Regress und Zirkel: Figuren prinzipieller Unabschließbarkeit: Architektur – Dynamik – Problematik 9783787330058, 9783787330041

Das Denken stößt immer wieder auf Figuren prinzipieller Unabschließbarkeit, etwa den infiniten Regress oder den Zirkel.

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German Pages 287 [288] Year 2017

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Regress und Zirkel: Figuren prinzipieller Unabschließbarkeit: Architektur – Dynamik – Problematik
 9783787330058, 9783787330041

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Stefan Berg, Hartmut von Sass (Hg.)

Regress und Zirkel Figuren prinzipieller Unabschließbarkeit: Architektur – Dynamik – Problematik

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3004-1 ISBN eBook: 978-3-7873-3005-8

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Zürich © Felix Meiner Verlag Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Stefan Berg und Hartmut von Sass Regress und Zirkel. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I.  Zur Hermeneutik von Regress und Zirkel

Günter Figal Zirkelformen des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Emil Angehrn Die unabschließbare Erinnerung. Der Kreis des Lebens und die Zukunft des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Simon Springmann »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«. Die Ewige Wiederkunft des Gleichen – kosmologischer Zirkel und existenzieller ­Imperativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 II.  Regress und Zirkel als Formen der Argumentation

Holm Tetens Abbruch, Regress, Zirkel. Ein unvermeidbares Trilemma jeder Begründung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Anton Friedrich Koch Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen . . . . . . . 115 Birgit Recki »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«. Kants argumentative Strategien gegen den ­unendlichen Regress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Rico Gutschmidt Unbegründeter Glaube und grundloses Sein. Der Regress bei Wittgenstein und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Hartmut von Sass Gottesbeweise – und kein Ende. Zur theologischen Verarbeitung des infiniten Regresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 III.  Regress und Zirkel in (idealen) Systemen

Stefan Berg Regress und Reentry. Basalität bei Hans Albert und George Spencer Brown . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Thomas Filk Gödel und Turing. Selbstreferentialität mit einem »Twist« . . . 250 Harald Atmanspacher Kontextuelle Emergenz als selbstkonsistentes Verfahren . . . . 268 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

6  |  Inhalt

Stefan Berg und Hartmut von Sass

Regress und Zirkel Eine Einleitung 1  . Annäherung: Regress, Zirkel und die meta­phy­sische ­Verlegenheit Regress und Zirkel standen selten als eigenständige Problematik im Mittelpunkt des philosophischen oder generell intellektuell-wissen­ schaftlichen Interesses. Dies schließt besondere Konjunkturen ihrer Thematisierung nicht aus, weist aber darauf hin, dass sie meist nur im Zusammenhang umfassenderer Konstellationen weiterführende Fragen aufgeworfen haben. So ist der infinite Regress kaum als ein separates und darin abgrenzbares Problem rezipiert worden, spielt aber innerhalb der so langwierigen wie verzweigten Debatten um den Zuschnitt, Status und die Versionen der klassischen Gottes­ beweise eine eminente Rolle.1 Und das Denken in Zyklen und zirkulären Selbstbezüglichkeiten war als Gefahr zwar stets präsent, wurde aber erst dann als Thema greifbar, sofern es als Integral eines bestimmten Zeitverständnisses der (ewigen) Wiederkehr des Gleichen in der vorsokratischen Philosophie und (Meta)Physik sowie weit später bei deren Bewunderer, Friedrich Nietzsche, Verwendung gefunden hatte.2 Dabei sind Regress und Zirkel zumeist als ein unliebsames Problem wahrgenommen worden. Nicht ihr möglicher Nutzen stand im Vordergrund, nicht einmal ein produktiver Umgang gerade angesichts ihrer befürchteten Unvermeidlichkeit, sondern viel eher der Gestus der Lösung oder Auflösung einer argumentativen Unannehmlichkeit. Wiederum Nietzsche gehört zu den ganz wenigen Autoren, die den Figuren der Unabschließbarkeit, insbesondere der 1 Dazu

Hartmut von Sass, Gottesbeweise – und kein Ende. Zur theologischen Verarbeitung des infiniten Regresses, in diesem Band. 2 Vgl. Simon Springmann, ›Ring der Ringe‹, ›Rad des Seins‹: Die ewige Wiederkunft des Gleichen – kosmologischer Zirkel und existenzieller Impera­ tiv?, in diesem Band.   |  7

zyklischen Wiederholung, etwas Produktives abgewinnen konnten, indem die Vorstellung, das Leben immer wieder auf die selbe (oder gleiche) Weise führen zu müssen, zur Intensivierung der Gegenwart und einer Achtsamkeit für den jetzigen Lebensvollzug verhelfen sollte (siehe 3.4).3 Und dennoch, es bleibt beim skizzierten Befund: Trotz der Faszination, die vom Regress und Zirkel als Figuren der Unabschließbarkeit ausgehen mag, begegnet(e) man ihnen reserviert. Dieses Zögern stellt sich ein, obwohl beide Figuren, wie gezeigt, unterschiedliche Strukturen aufweisen und in verschiedenen Kontexten präsent sind. Was diese ambivalente Replik zwischen Faszination und Reserve stiftet, scheint der Umstand zu sein, dass sich die abendländische Tradition der Meta­phy­sik – um hier einen exemplarischen, doch zentralen Kontext zu nennen – für sie sowohl als intellektuelle Heimat und zugleich als deren dekonstruierende Verarbeitung verstanden hat (siehe Abschnitt 3.2). Gemeint ist damit der zweideutige Befund, dass einerseits Regress und Zirkel in Kontexten klassischer Meta­phy­sik aufzufinden sind; ganz offensichtlich trifft dies auf unsere Beispiele, die Gottesbeweise und die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr, ohne Einschränkungen zu. Und andererseits eignet jenen Figuren gerade als Exemplar des Unabgeschlossenen, Offenen, ja Fragmentarisch-Unfertigen eine Charakteristik, die den herkömmlichen Meta­phy­siker in Verlegen­ heit bringt. Nicht das Prekär-Labile interessiert ihn, sondern das Feststehende, Fundierte, Gegründete. Nicht die Unabschließbarkeit ist Quelle seiner möglichen Wertschätzung, sondern deren Stillstellung sein wesentliches Bemühen. Nun ist ›Meta­phy­sik‹ ein schil­ lernder, vielleicht gar hoffnungslos verschwommener Begriff und die mit ihm bezeichnete Tradition ein in sich widersprüch­liches Konglomerat. Ein Versuch der Definition bleibt ein Wagnis, ist aber selbst im Fall seiner Anfechtbarkeit zumindest heuristisch hilfreich; hier ein Angebot, das vom Tübinger Religionsphilosophen Friedrich Hermanni stammt: 3

Dazu Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zweiter Teil, Von der Erlösung, in: KSA Band 4; ders., Ecce homo, in: KSA Band 6, bes. Abschnitt 1, beide Bände hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/München 1999; dazu Martin Heidegger, Nietzsches meta­phy­sische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen (SS 1937). GA 44, hg. von Martin Heinz, Frankfurt a. M. 1986, bes. 137–141. 8  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

»Meta­phy­sik ist der Versuch, letzte Fragen mit Hilfe der Vernunft zu beantworten. Solche Fragen betreffen die Welt als ganze, den Grund der Welt und den Platz des Menschen in der Welt. Sie stellen sich unvermeidlich ein, können aber durch die Einzelwissenschaften nicht beantwortet werden. […] Der Vernunft stellt sich am Ende deshalb nicht die Frage, ob sie überhaupt Meta­phy­sik betreiben will, sondern nur, in welcher Weise.«4

Regress und Zirkel als Quelle der Faszination oder aber als Grund, meta­phy­sisch beunruhigt zu sein, wären demnach Elemente »letzter Fragen«, die aber vernunftmäßig beantwortbar sind bzw. deren Lösung und Auflösung eben jenen Antwortversuchen auf die sich unvermeidlich stellenden Fragen angehören. Sie beträfen die »Welt als ganze«, ihren Grund und die anthropologische Verortung der Bewohner dieser Welt. Für einige Beispiele von Regress und Zirkel könnte diese Kennzeichnung durchaus zutreffen. In jedem Fall passt eine generelle Ausrichtung ›der‹ Meta­phy­sik – etwa der Systemgedanke, das Denken in ontologischen Hierarchien und deren Ursache als Ur-Sache im Sinne eines ultimativen Fundaments5 – jedoch nicht zur Dynamik von Regress und Zirkel. Deren wesentliche Unabgeschlossenheit widerstrebt jenem Anliegen eines fundierten und dabei geschlossenen Systems. Die Stillstellung von Regress und Zirkel könnte demnach als Ableger einer meta­phy­sischen Reaktion gelten, während die Einwilligung darin, dass diese Arretierung unmöglich oder gar unnötig sei, eine postmeta­phy­sische Alternative bezeichnete. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich nun auch der Umgang mit Regress und Zirkel als Figuren der Unabschließbarkeit, wobei es gerade umstritten ist, ob ihre genuine Offenheit sich nicht doch als durchaus schließbar herausstellen könnte. Auf der einen 4 Friedrich

Hermanni, Meta­phy­sik. Versuche über letzte Fragen (Collegium Metaphysicum 1), Tübingen 2011, 1; zu einer eingehenden Diskussion dieser ›Definition‹ siehe Hartmut von Sass, Allerletzte Fragen. Zur Kritik meta­phy­sischer Theologie und ihrer gegenwärtigen Renaissance (zu Fr. Hermanni, Meta­phy­sik), in: Theologische Rundschau 78:1 (2013), 99–117. 5 Zur Charakteristik und gegenwärtigen Renaissance der Meta­ phy­sik siehe Eric E. Hall and Hartmut von Sass, Groundless Gods. Metaphysics, its Critique, and Post-Metaphysical Theology. An Introductory Essay, in: dies. (eds.), Groundless Gods. The Theological Prospects of Post-Metaphysical Thought, Eugene, OR 2014, 1–37. Regress und Zirkel  |  9

Seite also steht der Verweis auf die Unvermeidlichkeit von regressiver oder zirkulärer Offenheit, was als Reaktion noch nicht unbedingt festlegt auf ein intellektuelles Bedauern oder doch eine Bereitwilligkeit, sich dieser prekären Denkfigur – hermeneutisch, phänomenologisch, strukturalistisch, (de)konstruktivistisch etc. – anzunehmen (3.1). Auf der anderen Seite zeichnen sich Strategien ab, denen gemeinsam ist, den Regress und – mit Abstrichen – den Zirkel als Problem aufzufassen. Hier lässt sich noch einmal unterscheiden zwischen klassischen Stillstellungen der Unabschließbarkeit (die dann offenbar keine mehr wäre), d. h. Lösungen des Ausgangsproblems (3.2), und Ansätzen, die zu zeigen versuchen, dass das Problem eigentlich eine Chimäre bildet und sich zuletzt verflüchtigen wird, d. h. Auflösungen des bedrohlichen Szenarios (3.3). Darauf können zuletzt auch jene Ansätze aufbauen, die Regress und Zirkel nicht nur zur Unvermeidlichkeit erklären, sondern sie entweder in weiterführende Über­legungen integrieren bzw. diese gerade produktiv eskalieren (3.4). Die Wertschätzung für den Regress und Zirkel steigt folglich innerhalb dieser vier paradigmatischen Reaktionen. Doch bevor wir zu deren Skizzierung kommen, gilt es, Regress und Zirkel zu anderen Figuren des Denkens, Handelns und Werdens ins Verhältnis zu setzen und von ihnen sinnvoll abzugrenzen (2.)

2. Regress und Zirkel. Formen der Unabschließbarkeit 2.1  Denken in Figuren

Es gibt Bereiche und Momente des Lebens, in denen es darauf ankommt, ordentlich und diszipliniert zu denken: dann, wenn wir uns in einer besonders bedeutsamen Situation orientieren oder andere in einer wichtigen Frage überzeugen wollen. Und wenn wir uns in wissenschaftlichen Diskursräumen bewegen, so ist der Ordnungsund Disziplinierungsanspruch noch einmal in besonderer Weise erhöht, weil wir uns idealerweise für jeden Aspekt unseres Denkens müssten rechtfertigen können. Ein Denken halten wir insbesondere dann für ordentlich und diszipliniert, wenn es uns kontrolliert erscheint und wir darin ei10  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

nen inneren Plan erkennen können: wenn uns also die einzelnen Elemente und Aspekte dieses Denkens in ihrem Zusammenhang nicht willkürlich erscheinen, sondern ein klares Konzept der Auswahl und Anordnung erkennen lassen. Auf diese Weise wird Einzelnes mit Anderem in eine nachvollziehbare, also nicht-beliebige Beziehung gebracht. Aufgrund dieser Bezogenheit der Elemente aufeinander kann man im ordentlich-disziplinierten Denken mit sicherem Tritt von Aspekt zu Aspekt wandeln und nachvollziehbare Geschichten davon erzählen, wie sich das eine zum anderen fügt. Dies verspricht uns: Es liegt ein Sinn darin. Allerdings wissen wir auch, dass dies zu weit getrieben werden und eine allzu starre Ordnung die Orientierung eher gefährden kann: dann, wenn sie Situationen in ihrer Komplexität so stark reduziert, dass keine tauglichen Lebensoptionen mehr daraus folgen, weil die entsprechenden Lösungen in irgendeiner Hinsicht zu einfach sind, Wichtiges unberücksichtigt lassen oder zu unflexibel sind, um noch auf Störungen reagieren zu können. Einem solchen, uns in irgendeiner Weise allzu diszipliniert und allzu ordentlich erscheinenden Denken schenken wir daher ebenso wenig Vertrauen, weil wir ahnen, dass es unserer Orientierung nicht weiterhilft, wenn es darauf ankommt. Zwischen hilfreicher Vereinfachung und nutzloser Übervereinfachung verläuft folglich ein schmaler Grat und er verläuft je nach den Herausforderungen der Situation und unseren spezifischen Orientierungsbedürfnissen immer ein wenig anders. Welches sind nun konkrete Ordnungsmuster, also die Auswahlund Anordnungsprinzipien, welche im ordentlichen und disziplinierten Denken anzutreffen sind und einen sinnvollen Zusammenhang zwischen einzelnen Elementen konstituieren? – Es wird also nach Figuren gefragt, die dem Denken eine formale Struktur geben und darin auf subtile Weise leiten: nach Denkfigurationen, wenn man so will. (1.) Die wichtigste und zugleich einfachste Figuration ist die Unterscheidung. Sie generiert eine simple, aber extrem prägnante Ordnung aus (mindestens) zwei Elementen, die in irgendeiner Art Kontrast aufeinander bezogen sind. Ohne derartige Differenzierungsoperationen kommt überhaupt keine Ordnung und Disziplin in das Denken, weil etwas aus der unendlichen Menge des MannigRegress und Zirkel  |  11

faltigen ausgewählt werden muss, um Elemente überhaupt anordnen zu können.6 Doch in den meisten Fällen kommt man mit einer bloßen Unterscheidung nicht weit. Sie bleibt statisch und isoliert, solange man sie nicht kontextualisiert, also Pläne möglicher Anschlussoperationen schafft, um zu dieser einen Unterscheidung hin und von dieser einen Unterscheidung weg weiter denken zu können. Tut man dies, so beginnt das Denken zu wuchern, und um sich seine Übersichtlichkeit zu erhalten, zwingt es sich ins Spalier komplexerer Figurationen, die mehrere oder sogar eine Vielzahl von Elementen zueinander ins Verhältnis setzen. Interessanterweise greift das Denken dabei immer wieder auf Vorbilder zurück, die es in der Lebenswelt wahrnimmt.7 In diesen Fällen entwirft es seine Anordnungsprinzipien nicht aus sich selbst, sondern schaut sie sich ab. Die folgenden Beispiele machen deutlich, was gemeint ist. (2.) Eine wichtige Rolle spielen architektonische Figurationen, also solche, die sich auf Strukturen der Baukunst beziehen. Das Denken ordnet dabei Elemente etwa in Stufen und unterscheidet verschiedene Ebenen, es organisiert sich nach dem Schema von Fundament bzw. Basis und Überbau oder demjenigen von Innen und Außen, es türmt sich zu einer Pyramide mit breiter Basis und schmaler Spitze oder begibt sich in die Gänge eines Labyrinths. In der Dialektik Hegels beispielsweise, insbesondere in ihrer historisch-materialistischen Interpretation durch Karl Marx, treffen wir auf eine größere Anzahl von analog konzipierten Unterscheidungen. Diese werden zueinander in Beziehung gesetzt und damit in ein komplexeres Gefüge gebracht, indem sie als eine Folge von Stufen interpretiert werden. Auf diese Weise kommt eine wertende Dynamik hinein, welche den revolutionären Aufstieg auf der Stufenleiter gegen das reaktionäre Verharren setzt – mit entsprechendem Plädoyer für gewisse gesellschaftlich-politische Optionen. 6 Vgl.

dazu die Beschäftigung mit George Spencer Brown im vorliegenden Band: Stefan Berg, Regress und Reentry. 7 Die alte erkenntnistheo­re­t ische Frage, ob das Denken seine Form aus der Lebenswelt bezieht oder das Denken seine Form der Lebenswelt einprägt, sei hiermit als benachbartes Problem benannt, aber damit auch auf sich beruhen gelassen. 12  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

(3.) Daneben begegnen immer wieder organisch-botanische Figurationen, welche der Pflanzenwelt abgeschaut sind. Hier operiert das Denken zum Beispiel mit dem Schema von Kern und Schale oder formt sich nach dem Vorbild eines Baumes, der Wurzel, Stamm und Krone besitzt. Ein besonders schönes Exempel bietet das von Deleuze und Guattari in den philosophischen Diskurs eingebrachte Rhizom: Es kritisiert dezidiert ein zu ordentliches und zu diszipliniertes Denken, indem es die starren, baumartig-hierarchischen Symmetrien traditionellen Denkens mit den flexibelasymmetrischen Wurzelgeflechten postmodernen Philosophierens kontrastiert. (4.) Nicht zu übergehen sind ferner soziale Figurationen. Hier werden Zusammenhänge beispielsweise im Sinne des Verhältnisses zwischen Herr und Diener oder zwischen Leiter bzw. Führer und Geleitetem verstanden. Wohl am häufigsten kommt dies vor, wo etwa vom Leitgedanken und dergleichen die Rede ist: ein Gedanke, der einer Reihe von subordinierten Gedanken die Richtung vorgibt. (5.) Schließlich gibt es noch die Gruppe der geometrischen Figurationen, die lebensweltlich dem Bereich mathematischer Abstraktion entstammen. Ihnen eignet etwas sehr Klares und Nüchternes, aber auch Kaltes und Abgehobenes. Neben dem Zusammenstellen von Gedanken in Drei- und Viereckskonstellationen wird oft eine Anordnung in Kreis, Spirale oder auf einer Gerade unternommen. Weil Regress und Zirkel, mit denen sich der vorliegende Band beschäftigt, in diese Gruppe gehören, wird unten noch genauer von ihnen die Rede sein. Man könnte weitere Typen nennen und sie beliebig genauer auffächern. Zudem müsste man sich eingehender mit der Beziehung dieser Figurationen zum Gebrauch etwa von Narrationen, Gleichnissen, Analogien und Metaphern in philosophischen Texten befassen. Schon diese wenigen Beispiele genügen gleichwohl, um einen wesentlichen Punkt herauszuarbeiten: Alle genannten Figurationen bringen je eine eigene Dynamik in die Beziehung der ausgewählten und angeordneten Elemente. Es geht in Auswahl und Anordnung einmal um Wichtigkeit und Unwichtigkeit, einmal eher um positive und negative Wertung, einmal eher um Statik und Abhängigkeit, einmal um Abfolge und Genese, einmal um Staffelung und Regress und Zirkel  |  13

Nachbarschaft, einmal um Variabilität und Invariabilität, einmal um Symmetrie und Gleichgewicht oder einmal um direkte und indirekte Verknüpfungen. Diese verschiedenen Nuancen werden im Wesentlichen den lebensweltlichen Vorbildern entliehen – etwa der Stufe, von der man weiß, dass sie im Regelfall nicht allein vorkommt, dass sie mehrere Ebenen verschiedenen Niveaus verbindet, dass im normalen Gebrauch das Gewicht immer nur auf einer von ihnen lastet und dass sie nicht dazu gedacht ist, um dort zu verweilen, sondern sich über sie auf und ab zu bewegen. Auf ein Denken, das sich selbst in Stufen organisiert, färben diese Konnotationen ab. Und wer etwa das Wort vom Leitgedanken in den Mund nimmt, der zeichnet bewusst oder unbewusst ein recht robustes Bild eines aktiv-herrschenden und mehrerer passiv-subordinierter Gedanken und schafft damit entsprechende Anschlussoptionen zu einem hierarchisierenden Philosophieren, das sich nicht vor Wertungen scheut.

2.2  Denken in Progressen, Regressen, Zirkeln und Spiralen

Durch welche Eigenschaften zeichnen sich nun diejenigen Figuren aus, um die es im vorliegenden Band geht, also Pro- bzw. Regresse sowie Zirkel und Spiralen? Vorneweg sei erwähnt, dass mit Gerade und Kreis zwei geometrische Figuren im Hintergrund stehen, die in gewisser Hinsicht so different sind, dass anhand ihrer versucht wurde, zwei Weisen des Philosophierens prototypisch einander gegenüber zu stellen. Wer auf einer Gerade denkt, dem geht es um das Zurücklegen von Distanzen, der will von irgendwoher irgendwohin kommen, der hat einen Ausgangspunkt und kann etwas hinter sich lassen – und er will etwas vor sich liegen haben, hat ein bestimmtes Ziel oder rechnet mit Unbekanntem. Wer hingegen in einem Kreis denkt, der legt Wert darauf, immer nur dorthin zu kommen, wo er schon einmal gewesen ist, der rechnet mit wiederkehrenden Strukturen und betont aufs große Ganze gesehen die Kontinuität vor der Diskontinuität. Wendet man es negativ, so könnte Ersterer fürchten, nie irgendwo anzukommen und zu ewiger Wanderschaft, zu ewigem Fortschritt verdammt zu sein, und Letzterer mag sich in einer 14  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

gefangenen Enge fühlen, in der er immer nur mehr oder minder auf der Stelle treten kann. Gerade und Kreis können daher zwei höchst verschiedene philosophische Ansätze benennen, welche die stabilen Strukturen des Wirklichen entweder in einer grundsätzlich linearen oder einer grundsätzlich zirkulären Form organisieren. Und weil es darin insbesondere auch um einen unterschiedlichen Umgang mit Zeit geht, artikulieren sich diese zwei Typen etwa auch in verschiedenen Konzepten einer Philosophie der Geschichte. Karl Löwith hat eine solche Alternative am prägnantesten herausgearbeitet. In Bezugnahme auf Friedrich Nietzsche kontrastierte er das genetisch-lineare Verständnis der christlichen Heilsgeschichte mit dem redundant-zirkulären Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen.8 Setzt man so an, dann steht die Gerade grob gesagt für ein christlich-abendländisches, der Kreis für ein pagan-östliches Denken. Wenn es in diesem Band um Pro- und Regresse sowie Zirkel und Spiralen geht, so wird ein anderer Akzent gesetzt. Es handelt sich bei ihnen allen um Figuren, in denen das Denken kein Ende findet: kein Ende finden will, kein Ende finden kann beziehungsweise den Abschluss selbst herbeiführen muss. Beim Kreis ist das unendliche Moment lebensweltlich offensichtlich: Wir könnten ihn – wenn wir so lange lebten – ewig mit dem Finger nachzeichnen, ohne je auf einen Anfang oder ein Ende zu stoßen, und das ist uns, weil der Kreis seine Eigenschaften behalten wird, unmittelbar einsichtig, obwohl wir uns im Endlichen befinden. Bei der Geraden ist es komplizierter. Nur bei denjenigen Geraden, die uns im Raum mathematischer Abstraktion begegnen, erscheint uns einigermaßen glaubhaft, dass sie in beide Richtungen endlos sind. In der lebensweltlichen Konkretion kennen wir nichts dergleichen. Das unendliche Moment ist für uns nicht sichtbar, denn alle mögliche Anfangs- oder Endlosigkeit der Geraden verschwindet spätestens hinter dem undurchsichtigen Vorhang unseres eigenen zeitlichen Anfangens oder Endens. Vielleicht rührt aus dieser unterschiedlichen lebensweltlichen Anschaulichkeit der 8

Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Zur Kritik der Ge­ schichtsphilosophie, Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983; ders., Nietz­ sches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 6, Stuttgart 1987, 102–384. Regress und Zirkel  |  15

Unabgeschlossenheit, dass wir den Ring leicht als versöhnliches Unendlichkeitssymbol akzeptieren, während pro- und regressiven Entwicklungen etwas Beunruhigendes innewohnt und wir einen gewissen Reiz verspüren, eben doch nach einem Anfang oder einem Ende zu suchen – wobei wir dort bezeichnenderweise auch wieder keine Ruhe finden und gern nach dem Davor des Anfangs und dem Danach des Endes weiterfragen. Um nun etwas vertiefter an die Eigenschaften von Pro- bzw. Regressen sowie Zirkeln und Spiralen heranzukommen, seien drei Definitionsversuche vorgeschlagen: (i.) Regresse und Progresse sind endlose, in eine Richtung gewendete Bewegungen eines Operierens innerhalb einer Struktur aus Elementen in linearer Anordnung. Sie haben folgende Form: a → b → … (+ n) … (ii.) Zirkel sind endlose Bewegungen eines Operierens innerhalb einer Struktur aus mindestens zwei Elementen in kreisförmiger Anordnung. Sie haben folgende Form: a → b → … (n) … → a … (iii.) Spiralen sind endlose Bewegungen eines Operierens innerhalb einer Struktur aus mehreren Elementen, in der ein Pro- oder Regress in eine kreisförmige Auf- bzw. Abwärtsbewegung gebracht ist. Sie haben folgende Form: a1 → b1 → … (nn) … → a2 → b2 → … (nn+1) → a3 … Diese Definitionsversuche lassen sich nun anhand verschiedener Aspekte genauer auslegen:

2.3  Abstraktion und Konkretion

Ein erster zu klärender Unterschied ist der zwischen Pro- und Regressen einerseits und Geraden andererseits. Eine Gerade ist eine abstrakte Figur der Geometrie, ein Pro- bzw. Regress hingegen eine konkrete Bewegung auf einer solchen. Entsprechend hat eine Gerade weder Anfang noch Ende, während Pro- und Regress einen 16  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

bestimmten Einsatzpunkt aufweisen, von dem aus sich das Denken auf den Weg macht. Analog dazu lässt sich weiter der Unterschied zwischen Kreis und Zirkel beschreiben: als Kreis die abstrakt-geometrische Figur, als Zirkel eine konkrete Bewegung in ihm – hergeleitet vom Zeichengerät, das in seiner Bewegtheit einen Kreis malt.9 Die Spirale wiederum bezeichnet primär die abstrakt-geometrische Figur. Die Bewegung in ihr könnte streng genommen einerseits als Pro- bzw. Regress und zugleich andererseits als Zirkel bezeichnet werden, weil in ihr ja variante und invariante Aspekte zusammenkommen. Um beides zusammen zu halten, sollte bei der konkreten Bewegung von einer Spiralbewegung die Rede sein.

2.4  Endlichkeit und Unendlichkeit

Ausgehend von den genannten Differenzierungen lässt sich weiter sagen, dass Gerade, Kreis und Spirale als ideal-abstrakten Figuren ein Aspekt von Unendlichkeit eignet: Sie haben als solche weder Anfang noch Ende, das heißt, gerader Abschnitt folgt auf geraden Abschnitt, kreisrunder auf kreisrunden, spiralförmiger auf spiralförmigen – es geht immer so weiter. Dabei ist die Unendlichkeit aber an eine bestimmte Gerichtetheit gebunden, das heißt, Gerade, Kreis und Spirale besitzen an sich zwar kein Ende, haben deshalb aber doch eine Begrenzung gegenüber demjenigen, was nicht auf, sondern neben diesen Figuren zu liegen kommt. Betrachtet man hingegen Re- und Progress sowie Zirkel und Spiralbewegung im oben genannten Sinn als konkrete Bewegungen in den abstrakten Figuren Gerade, Kreis und Spirale, so wird es komplizierter. Die Bewegungen als solche brauchten im Prinzip kein Ende haben, weil sie – von der abstrakten Figur her gedacht – 9 Wer

hingegen von einem Ring spricht, der bedient sich aus einer anderen Metapherngruppe: nicht derjenigen der geometrischen Formen, sondern derjenigen des Schmucks. Beim Ring schwingen damit zum einen Aspekte der Herstellung mit – die Praktik des Schmiedens, in dem ein gerades Werkstück gebogen und gefügt wird. Zum anderen ist er etwas, das am Körper getragen oder anderweitig ausgestellt wird und mit einer weiterreichenden Bedeutung aufgeladen wird: ein Symbol für Vollendung, Macht, Legitimation, Treue, Wiederkehr und Ewigkeit. Regress und Zirkel  |  17

niemals auf einen unüberbrückbaren Widerstand stoßen. Auch sie sind also idealerweise unendlich. Sofern es aber konkret vollzogene Bewegungen sind, die von einem unter den Bedingungen von Zeitlichkeit real existierenden Operator getätigt werden, besitzen Regress/Progress, Zirkel und Spiralbewegung zugleich einen Aspekt von faktischer Endlichkeit. Damit geht einher, dass sie stets einen konkret-kontingenten Einsatzpunkt haben, von dem aus sich das Denken oder Rechnen auf den Weg macht. Und sie haben auch einen konkret-kontingenten Endpunkt, an dem das Operieren faktisch endet. Ob die Kaffeepause oder der Tod für den denkenden oder der Stromunterbruch für den maschinell-rechnenden Operator: die ideale Unendlichkeit wird im Konkreten niemals verwirklicht. Regress und Progress sowie Zirkel und Spiralbewegung sind daher näher zu bestimmen als endliche Bewegungen in einer idealerweise unendlichen Struktur.

2.5  Richtung und Raum

Der charakteristische Unterschied zwischen den Figuren bzw. den Bewegungen in ihnen liegt in verschiedenen Signaturen von Gerichtetheit im Raum. Bei Regress und Progress ist es gemeinsam ein linear-gradliniges Streben, wobei es beim Regress als ein Rückwärts, beim Progress als ein Vorwärts näher bestimmt ist. Der Unterschied zwischen vorwärts und rückwärts ist einer der Blickrichtung: Das Vorwärts schaut auf ein reales oder imaginäres Ziel hin, zu dem man hin will, das Rückwärts zurück zu einem realen oder imaginären Anfang, von dem man herkommt – wobei es für die infiniten Figuren Re- und Progress eine bemerkenswerte Spannung ist, dass Anfang und Ziel zwar anvisiert, aber per definitionem nie erreicht werden können. Mit der Differenz von Vorwärts und Rückwärts gehen leicht unterschiedliche Konnotationen einher: das negativ auffallende infantil-regressive Verhalten gegenüber der positiv erscheinenden progressiven gesellschaftlichen Strömung. Allerdings lassen sich Progress und Regress auch nicht ganz klar gegeneinander abgrenzen: Wenn das Denken etwa einer Kausalkette sozu­sagen regressiv zu einer prima causa folgt, so ist sie darin doch aktiv und schreitet in gewisser Weise progressiv voran; und wenn es umge18  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

kehrt progressiv voranschreitet, um eine Entwicklung wieder an ihren Ausgangspunkt zurückzuführen und eine fehlerhafte Entwicklung zu korrigieren, so liegt darin ein klar regressives Moment. Während die Möglichkeit einer Richtungsänderung bei Regress und Progress nicht vorgesehen ist, sind bei Zirkeln sowohl solche Varianten denkbar, die einen Richtungswechsel zulassen, als auch solche, bei denen dies nicht der Fall ist. In der Regel aber ist im Zirkel die Richtung ohne wertende Konnotation versehen, weil hier keine strebende Gerichtetheit angelegt ist und man mit Orten rechnen muss, an denen man ohnehin schon einmal gewesen ist, egal ob man so oder so herum dorthin kommt. Eine Irrelevanz der Frage nach der Richtung ist insbesondere für diejenigen Zirkel zu verzeichnen, die aus nur zwei Elementen gebildet sind. Man kann sie als polare Zirkel bezeichnen. Sie benennen eine Reziprozitätsbeziehung, und daher ist es in ihnen einerlei, ob man auf diesem oder jenem Weg zum anderen Pol kommt – es sei denn, man charakterisiert die zwei möglichen Wege in unterschiedlicher Weise. Bei Zirkeln hingegen, die aus mehreren Elementen bestehen, ist die Bewegungsrichtung meist vorgegeben. Dieser Fall thematisiert in der Regel Kreisläufe, bei denen die Elemente in bestimmter Reihenfolge aneinander gekettet sind. Aufschlussreich ist ferner ein Blick auf die Dimensionalität der Figuren. Regresse, Progresse und Zirkel sind zweidimensionale ­Figuren, bei denen die Bewegung stets auf einer Ebene bleibt. In gewisser Weise können sie aber doch in die Dreidimensionalität hi­n­ einragen: dann, wenn man sie daraufhin betrachtet, ob die zwei­ dimensionale Bewegung auf einer horizontalen oder (auch) auf einer vertikal gelagerten Ebene gedacht wird. So kann der Progress unter Umständen in ein senkrechtes Aufwärts oder der Regress in einen lotrechten Abstieg hinüberschillern. Das Gesagte betrifft im Übrigen auch den Zirkel, der nicht zwingend in der Horizontalen angesiedelt ist, wie das Beispiel der antik-mittelalterlichen Vorstellung einer rota fortunae zeigt, wie sie in den Carmina burana formuliert wird: Fortuna rota volvitur: Descendo minoratus; Alter in altum tollitur; nimis exaltatus Rex sedet in vertice – caveat ruinam! Nam sub axe legimus Hecubam reginam. Regress und Zirkel  |  19

Man sieht, wie stark hier mit der vertikalen Ausrichtung auch in den Kreis eine wertende Dynamik hineinkommen kann – und zugleich wird das evaluative Moment relativiert, weil ja alle Menschen von ein und derselben fortuna rota im Kreis herumgetragen werden und so gesehen gemeinsam auf einer gewissermaßen horizontalen Schicksalsebene liegen, auch wenn sie unter gesellschaftlichen Bedingungen unterschiedliche vertikale Positionen besetzen. Demgegenüber ist die Spirale schon von sich aus die am stärksten dreidimensionale Figur. In ihr vereinen sich mehrere Bewegungsrichtungen: Die Aspekte vorwärts und aufwärts sowie rückwärts und abwärts können miteinander zu verschieden konnotierten Auf- und Abwärtsspiralen kombiniert werden – und dies noch verbunden mit einer spezifischen Gewichtung von Varianz und Invarianz. Diese Anlage erlaubt der bei näherem Hinsehen doch recht komplexe Gedanke einer Eskalationsspirale, die einen in der Intensität aufsteigenden, aber in der Regel negativ bewerteten Progress bezeichnet, der sich in wiederkehrenden Mustern vollzieht.

2.6  Medien, Operatoren und Zeitlichkeit

Pro- und Regress sowie Zirkel und Spirale wurden oben als Bewegungen bestimmt. Wo sich nichts bewegt, da können sie also nicht vorkommen. Doch wer oder was bewegt sich eigentlich in welchem Raum? Letztlich ist das Auftreten dieser Figuren nicht an bestimmte Medien gebunden. Es kann im Denken auftreten, wenn etwa Kant sich über das Problem des Regresses ad infinitum den Kopf zerbricht; ebenso im Sprechen, wenn ein Student sich mündlich oder schriftlich daran versucht, Gadamers hermeneutischen Zirkel in der Interpretation eines Gedichts anzuwenden und zwischen den verschiedenen Aspekten hin und her wechselt; gleichfalls aber auch im Handeln, wenn eine Musikerin klaviertastendrückend durch den Quintenzirkel moduliert. Doch auch wenn das Auftreten der genannten Figuren an kein bestimmtes Medium gebunden ist, so kann man doch eine Bedingung nennen, die im entsprechenden Medium verwirklicht sein muss, damit die Figuren in ihm potentiell auftreten können: Das 20  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

Medium muss irgendeine Potenz zur Idealität besitzen, denn ohne eine solche könnten sich die entsprechenden Figuren nicht in ihrer jeweiligen Anordnung mit infinitem Aspekt formieren. Anders gesagt: Der Raum muss dazu in der Lage sein, eine Struktur aufzunehmen, die sich ins Infinite hinein vervielfältigen lässt. Das soll – wie der unten folgende beispielhafte Hinweis auf den Quintenzirkel belegt – freilich nicht bedeuten, dass diese Potenz die betreffende Figur gänzlich von realen Räumen abkoppelte, sondern bloß, dass sie nicht notwendig im realen Raum aufgeht. Im Fall des Quintenzirkels zeigt sich die entworfene Ordnung ja als spiel- und hörbare im realen Klangraum, aber eben doch nur ausschnittweise, soweit Instrumente und Hörbarkeit reichen. Der Quintenzirkel ist im Raum der Akustik, genauer gesagt: in dem der unendlichen Mannigfaltigkeit möglicher Frequenzen, angesiedelt. Um in dieser Mannigfaltigkeit einen Zirkel zeichnen zu können, müssen erst einmal Töne bzw. Tonarten definiert und in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt werden. Dieser Auswahl- und Anordnungsakt orientiert sich zwar an physikalischen Phänomenen (dem Sonanzgrad), ist darin aber dennoch vollkommen kontingent, d. h. man könnte auch eine andere Ordnung entwickeln, und diese müsste sich weder an den Sonanzgraden orientieren, noch müsste sie sich zwingend auf Linie bringen oder zum Kreis biegen lassen. Zu dieser Kontingenz gehört im Übrigen auch, dass sich die Tonarten nur unter temperierten Bedingungen zum Kreis schließen, während die Folge der Tonarten unter nichttemperierten Bedingungen in zwei einander verfehlenden Spiralarmen, einem für die Kreuz- und einem für die B-Tonarten, auseinanderstreben. Das Ideale des Quintenzirkels oder der Quintenspirale liegt darin, dass aus dem Mannigfaltigen möglicher realer Klänge eine Auswahl und Anordnung getroffen ist, welche eine in idealen Räumen unendliche Reihung der Elemente erlaubt, auch wenn diese Tonarten dann so hoch oder tief klingen würden, dass sie für das mensch­liche Ohr irgendwann nicht mehr vernehmbar wären. Offensichtlich liegt das Infinitätspotential also insbesondere an der Möglichkeit, in einem Medium sich unendlich aneinander reihende Elemente zu erzeugen. Dies führt zum nächsten Aspekt: Indem es nach obiger Darstellung in allen genannten Figuren um eine konkrete Bewegung geht, Regress und Zirkel  |  21

welche zum Fortschreiten eine ideale Folge gereihter Elemente in Anspruch nimmt, so braucht es einen Operator, der die entsprechende Bewegung, also die Schritte von Element zu Element vollzieht. Dabei ist gleichgültig, ob es sich um eine belebte oder unbelebte Größe handelt, steht doch der Operator funktional betrachtet im Wesentlichen für eine invariable Instanz: diejenige, die denkt, interpretiert, moduliert oder schlicht rechnet und in ihrem Fortschreiten die gereihten Elemente miteinander verbindet. Nun wird man zumindest zwei Typen von Operatoren unterscheiden müssen: konkrete und ideale. Moduliert eine Musikerin durch den Quintenzirkel, so ist sie ohne Frage eine konkrete Operatorin. Indem sie operiert, manifestiert sich die ideale Figur des Quintenzirkels in einer konkreten Gestalt – gewissermaßen als ein Schatten oder Ausschnitt der idealen Größe. Daneben begegnen uns bei Progressen und Regressen sowie Zirkeln und Spiralen auch ideale Operatoren: etwa in derjenigen Reflexion Kants, die sich mit dem Problem des infiniten Regresses befasst. Hier wird philosophisch nur über den idealen Aspekt nachgedacht und folglich ist auch der hier gedachte Operator ein idealer. Gleichwohl muss dieser ideale Operator als im Prinzip konkretisierbarer gedacht werden: ein denkendes Subjekt, das tatsächlich die Kausalkette bis an einen Anfang zurückzuverfolgen sucht. Mit dem Operator kommt ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: die Zeitlichkeit. Die genannten Figuren werden mit ihm der Zeitlichkeit unterworfen, indem aus ideal-abstrakten Beziehungen zeitliche konkrete Schritte von einem Element zum anderen werden. Hier zeigt sich, dass alle Figuren als Bewegungen in gewisser Weise als Amalgame aus Struktur und Zeit gelten können und dass der Operator eben jene Instanz ist, welche dieses Amalgam erzeugt.

22  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

3. Zum Umgang mit regressiver und zirkulärer ­Unabschließbarkeit 3.1  Regress und Zirkel – eine Unvermeidlichkeit?

Die erste Reaktion auf Regress und Zirkel ist die Einwilligung in ihre Unvermeidlichkeit, und zwar im Modus des Bedauerns. Es wird demnach hingenommen, dass es eine Welt ohne regressive oder/und zirkuläre Vorkommnisse nicht geben wird, sodass sie notwendigerweise eine Offenheit und Unabgeschlossenheit in sich trägt. Unvermeidlichkeit im Sinne des Bedauerns meint hier also nicht nur, dass es Regress und Zirkel als Phänomene der Welt nun einmal gibt, sondern auch, dass man sie als Problem wahrnimmt und zugleich meint, für dieses Problem keine (Auf)Lösung parat zu haben. Wie bereits skizziert, sind die Strukturen von Regress und Zirkel divergent. Während der Regress eine Linearität aufweist, die aus Gliedern besteht, welche ihrerseits in bestimmter Weise miteinander verknüpft sind, ist der Zirkel eine Figur der Reziprozität, die eine pendelnde Bewegung zwischen mindestens zwei Brennpunkten und Polen bezeichnet. Auch hatten wir gesehen, dass der Regress über sehr unterschiedliche Glieder verfügen kann, je nach dem um welche Art der Verknüpfung es sich handelt. Zu den wichtigsten Beispielen zählen: – Regress von Ketten zwischen Ursachen und Effekten (kausal); – Regress von Begründungen zwischen Grund und Folge (explana­ torisch);10 – Regress des Verstehens zwischen Frage und Erklärung (hermeneutisch); – Regress terminologischer Festlegungen (definitorisch). Von einer Unvermeidlichkeit im genannten Sinn des Bedauerns und ohne Aussicht auf (Auf- oder gar Er-)Lösung zu sprechen, kann nun entsprechend Unterschiedliches meinen: die Unabschließbar10 Zum

terminologischen und sachlichen Unterschied zwischen Ursache und Effekt bzw. Grund und Folge siehe Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft [A: 1793 / B: 1794], in: Wilhelm Weischedel (Hrsg.) Kant Werke, Bd. IV, Darmstadt 72011, 645–879, 650, B VI. Regress und Zirkel  |  23

keit von Kausalketten ohne greifbaren Beginn oder ein feststell­bares Ende; die Möglichkeit, immer weitere Begründungen für bereits Begründetes zu fordern; das Verlangen nach immer weitergefassten Zusammenhängen der Sinnstiftung und Kontextualisierung; der Versuch, begriffliche Klärungen durch Hinzuziehung weiterer klärungsbedürftiger Terme herbeizuführen. Das Spiel oder der Ernst des Weiterfragens und Zurückführens wäre in diesen Fällen demnach nicht nur möglich oder gar geboten, sondern nicht zu arretieren, um die Einwilligung in den Regress in eine Verlegenheit übergehen zu lassen. Auch beim Zirkel können mit Blick auf seine Unvermeidlichkeit unterschiedliche Versionen in Abhängigkeit der zirkulär miteinander verbundenen Brennpunkte auftreten. Dazu zählen zum Beispiel: – der Zirkel zwischen unterschiedlichen Textgliedern wie Satz und Passage oder Text und Kontext (hermeneutisch);11 – der Zirkel zwischen persönlicher Gegenwart und identitätsstiftendem Entwurf (existentiell);12 – der Zirkel zwischen verschiedenen Funktionsgliedern, die sich gegenseitig verstärken und zum Ausgangspunkt zurückführen (strukturell);13 – der Zirkel innerhalb von terminologischen, definitorischen oder argumentativen Rückführungen, die das zu Zeigende bereits enthalten (logisch).

11 Dazu

klassisch Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001, § 32: Verstehen und Auslegen; ferner Andreas Graeser, Das hermeneutische ›als‹. Heidegger über Verstehen und Auslegung, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47:4 (1993), 559–572. 12 Hier handelt es sich um eine Erweiterung des hermeneutischen Zirkels; dazu etwa Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 61990, bes. 271 und 299. 13 Ein Beispiel dafür findet sich bei Hartmut Rosa und dem, was er den »Beschleunigungszirkel« (zwischen technischer Beschleunigung, Beschleunigung des sozialen Wandelns und der Beschleunigung des Lebenstempos) nennt; es handele sich um ein sich selbst amplifizierendes System (d. h. das steigende Lebenstempo sorgt seinerseits wiederum für weitere technische Akzeleration); siehe Harmut Rosa, Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theo­rie spätmoderner Zeitlichkeit. Aus dem Englischen von Robin Celikates, Berlin 2013, bes. 41–45. 24  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

Von einer Unvermeidlichkeit des Zirkels als Figur der Unabschließbarkeit zu sprechen, ist hier offenbar weniger selbstverständlich. Zwar mag es sein, dass sich der hermeneutische Zirkel und dessen existentialphilosophische Erweiterung insofern als unvermeidlich herausstellen, als sie einer nicht arretierbaren Logik von Teil und Ganzem folgen; die strukturelle und logische Variante hingegen sind sehr wohl Beispiele bestimmter Zirkularität, unvermeidlich aber erscheinen sie keinesfalls. Im einen Fall ist der Ruf nach Entschleunigung und Unterbrechung einer gefährlichen Dynamik durchaus sinnvoll; im anderen Fall bleibt der Einwand einer logischen Zirkularität, die x zu beweisen vorgibt, obgleich x bereits vorausgesetzt wird, treffend; der Zirkel lässt sich folglich entweder umgehen oder ist Ausweis eines ernsthaften Fehlers im Argument. Handelt es sich bei Regress und Zirkel nun tatsächlich um Unvermeidlichkeiten, verbleiben, wie gesehen, zwei generelle Reaktionen: Hinnahme im Bedauern und Verarbeitung in Eskalation. Bevor wir zum zweiten und offensiveren Weg kommen (siehe 3.4), gilt es, knapp den ersten und etwas zurückhaltenderen zusammenzufassen. Über eine argumentative, definitorische, hermeneutische etc. Nutzung von Regress und Zirkel wird hier noch nicht nachgedacht, weil die Unmöglichkeit ihrer Stillstellung gleichgesetzt wird mit ihrer Unbrauchbarkeit. Nicht eine ›postmeta­phy­sische‹ (etwa dekonstruktivistische oder pragmatische) Geste, die der Unabschließbarkeit, Offenheit oder gar Öffnung etwas intellektuell abzugewinnen versucht,14 regiert hier, sondern die meist bewusst gewollte Exklusion. Sie erklärt Regress und Zirkel jeweils zu einer categoria non grata und das mit ihnen bezeichnete Aktionsfeld zum no go area. Das Unabgeschlossene in der Welt – wohl möglich als säkularisierter Restbestand der nur ›schlechten‹, weil quantitativ gedachten Unendlichkeit – wird folglich hingenommen, um ihm genauso oft aus dem Weg zu gehen.

