre la beaute, c'est parvenir ä faire co'incider son rythme propre avec celui de la nature. Chaque chose, chaque etre a une indication particuliere. II porte en lui son chant. II faut etre en accord avec lui jusqu'ä se confondre. Et ce ne peut etre une demarche de l'intelligence individuelle, mais de l'intelligence universelle. Atteindre les autres, se precipiter en eux, retourner en eux; il s'agit de mimetisme. D'abord etre soi et se connaitre soi, puis imiter ce qui vous entoure. (EM, 130) In der frühen Erzählung Le monde est vivant (1965) 15 wird das Verfahren der Verinnerlichung der Landschaft programmatisch als «inscrire le paysage, piece par piece» beschrieben: Ein Dichter zieht, «comme un peintre du dimanche» in die Abgeschiedenheit der Natur, «Choisir un endroit desert», «s'asseoir sur un rocher et regarder longtemps autour de soi.» 16 Nachdem er sich umgeschaut hat, zeichnet er die Eindrücke auf den «rectangle de papier de 21 χ 27, sans rien oublier» (MV, 174). Nach dieser Absichtserklärung verschwindet das Autor-Ich und überläßt den Elementen als Akteuren die Bühne der imaginären Landschaft, in der sie mit und gegeneinander um Macht und Ohnmacht ringen. Erst am Ende taucht das Autor-Ich mit dem lapidaren Satz: «Voilä. Le monde est vivant [...] il faut boire longtemps ä sa source de vie et mort, et rester invincible» (MV, 195) wieder auf. Die ständige Kongruenz von Innen und Außen bleibt Kennzeichen der alternierenden Wahrnehmung aller Protagonisten von La montagne du dieu vivant bis zu La quarantaine. Außenwelt meint immer auch - und vor allem - Innenwelt. Jung spricht diesbezüglich von einem Synchronizitätsphänomen, in dem das äußere Geschehen als Abbild des psychischen gesehen wird. Die materiellen Erscheinungen und Vorgänge in der Natur stellen synchronistische Spiegelungen der Psyche dar. Diese Sinnkoinzidenz ist das Merkmal eines Denkens, das nur «wenig Interesse an einer objektiven Erklärung der Dinge der äußeren Wirklichkeit» 17 hat. In L'extase materielle impliziert der Welt auch die Objektwelt, die bis zu Voyages de l'autre cöte Ziel der Bewußtseinsreisen bleibt. Erst mit der Erzählung La montagne du dieu vivant ist die Gegenwelt als Naturwelt, seit Le chercheur d'or als ile deserte definiert. Die Isolation aus der Gesellschaft wird für die Protagonisten zur Grundbedingung, die Materialität einer autonomen Natur zu erfahren. Sie entspricht einer unbekannten, inneren Wirklichkeit, in der autonome Mächte agieren. Die vier Elemente sind das Rohmaterial und Träger des kollektiven Unbewußten, die im Ich als ambivalente Instanzen wirken. In L'extase matirielle deutet sich bereits an, daß ihnen die Funktion zukommt, die Vormachtstellung des Bewußtseins zu eliminieren und eine Heteronomie unter die Naturgewalten zu restituieren: «Quand j'aurais ete brise par les elements, quand, use, epuise, j'aurai creve le sac de mon autonomie» (EM, 304). Als «energies premieres» (EM, 229) sind sie der reinste Ausdruck einer unbewußten Natur, die über den Menschen herrscht. Sie repräsentieren diese überpersönliche Macht, die als bleibend und geschichtslos nur aus sich selbst heraus existiert. Jung hat deshalb sogar betont, daß er nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn man die Psyche als eine Qualität der Materie und letztere als den konkreten Aspekt der Psyche ansehen wollte, vorausgesetzt, daß man unter Psyche das kollektive Unbewußte verstünde. Letzteres ist eben einfach Natur - .18 Nach Jung entsprechen die Archetypen unbewußten Inhalten, die für einen bestimmten Zeitraum vergessen und im Unbewußten einer Verwandlung unterliegen, ehe sie sich dem Bewußtsein als Störfaktor zeigen. Es handelt sich um angeborene Verhaltensmuster einer «überpersönlichen Natur», 1 9 die sich vor allem in Träumen offenbaren. Nach Jung ist die Funktion des Unbewußten vergleichbar mit einem «reinen Naturvorgang», der jenseits des Menschlichen oder der persönlichen Geschichte liegt. 20 Die vom Unbewußten hervorgebrachten Traummotive gleichen mythologischen Themen, woraus Jung schließt, daß es in den Menschen vergleichbare psychische Dispositionen gibt, die sich aus archaischen Zeiten bewahrt haben. Er nennt sie Archetypen, die schwer zugänglich, aber durch Introspektion zu erschließen sind. Wir werden im folgenden zeigen, daß die Technik der aktiven Imagination dazu dient, sie

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Cf. Franz, Psyche und Materie, p. 23-30 und Gerhard Gamm, «Wahrheit aus dem Unbewußten? Mythendichtung bei C. G. Jung und Sigmund Freud», in: Peter Kemper (ed.), Macht des Mythos - Ohnmacht der Vernunft?, Frankfurt 1989, p. 148-175, hier p. 152. Franz, Psyche und Materie, p. 52. Jung, Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten, in: ders., Archetypen, München 61996, p. 7. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, München "1994, p. 116 und p. 119.

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dem Bewußtsein zugänglich zu machen. Jung beschreibt diesen Introversionsvorgang als «Einwärtswendung der Libido»: Was dieser zu bedeuten hat, wissen wir bereits: Die Libido sinkt in ihre (ein bekanntes Gleichnis Nietzsches) und findet dort unten in den Schatten des Unbewußten den Ersatz für die Oberwelt, die sie verlassen hat, nämlich die Welt der Erinnerungen ...[...] In diesem unterirdischen Reich schlummern süße Heimatgefühle und die unendlichen Hoffnungen alles Werdenden.21 Formulierungen wie «vers soi» und «soi-meme» (EM, 276sq.) machen deutlich, daß es in L'extase matirielle um diese von Jung beschriebene Abwendung von der Außenwelt und Hinwendung zur Innenwelt geht. Das Ich definiert sich nicht als Subjekt in Bezug zur Objektwelt, sondern sucht den Bezug zu einer inneren Objektwelt, die ihm zunächst unzugänglich und verschlossen scheint. Die Materie ist der Ausdruck dieser unbekannten Natur, nach der das Ich als Objekt sucht. Um es zu finden, besucht es sich sprichwörtlich selbst. Puis, quand vous aurez tout pris sur terre, prenez-vous vous-meme: enfermezvous dans une seule grande chambre grise et froide, aux murs nus. Et lä, tournez-vous vers vous-meme, et visitez-vous tout le temps. (EM, 76) Im Verlauf dieser Suche verschließt sich das Ich in seine Innenwelt - hier das Zimmer, in den Mauritius-Texten die Dachkammer, Schiffskabine oder Grotte. Während dieser Quarantäne erhält es jedoch Besuch von den Bewohnern der Unterwelt: den männlichen Doppelgängern und weiblichen Erlöserfiguren. Bereits in L'extase materielle ist von der Obsession die Rede (EM, 116), einen unbekannten Doppelgänger wie eine verschüttete Seite in sich zu suchen: «L'autre, c'est moi, c'est moi.» (EM, 223). Dieser Andere ist - wir werden es im Kapitel über Konzepte personaler Doppelung zeigen - nicht nur die Projektion einer Einzelfigur, sondern meint auch das Kollektiv, die Körper und Augen der anderen (EM, 12 und 259) in sich. Beide zu finden heißt, die Ganzheit der archaischen Psyche zu restituieren und den Ursprung erfahrbar zu machen. Das in L'extase matirielle entworfene Szenario gleicht einem inneren Drama oppositärer Energien, die sich zwischen Aggression, Angst, Zerstörung und gleichzeitiger Sehnsucht nach Versöhnung und Harmonie bewegen. 22 Im Vergleich zur Sublimation ursprünglicher Triebenergie wird sie in L'extase matiri-

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Jung, Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens, München 21995, p. 284. Cf. auch Jung, Definitionen, in: ders., Typologie, München 51997, p. 151. Es kann auch nach den Prämissen von Sigmund Freud gelesen werden, der diesen Ambivalenzkonflikt in Das Unbehagen in der Kultur beschreibt. Er ist als Lebenskampf der Menschenart und als Gegeneinander von Todes- und Lebenstrieb anzusehen, in dem unterdrückte sexuelle Regungen verstellt zum Ausdruck kommen. Cf. Studienausgabe, Bd. IX, Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, Frankfurt 71994, p. 245-259.