14

Zu jenem Gestus der ›Öffnung‹ und ›Spaltung‹ bes. Jean-Luc Nancy, Dekonstruktion des Christentums. Aus dem Französischen von Esther von der Osten, Zürich/Berlin 2008, 14 f., 136, 245; ders., Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2. Aus dem Französischen von Esther von der Osten, Zürich/Berlin 2012, 31, 53, 72. Regress und Zirkel  |  25

3.2  Klassische Stillstellungen

Dies verhält sich anders, wenn es um jene Versuche geht, die die unliebsame Unabgeschlossenheit stillzustellen unternehmen. Hier gelten Regress und Zirkel als ein »Schreiten ins Endlose« und somit als ein »leeres und sinnloses Streben«, aber zugleich als ein in bestimmter Weise lösbares Problem.15 Um einige Beispiele für diese Lösungsoption vorzustellen, sollten wir uns auf das konzentrieren, was seit den 1960er Jahren als foundationalism charakterisiert und darin zumeist kritisiert worden ist. Darunter ist ein Bündel fami­ lien­ähnlicher Positionen in Ethik und Erkenntnistheorie zu verstehen, denen gemein ist, Fragen des rechten und gerechten Handelns bzw. wahrer und gerechtfertigter Meinung (also Wissen)16 durch die Konstruktion oder Explikation einer sicheren Grundlage, die ihrerseits nicht mehr zur Disposition steht, zu beantworten. Infiniter Regress und die Bedrohung durch Zirkularität sind gerade die Gegenszenarien, die den klassischen foundationalism in seinem rationalistischen oder empiristischen Zuschnitt angetrieben haben. Darauf haben so divergente, aber insgesamt anti-foundationalist theories wie Internalismus, Relativismus, Kontextualismus, Partikularismus und Holismus nun ihrerseits reagiert.17 Die konkreten Ansätze zur Stillstellung des Regresses (zum Zirkel s. u.) lassen sich wiederum heuristisch in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe klassischer Stillstellung des infiniten Regresses lebt davon, weder begründungsfähig noch begründungsbedürftig zu sein; hier einige Beispiele: (i) undefinierbare Begriffe: George E. Moore führte die Idee ein, dass der Term ›gut‹ undefinierbar sei und nur ostentativ bzw. intuitiv einleuchte; d. h. alle Versuche, ›gut‹ über andere Begriffe wie ›erstre15 Aristoteles,

Nikomachische Ethik I.1, 1094a. klassisch Edmund L. Gettier, Is Justified True Belief Knowledge?, in: Analysis 23:1 (1963), 121–123. 17 Siehe dazu u. a. Richard Fumerton and Ali Hasan, Foundationalist Theo­­ ries of Epistemic Justification, in: Edward N. Zalta (ed.), The Stanford Ency­ clopedia of Philosophy (revised Summer 2010 edition), (http://plato.stanford. edu/archives/sum2010/entries/justep-foundational/; 30. April 2016); auch Jonathan Dancy, Ethical Particularism and Morally Relevant Properties, in: Mind 92:4 (1983), 530–547. 16 Dazu

26  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

benswert‹, ›nützlich‹ usw. zu bestimmen, werden (als natural fallacy) zurückgewiesen; der definitorische Regress wird abgewendet, indem auf ein situatives, aber sicheres Einleuchten verwiesen wird.18 (ii) Selbstevidenz: Dieser Versuch lebt von einer Rückführung auf ein datum, das sich weder bestreiten lässt, noch zu weiteren Fragen Anlass gibt. Das wohl bekannteste Beispiel einer unhintergehbaren Klarheit, die zugleich als Stillstellung drohender regressiver Szenarien (im Sinne der Kausalität und Explanation) genutzt wird, ist Des­cartes’ cogito-Argument. Im Rahmen eines umfassenden Zweifels an prinzipiell allem bleibt die Tatsache, im Zweifel zu zweifeln, und dies kann seinerseits kein Gegenstand skeptischer Grundhaltung sein.19 (iii) Epistemische Evidenz: Dieser Ansatz beendet den Regress der Begründungen strukturell analog zum cogito ergo sum des Des­ cartes, wobei nicht ein logischer »conversation stopper« vorliegt, sondern die Unhintergehbarkeit der Erfahrung, deren Wahrheit wir uns nicht entziehen können. Während das cartesianische Manöver in den Kontext des Rationalismus gehört (deduktive Stillstellung), ist der vorliegende Ansatz das Element eines reformulierten Empirismus.20 (iv) Intrinsische Werte: Innerhalb unterschiedlicher Ansätze der Moralphilosophie kommt immer wieder die Vorstellung intrinsischer Werte auf, die als Fundament der Frage nach dem moralisch Gebotenen fungieren sollen. Was dabei unter ›intrinsisch‹ konkret zu verstehen ist, bleibt allerdings umstritten. Gemeint sein kann, dass ein Wert x unabhängig von unseren Einstellungen zu x wertvoll ist; dass der Wert x auf keinen relationalen Eigenschaften beruht; oder dass der Wert x nie (bloß) Mittel, sondern stets Endzweck sei.21 18 Vgl.

George E. Moore, Principia Ethica. Revised edition with preface to the second edition and other papers, ed. by Timothy Baldwin, Cambridge 1993, bes. § 12; ein ähnliches Vorgehen findet sich in Bezug auf den Begriff der Tugend bei Michael Slote, Morals from Motives, Oxford/New York 2001, 18 f. 19 René Descartes, Discours de la methode, in: Philosophische Schriften in einem Band (französisch-deutschsprachige Edition), Hamburg 1996, 55. 20 Dazu Roderick Chisholm, Perceiving. A Philosophical Study, Ithaca 1957. 21 Siehe dazu vor allem Christoph Halbig, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Berlin 2013, 43–57. Regress und Zirkel  |  27

Die zweite Gruppe klassischer Stillstellungen des infiniten Regresses lebt hingegen davon, zwar auf begründungsbedürftige, aber nur partiell begründungsfähige Fundamente zu verweisen; auch hier einige Beispiele: (v) ›eigentliche Basalität‹: Die Grundidee der Basalität besteht darin, zwei Arten von Propositionen zu unterscheiden, und zwar solche, die nicht-basal sind, und solche, die properly basic genannt werden. Während erste ableitbar sind und zuletzt auf die basalen Propositio­ nen reduziert werden können, gelten die anderen als unableitbar und nicht weiter rückführbar. Die Frage stellt sich sogleich, welche Eigenschaften die eigentliche und berechtigte Basalität stiften; gewöhnlicherweise wird dabei auf die Unkorrigierbarkeit und Evidenz verwiesen. Besonders in der Religionsphilosophie hat diese Unterscheidung eine Rolle gespielt, um die Proposition ›Gott existiert‹ als properly basic, also unkorrigierbar und evident zu erweisen.22 (vi) Axiomatik: Eine ähnliche Differenz spielt in den meta­phy­ sischen Systemen der frühen Neuzeit eine Rolle, wie etwa der an einer geometrischen Axiomatik orientierten Ethik Spinozas von 1677 (posthum). Dabei handelt es sich um einen quasi deduktiv strukturierten Text, der aus »Grundbegriffen«, »Axiomen«, »Theoremen«, »Demonstrationen« und »Korollarien« besteht und somit einerseits terminologische Festlegungen, axiomatische Grundprinzipien23 und Folgerungen (als conclusio oder als Zwischenprämisse) enthält. Die Teilung zwischen basalen, also axiomatischen Elementen und abgeleiteten, also nicht-axiomatischen Bestandteilen wiederholt sich hier noch einmal auf der Ebene nicht nur von Propositionen, sondern eines umfassenden Systems. (vii) Naturrecht und Anthropologie: Ein etwas anders gelagertes Beispiel stammt wiederum aus der Moralphilosophie. Im Verweis auf 22 Vgl.

Alvin Plantinga, Ist der Glaube an Gott berechtigterweise basal?, in: Christoph Jäger (Hrsg.), Analytische Religionsphilosophie, Paderborn u. a. 1998, 317–330. 23 Zu solchen Prinzipien könnte auch Leibnizens Prinzip des zureichenden Grundes zählen, das sich allerdings deduktiv kaum begründen lässt, sondern sich im Verweis auf seine feste Verankerung in unserer (alltäglichen) Rationalität gleichsam pragmatisch rechtfertigt; dazu Friedrich Hermanni, Meta­phy­ sik. Versuche über letzte Fragen, Tübingen 2011, 36 f. 28  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

anthropologische Konstanten, die entweder ihrerseits für evident gehalten werden oder sich normativen Setzungen verdanken oder empirisch nachgewiesen werden sollen, wird ein nichtkonstruiertes, sondern natürlich vorfindliches Fundament in der Existenz des Menschen behauptet, von dem aus sich Fragen der Ethik, des Sozial-Politischen wie auch der Ökonomie beantworten lassen. Das Recht etwa erscheint dann nicht als eine positive Setzung, sondern als Ausdruck einer natürlich gegebenen Notwendigkeit, die ihre Legitimität aus jenen ›natürlichen‹ Artefakten einer ›ersten Natur‹ bezieht.24 Die dritte Gruppe einer ›Finitisierung‹ des Regresses zeichnet sich dadurch aus, dass ein begründungsbedürftiges Fundament anvisiert wird, das sich performativ zugleich als begründungsfähig erweisen soll. ›Performativ‹ heißt hier, dass sich die besagte Begründungs­ fähigkeit aus dem Vollzug der Theo­rie (im Sinn ihrer Selbstbestätigung bzw. rekursiven Absicherung) selbst ergeben wird.25 Entsprechende Beispiele finden sich insbesondere in den traditionellen Ansätzen der Moralbegründung: (viii) Deontologie: Mit Max Weber lassen sich deontologische, also auf das Sollen bzw. die Pflicht ausgerichtete Ethiken auch als Gewissensethiken (im Kontrast zu Verantwortungsethiken) verstehen. Das heißt im Vollzug des moralisch relevanten Handelns bzw. in Szenen, in denen unselbstverständlich und fraglich wird, was zu tun sei, wird auf einen gleichsam ›inneren‹ Widerspruch abgehoben, der entweder zwischen der Autonomie und dem unmoralischen 24 Zum

Begriff der ersten und zweiten Natur siehe John McDowell, Zwei Arten des Naturalismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45:5 (1997), 687–710, bes. 699 und 707; ferner Alexander Bird, Die dispositionale Auffassung von Gesetzen, in: Barbara Vetter und Stephan Schmid (Hrsg.), Dispositionen. Texte aus der zeitgenössischen Debatte, Berlin 2014, 256–275. 25 Dieses Phänomen wird zuweilen »starke Integrität« von Theo­r ien genannt; so etwa bei Ronald Dworkin, Religion ohne Gott. Aus dem Amerikanischen von Eva Engels, Berlin 2014, 80; dort heißt es erläuternd: »Die Theo­rie, die wir vor Augen haben, muss ihre starke Integrität irgendwie absichern – indem sie selbst Gründe liefert, die zeigen, dass die Idee einer weiteren Erklärung gar nicht erst aufkommen kann, weil sie keinen Sinn ergibt.« (ebd.; Herv. im Orig.); sie müsse folglich selbst einen »Schutzschirm« enthalten oder stiften, der einen Regress stoppe oder gar nicht erst aufkommen lasse (ebd., 86). Regress und Zirkel  |  29

Tun oder zwischen dem (schlechten) Gewissen und der tatsächlich vollzogenen Handlung besteht.26 Die Auflösung des Widerspruchs und die Vermeidung eines schlechten Gewissens verweisen auf einen intrinsischen Wert der Pflichterfüllung, die nicht inhaltlich, sondern – wie klassisch bei Kant – gänzlich formal ausfällt. Die Frage nach der gerechtfertigten Handlung wird daher mit dem Verweis auf ein Fundament sich performativ einstellender Unbedingtheit beantwortet, jedenfalls sofern man sich widerspruchsfrei und als selbstgesetzgebende Person versteht. (ix) Konsequentialismus: Im Gegensatz zu deontologischen Ansätzen wird im Konsequentialismus die Folge einer Handlung als Kriterium für die moralische Bewertung eben dieser Handlung veranschlagt. Umstritten ist dabei, was konkret als ›Folge‹ gewertet werden darf und wie weit oder restrikt die Effekte einer Handlung im Blick auf ihre Bewertung ausgelegt werden dürften. Doch auch hier geht es im Kern darum, dass erst im Vollzug der Handlung und der Erfahrung der Handlungsfolgen deren Wert beurteilt werden kann. Und auch hier wird folglich nicht von Selbstevidenzen, Artefakten oder Axiomen ausgegangen, sondern es wird, so die Hoffnung, performativ deutlich, dass die Handlungsbewertung an Handlungsfolgen geknüpft ist oder die Evaluation gar ausschließlich auf die Folgen von Handlungen (samt Unterlassungen) zurückführt.27 (x) Verfahrensethiken: Noch deutlicher wird die sich performativ einstellende Begründungsfähigkeit als Stillstellung eines drohenden Regresses in prozeduralen Ethiken. Sie besagen nicht direkt, was moralisch geboten ist (oder nicht), sondern geben ein Verfahren an, wie solche Urteile gerechtfertigt werden können. Prominentestes Beispiel ist die Diskursethik, die den ›Diskurs‹ als Konglomerat im- oder expliziter Regeln eines herrschaftsfreien Austausches von Gründen ansieht.28 Der drohende Regress moralischer Rechtfertigung wird dadurch terminiert, dass im Vollzug des Diskurses 26 Dazu

William K. Frankena, Ethics, Englewood Cliffs, NJ 21973, 15. 27 Bes. zum Problem der konkreten Abgrenzung der Folgen von Handlungen siehe Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York 22007, Kap. 5, bes. 174–186. 28 Vgl. Albrecht Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, 195–201. 30  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

schon immer in Anspruch genommene normative Regeln geltend gemacht werden können, die zwar ohne den Diskurs nicht einfach vorliegen würden, aber dennoch mit dem Diskurs objektiv gestiftet sind.29 Die klassischen Varianten der Stillstellung zu ordnen, indem man sie entlang der Differenz von Begründungsbedürftigkeit und Begründungsfähigkeit einteilt, ist nicht alternativlos. Es handelt sich um kaum mehr als ein zumindest heuristisch wirksames Mittel, sich in einem unüberschaubaren Feld zu orientieren. Mit Blick auf unser Thema ist dabei zu unterscheiden zwischen einer Figur der Selbstevidenz, der Rekursion und der performativen Fundierung. Im ersten Fall wird auf ein Datum verwiesen, dem zu widersprechen selbstwidersprüchlich oder schlicht unsinnig erscheint (i–iv); im zweiten Fall wird davon ausgegangen, dass Überzeugungen und Propositionen zuletzt auf basale Überzeugungen und Propositionen zurückgeführt werden können (v–vii); im dritten Fall geht es darum, dass die Funktionalität eines Verfahrens seine eigene Grundierung stiftet und im Vollzug dokumentiert (viii–x). Alle drei Gruppen unterhalten verzweigte Verbindungen und können teilweise ineinander übergehen. Ihnen gemeinsam ist allerdings – und darauf kam es hier an – der Gestus des Fundierens, der traditionell der Meta­phy­sik zugeordnet wird und im Scheitern einer Arretierung des infiniten Regresses eine denkerische Bedrohung erkennen wird. Nun war bislang lediglich von der Stillstellung des Regresses die Rede, nicht aber vom Zirkel. Doch dies ist nur scheinbar der Fall gewesen; denn der Zirkel kann mit Blick auf seine Arretierung wie eine regressive Dynamik betrachtet werden, sofern die Pendelbewegung zwischen den beiden Brennpunkten entfaltet und aus der Reziprozität eine lineare Bewegung wird. Dies gilt unabhängig davon, ob man in der Zirkularität eine Figur der Vertiefung sieht (Zirkel als Spirale) oder ein Fortschreiten ohne hermeneutischen Gewinn (Zirkel als Kreis) erkennt. Wie für den Regress gilt daher auch für den Zirkel, dass die skizzierten Versionen ihrer Stillstellung einen Protest gegen die dro29 Dazu

Dietrich Böhler, Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg i. Br./München 2013. Regress und Zirkel  |  31

hende Unabschließbarkeit darstellen. Die kritischen Interventionen des foundationalism im Sinne des Beendens und Abschließens, des Terminierens und Grundierens ließen sich auch als Akte eines interpretatorischen Macht- oder gar Gewaltmonopols interpretieren. Die Stillstellung von Regress und Zirkel stünde dann für den intellektuellen Unwillen daran, selbst eine ›schlechte‹, weil rein quantitative Unendlichkeit zuzulassen. Auch hier also deutet sich der – etwa von der klassischen Dekonstruktion erhobene – Vorwurf an, die Meta­phy­sik repräsentiere ein repressives System der denkerischen Einschüchterung oder gar des ideenpolitischen Imperialismus.30

3.3  Auflösungsstrategien à la Wittgenstein

Hat man eine Lösung für den infiniten Regress, stoppt man ihn; will man ihn hingegen auflösen, lässt man ihn gleichsam ›versanden‹. Entweder hält man folglich an der Vorstellung fest, der Regress lasse sich tatsächlich zurückverfolgen, um dann zu einem ultimativen Anfang zu gelangen; oder aber man erkennt in der Zurückverfolgung bereits Anzeichen dafür, dass mit jedem Schritt das Weiterfragen künstlich wird und sich mit jeder weiteren Stufe sukzessive erübrigt. Während es sich im ersten Fall um einen kategorischen Schnitt oder Abbruch handelt, lebt der zweite Fall von einer Assimi­ lation von Gründen, die gegen die Suche nach weiteren, immer ›tiefer‹ liegenden Gründen sprechen. Wir haben es demnach mit einem Ende des Regresses im Sinne seiner Beendigung zu tun oder aber mit einem Ende als schleichender Verendung. Schauen wir uns nun dieses zweite Szenario etwas genauer an, das nicht in allen seinen möglichen Varianten vorgestellt werden soll, sondern nur exemplarisch, und zwar anhand von Ludwig Wittgensteins später Lebenswelthermeneutik.31 Auch in ihr kommt das 30 Dazu

siehe Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann, Wien 21999, 325–351, bes. 350 f.; ferner Stanley Hauerwas, Introduction, in: ders., Christian Existence Today. Essays on Church, World, and Living in Between, Grand Rapids, MI 1988, 1–21, 9. 31 Zu diesem Thema siehe auch Rico Gutschmidt, Unbegründeter Glaube und grundloses Sein. Der Regress bei Wittgenstein und Heidegger, in diesem 32  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

Denken in regressiven Ketten vor, aber insbesondere als Regress immer weiterer Fragen nach Gründen und immer umfassenderen Anläufen für Erklärungen. Nicht kausale oder definitorische Regresse spielen hier die primäre Rolle, sondern das, was eingangs explanatorischer bzw. hermeneutischer Regress zwischen Grund und Folge oder Frage und Erklärung genannt wurde. Auch Wittgenstein stellt sich also dem Problem der »Kette der Gründe« und deren Ende bzw. gerade der Schwierigkeit, ›irgendwo‹ Halt zu machen.32 Dieser Halt entspricht weniger einem bestimmten Punkt, als vielmehr einer vorsprachlichen Verhaltensweise, auf der unsere Sprachspiele und Lebensformen beruhen. Sie sei nicht, so Wittgenstein, das Ergebnis einer denkerischen Operation, sondern in einem nicht-pejorativen Sinne ›primitiv‹.33 Wittgenstein kehrt immer wieder zum Problem von Gründen bzw. der Praxis des Forderns und Gebens von Begründungen zurück  – und somit zur Frage, wodurch die tatsächlich gegebenen Gründe zu überzeugen vermögen und damit die Möglichkeit des Weiterfragens untergraben. Zuweilen lässt Wittgenstein eine gewisse Ungehaltenheit gegenüber dem fast kindlichen, nicht enden wollenden ›Warum?‹ erkennen, indem er es mit der touristischen Dumpfheit vergleicht, die mit dem ›Baedeker‹ unterm Arm zu immer neuen Warum-Fragen ansetze.34 Doch jenseits des Humors hat Wittgenstein Gründe gegen das Verlangen nach immer weiteren Gründen. Dabei zeichnen sich wiederum drei zusammenhängende, wenn auch unterscheidbare Wege ab, diese Reserve zu dokumentieren. Band. – Eine andere, hier nicht genauer verfolgte Form, mit dem Regress im Sinn seiner Auflösung umzugehen, ist die pragmatische. Sie lässt den Regress nicht ›versanden‹ oder ›verenden‹, sondern legt den Fokus auf die Effekte; sie schaut folglich nicht nach ›hinter‹, sondern wechselt die Richtung der Betrachtung, sodass sich eine Erklärung nicht durch vorausliegende Gründe rechtfertigt, sondern durch das, was mit ihr erklärt werden kann; auch bei Wittgenstein finden sich Anklänge dieser Sichtweise etwa in: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen – Teil I, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 91993, 224–485, bes. §§ 320 und 324 (abgekürzt PU). 32 Ders., Zettel, in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 61994, 259–443, § 301; vgl. ebd., 314 f. 33 Vgl. ebd., § 541. 34 So ders., Vermischte Bemerkungen, in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 61994, 445-573, 506 (abgekürzt VB). Regress und Zirkel  |  33

(i) Sinnlosigkeit des Weiterfragens: Nach Wittgenstein führen Fragen notwendig Kontexte mit sich, außerhalb derer sich eben diese Fragen gar nicht stellen und sinnlos bleiben. Diese Kontexte nennt er zuweilen ›Sprachspiele‹, sodass jenseits dieser regelgeleiteten Areale weitere Fragen ins Leere laufen, kontextlos bleiben oder gar gegen jene impliziten oder ausgesprochenen Regeln verstoßen.35 Sprachspiele sind nun ihrerseits in Lebensweisen oder Praktiken eingebettet, sodass sich die Hoffnung, durch Antworten auf die gestellten Fragen gesicherteres Wissen zu erlangen, auflösen wird; oder umgekehrt: Wenn die tatsächlich gegebenen Gründe nicht ausreichen, müsste man sich fragen, warum man erwartet, weitere Gründe könnten stärker sein als jene zunächst gegebenen. Dieses (Sprach)Spiel wird eben gespielt – weitere Fragen erübrigen sich, so Wittgenstein.36 Warum bleibt man bei einer roten Ampel stehen? Logisch gesehen, kann diese Frage sinnvoll vorgebracht werden; praktisch jedoch lässt sie keine befriedigende Antwort zu, die über den Verweis auf eine lebensweltliche Konvention hinausginge. (ii) Ende der Begründungen: Die Kette der Gründe hat also ein Ende. Das heißt Begründungen können sehr wohl gegeben oder gefordert werden, doch eine auf Dauer geschaltete explanatorische Kette wird sich nicht einstellen, selbst wenn sie sich als abstrakte, also von einer bestimmten Lebensform abstrahierende Möglichkeit ergeben sollte. Das besagte Ende der Kette ist keine deduktiv gesicherte und folglich logische Beendigung der Kette, sodass ein Fortsetzen in einen Widerspruch mündete. Vielmehr geht es, so Wittgenstein, darum, dass wir auf einen Grund stoßen, den wir innerhalb unserer Lebensform anerkannt haben, weil wir ihn durch unsere Partizipation an ihr schon längst angeeignet haben.37 Dort aber, wo die gesuchten Gründe nicht mehr sicherer sind als ihre Vorgänger bzw. das ursprünglich Behauptete, haben wir einen Boden erreicht, der nicht mehr zurückweicht.38 Oder wie Wittgenstein sagt: Wir gelangen an einen Felsen, auf dem sich der Spaten zurückbiegt.39 Für diesen fel35 Vgl.

PU §§ 47 und 96. ebd., §§ 193, 481, 654 f. 37 Dazu ders., Über Gewißheit, in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 6 1994, 113–257, § 378 (abgekürzt ÜG). 38 Vgl. ebd., §§ 204 und 243. 39 So PU § 217; ferner §§ 326 und 485 f. 36 Vgl.

34  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

sigen Boden als gemeinsam geteilte Handlungs- und Lebensweise gibt es keine informativen Gründe mehr. (iii) Unmöglichkeit weiterer Gründe: Eine logische Letztbegründung kann es demnach nicht geben.40 Aber das Verlangen nach ihr verdankt sich, so legt Wittgenstein nahe, vor allem einem tiefsitzenden Missverständnis, welches übersieht, dass trotz einer nur logischen Option des Verlangens nach weiteren Gründen hingegen diejenigen Dinge, nach denen dabei gefragt werden mag, vollkommen feststehen und ohne Zweifel angenommen, akzeptiert und vorausgesetzt sind. Ihnen kommt eine Unerschütterlichkeit zu, die nicht nur zu keinen weiteren Fragen Anlass gibt, sondern das Vorbringen dieser logisch möglichen Fragen als ein »first sign of madness« aussehen lasse.41 Es gibt demnach fundamentale Sätze, die (für jemanden) lebensweltlich feststehen, wie etwa mein Name oder der Umstand, dass ich weiß, dass Berlin größer als Zürich ist, oder dass Brot ein meist ungefährliches Nahrungsmittel ist. Hier kommen die Erklärungen an ihr Ende, weil die Sachverhalte, die tatsächlich Fragen aufwerfen, zuletzt auf solchen basalen (properly basic – ?; s.o.) Sätzen beruhen.42 Diese drei Wege sind, wie bereits betont, zwar unterscheidbar, gehen aber ineinander über, indem sie sich steigern und aufeinander aufbauen. (i) dokumentiert die lebensweltliche Leere bestimmter Fragen, und seien diese auch logisch möglich; (ii) verweist auf den praktischen Boden, den man nicht noch einmal befragen kann, so40 Vgl.

VB, 472.

41 So Dewi Z. Phillips, My Neighbour and My Neighbours, in: ders., Inter-

ventions in Ethics, Albany 1992, 229–250, 232; ders., Epistemic Practices: the Retreat from Reality, in: ders, Recovering Religious Concepts. Closing Epistemic Divides, Basingstoke/London 2000, 23–45, 36. 42 Wittgensteins Metapher für jene fundamentalen Sätze oder Überzeugungen ist das Flussbett, das einen feststehenden Grund besitzt (basale Sätze), aber auch ganz lose Sedimente mit sich führt (ungesicherte Vermutungen); siehe bes. ÜG §§ 96–99; ferner ebd., 248, 403, 415, 655; dazu auch Matthias Kroß, Klarheit als Selbstzweck. Wittgenstein über Philosophie, Religion, Ethik und Gewißheit, Berlin 1993, Kap. 6; Avrum Stroll, Why On Certainty Matters, in: Danièle Moyal-Sharrock and William Brenner (eds.), Readings of Wittgenstein’s On Certainty, Houndmills/Basingstoke/New York 2005, 33–46. Regress und Zirkel  |  35

fern man auf noch bessere Gründe hofft; (iii) hebt jenen Bereich hervor, den Wittgenstein ›Gewissheiten‹ nennt, die zwar eine Veränderbarkeit nicht notwendig ausschließen, was ihre ›Unerschütterlichkeit‹ hingegen nicht erodieren muss. Die als (i) bis (iii) markierten Aspekte gehören der Wittgenstein’schen Skepsis am methodischen Skeptizismus an. Es ist vor allem Descartes – und damit das obige Szenario eines (selbst)evidenten Fundaments –, welcher Hauptadressat jener Kritik ist. Man kann, so Wittgenstein, nicht an allem zugleich zweifeln; wenn gezweifelt wird, darf an Bestimmtem gerade nicht gezweifelt werden, damit man an etwas sinnvoll zweifeln kann; der Zweifel setzt demnach schon eine Gewissheit voraus, um in Gang zu kommen; wo gezweifelt wird, sind andere Überzeugungen dem Zweifel entnommen, sodass der Zweifel, aber auch die Versicherungen jenseits des Zweifels an ihr Ende kommen – ›irgendwo‹.43 Analog müssten sich die Dinge verhalten, wenn es um den Zirkel geht; auch der Zirkel kennt kein Ende und lebt davon, dass seine Verfechter die Lebenswelt als den Boden, an dem sich der Spaten biegt, überspringen; das ›Gewöhnliche‹ unserer Praktiken würde dann suspendiert, aber damit zugleich der Raum geöffnet für Fragen, auf die wir bereits die Antworten kennen, oder für Fragen, die selbst falsch gestellt sind. Wir müssten also zur »Bejahung des gewöhnlichen Lebens«44 zurückfinden, um den infiniten Regress und Zirkel als eigentlich artifiziellen zu durchschauen.

3.4  Coda: Vom Nutzen der Unabschließbarkeit

Wir kehren zur ersten Reaktion zurück, nämlich der Ansicht, Regress und Zirkel seien als Figuren der Unabschließbarkeit unvermeidlich. Wie wir sahen, kann dies im Bedauern vorgetragen wer43 Vgl.

ÜG §§ 115, 337, 450, 625. Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern World, Cambridge, MA 1989, Part III: The Affirmation of Ordinary Life, bes. 211–218; ferner Hartmut von Sass, Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens. Über religiösen Glauben und meta­phy­sische Ausflüchte, in: Asmus Trautsch und Simon Springmann (Hrsg.), Was ist Leben? Festgabe für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, 75–80. 44 Charles

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den, um regressive und zirkuläre Szenarien zu umgehen. Hingegen sieht die produktivere Alternative vor, deren Unvermeidlichkeit tatsächlich ernst und wörtlich zu nehmen, um sie zumindest nutzbar zu machen. Auch hier seien erläuternde Beispiele genannt: (i) Eskalation des Regresses: Diese Strategie kommt innerhalb der klassischen Gottesbeweise zum Zuge, insbesondere gilt dies für das kosmologische Argument. Dieses geht von Kausalbeziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen aus, wobei die Ursache ihrerseits lediglich die Wirkung weiterer Ursachen bildet. Es entstehen somit kausal verknüpfte Ketten, wobei Gott als Erstursache den infiniten Regress jener Kette zu stoppen hätte. Nun tun sich zwei Wege auf, dieses Szenario vorzutragen: Entweder geht man, wie etwa Thomas von Aquin, von einem argumentativen Verbot des Regresses aus, um Gott als diejenige Instanz einzuführen, die zu vermeiden hilft, gegen jenes Verbot verstoßen zu müssen. Oder aber man eskaliert den Regress, um aus dem Verbot einer manifesten Bedrohung auf die umso dringlichere Notwendigkeit Gottes als causa sui zu schließen. Strukturell unterscheiden sich beide Wege nicht; es handelt sich lediglich, aber immerhin um Akzentsetzungen und im zweiten Weg um einen gleichsam utilitaristischen Umgang mit dem Verbot des Regresses.45 (ii) Ewige Wiederkehr: Dieses Beispiel haben wir schon gestreift; Nietzsche hat, wie gesehen, auf die Figur der zirkulären bzw. zyklischen Bewegung des Kosmos zurückgegriffen, um ihr produktives Potenzial ethisch zu nutzen. Ihm ging es dabei weniger um eine quasi naturwissenschaftliche These über die Endlichkeit der Elemente und damit der Endlichkeit von deren Anordnungen, die zu einer Wiederholung führen müssten. Vielmehr ging es um die Einstellung des selbstbewussten Individuums, jene Wiederkehr nicht länger zu fürchten, um somit die Langeweile in der Hoffnung auf Besserung hinter sich zu lassen; hingegen mag die Bejahung einer ewigen Wiederkehr umgekehrt dazu führen, nicht in Zukünfte zu flüchten, sondern die Gegenwart so zu gestalten, jene Widerkehr gerade wünschen zu können. Die Möglichkeit dieses Wunsches 45 Dazu vgl. nochmals den entsprechenden Text zu den Gottesbeweisen in

diesem Band.

Regress und Zirkel  |  37

kehrt sich bei Nietzsche in ein existentielles Kriterium dafür, inwiefern das gegenwärtige Leben wirklich wert ist, so vollzogen zu werden. Eine Umsicht für das eigene Leben wird so gestiftet, obgleich in dieser Intensivierung die Potenz der permanenten Überforderung enthalten ist. (iii) Hermeneutischer und existentieller Zirkel: Auch dies hatten wir als Thema gestreift, nämlich den hermeneutischen Zirkel zwischen Satz und Passage sowie Text und Kontext bzw. den (davon abgeleiteten) existentiellen Zirkel zwischen Ich und Entwurf, dem gegenwärtigen Sosein und dem umfassenden Eigenbild. Beide Bewegungen sind Unvermeidlichkeiten, sodass die Möglichkeit auszusteigen, keine ist; im Gegenteil, Verstehen ist nach diesem Modell nichts anderes als jene Pendelbewegungen, die der nicht unproblematischen Logik zwischen Teil und Ganzem folgen; und zu existieren ist synonym mit der Dynamik, sich selbst voraus zu sein und auf sich selbst in der Antizipation des eigenen Ichs zurückzukommen. Verstehen wird in dieser Tradition offenbar am Leitfaden des Existierens gedacht; oder (eher) umgekehrt: Das Verstehen steht Pate für das Verständnis dessen, was es heißt zu existieren.46 Wenn es sich in beiden Fällen um eine Bewegung handelt, ohne die Verstehen und Existieren nicht zu haben sind, muss die Hoffnung, den Zirkel zu arretieren, nicht nur aufgegeben werden, sondern alles käme darauf an, in diesen Zirkel ganz einzusteigen, sich mithin bewusst zu machen, dass und wie man längst Teil von ihm ist.47 Auch hier geht es folglich darum, die Zirkelbewegung einer produktiven Verwendung zuzuführen angesichts der Unmöglichkeit, nicht-zirkulär zu verstehen und zu existieren. Also: Unabschließbarkeit, Problem oder Nutzen? Eines der Ergebnisse der zurückgelegten tour d’horizon mag sein, dass diese Alternative tatsächlich keine ist. Nicht um ein problematisches Ärgernis im Kontrast zu einer willkommenen Nutzbarkeit von Regress und Zirkel muss es sich handeln. Weit eher ist davon auszugehen, dass die hier betrachteten Figuren der Unabschließbarkeit entweder ge46 Vgl.

Hans-Georg Gadamer, Vom Zirkel des Verstehens, in: ders., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Tübingen 1986 (GW 2), 57–65. 47 So Heidegger, Sein und Zeit, 153. 38  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

rade als Problem bereits in unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung finden; oder aber dass sich dort, wo sich Regress und Zirkel ihrer produktiven Anwendung tatsächlich entziehen, das Ausgangsproblem einer Suche nach ersten Fundamenten zwar nicht gelöst, wohl aber aufgelöst hat. Wo folglich Regress und Zirkel ein Problem sind, können sie als solches genutzt werden; wo sie hingegen ein aufgelöstes Problem bilden, kann auf ihre Nutzung auch nicht mehr gehofft werden.

4. Ein kurzer Blick auf den vorliegenden Band Der vorliegende Band nähert sich dem Dual von Regress und Zirkel in drei unterscheidbaren, wohl aber zusammenhängenden Anläufen: einem hermeneutischen, einem argumentationstheo­re­tischen und schließlich einem systemischen: Der erste Teil versammelt Texte, die Regress und Zirkel als Elemente der Lebenspraxis verstehen. Dabei wird an konkreten Exemplaren – epistemisch (Wissen), existentiell (Erinnern und Vergessen), ethisch (Handeln in Ordnungen) – gezeigt, wo und wie regressive und zirkuläre Formen vorkommen und, umgekehrt, auf welche Weise diese Vorkommnisse auf Regress und Zirkel zurückwirken. Dieses Vorgehen enthält demnach seinerseits ein zirkuläres Element. Der etwas längere zweite Teil nimmt Regresse und Zirkel als Argu­ mentationsformen auf und verbindet dabei systematische mit philosophiegeschichtlichen Erwägungen. Aus unterschiedlichen Perspektiven und in sich ergänzenden theo­re­tischen Settings werden Regresse und Zirkel als Problem der Begründungen selbst zum Problem; d. h. es steht gar nicht fest, inwiefern der mit Regressen und Zirkeln offenbar verbundene Mangel an Feststellbarkeit bedauernswert ist oder nur andere Wege der Be-Gründung verdeckt. Im kritischen Gespräch mit Ansätzen des foundationalism, Versuchen der Letztbegründung sowie einer ganz unterschiedlich legitimierten Arretierung scheinbar ›unendlichen‹ Weiterfragens erhält die Architektur von Regressen und Zirkel, aber auch die dazu gegenläufige Frage nach dem Ende der Begründungen weitere Kontur. Der abschließende dritte Teil enthält Beiträge, die dem Regress und Zirkel in idealen Systemen ohne lebensweltliche(n) Rei­bung(s­ Regress und Zirkel  |  39

verlust) nachgehen. Dadurch gewinnt das Problem der Feststellbarkeit beider Figuren neue Facetten. Die Frage steht im Mittelpunkt, ob im Regress und Zirkel bereits die Zutaten ihrer Gründung enthalten sein könnten, inwiefern sie neue Formen annehmen, sobald sie auf sich selbst angewendet werden, und wie der Kontext selbst in idealisierten Systemen jenes linear-regressive Zurückgehen ohne vermeintliches Ende unterbinden könnte. Alle drei Teile unseres Bandes gehen daher auf je ihre Weise der Frage nach, wie Regresse und Zirkel zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, wo sie zum Problem werden bzw. in welchen Zusammenhängen sie gar die Lösung von Begründungsforderungen darstellen könnten und welche Allianzen, aber auch Spannungen sich zwischen der Idealität ihrer Formen und der Konkretheit ihres Vorkommens philosophisch abzeichnen.

40  |  Stefan Berg und Hartmut von Sass 

I. Zur Hermeneutik von Regress und Zirkel

Günter Figal

Zirkelformen des Wissens Für A.M.E.S. – kreisförmig

Die früheste Beschreibung eines Wissenszirkels findet sich in Platons Menon. Es ist die von Sokrates vorgetragene Bestimmung des Suchens und Lernens als Erinnerung, ἀνάμνησις,1 in deren Konsequenz das Wissen als gelungene Erinnerung zu verstehen ist. Die sokratische Bestimmung widerspricht einer Behauptung, die Menon, der Gesprächspartner des Sokrates, vorher geltend gemacht hatte: dass man nicht suchen könne, was man nicht wisse und nicht suchen müsse, was man wisse.2 Wissen ist demnach entweder unmöglich oder immer schon vollendet, aber in keinem Fall zu erwerben. Wenn es anders sein soll, muss es ein Vorwissen geben; die Sache, die man zu erkennen versucht, muss soweit bekannt sein, dass man nach ihr fragen und sie erkunden oder erforschen kann. Geht man der Frage erfolgreich nach, so entwickelt sich das Vorwissen zum Wissen. Die Begründung, die Sokrates im Menon für die Möglichkeit des Vorwissens und damit des Wissens gibt, ist mythisch; sie beruft sich auf die philosophisch durchaus fragwürdige Autorität von Priestern und Priesterinnen und von Dichtern wie Pindar,3 um dann, unter Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele, den Erwerb des Vorwissens in den Hades zu verlegen. Dort habe die Seele alle Dinge gesehen, so dass sie durch nichts, was sie nach ihrer Wiedergeburt erfahre, zu erstaunen sei.4 Das klingt nicht so, als hätte Menon, der ein wenig sophistisch gebildete Militär, es glauben können. Doch die Plausibilität der von Sokrates entwickelten Bestimmung des Lernens hängt nicht an ihrer mythischen Begründung. Diese zeigt vielmehr, dass hier nichts zu begründen ist; die Hadesgeschichte 1 Plato,

Meno 81d. Platons Dialoge werden zitiert nach: Platonis Opera, hg. von John Burnet, Oxford 1900–1907. 2 Ebd. 80e. 3 Ebd. 81a–b. 4 Ebd. 81c.   |  43

der Seele verweist eher auf ein Blanko, als dass sie es füllte: Es gibt Vorwissen, und woher es kommt, vermag niemand zu sagen, da es nicht wie das Wissen erworben werden kann. Das Vorwissen ist, wie sein Name sagt, immer schon da. Man muss sich auf es verlassen, wenn man etwas zu erkennen oder zu verstehen versucht und, mehr oder weniger leicht, die Möglichkeiten dazu findet. Solche Funde, die Entdeckungen also, dass man ein Vorwissen hatte, sind im Allgemeinen nicht zufällig; vielmehr setzt das, was man zu erkennen oder zu verstehen versucht, selbst die Erinnerung in Gang. Die Erinnerung wiederum führt, wenn sie gelingt, dazu, dass man erkennt oder versteht, was man erkennen oder verstehen wollte. So ist das Gegenteil des von Menon so geschätzten sophistischen Streitsatzes wahr: Man kann nur suchen, was man schon kennt; aber das, was man kennt, muss man suchen. Je komplexer etwas ist, desto klarer wird auch die Unabschließbarkeit dieses Vorgangs sein. Vorwissen und Wissen gehen im Kreis, derart, dass das Vorwissen zum Wissen führt und das Wissen ins Vorwissen zurückverweist. Und immer so weiter. Die Vorstellung einer komplexen Sache führt zu einer weiteren Zirkelfigur, die als hermeneutischer Zirkel bekannt ist. Dieser besteht darin, dass etwas, zum Beispiel ein geschriebener Text, als das Ganze, das er ist, nur erkannt werden kann, indem man seine Teile erkennt, und dass umgekehrt ein angemessenes Verständnis der Teile ein Verständnis des Ganzen voraussetzt. So muss es sein, wenn sinnvoll von einem Ganzen und seinen Teilen die Rede sein soll. Teile sind immer die eines Ganzen, während ein Ganzes als das Eine, das es ist, immer aus Teilen besteht. Entsprechend kann die Lektüre, auch die Interpretation eines Textes, als ein Kreisgang zwischen dem Ganzen und seinen Teilen beschrieben werden.5 Folgt man Gadamers Beschreibung des hermeneutischen Zirkels, so wird das Ganze des Textes »entworfen« und dann, im Verstehen der Teile, eingelöst – niemals endgültig, sondern immer wieder neu, so dass jedes Verstehen der Teile einen neuen Entwurf des Ganzen freisetzt. Wer verstehen wolle, so liest man bei Gadamer, werfe »sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald ein erster Sinn« sich zeige, 5 Günter

Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philo­ sophie, Tübingen 2006, 94–97. 44  |  Günter Figal 

und dieser zeige sich wiederum nur, »weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin« lese.6 Was Gadamer, mit einem Begriff Heideggers, »Entwerfen« nennt, muss freilich mehr als eine bloße Erwartung sein; die Erwartung kann sich nur darauf beziehen, wie der im Lesen oder Interpretieren jeweils gegenwärtige Sinn sich zu einem Ganzen vervollständigen mag. Dass der Text ein Ganzes ist, muss demgegenüber außer Zweifel stehen. Wäre die Lektüre und Interpretation eines Textes nicht von der Gewissheit geleitet, dass dieser ein Ganzes ist, bestünde kein Anlass, seine einzelnen Momente im Zusammenhang zu verstehen oder ausdrücklich aufeinander zu beziehen. Umgekehrt ist das Ganze nicht anders erkundbar als im Zusammenhang seiner Teile. Da dieser Zusammenhang bei Texten, die interpretationsbedürftig sind, niemals endgültig feststeht – jeder Teil kann unbegrenzt auf jeden anderen oder eine Menge anderer bezogen werden –, ist die interpretierende Lektüre eines Textes unabschließbar. Sie kann, im Kreisgang zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, immer weitergehen. Das beschriebene Verhältnis von Ganzem und Teilen ist nicht exklusiv hermeneutisch. Es gilt nicht nur für das lesende und interpretierende Verstehen von Sinn, sondern auch für die Wahrnehmung und für das, was in der Wahrnehmung erscheint. Entsprechend könnte man analog zum hermeneutischen Zirkel von einem phänomenalen Zirkel sprechen. Ohne diesen als solchen kenntlich zu machen, hat Husserl ihn in seinen Wahrnehmungsanalysen beschrieben. Sieht man diese genauer an, so versteht man, dass der phänomenale Zirkel ebenso eine Variante des hermeneutischen ist, wie dieser als Variante des phänomenalen Zirkels beschrieben werden kann. Auch im Verstehen erscheint etwas; es erscheint nicht allein sinnlich, sondern in seinem Sinn. Wie Husserl gezeigt hat, ist jede Wahrnehmung eines Dinges unvollständig; jede Wahrnehmung erfasst immer nur eine Seite des ihr entgegenstehenden Dinges, einen begrenzten Aspekt, so dass, mit Husserl gesagt, eine »äußere Wahrnehmung« undenkbar ist, »die ihr Wahrgenommenes in ihrem sinnendinglichen Gehalt 6 Hans-Georg

Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke Bd. 1, Tübingen 51986, 271. Zirkelformen des Wissens  |  45

erschöpfte«.7 Dennoch ist das Wahrgenommene als Ding immer auch ein Ganzes; anders bildeten die verschiedenen Wahrnehmungen keine Sequenz verschiedener Hinsichten auf ein Ding. Dieses eine Ding aber ist, wenn man Husserl folgt, immer nur als »Idee« gegeben.8 Diese Idee konkretisiert sich im »gegenständlichen Sinn« eines Dinges,9 der wiederum von »praktischen Interessen« im Umgang mit den Dingen geleitet wird.10 Das Ganze eines Dinges ist demnach hermeneutisch zugänglich; man versteht, anders gesagt, etwas als ein so und so bestimmtes Ding in seinem Sinn und dies wiederum nach Vorgabe der Interessen, die den Umgang mit den Dingen bestimmen. Aber man kann dieses Verständnis eines Dinges nicht ohne Wahrnehmung einlösen. Es sind die unvollständigen Wahrnehmungen, in denen das verständliche Ding da ist, und insofern muss das in seinem »gegenständlichen Sinn« verstandene Ding als Ding immer auch für die Wahrnehmung gegenwärtig sein. Wie anders sollte es in der Wahrnehmung zu erkunden sein? Das Ding als Ganzes mag sich der aktuellen Wahrnehmung entziehen und immer nur von einer Seite da sein. Doch allein indem man weiß, dass etwas sich auch anders, von anderen Seiten, ansehen lässt, ist dieses Etwas als Ding da, ohne dass es notwendigerweise als ein so und so sinnvolles Ding verstanden wird; es kann sinnlos sein und trotzdem ein Ding. Die sukzessive Dingwahrnehmung und die Gewissheit eines ganzen Dinges, die sich mit dem jeweiligen gegenständlichen Sinn konkretisieren lässt, bedingen sich wechselseitig. Allein im Kreisgang beider ergibt sich ein Ding. Die phänomenale Erfahrung lässt sich beschreiben; indem man das tut, verfährt man phänomenologisch; man bringt zur Sprache, was auch ohne Beschreibung da ist, aber erst in der Beschreibung so, wie es ist, zur Geltung kommt. In der Beschreibung ist es nicht nur da, sondern zeigt sich. Dieses Sichzeigen ist der eigentümliche   7 Edmund

Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungsund Forschungsmanuskripten 1918–1926, Husserliana XI, Den Haag 1966, 3.   8 Ders., Passive Synthesis, Hua XI, 23. (Die Abkürzung Hua wird nicht eingeführt! – Hier müsste vermutlich sowieso ebd., 23 stehen.   9 Ders., Cartesianische Meditationen, Husserliana I, Den Haag 1950, 41–177; 84. 10 Ders., Passive Synthesis, Hua XI, 23 (siehe Anmerkung zu Fußnote 55). 46  |  Günter Figal 

Sinn der Beschreibung. Aber das Sichzeigende ist für die Beschreibung nicht ohne die Beschreibung da. Das phänomenologische Sichzeigen bedarf der Beschreibung, und entsprechend muss diese Beschreibung ein Zeigen sein. Die Phänomenologie ist demnach das Zeigen eines Sichzeigenden. Mit Heidegger gesagt, geht es ihr darum, dasjenige, »was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen« zu lassen.11 Auch das ist offensichtlich ein Zirkel. Nur im Zeigen zeigt etwas sich »von ihm selbst her«; umgekehrt ist das Zeigen nur wahrhaftes Zeigen, indem etwas sich von ihm selbst her zeigt. So weist das Sichzeigen auf das Zeigen zurück, und das Zeigen ist nur vom Sichzeigen her ein Zeigen. Der phänomenologische Zirkel, wie er sich mit Heideggers Bestimmung der Phänomenologie bestimmen lässt, ist gegenüber dem phänomenalen und hermeneutischen Zirkel nicht eigenständig. Auch hermeneutisch und phänomenal geht es um das Sichzeigen von etwas, das gezeigt oder wenigstens gemeint ist, und also auch um ein Zeigen oder Meinen, das sich im Sichzeigen des Gezeigten oder Gemeinten erfüllt; das Hermeneutische ist ein Aspekt des Phänomenalen, und die Hermeneutik, philosophisch verstanden, gehört in die Phänomenologie. Diese reflektiert die hermeneutische und phänomenale Zirkularität und bestimmt sie allgemein in ihrer Struktur. So gesehen ist die Phänomenologie in ihrer Zirkularität nur eine Intensivierung dessen, was im phänomenalen Zirkel und im hermeneutischen Zirkel zu erfahren ist. Sie ist die Reflexion und allgemeine Bestimmung eines Wissens, das sich, verstehend oder wahrnehmend, in zirkulärer Weise erfüllt und deshalb niemals vollständig erfüllt ist. Wenn sich auch die platonische Konzeption des Lernens als ἀνάμνησις in dieser Zirkularität verstehen ließe, hätte man es also im Hinblick auf das Wissen mit einer einzigen Struktur zu tun. Ob es so ist oder nicht, muss sich zeigen. Dafür wiederum sollte man, die bisherigen Über­legungen zusammenfassend, noch einmal festhalten, dass sich der Zirkel von Zeigen oder Meinen und Sichzeigen, von Sichzeigen und Zeigen oder Meinen, in zweierlei Hinsicht charakterisieren lässt. Einerseits ist das Gezeigte oder Ge11 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt a. M.

1977, 46. (Hier wird aus zwei verschiedenen Ausgaben zitiert: siehe Anm. 11.) Zirkelformen des Wissens  |  47

meinte als Sinn bestimmt; in Gadamers Beschreibung des hermeneutischen Zirkels ist es in der Sinnerwartung vorweggenommen, und für Husserl ist es als durch praktische Interessen bestimmter »gegenständlicher Sinn« konstituiert. Andererseits muss das Sichzeigende, Text oder Ding, als solches gewiss sein; man muss wissen, dass etwas da ist, das die Lektüre und Interpretation oder die Erkundung im Wahrnehmen ermöglicht. Ohne das derart Gewisse hätte die Sinnerwartung bzw. die Konstitution eines gegenständlichen Sinns keinen Anhalt. Und damit das Gewisse ein solcher Anhalt sein kann, muss es, wie auch immer, als Ganzheit da sein, nicht als diffuses, amorphes Substrat, das erst durch die hermeneutische Erwartung oder die praktischen Interessen umgrenzt und bestimmt wird. Die beiden Hinsichten des hermeneutischen oder phänomenalen und des phänomenologischen Zirkels lassen sich mit Heideggers Bestimmung der Phänomenologie und mit den Über­legungen zum Lernen in Platons Menon noch genauer fassen. Einerseits bezieht sich das Zeigen oder Meinen von etwas auf das Sichzeigen, derart, dass dieses, mit Heideggers Formulierung gesagt, »von ihm selbst her« erfahren wird; es ist von ihm selbst her da, und nur deshalb kann sich das Zeigen auf etwas in seinem Da beziehen. Allein so ist es das im prägnanten Sinne sich Zeigende, das also, was das Zeigen bestätigt – und nur bestätigen kann, weil das Zeigen bereits auf das Sichzeigen ausgerichtet war; das Zeigen ist bereits durch das Da bestimmt, das sich dann im Sichzeigen bestätigt. Andererseits bezieht sich das Zeigen oder Meinen auf das Sichzeigende in seiner Bestimmtheit – als auf das wie auch immer Sinnvolle, das als das, was es als Sinnvolles ist, verstanden werden kann. Dieses Verstehen ist bereits von einem im Vorwissen mehr oder weniger deutlich erfahrenen Sinn geleitet – so wie es in Platons Menon beschrieben wird; Sinn kann nur erfahren werden, wenn diese Erfahrung schon sinnbestimmt ist, und eben das ist ja mit Gadamers Hinweis auf die »Sinnerwartung« und mit Husserls Hinweis auf die praktischen Interessen, die leitend für den »gegenständlichen Sinn« seien, gemeint. In seiner zirkulären Struktur geht das Verstehen und Wissen also von Da zu Da, wie auch das Wahrnehmen. Von diesem unterscheiden sich Verstehen und Wissen dadurch, dass sie dabei auch von Sinn zu Sinn gehen. Aber die beiden Seiten der Struktur, Da und Da und Sinn und Sinn, sind nicht identisch. Anders könnte die Struk48  |  Günter Figal 

tur nicht zirkulär sein, und man müsste sich nicht in einem Zirkel bewegen, um das Wissen oder Verstehen zu vollziehen. Das Da des Sichzeigenden geht im Da des Wahrgenommenen oder Gezeigten nicht auf; es ist immer ›mehr‹ als dieses, und nur weil es ›mehr‹ ist, kann es das Wahrnehmen oder Zeigen in Gang halten. Das sich im Wahrnehmen oder Zeigen ergebende Da des Gezeigten wiederum ist jeweilige Konkretion des Sichzeigenden. Es ist das Sichzeigende als jeweils Wahrgenommenes, als Gelesenes oder Interpretiertes. Was zur Sprache kommt, wenn man eine Wahrnehmung artikuliert, ist immer nur das Sichzeigende als Wahrgenommenes, so wie eine Interpretation den sich zeigenden Text immer nur als das so und so Interpretierte zur Sprache bringen kann. Aber was derart zur Sprache kommt, ist immer als das sich Zeigende gemeint, und die Artikulation einer Wahrnehmung oder einer Leseerfahrung kann immer nur als Auskunft über das sich Zeigende sachlich überzeugend sein. Jede noch so rudimentäre und partielle Beschreibung meint ein Ganzes, auch dann, wenn sie es nicht abdeckt. Jede Erfahrung von etwas hat es mit diesem als einem Ganzen zu tun. So mag es sein, aber was heißt das? Das Ganze ist das Rätsel in der beschriebenen Zirkelstruktur. Wie kann es da sein, wenn man es doch niemals als Ganzes vor Augen hat und niemals als Ganzes im sinnverstehenden Lesen erfährt? Wie ist das ganze Ding, wie der ganze Text gegeben, und zwar als Ding oder Text selbst, nicht allein derart, dass etwas sich dem »gegenständlichen Sinn« seiner Brauchbarkeit fügt oder als nie Einholbares »entworfen« wird? Die Frage ist allein phänomenologisch zu beantworten, derart also, dass man die Wahrnehmung eines niemals im Ganzen wahrnehmbaren Dingganzen und das Verstehen eines niemals im Ganzen verständlichen Textganzen beschreibt. Die Beschreibung sollte mit dem Anschaulicheren, also dem Dingganzen der Wahrnehmung, einsetzen; an ihm kann deutlicher werden, wie das Erfahren von etwas auf dessen Ganzheit bezogen ist. Auch lässt sich an ihm verdeutlichen, wie der Zirkel von Wissen und Vorwissen, den Platon im Menon beschreibt, mit der phänomenalen und dann auch der hermeneutischen Zirkelstruktur zusammenhängt. Man muss den Sinn eines Dings nicht kennen, um zu wissen, dass es ein Ding ist. Ding ist etwas bereits dann, wenn verschiedene Aspekte so dicht miteinander verbunden sind, dass sie kontinuierZirkelformen des Wissens  |  49

lich erfahren werden können, und wenn sie sich damit zugleich von anderen, dieser dichten Verbindung nicht zugehörigen Aspekten unterscheiden. Um etwas, das ein Ding ist, kann man herumgehen; man kann es in die Hand nehmen, von verschiedenen Seiten betrachten. Wenn man es in der Hand dreht und eine andere Seite in den Blick kommt, so geschieht das allmählich, nicht so, dass ein Anblick abrupt durch einen anderen ersetzt wird. Wenn man die Oberfläche eines Dinges mit der Hand erkundet, kommt man im Allgemeinen nach einer Weile an dieselbe Stelle zurück. Man sieht leicht, dass der so beschriebene Dingcharakter eines Dinges mit seiner Räumlichkeit zu tun hat; ein Ding ist ein Ding, weil es räumlich geschlossen ist, und es wird als Ding erfahren, sofern diese Geschlossenheit die Erfahrung leitet. Das Ding selbst hält seine Erkundung bei sich, was nicht heißt, dass man sich nicht von ihm abwenden und etwas anderem zuwenden könnte. Ein Ding bindet nicht, aber in seiner räumlichen Geschlossenheit ermöglicht und begünstigt es doch seine Erfahrung und Erkundung. Sofern man sich von der räumlichen Geschlossenheit eines Dinges leiten lässt, erfährt man es als ein Ganzes. Es ist als ein Ganzes da, obwohl man es nie vollständig als ein Ganzes wahrnimmt. Die Ganzheit eines Dinges zeigt sich darin, dass jeder seiner Aspekte bruchlos in andere übergeht und übergehen kann, weil er in die Geschlossenheit des Dinges eingebunden ist. Mit dieser Ganzheit zeigt sich ein Ding als Ding; in dieser Ganzheit kann es erkundet werden. Das Sichzeigen eines Dinges lässt sich noch genauer bestimmen, wenn man berücksichtigt, dass das Sichzeigen immer nur für ein wahrnehmendes Lebewesen da sein kann. Das Sichzeigen ist immer ein Sichzeigen für …, und darin ist es mit dem Lebewesen, dem etwas sich zeigt, auf eigentümliche Weise verbunden. In dieser Verbundenheit allein gibt es die Erscheinung eines Dinges; in ihr allein wird eine Erscheinung erlebt. Dementsprechend lässt die Verbundenheit selbst sich als die Erscheinung bestimmen. Eine Erscheinung oder, was dasselbe ist, ein Phänomen, ist weder objektiv noch subjektiv, sondern das Verbindende, in dem es eine objektive und eine subjektive Seite gibt: einerseits das Erscheinende und andererseits das Erscheinungserlebnis. Wenn das Erscheinende in der beschriebenen Weise räumlich ist, muss auch das Erscheinungserlebnis räumlich sein. Dass es so 50  |  Günter Figal 

ist, lässt sich leicht zeigen. Geht man um ein Ding herum oder dreht man es in der Hand, um es von allen Seiten zu betrachten, fährt man mit der Hand über seine Oberfläche, um seine Form zu erfassen, so verhält man sich räumlich. Die in Bewegung vollzogene Wahrnehmung, die Husserl »kinästhetisch« nennt, ist räumlichen Wesens. Wenn die Wahrnehmung auf räumliche Weise mit einem räumlichen Ding zusammengehört, muss die Erscheinung, die beides – also das Erscheinungserlebnis und das Erscheinende, zusammenbindet, selbst räumlich sein. Aber die Erscheinung ist nicht nur räumlich; sie selbst ist ein Raum, der geschlossene Kreis oder Zirkel, der das Wechselspiel von Wahrnehmen und Sichzeigen ermöglicht. Sie ermöglicht das Präsentsein von etwas, das immer nur begrenzt präsent ist und sich gleichwohl mit seiner begrenzten Präsenz als Ganzes zeigt. Der geschlossene Raum der Erscheinung ist nicht hermetisch geschlossen; man kann ihn jederzeit verlassen. Aber solange man wahrnehmend bei einem Ding verweilt, geht man im Kreis der Erscheinung. Mit dem Erkennen von etwas, wie es sich in der Feststellung arti­kuliert, was etwas ist, oder wie es beschaffen ist, verhält es sich ähnlich, und also auch mit dem Verstehen, das darin besteht, dass man mit dem, was man erkennt, etwas anfangen kann. Sofern das Erkennen auch Wahrnehmen ist, geht man erkennend im Kreis der Erscheinung. Doch über diesen sind nun andere Kreise gezogen: die Kreise der Begriffe, oder, wie Platon sagen würde, der Ideen. Wie diese genauer zu verstehen sind, lässt sich am Zirkel von Vorwissen und Wissen verdeutlichen, wie Platons Sokrates ihn im Menon ins Spiel bringt, um die Möglichkeit der Erkenntnis und damit des Wissens gegen den sophistischen Streitsatz, den Menon ins Spiel gebracht hatte, zu retten. Allerdings verwischt Sokrates hier das begriffliche Wesen dieses Zirkels, wahrscheinlich, weil er seinem Gesprächspartner das nötige Verständnis nicht zutraut. In anderem Zusammenhang wird aber deutlich, dass das Vorwissen keine im Hades oder sonst wo erworbene Ausstattung ist. Damit wird der Zirkel des Lernens und Wissens gegenüber seiner Darstellung im Menon erheblich modifiziert. Er ist kein Zirkel von Wissen und Vorwissen mehr, so dass auch die Erinnerungsmetapher obsolet wird, sondern vielmehr die – der Erscheinung analoge – Verbindung von Erkennen und Erkanntheit, die zugleich die VerZirkelformen des Wissens  |  51

bindung von Bestimmen und Bestimmtheit ist. Das Verbindende, der Kreis, der Bestimmen und Bestimmtheit auf je besondere Weise einschließt und dadurch ermöglicht, ist hier die Idee oder anders gesagt: der Begriff. Platon lässt Sokrates diesen Gedanken im Phaidon entwickeln. Sein philosophisches Vorgehen im Rückblick bedenkend und erläuternd, begründet Sokrates, warum er sich von der Betrachtung der Dinge abgewandt habe und in die λόγοι geflohen sei, um in ihnen die Wahrheit des Seienden zu betrachten;12 in diesen sei das Seiende nicht mehr in Bildern präsent als in den Dingen.13 Sachlich fundierte Aussagen und Dinge, λόγοι und ἔργα, sind beide Bilder (εἰκόνες) der Wahrheit des Seienden. Diese Wahrheit erscheint in beiden, und selbst ist sie – wie die Erscheinung, die Wahrnehmung und Wahrgenommenes verbindet – nur als die Verbindung der beiden erscheinenden Momente da; sie ist die Möglichkeit des Spiels von Aufzeigen und Sichzeigen. Dieses Spiel geht im Kreis, weil das Aufzeigbare und Aufzuzeigende zwar bestimmt ist, aber die Möglichkeiten, in denen es aufgezeigt werden kann, nicht vorschreibt. Erkennend, um Wissen bemüht, muss man die Worte, die sagen, was das zu Bestimmende ist und wie es bestimmt ist, selbst finden. Das geschieht sowohl in der sachbezogenen Besinnung auf die eigenen Aussagemöglichkeiten als auch im Blick auf die zu bestimmende Sache, in der Erwartung, dass diese in ihrer Bestimmtheit zu verstehen gibt, wie sie bestimmt werden kann. Allein in diesem Spiel kann, wie es scheint, das Verbindende, die sachliche Wahrheit, zur Geltung kommen. Anders als im Menon suggeriert wird, ist diese kein in mythischer Vorzeit erworbenes Vorwissen, sondern eine Wissensmöglichkeit in der man steht – die Möglichkeiten des Aufzeigens bedenkend und eine Sache aufzeigend, damit sie sich zeige. Wie beim Wahrnehmen geht die Sache auch beim Erkennen und Verstehen im jeweiligen Aufzeigen nicht auf. Das muss nicht daran liegen, dass sie verborgene Bestimmtheiten hat – so wie das Wahrgenommene zum Beispiel eine nicht wahrgenommene Rückseite 12 Plato,

Phaedo 99e: Ἔδοξε δή μοι χρῆναι εἰς τοὺς λόγους καταφυγόντα ἐν λόγοις σκοπεῖν τῶν ὄντων τὴν ἀλήθειαν. 13 Plato, Phaedo 100a: οὐ πάνυ συγχωρῶ τὸν ἐν λόγοις σκοπούμενον τὰ ὄντα ἐν είκόσι μᾶλλον σκοπεῖν ἦ ἐν ἔργοις. 52  |  Günter Figal 

hat. Auch wenn es solche Rückseiten der Bestimmtheit nicht gibt, muss eine Sache, die überhaupt die Bestimmung herausfordert, komplex sein. Entsprechend ist es nicht nur eine verbindende Wahrheit, in der sie steht; es sind deren viele, so dass diese Wahrheit kein geschlossener Kreis ist, sondern ein Feld von einander überschneidenden und überlagernden Wahrheiten. Es gibt viele Möglichkeiten der Bestimmung und der Bestimmbarkeit; lässt man sich auf sie ein, so führen sie ins Weite, nicht zuletzt, weil man von einer Sache nicht nur sagen kann, was sie ist, sondern auch, was sie nicht ist. Dass man sich in den Bestimmungsmöglichkeiten der Ideen oder Begriffe nicht verliert, kann allein durch die Sache, auf die man sich bezieht, verhindert werden. Wenn diese Sache ein Ding ist, so hält sie die Bestimmungsabsichten und Bestimmungen fest, indem sie sich in der Wahrnehmung als Ganzes zeigt; wenn es ein wahrgenommenes Ding gibt, auf das alle Bestimmungen zu beziehen sind, ist auch der Kreis der Bestimmungen geschlossen. Aber es ist nicht notwendig eine Bestimmungsgeschlossenheit, die man so erfährt. Diese liegt erst dann vor, wenn die Bestimmtheiten einer Sache so aufeinander bezogen sind, dass sie eine Ordnung bilden; wenn keine dieser Bestimmtheiten für sich allein bestehen soll, sondern jede in ein Ganzes verwebt ist und in diesem ihren spezifischen Sinn hat. Texte, lesbare Texte, sind solche Bestimmtheitsgewebe, weshalb ihre Bezeichnung als Texte – von textus, Gewebe – treffend und glücklich ist.14 Mit Texten sind Bestimmtheiten vorgegeben, die zugleich mögliche Bestimmungen für die Interpretation sind. Zwar wird eine Interpretation, die ihren Namen verdient, die Bestimmtheiten der Texte nicht einfach wiederholen und derart verdoppeln dürfen. Aber sie muss sich doch an diese halten und sie im Hinblick auf das Ganze, das der Text ist, auslegen und deuten. Keine Interpretation kann dieses Ganze des Textes ausschöpfen, und keine wird sich je in das mehr oder weniger dichte Gewebe des Textes einschreiben können. Deshalb sind Abweichungen, Variationen, auch zusätzlich eingeführte Bestimmungen möglicherweise sachgemäß und hilfreich; ob sie das sind und wie und in welchem Maße, kann sich allein in der Interpretation und im Hinblick auf ihren Sinn ent14 Vgl.

Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, besonders 68–74. Zirkelformen des Wissens  |  53

scheiden, der darin liegt, den Text so aufzuzeigen, dass er weder selbstverständlich noch unverständlich ist, sondern sich zeigt. Wie groß die Differenzen zwischen Interpretation und Text auch sein mögen – in jedem Fall trifft hier λόγος auf λόγος, und das wiederum geschieht im Feld von Bestimmungs- und Bestimmtheitsmöglichkeiten, das durch die Vorgabe des Textes zu einem Kreis begrenzt wird. In diesem Kreis kann und muss sich die Interpretation halten, wenn sie Interpretation sein und bleiben soll. Schweift sie zu weit ins Feld der Bestimmungs- und Bestimmtheitsmöglichkeiten aus, wird sie unsachlich – von ihrer Sache zu weit entfernt oder zur willkürlichen Festlegung dessen, was sie doch zeigen soll, damit es sich zeige. Bleibt sie zu eng am Text, kommt sie über die Paraphrase nicht hinaus und verfehlt auch so ihren Sinn. Die Interpretation von Texten kann ein Modell für das Verständnis aller komplexen Dinge sein. Texte sind ausgedehnt, entfaltet und zugleich in sich geschlossen wie Dinge; sie sind räumlich wie Dinge, und deshalb können die Dinge in ihrer Räumlichkeit auch textual sein. Dinge haben Textcharakter, indem ihre vielfältigen Momente in einem Ganzen miteinander verwoben sind, oft auf mannigfaltige Weise, so dass sie im Verstehen entfaltet, auseinandergelegt – ausgelegt werden müssen. Je klarer das Gewebe der Momente als solches erkennbar ist, desto deutlicher ist das Ganze eines komplexen Dinges als solches da – so wie man an wenigen Sätzen eines Romans das Ganze des Romans gegenwärtig hat, ohne es lesend und interpretierend je auszuschöpfen. Aber es bleibt, solange man dem Text – dem geschriebenen, gedruckten oder auch dem Text eines Dinges – zugewandt bleibt, Anreiz, Herausforderung, sich immer wieder neu stellende Aufgabe. Diese Aufgabe ist jedoch nicht unendlich, als ob der Text sich allmählich in immer neuem und immer weiter gehendem Lesen und Interpretieren immer weiter und immer genauer erschlösse. Der Text geht nicht im unendlich gedachten Vorgang des Lesens und Interpretierens auf, sondern ist als Gegenstand des Lesens und Interpretierens da. Er ist Gegenüber, Anhalt und Widerstand zugleich, offen und als er selbst zugleich auf eigentümliche Weise in sich gefaltet, dicht wie ein Ding als sei er ein Sinnding. Nur weil es so ist, muss und kann das Lesen und Interpretieren im Kreis gehen. Nur indem es im Kreis geht, kann es sich ausbilden und bilden und zu Kompetenzen führen, die als Wissen zwar nicht 54  |  Günter Figal 

verfügbar, aber immer wieder aufs Neue zu erproben sind. Allein im Verhältnis und Verhalten zu einer Sache ist die Ausbildung von Wissen möglich. Die Sache aber schließt in einen Zirkel ein; durch sie bilden sich geschlossene, konzentrierte Felder der Erfahrung, die man zwar jederzeit verlassen kann, doch um den Preis, dass man so auch die Sache verlässt. Wissen braucht Gegenstände. Mit jedem Gegenstand hat es im Raum des Verstehens einen Ort, ist sein Freiraum umgrenzt, seine mögliche Weite umzirkelt. Nur so ist Wissenserwerb und Wissen möglich. Jedes Wissen geht im Kreis. Wenn es viele Gegenstände hat, geht es in vielen Kreisen.

Zirkelformen des Wissens  |  55

Emil Angehrn

Die unabschließbare Erinnerung Der Kreis des Lebens und die Zukunft des Vergangenen 1. Jenseits der schlechten Unendlichkeit Wie das Unendliche zu denken sei, darüber ist sich die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte nicht einig gewesen. Dabei stand nicht nur die logische Ausformulierung, sondern ebenso die normative und praktische Wertung des mit dem Begriff Bezeichneten in Frage. Für den Mythos wie die entstehende Meta­phy­sik gilt das apeiron als Negatives: Das Grenzenlos-Unbestimmte ist ein defizitär Seiendes, zugleich Gegenstand des Schreckens und der Angst. Für Parmenides ist das wahrhaft Seiende umgrenzt; nach Platon und Aristoteles ist etwas kraft seiner Bestimmtheit sowohl seiend wie erkennbar. Das Unbegrenzt-Unbestimmte steht nur für den Stoff möglicher Formgebung; Aristoteles sieht im Unendlichen kein Wirkliches, sondern die bloße Möglichkeit des unbegrenzten Fortgangs. In entgegengesetzter Wahrnehmung wird Unendlichkeit in der theologischen Tradition zu einem affirmativen Gottesprädikat, in der mittelalterlich-neuzeitlichen Meta­phy­sik zur Bedingung und Grundlage alles Endlichen. Allerdings verbindet sich damit das logi­sche Problem, dass das Unendliche, als Gegenbegriff zum End­ lichen, selbst zu einer partikular-endlichen Größe zu werden scheint. Dieser Dialektik trägt Hegel Rechnung, wenn er das wahrhaft Unendliche als eines konzipiert, das zugleich seinen Gegensatz zum Endlichen umfasst, zugleich das Andere zum Endlichen und das beide übergreifende Ganze ist. In solcher Unendlichkeit kommt die wahre Selbstbeziehung zustande, in welcher etwas wirklich ist, was es ist. Von ihr unterscheidet sich nach Hegel die ›schlechte Unendlichkeit‹, in welcher jede begrenzte Bestimmung auf die nächste hin überschritten wird, ohne dass der Fortgang zu einem Abschluss kommt. Es ist eine Unendlichkeit als Perpetuierung des Endlichen, worin etwas gerade nicht zu sich zurückkehren und mit sich eins werden kann, sondern sich unablässig entgleitet. Sie nähert sich der 56  |   

im archaischen Denken perhorreszierten Gestalt- und Grenzen­ losigkeit, deren Fluchtpunkt nicht eine Selbststeigerung, sondern eine progredierende Vernichtung und Entrealisierung ist. Vor diesem Hintergrund ermisst man den provokativen Charakter der Formulierung, wenn Hans-Georg Gadamer seinen Ansatz einer philosophischen Hermeneutik dadurch charakterisiert, dass er in ihm eine »Ehrenrettung der ›schlechten Unendlichkeit‹« unternommen habe.1 Ehrenrettung besagt nicht einfach Bekräftigung des Identitätsentzugs und des Verbleibens im Möglichen, ebenso wenig wie deren hegelsche Überwindung in einer spekulativen Vollendung. Sie meint ein Ernstnehmen der Endlichkeit, das in dieser das Fragmentarisch-Unabgeschlossene ebenso zur Geltung bringt wie das Ausgespanntsein auf die nie erreichte Koinzidenz. Hermeneutik insistiert auf der Unabschließbarkeit des Sinns, und dies auf Seiten der Sinnrezeption wie der Sinnproduktion. Offen ist die Lektüre, die nie das Gemeinte in ihrer Gänze erfasst und expliziert. Dafür steht sowohl der unausschöpfliche Reichtum der großen Symbole, der nach Ricœur immer neue Auslegungen und Konkretisierungen zulässt und zu ihnen nötigt, wie die Offenheit der Texte, die nach Benjamin und Derrida der immer neuen Übersetzung und Weiterschreibung bedürfen, um das in ihnen Angelegte, doch nicht zum Ausdruck Gelangte zur Sprache zu bringen. Kein Gedicht findet seine endgültige, vollendete Interpretation, wie keine Aneignung der Geschichte diese festschreibt, sie ohne Residuen aufzuhellen und sinnhaft zu erschließen vermag. Das Projekt der Deutung bleibt unabschließbar, wobei ihm die Offenheit nicht als kontingentes Defizit anhaftet, sondern gewissermaßen als Wesensbestimmung und Auszeichnung zukommt, die es von der meta­phy­sischen Befassung mit dem festgelegt-identischen Wesen unterscheidet. Gewiss gibt es das mit seinem Gehalt zur Deckung kommende, ›aufgehende‹ Verstehen abstrakter Gegenstände (etwa einer mathematischen Gleichung), doch fungiert solche Deckung nicht als Norm des lebendigen Verstehens, wie es im Verkehr zwi1 Hans-Georg

Gadamer, Selbstdarstellung, in: Gesammelte Werke, Tübingen, 1993, Bd. 2, 479–508, bes. 505; vgl. ders., Zwischen Phänomenologie und Dialektik, Ges. Werke, Bd. 2, 3–23, bes. 8; Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus, Ges. Werke Bd. 10, 125–137, bes. 135. Die unabschließbare Erinnerung  |  57

schen Menschen oder in der Erschließung von Texten und der Aneignung kultureller Traditionen stattfindet. Indessen ist die Offenheit nicht nur eine des Entzifferns und Deutens. Ohne Abschluss bleibt das Sagen und Schreiben selbst. Ja, gerade darin sieht Gadamer den eigentlichen Kern des hermeneutischen Problems, »dass jeder Sprechende in jedem Augenblick, in dem er das richtige Wort sucht – und das ist das Wort, das den anderen erreicht –, zugleich das Bewusstsein hat, dass er es nicht ganz trifft. Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefasst den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort  – das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht.«2 Nicht einfach der kulturelle und zeitliche Abstand zwischen Gemeintem und Verstandenem, zwischen Sprecher und Hörer, sondern die Kluft zwischen Meinen und Sagen, zwischen Sagenwollen und Ausdruck bildet die Triebfeder der Hermeneutik, den Impuls der Arbeit am Sinn. Diese ist ein Sichabarbeiten nicht nur an dem von anderen, sondern an dem von uns selbst Gemeinten. Die künstlerische Produktion als Arbeit am Material ist ein Bemühen um Artikulation des intendierten, doch nicht transparent vor Augen stehenden Gehalts, ein Sichbemühen um die Sache, die im Werk Form und Ausdruck finden soll; im Sprechen suche ich mir darüber klar zu werden, was ich eigentlich meine und sagen wollte. Das Verlangen ist darin nicht nur eines nach dem treffenden Wort und gelingenden Ausdruck, sondern nach dem Einswerden des Menschen mit sich; der Ausdruck steht nicht nur als linguistische oder kulturelle Artikulation, sondern als anthropologische Dimension der Selbstäußerung und Selbstfindung in Frage. So spiegeln sich die Offenheit des Sagens und Hörens, des Schaffens und Auslegens nicht nur in äußerer Strukturanalogie, sondern als teilhabend an einer gemeinsamen Unabgeschlossenheit des Sinns, in der sie sich wechselseitig verschränken und vertiefen. Die Intransparenz und Nichtfestgelegtheit der Sinnschöpfung radikalisiert die Offenheit der Interpretation. Der Mensch als wesensmäßig verstehendes Lebewesen, das sich ein Bild von sich und der Welt 2 Ders.,

Grenzen der Sprache, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, Tübingen 1993, 350–361, bes. 361. 58  |  Emil Angehrn 

macht und sich interpretierend auf die Wirklichkeit bezieht, hat an beiden Seiten des Prozesses teil, als Sinnschöpfer wie als Interpret. Er verständigt sich über sich und die Welt, indem er Texte liest und weiterschreibt, die Sprache der Dinge hört und Werke hervorbringt, Lebensformen verstehend aneignet und sinnhaft ausbildet. Durch sein ganzes Erleben und Tun nimmt er Sinn auf und produziert er Bedeutungen im eigenen Leben und in der Welt. Das umfassende, vielgliedrige Wechselspiel von Sinnbildung, Sinnrezeption und Auslegung, Sinnauflösung und Sinnerneuerung bildet die Matrix der individuellen wie der geschichtlich-sozialen Lebenswelt. Konkret beschreiben Gadamer und Ricœur die aktiv-passive Partizipation an diesem Prozess als Zugehörigkeit zu einem Sinn- und Geschehenszusammenhang, in welchem menschliches Leben sich vollzieht und aus dem heraus Menschen allein in der Lage sind, schöpferisch tätig zu sein, mit anderen zu kommunizieren und sich über die Welt zu verständigen. Nach beiden Seiten geht sein Tun ins Offene, im Aufnehmen und Antworten, im Zurückgehen und Hinausgehen, im Erkunden und Offenbaren. In alledem kommt ein Grundzug des Sinnprozesses zum Tragen, den auch die Dekonstruktion wie andere Ansätze einer kritischen Hermeneutik mit Nachdruck herausgestellt, teils gegen die Hermeneutik ins Spiel gebracht haben. Gadamer hat in späteren Schriften mit Nachdruck verdeutlicht, inwiefern die vermeintlich antihermeneutische Wendung auf Projektionen – eines identischen Sinns, eines souveränen Bewusstseinssubjekts, eines idealen Verstehens – beruht und einen Ansatz wie den seinen nicht widerlegt, sondern bekräftigt. Allerdings werden gerade die im Vorigen hervorgehobenen Merkmale durch die Dekonstruktion zusätzlich akzentuiert. Die retrospektive wie prospektive Unabschließbarkeit wird als Uneinholbarkeit des Ursprungs wie des Abschlusses ausbuchstabiert und in komplementären Chiffren vergegenwärtigt: in der Figur der Spur auf der einen Seite, des je schon entzogenen Ursprungs, welcher nie gegenwärtig werden kann, sondern nur im Nachhinein, als je schon entschwundener entzifferbar ist, und in der Figur der différance auf der anderen Seite, des fortwährenden Aufschubs, der jedes Zur-Deckung-Kommen und Mit-sich-Einswerden unterläuft. Es sind auf die beiden Zeitachsen projizierte Figuren der (›schlechten‹) Unendlichkeit, die allerdings erneut nicht als bloße Insignien Die unabschließbare Erinnerung  |  59

des Scheiterns, des Verfehlens der Wahrheit, sondern als unhintergehbare Bestimmungen des Sagens und Verstehens, ja, des authentischen Sprechens und unverkürzten Lebensvollzugs zu reflektieren sind. Die zweifache Fluchtlinie des nie zum Ende kommenden Zurückgehens und Nach-vorne-Ausgreifens, die sich mit der Dialektik zwischen Rezeption und Produktion überlagert, charakterisiert die Dynamik dieses Vollzugs. Sie wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis beide Prozessrichtungen zueinander stehen, wieweit sie sich bedingen, sich möglicherweise decken (wie auch ›Regress‹ und ›Progress‹, Hegels bevorzugter Begriff, zum Teil austauschbar verwendet werden), inwiefern sie sich verstärken, ineinander umschlagen, der »unaufhaltsame Fortschritt« zur »unaufhaltsamen Regression«3 wird – oder sie umgekehrt nur in der Gegenstrebigkeit in ihrer Essenz zu fassen sind. Das Problem der Unendlichkeit, das sich mit dem von Regress und Zirkularität verknüpft, ist kein bloß logisches Problem der Begründung, der Beschreibung oder der begrifflichen Konzision. Die räumlich-zeitliche Metaphorik, die seine Formulierung bestimmt, ist Indiz einer ontologischen und existentiellen Problemstellung. Sie soll im Folgenden unter komplementären Aspekten ins Auge gefasst werden: zum einen im Blick auf die Zeitform der Zirkularität (2.), zum anderen mit Bezug auf die Verstehensform des Erinnerns, in der sich Temporalität und Unabschließbarkeit in genuiner Weise verschränken (3.), schließlich in der Überführung von Zirkel und Regress in die Offenheit der Dialektik von Erinnerung und existentieller Wiederholung (4.).

2. Der Kreislauf der Zeit Es ist auffallend, wie direkt sich die oszillierenden Wertungen des Unendlichen und Zirkulären in Auffassungen der Zeit widerspiegeln, in existentiellen Formen des Zeiterlebens4 ebenso wie in spekulativen Bildern der Zeit in Mythos, Religion und Philosophie. Die zyklische Zeit, Urbild der logischen Zirkularität, steht in einer zwei3 Max

Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 1967, 42. 4 Vgl. Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991. 60  |  Emil Angehrn 

fachen Opposition: zur Singularität des einmaligen Geschehens mit bestimmtem Anfang und zur Zukunftsoffenheit der linearen, gerichteten Zeit. Mit großem Nachdruck macht Augustinus das erste zum distinktiven Merkmal der Heilsgeschichte gegenüber der Weltauffassung der antiken Philosophen, die vom ewigen Kreislauf der Gestirne, zum Teil vom periodischen Weltenbrand ausgingen. Sowohl die Radikalität des ersten Anfangs, der göttlichen Schöpfung, wie die Einmaligkeit des Heilsgeschehens sind Instanzen einer irreduziblen Ereignishaftigkeit, welche den Kreislauf aufbricht und Vergangenheit und Zukunft endgültig voneinander scheidet. Die Einmaligkeit und Irreversibilität des Geschehens in Zeit und Geschichte sind Grundlage einer stabilen Orientierung und eines gerichteten Strebens, das nicht durch den Umschlag und die Iteration zunichte wird. »Denn einmal nur ist Christus für unsere Sünden gestorben. Auferstanden aber von den Toten stirbt er hinfort nicht mehr, und der Tod wird hinfort nicht über ihn herrschen«5, so lautet der Kern eines Glaubens, der sich der Trostlosigkeit, der Verzweiflung des unwiderruf­ lichen Vergehens und unablässigen Wiederbeginnens entgegensetzt. Das tiefste Streben, das nach Glück und Ewigkeit verlangt, muss der Erschütterung durch das Zunichtewerden aller Dinge im Umschlagen der Zeit – »Wer mag sich das anhören, wer es glauben, wer es ertragen?«6 – entzogen werden. Nicht nur die Unvereinbarkeit mit der Schrift, sondern auch die Unerträglichkeit für das menschliche Wollen widersetzen sich einer Weltsicht, die mit der Immergleichheit in ihrer destruktiven Leere paktiert. Die Unableitbarkeit des Anfangs wie des kommenden Heils sind Instanzen einer Zeit, die dem tiefsten Bedürfnis nach Befreiung und Erfüllung entspricht. Dabei liegt das Moment der Neuheit nicht allein dem ersten Anfang wie dem eschatologischen Ausblick zugrunde, sondern geht in die innere Form des menschlichen Lebens ein, wie Augustinus durch die Geschichte Abrahams illustriert: Gottes Befehl, in die Fremde zu gehen, versteht er als Aufforderung zum Freiwerden der Seele und Überwinden der Sehnsucht nach Rückkehr.7 5 Augustinus, 6 Ebd., 7 Ebd.,

De civitate Dei, XII.14.

XII.21. XVI.15.

Die unabschließbare Erinnerung  |  61

Mit diesem Motiv nähern wir uns der anderen Opposition, in welcher die zyklische Zeit steht, nicht zur Zeit der Schöpfungs- und Heilsgeschichte, sondern zu jener der menschlichen Fortschrittsund Emanzipationsgeschichte. Hier ist es die zukunftsgerichtete, offene Zeit, die sich der Vergangenheitsverhaftung der zyklischen Rückkehr entgegenstellt. Der Gegensatz wird typischerweise als Gegensatz von Fesselung und Befreiung wahrgenommen und mit dem Projekt der Aufklärung, der Selbstbehauptung des modernen Subjekts in Verbindung gebracht. Der Kreislauf wird zum Symbol des mythischen Zwangs, der Unentrinnbarkeit des Schicksals, aber auch der nicht-stabilisierungsfähigen Sozialität: Erst die Etablierung einer festen Rechtsordnung vermag sich nach Hegel der Fatalität der Rache zu entziehen, welche sich »von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte« vererbt und dem »Progress ins Unendliche« verfällt.8 Die Überwindung der zyklischen Wiederkehr ist sowohl die Gegenwehr zur entrealisierenden, entformenden Flucht ins Unendliche wie die Befreiung aus dem Zwang des Immergleichen. Auch losgelöst von der zyklischen Wiederkehr wird die schlechte Unendlichkeit zur Signatur anthropologischer und zivilisatorischer Verfallserscheinungen. Dazu gehören die Habsucht, das seit Platon angeprangerte Mehrhabenwollen (Pleonexie), das die Kulturkritik bis zu Marx und Erich Fromm durchzieht, das entfesselte Machtstreben, die Akkumulation des sich vermehrenden Reichtums, das zum Selbstzweck verkehrte, in sich potenzierte instrumentelle Handeln. Die Unstillbarkeit des Immer-mehr wird zu einer sich aushöhlenden, sich entleerenden Bewegung, das Immer-weiter zum Immer-wieder, die lineare Endlosigkeit zum in sich rotierenden Kreislauf. Mit dieser sich gleichsam in sich zurücknehmenden, auf sich zurückkehrenden Bewegung verhärtet sich der innere Zwang des rastlosen Fortgangs, der seinem Ziel nie näher kommt. Die Sucht, die im Maße der Befriedigung nicht zur Erfüllung, sondern von ihr weg führt, der ungelöschte Durst, die Qualen des Tantalus sind Sinnbilder des sich selbst aufhebenden Strebens, dessen äußere Gestalt die leere Wiederholung ist.

8

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 102. 62  |  Emil Angehrn 

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben den mythischen Kreislauf zum Inbegriff der zwanghaften Geschlossenheit, des ›Banns‹ der modernen Zivilisation gemacht. Die Selbstverstrickung der Aufklärung in Mythologie bedeutet auch, dass sie die schicksalhafte Notwendigkeit nicht aufzusprengen vermag, welche der Zwangsläufigkeit des Kapitals wie der Gesetzlichkeit der Natur und der Immanenz der formalen Ratio entspringt.9 Das von Max Weber beschriebene stahlharte Gehäuse des gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs nimmt die Gestalt einer umfassenden Tautologie an, eines »gigantischen analytischen Urteils«, das jede kreative Innovation ausschließt – gemäß der Dialektik der Aufklärung eine Bekräftigung des mythischen Kreislaufs, der »die Ewigkeit des Tatsächlichen bestätigt« und das bloße Dasein als den Sinn ausspricht, den es verhindert.10 Die mythische Ursprungsverhaftung bleibt im Inneren der meta­phy­sischen Denkform wirksam und, so die postmoderne Kritik, prägend für die abendländische Vernunftkultur im Ganzen. Der Antagonismus der Zeitmodelle und die Ambivalenz der Unendlichkeitskonzepte geht in die kritische Auseinandersetzung um die Form des modernen Denkens ein. Lebensweltlich erfahren wird das Repressive solcher Prozessformen in Weisen des Zeiterlebens. Das Lähmende einer nicht vergehenden Zeit, das Nichtloskommen vom Gewesenen und Nichtfreikommen aus der unablässigen Wiederholung, das Verschlossensein der Zukunft und die Unfähigkeit zur integrierenden Zeitgestaltung zeichnen existentielle Grunderfahrungen, teils Formen pathologischen Leidens, in die Temporalität des Menschseins ein. Die Spannung zwischen Enge und Weite, zwischen Zwang und Befreiung hat im Erleben der Zeit einen ursprünglichen Ort und einen privilegierten Ausdruck. So steht die Erfahrung der Zirkularität, verbunden mit der Flucht ins Unendliche, im Horizont einer zweifachen Negativität: zum einen der Vergeblichkeit und des Zunichtewerdens, des Sichverlierens im endlosen Weitergehen, zum anderen des Beengt- und Unterdrücktseins im Gefängnis der Wiederkehr. Zwar gibt es andere Erlebensweisen, die in diesen Zeitformen sei es den Negativi­   9 Horkheimer

10

Ebd., 45 f.

und Adorno, Dialektik der Aufklärung, 17 ff.