eile unverstellt zum Ausdruck gebracht. 23 Das Ziel besteht in der Aufhebung bewußter Kontrollinstanzen und in der Freilegung unbewußter Naturimpulse, die dem Bewußtsein zugänglich gemacht werden. Le Clezios Konzeptionen sind denen der Surrealisten verwandt, unterscheiden sich aber dadurch, daß niemals eine völlige Eliminierung des Bewußtseins angestrebt wird. Es tritt als steuernde Instanz in den Hintergrund, bleibt aber . Die Materie ist Stoff einer unbewußten Welt und daher mit Gefahr konnotiert: Das Bewußtsein wird von ihr gefangen genommen, verschlungen und in unbekannte Tiefen gezogen. In L'extase materielle sind der Widerstand gegen diese Gefahr genauso angelegt, wie der Gewinn, der durch die Konfrontation mit dem Unbewußten hervorgehen kann. Die versucht sich - wie alle späteren Protagonisten - zu sträuben: «je de vine la pesanteur terrible de ce monde-colosse qui existait sans moi. Le gouffre vorace des ennemis de mon autonomic menace de toutes parts» (EM, 18) und «Etre conscient est une lutte continue.» (EM, 103) Es handelt sich um Formen der Bewußtseinserweiterung, in denen durch die Aktivierung des Unbewußten Grenzzustände evoziert werden. Wahn und Wahnsinn bleiben von L'extase materielle bis zu La quarantaine Kennzeichen einer Traumwelt, in der göttliche wie dämonische Kräfte agieren. Das Projekt ist von dem verzweifelten Kampf des Ich gegen sich selbst, seine wiederkehrenden Chimären und dem Leiden an einem begrenzten Sprachbewußtsein bestimmt, das zu überschreiten in allen Texten intendiert ist (EM, 277). Der Geist - hier gleichzusetzen mit Bewußtsein - wird als ein nach erweitertem Wissen strebender beschrieben, der sich nur retten kann, indem er sich seinen Doppelgängern und der elementaren Materie als verhängnisvollen wie erlösenden Mächten des Unbewußten ausliefert: «C'etait le commandement inflexible de la matiere, le commandement terrible et grandiose, qui disait ä toutes choses, soyez, SOYEZ.» (EM, 302)

1.2 Von der Bewußtseinsreise zum mythischen S o n n e n h e l d e n Die Le Clezioschen Reisebeschreibungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich primär nicht als äußere Bewegungen in Zeit und Raum, sondern vornehmlich als innere Vorgänge eines sich verändernden Bewußtseins verstehen, das nach unbekannten Sphären sucht. 24 Verändern meint überschreiten, unbekannt meint Sphäre des Traums, durch die sich das Ich aus der zu befreien und um unbewußte Dimensionen zu erweitern sucht. Le Clezio bedient sich zur Veranschaulichung dieses Prozesses mythischer Strukturen, Stoffe und Symbole. 25 Der Rekurs aus der sichtbaren Wirk23

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Wir distanzieren uns von Freuds Auffassung und deuten den Konflikt nicht als Neurose des Autors, sondern als Komplex im Sinne Jungs und Bachelards. Cf. auch Scanno, «Angoisse individuelle et sentiment oceanique dans L'extase matirielle de Le Clezio», p. 126. Cf. Oswald, Reisen auf die andere Seite des Bewußtseins, p. 19-38. Einführend sei hier auf Marie-Louise von Franz/John Freeman (ed.), Der Mensch und seine Symbole, Solothurn/Düsseldorf 141995, verwiesen. 25

lichkeit in die sichtbargemachte Innenwelt - Raum des Unmenschlichen und Übernatürlichen - findet sich in allen Mauritius-Texten gattungsübergreifend wieder. Das Schema sieht eine Dreiteilung vor, in der Abstieg, Reise in der Unterwelt und Aufstieg durch Rahmen- und Binnenhandlung oder die Erzählperspektive kenntlich gemacht sind. Die Übergänge von der Außen- zur Innenwelt und vice versa sowie die Phasen der Initiation markieren unterschiedliche Zustandsformen des Wachträumers. Allen Mauritius-Texten ist die Unterteilung in Einschlafen, Träumen und Erwachen als Strukturmerkmal gemein. Dieses findet sich aber auch in experimentellen Texten wie Mydriase (1973) und Vers les Icebergs (1978). Im folgenden soll dargestellt werden, wie die zyklische Bewußtseinsreise in Form des Sonnenmythos' von L'extase matirielle bis zur Erzählung La montagne du dieu vivant umgesetzt wird. Es wird sich zeigen, daß die Kreisstruktur sowie die Sonne als Trägersymbol von Libido und Bewußtsein sowohl strukturell wie inhaltlich für das MauritiusProjekt konstitutiv geblieben sind. Mit La montagne du dieu vivant wird das Sonnensymbol erstmals personalisiert, da von nun an ein Sonnenheld seine Reise in die Nacht antritt. Alle Protagonisten und Erzähler der Mauritius-Texte sind durch ein Feuermal als Flammenträger und somit als personifiziertes Bewußtsein ausgewiesen, das in Beziehung zum Unbekannten tritt. Ein vorangestellter Exkurs soll den Zusammenhang von Sonnenmythos und Bewußtseinsreise verdeutlichen, der wiederum auf die Analytische Psychologie zurückzuführen ist. Denn für Jung sind Mythen vor allem Manifestationen, 26 die das Leben der Psyche spiegeln; dies gilt in besonderem Maße für Sonnenmythen archaischer Kulturen, die das ins Bild setzen. Wir zitieren eine längere Passage aus Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten (1934), um diese für Le Clezios Texte prägende Struktur zu veranschaulichen: Es genügt dem Primitiven nicht, die Sonne auf und untergehen zu sehen, sondern diese äußere Beobachtung muß zugleich auch ein seelisches Geschehen sein, das heißt, die Sonne muß in ihrer Wandlung das Schicksal eines Gottes oder Helden darstellen, der, im Grunde genommen, nirgends anders wohnt als in der Seele des Menschen. Alle mythisierenden Naturvorgänge, wie Sommer und Winter, Mondwechsel, Regenzeiten und so weiter, sind nichts weniger als Allegorien eben dieser objektiven Erfahrungen, sondern vielmehr symbolische Ausdrücke für das innere und unbewußte Drama der Seele, welches auf dem Wege der Projektion, das heißt gespiegelt in den Naturereignissen, dem menschlichen Bewußtsein faßbar wird.27 26

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Zur Thematik der analytischen Mythendeutung cf. die kritischen Beiträge von Manfred Schneider, «Über den Grund des Vergnügens an neurotischen Gegenständen. Freud, C. G. Jung und die Mythologie des Unbewußten», in: Karl Heinz Bohrer (ed.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt 1983, p. 197-216 und Gamm, «Wahrheit aus dem Unbewußten?», p. 148-175. Jung, Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten, p. 9sq. Zur Deutung

Jung beschreibt den Sonnenlauf in Wandlungen und Symbole der Libido als Bewußtseinsreise und als «Sehnsucht, durch die Rückkehr in den Mutterleib die Wiedergeburt zu erlangen, das heißt, unsterblich zu werden wie die Sonne,»28 Das Schema dieser Nachtmeerfahrt - wie Jung sie nennt - sieht vor, daß der Held (wie die Sonne) im Meer des Unbewußten versinkt und in orphische Erdtiefen hinabsteigt, bevor er der weiblichen Materie regeneriert entsteigt. 29 Erst die Rückkehr zur Mutter geht der Versöhnung mit dem Vater und damit dem Eintritt in den geistigen Bereich voraus. Das Schema ist gleichsam als Sühne- und Erlösungsfahrt anzusehen, da der Initiationstod der Wiedergeburt nicht nur vorausgeht, sondern sie bedingt. Dies trifft auf alle hier thematisierten Texte in gleicher Weise zu. Nach Jungscher Auffassung ist das Sonnensymbol als «vorwärts strebende lebendige Libido» 30 anzusehen, die darauf ausgerichtet ist, das Bewußtsein durch Unbewußtes zu erweitern. Dafür ist es notwendig, daß Bewußtsein wie Held symbolisch sterben, womit alle Facetten der Tiefe, Nacht und materialer Umschlingung als Chiffre des Unbewußten verbunden sind.31 Erst aus dem Untergang des Bewußtseins, der Verabschiedung der Tageswelt - assoziiert mit patriarchaler Hierarchie (EM, 308) - und durch die Reise ins Reich der Mütter kann ein neues, durch kollektive Aspekte erweitertes Bewußtsein erwachsen. Dies impliziert auch einen Humanismus, dessen sozialpsychologische Komponente insbesondere in den Mauritius-Texten deutlich werden: Leons Integration in das indische Kollektiv in La quarantaine ist als Endpunkt dieses Brückenschlags aus der Individualität ins Transpersonale anzusehen. 32 Der Sonnenuntergang wird in L'extase materielle erstmals als Sonnentod mythisiert und somit psychologisiert, im folgenden als Lauf des Bewußtseins thematisiert. Das in L'extase matirielle formulierte Programm spricht diese Reisen ins Ich an, die aus dem Wachzustand in einen Wachtraum führen. Erst in diesem - der Realität entgegengesetzten Traumbereich - kann die Begegnung mit den dämonischen wie göttlichen Geistern und die gesuchte Versöhnung mit den widerstreitenden Prinzipien erfolgen. Ein zentraler Aspekt des Sonnenmythos' ist der der Zeit: Der zyklische Lauf der Sonne ist der linearen Zeit entgegengesetzt. Es handelt sich um eine mythische Zeitlosigkeit, die als Ausdehnung ohne Fortschreiten gedeutet werden kann. Mit ihr ist ein illud tempus, jene von Eliade als andere Zeit beschriebene Kategorie verbunden, die die Ewigkeit des Traums meint. 33 Sie verläuft entgegengesetzt

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und Bedeutung der Sonnengötter in der griechischen Mythologie cf. Kerenyi, Töchter der Sonne. Betrachtungen über griechische Gottheiten, Stuttgart 1997. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, p. 213. Zum Schema cf. Jung, ibid., p. 211. Ibid., p. 289. Cf. ibid., p. 239. Cf. Kiltz, Transpersonales Erzählen bei J. M. G. Le Clezio, p. 181 -235. Cf. Eliade, Ewige Bilder und Sinnbilder. Über die magisch-religiöse Symbolik, Frankfurt 1998, p. 65-88; ders., Aspects du mythe; ders., Le mythe de l'eternel 27

zum Zeitfluß der Geschichte: Indem Protagonisten und Erzähler symbolisch gegen den Flußlauf in Richtung Quelle gehen, wird diese Reise zum Ursprung ins Bild gesetzt. Dort befindet sich jene dunkle Traumzone, die durch den Wachtraum, d.h. durch den Lauf des Sonnenhelden in die Nacht, zugänglich werden kann: C'est comme un reve eveille, un reve etincelant de blancheurs et d'ombres, qui ne scintille pas, mais qui brüte ferocement tout seul au fond de ma nuit. Le reve [...] me fait retourner des siecles en arriere, vers l'origine explosive des temps maudits qu'on ne connaitra jamais. (EM, 84)34 Der Wachtraum stellt eine Möglichkeit dar, die Wirklichkeit in ihr Gegenteil zu verkehren und sie durch die Traumwelt zu überschreiten (EM, 198). In diesem imaginären Anderswo ist das Bewußtsein nicht völlig ausgeschaltet wie es beispielsweise die icriture automatique der Surrealisten vorsieht35 - , sondern als steuernde Kontrollinstanz und passiver Beobachter in den Hintergrund gedrängt, es «brüle ferocement tout seul au fond de ma nuit.» Bereits in L'extase materielle ist angedeutet, daß es sich um eine idealtypische Zustandsform handelt, in dem eine Gleichzeitigkeit von Bewußtsein und Unbewußtem möglich scheint. Mit dem Begriff der «folie consciente» (EM, 218) ist eine Form des kontrollierten Wahns gemeint, 36 die bewirkt, daß die widerstreitenden Prinzipien sich begegnen und am Ende zusammengefügt werden können. In tiefenpsychologische Termini übertragen handelt es sich um Animus und Anima, d.h. um männliche und weibliche Projektionen des Unbewußten, die - als innerpsychischer Prozeß - gegeneinander wirken. Wir werden das Dualitätsprinzip im Kontext von Bachelards Dichtungstheorie erörtern. In L'extase matirielle wird der Sonnenmythos als Form einer Bewußtseinsreise, die in den Tod und zur Wiedergeburt führt,37 zwar angesprochen, aber noch nicht als Initiation gestaltet. Die Sonne ist hier sowohl Bewußtseins- und Vatersymbol, an dem das Ich leidet und nachdem es gleichermaßen idealbil-

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retour. Archetypes et r0petition, Paris, Gallimard 21969 sowie von Franz, Psyche und Materie, p. 364sq. Hervorhebung von L. R. Cf. Peter Bürger, Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur, Frankfurt 1996, p. 74-91. Mauron nennt sie kontrollierten Wahn>. Der Künstler verfüge - so Mauron im Gegensatz zum Neurotiker über eine Distanz, die ihn mit psychotischen Mechanismen spielen ließe. Mauron wiederum bezieht sich auf Ernst Kris, der in Psychoanalytic Explorations in Art (London 1953) von kontrollierter Regression) spricht. Cf. hierzu Charles Mauron, «Die Psychokritik und ihre Methode», in: Reinhold Wolff (ed.), Psychoanalytische Literaturkritik, München 1975, p. 276-288, hier p. 284. Cf. auch Mauron, Des metaphores obsedantes au my the personnel, p. 9 - 3 4 und p. 209-232. Zeltner-Neukomm spricht von einer «Art Liebeslied auf den Tod», in: Das Ich und die Dinge, p. 128. Cf. auch Waelti-Walters, Icare ou l'evasion impossible, p. 40-56.

dend trachtet: «II y a toujours en moi, pour que je n'oublie pas [...] ce morceau du soleil. II est mon acte de fuite, ma liberation.» (EM, 25) Es handelt sich um eine Ambivalenz, die für die des Vatermordes kennzeichnend ist. Der wird symbolisch getötet, damit sich der Sohn finden und auf diese Weise mit ihm versöhnen kann. Mythenstrukturell gesprochen ist er das eigentliche Ziel und Movens der Suche. Denn «son feu absolu brüle en moi, silencieux et fort. Parce que je bouge, parce qu'il est mon moteur, ce morceau qui n'est pas etranger me donne la lumiere» (EM, 25). Das phallische Sonnenmal (EM, 313) ist als drittes Auge Symbol eines Erkenntnisprinzips,38 in dem nur Schuld, Strafe und Sühne zur gegenüber, die eine Erlöserfunktion hat. Das Idealisierungsschema und sein kulturkritischer Duktus ist bereits klar umrissen: Die thailändische Gegenwelt ist die der grenzenlosen Möglichkeiten: «[...] il y a en Thailande cet accord de chaque homme, quelle que soit sa position sociale, avec la nature, avec les objets, avec la vie» 34 . Das rousseauistische Paradigma 32

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Freud, Der Familienroman der Neurotiker, in: Studienausgabe, Bd. IV, Psychologische Schriften, Frankfurt 91997, p. 221-226, hier p. 226. Zu ergänzen ist der Reisebericht Gens des nuages (1997), in dem es um die Ahnen von Le Clezios Frau Jemia in Marokko geht. Le Clezio, «Lettre ä une amie tha'ie», in: Le Figaro littiraire 1183 (6 janv. 1969), p. 12-14, hier p. 14.

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von Kultur versus Natur ist hier angelegt, die Denkfigur der Alterität wird austauschbar. Ob Thailänder, Indianer oder Inder, die sozialromantische Natur- und kollektive Einheitsphantasie wird im folgenden auf alle vormodernen Entitäten übertragen. Face ä cette mediocrite ambitieuse, quelle n'est pas la vertu du plus humble paysan de Tha'ilande, qui ne cherche rien d'autre qu'ä harmoniser avec la terre qui le porte, et sa conscience avec la conscience universelle. La tolerance est ici la veritable science, Γ elegance et l'humilite les seules originalites. La culture et la vie sont une seule et meme chose.35 In Le livre des fuites - mit roman d'aventure untertitelt - kommt das Schuldgefühl des Erzähler-Ichs zum Ausdruck, das mit seiner kulturellen Zugehörigkeit zur verbunden ist. Der Fluchtgedanke ist von dem radikalen Wunsch begleitet, sich selbst von Herkunft, Identität und Geschichte zu befreien: Est-ce ma faute, si je suis de la race des voleurs? Le blanc a toujours tout vole ä tout le monde. [...] Dans les journaux, les livres, les conferences, sur les statues: «Indien? Ah oui, indien. Moi, j'ai du sang indien. Mes ancetres, les Azteques. [...] Voilä ce qu'ils ont fait, mes ancetres.» (LF, 255) Von Le livre des fuites und der Aussage «Moi, j'ai du sang indien.» (LF, 255) zu dem Bekenntnis in Hai (1971), «Je ne sais pas trop comment cela est possible, mais c'est ainsi: je suis un Indien.» (H, 5), ist es nicht weit. Jetzt überträgt sich die Wunschphantasie von Alterität und Metamorphose auf die Indianer und ihre Kultur. Der Konnex von Selbstanklage und Fremdstilisierung ist für das gesamte Mauritius-Projekt bezeichnend geblieben; bereits im ersten (von der Forschung vielzitierten) Satz tritt er zutage. Das gesamte Projekt könnte mit der Formel des überschrieben sein. Der dunkle, naturhafte Aspekt bezieht sich gleichermaßen auf Indianer und Inder. Beide sind Figuren des Doppelgängers, denen sich die Ecriture seitdem anzunähern sucht. Der indien ist das Urbild des Archaischen, das für die Konzeption des Anderen paradigmatisch bleibt. Er ist die (stereotype) Figur der , der Teil eines funktionstüchtigen Kollektivs und der Natur ist. Durch ihn kann eine Brücke in die Vorzeit geschlagen werden. In Hai wird erstmals die polarisierte Gegenüberstellung von europäischer Moderne und indianischer Archaik unternommen, vor deren Hintergrund sich die «guerison magique» (H, 7) eines an der Zivilisation Erkrankten vollzieht. Der Indianer erhält den stereotypisierten Status des Naturhaften nach dem Vorbild des Bon Sauvage eines Michel de Montaigne, Jean de Lery oder JeanJacques Rousseau. Er ist das kulturgeschichtliche Relikt einer verlorenen Kindheit, die - idealisiert - dem abendländischen Erwachsenen immer überlegen ist. Alle Facetten der Alterität fungieren als Kulturkritik und dienen dem Entwurzelten zur neuen Verwurzelung.