Die unabschließbare Erinnerung  |  63

tätskoeffizient durchstreichen und das Naturgemäße, mit sich Übereinstimmende des zyklischen Prozedierens unterstreichen, sei es ihn geradezu ins Gegenteil, in die Selbstaffirmation und befreiende Zustimmung wenden. Einen prominenten Ausdruck hat diese Inversion in Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft gefunden. Nach ihm entspricht die Wiederkehr dem tiefsten Streben des Menschen, seinem Luststreben wie seinem Freiheitswillen. Dass die Lust Ewigkeit will, bedeutet für Nietzsche – anders als für Augustinus, der im Zyklus den Umschlag ins Gegenteil sah –, dass die Lust »Wiederkunft«, »Alles-sich-ewig-gleich« will11. Desgleichen sieht er den einzigen Weg, sich der Unentrinnbarkeit der Geschichte zu entziehen und die Unabänderlichkeit des Gewesenen zu überwinden, im entschiedenen Wollen, welches »alles ›Es war‹« in ein »›So wollte ich es!‹« umschafft, in ein »›So will ich es! So werde ich es wollen‹«.12 So verwandelt sich die ewige Wiederkehr des Gleichen, statt härtestes Gesetz des Schicksals zu sein, in eine eminente Gestalt der Freiheit und »höchste Formel des Bejahung«.13 Es ist wie eine letzte, fast gewaltsame Selbstbehauptung, die dem Verhängnis nicht nur das Trotzdem entgegenhält, sondern es der eigenen, heroischen Affirmation integriert. Für das normale Erleben allerdings bleibt die zyklische Wiederkehr mit dem primären Index der Unentrinnbarkeit behaftet, die in der entfremdeten Gesetzmäßigkeit des Sozialen wie in dem von der Psychoanalyse beschriebenen Wiederholungszwang begegnet. Die zweifache Negativität des unendlichen Kreislaufs bildet die Folie, von der sich eine gegenläufige Form der Wiederholung abhebt, die mit einem anderen Vergangenheitsbezug einhergeht: nicht einer Ursprungsverhaftung, sondern einer emanzipatorischen Erinnerung. Zu deren besonderem Profil gehört, dass sie sich in spezifischer Weise mit der hermeneutisch-dekonstruktiven Rehabili­tierung der Unendlichkeit verschränkt. Zu verdeutlichen ist, in welcher Weise beide Motive miteinander verbunden sind. 11 Friedrich

Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 4, München/Berlin/New York 1980, 402. 12 Ebd., 179 f. 13 Ebd., 335. 64  |  Emil Angehrn 

3. Erinnerung und Zukunftsbezug Erinnerung ist die Bewusstseinsform, in der sich die Zirkularität der Zeit in unmittelbarster Weise in das subjektive Erleben einzuschreiben scheint. Erinnerung ist nach gängigem Verständnis die Reproduktion des Gewesenen, sei es als Resultat einer Arbeit des Heraufholens aus der Vergangenheit und des Rekonstruierens der Geschichte, sei es als Effekt des spontanen Aufsteigens aus dem Speicher des Gedächtnisses. Die Erinnerung als Gegenwärtigwerden des früher Erlebten und ehemals Gewesenen macht jenes Verschwinden und Auslöschen rückgängig, das unserem Bewusstsein als naturwüchsige Tendenz des Vergessens innezuwohnen scheint und sich als zerstörerisches Werk der Zeit ereignet. Alles was entsteht, muss vergehen; was gegenwärtig ist, entzieht sich der Präsenz und verschwindet im Nichts. Die Memoria ist die große Macht, welche sich dem unerbittlichen Lauf aller Dinge entgegenstellt und die Unvergänglichkeit des Vergänglichen sichert, indem sie es festhält, es erneut gegenwärtig werden lässt, es vor dem Zunichtewerden bewahrt. In gewisser Weise fügt sie sich damit dem Kreislauf der Dinge ein, partizipiert sie an der Wiederkehr des Vergangenen, das dem Vergangen- und Vergessensein entrissen, erneut zur Präsenz gebracht wird; sie oszilliert gleichsam zwischen den gegensätz­ lichen Zwangsläufigkeiten des Untergehens und der Wiederkehr, der Bekräftigung des Kreislaufs und der Befreiung aus ihm. In der dominanten Wahrnehmung widersetzt sie sich dem Fatum des Verschwindens; der Antagonismus von Erinnern und Vergessen vermisst das Problemfeld des Gedächtnisses. Erinnerung behauptet sich im Widerstand gegen den irreversiblen Verfallsprozess – auch wenn Nietzsche, erneut dem Common Sense widersprechend, gegen die Vorherrschaft des Historischen an die Kraft und Kunst des Vergessens appelliert. Bei alledem ist Erinnerung mehr als die Ver-Gegenwärtigung eines vergangenen Erlebnisses. Weder erschöpft sie sich im Sicherinnern an Selbst-Erlebtes, noch ist sie einfach das Anhalten der Zeit oder Zurückgehen in der Reihe des Verlaufs. Dass Historie nicht die abbildende Reproduktion früherer Ereignisse in ihrer linearen Sequenz ist, hat die Erzähltheorie mit Bezug auf die narrative Tatsachenbeschreibung hervorgehoben: Vom Beginn einer Revolution Die unabschließbare Erinnerung  |  65

oder der Geburt eines berühmten Autors erzählen heißt sich auf Ereignisse beziehen, die im Zeitpunkt ihres Eintretens nicht unter der Spezifizierung, unter der sie beschrieben werden, stattgefunden haben. Nicht nur historische Zusammenhänge, auch historische Fakten werden im Nachhinein konstituiert; die Logik der Narration ist nach Danto die des retrospektiven Vorgriffs, der ein Früheres mit Bezug auf Späteres thematisiert. Dieses Spätere kann seinerseits ein Einzelereignis sein, das dem früheren seine Bedeutung (als Beginn einer Liebesgeschichte, als Wendung eines Konflikts zum Guten oder Schlechten) verleiht, es kann aber auch die Nachgeschichte, ein veränderter Wert- und Sinnhorizont sein, in deren Licht ein Geschehen neu beleuchtet wird, verschieden erzählt werden muss, als andere Geschichte konstituiert wird. Dies ist der Grund, wieso jede Genera­tion ihre Geschichte neu erarbeiten und aneignen muss, wieso Erinnerung nie an ihr Ende kommt. Solange die Menschheit nicht am Ende der Zeiten ist, bleibt ihre Geschichte offen, nicht nur nach vorne, im Blick auf das, was sich noch ereignen wird und wie der Lauf der Dinge sich fortsetzen, abbrechen, neu einsetzen wird, sondern ebenso retrospektiv: im Blick darauf, wie ihre Herkunft zu beschreiben und zu werten, was als ihre Herkunft zu verstehen ist. Die Unabschließbarkeit der Deutung ist nicht nur die Unausschöpfbarkeit von Symbolen, die nicht abgeschlossene Auslegung von Dokumenten und unvollständige Rekonstruktion historischer Fakten. Nicht abgeschlossen ist die nachträgliche Perspektivierung, durch welche Zusammenhänge neu konstelliert und gebildet werden – nicht als Verfremdung oder (sei es positive oder negative) Verfälschung dessen, was war, sondern als Bestimmung und Erschließung der Sache selbst. Dass die Arbeit der Erinnerung nie endgültig und abgeschlossen ist, liegt darin begründet, dass sie mehr als die punktuelle oder serielle Registrierung und Ver-Gegenwärtigung vergangener Daten ist. Sie ist die verstehende Aneignung einer Geschichte, die im Horizont einer Verständigung über das eigene Leben oder über fremdes Leben vollzogen wird. Darin situiert Erinnerung das Gewesene im Kontext sowohl der Nachgeschichte wie der Vorgeschichte, die beide in das Verständnis früherer Ereignisse und Zusammenhänge eingehen. Auf der einen Seite ist es die retrospektive Perspektivierung des Vergangenen im Lichte späterer Auswirkungen und Folgen, aber 66  |  Emil Angehrn 

auch der Interferenz mit anderen Handlungs- und Ereignisketten oder unabhängiger Geschehnisse und Konstellationen, welche die Bedeutung und historische Gestalt des Damaligen mitbestimmen. Auf der anderen Seite ist es die Herkunft und Vorgeschichte, welche vergangene Fakten hervorgebracht und ihre spezifische Gestalt und ihren Stellenwert bedingt haben. Nach beiden Seiten greift eine verstehende Erinnerung über die Fixpunkte einer schematischen Reproduktion, die Korrelierung von Damals und Heute, hinaus. Beide Linien sind offen, weisen über den einfachen Vergangenheits- und Zukunftsbezug hinaus und bedingen gerade darin, in je spezifischer Weise, die genuine Unabschließbarkeit des Erinnerns. In der Wendung nach vorne geht es um mehr als die Antizipation künftiger Ereignisse. Es geht um das Offensein für eine Zukunft, die weder gemacht und gesteuert, sondern im radikalen Sinn eine kommende Zeit, gegebenenfalls eine fremde, überraschende, hereinbrechende Zukunft ist. In ihrem Horizont steht die Gegenwart als eine ihrerseits nicht fertige und geschlossene. Wenn die Existenzphilosophie das aktuelle Sein auf die Zukunft hin öffnet und von ihr her denkt, gemäß Sartres Satz ›Ich bin, der ich sein werde‹, so ist diese Zukunftsverweisung zuletzt in das Futurum II zu radikalisieren, für welches gilt, dass ich derjenige bin, der ich gewesen sein werde. Um über mein wirkliches Sein Rechenschaft ablegen zu können, muss ich mein Selbstbild darauf hin öffnen, wie man mich dereinst beschreiben, wie man mich beschrieben haben wird. Die Gegenwart vergeht nicht einfach, löst sich nicht einfach in das Nichts des Nicht-mehr-Seins auf, sondern mutiert in eine künftige Vergangenheit. Dabei geht es nicht nur um die Perpetuierung, darum, dass anstelle des Nicht-mehr-Sein das künftige Gewesensein tritt14, sondern ebenso um die nachträgliche Spezifizierung und Konstitution. Etwas wird im Nachhinein, was es ist. Klassisch ist diese Figur im psychoanalytischen Theorem der Nachträglichkeit ausformuliert, womit Freud die spätere Umordnung und Neuinter14 Robert

Spaemann verbindet mit dieser Gedankenfigur einen Gottes­ beweis, indem das futurum exactum gleichsam einen Raum, eine Instanz voraussetzt, die das heutige Sein als späteres Gewesen-sein festhalten: Robert Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«, Stuttgart 1996, 123–133; ders., Der letzte Gottesbeweis, München 2007. Die unabschließbare Erinnerung  |  67

pretation von Erinnerungsspuren meint, deren Anlass zum Zeitpunkt des Ereignisses nicht verstanden und deshalb auch gar nicht wirklich erlebt werden konnte und der erst zur psychischen Realität wird, nachdem das Subjekt (aufgrund der sexuellen Reifung) in die Lage kommt, das Erlebte in seinem Gehalt zu erfassen. Wenn solche Respezifizierung im Kontext organischer Entwicklung einer gewissen Regularität unterliegt, so ist sie im umfassenderen lebensgeschichtlichen und historischen Prozess grundlegend offen und kontingent. Und sie tangiert nicht nur meine Vergangenheit, sondern ebenso, gleichsam in antizipierter Nachträglichkeit, die aktuelle Existenz als geschichtlichen Vollzug: Was sich in der Geschichte verwirklicht, so Lacan, ist die »vollendete Zukunft dessen, was ich für das gewesen sein werde, das zu werden ich im Begriff stehe.«15 Diese Perspektive auch in die Erinnerung einzutragen heißt nicht nur sie für die Gegenwart zur Geltung zu bringen, aus deren Sicht Geschichte je neu angeeignet wird, sondern sie im Vergangenen selbst aufbrechen zu lassen. Es gilt das Vergangene in seiner Zukunftsverweisung, in seiner Zukunftsbedürftigkeit wie seinem Zukunftspotential, zur Sprache zu bringen. Dazu muss Erinnerung auch in der Zuwendung zum Vergangenen über das feststehende Faktum hinausgehen. Über Vergangenheit hinausgehen heißt zunächst, hinter sie zurückgehen. Gewissermaßen spiegelbildlich zum Futur II rückt die Vorvergangenheit in den Blick. Vergangenes von dem her zu erfassen, was ihr vorausgeht und was ihr – als Wirkursache, Bedingungszusammenhang, Problem – zugrunde liegt, bildet die nächstliegende Weise, etwas historisch zu verstehen. Komplementär zu den vorausliegenden Bedingungen gehört der Zukunftsbezug zum Horizont solchen Verstehens, wie er durch den narrativen Vorgriff oder die Figur der Nachträglichkeit illustriert wurde. Indessen gibt es Konstellationen, in welchen der Bezug zur Zukunft nicht einfach infolge zwischenzeitlicher Ereignisse im Nachhinein zustande kommt. In Frage steht eine Zukunftsverweisung, die nicht in einer kontingenten Folge­ 15 Der

vollständige Satz bei Lacan lautet: »Ce qui se réalise dans mon histoire, n’est pas le passé défini de ce qui fut puisqu’il n’est plus ni même le parfait de ce qui a été dans ce que je suis, mais le futur antérieur de ce que j’aurai été pour ce que je suis en train de devenir.« Siehe Jacques Lacan, Fonction et champ de la parole et du langage, in: Ecrits I, Paris 1966, 111–208, hier 181. 68  |  Emil Angehrn 

geschichte gründet, sondern im Anfang selbst angelegt ist. Erinnerung kann mit einem Vergangenen zu tun haben, das von sich aus auf Späteres Bezug nimmt, auch wenn diese Öffnung in ihm selbst nicht artikuliert, sondern verdeckt, möglicherweise gerade unterdrückt ist. Es kann eines sein, das den Keim einer Entwicklung in sich hat und nach seiner Entfaltung verlangt, um sich in seinem Wesen zu manifestieren – aber auch eines, das der Ergänzung und Korrektur bedarf, um zu seinem Recht zu kommen, seine Stimme zu finden. In beiden Fällen verbindet Erinnerung den Ausgriff auf Zukunft mit einem vertieften Zurückgehen in die Vergangenheit, indem sie hinter die sichtbare Gestalt, das konkrete Ereignis zu demjenigen zurückgeht, was ihnen vorausliegt und in welchem der Drang, das Verlangen nach Zukunft wurzelt. Paradigmatisch ausformuliert findet sich eine solche Figur des Zurückgehens in der Leidenserinnerung, wie sie Walter Benjamin beschrieben hat. Nicht das Gedächtnis der Sieger, sondern der Besiegten und Unterdrückten zum Angelpunkt der Historie zu machen, stellt die direkte Umkehrung gegenüber der monumenta­ lischen Historie dar, wie sie von Nietzsche charakterisiert wird, aber auch gegenüber der Idee der Geschichtsschreibung, wie sie Herodot und Thukydides konzipiert hatten: als preisendes Gedenken der großen Werke und ruhmvollen Taten der Menschen. Nicht das­ jenige zu vergegenwärtigen, was von sich aus die Macht hatte, sich durchzusetzen und Spuren und Dokumente in der Geschichte zu hinterlassen, sondern dessen zu gedenken, was ohne Erfolg und Abschluss geblieben ist, ist die leitende Idee solcher Gegengeschichte. Erinnerung gilt hier dem Unerledigten, Unabgegoltenen und Unerfüllten im Vergangenen, dem sinnlosen Leiden, dem nicht gerächten Unrecht, den vergeblichen Kämpfen. Ganz unterschiedliche Ansätze einer kritischen Historie haben sich in diesem Sinne dem Anliegen eines Zurechtrückens der Geschichte verpflichtet, welches das Vergangene in seinen nichtrealisierten Möglichkeiten, in seinen Beschädigungen und seinem uneingelösten Anspruch zur Geltung bringen will. Die Vergangenheit, so Ernst Bloch, ist voll der ungewordenen Zukunft, des ungelungenen, nicht zu Ende gelebten, nach Erfüllung verlangenden Lebens. Zum Teil ist die Nichtverwirk­ lichung eine im Medium der Historie selbst, nicht der Geschichte, und es ist Aufgabe einer ›rettenden‹ Erinnerung, die im offiziellen Die unabschließbare Erinnerung  |  69

Gedächtnis zurückgedrängten Geschichten und Lebenswelten – der Frauen, der Arbeit, des Alltags – ins Licht zu rücken. Strukturell entspricht solche ergänzend-korrigierende Historie jener Operation, die oben als dekonstruktive Weiterschreibung von Texten, als interpretierende Neugestaltung von Sinngebilden thematisch war. Wenn für solche Erinnerung jenseits der Positivität der Ereignisse die ungewordene Vergangenheit zum Referenzpunkt wird, so kann diese in entgegengesetzter Valenz zur Geltung kommen: als das­ jenige, was nach seiner Abschaffung und Korrektur oder aber nach seiner Erfüllung verlangt. Neben der Leidenserinnerung, deren letzter Impuls die Abwehr, der stumme Schrei ist, welcher im Gedenken eine Stimme finden soll, trägt die Glückserinnerung das Gedächtnis der Menschen. Auch sie ist zuinnerst nicht Zurückkommen auf ein faktisch Erlebtes, sondern auf ein Erstrebtes und Erhofftes: Glückserinnerung als Reminiszenz eines Glücksversprechens, wie es Ernst Bloch im Schlusssatz des Prinzip Hoffnung umschreibt als etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«.16 Auch hier sind das Zurückgehen hinter das Faktum und das Vorausweisen auf ein Ausstehendes aufs Engste ineinander verschränkt. Darin realisiert sich das emanzipatorische Potential eines Gedächtnisses, welches nicht der Verhaftung im Gewesenen, sondern der Befreiung des Unterdrückten und dem Aufbrechen des Neuen gewidmet ist.

4. Wiederholung und Offenheit So haben wir eine veränderte Annäherung an den Kreislauf der Zeit vor uns, der nicht im Zeichen der Fatalität, sondern einer befreienden Selbstwerdung steht. Dass Erinnerung in solcher Weise mit der Figur der Wiederholung verknüpft ist, hat allen voran Søren Kierke­ gaard bedacht. Nach ihm stellen »Wiederholung und Erinnerung die gleiche Bewegung dar, nur in entgegengesetzter Richtung; denn woran man sich als Gewesenes erinnert, das wird in rückwärtiger Richtung wiederholt; wohingegen die eigentliche Wiederholung Er-

16 Ernst

Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1959, 1628.

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innerung in Richtung nach vorn ist.«17 Was in dieser eigenartigen Wechselbeziehung zum Ausdruck kommt, ist die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz, genauer die Art und Weise, wie Menschen sich bewusst zum Ganzen ihres zeitlichen Daseins verhalten, indem sie die Aneignung der Vergangenheit und den Selbstentwurf in die Zukunft aufeinander beziehen. In dieser Verknüpfung distanziert sich Kierke­gaards Verständnis der Wiederholung von der platonischen Anamnesis, die ganz dem Vergangenen zugewandt ist und als meta­phy­sische Rückschau einem in sich Vollendeten und Abgeschlossenen gilt. Im Gegensatz dazu geht es hier um eine auf künftige Selbstverwirklichung ausgreifende Erinnerung, der ein Zukunftsentwurf antwortet, der seinerseits die vergangene Selbstprojektion wiederholt und tätig umsetzt. Wichtig ist, dass diese nach vorne gerichtete Wiederholung nicht aus dem Gedächtnis als einem festen Bestand schöpft, sondern im Unabgegoltenen und offenen Potential des Vergangenen wurzelt. Sie bedenkt das Vergangene auf seine Zukunft hin, die gleichermaßen die Gegenwart durchdringt. Um aber diese Zukunftsbezogenheit des Gewesenen, sein Verlangen nach Zukunft wie seine Zukunftsmächtigkeit, zu erkunden, ist seine (Vor-)Vergangenheit zu erschließen: dasjenige, mit Bezug worauf es selbst eine Zukunft war. Auch das Erste, auf das wir uns beziehen, ist kein schlechthin Anfängliches, sondern ein Erwartetes und Weitergeführtes, Wiederaufgenommenes: »Tout commence par la reproduction« ist Derridas (auf Freud gemünzte) Formel für diese Nichtursprünglichkeit des Ersten.18 Dass hinter dem Vergangenen ein Früheres liegt, bildet den Grund für den Überschuss in ihm, für die retrospektive wie prospektive Nichteinholbarkeit des Anfangs, und zugleich den letzten Grund dafür, dass auch kein Künftiges zu seinem Abschluss kommt. Darin begegnen wir einer grundlegend anderen, transformierten Kreisförmigkeit. Die mit der Erinnerung verschwisterte Wieder­ holung ist keine leere, zirkelhafte Repetition, keine Wiederkunft des Gleichen, sondern eine im Spannungsfeld zwischen Erwartung und Erfüllung spielende, sich entwickelnde Rückkehr zu sich. Sie verkör17 Søren

Kierke­gaard, Die Wiederholung, in: Philosophisch-theologische Schriften, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, Köln/Olten 1965, 327– 440, hier 329 (Samlede Värker, 1920 ff., Bd. III, 193). 18 Jacques Derrida, L’écriture et la différence, Paris 1967, 314; vgl. 435. Die unabschließbare Erinnerung  |  71

pert keine repressive, vernichtende Zwangsläufigkeit, sondern steht im Zeichen eines freien Zusichkommens. Im Gegensatz zur anamnetischen Bekräftigung dessen, was schon war, enthält Erinne­rung als Wiederholung nach Kierke­gaard die antizipierende Öffnung auf das Neue. Im Medium der Selbsterneuerung ist Wiederholung der Weg eines Einswerden-mit-sich, das keine punktuelle Selbstkoinzidenz, sondern ein Zusichkommen aus dem Anderen ist; in diesem Sinne will Kierke­gaard ›Wiederholung‹ als adäquatere Kategorie für dasjenige einführen, was Hegel als Vermittlung ins Auge fasste.19 Sie repräsentiert die umfassende Figur einer Selbstwerdung, die sich gleichermaßen im Medium der Erinnerung wie der zukunftsgerichteten Selbstverwirklichung vollzieht und die sich in beiden Formen der vollen Gegenwärtigkeit entzieht.20 Wie die integrale Selbstpräsenz beiden Zeitekstasen entgleitet, so ist sie der Gegenwart selbst unverfügbar.21 Gerade im Entzug bestätigt sich die existentielle Bedeutung der Erinnerung für menschliches Dasein. Mit der Integration der Zirkularität in die existentielle Wiederholung verbindet sich ein veränderter Status des Unendlichen. An die Stelle der lähmenden, entleerenden Progression ins EntgrenztUnbestimmte tritt die Unabschließbarkeit des Sinns im erinnernden Verstehen wie im Selbstentwurf. Die Unabgeschlossenheit ist weder Konzession noch Notbehelf, sondern konstitutives Merkmal der Selbstexplikation und Selbstaneignung. Sinn gibt es nur unter Bedingungen der Endlichkeit. Darin liegt kein Makel und keine Relativierung, sondern eine strukturelle Bedingung und ein innerster Antrieb des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in seinem Streben nach Verstehen und Verständigung. Die von Gadamer proklamierte und in der Dekonstruktion programmatisch durch19 Kierke­gaard,

Die Wiederholung, 351 (S. V., Bd. III, 211 f). Debray illustriert dies mit Bezug auf das zirkelhaft Repetitive der Erzählungen, in denen Jorge Semprun sein Leben erkundet (»Comme si c’était toujours à la fin qu’on découvrait son début. […] Comme si l’on ne cessait d’arriver en retard dans sa propre vie«). Siehe Jorge Semprun, Exercices de survie, Introduction de Régis Debray, Paris 2012, 11 f. 21 Kierke­gaard (Die Wiederholung, 337 [S. V., Bd. III, 200]) stellt das Entgleiten der Präsenz am Beispiel der scheiternden Liebesbeziehung dar: »Und doch war sie die Geliebte, die einzige, die er geliebt hatte, die einzige, die er jemals lieben werde. Auf der anderen Seite liebte er sie jedoch nicht, denn er sehnte sich bloß nach ihr.« 20 Régis

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geführte Rehabilitierung der schlechten Unendlichkeit findet ihren genuinen Ort und letzten Grund nicht in der Logik der Sinnverhältnisse als solcher, sondern in der zeitlichen Ausgespanntheit der menschlichen Existenz.

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Simon Springmann

»Ring der Ringe«, »Rad des Seins« Die Ewige Wiederkunft des Gleichen – kosmologischer Zirkel und existenzieller Imperativ? »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.«1 »Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies ist der Hauptgedanke!«2

Die Ewige Wiederkunft3 des Gleichen ist unbestritten einer der zentralen Gedanken der Nietzsche’schen Philosophie – nach seiner eigenen Einschätzung ist es sogar sein tiefster und »abgründlichste(r) Gedanke«.4 Die erste veröffentlichte Nennung findet sich bezeichnenderweise unter dem Titel »Das grösste Schwergewicht« in der Fröhlichen Wissenschaft, in der die Grundidee in nuce bereits vollständig vorliegt: »›Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts 1 ZA,

Der Genesende, 4, S. 273. 1881, 11(165), 9, S. 505. 3 Nietzsche spricht in den meisten Fällen von dem (christlich konnotierten) Begriff der Wiederkunft und nur selten von der Wiederkehr des Gleichen (vgl. H. Ottmann [Hrsg.], Nietzsche-Handbuch, Stuttgart 2000, 2239. Nietzsches Schriften werden im Folgenden unter Angabe des Werkes (Abkürzung) sowie Band- und Seitenzahl zitiert nach Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli und M. Montinari, München/ Berlin/New York 21988. 4 ZA, Der Genesende, 4, S. 271. Vgl. auch EH, Weise 3, 6, S. 268 sowie ZA, Vom Gesicht und Räthsel, 4, S. 199. An anderer Stelle spricht er vom »mächtigste(n) Gedanke(n)« (N 1881, 11(148), 11, S. 498). Die Formel tritt in den achtziger Jahren zusammen mit anderen zentralen Philosophemen wie dem Tod Gottes, dem Übermenschen oder dem Willen zur Macht auf. 2 N

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Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge.‹«5

Darauf aufbauend wird hier die folgende Grundthese vertreten: Nietzsche verfolgt mit der Ewigen Wiederkunft des Gleichen primär eine existenzielle Lehre6, die den Fokus auf die Lebensweise und -gestaltung im Hier und Jetzt legt, es lassen sich aber ebenfalls eine Reihe von Stellen – vor allem im Nachlass – finden, in denen der Schwerpunkt auf einer kosmologischen Sichtweise, im Sinne eines tatsächlichen Zirkels des Seins, liegt. Letztlich entscheidet sich Nietzsche nicht für eine der beiden Perspektiven, sondern scheint beide aufrechterhalten zu wollen. Als Formel insgesamt kann die Ewige Wiederkunft des Gleichen aus meiner Sicht aber nur bedingt überzeugen, denn zum einen läuft sie Gefahr, sich in ihrer Doppeldeutigkeit in Probleme zu verstricken, zum anderen ist die voraussetzungsreiche Annahme einer Ewigen Wiederkehr des Gleichen gar nicht notwendig für das, was Nietzsche meiner Meinung nach eigentlich mit ihr bezweckt. Hierzu wird erstens eine Auslegung zentraler Stellen vorgenommen, um die Interpretation der Ewigen Wiederkunft des Gleichen als existenzielle Formel am Text zu belegen. Der Fokus wird dabei auf der oben zitierten ersten Nennung in der Fröhlichen Wissenschaft sowie auf einige zentrale Passagen zum Thema im Zara­thustra gelegt. Zweitens wird zu belegen sein, dass auch für eine kosmo­ logische Lesart valide Textstellen zu finden sind und Nietzsche sich ernsthaft mit dieser Sichtweise auseinandersetzt. Abschließend wird im dritten Kapitel die Plausibilität der Formel insgesamt kritisch diskutiert. In diesem Zusammenhang wird unter anderem ein kurzer Bezug zu einem weiteren zentralen Philosophem Nietzsches hergestellt, dem Willen zur Macht, zu dem die Ewige Wiederkunft mindestens in einem Spannungsverhältnis steht. Mit Bezug auf die 5 FW

341, 3, S. 570. wird auch von einer »ethischen« Auslegung der Formel gesprochen – da dies aber stark mit moralischem Handeln konnotiert ist, nehme ich von dieser Bezeichnung Abstand. Aus meiner Sicht geht es darum, sich der Bedeutung jeder Handlung bewusst zu werden vor dem Horizont ihrer unendlichen Wiederkehr, nicht nur spezifisch moralischer Handlungen. 6 Häufig

»Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  75

Figur des Zirkels wird, wie oben angedeutet, argumentiert, dass eine Ewige Wiederkunft des Gleichen gar nicht notwendig ist, um den existenziellen Impuls herzustellen, um den es Nietzsche aus meiner Sicht in erster Linie geht.

1. Ewige Wiederkunft des Gleichen als existenzieller Imperativ Zurück zur oben genannten ersten Nennung der Ewigen Wiederkunft des Gleichen.7 Der Aphorismus ist, für Nietzsche typisch, nicht etwa eine direkte Verkündung seiner Lehre. Das »Setting« ist komplexer, gebrochener, multiperspektivischer: Es handelt sich um ein im Konjunktiv II formuliertes Gedankenexperiment, in dem Nietzsche den Leser fragt, wie er sich verhalten würde, wenn ihm »eines Tages oder Nachts« ein »Dämon« in die »einsamste Einsamkeit nachschliche« und die oben zitierten Sätze spräche. Es gibt hier demnach kein apodiktisches »Ich aber sage Euch«. Nietzsche scheint sich an dieser Stelle vielmehr an sein eigenes Vor­haben zu halten, sich zu hüten, »eine solche Lehre (die Ewige Wiederkunft des Gleichen, Anm.v.m.) wie eine plötzliche Religion zu lehren«.8 Aufschlussreich ist darüber hinaus der Ansatzpunkt, den der Dämon für die Ansprache wählt, nämlich »(d)ieses Leben, wie Du es jetzt lebst und gelebt hast«.9 Auch wenn es sich um ein Gedankenexperiment handelt: Es geht an dieser Stelle zunächst einmal nicht um eine abstrakte Gedankenfigur mit kosmologischer Dimension, sondern konkret um dieses Leben, wie es uns in seiner ganzen affektiven und kognitiven Fülle erfahrbar ist. Es geht um jeden »Schmerz« und um »jede Lust«, um jeden »Gedanken« und »Seufzer«. Der Dämon setzt demnach bei der Selbsterfahrung des Lesers an, bei dem, was jedem am nächsten und existenziellsten ist: dem eigenen Leben. Zeitlich gesehen, bezieht dieser Ausgangspunkt den Beginn des eigenen Lebens ein und reicht bis in die Jetztzeit, den 7 Vgl.

zum Folgenden FW 341, 3, S. 570. 1881, 11(158), 9, S. 503. 9 FW 341, 3, S. 570; H. v. m. 8 N

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aktuellen Augenblick – genau genommen bis zu jenem zukünftigen Augenblick, in dem »eines Tages oder Nachts«10 der Dämon erscheint. Dieses Elementarste erfährt nun durch den Gedanken, dass dies alles, »das unsäglich Kleine und Grosse« des eigenen Lebens, zukünftig immer und immer wiederkommen muss, aus Sicht Nietzsches offenbar eine ungeheure Relativierung: »›Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‹«11 Wodurch diese Relativierung eigentlich genau entsteht, wird im weiteren Verlauf noch genauer zu prüfen sein. Die entscheidende Frage an dieser Stelle folgt jedoch exakt auf diese Relativierung und die damit verbundene Kränkung des Menschen und lautet: Wie gehst Du persönlich damit um? Kannst Du mit dieser erschütternden Vorstellung leben? Würde sie Dich überfordern, »zermalmen«, wie Nietzsche etwas pathetisch formuliert. Oder könntest Du sie sogar als sinnvoll für Dich ansehen und annehmen, begrüßen und bejahen? In Nietzsches Worten hieße dies, dem Dämon zu antworten: »›du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‹«12 In eben dieser Haltung liegt im Übrigen auch ein zentraler Unterschied zu seinem »Erzieher« Schopenhauer, der den Kreis ebenfalls als »das ächte Symbol der Natur« ansieht, weil er »das Schema der Wiederkehr« sei, der aber in einer pessimistischen Wendung letztlich nach einem Ausstieg aus diesem Zirkel sucht, den er darin findet, dass jemand »zu diesem Spiele ein Mal aus Herzensgrund« sagt: »›Ich mag nicht mehr.‹«13 Dies ist für Nietzsche eine im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde, dekadente Sichtweise. Dem stellt er die bewusste Bejahung und die aktive Umdeutung gegenüber. Um es zu wiederholen: Der entscheidende Punkt ist die Stellung, die man als Individuum zu der Erkenntnis einnimmt, nur »Stäubchen vom Staube« zu sein, 10 Ebd. 11

Ebd., H. v. m. 341, 3, S. 570. 13 Die Welt als Wille und Vorstellung (WWV) II, 4. Buch, Kapitel 41, S. 556. Zitiert nach Arthur Schopenhauer, Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand, hg. von L. Lütkehaus, Zürich 1988. 12 FW

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und welche handlungsrelevanten Impulse man aus dieser Erkenntnis zieht. Dies ist für Nietzsche das oben angesprochene »grösste Schwergewicht«, dass man sich nach Einsicht in die Ewige Wiederkunft des Gleichen bei jeder Handlung fragen müsse: »›willst Du diess noch einmal und noch unzählige Male‹«.14 Das Gedankenexperiment der Ewigen Wiederkunft des Lebens, »wie Du es jetzt lebst und gelebt hast« mündet demnach in die Frage, ob Du wirklich so leben möchtest, wie Du lebst. Und hier liegt auch die eigentlich existenzielle Dimension: Willst Du dieses Leben noch einmal, noch mehrmals, unendlich oft – letztlich: willst Du dieses, Dein Leben, so wie es ist? Damit knüpft Nietzsche an eine der zentralen Fragen, nach meinem Dafürhalten die Kernfrage der philosophischen Tradition, an, die lautet: Wie nun aber leben?15 »Aber ob wir noch leben wollen, ist die Frage: und wie!«16 heißt es explizit in einem Nachlassfragment aus dem Jahr 1881. Nietzsche nimmt diese Frage sehr ernst, hinein bis in die alltäglichen und habituellen Lebensgewohnheiten: »Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen’s, Irren’s, unserer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens«.17

Einen Schritt weitergedacht, ergibt sich aus der Wichtigkeit dieser Frage ein Imperativ »so (zu) leben, daß wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen! – Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran«,18 wie Nietzsche in einer Nachlassnotiz aus dieser Zeit festhält. Dies erinnert natürlich an die kantische Formel vom kategorischen Imperativ19, wobei die »Gesetzmäßigkeit« 14 FW

341, 3, S. 570; H. v. m. 15 Vgl. Platon, Politeia, 353 d8; Platon: Werke in 8 Bänden, griechisch und deutsch, hg. von G. Eigler, Darmstadt 1990. 16 N 1881, 11(141), 9, S. 495. 17 Ebd., 494. 18 N 1881, 11(161), 9, S. 503. 19 Grundlegung zur Meta­phy­sik der Sitten, AA IV, S. 421; Schriften von Immanuel Kant werden unter Angabe des Titels, der Bandnummer und Seitenzahl zitiert nach: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1900 ff., Berlin (Akademie-Ausgabe, abgekürzt als AA). 78  |  Simon Springmann 

im Falle Nietzsches gleichsam in einer gesetzmäßigen Wiederkehr des exakt Gleichen bis in alle Ewigkeit besteht.20 Das Leben wird somit zu einer Aufgabe. Diese Aufgabe – von Nietzsche explizit als »Hauptgedanke« der Ewigen Wiederkunft des Gleichen charakterisiert – ist jedoch nicht primär ethisch, sondern ästhetisch zu verstehen, wie sich ebenfalls im Nachlass finden lässt: »Wir wollen ein Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies ist der Hauptgedanke! Erst am Ende wird dann die Lehre von der Wiederholung alles Dagewesenen vorgetragen, nachdem die Tendenz zuerst eingepflanzt ist, etwas zu schaffen , welches unter dem Sonnenschein dieser Lehre hundertfach kräftiger gedeihen kann!«21

In der Fröhlichen Wissenschaft heißt es, den ersten Aphorismus zur Ewigen Wiederkunft des Gleichen abschließend: »(W)ie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? —«22

Ziehen wir ein Zwischenergebnis: Nietzsche geht im ersten veröffentlichten Aphorismus zur Ewigen Wiederkunft des Gleichen von einem Gedankenexperiment aus, bei dem in einem in der (nahen) Zukunft liegenden Augenblick ein Dämon dem Leser die Erkenntnis eingibt, dass dessen bisheriges Leben noch unzählige Male wiederkehren werde, und zwar im Großen wie im Kleinen.23 Die damit einhergehende Relativierung ist eine Art Nagelprobe für das eigene Leben: Kann man dies annehmen und wollen? Mehr noch, lässt sich 20 Simmel spricht daher von einer »Längendimension« als einem end­losen

Nacheinander beim gleichen Individuum bei Nietzsche im Unterschied zu einer »Breitendimension« bei Kant als unendliche Wiederholung im Neben­ einander der Gesellschaft (vgl. G. Simmel, Nietzsche und Kant, Erstveröffentlichung: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt (Neue Frankfurter Zeitung), 50. Jg., No. 5 vom 6. Januar 1906, 1. Morgenblatt, Feuilleton-Teil, 1–2, Berlin; zitiert aus: http://www.textlog.de/6648.html; 17. Mai 2016). 21 N 1881, 11(165), 9, S. 505; H. v. m. 22 FW 341, 3, S. 570. 23 Gerade die Wiederkunft des Kleinen sowie die Erkenntnis, dass das Größte noch »allzu klein« ist, stellt für Nietzsche eine enorme Herausforderung dar (vgl. ZA, Der Genesende, 4, S. 274). »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  79

daraus ein Imperativ ableiten, so zu leben, dass man es wollen kann? Und zwar aus einer ästhetischen Perspektive mit Konsequenzen bis hinein in die alltägliche Lebensgestaltung, in die Gewohnheiten und den Habitus. Der kosmologische Aspekt einer Wiederholung von allem in der gleichen Reihenfolge ist bei diesem ersten Auftritt der Lehre nur konjunktivisch formuliert und liefert gleichsam die Hintergrund­ folie ab für den existenziellen Imperativ. Unter Umständen würde es für diesen Imperativ sogar ausreichen, sich die Welt bloß so vorzustellen, als ob sie sich ewig exakt wiederholte, also von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen als einer Art regulativen Idee auszu­ gehen.24 Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass Nietzsche die Ewige Wiederkunft des Gleichen zuallererst als existenzielles Konzept mit einem ästhetischen Anspruch an die eigene Lebensgestaltung proklamiert. Dies ist für ihn der »Hauptgedanke«, wie es oben ausdrücklich heißt. Diese These wird noch untermauert, zieht man weitere zentrale Stellen heran. Exemplarisch seien hier einige Einlassungen zum Thema aus dem Zarathustra angeführt: Im Aphorismus »Vom Gesicht und Räthsel«25 wird thematisch an das Ausgangszitat aus der Fröhlichen Wissenschaft angeknüpft. Der Kontext ist hier darüber hinaus ähnlich multiperspektivisch gehalten wie dort. Zarathustra berichtet Schiffsleuten nach einer Phase der Kontemplation von einer Vision in der Einsamkeit: In dieser hält er während einer Wanderung Zwiesprache mit seinem »Geist der Schwere«, »halb Zwerg, halb Maulwurf«, der auf ihm sitzt und lastet und ihm »Bleitropfen-Gedanken« beschert, während er durch Geröll einen Bergpfad emporsteigt. Provoziert vom Geist der Schwere ruft Zarathustra gegen Ende des ersten Abschnitts voller Emphase aus: »War das das Leben? Wohlan! Noch Ein Mal!«26 Hier wird also das Motiv der Bejahung der Wiederkunft noch einmal 24 Dieser

Aspekt wurde von einer Reihe von Interpreten angeführt, vgl. exemplarisch H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theo­re­ tischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 1920, 789 sowie F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, 175. 25 ZA, 4, S. 197 ff. 26 Ebd., 199. 80  |  Simon Springmann 

aufgegriffen, und zwar – und das ist entscheidend für unsere Fragestellung – der Bejahung der Wiederkunft des eigenen Lebens. Direkt im Anschluss folgt im zweiten Teil des Aphorismus ein weiteres Bild für den Zirkel der Ewigen Wiederkunft des Gleichen, die berühmte Szene am Torweg des Augenblicks, an dem sich zwei Wege berühren: Der Weg nach vorne sowie der Weg nach hinten. Auf den ersten Blick »widersprechen« sich diese Wege laut Zarathustra in dem Sinne, dass sie in gegensätzliche Richtungen zeigen. Auf die Frage, ob sich diese Wege wohl ewig widersprechen, auch wenn man einen von ihnen immer weiter ginge, antwortet der Zwerg: »Alles Gerade lügt (…). Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.«27 Die etwas lapidar vorgetragene Antwort befriedigt Zarathustra noch nicht, er schildert dem Zwerg mit zunehmender Eindringlichkeit die Konsequenz dieser Über­legungen, nämlich, dass alles schon einmal dagewesen sein und immer wiederkehren müsse, bis er schließlich mit immer leiser werdender Stimme die entscheidende Frage stellt: »müssen wir nicht ewig wiederkommen? –«28 Dies ist das Entscheidende an der Erkenntnis einer kosmologischen Zirkularität, dass sie auf das eigene Leben im Hier und Jetzt, auf die eigene Lebensführung, zurückweist: »oh wie ertrage ich noch zu leben! Und wie ertrüge ich’s jetzt zu sterben! –«,29 heißt es zum Abschluss dieses Aphorismus. Hier zeigt sich meines Erachtens einmal mehr, dass es Nietzsche weniger um kosmologische Über­legungen zur Kreisförmigkeit aller Prozesse oder der Zeit an sich geht. Erst der Bezug auf das eigene Leben bedeutet etwas, macht diesen Gedanken zu etwas Bedeutendem und fordert den Einzelnen heraus, in seinem Leben Stellung zu beziehen. Drastisch ausgedrückt wird das im gleichen Aphorismus durch das Bild der schwarzen Schlange, die dem Hirten (sprich: Zarathustra30), in den Mund kriecht und sich dort verbeißt. Es handelt sich bei der Ewigen Wiederkunft des Gleichen, so die Aussage, nicht um eine beliebige Theo­rie oder Meta­phy­sik, sondern um eine existenzielle Herausforderung, um die Entscheidung, zuzubeißen oder zu sterben. »Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf 27 Ebd.,

200. 28 Ebd., H. v. m. 29 Ebd., 202. 30 Vgl. ebd., 273. »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  81

ab! Beiss zu!«31 Eindringlicher kann die Forderung, in der eigenen Existenz Stellung zu beziehen, kaum ausfallen.

2. Ewige Wiederkunft des Gleichen als kosmologischer ­Zirkel Im vorangegangenen Kapitel wurde eine Interpretation der Ewigen Wiederkehr des Gleichen als existenzielle Lehre stark gemacht. Allerdings lassen sich auch Stellen finden, die auf eine ontologischkosmologische Deutung verweisen, so zum Beispiel in einem weiteren zentralen Aphorismus aus dem Zarathustra, dem längsten zum Thema Ewige Wiederkehr des Gleichen überhaupt. Dort lässt Nietzsche Zarathustras Tiere das diesem Text vorangestellte Zitat aufsagen: »Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. A ­ lles stirbt, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins.   Alles scheidet, Alles grüsst sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.   In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit. –«32

Hieran wird zweierlei deutlich: zum einen noch einmal der explizite Bezug der Ewigen Wiederkehr des Gleichen zu der Figur des Zirkels. Zum anderen, und damit zusammenhängend, die Bedeutung der kosmologischen Lesart, die ja von einer tatsächlichen Zirkularität des Daseins ausgeht im Sinne einer exakt identischen ewigen Wiederkehr aller Ereignisse. Direkt im Anschluss schilt Zarathustra seine Tiere zwar: »Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln!« und wirft ihnen vor, ein »LeierLied« aus seiner existenziellen Erfahrung zu machen, erneut symbolisiert durch das Abbeißen des Schlangenkopfes. Andererseits aber lächelt er auch und lobt sie: »wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: –«.33 Daraus lässt sich meines Erachtens ableiten, dass die kosmologische »Lehre von der Wiederholung alles 31 Ebd.,

201. Der Genesende, 4, S. 273. 33 Ebd. 32 ZA,

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Dagewesenen« von Nietzsche keinesfalls verworfen wird, wenn sie vielleicht auch nicht den gleichen Stellenwert hat wie die existenzielle Auslegung.34 Auch die weiter oben bereits zitierte Torweg-Stelle aus dem Zarathustra kann man in dieser Weise lesen. Denn dort ist nicht ausschließlich von der individuellen Wiederkehr die Rede, sondern explizit von der Wiederkehr »von allen Dingen«,35 beispielsweise von der Spinne, dem Mondschein oder dem Torweg. Eine höchst aufschlussreiche Stelle für die These eines von Nietzsche intendierten Nebeneinanders von existenzieller und kosmologischer Lesart findet sich direkt im Umfeld der oben zitierten Nachlassfragmente aus dem Frühjahr/Herbst 1881. Dort heißt es: »Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls!«36

Hier wird zum einen, die Ausführungen aus Abschnitt 1 bestätigend, der existenzielle Aspekt einmal mehr untermauert und explizit als Nietzsches Lehre tituliert – direkt im Anschluss folgt aber der nicht weniger explizite und mit einem Ausrufezeichen versehene ontologische Nachsatz: »du wirst es jedenfalls!« Hier ist kein Gedankenexperiment und kein Konjunktiv mehr zu finden – Nietzsche geht an dieser Stelle demnach offensichtlich von einer tatsächlichen Wiederkehr aus, nicht von einer rein regulativen Idee oder einem vagen »als ob«. In diese Richtung weist auch eine Reihe weiterer Stellen aus dieser Zeit, in denen er sich um eine quasi-naturwissenschaftliche Begründung des Wiederkehr-Gedankens bemüht. Der Grundgedanke, den Nietzsche unter anderem in Auseinandersetzung mit Vogts Die Kraft (1878)37 und Zöllners Ueber die Natur der Cometen (1870) entwickelte, ist dabei folgender: Es gibt nur eine endliche Masse von Kräften und somit Materie, denn Materie ist für Nietzsche nichts anderes als Kraft, letztlich Willen zur Macht. 34 Vgl.

N 1881, 11(165), 9, S. 505. Vom Gesicht und Räthsel, 4, S. 200. 36 N 1881, 11(163), 9, S. 505; H. v. m. 37 Vgl. dazu detaillierter z. B. M. Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff: Nietzsches Auseinandersetzung mit J. G. Vogt, in: NietzscheStudien 13 (1984), 211–227. 35 ZA,

»Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  83

Dem steht aber eine unendliche Zeit gegenüber. Folglich, so Nietzsche, müsse jede Kräftekonstellation irgendwann exakt wiederkehren. So heißt es zum Beispiel in einem Nachlassfragment hierzu: »Die Welt der Kräfte erleidet keine Verminderung: denn sonst wäre sie in der unendlichen Zeit schwach geworden und zu Grunde gegangen. Die Welt der Kräfte erleidet keinen Stillstand: denn sonst wäre er erreicht worden, und die Uhr des Daseins stünde still. Die Welt der Kräfte kommt also nie in ein Gleichgewicht, sie hat nie einen Augenblick der Ruhe, ihre Kraft und ihre Bewegung sind gleich groß für jede Zeit. Welchen Zustand diese Welt auch nur erreichen kann, sie muß ihn erreicht haben und nicht einmal, sondern unzählige Male. So diesen Augenblick: er war schon einmal da und viele Male und wird ebenso wiederkehren, alle Kräfte genau so vertheilt, wie jetzt.«38

Dieser Gedanke beschäftigt Nietzsche über einen längeren Zeitraum, und er lässt sich auch in Nachlass-Aufzeichnungen Jahre später finden: »Wenn die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden darf – und jede andere Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar – so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Combinationen, im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Combination irgendwann einmal erreicht sein; mehr noch, sie würde unendliche Male erreicht sein.«39

Nietzsche sieht sich mit seinen diesbezüglichen Über­legungen im Übrigen im Einklang mit den naturwissenschaftlichen Theo­rien seiner Zeit, in der ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage einer Wiederholung physikalischer Zustände ernsthaft diskutiert wurde. Unter Bezugnahme auf den Energieerhaltungssatz von Helmholtz formuliert er beispielsweise Jahre später, ebenfalls im Nachlass: »Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr.«40 Diese Bezugnahme Nietzsches auf die Naturwissenschaften kann hier nicht weiter verfolgt und in den Einzelheiten rekonstru­ 38 N

1881, 11(148), 9, S. 498. 1888, 14(188), 12, S. 376. 40 N 1887, 5(54), 12, S. 205. 39 N

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iert werden.41 An dieser Stelle ging es nur darum, die These zu untermauern, dass Nietzsche eine kosmologische Lesart der Ewigen Wiederkehr keinesfalls aufgegeben hat. Zum Abschluss dieses Abschnitts ist in unserem Kontext der Zirkularität noch darauf hinzuweisen, dass Nietzsche den Kreis selbst nicht als etwas Entstandenes, sondern eine Art »Urgesetz« auffasst: »Hüten wir uns, das Gesetzt dieses Kreises als geworden zu denken, nach der falschen Analogie der Kreisbewegungen innerhalb des Ringes: es gab nicht erst ein Chaos und nachher allmählich eine harmonischere und endlich eine feste kreisförmige Bewegung aller Kräfte: vielmehr alles ist ewig, ungeworden: wenn es ein Chaos der Kräfte gab, so war auch das Chaos ewig und kehrte in jedem Ringe wieder. Der Kreislauf ist nichts Gewordenes, er ist das Urgesetz, so wie die Kraftmenge Urgesetz ist, ohne Ausnahme und Übertretung. Alles Werden ist innerhalb des Kreislaufs und der Kraftmenge; also nicht durch falsche Analogie die werdenden und vergehenden Kreisläufe z.B. der Gestirne oder Ebbe und Fluth Tag und Nacht Jahreszeiten zur Charakteristik des ewigen Kreislaufs zu verwenden.«42

Die ersten beiden Kapitel zusammenfassend, lässt sich als Fazit festhalten, dass es gute Gründe gibt, Nietzsches Ewige Wiederkunft des Gleichen als existenziellen Lehrsatz zu lesen, der uns dazu auffordert, uns mit diesem jetzigen Leben ernsthaft auseinanderzusetzen. An einigen Stellen ist die Lehre wie gesehen sogar als eine Art Imperativ zu verstehen, sein Leben so zu leben, als ob es ewig wiederkehrte. Der Anspruch ist dabei ein ästhetischer: Gestalte Dein Leben so, dass Du es noch einmal (er-)leben willst, beziehungsweise (er-) ­leben wollen kannst oder sogar musst.43 Ziel ist es, das Leben aus einer künstlerisch-ästhetischen Perspektive zu sehen, selbst schaffend zu gestalten und aktiv mit Sinn zu versehen. Dabei werden auch alltägliche Kleinigkeiten bedeutsam, als »Wurzel der Gewohnheiten« sowie als »ewig und ebenfalls Ewiges bedingend«, wie es im Nach41 Vgl.

dazu u. a. K. Spiekermann, Naturwissenschaft als subjektlose Macht? Nietzsches Kritik physikalischer Grundkonzepte, Berlin/New York 1992. 42 N 1881, 11(157), 9, S. 502. 43 Die Formulierungen, die Nietzsche wählt, variieren an diesem Punkt, wie gesehen, vgl. z. B. Aphorismen 11(165) und 11(163) in N 1881, 9, S. 505 sowie FW 341, 3, S. 570. »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  85

lass einmal heißt.44 Hierzu dient die Perspektive einer onto­logischen Ewigen Wiederkunft des Gleichen gleichsam als Horizont, die uns zu einer Haltung nötigt. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass auch für eine eigenständige ontologisch-kosmologische Auslegung valide Textnachweise zu finden sind, die sich insbesondere auf Über­legungen zur Welt als Kräfte-Konstellation stützen und die nicht zuletzt durch Nietzsches Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Über­ legungen seiner Zeit inspiriert sind. Nietzsche lässt sich demnach nicht festlegen auf eine der beiden Auslegungen der Wiederkunftslehre. Vielmehr scheint er beide Varianten nebeneinander bestehen lassen zu wollen. Die beiden Interpretationen stehen allerdings keinesfalls in einem spannungsfreien Verhältnis, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, in dem das Konzept von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen als ganzes einer kritischen Diskussion unterzogen wird.