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Ibid., p. 14.

Mais pour tout le reste, la faijon de marcher, de parier, d'aimer ou d'avoir peur, je peux le dire ainsi: quand j'ai rencontre ces peuples indiens, moi qui ne croyais pas avoir specialement de famille, c'est comme si tout ä coup j'avais connu des milliers de peres, de freres et d'epouses. Mais comme toujours, lorsqu'un individu veut parier d'un peuple, lorsqu'il se mele de deviner les passions et les desseins d'une communaute qui n'est pas la sienne, meme s'il ne croit pas forcement ä la science, il court de grands risques. (H, 5) Die intendierte Integration in die Gemeinschaft der Indianer als Ersatz für die zwiespältige Beziehung zur eigenen Familie ist eine Hilfskonstruktion zur Darstellung der eigenen Befindlichkeit, die in Hai unverstellt zum Ausdruck gebracht wird: «Ainsi ces pages ecrites pour parier de gens dont la grande vertu est d'etre inaccessibles et silencieux, ne savent parier, malheureusement, que de leur auteur.» (H, 5sq.) Noch bleibt die genealogische Komponente weitgehend ausgeklammert. Bereits in den frühen Texten Le Clezios läßt sich feststellen, daß aus der Entfremdung eine Fremdstilisierung resultiert, die von der unentwegten Flucht vor der eigenen und der Suche nach einer neuen , d.h. kulturellen Identität gekennzeichnet ist. La famille genetique, biologique, qui peut etre quelque chose de merveilleux, ou un carcan epouvantable ou les deux en meme temps, est tres differente de la famille que vous pouvez vous choisir. Ott peut choisir ce qu'on considere etre les elements moteurs dans sa famille, ignorer les uns et favoriser les autres, s'interesser chez tel ou tel a ce qu'il y α de plus saillant et delaisser le reste. On peut aussi aller chercher sa famille en dehors de sa famille. C'est ce que j'ai fait.36 Das indianische Kollektiv ist die Chiffre von Welt- und Naturverbundenheit, aus der sich auch ein gewandelter Kunst- und Ecriture-Begriff ableitet. Der «art vivant» (H, 125) der Indianer bildet von nun an den Maßstab für eine «ecriture vraie» (H, 44), die frei von hierarchisierenden Strukturen ist. Sie leitet sich aus dem Transpersonalen her und versteht sich als ganzheitlicher, lebensweltlicher Akt. Die künstlerische Schöpfung wird nicht auf ein Individuum, sondern auf eine autonome Naturinstanz zurückgeführt: «peinture vivante» und «beaute vivante» (H, 135) sind in diesem Sinne zu verstehen. Mais ceux qui ne sont pas des heros, les Indiens: ils vivent, ainsi, chacun de son cöte, ils n'inventent rien. Iis ne veulent pas conquerir le monde, ils ne veulent pas persuader les foules. Iis ne veulent pas dominer avec leurs mots, avec leurs voix. Instinctivement, l'homme indien elimine tout ce qui le separe, tout ce qui le rendrait superieur. [...] Pas besoin de livres assurement, ni de tableaux: tout homme est un livre, est un tableau. (Η, 137) Die Integrität der indianischen Lebenswelt bildet den Ausgangspunkt für eine Ecriture-Konzeption. Sie intendiert, den Schreibenden einer dem Menschen übergeordneten Naturinstanz zu unterstellen. Die Texte entwerfen unterschiedliche Techniken, sich diese verlorene Naturseite als (Q, 355) Deutlicher kann der Übergang auf die andere Seite nicht formuliert werden. Während das Subjekt Jacques im Zustand des Wachens (Normalität) verbleibt, sondert sich Leon in den des Traums (Wahnsinn) ab und kehrt sich von der Tageswelt ab. Beim zufälligen Blick in einen Spiegel fällt Leon seine Veränderung auf - Narziß nimmt sich als doppeltes Ich wahr: Dans le bout de miroir que Jacques a pose pres de la porte pour tailler sa barbe, j'ai regarde mon visage. II y a longtemps que je ne l'ai pas vu, par desinteret, et aussi ä cause de toutes les occupations de la vie quotidienne. J'ai ete etonni du changement. Ma peau est noircie par le soleil, mes cheveux sont une criniere sombre. II me semble que moi aussi, j'ai l'air d'un fou. (Q, 327)94 Indem Leon zur Schattenfigur verbrennt und in den Zustand des itat de reve übergeht, tritt er als agierendes Objekt in den Vordergrund. Die anfängliche Gleichstellung der Brüder hat sich jetzt verkehrt: Der mystische Bruder Künstler und Rebell - stellt den Bürger in den Schatten. Dieser verschwindet für den Zeitraum der Assimilation (Vereinigung mit der Anima-Figur) fast ganz aus dem Geschehen. Leon ist der Schatten von Jacques, sein Doppelgänger, der sich verselbständigt und auf diese Weise als bewältigt werden kann. Was in Le chercheur d'or und Voyage ά Rodrigues nicht gelingt, wird hier zum Abschluß gebracht: Der Konflikt der beiden ungleichen Brüder wird in der Binnenhandlung durch das Verschwinden Leons gelöst. Indem Leon (der Nomade) Gestalt gewinnt, tritt er ins Bewußtsein des Erzähler-Ichs anno 1980. Für diesen Zeitraum ist Jacques (der Seßhafte) in den Hintergrund getreten. Hier erschlägt Kain seinen ungeliebten Bruder nicht, sondern dieser verschwindet freiwillig. Auf diese Weise kann der Konflikt der inneren Polaritäten gelöst und der Schreibende von seinem Genius-Dämon befreit werden: Ce sera pour reunir ce qui α ete separe, les deux freres, Jacques et Lion, et ά nouveau en moi, les deux ancetres indissociables, l'Indien et le Breton, le terrien et le nomade, mes allies vivant dans mon sang, toute la force et tout l'amour dont ils etaient capables. (Q, 457)95 94 95

Hervorhebungen von L. R. Hervorhebungen von L. R.

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1.3.2.1 Die Maske Die plötzliche Separierung der Nase von ihrer zuständigen Stelle, ihre schändliche Flucht sowie auch ihre Maskierung ... (Gogol, Die Nase) Im Unterschied zu den Romanen ist der Schattenaspekt des Doppelgängers in den Reiseberichten durch das Motiv der Maske 9 6 zum Ausdruck gebracht: «comme des masques de legende: Le Privateer, ou notre corsaire.» (VR, 17) Sie entspricht dem des Mantels, hat Außen- und Innenseite und kann gewendet werden. 97 Die Maske ist als Verhüllung und Unkenntlichmachung ein Indiz für etwas Unbekanntes, Bedrohliches oder Magisches, hinter dem das Ich Schutz oder Offenbarung sucht. Maskierung und Demaskierung sind in den Reiseberichten das äußere Bild für den inneren Verwandlungsprozeß, in dem Verborgenes allmählich zum Vorschein kommt: «In der Maske tritt das zensierte, inoffizielle Bewußtsein» 98 nach außen. In der Analytischen Psychologie ist es die Seelenmaske, die sogenannte Persona, die für die äußere Einstellung, d.h. soziale Rolle und Anpassung an die Realität zuständig ist. Sie ist nach C. G. Jung nur «eine Maske, die Individualität vortäuscht», eine Rolle, «in der die Kollektivpsyche spricht». Die innere Einstellung verbirgt sich hinter der Maske als Seelenbilder von Animus und Anima, die zur Persona in einer polaren Wechselbeziehung stehen. Jung beschreibt sie wie folgt: Die Persona ist ein kompliziertes Beziehungssystem zwischen dem individuellen Bewußtsein und der Sozietät, passenderweise eine Art Maske, welche einerseits darauf berechnet ist, einen bestimmten Eindruck auf die anderen zu machen, andererseits die wahre Natur des Individuums zu verdecken. [...] Hinter der Maske entsteht dann das, was man «Privatleben» nennt. Diese sattsam bekannte Trennung des Bewußtseins in zwei oft lächerlich verschiedene Figuren ist eine einschneidende psychologische Operation, die nicht ohne Folgen für das Unbewußte bleiben kann." Wie der tabuisierte Grenzübertritt in den Romanen, ist die Enthüllung des Verschleierten eine Metapher für den Erkennungs- und Erkenntnisprozeß. A m Beispiel der Maske kann die den Reiseberichten zugrundeliegende notwendige Paradoxie von Ähnlichkeit und Andersartigkeit deutlich gemacht werden. Während in den Romanen der Verdunkelungsprozeß durch die Sonne veranschaulicht wird, ist in den Reiseberichten das Betrachten einer 96

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Cf. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, p. 41 und Bachelard, La poitique de la reverie, p. 68sq. In Ε. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Doppeltgänger (1821), Nikolai Gogols Die Nase (1836), Ε. A. Poes William Wilson (1839), F. Dostojewskijs Der Doppelgänger (1846), Nervals Histoire du calife Hakem (1851) dient der Mantel als Verhüllung und Enthüllung des Dunklen. Es wäre ein Desiderat, die Beispielsammlung zu erweitern und nach spezifischen Varianten zu fragen. Lachmann, «Doppelgängerei», p. 329. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, p. 78sq.