3. Kritische Diskussion der Ewigen Wiederkehr des Gleichen Um vorweg klar Position zu beziehen: Die Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen ist aus meiner Sicht insgesamt nicht besonders überzeugend. Und dies aus zwei Gründen: Zum einen halte ich die Formel alles in allem für wenig plausibel. Zum anderen erscheint mir die voraussetzungsreiche Annahme einer Ewigen Wiederkunft des Gleichen gar nicht notwendig für das, was Nietzsche nach meinem Verständnis mit ihr eigentlich bezweckt. Zum ersten Aspekt, der Plausibilität der Formel. Beginnen wir mit der kosmologischen Auslegung. Es sei noch einmal an den Grundgedanken erinnert: Einer endlichen Masse von Kraft steht eine unendliche Zeit gegenüber, so dass jede Kräftekonstellation irgendwann exakt wiederkehren muss. Formaler gefasst, gibt es also zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 eine bestimmte Kräftekonstellation k0, auf welche die Konstellationen k1, k2, k3, k4…kn folgen, bis zu einem zukünftigen Zeitpunkt wieder die Ausgangskonstellation k0 auftritt. Dieses Konzept ist häufig und treffend kritisiert worden. 44 N

1881, 11(167), 9, S. 506.

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An dieser Stelle sollen nur einige der wichtigsten Problemkomplexe angerissen werden. Erstens sind die (impliziten) Grundannahmen zu hinterfragen: Beispielhaft sei hier die Annahme eines endlichen Raums angeführt. Würde das Universum sich nämlich, wie es heute von den meisten Astrophysikern vertreten wird, unendlich ausdehnen, so ist es keineswegs der Fall, dass aufgrund unendlicher Zeit und endlicher Kraft alle Konstellationen wiederkehren müssen. Vielmehr könnten sich unendlich lange immer neue Kräftekonstellationen und somit Weltzustände herausbilden.45 Zweitens ist aus meiner Sicht zumindest zu thematisieren, ob es nicht etwas anderes ist, wenn eine Konstellation k in t0 oder zu einem zukünftigen Zeitpunkt t0' auftritt, in dem sich das »Rad des Seins« wieder an der gleichen Stelle befindet. Anders gefragt: Macht nicht bereits der Zeitindex als solcher, ceteris paribus, einen Unterschied, sozusagen die Anzahl der Umdrehungen des Rades, so dass vielmehr von k0' gesprochen werden müsste?46 Ein weiterer Kritikpunkt betrifft drittens die unterstellte »Identität«, und zwar sowohl der Gesamt-Konstellationen k1, k2…kn insgesamt sowie ihrer »Teile« (wie z.B. Ding, Mond, Spinne, Subjekt etc.) in t1, t2,…tn. Denn laut Nietzsches eigener Auffassung gibt es nichts Gleiches in der Welt.47 Er wendet sich gerade gegen diese Verdinglichung mitsamt ihrer Vorstellung von Identität über die Zeit. Wie plausibel ist es dann, Identität – wenn schon nicht »innerhalb des Rings«48 – zwischen den einzelnen Kreisen und den in ihnen stattfindenden Ereignissen zu unterstellen? 45 Vgl.

dazu z. B. N 1885, 35(54), 11, S. 536. Die Aktualität des Wiederkunftsgedankens in der modernen physikalischen Kosmologie verteidigt demgegenüber Vaas (vgl. R. Vaas, »Ewig rollt das Rad des Seins«: Der ›EwigeWiederkunfts-Gedanke‹ und seine Aktualität in der modernen physikalischen Kosmologie, in: Helmut Heit, Günter Abel, Marco Brusotti (Hrsg.), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie, Berlin/New York 2012, 371–390). 46 Hier ließe sich einwenden, dass hier weiterhin von einem (falschen oder zumindest unpassenden) linearen Zeitverständnis mit einem Nacheinander von k0 und k0' ausgegangen wird. Dies scheint mir dann allerdings bei Nietzsche selbst auch der Fall zu sein (vgl. z. B. ZA, Vom Gesicht und Räthsel 2, 4, S. 201). 47 Vgl. z. B. N 1887, 9(97), 12, S. 389. 48 N 1881, 11(157), 9, S. 502. »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  87

Selbst wenn man viertens einmal die vorangegangenen Kritikpunkte unberücksichtigt lässt und davon ausgeht, dass k0 exakt wiederkehrt, ist damit aus meiner Sicht nicht gleichermaßen gesagt, dass auf k0 wiederum automatisch k1, k2…kn folgen. Sprich: Selbst wenn man von immer wiederkehrenden Kräftekonstellationen ausgeht, geht damit nicht notwendigerweise einher, dass sie in immer der exakt gleichen Reihenfolge wiederkehren. Dies ist nur unter der Zusatzannahme einer kausalen Determiniertheit der Fall, die Nietzsche auch tatsächlich vor Augen zu haben scheint, wenn er Zarathustra vom »Knoten von Ursachen« sprechen lässt, in den er »verschlungen« sei.49 Explizit dazu heißt es im Nachlass von 1888: »Und da zwischen jeder ›Combination‹ und ihrer nächsten ›Wiederkehr‹ alle überhaupt noch möglichen Combinationen abgelaufen sein müßten und jede dieser Combinationen die Folge der Combinationen in derselben Reihenfolge bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt.«50

Andererseits stellt Nietzsche eine solche deterministische Auffas­ sung an unzähligen Stellen in seinem Werk in Frage und kritisiert sie explizit.51 Sie widerspricht darüber hinaus im Kern seiner Auffassung einer Welt als miteinander im Kampf liegender Willen zur Macht.52 Eine solche Welt ist durch Kraft-Quanten geprägt, »deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszu­ üben«,53 und die sich wechselseitig erobern, vergewaltigen, einverleiben wollen und gleichzeitig gegen die Einverleibung durch andere Machtquanten zur Wehr setzen und Widerstand leisten. In einer solchen Konzeption der Welt als Netz aus Willen-zur-Macht-Kon­ stel­lationen, »als dynamische Quanta in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten«,54 entscheidet sich jeden 49 Vgl.

ZA, Der Genesende, 4, S. 276 und ZA, Vom Gesicht und Räthsel 2,

4, S. 200. 50 N 1888, 14(188), 12, S. 376; H. v. m. 51 Vgl. exemplarisch N 1887, 9(91), 12, S. 383 ff. 52 Vgl. zu Nietzsches Konzeption der Willen zur Macht ausführlicher S. Springmann, Macht und Organisation. Die Machtkonzeption bei Friedrich Nietzsche und in der mikropolitischen Organisationstheorie, Berlin 2010. 53 N 1888, 14(81), 13, S. 261. 54 N 1888, 14(79), 13, S. 259. 88  |  Simon Springmann 

Augenblick neu, in welche Richtung ein Werden, ein Wirken überhaupt entsteht. Ein solcher pluraler Wille zur Macht, verstanden als eine komplexe und unvorhersehbare Spannungskonstellation, ja als »Pathos«, ist laut Nietzsche die »elementarste That­sache« zu der wir kommen können und »aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt …«55 Es kann daher im Innersten der Welt auch keinen Mechanismus und kausalen Determinismus geben, denn es gibt in einer solchen Welt der dynamischen Willen zur Macht »kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz.«56 Aus meiner Sicht ist die Konzeption einer Welt als Wille(n) zur Macht daher nicht ohne Weiteres kompatibel mit der Vorstellung einer ewigen Wiederkehr des Gleichen.57 Die bisherigen Kritikpunkte betreffen primär die kosmologische Auslegung der Wiederkunftslehre. Erweitern wir den Fokus wieder von der kosmologischen Interpretation auf die Formel insgesamt, inklusive existenziellem Imperativ, so fällt ein eklatantes Problem auf: Wenn alles unzählige Male in exakt »der selben Reihe und Folge«58 zukünftig wiederkehren muss, wie es die kosmologische Sicht propagiert, dann müsste es auch bereits unzählige Male in der Vergangenheit stattgefunden haben, was Nietzsche ja auch ausdrücklich einräumt.59 Abgesehen von der Frage nach dem Anfang dieses 55 Ebd.

56 Ebd.,

258. Die an verschiedenen Stellen eingestreute Kritik des Mechanismus kulminiert in dem oben zitierten, gleichnamigen Fragment aus dem Jahre 1888 (vgl. N 1888, 14(79), 13, S. 258), in dem Nietzsche eine Bilanz seiner Kritik an einer rein mechanistisch verstandenen Kraft zieht (vgl. Springmann, Macht und Organisation, 35 ff.). Für Nietzsche selbst ist die Konzeption der Ewigen Wiederkehr des Gleichen allerdings anscheinend »nicht ohne weiteres eine mechanistische: denn wäre sie das, so würde sie nicht eine unendliche Wiederkehr identischer Fälle bedingen, sondern einen Finalzustand. Weil die Welt ihn nicht erreicht hat, muß der Mechanismus uns als unvollkommene und nur vorläufige Hypothese gelten.« (N 1881, 14(188), 13, S. 376) 57 Zu einem groß angelegten Versuch, diese beiden zentralen philosophischen Konzepte Nietzsches in Einklang miteinander zu bringen, vgl. G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984; eine Kritik dieses Versuchs unternimmt V. Gerhardt, Gipfel der Internität. Zu Günter Abels Rekonstruktion der Wiederkehr, in: Nietzsche Studien 16 (1987), 444–466. 58 FW 341, 3, S. 570. 59 Vgl. ZA, Der Genesende, 4, S. 276. »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  89

Zirkels, einem weiteren Problembereich, stellt sich damit natürlich die Frage nach der Möglichkeit und dem Sinn des existenziellen Imperativs, so zu leben, dass man in Ewigkeit immer wieder so leben wollen kann. Denn es wären ja gar keine Freiheitsgrade vorhanden, danach zu leben – genau genommen, bestünden nicht einmal die Freiheitsgrade, dies zu denken oder nicht.60 Vielmehr müssten alle Gedanken und Entscheidungen bereits (unendliche Male) getroffen worden sein und somit feststehen. Der existenzielle Imperativ wäre somit sinnlos und würde ins Leere laufen.61 Die kosmologische Lesart macht die existenzielle demnach einerseits unmöglich. Andererseits ist letztere aber aus Nietzsches Sicht offensichtlich auf erstere angewiesen. Nietzsche benötigt nach eigener Auffassung die tatsächliche Ewige Wiederkehr des Gleichen in der Zukunft offensichtlich als Impuls, um der Handlung im jetzigen Augenblick eine Bedeutung zu verleihen: »Wie kann man dem Nächsten Kleinen Flüchtigen Bedeutung geben? A) Indem man es als Wurzel der Gewohnheiten begreift B) als ewig und ebenfalls Ewiges bedingend.«62

Die existenzielle Interpretation muss demnach, wenn sie eine Grundlage haben soll, von einer tatsächlichen ewigen Wiederkehr der getätigten Handlungen in der Zukunft ausgehen. Und – unabhängig davon, ob sie es wirklich müsste oder nicht – Nietzsche tut 60 Ebenso wenig übrigens wie für das Konzept »amor fati«, also die Umfor-

mung des »›Es war‹« durch den Willen zum »›Aber so wollte ich es! So werde ich’s wollen –‹« (ZA, Von alten und neuen Tafeln 2–4, 4, S. 249). 61 In diese Richtung gehen auch die Über­legungen Kaulbachs: »Wäre der Gedanke der ewigen Wiederkehr wirklich als objektive Erkenntnis des Weltprozesses zu werten, dann gäbe es die Über­legung der Ausrichtung unseres Handelns auf ihn nicht: denn dann würde der gewöhnliche Fatalismus gelten müssen, der vielmehr lähmend als herausfordernd auf unser Handeln wirkt. Denn er lässt ja doch alles wiederkehren, so wie es ist und von Anfang an war, und es ist ganz gleichgültig, ob ich mir diese Wiederkehr zur Sinndevise meines Seins mache oder nicht, ob ich eine Wirkung des Gedankens der Wiederkehr erwäge oder nicht, ob ich etwas unternehme oder nicht.« (Kaulbach, Nietzsches Idee, 124) Dem ist zuzustimmen. Mehr noch: Bei einer vollständigen Prädetermination alles Geschehens ist es nicht nur »gleichgültig«, ob ich mir die Wiederkehr zur »Sinndevise meines Seins« mache oder nicht, es ist festgelegt. 62 N 1881, 11(167), 9, S. 506. 90  |  Simon Springmann 

dies ja auch explizit. Erinnert sei hier exemplarisch an das oben bereits angeführte Zitat: »Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls!«63

Das bedeutet, Du wirst wieder leben, auch wenn Du nicht danach handelst und lebst und nicht daran glaubst. Die Formel ist demnach in ihrer Doppelbedeutung widersprüchlich, so die hier vertretene These: Die existenzielle Perspektive wird einerseits stark gemacht und als zentral herausgestellt, andererseits wird ebenfalls die kosmo­logische Sicht proklamiert, die erstere wiederum unmöglich macht. Diesen ersten Abschnitt der Kritik abschließend, lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Formel der Ewigen Wiederkunft des Gleichen insgesamt nicht hinreichend plausibel ist. Zweitens, so meine These, ist die voraussetzungsreiche und problematische Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen gar nicht notwendig für das, was Nietzsche aus meiner Sicht mit ihr bezweckt. Was ist das? Wie in Abschnitt 1 herausgearbeitet, geht es Nietzsche meines Erachtens darum, dass die Menschen sich ernsthaft die philosophische Kernfrage stellen: Wie aber leben – das heißt, wie will ich mein eigenes Leben leben? Es geht also darum, aktiv eine Stellung zur eigenen Existenz zu entwickeln, sein Leben gleich einem Kunstwerk zu gestalten – und nicht zuletzt sich und seinem Leben damit vor dem Hintergrund einer an sich sinnlosen Welt einen Sinn zu geben.64 Dafür möchte Nietzsche den Augenblick in den Fokus rücken, das Hier und Jetzt aufwerten und ihm eine möglichst große Bedeutung verleihen. Für dieses Anliegen ist aus meiner Sicht die Ewige Wiederkehr des Gleichen gar nicht notwendig. Warum? Zur Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, für einen Moment zum Ausgangspunkt der Über­legungen in den Fröhlichen Wissenschaften zurückzukommen. Wie gesehen, bewirkt für Nietzsche die Einsicht in die Ewige Wiederkunft des Gleichen eine enorme Relativierung des Menschen: »›Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder 63 N

1881, 11(163), 9, S. 505; H. v. m.

64 Für eine konsequente Interpretation des Nietzsche’schen Gesamtwerkes

als Sinnphilosophie vgl. V. Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 42006. »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  91

umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‹«65 Diese Relativierung und Depotenzierung geht mit einer Kränkung des menschlichen Selbstverständnisses einher. Der Mensch merkt, dass er nicht der Mittelpunkt des Universums ist, dass er von der Welt kein Ziel, keinen Zweck, kurz: keinen Sinn zu erwarten hat. Erst diese Herausforderung ermöglicht es dem Menschen aber, sich zu beweisen und eine gleichsam heroische Haltung zu der niederschmetternden Erkenntnis einzunehmen.66 Nietzsche benötigt also gewissermaßen das Pathos, die Erhabenheit und Gravität der Ewigen Wiederkunft des Gleichen samt der damit verbundenen Heraus­forderung, um die Bedeutung des eigentlichen »Haupt­gedankens« zu steigern: Künstler seines eigenen Lebens zu sein und so zu leben, wie man es wirklich will. Darauf deutet aus meiner Sicht im Übrigen auch die reichlich übersättigte Inszenierung des Gedankens in termino­ logischer Hinsicht (»grösstes Schwergewicht«, »großer Mittag«, »Wendepunkt der Geschichte« etc.), sowie bezüglich seiner (angeblichen) Genese hin.67 Exakt an diesem Ausgangspunkt soll hier eingehakt und nachgefragt werden, woher denn eigentlich die oben angesprochene drastische Relativierung des Menschen genau kommt? Warum sind wir plötzlich vor dem Hintergrund des Gedankens einer ewigen Wiederkunft des Gleichen nur noch »Stäubchen vom Staube«? Und was ändert sich an der Stellung des Menschen im Kosmos durch andere Sichtweisen, beispielsweise, wenn das Leben als einmaliger Vorgang in der Unendlichkeit der Zeit gesehen wird? Aus meiner Sicht ist es weder der Punkt der Wiederkehr, der ja auch positiv gesehen werden könnte, immerhin wiederholt sich ja auch alles »im Grössten«,68 noch der Wiederkehr des Gleichen, der zumindest mit Monotonie in Verbindung gebracht werden 65 FW

341, 3, S. 570; H. v. m. (Nietzsches Idee, 177)) spricht in diesem Kontext davon, dass die Perspektive der Ewigen Wiederkehr eine »auswählende Funktion in dem Sinne hat, daß sie diejenigen vernichtet, die am Sinn überhaupt verzweifeln, wenn sie ihn nicht mehr in der Welt vorfinden können.« Vgl. auch F. Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, in: Nietzsche-Studien 8 (1979), 127–156, hier: 142. 67 Vgl. z. B. N 1883, 16(49), 10, S. 515, EH, 6, S. 335 ff. sowie N 1881, 11(141), 9, S. 494; vgl. auch Brief an F. Overbeck vom 8.3.1884, KSB 6, S. 485. 68 ZA, Der Genesende 2, 4, S. 276; H. v. m. 66 Kaulbach

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könnte69, sondern es ist vielmehr die Vorstellung einer Ewigen Wiederkunft des Gleichen, also genau genommen: die Vorstellung der Ewigkeit, vor deren unvorstellbarer Dimension der Mensch sich selbst plötzlich marginal erscheint. Die schiere Unendlichkeit der Zeit (ebenso im Übrigen wie die unvorstellbare Ausdehnung des Raums des Universums) bewirken die »kosmologische Kränkung«, die Freud einmal unter Rekurs auf die kopernikanische Wende diagnostiziert hat70 und die sich bei Nietzsche bereits in der Einleitung zu »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« von 1873 insbesondere mit Blick auf den menschlichen Intellekt ausformuliert findet: »In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben.—So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder vorbei mit ihm ist, wird sich nichts begeben haben.«71

Nietzsche strebt hier ausdrücklich eine Depotenzierung und Relativierung des mit dem »Erkennen und Empfinden verbundene(n) Hochmuth(s)«72 des Menschen an, also exakt jener affektiven und kognitiven Aspekte, die oben im Zitat aus der »Fröhlichen Wissenschaft« als »Schmerz«, »Lust«, »Gedanken« etc. angesprochen worden sind. Diese uns so wichtigen Zustände unseres eigenen Lebens – »Menschen-Schmerz« ist »der tiefste Schmerz«,73 dies gilt besonders für den eigenen Schmerz – sind vor dem Hintergrund 69 Nietzsche

warnt aber davor, den Zirkel nach unseren Bedürfnissen zu beurteilen, »als langweilig, dumm usw.« (N 1881, 11(157), 9, S. 502). 70 S. Freud, Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften V (1917), 1–7; zitiert aus: http://www.gutenberg.org/ files/29097/29097-h/29097-h.htm; 17. Mai 2016. 71 WL, 1, S. 875; H. v. m. 72 Ebd., 876. 73 ZA, Vom Gesicht und Räthsel 4, S. 199. »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  93

der »unendlichen Weiten« von Zeit und Raum geradezu irrelevant und sinnlos, so die Diagnose. Das Interessante daran für unseren Kontext ist, dass es offensichtlich also keiner zirkulären Struktur bedarf, um den Effekt der Relativierung und der damit verbundenen existenziellen Herausforderung hervorzurufen, sondern dass ein unendlicher Zeitstrahl, gleichsam ein »zeitlich infiniter Regress«, hierzu vollkommen hinreicht, ohne die oben angesprochenen Probleme mit sich zu bringen.74 Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass Nietzsche sich mit diesen Gedanken einmal mehr als gelehriger Schüler Schopenhauers erweist – nicht umsonst stammt die Schrift »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne« aus einer Zeit, als Nietzsche »Schopenhauer als Erzieher«75 geschrieben hat. Zu Beginn des zweiten Bandes von Schopenhauers Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« findet sich eine ähnlich lautende Stelle: »Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welche etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine mißliche Lage, auf einer jener zahllosen im gränzenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehen, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu seyn von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drängen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit: dabei nichts Beharrliches, als allein die Materie und die Wiederkehr der selben, verschiedenen, organischen Formen.«76

Und Schopenhauer seinerseits ist hier durch Kants berühmtes Diktum in der Kritik der praktischen Vernunft geprägt: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«77 74 Dass

mit der Vorstellung eines unendlichen Zeitstrahls natürlich auch Probleme verbunden sind, ist damit selbstverständlich nicht in Abrede gestellt. 75 UB III, 1, S. 335 ff. 76 WWV II, S. 11; H. v. m. 77 KpV, Beschluss, AA V, S. 161. 94  |  Simon Springmann 

Im gleichen Abschnitt findet sich einige Zeilen weiter die folgende Aussage über den Menschen, um die es hier geht: »Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines thierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt dagegen meinen Werth, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Thierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt.«78

Nietzsche kannte diese Stelle und exzerptierte sie in Teilen, allerdings bezeichnenderweise nur bis »unendlich«.79 Das »moralische Gesetz« als solches kann für Nietzsche den Menschen nicht gegenüber der vernichtenden Unendlichkeit von Zeit und Raum aufwerten und sinnstiftend wirken, ebenso wenig wie der Intellekt.80 Aber genau darum scheint es Nietzsche zu gehen: Wie kann man sich als Mensch zu der ungeheuerlichen Relativierung durch die Unendlichkeit positionieren, letztlich: Wie kann man in Anbetracht dieser Erkenntnis sinnvoll weiterleben? Und hierzu ist, wie gesehen, gar kein zeitlicher Zirkel notwendig, sondern es reicht ein »regressus in infinitum«81 in zeitlicher Hinsicht vollkommen aus. Die konkrete, inhaltliche Ausgestaltung der Lebensführung kann dabei ganz individuell ausfallen:

78 Ebd.,

162. N 1886/7, 7(4), 12, S. 269. 80 »Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt.« (WL, 1, S. 875) 81 N 1888, 14(88), 13, S. 375. 79 Vgl.

»Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  95

»Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl giebt und kein Mittel scheuen!«82

Es ist also der Gedanke der Ewigkeit, nicht der Wiederkehr oder der Wiederkehr des Gleichen, durch den der Mensch existenziell herausgefordert wird, und zwar durch den Gedanken der Ewigkeit vor und nach unserem kurzen Leben. Auch Schopenhauer betont die Herausforderung durch letztere: »Eine ganze Unendlichkeit ist abgelaufen, als wir NOCH NICHT waren: aber das betrübt uns keineswegs. Hingegen, daß nach dem momentanen Intermezzo eines ephemeren Daseyns eine zweite Unendlichkeit folgen sollte, in der wir NICHT MEHR seyn werden, finden wir hart, ja unerträglich.«83

Seinen pessimistischen »Lösungsansatz« diesbezüglich muss man jedoch nicht teilen: »Dann aber kann ich mich über die unendliche Zeit nach meinem Tode, da ich nicht seyn werde, trösten mit der unendlichen Zeit, da ich schon nicht gewesen bin, als einem wohl gewohnten und wahrlich sehr bequemen Zustande. Denn die Unendlichkeit a parte post ohne mich kann so wenig schrecklich sey, als die Unendlichkeit a parte ante ohne mich; indem sich beide durch nichts sich unterscheiden als durch die Dazwischenkunft eines ephemeren Lebenstraums.«84

Meines Erachtens ließe sich vielmehr Nietzsches existenzieller Grund­ impuls einer gesteigerten Bedeutung und Bewusstheit der eigenen Lebensführung und -gestaltung aufgreifen, auch ohne Wiederkunfts­ gedanken. Allein die Perspektive des eigenen (kurzen) Lebens vor dem Horizont unendlicher Weiten und unendlicher Zeitläufe sollte als Herausforderung genügen, um sich ernsthaft die gleiche Frage wie Nietzsche zu stellen: »Was machen wir mit dem Reste unseres

82 N

1881, 11(163), 9, S. 505. II, 4. Buch, Kapitel 41, S. 541. 84 Ebd. 83 WWV

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Lebens«?85 »Es gilt die Ewigkeit!«,86 wie er im Kontext der Ewigen Wiederkunft des Gleichen formuliert, steht in einer derartigen umgedeuteten Perspektive für sich allein und benötigt keine zirkuläre Wiederkehr des Gleichen. Positiv gewendet kann man auch gerade die Singularität dieses einen Lebens innerhalb der Ewigkeit herausstreichen und bejahen und somit die Bedeutung des eigenen Lebens im Hier und Jetzt. Der entsprechende Imperativ dazu hieße »Lebe so, als ob es Dein Leben in alle Ewigkeit nur ein einziges Mal gibt!« – das ist meines Erachtens plausibler als eine Ewige Wiederkunft des Gleichen und erzielt einen ähnlichen Effekt: Es lenkt den Fokus auf das eigene Leben in diesem Augenblick und führt zu dem Anspruch an ein bewusst gestaltetes und intensiviertes Leben, dem aktiv ein Sinn gegeben werden muss. Nietzsches emphatischer Ausspruch »Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!«87 bekäme in einem derartigen Verständnis eine ganz neue Pointe.

85 N

1881, 11(141), 9, S. 494. Geistesgeschichtlich betrachtet, gibt es natürlich auch andere Beispiele für die intensive Auseinandersetzung mit genau dieser Frage. Neben der oben bereits angedeuteten Tradition der griechischantiken Philosophie ließe sich hier auch die christlich-eschatologische Tradition anführen. 86 N 1881, 11(163), 9, S. 505. 87 N 1881, 11(159), 9, S. 503. »Ring der Ringe«, »Rad des Seins«  |  97

II. Regress und Zirkel als Formen der Argumentation

Holm Tetens

Abbruch, Regress, Zirkel Ein unvermeidbares Trilemma jeder Begründung? 1. Diesseits des Münchhausen-Trilemmas Der Einstieg in das tatsächliche oder vielleicht auch nur vermeintliche Problem – das muss sich erst noch erweisen – ist schnell vollzogen. Begründungen und Erklärungen sind ihrer logischen Form nach Argumente. Die Konklusion eines erklärenden oder begründenden Arguments beinhaltet den zu erklärenden oder zu begründenden Sachverhalt, seine Prämissen beinhalten zusammen den mehr oder weniger komplexen begründenden Sachverhalt. Im Folgenden wird der Schluss von den Prämissen zur Konklusion nicht weiter problematisiert und somit als wahrheitserhaltend unterstellt. Der kritische Rationalist und Popperianer Hans Albert hat nur den Namen »Münchhausen-Trilemma« beigesteuert, er hat nicht auch noch die damit gemeinte Sache entdeckt. Deren Entdeckung reicht bekanntlich bis in die antike Philosophie zurück und ist fast so etwas wie ein Gemeinplatz skeptischen Denkens in der Philosophie. Wie bei jedem Argument werden auch bei Erklärungen und Begründungen die Prämissen als wahr behauptet, aber in dem Argument selber nicht ihrerseits begründet und erklärt. Freilich kann im Prinzip erst einmal nachgefragt werden, warum die Prämissen einer Begründung oder Erklärung ihrerseits als wahr zu gelten haben. Dieses beharrliche regressive Nachfragen nach der Wahrheit von Prämissen, dann nach der Wahrheit der Prämissen von Prämissen, dann nach der Wahrheit von Prämissen der Prämissen von Prämissen und so weiter kann uns – zunächst einmal prinzipiell betrachtet – in vier epistemische Situationen bringen: • Das regressive Nachfragen endet nach endlich vielen Schritten bei Prämissen, deren Wahrheit nicht weiter begründungsbedürftig, sondern wie auch immer evident und selbsterklärend ist. • Das regressive Nachfragen geht endlos weiter.   |  101

• Wir brechen das Nachfragen ab, obwohl die Wahrheit mindestens einer der zuletzt investierten Prämissen keineswegs feststeht und offensichtlich ist. • Wir kommen scheinbar an ein Ende, was sich jedoch nur der Tatsache verdankt, dass wir zirkulär begründet haben. Diese Unterscheidung von vier Möglichkeiten verknappt sich nach Auffassung vieler Philosophen auf drei Möglichkeiten. Diese Philosophen halten es – allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen – für unmöglich, dass wir beim regressiven Nachfragen nach endlich vielen Begründungsschritten auf ein unbezweifelbares und keiner weiteren Begründung und Erklärung bedürftiges Fundament stoßen. Also ist das Geschäft des Begründens immer durch das Trilemma von unendlichem Regress, dogmatischem Abbruch oder Zirkel bedroht. Soweit eine Skizze der wohlvertrauten Problemlage, wie sie mit dem Stichwort »Münchhausen-Trilemma« verbunden ist. Über diese Problemlage gilt es erneut philosophisch nachzudenken. Die nachfolgenden Über­legungen versprechen keinen endgültigen und generellen Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma. Sehr wohl aber soll dafür argumentiert werden, dass und wie sich bei naturgesetzlichen Erklärungen das »Münchhausen-Trilemma« umgehen lässt. 2. Multiversen: ein Ausstieg aus dem Münchhausen-Trilemma? Heutzutage gilt es als Standard in den Naturwissenschaften, Sachverhalte naturgesetzlich zu erklären. Betrachten wir zunächst sogenannte singuläre Sachverhalte, zu denen insbesondere und vor allem die Beobachtungsdaten zählen, mit denen es die Naturwissenschaften zu tun haben. Sie werden erklärt, indem man aus bestimmten ebenfalls singulären Rand- und Anfangsbedingungen mit Hilfe akzeptierter Naturgesetze auf die zu erklärenden singulären Sachverhalte schließt. Klarerweise erlaubt jede solcher Erklärungen zwei Nachfragen. Wir können fragen, wie es zu den Rand- und Anfangsbedingungen gekommen ist. Das Erklärungsideal der Naturwissenschaften lässt nur zu, dass die Rand- und Anfangsbedin102  |  Holm Tetens 

gungen ihrerseits naturgesetzlich erklärt werden. Damit ist ein Regress naturgesetzlicher Erklärungen offensichtlich bereits in Gang gesetzt. Der kann nach dem heute anerkannten naturwissenschaftlichen Wissen nur bis zur Urknallsituation reichen. Die Urknall­ situa­tion stellt selber eine singuläre Rand- und Anfangsbedingung dar, die jedoch ihrerseits nicht weiter erklärt werden kann. Kommt es, erklärungstheo­re­tisch betrachtet, einem dogmatischen Abbruch gleich, naturgesetzliche Erklärungsregresse bei der Urknallsituation enden zu lassen? Schwer zu sagen. Jedenfalls sind sich die Physiker über diese Frage nicht einig. Und vielen, das ist überdeutlich, sind Fragen wie »Was war vor dem Urknall?«, »Wie kam es zum Urknall?«, »Ist der Urknall eine Creatio ex nihilo?« ausgesprochen unangenehm. Deshalb versuchen sie zu zeigen, dass solche Fragen sinnlos sind. Warum diese Fragen sinnlos sind, das wird allerdings schon höchst unterschiedlich begründet. Hier ist Physik kaum noch von der Philosophie zu unterscheiden. Bisher haben wir nur kurz die naturgesetzliche Erklärung singu­ lärer Zustände aus anderen singulären Zuständen betrachtet. Eine solche naturgesetzliche Erklärung lässt allerdings noch eine weitere Nachfrage zu: Was ist mit den Naturgesetzen, warum gelten gerade diese Naturgesetze und keine anderen? Es ist nun nicht so, dass die Wissenschaften hier sofort mit ihrem Erklärungslatein am Ende wären. Naturgesetze lassen sich durchaus aus anderen Naturgesetzen ableiten. Etwa lassen sich die drei Kepler’schen Gesetze für die Planetenbahnen aus dem Gravitationsgesetz deduzieren. Ein fundamentaleres Naturgesetz erlaubt es, ein weniger fundamentales Naturgesetz, möglicherweise unter Heranziehung singulärer Randund Anfangsbedingungen, zu erschließen. Erneut ist ein Erklärungsregress in Gang gesetzt. Wo endet er? Nun, es ist nicht klar, ob er irgendwo endet. Dem Anspruch nach suchen die Naturwissenschaften nach den fundamentalen Naturgesetzen, aus denen alles andere in der physischen Welt letztlich erklärt werden kann. Die grundlegendsten Naturgesetze können natürlich ihrerseits nicht mehr naturgesetzlich erklärt werden. Könnten sie ihrerseits noch naturgesetzlich erklärt werden, wären es nicht die fundamentalsten Naturgesetze. Sollten wir eines Tages über die »Theo­rie über alles« verfügen, wüssten wir um Naturgesetze, die ihrerseits nicht mehr naturgeAbbruch, Regress, Zirkel  |  103

setzlich erklärt werden können. Da die Naturwissenschaften andere als naturgesetzliche Erklärungen nicht erlauben, blieben diese Fundamentalgesetze überhaupt unerklärt. Ist das schlimm? Muss man das als dogmatischen Abbruch der Erklärungsverpflichtungen kritisieren, die die Naturwissenschaften nun einmal eingegangen sind? Oder darf man das Erklärungsgeschäft getrost für erfolgreich beendet erklären? Wenn ich es recht beobachte, erhält man auf diese Fragen keine einheitlichen Antworten mehr von den Physikern. Das sind letzte Fragen, wo die Physik allmählich in Philosophie übergeht. Ein interessanter Ausweg scheint es Physikern allerdings zu ersparen, sich auf die Philosophie einlassen zu müssen: die Multiversenhypothese. Naturgesetzliche Erklärungen, so haben wir uns vor Augen geführt, lassen zwei Rückfragen zu: Warum gelten denn diese Randund Anfangsbedingungen und keine anderen, die doch auch möglich wären? Warum gelten gerade diese Naturgesetze und keine anderen, die doch auch möglich wären? Diesen Fragen nimmt man jeden Wind aus den Segeln, falls jedes Universum mit solchen möglichen anderen Naturgesetzen und möglichen anderen Rand- und Anfangsbedingungen ebenfalls realisiert ist. Es existiert nicht nur ein Universum. Alle auch noch möglichen Naturgesetze und Rand- und Anfangsbedingungen sind jeweils in einem anderen Universum verwirklicht. Das ist die Multiversenhypothese. Wir leben nur zufällig in dem Universum mit den uns bekannten fundamentalen Naturgesetzen und gewissen nicht weiter erklärten Rand- und Anfangsbedingungen; irgendjemand muss ja in den sauren Apfel beißen und in ihm leben. Stellen wir uns vor, wir werden aufgefordert, blind aus einer Schachtel mit Kugeln eine von ihnen herauszuziehen. Wir ziehen eine rote Kugel heraus. Natürlich dürfen wir uns fragen, warum die Kugel gerade eine rote ist und keine andersfarbige. Die Frage erledigt sich allerdings, sobald wir erfahren, dass in der Schachtel Kugeln in jeder Farbe gleich oft enthalten sind. Genauso erübrigt die Multiversenhypothese die Frage, warum in unserem Universum gerade die uns bekannten Naturgesetze herrschen, wo andere doch ebenfalls möglich wären. Allerdings leidet die Multiversenhypothese an einem gravierenden methodologischen Defekt. Die anderen Universen bleiben für 104  |  Holm Tetens 

uns nicht nur strikt unzugänglich. Schlimmer noch: Es macht für das, was wir in dieser Welt beobachten, gar keinen Unterschied, ob es die anderen Universen tatsächlich gibt oder nicht. Es zählt jedoch ebenfalls zu den Standards der Wissenschaften, dass sie unbeobachtbare Dinge nur dann postulieren sollen, wenn sie mit dieser Annahme etwas Beobachtbares in unserer Welt erklären können, was nicht so wäre, falls es die entsprechenden Dinge nicht gäbe. Wenn es keinen Unterschied macht für das, was in unserer Welt der Fall ist, falls es neben unserer Welt noch andere Universen mit anderen Naturgesetzen oder anderen Anfangs- und Randbedingungen gibt, so lässt sich eine solche andere mögliche Welt noch nicht einmal indirekt über kausale Spuren beobachten. Es können daher gar keine im engeren Sinne naturwissenschaftlichen Gründe sein, die Physiker veranlassen, für die These von der Existenz paralleler Universen zu plädieren. Welche Gründe könnten es dann sein? In einer glänzenden Rezension des Buches von Graham Greene »Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos« schreibt Ulf von Rauchhaupt: »… wie kann man als Naturwissenschaftler von etwas reden, was im Grunde per definitionem dem Verfahren entzogen ist, mit dem naturwissenschaftliches Wissen letztlich nur abgesichert werden kann: der Beobachtung oder dem Experiment? […] Der Naturwissenschaftler kann nur insofern vom Multiversum reden, als er eben nicht nur Naturwissenschaftler ist, sondern auch ein Mensch mit meta­phy­sischen und erkenntnistheo­re­tischen Grundpositionen. […] Das Argument ist also: Wenn die Natur sich mit der Stringtheorie erklären lässt, dann muss es auch alle Myriaden Parallelwelten geben, die diese Theo­rie erlaubt. Denn andernfalls bräuchte man ja noch ein Prinzip, das festlegt, welches der möglichen Universen wirklich werden durfte – und die Natur ließe sich eben nicht allein durch die Stringtheorie erklären. Denn wenn […] in unserem Universum sich alles nur irgend Beob­ achtbare nach einer Stringtheorie richtet, dann würde die String­theo­ rie darauf hinauslaufen, der Naturwissenschaft letzte meta­phy­sische Relevanz abzusprechen. Hinter der Popularität der Multiversen steckt also nichts weniger als der Schrecken des Physikers (genauer: des Stringtheoretikers) vor der sonst drohenden Möglichkeit einer Unerklärbarkeit der Welt. Mehr allerdings auch nicht«1. 1 Die

Rezension findet sich in der FAZ vom 2. Juni 2012 unter der ÜberAbbruch, Regress, Zirkel  |  105

Die Multiversenhypothese erklärt nichts an unserem Universum. In Wahrheit wird diese Hypothese nicht ins Spiel gebracht, um etwas in unserer Welt zu erklären, sondern um der lästigen Nachfrage aus dem Weg zu gehen, warum die fundamentalen Naturgesetze oder bestimmte singuläre Rand- und Anfangsbedingungen nicht erklärt werden müssen und warum sie zum Beispiel nicht teleologisch erklärt werden dürfen, wo eine naturgesetzliche Erklärung unmöglich ist. Die Multiversenhypothese erklärt nichts, sie soll lästigen Fragern nur den Mund verbieten.

3. Unendlicher Regress als zureichende Erklärung Wir haben gesehen: Naturgesetzliche Erklärungen scheinen kein natürliches Ende zu haben, weder bei den singulären Anfangs- und Randbedingungen noch bei den Naturgesetzen. Wir müssen sie abbrechen, bevor alle Warum-Fragen zu singulären Sachverhalten und zu den Naturgesetzen beantwortet sind. Ist das problematisch? Die Multiversenhypothese ist der Versuch, hier ein Problem gar nicht erst entstehen zu lassen. Allerdings, wie ich versucht habe zu zeigen, ein problematischer, ein, recht besehen, misslungener Versuch. Aber wie problematisch ist ein unendlicher Erklärungsregress wirklich? Betrachten wir zunächst die naturgesetzliche Erklärung singulärer Tatsachen in der Welt. Eine singuläre Tatsache wird mit Hilfe der Naturgesetze aus sogenannten Rand- und Anfangsbedingungen, also wiederum singulären Tatsachen, erklärt. Die Randund Anfangsbedingungen werden ihrerseits auf dieselbe Weise mit Hilfe derselben Naturgesetze erklärt. Und so geht es weiter. Untersuchen wir die Sache gleich allgemeiner: Nehmen wir einmal an, dass wir mit einer unendlichen Klasse K von Tatbeständen S0, S1, S2…. konfrontiert sind. Nehmen wir weiter an, dass wir Sachverhalt S0 zureichend und überzeugend auf der Grundlage eines Erklärungsprinzips E mit S1 erklären, S1 zureichend und überzeugend auf der Grundlage desselben Erklärungsprinzips E mit dem schrift »Schluss mit der Rosinenpickerei«, 32. Vgl. auch Graham Greene, Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos, München 2012. 106  |  Holm Tetens 

Tatbestand S2 und so weiter. Da die Menge K der zu erklärenden Tatbestände unendlich ist, kommt der Erklärungsregress nicht an ein Ende. Ist dann nicht trotzdem alles zureichend in Bezug auf die Klasse K erklärt, was es zu erklären gilt? Klar, wir sind endliche Erkenntnissubjekte und können den unendlichen Erklärungsregress nicht durchlaufen. Wir brechen nicht in der Sache, sondern in unserem Unvermögen begründet den Erklärungsregress nach endlich vielen Schritten ab, besser gesagt: Wir müssen ihn abbrechen. Aber berechtigt diese epistemische Erinnerung an unsere Endlichkeit zu der Feststellung, es bleibe auch von der Sache her an den Tatsachen aus K irgendetwas unerklärt? Problematisch, weil die Sache selber betreffend, wäre es allerdings, wenn einer der beiden folgenden Fälle einträte: Wir stoßen in einem Erklärungsregress auf ein Explanans Si, finden aber für Si kein Explanans Si+1 aus K, das Si auf der Grundlage des Erklärungsprinzips E erklären könnte. Diesen Fall haben wir schon in unseren Voraussetzungen ausgeschlossen. Oder aber bestimmte Tatbestände aus K bleiben überhaupt unentdeckt und damit auch unerklärt, weil sie niemals als Explanans und anschließend als Explanandum in der regressiven Erklärungskette auftauchen. Nehmen wir an, dass wir auch das ausschließen können. Wir verfügen also über eine vierteilige Metathese: 1. Für das Erklärungsprinzip E und für jeden Sachverhalt S aus K gilt: Es gibt einen anderen Sachverhalt S' aus K, sodass S mit Hilfe des Erklärungsprinzips E aus S' erklärt werden kann. 2. Kein Sachverhalt erklärt sich gemäß E selbst. 3. Erklärt S1 gemäß E S2, so erklärt nicht umgekehrt S2 den Tat­ bestand S1. 4. Es gibt mindestens eine mit S0 aus K beginnende Erklärungskette, sodass jeder Tatbestand S aus K irgendwann zunächst als Explanans, dann anschließend als Explanandum in der regressiven Erklärungskette auftritt. Wir haben es hier mit einem Metaprinzip über Erklärungen von Sachverhalten aus K zu tun. Gilt ein solches Metaprinzip, dann ist die Tatsache, dass die Erklärung eines Tatbestandes aus K einen unendlichen Erklärungsregress in Gang setzt, vollkommen unproblematisch. Es mag misslich sein, dass wir nur endliche Teilstücke Abbruch, Regress, Zirkel  |  107

der Erklärungskette ausdrücklich zur Kenntnis nehmen können. Problematisch in Bezug auf die Menge der K-Tatbestände ist das nicht. So wäre der Einwand ganz unbillig, an K wäre erst dann alles erklärt, wenn die unendliche regressive Erklärungskette auch vollständig durchlaufen worden sei, was ja sowieso eine unsinnige, weil unrealisierbare Forderung wäre. Ebenso wenig einsichtig wäre der Einwand, die einzelnen Teilerklärungen, aus denen die Erklärungskette besteht, seien schon deshalb nicht zureichend, weil die Kette nicht nach endlich vielen Teilerklärungen bei einem nicht mehr erklärungsbedürftigen Anfangsexplanans endet. Das ist, die Unendlichkeit von K unterstellt, unmöglich, lässt aber an K deshalb trotzdem nichts unerklärt. Von daher ist es meiner Auffassung nach falsch, unendliche Erklärungsregresse pauschal und ohne auf den Einzelfall zu achten von vornherein für problematisch zu halten. Sich im Erklärungsund Begründungsgeschäft gegen den Zirkel und gegen den Abbruch für den unendlichen Regress zu entscheiden, ist nicht die Wahl zwischen drei Erklärungsübeln, sondern kann im Einzelfall der Sache vollkommen angemessen die Entscheidung für die richtige Art von Erklärung sein. Kommen wir zurück zur naturgesetzlichen Erklärung singulärer Tatsachen im physikalischen Universum. Angenommen, es gilt: 1) Für die fundamentalen Naturgesetze N und für jede singuläre (mit Hilfe der Naturwissenschaften) beschreibbare Tatsache T des physikalischen Universums gilt: Es gibt eine weitere singuläre Tatsache T', sodass T aus T' mit Hilfe von N zureichend erklärt werden kann. 2) Keine Tatsache erklärt sich naturgesetzlich selbst. 3) Die naturgesetzliche Erklärung von Tatsachen wird anti-symmetrisch gehandhabt. 4) Es gibt beobachtbare Tatsachen T0, sodass für jede singuläre Tatsache T des physikalischen Universums gilt: Ausgehend von T0 kann T mit Hilfe von N nach endlichen vielen Schritten als Schluss auf die beste Erklärung regressiv erschlossen werden. Relativ zu diesen Metabehauptungen über die Eigenschaften naturgesetzlicher Erklärungen wäre es nach unseren voranstehenden Über­legungen überhaupt nicht problematisch, falls bei der Erklä108  |  Holm Tetens 

rung der singulären Tatsachen des physikalischen Universums nicht abbrechende regressive Erklärungsketten entstünden. Die singulären Tatsachen des physikalischen Universums sind deshalb trotzdem zureichend erklärt, werden sie naturgesetzlich erklärt. Natürlich, alles hängt jetzt an einer zureichenden Antwort auf die Frage, ob und wie sich diese vier Metabehauptungen über naturgesetzliche Erklärungen begründen lassen. Die vier Metabehauptungen lassen sich, so die These, sehr einfach begründen. Die Begründung ist keine naturgesetzliche mehr, kann keine naturgesetzliche sein. Um es kurz und schmerzlos zu machen: Die vier Behauptungen lassen sich transzendental begründen, sie explizieren, was es heißt, die singulären Tatsachen des physikalischen Universums zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung zu machen. Die Behauptungen 2) und 3) lassen sich sofort als methodologische Normen guter Erklärungen und der Pragmatik guter Erklärungen verstehen und rechtfertigen. Die Behauptung 1) expliziert, was eine singuläre physikalische Tatsache ist. Singuläre physikalische Tatsachen sind solche, die sich mit den begrifflichen und methodischen Mitteln der Naturwissenschaften, allen voran mit den Mitteln der Physik erfassen lassen. Etwas ist aber nur dann eine Tatsache, wenn sie im Prinzip intersubjektiv von jedem Beobachter festgestellt und bestätigt werden kann. Dazu darf sie keine naturgesetzlich von anderen Tatsachen völlig isolierte Tatsache sein. Wer behauptet, an der Raum-Zeit-Stelle X sei p der Fall, obwohl er in keiner Weise verständlich machen kann, wie p angesichts der von uns akzeptierten Naturgesetze und dem, was wir sonst noch von der Welt wissen, überhaupt entstanden sein könnte, der hat in den Naturwissenschaften keine Chance, ernsthaft Gehör mit seiner Behauptung zu finden. Man wird in jedem Falle verlangen, dass er einen Sachverhalt von der fraglichen Art p zumindest reproduzieren kann. Doch gelingt die zuverlässige Reproduktion nur dort, wo der zu reproduzierende Sachverhalt mit anderen physikalischen Tatsachen über Naturgesetze hinreichend verknüpft ist. Jede physikalische Tatsache muss über Naturgesetze mit anderen Tatsachen verknüpft sein. Das bringt die Metabehauptung 1) zum Ausdruck. Die Metabehauptung 4) beinhaltet im Grunde genommen die Unterstellung, dass das physikalische Universum auch tatsächlich Abbruch, Regress, Zirkel  |  109

durch uns erkennbar ist. Jeder Beobachter muss ausgehend von dem, was er aufgrund seines Standortes direkt beobachten kann, alle anderen Tatsachen des physikalischen Universums erschließen können, und er erschließt sie sich mit Hilfe der Naturgesetze. Ziel der Naturforschung ist es ja gerade, am Ende Naturgesetze zu finden, mit denen sich alles im Universum erklären lässt und das heißt auch: mit denen sich alles, was im physikalischen Universum der Fall ist, erschließen lässt. So weit eine transzendentale Begründung der Metabehauptungen 1) bis 4). Natürlich ist sofort einzuräumen, dass diese Begründung nicht zugleich die Frage beantwortet, welches die fundamentalen Naturgesetze sind. Die vier Metabehauptungen enthalten nur den Platzhalterbuchstaben N und lassen damit ausdrücklich offen, um welche Naturgesetze es sich handelt. Das entspricht allerdings unserem gegenwärtigen Wissensstand. Wir haben gegenwärtig noch keine »Theo­rie über alles«. Wir müssen an dieser Stelle auch nicht entscheiden, ob wir sie je haben werden. Trotzdem dürfen wir behaupten: Was immer in den vier Metabehauptungen für den Platzhalterbuchstaben N am Ende eingesetzt werden muss und darf, die Wissenschaftler werden dann wissen oder zumindest unterstellen, dass die vier Metabehauptungen für die von ihnen als fundamental gefundenen Naturgesetze erfüllt sind. Denn, noch einmal sei es gesagt, die vier Metabehauptungen beinhalten Bedingungen der Möglichkeit objektiver und intersubjektiver Naturwissen­schaften. Damit ist die These verteidigt: Unendliche naturgesetzliche Erklärungsregresse sind keine problematischen oder defizitären Erklärungen für die singulären Tatsachen in unserem physikalischen Universum.