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Photographie Ausgangspunkt, ein Anderer zu werden. Das Bild des Ahnen stellt den materialen Grund für die Flucht ins imaginäre Abenteuer dar. Die Nerval entliehene Formel des (O, 218sq.) Am Ende des Romans steht der Tod des Vaters, und mit ihm endet auch der Traum vom gemeinsamen Abenteuer: «Peut-etre qu'il ne restera rien d'Onitsha. Ce sera comme si tout cela n'avait existe que dans les reves [...].» (O, 239) Fintan - mittlerweile Sprachlehrer in England - zwingt sich, alle Erinnerungen an das afrikanische Abenteuer wie an ein zweites Leben zu vergessen: «Alors il fallait refrener les reves, les faire rentrer ä l'interieur du corps [...].» (Ο, 238) Kurz bevor er das Elternhaus erreicht, stirbt der Vater, und kurz darauf erhält er die Nachricht, daß auch Sabine Rodes ums Leben gekommen ist. Juste quelques mots pour dire que Sabine Rodes avait trouve la mort au cours d'un bombardement d'Onitsha, ä la fin de l'ete 1968. [...] La lettre precisait que, de son vrai nom, il s'appelait Roderick Matthews, et qu'il etait officier de l'Ordre de l'Empire Britannique. (O, 251) Nicht nur das Leben versteht Fintan als von Wirklichkeit und Traum (O, 233), auch die Tatsache, daß der Tod beider Väter am Ende des Romans steht, zeigt, daß die Vater-Imago nur aus ihrer Doppelung heraus zu verstehen ist.

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2. Die Figur der Anima «Je suis l'äme errante.» (Breton, Nadja) Seit Voyages de l'autre cöte ist die initiatische Reise auf die andere Seite vor allem eine Reise auf die weibliche. Sie umfaßt das Spektrum eines unbewußten Inhalts, der nach Jungscher Definition durch eine paradoxe Doppelnatur der Figuren gekennzeichnet ist und als Anima bezeichnet wird. Sie ist eine archetypische Gestalt, die - im Vergleich zu Doppelgänger und Schatten unabhängig von der persönlichen Geschichte und nicht ichzugehörig ist. Jung schreibt in Die Psychologie der Übertragung: «Zwischen dem Ich und dem Unbewußten aber wird die Anima zur Grundlage göttlicher, halbgöttlicher Figuren, von der antiken Göttin bis Maria, von der Gralsbotin bis zur Heiligen. Die unbewußte Anima ist ein ausgesprochen beziehungsloses und autoerotisches Wesen, welches nichts sucht außer der totalen Besitzergreifung des Individuums, wodurch ein Mann in seltsamer und ungünstiger Weise verweiblicht wird.» 130 In der imaginären Genealogie prägen die gleichgeschlechtlichen Vater-Imagines die erste Phase der Identitätssuche. Die Vater-Imago steht am Anfang eines bewußtseinsbildenden Prozesses, in dem die Rekonstruktion einer männlichen Ahnenreihe vom Urahnen, Urgroßvater, Großvater bis zum Vater reicht. Sie sind als psychische Instanzen anzusehen, die zunächst eine patriarchale Bewußtseinsentwicklung fördern. Der zweite Abschnitt der Ursprungssuche ist von der matriarchalen Welt der Psyche geprägt, in der Mutterbilder und die innere Weiblichkeit als «Instanz der Psyche des Mannes» 131 seine Entwicklung bestimmen. Die Anima-¥\g\ir&n tragen zur Dynamik der Psyche bei und sind selbst Träger der Wandlung. 132 Durch sie wird - in der Terminologie Erich Neumanns - die «Ursprungssituation des Unbewußten» 1 3 3 im Sinne einer Einheit aller Gegensätze restituiert. In Le Clezios Texten seit 1975 haben idealisierte Frauengestalten 134 die Funktion, die Reisen zum Ursprung nicht nur in Gang zu setzen, sondern die Suchenden ans Ziel ihrer Selbstwerdung zu führen. Nach Jung ist die Anima «Herrin der Seele» 135 und stellt das personifizierte Unbewußte dar. Als psychologische Instanz ist sie Repräsentantin kollektiver und objektiver Seelenanteile des Mannes und leitende Figur im Prozeß seiner Individuation. Der für die erste Werkphase Le Clezios bezeichnenden fluchtartigen evasion impossible (Waelti-Walters) steht nun die magische Frauenfigur als Erlö130

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Jung, Die Psychologie der Übertragung. Erläutert anhand einer alchemistischen Bilderserie, München 31997, p. 130. Neumann, Die Große Mutter, p. 46. Cf. ibid. Ibid., p. 30. Zum Konnex von weiblichem Seelenbild und Idealisierung cf. Bachelard, La poetique de la reverie, p. 74. Jung, Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst, in: GW, Bd. IX/2, Solothurn/Düsseldorf 141995, p. 22.

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serin und Verkörperung der Wandlung selbst gegenüber. Durch sie sind Transgression von Welt und Ich erstmals möglich, denn sie initiiert die jugendlichen Protagonisten seit Voyages de l'autre cöte auf die , deren Teil sie als magisches Wesen ist und bleibt. Im Kontext von Verwandlung und Erkenntnis kommt ihr die Funktion des Psychopompos', der Seelenführerin zu, die an Wissen und Können überlegen ist, Veränderungen bewirkt, ohne selbst an ihr beteiligt zu sein. 136 Naja Naja aus Voyages de l'autre cöte ist das Urbild jener unbegreiflichen und nur schwerlich greifbaren männlichen Projektionsphantasie, die als Traumbild alle Facetten des Irrealen, Mythischen und Unbewußten in sich vereint. Alle Frauenfiguren der zweiten Werkphase sind als Konstruktionen vergleichbarer gekennzeichnet. Sie treten als Phantasiegestaltungen auf, wie sie aus Märchen, Mythen, Träumen, Visionen und Wahnsystemen bekannt sind. 137 Das Übernatürliche und Fremdartige von Naja Naja, Ouma und Surya ist bereits im Namen angelegt und durch Aussehen und Handlung als archetypische, mythische Gestalt klar umrissen. Sie entstammen nicht der Wirklichkeit, sondern einer zeitlosen, menschenfernen und Undefinierten Zone, aus der sie als Erlöserfiguren zeitweise heraustreten, um schließlich wieder dorthin zurückzukehren. Von Voyages de l'autre cöti bis zu La quarantaine hat die Anima-Vigur eine Schlüsselposition inne. Als Figur der Ganzheit können durch sie Anfangssituation und Ursprung restituiert und die Inhalte des kollektiven Unbewußten dem Bewußtsein zugänglich gemacht werden. Durch die Anima-¥\g\ir als projizierte Manifestation einer Idealgestalt treten die Archetypen (universelle und angeborene Urbilder) ins Bewußtsein. 138 In den Texten spiegelt sich diese Entwicklung in den verschiedenen Stadien von Suche und Reifeprüfung. Das männliche Ich wird durch den Psychopompos in die Toten- und Traumwelt initiiert. Die Vereinigung des Helden mit der Anima findet im mythischen Zirkel, in den Mauritius-Romanen im Zentrum des Weltenbergs statt. Was in Voyages de l'autre cöte und La montagne du dieu vivant noch als zögerliche Annäherung gestaltet ist, ist in Le chercheur d'or und La quarantaine zum geworden. 139 Der hieros gamos mit Ouma und Surya ist der mit der göttlichen Weltmutter, durch die das Ich sich als Ganzes erfährt und am sakralen Überwirklichen partizipiert. In allen Anima-Figuren sind die gegensätzlichen Prinzipien der Großen Mutter angelegt: Sie sind gleichermaßen männlich und weiblich, kindlich und weise, unschuldig und verführerisch, rational und intuitiv. 136