4. Jenseits des Münchhausen-Trilemmas: ein nicht nur, aber auch spekulativer Ausblick Wie immer am Ende die fundamentalen Naturgesetze einer »Theo­ rie über alles« aussehen werden, sie werden nicht mehr naturgesetzlich erklärt werden können. Bricht man hier unausweichlich Begründungen dogmatisch ab, genauso wie es die Befürworter des Münchhausen-Trilemmas diagnostizieren? 110  |  Holm Tetens 

Voranstehend wurde das Metaprinzip, mit dem ein unendlicher Regress naturgesetzlicher Erklärungen unproblematisch wird, transzendental zu begründen versucht. Letztlich sind transzendentale Begründungen ein Sonderfall teleologischer Erklärungen. Teleo­ logi­sche Erklärungen haben es gegenwärtig sehr schwer. Trotzdem sind sie die einzige ernstzunehmende Alternative zu den naturgesetzlichen Erklärungen. Selbst die Wissenschaften, in denen ansonsten teleologische Erklärungen methodologisch strikt verboten sind, kommen bis heute nicht umhin, sie für den Menschen zuzulassen. In Bezug auf den Menschen nehmen teleologische Erklärungen die Gestalt rationaler Handlungserklärungen an. Rationale Handlungserklärungen haben die Form: 1. Prämisse: P ist eine rationale Person. 2. Prämisse: P will den Zweck Z erreichen. 3. Prämisse: P glaubt, dass h zu tun die beste Weise ist, Z zu erreichen. 4. Schlussprinzip: Will eine rationale Person einen Zweck X erreichen und glaubt sie, dass Y zu tun das beste Mittel ist, um X zu erreichen, so tut sie Y. 5. Konklusion: P handelt auf die Weise h. Natürlich kann man für jede Prämisse ihrerseits eine Erklärung verlangen. Auch rationale Handlungserklärungen scheinen dem Münchhausen-Trilemma nicht zu entkommen. Freilich lässt sich ein praktischer Syllogismus verschärft denken, nämlich in der nachfolgenden Weise: 1. Prämisse: P ist eine rationale Person. 2. Prämisse: P will den Zweck Z erreichen. 3. Prämisse: P hat überzeugend nachgewiesen, dass der Zweck Z ein in jeder Hinsicht guter Zweck ist. 4. Prämisse: P weiß durch eigene Ausarbeitung eines zwingenden Beweises, dass h und nur h zu tun zur vollen Realisierung von Z führt. 5. Schlussprinzip: Will eine rationale Person einen Zweck X erreichen und weiß sie, dass Y zu tun das beste Mittel ist, um X zu erreichen, so tut sie Y. 6. Konklusion: P handelt auf die Weise h. Abbruch, Regress, Zirkel  |  111

Wenn uns eine Person nachweist, dass ein Zweck gerechtfertigt ist, und wenn diese Person zudem bekundet, sich den Zweck deshalb zu eigen gemacht zu haben, so fragen wir nicht mehr, warum die Person diesen Zweck will. Sie hat uns ja auf nachvollziehbare Weise erklärt, warum sie es tut: weil der Zweck gerechtfertigt ist. Hier die Begründung für eingelöst zu erachten, ist keineswegs voreilig oder dogmatisch. Gleiches trifft auch für die Prämisse 4 zu. Beweist uns die besagte Person selber mathematisch den Satz »Wenn auf die Weise h gehandelt wird, dann und nur dann wird der Zweck Z vollständig realisiert«, so fragen wir nicht mehr, ob und woher sie weiß, dass h ein optimales Mittel für Z ist. Sie hat es uns ja selber mathematisch streng bewiesen. Wir, die wir P’s Handeln erklären, müssen nur P’s Begründung für die beiden Sätze »Z ist ein in jeder Hinsicht gerechtfertigter Zweck« und »h ist das einzige und das in jeder Hinsicht optimale Mittel für Z« nachvollziehen, um auch schon die Wahrheit der Erklärungsprämissen 2 bis 4 einzusehen und von daher auch keinen Zweifel an P’s Rationalität zu haben. Jede weitere Begründung der Prämissen 1 bis 4 erübrigt sich. Der verschärfte praktische Syllogismus hat mithin Prämissen, deren zirkelfreie Begründungen nach endlich vielen Schritten enden, ohne dass noch etwas zu erklären übrigbliebe. Verschärfte praktische Syllogismen sind somit perfekte Erklärungen jenseits des vermeintlich unausweichlichen Trilemmas von Abbruch, Regress und Zirkel. Verschärfte praktische Syllogismen sind Erklärungen und Begründungen jenseits des Münchhausen-Trilemmas. Allein, kommen sie irgendwo vor? Denken wir einmal an Informatiker. Typischerweise muss ein Informatiker einen mathematischen Algorithmus entwerfen, der es erlaubt, eine Aufgabe auf einem Computer optimal zu lösen. Ist außerdem die Lösung der Aufgabe ein gerechtfertigter Zweck, dann erklärt ein verschärfter praktischer Syllogismus das Handeln des Informatikers:

112  |  Holm Tetens 

1. Prämisse: P ist eine rationale Person. 2. Prämisse: P will den Zweck Z erreichen. 3. Prämisse: P hat überzeugend nachgewiesen, dass der Zweck Z ein guter Zweck ist. 4. Prämisse: P weiß durch eigene Ausarbeitung eines mathematischen Beweises, dass ein Computer, auf dem der Algorithmus A implementiert ist, den Zweck Z optimal realisiert. 5. Schlussprinzip: Will eine rationale Person einen Zweck X erreichen und weiß sie, dass Y zu tun das beste Mittel ist, um X zu erreichen, so tut sie Y. 6. Konklusion: P implementiert den Algorithmus A auf einem Computer. Schön und gut. Hilft uns das weiter für die Frage, ob sich die fundamentalen Naturgesetze zirkelfrei und ohne dogmatischen Abbruch begründen lassen? Gilt nicht für die Naturgesetze das strikte methodologische Verbot teleologischer Erklärungen? Es gab schon einmal Zeiten, da sah das noch ganz anders in der Philosophie aus. Da wäre jedem Philosophen bei der Frage nach der Geltung der fundamentalen Naturgesetze eine Erklärung eingefallen, die nun haargenau die Form eines verschärften praktischen Syllogismus besitzt, nämlich die folgende Erklärung, die ich allerdings nur verkürzt hier wiedergebe: 1. Prämisse: Gott ist ein vollkommen rationales Wesen. 2. Prämisse: Gott kann und will die beste aller möglichen Welten schaffen. 3. Prämisse: Gott weiß gewiss wie eine mathematische Wahrheit, dass die Welt nicht die beste aller möglichen Welten wäre, würde das Naturgeschehen nicht nach den fundamentalen Gesetzen N ablaufen. 4. Konklusion: Also gelten die fundamentalen Naturgesetze N im physikalischen Universum. Diese theistische Begründung kann und soll nicht am Schluss schnell noch als Kern einer möglichen Lösung verkauft werden. Es ist aber erstens daran zu erinnern, dass man sich früher in der Philosophie und Wissenschaft besser darüber im Klaren war, dass nur rationale Handlungserklärungen perfekte Erklärungen sein können, die Abbruch, Regress, Zirkel  |  113

nicht im Trilemma von Abbruch, Regress und Zirkel oder, im Sinne des ersten Teils der hier vorgetragenen Über­legungen gesagt: die nicht im Dilemma von dogmatischem Abbruch und Zirkel stecken­ bleiben. Zweitens sollte man daran erinnern: Wenn es tatsächlich eine gute zirkelfreie Begründung ohne unausgewiesene dogmatische Prämissen für die fundamentalen Naturgesetze geben sollte, dann muss es eine teleologische Erklärung sein, vielleicht keine theistische – es ist allerdings nicht einzusehen, warum das nicht ernsthaft erneut zu erwägen wäre –, vielleicht eine transzendentale. Inzwischen plädieren Philosophen2 durchaus wieder dafür, ernsthaft über teleologische Erklärungen auch des Naturgeschehens nachzudenken und sie gegebenenfalls auch zuzulassen. Natürlich, erst die Zukunft wird weisen, wie überzeugende teleologische Erklärungen des Naturgeschehens aussehen könnten.

2 Erinnert

sei nur an das neueste Buch von Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013. 114  |  Holm Tetens 

Anton Friedrich Koch

Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen I. Vorbemerkungen: Regress und Zirkel, Abgrund und Schleife Was hier im Titel unter »abgründige Beziehungen« und »unfundierte Operationen« firmiert, ist ein Markenzeichen der spekulativen Philosophie. Da ich mit meiner Vorliebe für die Spekulation bei meinen Freunden aus der analytischen Philosophie regelmäßig anecke, habe ich mir angewöhnt, auf einem Umweg für sie zu werben. Liebe Freunde, pflege ich zu sagen, ihr kennt doch zweifellos die mathematische Logik und die Mengenlehre, und dies natürlich viel besser als ich, der Laie vom kontinentalen Ufer. So wisst ihr auch, was es mit dem Extensionalitätsaxiom und mit dem Fundierungsaxiom auf sich hat. Ersteres besagt: »Umfangsgleiche Mengen sind gleich«, und bindet damit die Identität einer Menge an die Identität ihrer Elemente. Letzteres besagt: »Alle Mengen sind fundiert«, was darauf hinausläuft, dass keine Menge eine unendliche absteigende Elementschaftskette hat. Eine unendliche absteigende Elementschaftskette käme nach dem Extensionalitätsaxiom einem unendlichen Regress in der Individuation der betreffenden Menge gleich. Wer sich vor Abgründen fürchtet, sollte also besser das Fundierungsaxiom unterschreiben. Nun gibt es aber furchtlose Mengentheoretiker wie Peter Aczel, der gezeigt hat, dass die Mengenlehre nicht widerspruchsvoll wird, wenn man das Fundierungsaxiom durch ein Antifundierungsaxiom, AFA, ersetzt, dem zufolge es auch unfundierte Mengen gibt, darunter an prominenter Stelle diejenige Einermenge, deren einziges Element diejenige Einermenge ist, deren einziges Element diejenige Einermenge ist, deren einziges Element usf. ad infinitum. Aczel nennt diese Einermenge, die allein durch den Abgrund in ihrer Individuation definiert ist, Ω und zeigt, dass der Abgrund einem Zirkel gleichkommt: Ω ist die Einermenge ihrer selbst. Unendliche   |  115

Regresse in der Individuation einer Menge lassen sich stets auch als Zirkel darstellen. Regress und Zirkel sind äquivalent und nur darstellungstechnisch unterschieden. Für Ω gilt: Ω = {Ω} = {{Ω}} = {{{Ω}}} = … = {{{…}}}

Ω ist die total unfundierte Einermenge und ipso facto die Einermenge-ihrer-selbst. Als Menge ist sie ein abstraktes Objekt, bezüglich dessen man sich fragen kann, ob es existiert oder nicht. Wenn aus seiner Existenz ein Widerspruch folgen würde, würde man natürlich seine Existenz verneinen. Da kein Widerspruch folgt, ist die Existenzfrage offen. Ob es die Einermenge Ω gibt, darf uns gleichgültig sein; sie hat ihre Freunde und ihre Gegner unter den Mengentheoretikern. Aber wir sind nicht an mengentheo­re­tischer, sondern philosophischer Theo­riebildung interessiert. Nur dies halten wir fest. Wenn unsere Freunde aus der analytischen Philosophie jetzt zu lamentieren begännen, sie verstünden nicht, was mit den Worten »die Einermenge ihrer selbst« gemeint ist, so hätten nicht wir ein Problem, sondern sie. Diese Begriffsbildung lassen wir uns von ihnen nicht schlechtreden. Das Wort »Einermenge« bezeichnet das Resultat einer Operation, der Operation der Einermengenbildung. Eine solche Opera­tion ist ein abstrakter Eingabe/Ausgabe-Apparat. Wird etwas eingegeben, so liefert der Apparat eine Ausgabe. Und vielleicht funktioniert der Apparat sogar im Leerlauf und liefert dann selbst seine ursprüngliche Eingabe. So würde es sich zumindest im Fall der Einermenge ihrer selbst verhalten. Ein konkreter, substantieller Automat aus Plastik, Holz oder Metall, etwa eine Kaffeemühle, könnte so natürlich nicht funktionieren. Das wäre eine rechte Wundermühle, vergleichbar dem Tischlein deck dich, die das einzugebende Mahlgut immer schon vorher selbst ermahlen hätte, so dass man nie Kaffeebohnen zu kaufen brauchte. Aber bei einem rein mathematischen oder rein begrifflichen Apparat müssen wir uns das Wunder als eine ernstzunehmende Theo­rieoption gefallen lassen, wie Peter Aczels total unfundierte Einermenge zeigt. Manche Theoretiker quer durch die Philosophiegeschichte haben sich tatsächlich dergleichen Begriffsbildungen gefallen lassen, zum 116  |  Anton Friedrich Koch 

Beispiel in Gestalt kausaler Schleifen, bekannt unter der Überschrift »causa sui«, oder in der Gestalt unendlicher Ursachen­regresse. Immerhin dürfen wir nun unter Verweis auf die Einermenge ihrer selbst die Äquivalenz von kausalen Abgründen und kausalen Schleifen konstatieren: Wer unendliche Ursachenregresse zulässt, kann ebenso gut eine causa sui zulassen. Wenn ein Freund unendlicher Kausalregresse die Nachbarschaft der causa-sui-Leute scheut und protestiert: »Aber Ursachen sind zeitlich früher als ihre Wirkungen; deswegen kann sich der Ursachenregress nicht zum Zirkel schließen«, so werden wir ihm antworten: »Dann gib Obacht, dass du dich mit deinen unendlichen Kausalregressen nicht am Ende auf eine zirkuläre Zeit festlegst!« Wir lassen uns jedenfalls von diesem Protest nicht beeindrucken, denn was der Einermengenbildung recht ist, muss anderen Opera­ tionen billig sein. Sofern unsere analytischen Freunde das Wort »Ursache« verstehen, sollten sie auch verstehen, was mit einer Ursache ihrer selbst gemeint ist. Sobald sie das Wort »Wissen« verstehen, sollten sie verstehen, was mit dem Wissen seiner selbst gemeint ist. Sobald sie verstehen, was Wahrheitsfunktionen oder Wahrheitsoperationen sind, sollten sie verstehen, was mit der Negation ihrer selbst und der Affirmation, Konjunktion, Alternation (usw.) ihrer selbst gemeint ist. In all diesen Fällen liegt wie bei der Mengenbildung jeweils ein Voraussetzungsverhältnis vor. Ein Wissen setzt einen Gehalt voraus, durch den es sich von anderen Wissensfällen unterscheidet. Eine Wirkung setzt eine Ursache als Grund ihres Eintretens voraus. Eine n-stellige Wahrheitsfunktion setzt n Aussagen voraus, damit sie als Wert eine komplexe Aussage liefern kann. Diese Sachverhalte sollen in der Folge betrachtet werden, zuerst kurz der Fall des Wissens seiner selbst oder des Selbstbewusstseins, der uns zu dem der causa sui führen wird, dann ausführlicher der Fall unfundierter Wahrheitsfunktionen. Am Ende sollten Freunde der analytischen Philosophie überzeugt sein, dass spekulative Philosophie kein Humbug ist, und Freunde der spekulativen Philosophie, dass die analytische Philosophie schnell gelernt ist und sehr hilfreich, um komplexe Sachverhalte präziser zu verstehen.

Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen   |  117

II.  Das Wissen seiner selbst (oder Selbstbewusstsein) als nichtsubstantielle causa sui »Das Selbst«, sagt an vielzitierter Stelle Kierke­gaard, »ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder es ist das an dem Verhältnisse, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.«1 Demnach dürfte er das einfache Verhältnis, unter Absehung von seinem Sich-zu-sich-Verhalten, mit dem identifizieren, was Brentano als Intentionalität gefasst hat, und insbesondere mit der perzeptuell erfüllten Intentionalität, also dem Wahrnehmungsbewusstsein. Etwas dem Anschein nach an sich der Fall Seiendes ist zugleich für unser Bewusstsein. Reinhold und Hegel hatten diesen Sachverhalt vor Augen, als sie ihre jeweiligen Varianten des Satzes des Bewusstseins formulierten. Nun verhält sich dieses einfache Verhältnis von Für-uns (oder Für-das-Bewusstsein) und An-sich nach Kierke­gaards Formulierung außerdem auch noch zu sich selbst. Bewusstsein als solches ist demnach immer auch schon implizites Selbstbewusstsein. Mit Sartre können wir dieses implizite Selbstbewusstsein das präreflexive und das nachgeordnete ausdrückliche Selbstbewusstsein das reflexive nennen. Die Reflexion macht den impliziten Zirkel explizit, der schon im Bewusstsein als solchem liegt, sofern dieses sich immer schon auch zu sich verhält. »[C]’est la nature même de la conscience d’exister ›en cercle‹«, sagt Sartre zu Beginn von »L’être et le néant« und fügt einige Zeilen weiter hinzu: »D’un seul coup elle [la conscience] se détermine comme conscience de perception et comme perception.«2 Das Bewusstsein bestimmt sich mit einem Schlag als einfache Wahrnehmung und als Bewusstsein von der Wahrnehmung – als perzeptuelles Verhältnis und als Sich-zu-sich-Verhalten dieses perzeptuellen Verhältnisses, mit Kierke­gaard zu reden. Entdeckt hat diesen fundamentalen Zirkel des Bewusstseins wohl Fichte oder, wenn nicht entdeckt, so zum ersten Mal in der Philosophiegeschichte zur Pointe erhoben und ihn terminologisch als Tathandlung gefasst, d. h. als diejenige Handlung, 1 Søren

Kierke­gaard, Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf 1954, 8.

2 Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique,

o. Ort [Paris] 1943, 20.

118  |  Anton Friedrich Koch 

in welcher das Ich (oder das Selbst oder das Selbstbewusstsein) sich selber setzt, sich selber sozusagen erdenkt und erfindet. Hier also zeigt sich eine wesentliche begriffliche Verbindung zwischen dem Gedanken eines zirkulären oder unfundierten Wissens und eines zirkulären oder unfundierten Ursache-Wirkungs-Verhältnisses. Das Ich, das sich selber setzt, ist in seinem Setzen eine Art causa sui und in seinem Gesetztsein ipso facto eine Art effectus sui, allerdings eine recht luftige und nichtige causa sui, die von etwas anderem, Sub­ stantiellerem zehrt, darin vergleichbar einem Virus mit zwar eigener DNS, aber ohne eigenen Stoffwechsel, das nur in einem Wirtsorganismus existieren und sich reproduzieren kann. So kann auch das Selbst nur an einem perzeptuellen Verhältnis existieren, in dem ein konkreter leiblicher Organismus zu seiner Umgebung steht, an diesem Organismus und seinem Wahrnehmungsbewusstsein dann aber in einer zirkulären, causa-sui-artigen Struktur. Nun kann man im Falle unfundierter Mengen sowie unfundierten Wissens und unfundierter Wirkungen ergebnisoffen diskutieren, ob es dergleichen gibt. Für das unfundierte Wissen und zugleich die unfundierte Wirkung spricht das evidente Phänomen des Selbstbewusstseins. Aber andererseits ist auch klar, dass es eine substantielle causa sui von der Art einer Kaffeemühle, die sich selber ermahlt oder einem 3D-Drucker, der sich selber ausdruckt, nicht geben kann. Nach aristotelischer Lehre sind Akzidentien für sich genommen nichts und seiend nur in Beziehung auf eine Substanz, nämlich bloße Modifikationen von deren substantiellem Sein. Ohne näher untersuchen zu wollen, ob das Substanz-Akzidens-Modell hier ganz angemessen ist, wollen wir in ungeschützter, aber illustra­ tiver Rede nur sagen, dass das Selbstbewusstsein ein unfundiertes Wissen und zugleich eine unfundierte Wirkung ist, aber für sich genommen nichts, also keine substantielle, sondern gleichsam nur eine akzidentelle causa sui.

III.  Unfundierte Wahrheitsfunktionen Unsere basalen Wahrheitsansprüche sind Ansprüche auf objektive, meinungsunabhängige Geltung. Aus der stets mitbeanspruchten Meinungsunabhängigkeit folgt für die Erkenntnistheorie unsere Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen   |  119

Fehlbarkeit und für die Logik und Semantik die Zweiwertigkeit unserer Aussagen: Sie sollen wahr und können falsch sein, sind also wahr oder falsch. Die Zweiwertigkeit wird durch die klassische Logik, konkret das Nichtwiderspruchs- und das Bivalenzprinzip, weiter präzisiert: Jede Aussage soll genau einen von zwei möglichen Wahrheitswerten haben, nicht beide auf einmal, aber auch nicht keinen von beiden. Auf dieser monumentalen und einfachen Basis lässt sich sodann die klassische wahrheitsfunktionale Aussagenlogik aufbauen. Rein kombinatorisch kann man sich leicht klarmachen, dass es bei zwei Wahrheitswerten vier einstellige und 16 zweistellige Wahrheitsfunktionen gibt (dreistellige kann man bereits vernachlässigen, denn was wir mit dreistelligen Wahrheitsfunktionen ausdrücken können, können wir auch mit zweistelligen ausdrücken). Von den vier einstelligen Wahrheitsfunktionen wird in der Aussagenlogik normalerweise nur die Negation durch ein eigenes Symbol, etwa die Tilde, bezeichnet und von den 16 zweistelligen Wahrheitsfunktionen nur die Konjunktion, die Alternation, das Konditional und das Bikonditional, manchmal noch die Negation der Konjunktion (durch den sogenannten Sheffer-Strich). Die vier einstelligen Wahrheitsfunktionen, nennen wir sie f, g, h und i, lassen sich bekanntlich durch folgende Wahrheitstafeln charakterisieren: p

f(p)

g(p)

h(p)

i(p)

W F

W W

W F

F W

F F

Man erkennt in dieser Tafel die Negation leicht daran, dass sie die Wahrheitswerte umkehrt: aus einer wahren Eingabe eine falsche Ausgabe und aus einer falschen Eingabe eine wahre Ausgabe macht. Es ist die Funktion h. Doch statt »h(p)« schreibt man natürlich »~(p)«. Die drei übrigen einstelligen Wahrheitsfunktionen sind vergleichsweise uninteressant. Die Funktion f macht aus beliebigen Eingaben wahre und die Funktion i aus beliebigen Eingaben falsche Ausgaben, und g lässt alles, wie es ist. Diese drei Funktionen – die Wahrmacherfunktion, die Falschmacherfunktion und die Identi­ 120  |  Anton Friedrich Koch 

tätsfunktion – werden in der Aussagenlogik vernachlässigt und erhalten jedenfalls keine eigenen Symbole. Bei den zweistelligen Wahrheitsfunktionen beschränke ich mich auf die üblichen fünf: p

q

f(p,q)

g(p,q)

h(p,q)

i(p,q)

j(p,q)

W W F F

W F W F

W F F F

W W W F

W F W W

W F F W

F W W W

Die gebräuchlichen Symbole (für Konjunktion, Alternation, Konditional, Bikonditional und Sheffer-Strich) seien zur Erläuterung hinzugefügt: f(p,q)

g(p,q)

h(p,q)

i(p,q)

j(p,q)

p∧q

p∨q

p⊃q

p≡q

p|q

p→q

p↔p

~(pq)

pq

[Varianten]

So weit ist alles gang und gäbe und recht trivial. Jetzt aber gehen wir zu einer kleinen Logik unfundierter Aussagen über. Die Frage, ob es unfundierte Mengen gibt, wird in der Mengenlehre kontrovers diskutiert; ebenso mag man sich über unfundiertes Wissen und unfundierte Wirkungen streiten. Anders jedoch als in diesen Fällen, wo es um die Existenz von abstrakten Objekten geht, verhält es sich bei Sachverhalten oder Propositionen oder Aussageinhalten. Objekte existieren oder existieren nicht. Sachverhalte hingegen sind der Fall oder nicht der Fall; sie bestehen als Tatsachen oder bestehen nicht. Ihre Existenz, wenn man von einer solchen reden will, ist ihr bloßes Bestehen-oder-nicht-Bestehen. Für die so verstandene Existenz von Sachverhalten aber gilt dann: esse est concipi posse. Wenn man einen Sachverhalt konzipiert hat, hat man ihn schon in die Welt gesetzt, und die Frage ist »nur« noch, ob er als Tat­sache besteht oder nicht. Wenn wir also unfundierte Aussage­ inhalte am logischen Reißbrett als Möglichkeiten entwerfen, so gibt es sie ipso facto wirklich, und wir müssen diese Ausgeburten unserer logischen Phantasie nur noch alethisch bewerten, als wahr oder falsch. Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen   |  121

Machen wir uns also an die Arbeit. Parallel zu dem mengentheo­ re­tischen Objekt Ω Ω = {Ω} = {{Ω}} = {{{Ω}}} = … = {{{…}}}

konzipieren wir einen einfachen aussagenlogischen Inhalt ν, die Negation ihrer selbst (statt des Gleichheitszeichens müssen wir hier, weil wir einen Aussageinhalt bestimmen wollen, das Bikonditional verwenden). Für ν gilt in quasidefinitorischer Weise: ν ↔ ~(ν) ↔ ~(~(ν)) ↔ ~(~(~(ν))) ↔ … ↔ ~(~(~(…)))

Wenn Ω ein denkbares, konzipierbares Gebilde ist, was ja niemand bestreitet, dann muss auch ν ein denkbares Gebilde sein. Da aber ν ein Aussageinhalt ist, genügt seine Denkbarkeit für seine Existenz. Das Problem mit ν ist dann freilich, dass es sich um einen widerspruchsvollen Inhalt handelt, ja sogar um einen unbehebbar widerspruchsvollen, antinomischen Inhalt, denn ν besteht als Tatsache dann und nur dann, wenn ν nicht als Tatsache besteht. Normalerweise, wenn wir uns in einen Widerspruch verwickeln, negieren wir eine der beiden widerstreitenden Seiten oder, wenn wir nicht entscheiden können, welche Seite zu inkriminieren ist, einstweilen die ganze Kontradiktion: p ∧ ~p. Widerspruch. Also: ~(p ∧ ~p)

Aber im Fall der Negation-ihrer-selbst ist uns dieser Ausweg verbaut. Denn wenn wir sie negieren, bekräftigen wir sie, da sie selber schon ihre eigene Negation ist. Wir sind in ihrem Widerspruch gefangen. Das ist zutiefst beunruhigend, weil mit einem Mal die klassische Logik ins Wanken gerät. Wir haben einen unbehebbaren Widerspruch, die Antinomie der Negation, konzipiert und erfasst und uns denkend darin verfangen. Damit scheint das Nichtwiderspruchsprinzip außer Kraft gesetzt worden zu sein. Spekulative Hegel’sche Gedankenfiguren lassen von gar nicht mehr so ferne grüßen, so das Andere seiner selbst oder die absolute Negation, als welche Hegel das Wesen fasst. Doch heben wir uns die Beunruhigung für später auf, und wenden uns unterdessen Naheliegendem zu: unfundierten Aussagen im Allgemeinen. Ein separates Zeichen für die Affirmation eines Satzes (wie vor­dem Freges Urteilsstrich) ist nicht mehr in Gebrauch; denn es ge122  |  Anton Friedrich Koch 

nügt ja, einen Satz auszusprechen oder aufzuschreiben, um ihn zu behaupten. Aber die doppelte Verneinung ist der Affirmation äquivalent, und so können wir die Affirmation ihrer selbst oder die unfundierte Affirmation andeuten, indem wir das Negationszeichen doppelt nehmen und als verdoppeltes vor eine leere Klammer schreiben: ~~(…) Die Affirmation ihrer selbst (die unfundierte Affirmation)

An die Stelle der drei Punkte in der Klammer ist in Gedanken der ganze Ausdruck zu setzen, wie es ja auch bei der unfundierten Negation und bei der Einermenge ihrer selbst der Fall war. Demgemäß können wir die Affirmation ihrer selbst (oder unfundierte Affirmation) nach dem Muster der Entwicklung von Ω und ν ins Endlose entwickeln: ~~(…) ↔ … ↔ ~~(~~(~~(…))) Um eine bequeme Schreibweise für unfundierte Aussagen einzuführen, wollen wir nun folgende Verabredung treffen. Wir setzen einen Ausdruck für eine unfundierte Aussage, der die drei Punkte als Auslassungszeichen enthält, in eckige Klammern, um anzuzeigen, was jeweils genau an die Stelle der drei Punkte einzusetzen ist: nämlich alles, was zwischen den eckigen Klammern steht. So erhalten wir als Andeutung der unfundierten Affirmation folgendes Satzgebilde: (1) [~~(…)]

Die mit (1) angedeutete Aussage affirmiert nur sich selbst; das ist ihr ganzer Inhalt. Kennen wir einen solchen Denkinhalt aus anderen Zusammenhängen? Ja, und zwar aus ganz verschiedenen Zusammenhängen. Wir kennen ihn zum einen aus der Philosophiegeschichte in der eindrucksvollen Gestalt der Fichte’schen Tathandlung, durch die das Ich sich selber setzt, lateinisch: ponit, d. h. affirmiert. Wir kennen ihn ferner in der Gestalt der Reflexions­ bestimmung der Identität, wie Hegel sie zu Beginn seiner Logik des Wesens betrachtet. Wir kennen ihn aber drittens sogar in einer umgangssprachlichen, harmlos-spielerischen Version, nämlich in Gestalt des sogenannten Wahrsagers, d. h. eines Satzes, mittels dessen seine eigene Wahrheit ausgesagt wird: Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen   |  123

(W) Satz (W) ist wahr.

Der Wahrsager

Spätestens jetzt wird klar, dass wir auch die Negation ihrer selbst nicht nur als Hegel’sches Selbstverhältnis der Negation (zum Beispiel als die Reflexionsbestimmung des Unterschiedes) oder als Heideggers nichtendes Nichts kennen, sondern ebenfalls in einer spielerischen, wenn auch keineswegs harmlosen Variante, nämlich in Gestalt des sogenannten Lügners, d. h. eines Satzes, mittels dessen seine eigene Unwahrheit ausgesagt wird: (L) Satz (L) ist nicht wahr.

Der Lügner

Aber lassen wir diese Entdeckung einstweilen auf sich beruhen und wenden uns wieder der unfundierten Affirmation zu, und zwar in der Formulierung (1), die kein wirklicher, sondern nur angedeuteter Satz ist, weil sie eine Leerstelle enthält, die durch sie selber gefüllt werden müsste: »[~~(…)]«. Da sich aber zwei hinterein­ander geschachtelte Negationszeichen neutralisieren oder aufheben, könnte man die unfundierte Affirmation auch ganz einfach ohne Nega­ tions­zeichen aufschreiben: (1*) […]

Dies ist nur eine Schreibvariante von (1), daher gilt die Äquivalenz: (Ä) […] ↔ [~~(…)]

(Bei (1*) wissen wir allerdings nicht recht, wie wir diesen Satz ins Unendliche entwickeln sollten. Wenn wir Klammern einfügen, die ja nichts am Sinn ändern: »[(…)]«, dann vielleicht zu der Endlosformel: »(((…)))«.) Für die Andeutung der Negation-ihrer-selbst brauchen wir statt eines doppelten Negationszeichens nur ein einfaches Negationszeichen. Dies ergibt die satzandeutende Formulierung: (2) [~(…)]  Die Negation ihrer selbst (die unfundierte Negation)

Wenn wir nun die unfundierte Affirmation und die unfundierte Negation durch Entwicklung der sie definierenden Äquivalenzen näher bestimmen, zeigt sich Erstaunliches: Die Entwicklung würde für die unfundierte Affirmation und für die unfundierte Negation im Unendlichen zu identischen Formulierungen führen (denn die Klammern sind hier letztlich überflüssig): 124  |  Anton Friedrich Koch 

α ↔ ~~(α)  ↔ ~~(~~( α))  ↔ …  ↔ ~~(~~(~~(…)))  ↔ ~~~~~~… ν ↔ ~(ν)   ↔ ~(~(ν))  ↔ …  ↔ ~(~(~(…))) ↔ ~~~…

Der Wahrsager und der Lügner, Affirmation und Negation, sind also näher miteinander verwandt, als es auf den ersten Blick scheint. Das ist massiv untertrieben formuliert: Wahrsager und Lügner – die reine Affirmation und die reine Negation – sind, vollständig ent­ wickelt, äquivalent. Wiederum schwankt der feste Boden der Logik unter uns, wie er schon schwankte, als wir auf die Antinomie der reinen unfundierten Negation stießen. Aber nun sieht man, dass selbst die heroische Maßnahme nichts nützen würde, die Parmenides angesichts der Antinomie der Negation ergriff: die Negation aus dem logischen Raum zu verbannen und nur das affirmative Sein zuzulassen. Denn die Affirmation selber ist, wie Hegel gegen Parmenides zu Recht geltend macht, in ihrem Kern der Negation äquivalent und jedenfalls nicht ohne diese denkbar. Das eleatische Opfer der Negation, des Unterschiedes, der Vielheit und des Werdens war ganz umsonst. Unter einer anderen Betrachtung erweist sich die Affirmation allerdings auch als nicht äquivalent mit der Negation. Denn die Entwicklung obiger Äquivalenzen zeigt auch, dass sich die unfundierte Affirmation nur durch eine massive, sinnberührende Abstraktion aus der unfundierten Negation gewinnen bzw. wiederherstellen lässt. Man tut dabei nämlich so, als könnte man unendlich viele Negationszeichen paarweise ohne Rest zusammenfassen (was aber nur für geradzahlig endlich viele Negationszeichen möglich ist). So bekommt plötzlich der Anfang der Hegel’schen Logik eine unerwartete Brisanz und Beglaubigung, der ja Kontradiktorisches besagt: (a) Sein = Nichts; (b) Sein ≠ Nichts. Doch schauen wir uns auch kurz noch die zweistelligen Wahrheitsfunktionen an. Wir können ohne Weiteres die Konjunktion ihrer selbst und ihrer selbst, kurz die Eigenkonjunktion, und ebenso die Eigenalternation (mit einschließendem »oder«), die Eigendisjunktion (mit ausschließendem »oder«), das Eigenkonditional, die Eigenkontradiktion und das Eigen-Tertium-non-datur bilden (stets ist der Ausdruck in eckigen Klammern in Gedanken an die Stelle der drei Punkte zu setzen):

Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen   |  125

(3) [(…) und (…)] Eigenkonjunktion (4) [(…) oder (…)] Eigenalternation (5) [entweder (…) oder (…), aber nicht beide]  Eigendisjunktion (6) [wenn (…), so (…)] Eigenkonditional (7) [(…) und ~(…)] Eigenkontradiktion (8) [(…) oder ~(…)] Eigen-Tertium-non-datur

Neben diesen total unfundierten Aussagen gibt es auch partiell fundierte, aber nicht wohlfundierte, wie etwa die folgenden (wobei der Schemabuchstabe »p« irgendeinen fundierten Aussagesatz vertritt): (9) [(…) und p] (10) [(…) oder p]

Was die semantische Bewertung dieser Sätze (als wahr oder falsch) angeht, so gilt folgendes. Für (1), (3) und (4) – Eigenaffirmation, Eigenkonjunktion und Eigenalternation – ergibt sich ein unklarer Befund. Wir können ohne Widerspruch annehmen, dass sie wahr sind, und ohne Widerspruch annehmen, dass sie falsch sind. Aber wir finden keinen Grund, diesen Sätzen verschiedene Wahrheitswerte zuzuordnen. Entweder sind sie alle wahr oder alle falsch, also jedenfalls paarweise logisch äquivalent, drücken also (bis auf Äquivalenz) dasselbe aus, und zwar wie schon Satz (1) die Affirmation ihrer selbst oder die reine, unfundierte Affirmation. Die Sätze (6) und (8) – Eigenkonditional und Eigen-Tertiumnon-datur – sind auf jeden Fall wahr, logische Wahrheiten, also einander logisch äquivalent, wie man leicht erkennt, wenn man den Satz (6) so variiert: (6')  [~(…) oder (…)] woraus sich durch Umstellung der Alternationsglieder Satz (8) ergibt. (5) und (7) – Eigendisjunktion und Eigenkontradiktion – sind falsch, logische Falschheiten, also logisch äquivalent. Sie drücken den reinen Widerspruch aus.3 Ihre Negationen Ich ergreife die Gelegenheit zu einer Selbstkorrektur. In meinem Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006, 288, wird zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber durch den Kontext der Anschein geweckt, die Eigenkontradiktion sei nicht nur widerspruchsvoll und daher falsch, sondern auch antinomisch wie die Eigennegation. Das war ein bedauerliches Versehen. 3

126  |  Anton Friedrich Koch 

(11) ~[entweder (…) oder (…), aber nicht beide] (12) ~[(…) und ~(…)]

sind daher logisch wahr. (Man beachte, dass das äußere Negationszeichen hier jeweils außerhalb der eckigen Klammern steht und daher nicht an die Leerstellen miteingesetzt wird.) Aus dem partiell unfundierten Satz (9) folgt »p« (bzw. der Satz, der für den Schemabuchstaben »p« eingesetzt wird); und der ebenfalls partiell unfundierte Satz (10) ist jedenfalls dann wahr, wenn »p« wahr ist. Folgende Satzschemata drücken daher logische Wahrheiten aus: (13) Wenn [(…) und p], so p (14) Wenn p, so [(…) oder p]

Nun aber kommen wir zu guter Letzt wieder zu unserem alten Bekannten, dem Lügner, zurück, hier zu Satz (2). Bisher verlief die semantische Bewertung undramatisch. Wir hatten einige logische Wahrheiten: (6), (8), (11), (12), (13), (14), einige logische Falschheiten: (5), (7), und einige logisch unentscheidbare Sätze: (1), (3), (4), (9), (10), und von den logischen Falschheiten konnten wir uns bequem distanzieren, indem wir sie negierten und uns an die Nega­ tionen, (11) und (12), hielten. Doch der Lügner verneint sich selbst: »[~(…)]«. Wenn er wahr ist, gilt, was er ausdrückt, d. h., es gilt seine Verneinung; also ist er falsch. Wenn er aber falsch ist, gilt seine Verneinung, also wiederum er selber; also ist er wahr. Gerne würden wir uns von ihm distanzieren, indem wir uns an seine Negation hielten: (15) ~[~(…)]

Aber diese Negation (nicht zu verwechseln mit Satz (1), der Affirmation ihrer selbst) ist mit ihm äquivalent, es gilt also: (16) ~[~(…)] ↔ [~(…)]

Unser Problem ist, dass es keine Möglichkeit gibt, uns von dem widerspruchsvollen Satz (2) oder von seiner ebenso widerspruchsvollen Negation (15) zu distanzieren. Wir haben eine echte Antinomie, d. h. einen prinzipiell unbehebbaren Widerspruch gefunden. Was drückt diese Antinomie aus? In ihrer umgangssprachlichen Formulierung (»Dieser Satz ist nicht wahr«) ist zwar von einem Satz Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen   |  127

und von Wahrheit die Rede, aber das dient nur dem semantischen Aufstieg, ist nur äußeres Hilfsmittel des sprachlichen Ausdrucks. Worauf es ankommt, zeigt die Formulierung (2): Die Lügnerantinomie drückt (abgesehen vom Hilfsmittel des semantischen Aufstiegs) reine Negation oder Negativität aus, nichts sonst, also einen rein negativen Sachverhalt unterhalb der Gliederung des Satzes (in Subjekt und Prädikat), einen Sachverhalt, den wir ebenso gut das (reine) Nichts nennen könnten. Das Nichts (wenn wir denn so reden wollen) verwickelt uns, indem wir es denkend erfassen, in einen unaufhebbaren Widerspruch, eine Antinomie. Wenn der Lügner umgangssprachlich formuliert wird, d. h. mittels semantischen Aufstiegs, bietet sich das semantische Prädikat »ist wahr« als die vermeintliche Quelle der Antinomie dar und zieht deswegen seit langem schon das Gros der logischen Reparaturarbeiten auf sich. Aber das Wahrheitsprädikat ist nur der Bote der logischen Katastrophe, nicht deren Ursache, oder vielmehr nur das technische Hilfsmittel für ihre sprachliche Formulierung. Die Quelle des Ungemachs ist das Zusammentreffen von Unfundiertheit und Negation, und dieses Zusammentreffen kann nicht verhindert werden, solange wir einerseits die Negation, etwa in negativen Sätzen, und andererseits unfundierte Strukturen verstehen. Und wir verstehen beides. Nur weil wir den Lügner bereits verstanden haben, finden wir ihn furchtbar und würden ihn lieber nicht verstehen wollen; aber dann ist es natürlich zu spät. Wenn wir intellektuell redlich sein wollen, müssen wir anerkennen: Das Nichtwiderspruchsprinzip der klassischen Logik ist verletzt. Diese meines Erachtens unumstößliche Behauptung nenne ich die Antinomiethese. Das Nichtwiderspruchsprinzip ist verletzt, obwohl es qua Prinzip der klassischen Logik nicht verletzt werden soll und nicht preisgegeben werden darf, denn es gibt weit und breit nichts Evidenteres und epistemisch Wertvolleres als die klassische Logik in ihrer monumentalen Einfachheit und Eleganz. Die beiden großen Prinzipien der klassischen Logik, das Nichtwiderspruchsprinzip (»~(p ∧ ~p)«) und das Tertium non datur (»p ∨ ~p«), werden – das wollen wir uns nicht ausreden lassen – durch faktische Verletzungen nicht widerlegt und erweisen sich darin als normative oder regulative, nicht schlechthin konstitutive Prinzipien des Denkens und des Seins und als Verwandte der moralischen Prinzi128  |  Anton Friedrich Koch 

pien, die ebenfalls durch ihre Verletzungen nicht widerlegt werden. Widersprüche und Wahrheitswertlücken sollen nicht sein, weder sprachseitig noch weltseitig. Der Lügner bezieht sich wesentlich auf sich selbst; es gibt ihn nicht unabhängig von seinem Selbstbezug. Darin gleicht er (wie alle unfundierten Aussageinhalte) dem Kierke­gaard’schen Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Das ist kein Zufall. Vielmehr kann man mit Hegel und mit Sartre die These wagen (wenn auch hier nicht mehr begründen), dass der Abgrund oder der Zirkel des Nega­tiven die Quelle aller Selbstverhältnisse und des Bewusstseins ist.

Abgründige Beziehungen, unfundierte Operationen   |  129

Birgit Recki

»Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart« Kants argumentative Strategien gegen den ­unendlichen Regress Im Freiheitsdenken der Moderne hat der argumentative Umgang mit dem unendlichen Regress eine methodisch und meta­phy­sisch grundlegende Rolle gespielt: Es ist Immanuel Kant, der als Kronzeuge gleichermaßen der modernen Wissenschaftstheorie wie des handlungstheo­re­tischen und ethischen Ansatzes bei der Auto­no­ mie des Subjekts in seiner Metakritik an der Bestreitung der Willens-Freiheit vonseiten des physikalischen Determinismus aus der Zurückweisung des kausallogischen Regressus in infinitum 1781 ein epochemachendes Argument für einen Kompatibilismus der Freiheit entwickelt hat.1 In der Explikation, die Kant diesem in der Dritten Antinomie und ihrer Auflösung2 durchgeführten Argument beigegeben hat, rekurriert er auf die in seiner Erkenntniskritik zuvor getroffene transzendentale Differenz zwischen den Dingen, wie sie an sich selbst betrachtet sind (Ding an sich)3 und deren Erscheinung für uns, zwischen Noumenon und Phänomenon. Er frischt damit auf der Folie der Kopernikanischen Wende die früh geltend gemachte meta­phy­sische Unterscheidung zwischen mundus intelligibilis und mundus sensibilis noch einmal auf,4 die man – zumal in ihrer von Kant selbst nahegelegten methodischen Entschärfung zu einem Reflexions-Perspektivismus zweier gleichwertiger Gesichts-

1 Immanuel

Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), Akademie-Ausgabe Bd. III [im Folgenden KrV unter Angabe der Seitenzahlen nach B]. 2 KrV, 308-313 / B 472-479 und 362-377 /B 560-586. 3 Vgl. Gerold Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974. 4 Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770), Akademie-Ausgabe Bd. II; Übersetzung Von der Form der Sinnenund Verstandeswelt und ihren Gründen, in: Immanuel Kant, Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. V, Frankfurt a. M. 1968. 130  |   

punkte5 – als Begründung des autonomen Geltungsanspruchs einer Sphäre der Bedeutungen bei gleichzeitiger Akzeptanz des physikalischen Determinismus zu begreifen hat.6 5 Immanuel Kant, Grundlegung zur Meta­phy­sik der Sitten (1785), Akade-

mie-Ausgabe Bd. IV [im Folgenden GMS], Dritter Abschnitt. 6 Im Blick auf die Frage nach der Einheit der (theo­re­t ischen und praktischen) Vernunft wird Kant selbst der Parallelismus einer Welt der Erscheinungen, die nach dem Kausalgesetz miteinander verknüpft sind, und einer Welt der Gründe, in der sich das Handeln aus Freiheit bewegt, zum Problem. Die Problematisierung seines Dualismus einer Zwei-Welten- oder Zwei-Perspektiven-Lehre macht den Reflexionsgedanken einer zweckmäßig verfassten Natur erforderlich (siehe Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft (1790), Akademie-Ausgabe Bd. V, [im Folgenden KU], Einleitung 171–197). In der »Kritik der teleologischen Urtheilskraft« exponiert Kant die Idee einer gleichermaßen in der Natur wie in der menschlichen Vernunft wirkenden Freiheit, in welcher der Kompatibilismus der Freiheit aufgehoben zu sein scheint (vgl. KU, 219 f.; 410-415): Wo die Natur als ein Reich der Zwecke denkbar wird, da steht der menschlichen Zwecksetzung im freien Handeln nicht der Determinismus einer linearen Ursache-Wirkungs-Kausalität gegenüber, mit dem sie nach dem Modell der Dritten Antinomie erst kompatibel gemacht werden müsste; zumindest das, was Kant seit seinen ersten vernunftkritischen Bemühungen als »transzendentale Freiheit« bezeichnet (und als Grund der praktischen Freiheit annehmen muss, vgl. KrV 363 / B 561), wird vielmehr als das gemeinsame intelligible Substrat von Natur und praktischer Freiheit ausgezeichnet. Freiheit des Willens wird so denkbar als ein Element der Freiheit in der Natur, diese als das Produkt eines dem Ganzen zugrunde liegenden Willens. Da Kant den naturteleologischen Gedanken als Leistung der reflektierenden Urteilskraft jedoch explizit gleichsam in die Klammer eines methodischen »Als-ob« setzt, hat die in ihm implizierte Idee einer systematischen Kontinuität von Natur und Freiheit in der auf Kant bezogenen Freiheitsdiskussion nicht annähernd die gleiche Beachtung gefunden wie der Kompatibilismus; siehe dazu Birgit Recki, Die Realität der Freiheit, in: Gunnar Hindrichs und Axel Honneth (Hrsg.), Freiheit. Geist und Geschichte Band 1, Stuttgarter Hegel-Kongress 2011, Frankfurt a. M. 2013, 241–257. Der Geltungsmodus des Freiheitskonzepts der dritten Kritik als eines Reflexionsgedankens, der unsere Vorstellungen vom Verhältnis von Natur und Freiheit bereichert, bedarf noch der Erörterung; siehe Birgit Recki, Freiheit aus Natur. Die spekulative Dimension der Kantischen Kritik, in: Violetta Waibel u. a. (Hrsg.), Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kantkongresses (Wien, 21.–25. September 2015), [in Vorbereitung]. – Siehe auch Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001; dies., Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Methodenlehre des Geschmacks (§§ 55–60), in: Otfried Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Klassiker auslegen, Berlin 2008, 189–210. »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  131

Weniger Beachtung als dieses Argument hat sowohl systematisch in der Freiheitstheorie wie philologisch in der Kantforschung der erneute Rekurs auf den infiniten Regress auf sich gezogen, der sich Kant im Kontext seiner Ethik als Problem darstellt: Wie hat man sich die moralische Besserung vorzustellen, die aus Einsicht in die Geltung des Sittengesetzes erfolgt? Diese Frage stellt sich Kant im Kontext der Erweiterung seiner Ethik durch die Lehre von der intelligiblen Tat des radikalen Bösen und den zwei obersten Maximen des Handelns in der Religionsschrift.7 Gegen die defizitäre Vorstellung einer bloß sukzessiven moralischen Verbesserung macht er die Notwendigkeit einer radikalen Grundsatzentscheidung geltend, die geradezu als die Bedingung der Möglichkeit jener Verbesserung anzusehen sei. Zur theo­re­tischen Begründung der Freiheit wie zu ihrer praktischen Durchführung in einer Moral, die in Freiheit als Autonomie gründet, wird derart die Begrenzung des infiniten Regresses zum argumentativen Instrument. Das Strukturmerkmal der Diskontinuität im Fluss des kontinuierlichen Prozesses, hier allemal qualifiziert als eine unvordenkliche Spontaneität, wird auf diese Weise ebenso dringlich in der theo­re­tischen wie in der praktischen Philosophie postuliert.

I. Der infinite Regress und die kosmologische Begründung von Freiheit Nach den Standards der Wissenschaft, die Kant für jede methodisch gesicherte Erkenntnis geltend macht, lässt sich Freiheit nicht beweisen. Für jeden Beweisanspruch, sofern er sich auf Wirkliches bezieht, gilt eben die Einsicht, die Kant in seiner Erkenntniskritik geltend macht: Jede empirische Erkenntnis hat zwei Quellen, Anschauung und Begriff.8 Ein empirischer Beweis ist an diese beiden Quellen und damit an Empirie gebunden. Es ist empirisch nur das 7 Immanuel

Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Akademie-Ausgabe Bd. VI, [im Folgenden REL]. 8 »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« KrV 75 / B 75. 132  |  Birgit Recki 

beweisbar, wofür es auch ein Zeugnis der Sinne gibt, und wenn das gilt, scheint der Philosoph mit Blick auf die Freiheit kapitulieren zu müssen. Denn was wir von menschlichen Handlungen mit den Sinnen wahrnehmen, sind immer nur die Körperbewegungen; das, was an ihnen die Freiheit ausmacht, ist nicht Gegenstand der Erfahrung. Es gibt eine Stelle in der Kritik der praktischen Vernunft, an der Kant dies anschaulich macht, indem er ironisch von der »Freiheit eines Bratenwenders« spricht,9 an welcher einer Theo­rie der Freiheit nichts gelegen sein könne. Er meint damit unter Anspielung auf die damals schon entwickelte Technik mechanischer Bratspießanlagen den bloßen beweglichen Mechanismus, der seinen ursächlichen Impuls von außen bekommt. Die Bewegung als solche unterscheidet den Vorgang beispielsweise beim Beugen des Armes nicht von einem solchen Bratenwender. Um die Bewegung meines Armes als mit Sinn und Verstand vollzogene Handlung, als Akt meiner Freiheit vom bloßen Mechanismus unterscheiden zu können, muss ich etwas darüber wissen, das ich nur aus der Innenperspektive der ersten Person überhaupt wissen kann.10 Und der Charakter dessen, was ich da weiß, entzieht sich der empirischen Beweisbarkeit. Diese Einsicht ist der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen Kants um den Freiheitsbegriff. Wenn sich derart Freiheit nicht nach Art eines physischen Sachverhaltes beweisen lässt, heißt das nicht, dass es sie nicht auf andere Weise ›gibt‹ und dass sie nicht auf diese andere Weise wirksam ist. Es gilt daher, diese andere Wirksamkeit und Wirklichkeit der Freiheit aufzuzeigen und überzeugend darzulegen, dass die Vorstellung von Freiheit unverzichtbar ist. Das ist das Beweisziel, für das Kant argumentiert.   9 Immanuel

Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe Bd. V [im Folgenden KpV], 97. 10 In einer Reflexion, die gelegentlich irrigerweise als der Versuch der Ableitung von Freiheit aus der theo­re­tischen Vernunft interpretiert wurde, zeichnet Kant selbst vielmehr die Erste Person Singular und genauer deren kompetente Pragmatik aus: »Das Ich beweiset aber, daß ich selbst handele; ich bin ein Princip und kein principiatum; ich bin mir bewußt der Bestimmungen und Handlungen; und ein solches Subject, das sich seiner Bestimmungen und Handlungen bewußt ist, das hat libertatem absolutam. […] Wenn ich sage: Ich denke, ich handele usw.; dann ist entweder das Wort Ich falsch angebracht, oder ich bin frei.« Immanuel Kant, Meta­phy­sik Pölitz (1779/80), AkademieAusgabe Bd. XXVIII/I, 268 f. »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  133

Kants Argumentationsprogramm zur Sicherung der Freiheit besteht in der kritischen Philosophie aus zwei Schritten: In einem ersten Schritt sichert er die Denkmöglichkeit von Freiheit. Das geschieht in der Kritik der reinen Vernunft in den Abschnitten über die Dritte Antinomie und ihre Auflösung: Die Annahme von Freiheit steht nicht im Widerspruch zum Konzept einer kausal determinierten Welt. In einem zweiten Schritt zeigt er die Denknotwendigkeit von Freiheit: Der Begriff der Freiheit ist für das Selbstverständnis des Handelnden unverzichtbar, »weil man sonst sich selbst mißversteht«. (KpV 110) Das steht so in der Kritik der praktischen Vernunft. Die Notwendigkeit des Freiheitsbegriffs ist zuvor aber bereits Gegenstand der Erörterung in der Grundlegung zur Meta­phy­sik der Sitten,11 und sie kündigt sich auch schon in den Explikationen der Auflösung der Dritten Antinomie an. In der Vorrede zur Ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant angekündigt: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.«12 Kant geht damit zu Beginn des Buches, mit dem er das erklärte Ziel verbindet, »die Meta­phy­sik auf den sicheren Weg einer Wissenschaft zu bringen«, indem er die Prinzipien aller Erkenntnis begründet, geradenwegs auf das Pro­ blem zu, das er in der zweiten Hälfte des Buches unter dem Titel der Antinomie der Vernunft behandeln wird: Wenn die Vernunft entsprechend dem Aufstieg von Erfahrungen zu Grundsätzen, wie ihn Kant schon in der Vorrede zur ersten Auflage skizziert, zwangsläufig zu solchen Erklärungsansprüchen kommt, in denen es nicht mehr um einzelne Dinge in der Welt und deren empirisch aufweisbare 11 Zur

strittigen Frage, wann Kant in der Begründung der Freiheit seine Argumentationsstrategie umstellt auf das Argument aus dem moralischen Selbstverständnis, also aus dem »Factum der Vernunft«, siehe Heiko Puls (Hrsg.), Kants Rechtfertigung des Sittengesetzes in Grundlegung III. Deduktion oder Faktum?, Berlin/München/Boston 2014; Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III. Neue Interpretationen, Münster 2015. 12 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), Akademie-Ausgabe Bd. IV [im Folgenden KrV unter Angabe der Seitenzahlen nach A], VII. 134  |  Birgit Recki 

Zusammenhänge geht, sondern um das spekulativ gedachte Ganze dieser Zusammenhänge, dann wird sie zwar gemessen am zunächst aufgestellten Erfahrungskriterium der Erkenntnis überschwänglich, denn das Ganze kann kein Gegenstand empirischer Erkenntnis sein. Doch die Vernunft kann nicht anders, als sich die Fragen nach dem Ganzen der Welt und ihrer eigenen Stellung in diesem Ganzen zu stellen, auch wenn sie sich damit abhebt vom fruchtbaren Bathos der Erfahrung, wie Kant es nennt. »Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann.« (KrV A X) Die genuin meta­phy­sische Frage nach dem Ganzen der Welt, seiner Verfassung, seinen Prinzipien, stellt sich nach Kants Über­legung demjenigen, der überhaupt nachdenkt, unweigerlich. Das kann man sich schon an dem ersten Fall einer meta­phy­sischen Frage klar­ machen, die man mitvollzieht, wenn man Kant in seinem vernunftkritischen Programm folgt: Die Frage nach den ersten Prinzipien der Erkenntnis überhaupt ist keine Frage nach empirischen Gegenständen – sondern ihrerseits bereits eine, die sich in letzter Instanz auf die Welt als Ganzes bezieht, da es bei diesen Prinzipien zuletzt um das geht, was die Welt zusammenhält. Wenn Kant sagt, dass alle Meta­phy­sik es mit den Fragen nach Gott, der Welt und dem Selbst zu tun hat, dann lässt er damit deutlich erkennen, dass es ihm in seiner Kritik der Vernunft nicht in letzter Instanz um eine mit den Mitteln der Kritik gewonnene Erkenntnistheorie geht, sondern dass diese Erkenntnistheorie das methodische Fundament abgeben soll, auf dem die in letzter Instanz interessierenden Fragen angemessen zu behandeln wären. Und wenn Kant sein kritisches Unternehmen so zusammenfasst: »Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (KrV 19 / B XXX), dann meint er damit genau diese Fragen, von denen er zu Beginn seiner Schrift gesagt hat, dass die menschliche Vernunft das Schicksal habe, sie in sich vorzufinden. Er meint damit die Vernunftideen von Gott, Welt, unsterblicher Seele und Freiheit, die damit die Gegenstände dessen ausmachen, was Kant zunächst generell Glauben und später spezifizierend praktischen Vernunftglauben nennt. Auch in diesen Fragen des Glaubens traut sich Kant weiterhin zu, Vernunftkritik zu üben. Auch für das Glauben, das vom Wissen und der Erfahrungs»Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  135

erkenntnis methodisch zu unterscheiden ist, gelten Kriterien, wenn es sich im Rahmen der Vernunft halten soll; vor allem das Kriterium der Widerspruchsfreiheit: »[D]enken kann ich was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche« (B XXVI, Anm.). Mit dem Problem, das Kant an der zitierten Stelle aus der Vorrede zur Ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beschreibt und das er später im Text »Antinomie(n)« nennt, sind also Probleme gemeint, die sich aufdrängen, wenn man beim Nachdenken über die Verfassung der Welt mit dem Denken nicht irgendwo abbricht, nur weil die Möglichkeiten der empirischen Erkenntnis begrenzt sind, und die zu einem scheinbar unauflöslichen Patt zweier ultimativer, meta­phy­sisch gleichwertiger Antworten führen. Die Fragen, die die Vernunft nach Kants Analyse in sich vorfindet, die sie ebenso wenig lösen wie von sich weisen kann, sind Fragen nach unbeweisbaren Vorstellungen: Ist die Welt endlich oder unendlich? Ist alles in der Welt aus einfachen Teilen aufgebaut, oder gibt es nichts Einfaches? Gibt es Freiheit, oder ist alles naturgesetzlich determiniert? Gibt es einen oder gibt es keinen Gott? Kant setzt sich mit diesen spekulativen Annahmen auseinander und findet hier einen Gleichstand: Im Hinblick auf diese Fragen nach den letzten Gründen lässt sich in jedem der aufgeführten Fälle die These der Bejahung mit genauso guten Gründen vertreten wie die These der Bestreitung. Beide Thesen haben recht – es gibt auf der Ebene der konsequenten Argumentation keine Möglichkeit, eine Entscheidung herbeizuführen. Das ist es, was wir eine Antinomie nennen: einen nicht auflösbaren Widerspruch. Antinomien der Vernunft stellen ein Problem für das vernünftige Selbstverständnis dar, weil die Vernunft sich hier in Fragen, die sie nicht abweisen kann, in unlösbare Widersprüche verwickelt findet, so dass Anlass zu der Befürchtung besteht, die Sache der Vernunft samt allen ihren Ansprüchen in Erkenntnis und Handeln wäre auf Sand gebaut. Kant hat in der Exposition der Antinomien, um das Problem auch sinnfällig zu machen, zu einem kühnen Verblüffungseffekt in der Präsentation seiner Auseinandersetzung gegriffen, indem er den Text der These und den der Antithese jeweils auf einander gegenüberliegenden Buchseiten und in unterschiedlichen Schrifttypen hat drucken lassen. Er präsentiert zunächst parallel und im vollen Umfang den Argumentationsgang jeder These für sich und 136  |  Birgit Recki 

wendet sich später (dies dann wieder in normaler Seitenfolge) der Auflösung der Antinomie zu, in der er zu zeigen beansprucht, dass diese Antinomie nur scheinbar besteht: Es ist zu zeigen, dass beide Thesen, die Thesis und die Antithesis, vielmehr vereinbar sind, und zwar in dem methodischen Bewusstsein, dass sie aus inkongruenten Perspektiven begründet und von daher in verschiedener Hinsicht bzw. auf verschiedenen Ebenen gültig sind. Kant ist auf diese Weise der erste, der das spezifisch moderne Dilemma der Freiheit bei den Hörnern gepackt hat. Die Naturwissenschaften behaupten den Kausalnexus als lückenlosen Determinationszusammenhang, in den wie jedes Ding in Raum und Zeit auch der Mensch als Lebewesen eingebunden ist; der Mensch als (auch im Handeln) selbstbewusstes Wesen behauptet dagegen seine Freiheit. In der Dritten Antinomie zeigt Kant auf der einen Seite in einem stringenten Beweisgang, dass es Freiheit nicht geben kann, und legt in dem parallel auf der anderen Seite vollzogenen Beweis mit bezwingender Logik genau das Gegenteil dar. Die Lay-outEntscheidung ist corporate identity der philosophischen Position: Beides soll wahr sein – dass es Freiheit in der physikalisch konstru­ ierten Natur nicht geben kann und dass es sie geben muss. Darin liegt der zunächst unauflöslich scheinende Widerspruch, der in der nachfolgenden Erklärung als vermeintlicher Widerspruch aufgewiesen wird. Für den Physiker kann es im Blick auf den nexus rerum die Freiheit nicht geben, für das Selbstverständnis des handelnden Menschen hingegen im Blick auf sein eigenes Handeln darf es sie, ja: muss es sie geben, weil er anders nicht verstehen würde, was er ist und was er tut. In der Präsentation der Beweisgänge für beide Positionen ist es der Beweis (der eingangs genannte erste Argumentationsschritt für die Denkmöglichkeit) der Freiheit, in welchem die Argumentation mit dem Regressus ad infinitum die entscheidende Rolle spielt. Die Thesis der Freiheitsbehauptung besagt, dass just die methodische Annahme von ›lückenloser‹ Naturkausalität13 bei konsequenter Anwendung zu einer Inkonsistenz führt, wir also bei konsequenter Durchführung des Prinzips der Kausalerklärung mit der Welt­ 13 Zur

Kritik am kantischen Kompatibilismus, seinen Voraussetzungen und seiner Begründung siehe Geert Keil, Willensfreiheit, Berlin 2007, bes. 118–123. »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  137

erklä­rung nicht zurechtkommen. Wenn wir von der durchgängigen Kausalverknüpfung ausgehen und das Programm lückenloser Erklärung verfolgen, dann müssen wir in der Kette der Verursachung nach jeder Begründung immer noch eine Stelle weiterfragen, bei jeder Ursache für eine Wirkung wiederum nach deren Ursache suchen und so immer weiter ins Unendliche. Wir geraten in einen infiniten Regress, wodurch das Programm der Kausalerklärung ad absurdum geführt wird. Die These der durchgängigen Bestimmung durch Naturkausalität wird zu einem selbstwidersprüchlichen Satz, weil sich so die Begründung nicht durchführen, da niemals zum Abschluss bringen lässt: Die erste Ursache wäre so gerade nicht bestimmbar, Kausalerklärung letztlich unmöglich. Dagegen hilft nur, den gesamten Zusammenhang der Kausalverknüpfung auf einen ersten Anfang, einen Ursprung zurückzuführen, der als eine »absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen verläuft, von selbst anzufangen« (KrV 310 / B 475) bzw. eine »absolute Spontaneität der Handlung« (KrV 310 / B 476) zu denken wäre. Der Begriff der Spontaneität ist hier wie überall bei Kant als Selbsttätigkeit zu übersetzen und so zu verstehen, dass damit etwas Ursprüngliches gemeint ist. Der Charakter der Spontaneität besteht gerade darin, dass diese nicht als durch äußeren Einfluss bedingt, als »angestoßen« zu begreifen ist. Soweit die Thesis. Die Antithesis der deterministischen Freiheitsbestreitung macht Gebrauch von dem Argument, dass durch die Annahme einer solchen absoluten Spontaneität ein Vermögen außerhalb der Welt (als der durchgängig nach Gesetzen verknüpften Welt der Naturkausalität) angenommen und durch die damit gegebene Konzession eines willkürlichen, regellosen Einflusses auch jede Berechtigung preisgegeben wäre, weiterhin von Naturgesetzmäßigkeit zu sprechen. Dadurch aber sei der Zufall, mithin die Irrationalität in das System hineingelassen – ein Gedanke, der sich mit der leitenden Annahme aller methodischen Erkenntnis, der Annahme von Gesetzmäßigkeit, nicht vereinbaren ließe. So stehen einander in bezwingender Argumentation die These der Freiheit (im Begriff der Spontaneität) und die These des Determinismus gegenüber – die These des Determinismus, der die Annahme einer absoluten, aus dem Kausalnexus losgelösten Spontanei­ 138  |  Birgit Recki 

tät mit dem triftigen Einwand gegen exterritorialen Zufall ablehnt; und die These der Freiheit, für welche die Annahme einer absoluten Spontaneität sich aus der Notwendigkeit ergibt, innerhalb des Systems den unendlichen Regress zu vermeiden. Der Begriff der Freiheit fällt hier mit dem der unbedingten Spontaneität zusammen – mit einer Selbsttätigkeit, die sich nicht auf anderes zurückführen lässt. Kant spricht von dem »Vermögen […], eine Reihe von succesiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen« (KrV 310 / B 476), und nennt dies Vermögen eine »absolute Spontaneität der Ursachen« oder »transscendentale Freiheit« (KrV 310 / B 475). Der Ausdruck »transzendental«, der an diesem Punkt der Untersuchung aus der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis bereits vertraut ist,14 bezeichnet hier die Grundsätzlichkeit der Erklärungsebene: eine als transzendental bezeichnete Freiheit soll sein: die Bedingung der Möglichkeit eines absoluten Anfangs, als der jeder selbsttätige Akt gedacht werden muss. Diese Freiheit ist das grundsätzlich zu unterstellende Vermögen, das als die Voraussetzung aller einzelnen Handlungen – die eben dadurch Handlungen aus Freiheit sind – gedacht werden muss. In einer auf das Ganze der physischen Welt bezogenen Fragestellung geht es Kant um den Nachweis eines für jede Erklärung eines Ganzen benötigten Ursprungs. Ausdrücklich heißt es: »Nun haben wir diese Nothwendigkeit eines ersten Anfangs einer Reihe von Erscheinungen aus Freiheit zwar nur eigentlich in so fern dargethan, als zur Begreiflichkeit eines Ursprungs der Welt erforderlich ist« (KrV 310 / B 476; H. v. m.) – m. a. W. es handelt sich entsprechend dem Fragekontext nach der durchgängigen Welterklärung auf der Grundlage des Kausalprinzips um eine kosmologische These. So spricht er auch in der Auflösung der Dritten Antinomie von »Freiheit im kosmologischen Verstande« (KrV 363 / B 561). Der Fluchtpunkt der Reflexion liegt so erkennbar in einer schöpfungstheologischen Voraussetzung, an der auch die Erwähnung der »Freiheit des Willens« im Text der Dritten Antinomie zunächst nichts ändert, denn »Freiheit des Willens« muss sich durchaus nicht 14 »Ich

nenne alle Erkenntnis transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. Ein System solcher Begriffe würde Transscendental-Philosophie heißen.« (KrV B 25). »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  139

per se auf den Willen eines handelnden Menschen beziehen. Kant macht denn auch – nach der Erwähnung des »ersten Beweger[s]« (KrV 312 / B 478) in mehreren späteren Schriften, zum Beispiel in der Kritik der teleologischen Urteilskraft und in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, deutlich, dass der Gott, der als die letzte Ursache der Welt in Betracht kommt, für uns gemäß einem unvermeidbaren ›praktischen Anthropomorphism‹ ein handelnder Gott sei: Schöpfer, Gesetzgeber und Richter. Doch an der Stelle, an der der Begriff der »absoluten Spontanei­ tät einer Ursache« zur Vermeidung des infiniten Regresses die Funk­ tion gleichsam eines meta­phy­sischen Urknalls übernimmt, geht es Kant zwar in erster Linie um Gott als diesen Ursprung der Welt. Aber es geht ihm deutlich erkennbar nicht nur, ja nicht einmal in letzter Instanz darum; er fährt nämlich fort: »Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, bewiesen […] ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen der Causalität nach von selbst anfangen zu lassen und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln.« (KrV, 310 f. / B 478) Unter den Begriffen von »transscendentale[r] Freiheit« und »absolute[r] Spontaneität der Ursachen« vollzieht Kant einen kühnen Übergang von jener begründungslogisch notwendigen Annahme eines Ursprungs der Welt, der im meta­phy­sischen Interesse an der Idee der Welt als eines Ganzen liegt, zum freien Willen als dem Ursprung der eigenen Handlung des Menschen – zum freien Willen als einer Instanz, deren absolute Spontaneität in allen Handlungen je und je angenommen werden dürfe. Die menschliche Handlung aus freiem Willen soll demnach ebenso auf transzendentaler Freiheit beruhen wie der nexus rerum der Welt. Es ist eine atemberaubende Lizenz in eigener Sache, die sich Kant hier selbst erteilt. Es ist die Lizenz zur Extrapolation. Was hier zunächst als Übergang bezeichnet wird, ist genau besehen ein gewaltiger Sprung, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass man mit dem Argument zur Vermeidung des infiniten Regresses mit Blick auf das von Kant angeführte »Bedürfniß der Vernunft, in der Reihe der Naturursachen sich auf einen ersten Anfang aus Freiheit zu berufen« (KrV 312 / B 478), diesen ersten Anfang als Modell auch gleich umstandslos auf die ungezählten Handlungen mitten im Laufe der Welt übertragen 140  |  Birgit Recki 

kann. Wundersame Vermehrung der Anfänge, kann man da nur sagen und den Kopf solange schütteln, bis einem nach dem Prinzip des hermeneutischen Wohlwollens etwas einfällt, womit sich Kants Gedanke plausibilisieren und womöglich vom Vorwurf eines Gedankensprunges entlasten lässt. Das gesuchte Zusatzargument kann m. E. nur in der Legitimität einer Analogie liegen – in der Einsicht, dass wir mit Blick auf die menschliche Handlung ein ebenso starkes Bedürfnis der Vernunft haben, sie als eine Einheit und Ganzheit zu konzipieren, die ohne diese Annahme ins Unendliche ausfransen und konturlos werden müsste; und dass sie als Einheit und Ganzheit zu konzipieren es auch mit sich bringt, ihr nach der Art der kosmologischen Begründung einen absoluten Anfang zuzusprechen. Kant konzipiert also offenbar für die Handlung des Menschen in Analogie zur Annahme eines Ursprungs der Welt einen Anfang aus absoluter Spontaneität, und er darf dies dadurch als gerechtfertigt ansehen, dass das handelnde Subjekt ein vernünftiges Interesse daran hat, in Analogie zur Idee der Ganzheit der Welt seine Handlung (Handlungen überhaupt) selbst als eine Ganzheit begreifen zu können. Kants erste anschauliche Erläuterung, noch im Text der Dritten Antinomie, lautet: »Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit sammt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an« (KrV 312 / B 478). Das Beispiel ist denkbar unscheinbar und lässt womöglich nicht prägnant werden, was in der Unterstellung, dass mit der Vorstellung, mit ›meiner‹ Handlung fange eine neue Reihe schlechthin an, eigentlich auf dem Spiel steht. Die Erörterung im Text der Auflösung der Dritten Antinomie macht es anhand eines anderen Beispiels deutlich: »[S]o nehme man eine willkürliche Handlung, z. E. eine boshafte Lüge, durch die ein Mensch eine gewisse Verwirrung in die Gesellschaft gebracht hat, und die man zuerst ihren Bewegursachen nach, woraus sie entstanden, untersucht und darauf beurtheilt, wie sie samt ihren Folgen ihm zugerechnet werden könne. In der ersten Absicht geht man seinen empirischen Charakter bis zu den Quellen desselben durch, die man in der schlechten Erziehung, übler Gesellschaft, zum Theil auch in der Bösartigkeit eines für Beschämung unempfindlichen Na»Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  141

turells aufsucht, zum Theil auf den Leichtsinn und Unbesonnenheit schiebt; wobei man denn die veranlassenden Gelegenheitsursachen nicht außer Acht läßt. In allem diesem verfährt man, wie überhaupt in Untersuchung der Reihe bestimmender Ursachen zu einer gegebenen Naturwirkung. Ob man nun gleich die Handlung dadurch bestimmt zu sein glaubt: so tadelt man nichts destoweniger den Thäter und zwar nicht wegen seines unglücklichen Naturells, nicht wegen der auf ihn einfließenden Umstände, ja sogar nicht wegen seines vorhergeführten Lebenswandels; denn man setzt voraus, man könne es gänzlich bei Seite setzen, wie dieser beschaffen gewesen, und die verflossene Reihe von Bedingungen als ungeschehen, diese That aber als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Thäter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe. Dieser Tadel gründet sich auf das Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen anders habe bestimmen können und sollen.« (KrV 375 f. / B 582 f.)

Am Beispiel einer unmoralischen Tat also schildert Kant, wie wir zwar eine willkürliche Handlung aus ihren »Bewegursachen« zu erklären und dabei den »empirischen Charakter« des Menschen aus dem Kontinuum seiner Entwicklungseinflüsse (von schlechter Erziehung bis zu übler Gesellschaft) begreiflich zu machen suchen; in diesem Erklärungsversuch ist die Entsprechung der naturwissenschaftlichen Strategie in gesellschaftlichen Verhältnissen zu sehen. Bemerkenswert ist dabei, dass wir die Handlung gleichwohl tadeln, »als ob der Thäter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe.« (KrV 375 / B 583; H. v. m.) Auffällig ist hier die Ähnlichkeit der Formulierung mit derjenigen des einfachen Beispiels im Text der Dritten Antinomie, sich vom Stuhl zu erheben: »eine Reihe von Folgen ganz von selbst anheben« oder »so fängt in dieser Begebenheit […] eine neue Reihe schlechthin an«. In einem solchen Urteil aber: dass die Vernunft »das Verhalten des Menschen unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen anders habe bestimmen können und sollen« (KrV 375 f. / B 583), sehen wir nach Kant die Vernunft als Quelle einer »Causalität durch Freiheit« (KrV 308 / B 472) an. In dieser Konstruktion einer anderen Kausalität, als es die der Natur ist, geht es um die kausale Zuständigkeit des Handelnden für seine Handlung, komplementär um die Zurechnungsfähigkeit, somit um die Verantwortung des Subjekts, die Kant (wenn auch zu142  |  Birgit Recki 

meist unter dem Ausdruck »Schuld«) als Komplement der Freiheit des Willens begreift.15 Der zunächst ganz abstrakte Begriff einer absoluten Spontaneität der Ursachen läuft somit – nach der Extrapolation von der kosmologischen Erklärungsdimension – auf diejenige selbstbestimmte Bewegung hinaus, die der Mensch nur von sich selbst her kennt. Kant selber ist es, der durch das Beispiel eines praktischen Vollzuges (vom Stuhl aufzustehen) ebenso wie durch die Kontextualisierung des Problems im Blick auf Handlungen, die durch ihre moralische Beurteilung unweigerlich mit der Unterstellung von Verantwortlichkeit des Akteurs operieren, die Konzentration auf das Problem der Freiheit des Willens nahelegt. Und wenn das auch schon viel ist, so muss man doch sehen, dass die Relevanz dessen, was er mit dem Begriff von transzendentaler Freiheit gewonnen hat, noch über die Konzeption der praktischen Handlung, deren Bezug auf die Freiheit des Willens und die systematische Konsequenz der Moralbegründung hinausgeht. Wenn Kant in der Dritten Antinomie zur Vermeidung des infiniten Regresses bei der Kausalerklärung der Welt die transzendentale Freiheit einführt, von der er in der Auf­lösung der Antinomie sagt, dass »auf diese transscendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe« (KrV 363 / B 561), dann wird retrospektiv mit Blick auf die im ersten Teil des Buches unternommene erkenntniskritische Untersuchung klar, dass deren Bestimmung als absolute Spontaneität und der in der Transzendentalen Logik beschriebenen Spontaneität des Verstandes keine bloße Äquivokation darstellt. Nicht erst die von Kant in der Dritten Antinomie angeführte Handlung, »wenn ich jetzt […] völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe« (KrV 312 / B 478), ist ein Beispiel für die »absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen« bzw. 15 Es

ist daher völlig im Sinne der kantischen Argumentationsabsicht, wenn Ernst Tugendhat die Funktion des kantischen Argumentes gegen den infiniten Regress auf die eines handlungstheo­re­tischen »Warumstopp« zuspitzt, der im reflexiven Selbstbewusstsein erforderlich sei, damit sich der Handelnde die Verantwortung für sein Handeln zuschreiben könne (Ernst Tugendhat, Willensfreiheit und Determinismus, in: Konrad Paul Liessmann (Hrsg.), Die Freiheit des Denkens [Philosophicum Lech, Bd. 10], Wien 2007). »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  143

»eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen« (KrV 310). Auf die Spontaneität des Verstandes, die Synthesis-Leistung des erkennenden Bewusstseins, trifft die Bestimmung ebenfalls schon zu. In der Transzendentalen Analytik spricht Kant explizit von der »Spontaneität unseres Denkens« und spricht sie an in der »Synthesis« als der Handlung, »verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzuthun und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntniß zu begreifen«. (KrV 91 / B 103) Auch in ihr wirkt tran­ s­zendentale Freiheit. Gemäß diesem Begriff und der Argumentation in der Dritten Antinomie wäre Kants Vollzug des Bewusstseins, des erkennenden Bewusstseins, als ein Akt der Freiheit zu begreifen. Es ist dieser transzendentale Aktivismus, den die Kopernikanische Wende als den methodischen Perspektivenwechsel bei der Konzeption des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis programmatisch formuliert. Es ist also nicht nur die Freiheitsbegründung und mit ihr die Sicherung der Bedingung der Möglichkeit von Moralität, es ist vielmehr insgesamt die Qualifizierung einer Konzeption von Vernunft als Inbegriff genuiner, selbstständiger, autonomer Aktivitäten – gemäß der »Maxime einer niemals passiven Vernunft« (KU, 294), die bei Kant an der argumentativen Strategie der Vermeidung des unendlichen Regresses hängt. Es ist somit auch die definitive Absage an das Hume’sche Modell einer Vernunft, deren Funktion sich auf die Verstandeskalkulation beschränkt und die im Übrigen als passiv auf die Motivation durch Emotion angewiesen ist, die mit dem kantischen »Warumstopp« (Ernst Tugendhat) auf das engste verbunden ist.

II.  Schlechte Unendlichkeit bei der Bemühung um Moralität und noch eine unvordenkliche Spontaneität: die »Revolution der Denkungsart« Von Anfang an lässt Kant keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihn der mittels des Argumentes gegen den infiniten Regress gewonnene Begriff einer transzendentalen Freiheit nicht allein um willen eines meta­phy­sischen Abschlussgedankens, sondern mindestens 144  |  Birgit Recki 

ebenso sehr, wenn nicht vordringlich um willen eines meta­phy­ sischen Grundlegungsgedankens interessiert.16 Es geht ihm in seiner logisch-kosmologischen Begründungsstrategie nicht letztlich um die kosmologische Perspektive auf das Kontinuum des Weltganzen, sondern um die Freiheit eines vernünftigen Wesens in seinen Willensbestimmungen – die Freiheit desjenigen vernünftigen Wesens, das er als das handelnde menschliche Subjekt im Prospekt hat. Die Eile des Quidproquo von transzendentaler Freiheit und Willensfreiheit im Handeln fällt schon an dem bereits erwähnten kühnen Sprung der Extrapolation auf, auch wenn dies durch die umstandslose Anwendung auf ein Beispiel alltäglichen, augenscheinlich noch ›moralneutralen‹ Handelns zunächst noch keine moralphilosophische Prägnanz bietet.17 Doch in der Auflösung der Dritten Antinomie braucht Kant keine zwei Seiten, um noch im Kontext der begrifflichen Bestimmung darauf zu sprechen zu kommen, dass »auf diese transscendentale Idee der Freiheit sich der praktische Begriff derselben gründe« (KrV 363 / B 561). Die Explikation durch ein moralisches Beispiel folgt auf dem Fuß. Von hier aus wird Kant seine Aufgabe vorzüglich darin sehen, den im Argument gegen den infiniten Regress gewonnenen Begriff der transzendentalen Freiheit als Begriff der Freiheit des Willens gegen den Einwand zu sichern, der ihm aus dem Argument der Antithesis erwächst: Es handele sich um eine der Gefahr der bloßen Zufallswillkür ausgesetzte, da gesetzlose Freiheit. Er wird die Freiheit des Willens gegen die Gefahr, bloß als Wahlfreiheit oder auch liberum arbitirum indifferentiae nicht gegen die bloße Willkür des Zufalls abgegrenzt zu sein, dadurch absichern und sie zur Instanz der Moralbegründung qualifizieren, dass er ihr nach der eigenen »Causalität« auch eine eigene Gesetzlichkeit zuweist, die es mit jener der Natur aufnehmen kann: Freiheit als Autonomie.18 16 Diesen

Unterschied macht Dieter Henrich, Was ist Meta­phy­sik, was Moderne? Thesen gegen Jürgen Habermas, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken Nr. 448, 40. Jg., Juni 1986, 495–508. 17 Vgl. nochmals: »Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe […]« (KrV 312 / B 478). 18 Siehe Jens Timmermann, Sittengesetz und Freiheit. Untersuchungen zu Immanuel Kants Theo­rie des freien Willens, Berlin/New York 2003. »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  145

Mit dem methodischen Problem des Regressus in infinitum aber wird sich Kant in der Konzeption der so durch Freiheit gegründeten Moral an unerwarteter Stelle ein weiteres Mal auseinandersetzen müssen. Es ist der Kontext der systematischen Arrondierung der kritischen Moralphilosophie in der Religionsschrift, in der das Problem begegnet. In der Lehre vom radikalen Bösen entwickelt Kant hier einen Gedanken, der – so wäre geltend zu machen – sich im Ausgang vom begrifflichen Substrat der transzendentalen Freiheit bzw. der absoluten Spontaneität eigentlich von selbst versteht, der aber nach der perspektivischen Konzentration auf Freiheit als Autonomie, wie sie zum Zweck der Moralbegründung erforderlich war, noch der expliziten Artikulation und Durchführung bedarf: Die Freiheit des Menschen impliziert gleichursprünglich mit der Möglichkeit des Guten auch die des Bösen.19 Unter komplizierten terminologischen Vorkehrungen sucht Kant den Begriff des Bösen (als Hang zum Bösen) im Begriff einer »intelligibelen That« (REL, 31 u. ö.) vor der Gefahr der Substantialisierung zu bewahren wie zuvor die Bestimmung des Guten durch die Begründung im guten Willen.20 Dessen konkrete Bestimmung soll im Ersten Abschnitt der Religionsschrift ein neues Element seiner Moralphilosophie erbringen, ein Theorem, mit dem Kant nicht allein retrospektiv die Relationen seiner Handlungstheorie und Ethik in eine einsichtige Ordnung bringt; in ihm findet auch die im selben Zusammenhang ausdrücklich gemachte Überzeugung ihren methodischen Niederschlag, dass die Sinnlichkeit des vernünftigen Wesens an sich gut 19 Dass Kant dies nicht erst nachträglich in die handlungstheo­re­t ische und

ethische Bestimmung der praktischen Vernunft einführt, wird an wenigen Stellen so deutlich wie in der Überschrift über der Tafel der praktischen Kategorien: »Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen« (KpV, 66). – Siehe dazu Stephan Zimmermann, Die Kategorien der Freiheit, Berlin 2012; Heiko Puls, Funktionen der Freiheit. Die Kategorien der Freiheit in Kants Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2013. 20 »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« (GMS, 393) – »Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein.« (REL, 44) 146  |  Birgit Recki 

sei,21 somit nicht sie, wie es in einer oberflächlichen Rezeption immer wieder fälschlich behauptet wurde, die genuine Quelle unmoralischen Handelns wäre. Die Rede ist vom Theorem der beiden obersten Maximen und deren Unterordnungsverhältnis: Kant geht davon aus, dass das sinnlich-vernünftige Subjekt des Handelns und der Selbstbestimmung zwei oberste Maximen in seinem Bewusstsein vorfinde (im Grunde auch dies eine Art von Faktum der Vernunft): die Maxime der Sinnlichkeit (gemäß dem eigenen Glücksanspruch zu handeln) und die Maxime der Sittlichkeit (gemäß dem moralischen Gesetz zu handeln). Ausblenden oder ignorieren lässt sich keine von beiden, auch aufeinander zurückführen lassen sie sich in keine Richtung; es kommt vielmehr darauf an, sie in das richtige Verhältnis zu setzen. Ordne ich die Maxime der Sittlichkeit der Maxime der Sinnlichkeit unter, so bedeutet dies, dass ich vorhabe, dem Sittengesetz nur sofern zu folgen, als mich dies nicht hindert, meinem Glücksanspruch nachzugehen. Ordne ich umgekehrt dagegen die Maxime der Sinnlichkeit der Maxime der Sittlichkeit unter, so bedeutet es, dass ich meinem Glücksanspruch nur insofern nachgehen will, als sich dies mit dem Sittengesetz vereinbaren lässt.22 »Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht.« (REL, 36) Die Frage, die sich daraufhin stellt: woran es hänge, welcher obersten Maxime sich der Mensch unterordne, ob er sich zum Guten oder zum Bösen bestimme, beantwortet Kant mit der denkbar größten Entschiedenheit: Aufgrund des in seiner Natur liegenden Hanges zum Bösen, mit anderen Worten angesichts der unausgesetzten Anfechtung durch die Möglichkeit, sich zum Bösen zu bestimmen, ist es eine die »intelligibele That« dieses Hanges aufhebende »Revolution der Denkungsart«, die Kant zufolge dem Menschen zu Gebote seines guten Willens steht. Mit diesem Begriff ist der radi21 Siehe

REL, 26 ff., insbes. 34. 22 Siehe dazu Birgit Recki, Kant über das Glück, in: Ozren Zunec und Petar Segedin (Hrsg.), Zblizavanja [»Annäherungen«], Festschrift für Damir Barbaric, Zagreb 2012, 103–121. »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  147

kale Entschluss gemeint, die Priorität der Maxime der Sittlichkeit anzuerkennen und ihr die Maxime der Sinnlichkeit unterzuordnen. Es liegt an der »unablässigen Gegenwirkung« der ›Versuchung‹ durch das Böse, dass bei der Bemühung um eine moralische Lebensführung so lange die Gefahr einer hoffnungslos ins Leere gehenden Bewegung besteht, als nicht ein fundamentum inconcussum, eine sichere Grundlage der unablässigen Bemühung in Anspruch genommen werden kann. Es ist der Ausdruck einer »ins Unendliche hinausgehenden Fortschreitung vom Schlechten zum Bessern« (REL, 51), der anzeigt, dass Kant nicht allein beim theo­re­tischen Problem der Freiheitsbegründung, sondern auch hier, wo es um das praktische Problem des Freiheitsgebrauches geht, mit dem Präparat des infiniten Regresses operiert. Die ins Unendliche hinausgehende Fortschreitung vom Schlechten zum Bessern, als welche die »moralische Gesinnung im Kampfe« in jedem Fall zu verstehen ist, verfällt nur dann nicht der schlechten Unendlichkeit einer aussichtslosen Anstrengung, wenn sie sich auf sicheren Grund stützt. Und als den sicheren Grund, eigentlich: als die Bedingung der Möglichkeit ihres Erfolges, stellt Kant die belastbare Gesinnung dar: »das neue Herz«, das der Mensch in der »Revolution der Denkungsart« erwirbt, welche in der rückhaltlosen Anerkenntnis des Sittengesetzes besteht.23 Wie er bereits im Zusammenhang der »Umkehrung der Triebfedern durch eine Maxime wider die sittliche Ordnung« (REL, 36) von der »Verkehrtheit des Herzens« gesprochen hatte (REL, 37), so spricht er (im markanten Unterschied zu einer bloßen oberflächlichen Änderung der Sitten) von einer »Herzensänderung«, die nicht »durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt«, bewirkt werden kann, sondern nur »durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen« (REL, 47): Gemeint ist »eine einzige unwandelbare Entschließung« (REL, 47 f.). In der methodischen Entgegensetzung der »Revolution für die Denkungsart« gegen die bloße »Änderung der Sitten«, in welch letzterer günstigen Falles eine »Reform […] für die Sinnesart« (REL, 47) gesehen wer23 Auch

an das Ziel, als das Kant in der »Kritik der praktischen Vernunft« das höchste Gut als die vollendete Proportion von Glückswürdigkeit (Tugend) und Glückseligkeit bestimmt hatte (siehe KpV, 110–148) und von dem in der »Religionsschrift« keine Rede mehr ist, kann die sittliche Bemühung nur dann zu gelangen hoffen, wenn sie nicht in diesem Sinne grundlos ist. 148  |  Birgit Recki 

den kann, macht Kant auch hier in der Domäne der praktischen Vernunft einen Akt der unvordenklichen Grundlegung gegen die Gefahr des infiniten Regresses geltend. * * * Dass es sich bei der damit angeführten »Revolution« der Gesinnung für Kant um ein in jeder Hinsicht unvordenkliches Element handelt, wird in der eigentlich religionsphilosophischen Dimension des moralphilosophischen Gedankens offenbar. Wo es um die Frage der Selbstgewissheit der damit beanspruchten moralischen Gesinnung geht, tut sich ein weiteres Mal der Abgrund eines unendlichen Regresses auf: Der um Moralität bemühte Mensch kann sich noch so sehr anstrengen, es wird ihm nicht gelingen, mit Sicherheit zu sagen, nach welcher Maxime er gehandelt hat. Wo Kant im Kontext der entscheidenden Frage, aus welcher Maxime ich gehandelt habe und ob womöglich meine Handlung nur durch »Verdienst des Glücks« keine bösen Folgen gezeitigt haben, von der »Unredlichkeit, sich selbst blauen Dunst vorzumachen«, spricht, »welche die Gründung ächter moralischer Maximen in uns abhält« (REL, 38), da mag es noch den Anschein haben, als ginge es um einen distinkten moralischen Defekt. Doch im Duktus der Reflexion stellt sich eben dieser als konstitutiv für das menschliche Moralbewusstsein und Handeln heraus. Die Gefahr der Selbsttäuschung ist unhintergehbar: »[M]an täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt.« (REL, 68) Der Mensch kann grundsätzlich nicht wissen, ob er auf der Grundlage der Maxime der Sittlichkeit gehandelt hat: »Zur Überzeugung aber hievon kann nun zwar der Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittelbares Bewußtsein, noch durch den Beweis seines bis dahin geführten Lebenswandels: weil die Tiefe seines Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist« (REL, 51). Aus diesem Grund ist die Hoffnung, die den Impetus der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausmacht und die dem gerechten Gott der Postulatenlehre in der Kritik der praktischen Vernunft gilt, welcher die angemessene Proportion von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit gewährleistet, damit immer zugleich auf jenen »Herzenskündiger« gerichtet, der »auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu »Transzendentale Freiheit« und »Revolution der Denkungsart«   |  149

durchschauen und, wie es in jedem gemeinen Wesen sein muß, jedem, was seine Thaten werth sind, zukommen zu lassen« vermag (REL, 99). Mögen die Antworten auf die Fragen »Was kann ich wissen?« und »Was soll ich tun?« es auch mit sich bringen, an entscheidenden Punkten in theo­re­tischer wie in praktischer Perspektive in den unendlichen Regress zu führen, so ist derart dessen Unterbindung schließlich eine Funktion der spekulativen Antworten auf die Frage »Was darf ich hoffen?«

150  |  Birgit Recki 

Rico Gutschmidt

Unbegründeter Glaube und grundloses Sein Der Regress bei Wittgenstein und Heidegger Ein besonders bestechendes skeptisches Argument findet sich bereits in der Antike. Wenn man zur Rechtfertigung einer Überzeugung auf eine andere Überzeugung verweist, muss auch nach deren Rechtfertigung gefragt werden, was zu einem endlosen Prozess des immer neuen Hinterfragens führt. Die klassische Antwort, es gebe ein unanfechtbares Begründungsfundament, muss sich die ebenso klassische Entgegnung gefallen lassen, dass man dann begründen können muss, warum an dieser Stelle nicht mehr weiter gefragt werden kann, womit der Regress erneut eröffnet ist. Die einfache Kinderfrage nach dem Warum führt in einen unentrinnbaren skeptischen Strudel, aus dem man ohne Weiteres nicht herausfindet. Es gibt natürlich zahlreiche Versuche, trotz der Durchschlagskraft dieses überschaubaren Arguments eine Lösung zu finden, indem etwa trotz allem für ein Begründungsfundament plädiert oder die Position vertreten wird, dass Überzeugungen zirkulär gerechtfertigt werden können. Mit Wittgenstein und Heidegger wird hier dagegen davon ausgegangen, dass alle diese Lösungsversuche zum Scheitern verurteilt sind, und die Frage gestellt, was es bedeutet, auf die Frage nach dem Grund keine letzte Antwort zu haben. Muss man im skeptischen Strudel versinken oder lässt es sich auch ohne einen letzten Grund leben? Kann man das Problem einfach ignorieren und sich pragmatisch der alltäglichen Lebenswelt zuwenden oder nimmt man diese nach einem Blick in den Abgrund des Regresses anders wahr? Wittgenstein und Heidegger zeigen auf je ihre Weise, dass die Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem Grund zur Situation des Menschen gehört. Der Mensch versteht sich und sein Verhältnis zur Welt erst dann richtig, wenn er die Grundlosigkeit seiner Überzeugungen und letztlich seines Daseins einsieht. Dabei handelt es sich nicht um Resignation oder kritiklose Hinnahme eines unabänderlichen Schicksals, sondern um die Einsicht in die Endlichkeit des Menschen.   |  151

1. Der Status der skeptischen Frage Das Regressproblem wird besonders prominent von Aristoteles diskutiert, der in seiner Wissenschaftstheorie für die Annahme eines Begründungsfundaments damit argumentiert, dass man sonst eine unendliche Kette von Gründen annehmen oder einen Zirkel in der Rechtfertigung akzeptieren müsste, was beides für ihn nicht in Frage kommt.1 Bereits Sextus Empiricus zeigt aber, dass auch die Annahme eines Begründungsfundaments nicht haltbar ist. Wenn man etwas Unbegründetes voraussetzt, könnte man genauso gut das Gegenteil voraussetzen2 oder statt des Begründungsfundaments auch das zu Begründende selbst, was genauso haltlos wäre wie die fraglose Voraussetzung des Fundaments.3 Damit sind alle drei von Aristoteles aufgezeigten Möglichkeiten problematisch, weshalb man es hier mit einem Trilemma zu tun hat, das nach dem akademischen Skeptiker Agrippa auch als Agrippas Trilemma bezeichnet wird.4 Statt nun aber die zahlreichen Lösungsvorschläge dieses Begründungsproblems zu diskutieren,5 wird hier dessen Unlösbarkeit vorausgesetzt und gefragt, was es bedeutet, keinen letzten Grund angeben zu können, und wie man sich zu dieser so leicht einsehbaren Grund­losig­keit unserer Überzeugungen verhalten sollte. Welchen Status hat die Frage nach dem letzten Grund, wenn sie von vornherein nicht beantwortbar ist? Die Argumentationsfigur lässt sich vom Problem der Begründung auf das Problem der Verursachung übertragen. Genauso wenig, wie ein erster Grund denkbar ist, kann es eine erste Ursache geben, die selbst nicht verursacht ist. Es gibt auch hier zahlreiche Lösungsansätze, die zu zeigen versuchen, dass es eine erste, sich selbst verursachende Ursache gibt, die dann üblicherweise mit der 1 Vgl.