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Das gilt für alle Figuren außer Suryavati, die sich selbst im Prozeß der Metamorphose verändert und gemeinsam mit Leon auf der bleibt. Cf. Jung, Die Psychologie der Übertragung, p. 155. Cf. Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, Zürich 21996, p. 951sq. Cf. Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, p. 237. 139

Die Ambivalenz ist nach Neumann für die Archetypen des Weiblichen charakteristisch. E r unterscheidet zwei Formen, ihren Elementar- und Wandlungscharakter. Der erste bezeichnet passive Haltung, Libidoverlust und die Auslöschung von Ich und Bewußtsein, der zweite bringt den aktiven, die Persönlichkeit zur Veränderung bewegenden Charakter zum Ausdruck. 140 Die Mutter-Figuren sind die dominierende Leitfigur bei der Reifung des Sohnes zum Selbst. Alle Formen der Regression sind als symbolische Rückkehr in den Mutterschoß zu deuten, aus ihm wird der Sohn ein zweites Mal geboren und auf diese Weise regeneriert. 141 Die in diesem Prozeß vollzogene Inversionsbewegung zeigt, daß das Ziel der Reisen die Innenwelt und weibliche Seite des Ich ist. Durch die Führung der Anima-Figur wird die Rückverwandlung zum Kind, d.h. die Rückverwandlung der Psyche in ihren archaischen Ausgangszustand vollzogen. Alle rituellen Handlungen sind Wiederholungen archetypischer Muster, die darauf ausgerichtet sind, kollektive und unbewußte Bilder zu reaktivieren und auf diese Weise die zweite Kindheit zu restituieren. Die mystische Vereinigung mit der Anima-Yigm steht am Ende aller Reisen, die aus Bewußtsein und Tageswelt in die Sphäre von Traum und Wahnsinn führen, in der gleichermaßen und Genius wirksam sind. In den Mauritius-Texten ist das Strukturmuster von La montagne du dieu vivant angewandt: Die Initiation auf die vollzieht sich in drei Stufen und drei extases materielles. Den Endpunkt bildet der hieros gamos mit der Anima-Yigur, d.h. mit der gescheiterten oder geglückten Assimilation unbewußter Inhalte. Das nun folgende Kapitel wird den Konstanten und Varianten dieser Entwicklung chronologisch nachgehen. Im Kontext der immer wieder thematisierten Traum- und Erinnerungsarbeit, die seit Le chercheur d'or werkkonstituierend ist, stellen alle Aspekte der Anima gebündelt eine Denkfigur des Anfangs dar. In ihr sind schöpferische Mächte wirksam, und sich mit ihr in Beziehung zu setzen, ja sich mit ihr zu verbinden, bedeutet, das Selbst als Quelle künstlerischer Inspiration zu finden. Das Prekäre dieser Figuren, die wie Musen in der Mythologie und Feen im Märchen - unvermittelt auftauchen und unverhofft wieder verschwinden, sind als Projektionen einer männlichen Wunscherfüllung Inbegriff des Flüchtigen. 142 Im Kontext von Erinnern und Vergessen stellt die Anima-Figai das auf allen Ebenen entfernteste Traumbild dar, das dem Träumenden als Erscheinung real vor Augen 140 141

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Cf. Neumann, Die Große Mutter, p. 47. Cf. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido, p. 175-294 und Neumann, Die Große Mutter, p. 41 sq. Der auf Poe und Baudelaire zurückgehende - von Breton aufgegriffene - Mythos der Passantin spiegelt sich auch in den Mauritius-Texten: Ouma, Oya und Surya sind nur augenblick- nicht dauerhaft erfahrbar und entziehen sich jeglicher Habhaftwerdung. Das städtische Szenario ist durch den Naturraum ersetzt: Anstatt am Brunnen oder im Cafe zu sitzen, treten die Feen hier erstmals am Flußufer oder der Lagune in Erscheinung.

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tritt. Sie ist das personifizierte weibliche Andere, das eine erkenntnisbringende Funktion hat. Jung beschreibt sie und ihre Eigenschaften als Archetypus folgendermaßen: Der projektionsbildende Faktor ist die Anima, beziehungsweise das Unbewußte, welches durch die Anima vertreten ist. Sie tritt, wo sie erscheint, in Träumen, Visionen und Phantasien, personifiziert auf und bekundet damit, daß der ihr zugrundeliegende Faktor alle hervorstechenden Eigenschaften eines weiblichen Wesens besitzt. Sie ist keine Erfindung des Bewußtseins, sondern eine Spontanproduktion des Unbewußten; auch ist sie keine Ersatzfigur für die Mutter, sondern es hat allen Anschein, als ob jene numinosen Eigenschaften, welche die Mutter-Imago so einflußreich und gefährlich machen, dem kollektiven Archetypus der Anima, welche sich in jedem männlichen Kind aufs neue inkarniert, entstammen würden.143 Dieser projektionsbildende Faktor ist bei den Le Clezioschen Frauen-Figuren deutlich erkennbar. Sie sind eine Personifikation des kollektiven Unbewußten und vermitteln - als Psychopompos - zwischen Unbewußtem und Bewußtem: Nur durch Naja Naja, Ouma und Surya gelangen die männlichen Protagonisten und Rahmenerzähler zu einem ihnen bis dahin verschlossenen Wissen. Das mythische Schema macht auch den Weg der Erkenntnis sichtbar: Er führt aus der Realität in den Traum, aus dem Licht in die Nacht. Die mütterlichen Begleiterinnen haben die Aufgabe, den jugendlichen Helden in die Unter- und Totenwelt zu initiieren, sie auf diese Weise aus der Gefangenschaft ihrer conditio humana zu erlösen. Ein kurzer Exkurs sei uns an dieser Stelle erlaubt, da das Le Cleziosche Doppelungsverfahren - auch im Kontext weiblicher Figurenbildung - auf romantische Verfahrensweisen rekurriert, die mit Ε. T. A. Hoffmann beginnen, von Nerval weitergeführt werden und bis zu den Surrealisten reichen. Auf sie wollen wir hinweisen, da sie, im Kontext dichtungstheoretischer Überlegungen, von Interesse sind. Als Vergleichsbeispiele dienen uns Hoffmanns Die Doppeltgänger (1821), Nervals Aurelia (1855) und Bretons Nadja (1928). An den Anfang stellen wir die Doppelgänger-Erzählung von Hoffmann. Die zentrale Frauen-Figur in Die Doppeltgänger trägt den Namen Natalie,144 sie ist ein repräsentatives Beispiel einer Anima-Tigur, da sie nicht nur Dynamik und Wandlung bewirkt, sondern selbst Symbol des Imaginationsvorgangs ist. Auf ihr gründen sich das schreibende Ich und sein Werk. Auch in Nervals Aurelia betont das erzählende Ich mehrmals, daß Aurelia eine Traumgestalt, ein Produkt seiner schöpferischen Phantasietätigkeit sei, die immer wieder aufs Neue erarbeitet werden müsse. Das in diesem Kontext auftretende Pygmalionmotiv ist ein weiterer Beleg dafür, daß Aurelia eine Kunstfi-

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Jung, Aion, p. 22sq. Der Konnex von Geburt, Neugeburt (lat. natalis, auch Geburtsgott und -genius) und künstlerischer Selbstwerdung wird - wie im Fall von Noel - durch die Namensbedeutung hergestellt. 141

gur ist, die den männlichen Schöpfungsmythos begründet. Es heißt dort: «Une figure dominait toujours les autres; c'etait celle d'Aurelia, peinte sous les traits d'une divinite, telle que m'etait apparue dans mon reve. [...] Je fis plus, je tentais de figurer avec de la terre le corps de celle que j'aimais; tous les matins mon travail etait ä refaire, car les foux, jaloux de mon bonheur, se plaisaient äen detruire l'image.» Aurelias göttliche Erscheinung erhöht den Träumenden, macht ihn selbst zum Gott, «L'idee que j'etais devenu semblable ä Dieu», und ermöglicht seine participation mystique (p. 270 und p. 300). 145 Natalie, um die die George und Berthold rivalisieren, ist zugleich reale und irreale Figur und als solche projiziertes Traumbild männlicher Phantasie: «Natalie, jener schöne Liebestraum», 146 so der Maler George. Sie ist mehr innere Vorstellung als aus Fleisch und Blut und für George «Lichtgestalt»,147 «Bild eines himmlischen Weibes» 148 und «holde[s] Engelskind». 149 Und wie Orpheus Euridyke, so verlieren die Doppelgänger Natalie ein zweites Mal und am Ende endgültig. Obgleich sie während der gesamten Erzählung nur abwesend anwesend zu sein scheint, steht sie im Zentrum von Suche und Initiation. Die feindlichen Brüder kämpfen um sie und tragen ihren Konflikt aus. Am Schluß, als sich alle Verwicklungen aufklären, tritt sie wie ein Traumbild kurz in Erscheinung, bevor sie sich vom irdischen Leben abkehrt und sich in ein Kloster zurückzieht. Insbesondere in dieser Offenbarungsszene wird deutlich, daß Natalie den dynamischen Prozeß der rivalisierenden Prinzipien nicht nur auslöst, sondern deren synthetische Vereinigung als Anima verkörpert: Als «selige Braut» schwebt Natalie wie der «versöhnte Geist» 150 über den ungleichen Brüdern, und als «Engel des ewigen Lichts»151 trägt sie bei Hoffmann Züge einer christologischen Erlöserfigur, die die Gegensätze in sich trägt. Natalie ist ein personifiziertes Kunstideal und Quelle der Inspiration, aus dem Werk und Autor hervorgehen: « - Sie ist kein irdisches Wesen; sie lebt nicht auf der Erde, aber in dir selbst als hohes reines Ideal deiner Kunst, das dich entzündet, das aus deinen Werken die Liebe aushaucht, die über den Sternen thront. [...] - sie selbst ist die Kunst, in der mein ganzes Wesen atmet. [...]».152

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Auch in Bretons Nadja ist die Frauengestalt Idee und inspirierender Gedankenstrom, die Muse des Schreitenden und Schreibenden: «Je suis la pensee sur le bain dans la piece sans glaces» und «Poursuite de quoi, je ne sais, mais poursuite, pour mettre ainsi en ceuvre tous les artifices de la seduction mentale.» (p. 118 und p. 128). 146 g τ a . Hoffmann, Die Doppeltgänger, in: GW, Bd. IV, Erzählungen, Hamburg 1965, p. 411-464, hier p. 434. 147 Ibid., p. 426. 148 Ibid., p. 430. 149 Ibid., p. 462. 150 Ibid. 151 Ibid., p. 463. 152 Ibid., p. 464.

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Als Anima-Figur ist sie schöpferisches Prinzip und Ursprung überirdischer Inspiration, an der sich Ideen und Dichtungsphantasien entzünden. Hoffmanns Natalie ist das Modell einer Muse, die dem Dichter als Traumbild erscheint. Sie zu finden und wieder zu verlieren ist das Prinzip eines Imaginationsvorgangs, der sich verschlüsselt im Text spiegelt. Die Konturen dieser Figur bleiben vage und unscharf, ihre Funktion im Kontext des Traumdiskurses ist jedoch klar umrissen. Sie ist nicht zu fassen und entzieht sich wie ein Wahnbild oder eine flüchtige Vorstellung, kann aber durch das Schreiben im Werk fixiert werden. Die notwendige Paradoxie besteht darin, daß erst ihr Verlust Gewinn bedeutet: Denn durch ihr Wesen, das temporär in seine Nähe rückt, kann der Künstler 153 den verlorenen Bezug zum Göttlichen als Inspirationsquelle wiederherstellen. Das in Hoffmanns Erzählung Die Doppeltgänger entwickelte dichtungstheoretische Imaginationsschema sehen wir als Ausgangspunkt einer Tradition an, die von Nervals Aurelia zu Bretons Nadja bis zu Le Clezios Gestaltungen des Weiblichen führt. Naja Naja, Ouma und Surya sind mythisch-märchenhafte Wesen, die nicht der Wirklichkeit, sondern Träumen und Projektionen männlicher Phantasien angehören, die als Wandlungsprinzip und Kunstideal Grundlage des dichterischen Schöpfungsprozesses sind. Der folgende Überblick über den Typus der weiblichen Gestaltungen seit Voyages de l'autre cöti soll veranschaulichen, daß es um Tagtraumphantasien und Idealbildungen des Weiblichen geht, in denen die Triade Göttin - Gattin - Schwester angelegt ist. Es geht um psychische Instanzen, die seit Le chercheur d'or auch in Bezug zur Ecriture stehen. Der experimentelle Charakter der Figuren ist eine Grundkonstante, die im Mauritius-Projekt ins Wahnund Traumhafte gesteigert ist. Während Naja Naja spielerisch zwischen den Ebenen von Wirklichkeit und Überwirklichkeit hin- und hergleitet, sind die Grenzüberschreitungen in Le chercheur d'or und La quarantaine gezielte Experimente, die darauf ausgerichtet sind, in den Bereich von Wachtraum, Traum und Halluzination vorzudringen, in der sich die Wirklichkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Das ernste Spiel der Wirklichkeitsfluchten, das in Voyages de l'autre cöte angelegt ist, wird in den Mauritius-Texten zum existentiellen Abenteuer umgewertet.

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In allen thematisierten Texten geht es um den Konnex von Imagination und Dichtungstheorie. Bei Hoffmann, Nerval, Breton und Le Clezio sind es Dichterpersönlichkeiten, die sich in ein dialektisches Verfahren der Doppelung einbinden, um Erkenntnisse und Energien für den Schreibprozeß zu gewinnen.

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2.1 Die Kindgöttin «Qui est-ce?» «C'est un enfant inconnu.» (Le Clezio, L'inconnu sur la terre) Den zentralen Gedanken der Wandlung enthält auch der Archetypus des Kindes, dessen Teilhabe an der Individuation nach Jung entscheidend ist. Das Kindmotiv ist der yln/wta-Funktion zugehörig und steht im Zusammenhang mit vorbewußten Vorgängen, die in Form von Träumen oder durch die Methode der aktiven Imagination bewußt gemacht werden können. 1 5 4 Wie im Fall von Vater- und Mutter-Imago ist das Kind kein Abbild eines wirklichen Kindes, sondern eine mythologische Kindvorstellung mit Symbolcharakter: «[...] es handelt sich um ein göttliches, wunderbares, eben gerade nicht menschliches Kind, gezeugt, geboren und aufgezogen unter ganz ungewöhnlichen Umständen. Seine Taten sind ebenso wunderbar oder monströs wie seine Natur oder körperliche Beschaffenheit.» 155 Die Doppelgestalt, zugleich irdisch und überirdisch, lebensspendend und zerstörerisch zu sein, ist allen Kindgöttinnen seit Naja Naja aus Voyages de l'autre cöte gemein. «Es ist eine wesentliche Eigentümlichkeit der psychischen Figuren», schreibt Jung über die AraVna-Figuren, daß «sie doppelt oder wenigstens der Verdopplung fähig sind.» 156 Stellen wir anfangs Naja Naja aus Voyages de l'autre cöte vor, da sie für die weiteren Gestaltungen des Kindmotivs vorbildhaft ist. Zu ihrem Doppelwesen als Licht- und Schattenfigur schafft bereits der Name Zugang: Naja Naja (naja, sanskrit. Kobra) ist eine doppelte Schlange oder Najade (weiblicher Naturgeist und Quellnymphe). Die auffällige Ähnlichkeit zu Bretons Nadja wird nicht nur durch Namen, sondern auch durch Handlung evoziert. Bei ausgedehnten Streifzügen durch die Stadt begegnet Naja oder NN - wie sie hier genannt wird - einem jungen Mann, der sie nach ihrem Namen fragt: «Naja, dit NN. Le gar$on comprend Nadia.» (VAC, 92) 157 NN ist ein weiterer 154

Cf. Jung, Aion, p. 240. Jung versteht unter ihr eine aktive Hervorrufung innerer Bilder und Symbole, die eine schöpferische und heilbringende Wirkung erzielen. Es ist ein Zustand des bildernden Dösens, in dem kritische Aufmerksamkeit und Bewußtsein ausgeschaltet und die Phantasiebilder aus den tiefsten seelischen Urgründen aufsteigen können. Es handelt sich um eine Methode, die die Selbsterkenntnis um unbewußte Bildinhalte erweitert. Cf. Pongratz, Hauptströmungen der Tiefenpsychologie, p. 385sq. 155 Jung, Zur Psychologie des Kindarchetypus, in: ders., Archetypen, p. 107-136, hier p. 117. 156 Jung, Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Anima-Begriffes, in: ders., Archetypen, p. 57-107, hier p. 78. 157 Diese Namensvariante taucht auch in Nadja auf: Das Zögern von Mme Sacco, die auf ihrem Weg einer gewissen «Nadia ou Natacha» begegnet sei (p. 124), bringt das Vage der gesamten Figur zum Vorschein. Nicht begriffliche wie inhaltliche Fixierung, sondern das Sich-Entziehende und Flüchtige sind die Maßgaben, nach der die Figur konzipiert ist.

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Hinweis auf das unbekannte Kommende, eine non nominata, nomen nescio oder nomen nominandum, deren Namen man (noch) nicht kennt oder nennen will, die zwar noch niemand ist, aber prospektive jemand sein wird. Die Bedeutung des russischen Wortes Hoffnung erklärt das Wesen des weiblichen Kindes, das - bei Breton wie Le Clezio - Inbegriff des Zukünftigen und potentiell Möglichen ist. Beide Kindgöttinnen sind umherstreifende Musen, die sich ihren Namen selbst geben: «Elle me dit son nom, celui qu'elle s'est choisie: und gezielte Abwendung vom steuernden Geist als , kann dieses poetologische Desiderat umgesetzt werden. Das Schöpferische wird als unbewußte Instanz gedacht, die - darin unterscheidet sich Le Clezio von den Surrealisten - nicht durch die ecriture automatique, sondern durch eine Ecriture freigelegt werden soll, in der das Bewußtsein als Steuerungsorgan zwar in den Hintergrund gestellt, aber niemals ganz ausgeschaltet ist. Im Sinne von Jung und Bachelard gilt es, Archetypen zu aktivieren und für das Schreiben nutzbar zu machen. Dafür ist es notwendig, daß sich der Schreibende in versetzt und ihnen eben jene Bilder abgewinnt, die unter (O, 52), und die Spaziergänge an Land « Fintan ne voulait pas.» ( 0 , 4 9 ) , sondern er kehrt den gesellschaftlichen Zirkeln in derselben Weise wie sein Vater den Rücken; insbesondere, als er den Flirt seiner Mutter mit «l'odieux Gerald Simpson» (O, 49) bemerkt. Fintans Flucht und Rückzug verstehen sich als innere Revolte. Aus Wut zieht er sich in die Kabine zurück, um zu schreiben: Fintan en ressentit une teile colere et une teile honte [...]. C'etait comme si, dans la nuit, chaque noir le regardait, d'un regard brillant, plein de reproche. [...] Alors Fintan descendit dans la cabine, il alluma la veilleuse, et il ouvrit le petit cahier d'ecolier sur lequel etait ecrit, en grandes lettres noires, UN LONG VOYAGE. Et il se mit ä ecrire en pensant ä la nuit, pendant que le Surabaya glissait vers le large [....]. (O, 55sq.) Er erfindet die Geschichte von Esther, die eine Präfiguration von Oya und Meroe und weibliche Projektionsfigur des männlichen Ichs ist. Ihre Flußfahrt auf dem Niger spiegelt die in der Surabaya, ihre Ankunft und erste Begegnung mit einem Schwarzen die mit dem unbekannten Vater. Der freundschaftliche Empfang ist die Wunschprojektion einer konfliktlosen Begegnung mit dem gefürchteten Rivalen. Fintans Geschichte ist in Majuskeln verfaßt und in den fließenden Text integriert. Ein Hinweis, daß die kindliche Ecriture aus der des Erwachsenen förmlich (und wörtlich) herausragt. Die gesuchte Einbindung des Prätextes spiegelt sich auch im Textbild. Das Verfahren der Spiegelung betrifft aber auch die Figuren selbst. Fiktion und Wirklichkeit werden austauschbar: Esther ist Fintan, ihre Reiseabenteuer reflektieren seine. Weitergehend bedeutet dies, daß die Wirklichkeit durch die Ecriture hindurch erlebt und verstanden wird. Die Wirkung, die das Schreiben der deviendra pour nous un instrument nous permettant de reconnaitre la primitivite de certaines images de la rondeur pleine qui nous aident ä nous rassembler sur nous-meme, ä nous donner ä nous-memes une premiere constitution, ä affirmer notre etre intimement, par le dedans. Car vecu du dedans, sans exteriorite, l'etre ne saurait etre que rond.117 Der Kreis stellt eine symbolische Idealform 118 dar und gehört dem intimen Bildbereich an, da er sich eine ihn umgebende Fläche absetzt. «Ces images», schreibt Bachelard, «nous donnent une Ιβςοη de la solitude.»119 Hier werden zwei für unsere Überlegungen relevanten Kriterien angesprochen: Isolation und Innerlichkeit. Im Kontext personaler wie räumlicher Selbstbezüglichkeit haben Kreis und Einkehr vor allem eine psychologische Bedeutung. Insel, lat. insula, gibt etymologisch Auskunft über den Zusammenhang von . Ansätze einer Theorie des Sprachursprungs bei Sigmund Freud», in: Joachim Gessinger/ Wolfert von Rahden (ed.), Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. II, Berlin/ New York 1989, p. 388-431, insbesondere p. 398. Le Clezio, «Le reve de Maldoror», p. 105. Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt 41993, p. 14. 221

um eine existentielle Daseinsmetapher, die mit äußerem Verlust und innerem Gewinn verbunden ist. Blumenberg beschreibt den Schiffbruch als Bildbereich, der mit der «Selbsterfahrung des Dichters»134 zu tun hat. Während im vorigen Kapitel der Jona-Komplex als Archetypus herangezogen wurde, ist Robinson ein literarischer Mythos, der zur Veranschaulichung einer Bilderserie dient, die nicht das Wasser, sondern die Erde als stoffliche Substanz thematisiert. Das mythische Schema sieht vor, daß der Held die zweite Bewährungsprobe an Land besteht. Während die Meerfahrt den Zwischenbereich der Welten darstellt, erfolgt mit dem Schiffbruch die Ankunft auf der . Der «heros solaire» wird aus dem Bauch des Wals an Land geworfen und auf diese Weise zu Robinson: «Durant ces aventures, la baieine a nage dans les mers de l'Occident vers l'Orient, oü eile s'echoue, morte, sur une planche. S'en apercevant, le heros ouvre le flanc de la baieine dont il sort, tel un nouveau-ne, au moment oü le soleil se leve.»135 Dieses Geworfen-Sein wird in den Mauritius-Texten als wiederkehrendes Motiv des gestrandeten Wals oder Hauses, in La quarantaine schließlich durch den Schiffbruch als existentielle Ausgangserfahrung dargestellt: Die Bergruine Reydarbarmur in La montagne du dieu vivant gleicht einem gestrandeten Wal (MDV, 125), das Haus in Le chercheur d'or einem gestrandeten Schiffswrack (CH, 12, 48, 89, 317) und die Inseln Plate und Gabriel in La quarantaine sind «comme un gigantesque mammifere marin echoue dans la tempete avec son petit.» (Q, 54) Die auf Plate wird hier in Szene gesetzt: Der Transfer vom Schiff zur Insel wird durch Flut, starken Wind und einsetzenden Regen erschwert. Nach Bachelard ist das aufgewühlte Wasser ein Bild der «colere universelle», die mit dynamischem Aufbruch verbunden ist: Comment mieux dire que la colere est une connaissance premiere de l'imagination dynamique? [...] La colere est la plus directe des transitions de 1'homme aux choses. Elle ne suscite pas de vaines images, car c'est eile qui donne les images dynamiques premieres. L'eau violente est un des premieres schemes de la colere universelle.136 Der hohe Seegang verhindert, daß die Passagiere auf die Insel übergesetzt werden können. Obgleich der Schooner Dalhousie seit dem Morgengrauen bereitsteht, sind die Passagiere gezwungen, «ä attendre jusqu'ä la fin de l'apres-midi.» (Q, 54) Unwetter und zeitliche Verzögerung erhöhen die Spannung, und die Landung wird zur «scene de naufrage» (Q, 54).137 Als tragikomisches Moment ist es die räumliche und zeitliche Schnittstelle zwischen dieser und anderer Seite. Der erste Ausnahmezustand kündigt die Quarantäne als Figur sozialpsychologischer Verunsicherung an: 134 135 136 137

Ibid., p. 15. Bachelard, La terre et les reveries du repos, p. 157. Bachelard, L'eau et les reves, p. 199sq. Cf. auch Q, 382.

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Les passagers de premiere se melaient aux immigrants, et dans le trouble de la tempete on ne distinguait plus les races ni les privileges. Chacun avait du laisser la plus grande partie de ses bagages ä bord de 1 'Ava, car on n'attendait pas un sejour de plus de quelques jours. (Q, 55) Die Gesetze der Kaste scheinen ebenso aufgehoben wie die Grenze zwischen den Lagern auf Plate. Künstliche Grenzziehung und Ausgangssperre versuchen vergeblich, die Hierarchie aufrechtzuerhalten. Der Schiffbruch markiert das subversive Moment als Bruch und Möglichkeit zur Umkehr. Da Sturm und einsetzender Regen verhindern, daß die kleinen Boote die Fahrtrichtung finden, wird eine Kordel zwischen Schooner und Ufer gespannt, an der sich die Passagiere entlanghangeln: Le vent brise par le rempart du volcan tourbillonnait dans la baie, arrachait l'ecume aux vagues qui couraient en sens contraire, tandis que les nuages noirs glissaient vers le sud, si vite qu'il semblait que la terre entiere basculait vers l'avant. [...] Un cable avait ete fixe sur la plage ä un poteau et relie par une chaloupe jusqu'au pont du schooner. (Q, 54sq.) Die Gegenläufigkeit von Wellen und Wolken bindet die Individuen in eine Art kosmisches Chaos ein und hebt sie in den Stand einer . Die Reduktion ist die Bedingung, ihn zu restituieren. Nach Blumenberg geht die existentielle Entschlackung der entfesselten Selbsterfahrung voraus. Das Zurücklassen des Gepäcks und die Beschränkung