Wolfgang Detel (Hrsg.), Aristoteles. Zweite Analytik, Hamburg 2014, Kapitel 3. 2 Malte Hossenfelder (Hrsg.), Sextus Empiricus. Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a. M. 2013, Abschnitt I [174]. 3 Ebd., Abschnitt I [175]. 4 Der klassische Ort dieses Trilemmas ist Hossenfelder, Sextus Empiricus, Abschnitte I [164] bis [177]. 5 Für einen Überblick vgl. z. B. Thomas Grundmann, Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin/New York 2008, insbesondere Kapitel 5, »Die Struktur der Rechtfertigung«. 152  |  Rico Gutschmidt 

religiösen Rede von Gott in Verbindung gebracht wird.6 Aber auch hier ist es interessanter, zu fragen, wie man mit der Grundlosigkeit des Daseins umgeht, als die Details der Lösungsvorschläge zu verfolgen, die diesem einfachen Argument zu entgehen versuchen, das zum Beispiel David Hume in seinen Dialogen über natürliche Religion so auf den Punkt bringt: »So oder so sind wir genötigt, eine Stufe höher zu steigen, um für diese Ursache, die du als zufriedenstellenden Endpunkt angegeben hattest, wieder eine Ursache zu finden.«7 Gegen Dogmatismus und Letztbegründungsansprüche wurde das Regressproblem im 20. Jahrhundert noch einmal sehr prominent vom Kritischen Rationalismus ins Feld geführt. Hans Albert hat es als Münchhausentrilemma bezeichnet und ein weiteres Mal gezeigt, dass alle drei Alternativen, die bei ihm infiniter Regress, logischer Zirkel und Abbruch des Verfahrens heißen, nicht haltbar sind.8 Dabei kritisiert er vor allem die Annahme eines Begründungsfunda­ments, das er, wie bereits Sextus Empiricus, als willkürlich bestimmt: »Jede Selbstbegründungsthese für letzte Instanzen dieser Art muß ebenso wie entsprechende Thesen für bestimmte Aussagen als eine Maskerade für den Entschluß betrachtet werden, das Prinzip [der Begründung] für diesen Fall außer Kraft zu setzen.«9 Es kann keine letzte Antwort geben, es gibt keinen archimedischen Punkt der Erkenntnis, weshalb bereits die Frage nach einer solchen letzten Antwort zweifelhaft ist und entsprechend von Albert problematisiert wird: »Das Problem des archimedischen Punktes der Erkenntnis mag zu den falsch gestellten Problemen gehören.«10 Der Ausweg des Kritischen Rationalismus ist bekanntlich, die Frage nach dem letzten Grund tatsächlich aufzugeben und sich, wie Karl Popper, auf die Falsifika­   6 So

in der Tradition der natürlichen Theologie und auch in der jüngeren analytischen Religionsphilosophie. Für einen Überblick vgl. zum Beispiel Christian Weidemann, Die Unverzichtbarkeit natürlicher Theologie, Freiburg/München 2007.   7 David Hume, Dialoge über natürliche Religion, Stuttgart 2007, 48.   8 Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1991, 15 ff.   9 Ebd., 17. Albert macht auch auf die Nähe zum Kausalitätsproblem aufmerksam: »Das Verfahren [des Begründungsfundaments] ist ganz analog zur Suspendierung des Kausalprinzips durch die Einführung einer causa sui.« Ebd., 16. 10 Ebd., 18. Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  153

tion zu beschränken bzw., wie Hans Albert, eine Methodologie der kritischen Prüfung zu entwickeln, die das Begründungsproblem umgeht, indem es nicht mehr gestellt wird. Statt zu begründen, wird geprüft: »Damit ist das Trilemma dadurch überwunden, daß von einer ganz anderen Auffassung der ganzen Problemsituation ausgegangen wurde.«11 Ob man damit dem erkenntnistheo­re­tischen Rechtfertigungsproblem gerecht wird, soll hier dahingestellt bleiben.12 Zu diskutieren ist aber, ob es ein angemessener Umgang mit der Unlösbarkeit des Regressproblems sein kann, die Frage nach der Begründung nicht mehr zu stellen. Sagt es nicht etwas über die Situation des Menschen aus, keinen archimedischen Punkt der Erkenntnis zu besitzen, etwas, das man übersieht, wenn man die Suche nach diesem Punkt einfach aufgibt? Schließlich gibt es ja die Frage nach einem letzten Grund, man kann sich diese Frage stellen und muss dann mit dem Problem zurechtkommen, keine Antwort erhalten zu können. Man könnte diese Frage zwar ob ihrer Unbeantwortbarkeit als sinnlos abtun, aber Stanley Cavell zum Beispiel spricht angesichts der skeptischen Herausforderung zumindest von dem Gefühl, mit dem Wissen würde etwas Grundlegendes nicht stimmen. Diesem Gefühl wird man sicher nicht gerecht, wenn man das Problem als sinnlos beiseite schiebt. Stattdessen sollte die Untersuchung gerade an diesem Punkt ansetzen und versuchen zu verstehen, was hier mit unserem Wissen nicht in Ordnung ist: »Der Philosoph beginnt seine Untersuchung mit dem Gefühl, daß irgendetwas sozusagen mit dem Wissen an und für sich nicht stimmt oder auch nur vielleicht nicht stimmt.«13 Dabei handelt es sich freilich um ein philosophisches Gefühl, da sich das Regressproblem in alltäglichen Kontexten tatsächlich nicht stellt und zum Beispiel vom Pragmatismus, für den die Praxis der Maßstab der Philosophie ist, aus diesem Grund als sinnlos abgetan wird. Auch wenn man die pragmatistische Einschätzung nicht teilt, führt die Unlösbarkeit der skeptischen Frage zur Alltagspraxis 11 Ebd.,

43. dazu kritisch Grundmann, Erkenntnistheorie, 79 f. und Heiner Rutte, Einige erkenntnistheo­re­t ische Fragen an den kritischen Rationalismus, in: Geschichte und Gegenwart 19 (2000), 79–99. 13 Stanley Cavell, Der Anspruch der Vernunft, Frankfurt a. M. 2006, 246. 12 Vgl.

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zurück, da es den archimedischen Punkt der Erkenntnis, an den man sich stattdessen halten könnte, schlicht nicht gibt. Ein entsprechender Verweis auf die Alltäglichkeit findet sich bereits bei Sextus Empiri­cus: »Wir halten uns also an die Erscheinungen und leben undogmatisch nach der alltäglichen Lebenserfahrung, da wir gänzlich untätig nicht sein können.«14 Auch David Hume hält in markigen Worten fest, dass man aus dem Skeptizismus zur Alltagspraxis zurückfinden muss: »Der große Gegner, der den Pyrrhonismus oder die übertriebenen Prinzipien des Skeptizismus untergräbt, heißt Tätigkeit, Beschäftigung und die Verrichtungen des täglichen Lebens. In den Schulen mögen diese Prinzipien blühen und obsiegen; dort ist es freilich schwer, wenn nicht unmöglich, sie zu widerlegen. Sobald sie aber aus dem Schatten heraustreten und durch die Gegenwart der wirklichen Dinge, die unsere Affekte und Gefühle in Bewegung setzen, zu den mächtigeren Prinzipien unserer Natur in Gegensatz geraten, so vergehen sie wie Rauch und lassen den entschiedensten Skeptiker in derselben Lage wie andere Sterbliche zurück.«15

Das heißt aber nicht, dass das skeptische Problem mit dem Verweis auf die Lebenspraxis bereits erledigt ist, wie es der Pragmatismus behauptet. Am Ende des Aufsatzes wird gezeigt, dass es weder Sextus noch Hume bei dem Verweis auf den Alltag als Antwort auf den Skeptizismus bewenden lassen. Auch wenn sich skeptische Fragen im Alltag nicht stellen, sind sie deswegen noch lange nicht sinnlos. Seine Behauptung stützt der Pragmatismus mit dem Argument, dass man Gründe für den Zweifel brauchen würde und nicht einfach, wie zum Beispiel Descartes, in der Philosophie aus Prinzip an etwas zweifeln soll, woran man in konkreten Kontexten nicht zweifeln würde. Dies bringt Peirce wie folgt auf den Punkt: »Zwar kann jemand im Laufe seiner Studien Grund dazu finden, das zu bezweifeln, von dem er anfangs überzeugt war, aber in diesem Fall zweifelt er, weil er einen positiven Grund dafür hat und nicht aufgrund der cartesianischen Maxime. Wir wollen nicht vorgeben, in der Philosophie etwas zu bezweifeln, was wir in unserem Herzen 14 Hossenfelder,

Sextus Empiricus, Abschnitt I [23]. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1993, 186. 15 David

Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  155

nicht bezweifeln!«16 Dieser Ansatz wird in der Position des Kontextualismus dezidiert als Widerlegung des Skeptizismus ins Feld geführt, wofür zum Beispiel John Austin steht, der geltend macht, dass der Regress des immer weiteren Nachfragens durch den jeweils relevanten Kontext beendet wird. Wenn man etwa im Garten einen Stieglitz sieht, ist man berechtigt, zu fragen, ob es sich auch um ein Rotkehlchen handeln könnte. Ohne weitere Indizien sei es aber sinnlos, zu fragen, ob der Vogel vielleicht ausgestopft oder sogar eine Fata Morgana ist.17 Dieses Argument übersieht aber, dass die Möglichkeit dieser Fragen dennoch besteht, auch wenn sie alltagspraktisch sinnlos sind und den Kontext sprengen. Man kann das Begründen angesichts des Regresses zwar in konkreten Kontexten beenden, das philosophische Problem des Regresses wird man so aber nicht los. Dies betont wiederum Stanley Cavell, und zwar unter anderem mit explizitem Bezug auf Austin und die Philosophie der Alltagssprache: »Einfach zu sagen, wie die Philosophen der Alltagssprache es tun, die Frage stelle sich nicht, wäre in den Augen des Erkenntnistheoretikers eine Petitio principii; denn für ihn hat sie sich ja bereits gestellt.«18 Das führt erneut zu dem Problem, welchen Status eine Frage hat, die man nicht abweisen kann, die aber auch nicht zu beantworten ist. Sie führt zumindest zu dem zitierten Gefühl, dass wir etwas Grundlegendes in Bezug auf das Wissen nicht verstanden haben. Mit Wittgenstein und Heidegger soll nun genauer gezeigt werden, dass diese Frage auf die endliche Situation des Menschen verweist, zu der man sich trotz der Gefahr, im skeptischen Strudel zu versinken, positiv verhalten kann. Dabei handelt es sich nicht um eine »Resignationslösung«19 des Regressproblems, wie es Hans Albert behauptet, der Wittgenstein und Heidegger unterstellt, sich auf die reine Deskription des Faktischen zurückzuziehen: »Nun hat sich Wittgenstein, ebenso wie übrigens Heidegger, auf einen rein deskriptivistischen Standpunkt gestellt und Erklärungen jeder Art 16 Charles

S. Peirce, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt a. M. 1991, 41. 17 John L. Austin, Fremdseelisches, in: Thomas Grundmann und Karsten Stüber (Hrsg.), Philosophie der Skepsis, Paderborn 1996, 110–122, hier 118 ff. 18 Cavell, Anspruch der Vernunft, 237. 19 Albert, Traktat, 178. 156  |  Rico Gutschmidt 

weit von sich gewiesen.«20 Stattdessen soll hier mit Cavell herausgearbeitet werden, dass es sich nicht um Resignation, sondern um die Einsicht in die Grenzen der Erkenntnis handelt, die nicht erst von Wittgenstein und Heidegger, sondern zum Beispiel auch von Kant aufgedeckt wurden, der ebenfalls in seiner Antinomienlehre das Regressproblem weder löst noch abweist und überhaupt mit seiner Erkenntniskritik die Endlichkeit des Menschen aufzeigt: ­»Sowohl Wittgenstein als auch Heidegger stehen […] in der Tradition von Kants Einsicht, daß die Schranken des Wissens keine Defizite sind.«21 Im Folgenden sollen diese Grenzen mit Wittgenstein und Heidegger genauer analysiert werden.

2. Der unbegründete Glaube bei Wittgenstein Mit dem Problem des Skeptizismus beschäftigte sich Wittgenstein besonders intensiv in den letzten anderthalb Jahren seines Lebens, und zwar insbesondere anhand von Moores Aufsätzen Defence of Common Sense und Proof of the External World, wozu er von einem Besuch bei Norman Malcolm 1949 in den Vereinigten Staaten angeregt wurde. Seine diesbezüglichen Notizen wurden schließlich nach seinem Tod, von ihm nicht mehr für die Publikation vorbereitet, unter dem Titel Über Gewißheit veröffentlicht. Moores Ansatz einer Widerlegung des Skeptizismus geht von Sätzen aus, deren Wahrheit er für unbezweifelbar erachtet, wie zum Beispiel »Hier ist eine Hand – und hier eine zweite«, »Die Erde bestand lange Zeit vor meiner Geburt« und »Ich habe mich niemals weit von der Erdoberfläche entfernt«. Bei Moore stellen solche Aussagen ein Begründungsfundament dar, das den Regress beendet, und wenn Wittgenstein diese Sätze aufgreift, bekommt man auf den ersten Blick ebenfalls den Eindruck, dass er hier ein Fundament etablieren will, an dem das skeptische Fragen zur Ruhe kommt. So ist in Über Gewißheit mehrfach von einem Ende des Regresses die Rede, wenn es zum Beispiel heißt: »Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfer-

20 Ebd.,

173. Anspruch der Vernunft, 401.

21 Cavell,

Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  157

tigung hat ein Ende« bzw. »Und die Begründung hat ein Ende.«22 Im Gegensatz zu Moore und der fundamentalistischen Tradition seit Aristoteles stehen aber bei Wittgenstein am Ende der Begründungen keine besonderen Aussagen, die etwa unmittelbar einsichtig wären. Stattdessen verweist er wie Sextus, Hume und der Pragmatismus auf die Lebenspraxis: »Als ob die Begründung nicht einmal zu Ende käme. Aber das Ende ist nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete Handlungsweise« bzw. etwas ausführlicher: »Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.«23 Man kann bei Wittgenstein sogar eine Akzentuierung dieses Praxisverweises im Sinne des Kontextualismus vermuten, wenn er zum Beispiel gegen das endlose skeptische Weiterfragen einwendet: »Braucht man zum Zweifeln nicht Gründe?« bzw. »[D]er Vernünftige zweifelt daran nur unter den und den Umständen.«24 Außerdem finden sich entgegen dem gerade zitierten Anspruch, keine unmittelbar einsichtigen Sätze aufzuzeigen, dennoch Argumente, die man im Sinne des performativen Selbstwiderspruchs verstehen kann, mit dem üblicherweise versucht wird, den Regress zu beenden und Letztbegründungen zu etablieren: »Ein Zweifel, der an allem zweifelte, wäre kein Zweifel« oder »Ein Zweifel ohne Ende ist nicht einmal ein Zweifel« bzw. genauer: »Wer an allem Zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifelns setzt schon die Gewissheit voraus.«25 Mit den gerade zitierten Bemerkungen zur Praxis und der Notwendigkeit, den Zweifel zu begründen, gilt Wittgenstein als »Vater des modernen Rechtferti­ gungskontextualismus«,26 und mit dem Aufweis von unbezweifelbaren Sätzen und der Begründung der Unmöglichkeit eines radikalen Zweifels wird er zum Vertreter eines neomooreschen Ansatzes der Widerlegung des Skeptizismus stilisiert. Der überwiegende Teil der 22 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt a. M. 2001, §§ 192 und

563. Im Folgenden zitiert unter der Sigle ÜG. 23 ÜG §§ 110 und 204. Vgl. auch §§ 148, 196, 212 und 284. 24 ÜG §§ 122 und 334. Vgl. auch §§ 322 und 323. 25 ÜG §§ 450, 625 und 115. Vgl. auch §§ 160, 247, 345, 354 und 519. 26 Grundmann, Erkenntnistheorie, 326. 158  |  Rico Gutschmidt 

Forschung sieht in Wittgensteins Philosophie entsprechend einen anti-skeptische Position.27 Aber dieser erste Eindruck täuscht. Wittgenstein vertritt weder eine selbstreflexive Letztbegründung noch eine kontextualistische Widerlegung des Skeptizismus, noch kann er einfach als Pragmatist angesehen werden, für den die Skepsis durch den Verweis auf die Praxis beendet ist. Stattdessen macht er auf die Grundlosigkeit unserer fundamentalen Überzeugungen aufmerksam, kondensiert in Aussagen wie: »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen« oder »Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube.«28 Die Frage ist freilich, wie das zu den bis hier zitierten Passagen passt. Die Spannung zwischen dem Verweis auf die Grundlosigkeit und den antiskeptischen Aussagen findet sich gebündelt in dem Konzept der Angelsätze bzw. hinge propositions, die zwar nicht bezweifelt werden können und allem Denken und Fragen zugrunde liegen, aber gleichzeitig selbst als grundlos, nicht weiter überprüfbar und sogar wandelbar charakterisiert werden. Die Metapher der Türangel verwendet Wittgenstein in Über Gewißheit insgesamt dreimal, und zwar an folgenden Stellen: »D. h. die Fragen, die wir stellen, und unsre Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam die Angeln, in welchen jene sich bewegen.   D. h. es gehört zur Logik unsrer wissenschaftlichen Untersuchun­ gen, daß Gewisses in der Tat nicht angezweifelt wird.   Es ist aber damit nicht so, daß wir eben nicht alles untersuchen können und uns daher notgedrungen mit der Annahme zufriedenstellen müssen. Wenn ich will, daß die Türe sich drehe, müssen die Angeln feststehen.29   Dem mathematischen Satz ist gleichsam offiziell der Stempel der Unbestreitbarkeit aufgedrückt worden. D. h.: ›Streitet euch um andre 27 Etwa

in den entsprechenden kontextualistischen und neomooreschen, aber zum Beispiel auch non-epistemischen Positionen. Für einen Überblick vgl. Duncan Pritchard, Wittgenstein on Scepticism, in: Oskari Kuusela und Marie McGinn (Hrsg), The Oxford Handbook of Wittgenstein, Oxford 2011, 521–547. 28 ÜG §§ 166 und 253. 29 ÜG §§ 341–343. Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  159

Dinge; das steht fest, ist eine Angel, um die sich euer Streit drehen kann.‹«30

Auch wenn der Begriff der Angel nur dreimal fällt, handelt es sich bei diesen Sätzen um das zentrale Konzept von Über Gewißheit, das Wittgenstein auch mit zahlreichen anderen Metaphern beschreibt, von denen die der Verankerung, des Feststehenden, der Rotationsachse, des Substrats, des Gerüsts, der Grundmauer, der unwankenden Grundlage und des Fundaments nur erwähnt seien.31 Die Beschreibungen als Weltbild, Mythologie, Spielregeln und Flussbett sollen dagegen ausführlicher wiedergegeben werden: »Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.   Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, können zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen.   Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden.   Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.«32

Die Beispiele Wittgensteins für solche Angelsätze sind ganz verschieden. Zu ihnen gehören die zitierten Moore’schen Sätze, aber auch so unterschiedliche Aussagen wie die Feststellung des eigenen Namens, die Aussage, dass noch niemand auf dem Mond war (gut zwei Jahrzehnte vor der ersten Mondlandung eine plausible Annahme) oder dass man gerade nicht träumt.33 30

ÜG § 655. 31 ÜG §§ 103, 144, 152, 162, 211, 248, 403, 411 und 558. 32 ÜG §§ 94–97. 33 ÜG §§ 628, 286 und 676. Für eine Kategorisierung der Angelsätze vgl. 160  |  Rico Gutschmidt 

Alle wesentlichen Eigenschaften der Angelsätze können nun anhand der zitierten Passagen erläutert werden. Zunächst ist es für Wittgensteins Anliegen nicht primär, dass bestimmte Annahmen einfach nicht weiter hinterfragt werden können, sondern dass solche Annahmen zur »Logik unsrer wissenschaftlichen Untersuchungen« gehören. Bei der Durchführung eines wissenschaftlichen Experiments etwa nimmt man die Existenz des Apparats nicht nur auf guten Glauben an, sondern es gehört zum Experiment, daran nicht zu zweifeln, sonst wäre es kein Experiment.34 Dies gilt auch für das Urteilen ganz allgemein, bei dem immer etwas Unbezweifeltes vorausgesetzt wird, da es sonst kein Urteilen wäre.35 Selbst der Zweifel setzt wie ein Urteil Unbezweifeltes voraus, um überhaupt formuliert werden zu können (vgl. die Zitate oben). Wittgenstein beschreibt die Struktur unserer Urteilspraxis, in der es bestimmte feststehende Sätze gibt, um die sich die anderen drehen. Diese festen Sätze müssen dabei nicht einmal explizit vorliegen, da man die Spielregeln des Urteilens, wie zitiert, auch rein praktisch lernen kann. Außerdem gibt es keine scharfe Trennung zwischen gewöhnlichen Urteilen und Angelsätzen, wie es Wittgenstein mit dem Bild des Flussbettes veranschaulicht, in dem flüssige Sätze erstarren und feste flüssig werden können. Entscheidend ist dabei, dass die Angeln des Denkens und Zweifelns unsere Erkenntnispraxis nicht fundieren, sondern lediglich die Scharniere innerhalb dieser Praxis bilden. Wittgenstein spricht sogar davon, dass die Angeln ihrerseits von der Praxis gehalten werden: »Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten« und »Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.«36 Crispin Wright, Wittgensteinian Certainties, in: Denis McManus (Hrsg.), Wittgenstein and Scepticism, London 2004, 22–55, hier 42. Dass das Verhältnis der Wittgenstein’schen Konzepte der Angelsätze und der grammatischen Sätze zueinander noch nicht hinreichend geklärt ist, erläutert Alejandro T. Bassols, Wittgenstein and the Myth of Hinge Propositions, in: Eric Lemaire und Jesús P. Gálvez (Hrsg.), Wittgenstein: Issues and Debates, Frankfurt a. M. 2010, 83–116, hier 115. 34 ÜG § 337. 35 ÜG §§ 150 und 232. 36 ÜG §§ 144 und 248. Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  161

Unsere Praxis funktioniert zwar nur mit bestimmten feststehenden Angeln, hat als Ganze aber kein Fundament. Das Haus der Praxis trägt seine Grundmauern in Form der Angelsätze und wird selbst nicht getragen und scheint eher zu schweben. Der Wittgenstein’sche Verweis auf das Handeln und die Lebensform behauptet daher nicht, dass die skeptische Frage mit einem unerschütterlichen Praxisfundament beantwortet wird, sondern zeigt lediglich, dass wir hinter unsere Praxis nicht zurück können. Die zentralen Angelsätze können sich bei Wittgenstein sogar verändern, da unser Denken zwar auf ein Flussbett angewiesen ist, aber nicht gesagt wird, welches das richtige ist, da von richtig und falsch unabhängig von einem solchen Rahmen nicht einmal gesprochen werden kann. Da die Änderung eines Angelsatzes ein ganzes System von Urteilen mit sich reißen würde,37 spricht Wittgenstein zunächst sehr radikal von Geisteskrankheit, wenn etwa jemand an seinem Wohnort zweifelte,38 um dann aber doch einzuräumen, dass man nicht einmal seinen Namen unfehlbar wissen kann.39 Die Spannung zwischen der Unbezweifelbarkeit der Angelsätze einerseits und ihrer Grundlosigkeit andererseits spitzt sich hier zu. Sie kann aber insofern aufgelöst werden, als wir zwar in unserer Praxis nicht an den Angelsätzen zweifeln können, unser ganzes Denksystem aber auch anders sein könnte. Dieser zweite Aspekt wird übersehen, wenn man Wittgenstein für eine kontextualistische Widerlegung des Skeptizismus einspannt. In den jeweiligen Kontexten unserer Praxis können zwar bestimmte Sätze in der Tat nicht bezweifelt werden, da es zur Struktur jeder Praxis gehört, sich in einem Flussbett zu bewegen, aber dieses ganze Flussbett kann sich doch verschieben. Um das zu veranschaulichen, entwirft Wittgenstein Szenarien, die an die drastischen Beispiele David Humes erinnern: »Wie, wenn etwas wirklich Unerhörtes geschähe? wenn ich etwa sähe, wie Häuser sich nach und nach und ohne offenbare Ursache in Dampf verwandelten; wenn das Vieh auf der Wiese auf den Köpfen stünde, lachte und verständliche Worte redete; wenn Bäume sich nach und nach in Menschen und Menschen in Bäume verwandelten. Hatte ich 37 ÜG

§§ 419, 490 und 558. ÜG § 71. 39 ÜG §§ 425 und 470. 38

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nun recht, als ich vor allen diesen Geschehnissen sagte ›Ich weiß, daß das ein Haus ist‹ etc., oder einfach ›Das ist ein Haus‹ etc.?«40

Ausschließen lassen sich solche Szenarien nicht und tatsächlich ist die Vorstellung, jemand sei auf dem Mond gewesen, die Wittgenstein als genauso abwegig darstellt wie die gerade zitierten Beispiele,41 inzwischen Realität geworden. Für Wittgenstein ist es selbst bezüglich des Einmaleins nicht ausgeschlossen, dass man »in einem Wahn befangen« ist.42 Für den Status der Angelsätze bedeutet das alles, dass man sich zwar immer auf etwas verlassen muss, sich darauf aber streng genommen nicht verlassen kann: »Ich will eigentlich sagen, daß ein Sprachspiel nur möglich ist, wenn man sich auf etwas verläßt. (Ich habe nicht gesagt ›auf etwas verlassen kann‹.)«43 Wenn Wittgenstein also davon spricht, dass am Grunde des begründeten Glaubens der unbegründete Glaube liegt, handelt es sich weder um eine skeptische Position, da man innerhalb einer konkreten Praxis die jeweiligen Angelsätze tatsächlich nicht sinnvoll bezweifeln kann, noch um eine Widerlegung des Skeptizismus, da wir die Praxis als Ganze nicht noch einmal von außen absichern können. Stattdessen zeigt Wittgenstein, dass wir auf ein grundloses Vertrauen angewiesen sind und daran aber nicht verzweifeln müssen, da die Praxis mit ihren Angeln schließlich funktioniert und grundlos schwebt. Mit diesem Praxisverweis wird die skeptische Frage daher nicht einfach sinnlos, sondern macht uns auf unsere endliche Situation aufmerksam. Wir sind Teil von unbegründeten Lebensformen, die man – gegen den Vorwurf des Kritischen Ratio­ nalismus – durchaus kritisieren kann,44 derer wir uns aber nicht im Modus des Wissens vergewissern können. Mit Stanley Cavell lässt sich sagen, dass Wittgenstein auf die Wahrheit des Skeptizismus aufmerksam macht, die besagt, dass unser grundlegendes Verhältnis zur Welt und zu den Anderen kein Verhältnis des Wissens ist und stattdessen auf Anerkennung beruht. Mit den Worten Cavells: »In The Claim of Reason ziehe ich aus dem Skeptizismus die Lehre, dass 40

ÜG § 513. ÜG § 106. 42 ÜG § 658. 43 ÜG § 509. 44 Vgl. zum Beispiel Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Frankfurt a. M. 2013. 41

Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  163

die Existenz der Welt und die Existenz anderer Menschen in ihr keine Angelegenheiten sind, von denen wir wissen können, sondern solche, die wir anerkennen müssen.«45 Das Regressproblem wird hier zwar insofern im Sinne des Kontextualismus gelöst, als wir in unserer Praxis immer ein Fundament voraussetzen müssen. Damit ist aber bei Wittgenstein und Cavell der Skeptizismus keinesfalls erledigt. Dieser zeigt im Gegenteil, dass dieses Voraussetzen kein Wissen darstellt, sondern die Anerkennung der unhintergehbaren Praxis bedeutet. Es handelt sich auf eine Weise um einen Pragmatismus, der aber um ein Bewusstsein von der Grundlosigkeit ergänzt wird, über der sich unsere gesamte Praxis abspielt.

3. Das grundlose Sein bei Heidegger Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch Martin Heidegger, der mit seiner ganzen Philosophie für ein grundloses Dasein einsteht, zu dem man sich angemessen verhalten muss. Mit der Lehre von der Vorgängigkeit der bedeutungshaften Welt in den frühen Schriften ebenso wie mit der Philosophie der ontologischen Differenz, die mit dem Sein auf das unerklärliche Wunder des Dass des Seienden verweist, und der späteren Philosophie des Ereignisses und des Gevierts macht er jeweils auf die Grundlosigkeit des Daseins aufmerksam, die erfahren werden und zu der man sich in Form der Inständigkeit bzw. Gelassenheit verhalten soll. Eine Verbindung dieser Philosophie mit dem Regressproblem findet sich in der Vorlesung aus dem Wintersemester 1955/56 über den Satz vom Grund, in der er ein weiteres Mal die Grundlosigkeit des Seienden aufzeigt und mit der Rede vom Sein akzentuiert. Er geht von dem Satz vom 45 Stanley

Cavell, Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, in: ders., Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays, Frankfurt a. M. 2002, 76–110, hier 102. Mit einer gewissen Genugtuung stellt Cavell fest, dass er das Konzept der Anerkennung schon vor dem Erscheinen von Über Gewißheit entwickelt hat, es sich aber auch darin findet: »Das Wissen gründet sich am Schluß auf der Anerkennung«, ÜG § 378. Vgl. Stanley Cavell, Wittgenstein and Scepticism: Reply to four Chapters, in: Denis McManus (Hrsg.), Wittgenstein and Scepticism, London 2004, 287–299, hier 284. 164  |  Rico Gutschmidt 

Grund in der Fassung von Leibniz – »Nihil est sine ratione« bzw. »Nichts ist ohne Grund«46 – aus, der bei strikter Anwendung in den Regress des immer weiteren Fragens nach dem Warum führt und damit sinnlos zu werden droht. Zunächst hält Heidegger in dieser Vorlesung fest, dass der Satz vom Grund unhinterfragt als gültig angenommen wird: »Wir stimmen dem Satz vom Grund zu, weil wir, wie man sagt, das sichere Gefühl haben, der Satz selber müßte stimmen.«47 Die Selbstverständlichkeit der Annahme der Gültigkeit dieses Satzes wird dabei auf die Epoche seit der Neuzeit eingeschränkt, was hier aber nicht problematisiert werden soll, da der Satz vom Grund so oder so in Alltag und Wissenschaft verankert ist: »Es ist die neuzeitliche Denkweise, in der wir selbst uns tagtäglich aufhalten, ohne den Anspruch des Grundes auf Zustellung in allem Vorstellen noch eigens zu merken und zu vermerken.«48 Diese selbstverständliche Denkweise wird nun von Heidegger problematisiert, indem auch er die bereits diskutierten Aporien der Warumfrage aufzeigt, zu denen der Satz vom Grund führt: »Wo hat der Satz vom Grund selber seinen Grund? Indem wir so fragen, streifen wir schon das Verfängliche und Rätselvolle dieses Satzes.«49 Genauer macht Heidegger auf das Regressproblem aufmerksam, das sich aus dem Satz vom Grund ergibt, da jeder angegebene Grund selbst einen Grund haben muss, wenn denn alles einen Grund haben soll:

46 GA 10, 3 f. Die Schriften Heideggers werden unter der Sigle GA nach der

Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1975 ff. zitiert. 47 GA 10, 16. 48 Ebd., 50 f. In der 1938/39 entstandenen Privatschrift mit dem Titel Besinnung wird die selbstverständliche Gültigkeit des Satzes vom Grund kulturkritisch als Verfallssymptom ausgelegt: »Weshalb gewinnt nun aber die erklärende Warumfrage die Oberhand? Weil nach dem ersten Erstaunen das Seiende mehr und mehr die Befremdlichkeit verliert und sich in den Bezirk des Sichauskennens eindrängt und aus diesem die Formen seiner Bestimmbarkeit […] entnimmt. Das erste Erstaunen wird von der zunehmenden Bekanntheit des Seienden überwältigt, gibt dieser nach und gibt sich so selbst auf und vermischt sich mit dem bloßen Sichwundern über das Verwunderliche […]. Das erste Erstaunen vermag sich nicht in den eigenen Ursprung seiner selbst zurückzugründen und immer erstaunender zu werden«, GA 66, S. 273. 49 GA 10, 7 f. Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  165

»Wohin geraten wir aber, wenn wir den Satz vom Grund bei seinem eigenen Wort nehmen und so auf den Grund des Grundes zugehen? Drängt der Grund des Grundes nicht über sich hinaus zum Grund des Grundes des Grundes? Wo ist, wenn wir in dieser Art zu fragen fortfahren, noch ein Halten und damit noch eine Aussicht auf Grund? Ginge das Denken diesen Weg zum Grund, dann müßte es doch unaufhaltsam ins Grundlose fallen.«50

Wie im ersten Abschnitt kurz angedeutet, betrifft dieser Regress auch das Kausalitätsproblem, das Heidegger nicht immer streng von der Frage nach der Begründung trennt. So steht im Mittelpunkt seiner Philosophie der ontologischen Differenz die Leibniz-Frage – Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts? –, in der nach dem Grund bzw. der Ursache des Seienden im Ganzen gefragt wird. Da jeder seiende Grund seinerseits eines Grundes bedürfte, ist auch diese Frage unbeantwortbar und daher zunächst sinnlos. Sie hat aber als Vergegenwärtigung der grundlosen Situation des Menschen, für die bei Heidegger die Rede von der Wahrheit des Seins steht, dennoch ihren Sinn. Ähnliches gilt für den Satz vom Grund, der zwar in allen konkreten Kontexten fraglos gültig ist, bei konsequenter Anwendung aber ebenfalls zur Grundlosigkeit führt: »Nach der einen Hinsicht versteht man den Satz ohne weiteres und läßt ihn unbesehen gelten. Nach der anderen Hinsicht scheint der Satz unser Denken ins Grundlose zu stürzen, sobald wir in bezug auf den Satz selber mit dem Ernst machen, was er selbst sagt«51 bzw. »Der Satz vom Grund wird von uns überall als Stütze und Stab benützt und befolgt; zugleich stürzt er uns aber, kaum daß wir ihm in seinem eigensten Sinne nachdenken, ins Grundlose.«52 Wie die Leibniz-Frage führt der Satz vom Grund in unlösbare Regressprobleme, solange man nicht den Zirkel einer causa sui bzw. einer Selbstbegründung oder den Regress-Stopper einer prima causa bzw. eines Begründungsfundaments akzeptiert, was alles für Heidegger nicht in Frage kommt. Stattdessen ist es Heideggers Anliegen, diese Grundlosigkeit ernstzunehmen und mit der Rede vom Sein auf den Begriff zu bringen. 50

Ebd., 17 f. 18. 52 Ebd., 20. 51 Ebd.,

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Zur Veranschaulichung der grundlosen Situation des Menschen zitiert Heidegger zwei Verse von Angelus Silesius, einem schlesischen Mystiker aus dem 17. Jahrhundert: »Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet, Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.«53

Diese Verse werden dann so erläutert, dass der Satz vom Grund zwar einerseits auf die Rose zutrifft, sofern ihr Blühen in einem wissenschaftlichen Kontext untersucht wird, dass andererseits die Rose aber zuletzt einfach grundlos da ist, da man den Satz vom Grund nicht konsequent zu Ende denken kann. Der Satz vom Grund »[…] gilt von der Rose, aber nicht für die Rose; von der Rose, insofern sie Gegenstand unseres Vorstellens ist; nicht für die Rose, insofern diese in sich selber steht, einfach Rose ist.«54 Laut Heidegger will Angelus Silesius mit diesen Versen aber letztlich darauf hinaus, dass auch der Mensch einfach grundlos da ist und erst dann richtig Mensch ist, wenn er diesen seinen Status auch einsieht: »Das Ungesagte des Spruches – und darauf kommt alles an – sagt vielmehr, daß der Mensch im verborgensten Grunde seines Wesens erst dann wahrhaft ist, wenn er auf seine Weise so ist wie die Rose – ohne Warum.«55 Wie bei der ontologischen Differenz und der LeibnizFrage muss der Gedanke der Grundlosigkeit aber vollzogen werden, weshalb Heidegger in einem seiner eigenwilligen Wortspiele den »Satz« des Satzes vom Grund als Sprung umdeutet, womit aus dem Satz vom Grund ein Sprung weg vom Grund wird.56 Damit 53 Ebd., 53. Diese Verse stammen aus dem Cherubinischen

Wandersmann, und Heidegger weist darauf hin, dass Leibniz dieses Werk kannte und sogar positiv würdigte. Heidegger zitiert aus einem Brief von Leibniz: »Bei jenen Mystikern gibt es einige Stellen, die außerordentlich kühn sind, voll von schwierigen Metaphern und beinahe zur Gottlosigkeit hinneigend, so wie ich Gleiches bisweilen in den deutschen – im übrigen schönen – Gedichten eines gewissen Mannes bemerkt habe, der sich Johannes Angelus Silesius nennt …«, GA 10, 54. 54 Ebd., 58. 55 Ebd., 57 f. 56 Dies wird in dem Vortrag Grundsätze des Denkens, den Heidegger 1957, also kurz nach dieser Vorlesung, gehalten hat, wie folgt auf den Punkt gebracht: »Wie sollen wir dann aber Sätze, die das Denken an seinen Ab-grund führen, noch denken? In seinen Ab-grund gelangt das Denken nur, wenn es sich von jedem Grund absetzt, in welchem Ab-setzen sich bereits die Art des Setzens Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  167

ist nicht gemeint, dass man gar nicht mehr nach Gründen fragen soll, sondern nur, dass der Satz vom Grund zwar in konkreten Kontexten seine Gültigkeit hat, aber nicht konsequent zu Ende gedacht werden kann. Man kann nach Gründen fragen, aber nicht nach einem letzten Grund, wie man bei der Leibniz-Frage für einzelnes Seiendes sinnvoll nach dem Warum fragen kann, nicht aber für das Seiende im Ganzen. Für diese Grundlosigkeit des Seienden steht bei Heidegger das Sein, in das hinein der Sprung als »Satz« vollzogen werden soll: »Die Erinnerung versammelt unseren Blick auf einen einfachen Sachverhalt, dessen Einheitlichkeit und Einzigkeit wir bedenken, wenn wir den Satz vom Grund als Satz in das Sein als solches denken, d. h. diesen ›Satz‹ vollziehen.«57 Das Verhältnis von Grund und Sein bestimmt Heidegger dann so, dass das Sein zwar als Grund west, selbst aber keinen Grund hat, was allerdings wie eine verbrämte causa sui anmutet, die Heidegger eigentlich vermeiden möchte. Er windet sich hier in seinen Wortneuschöpfungen, mit denen er einerseits die Grundlosigkeit des Seienden auf den Begriff zu bringen versucht, wofür er aber andererseits auf die Rede von einem – freilich selbst nicht seienden  – Sein zurückgreift, die doch den Eindruck erweckt, dieses sei ein Grund. In Besinnung heißt es unter anderem, dass das Sein gleichzeitig Grund und Ab-grund ist und dabei auch noch das Nichts: »Als Ab-grund ›ist‹ das Sein das Nichts und der Grund zumal.«58 Diese befremdliche Formulierung entspricht aber der hier vorgeschlagenen Interpretation, dass das Sein, wie übrigens auch das Nichts, für die Grundlosigkeit des Seienden steht, die auch als Ab-grund bezeichnet wird. All diese hypostasierenden Reden laden natürlich zu Missverständnissen ein, weshalb sich Heidegger um entsprechende Erläuterungen bemüht und explizit festhält, dass und des Satzes gewandelt haben. Satz heißt jetzt nicht mehr ϑέσις, sondern saltus. Der Satz wird zum Sprung. Grund-Sätze sind Sprünge, die sich von jedem Grund absetzen und in den Ab-grund des Denkens springen«, GA 79, 112. In diesem Sinne sind auch die Grundsätze des Vortragstitels zu verstehen, zu denen neben dem Satz vom Grund auch der Satz der Identität gehört. 57 GA 10, 86. In Grundsätze des Denkens wird der Vollzug dieses Sprungs weg vom Grund etwas akzentuierter so formuliert: »Erfahren können wir den Sprung nur im Springen, nicht durch Aussagen darüber«, GA 79, 151. 58 GA 66, 99. 168  |  Rico Gutschmidt 

das Sein keine oberste Ursache ist, sondern für ein Denken »ohne Warum« stehen soll: »Wird im Bereich des Erdenkens des Seyns die Warumfrage noch gestellt, dann kann sie nur als Übergangsfrage vollzogen sein. Die Beantwortung führt nicht mehr auf eine oberste Ursache, die alles zusammenhält und erledigt im Sinne des ersten vor-sehenden Technikers, sondern die Antwort weist in das Seyn derart, daß nun das Antwortende sogleich als das Fragwürdigste sich enthüllt, aber für ein Fragen, in dem jedes Warum zu kurz, ja überhaupt nicht mehr trägt.«59

Das Seyn als Ab-grund wird in Besinnung auch auf das Dass des Seienden bezogen, was Heidegger in einer wiederum sehr ungewöhnlichen Sprache so formuliert: »Ab-grund ist nicht meta­phy­ sisch gemeint, die bloße Abwesenheit des Grundes, sondern die Wesung der Not der Gründung, welche Not nie ein Mangel ist, aber auch kein Überfluß, sondern das beiden über­legene Daß des Seyns, des Seyns als des ›Daß‹ des ›ist‹.«60 An dieser Stelle wird auch der Verdacht ausgeräumt, die Frage nach dem Warum sei letztlich sinnlos. Sie ist zwar nicht beantwortbar, führt aber gerade damit zu der Einsicht in die Grundlosigkeit das Daseins, für die bei Heidegger die Rede vom Sein bzw. Seyn steht: »Warum denn das Warum? […] Die Antwort lautet: um des Seyns willen, damit seine Wahrheit, das ihm Gehörige, den Grund und die Stätte finde: im Da-sein.«61 Ähnlich gewunden wie in Besinnung wird das Verhältnis von Sein und Grund auch in der Vorlesung über den Satz vom Grund beschrieben, in der Heidegger das Sein ebenfalls als Grund und Abgrund zugleich bestimmt:

59 GA

66, 274 f. Mit der Schreibweise des Seins als Seyn will Heidegger unterstreichen, dass mit dem Sein nichts Seiendes gemeint ist. Dies kann nur so verstanden werden, dass das Sein bei Heidegger für die Grundlosigkeit des Seienden, für das unerklärbare Dass des Seienden steht, wie es mit entsprechenden Zitaten oben belegt wird. 60 Ebd., 295. Zwischen dem Dass des Seyns und dem Dass des Seienden soll hier nicht differenziert werden, man müsste sonst vom Dass des Dass des Seienden sprechen. 61 Ebd., 267. Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  169

»Insofern Sein als Grund west, hat es selber keinen Grund. Dies jedoch nicht deshalb, weil es sich selbst begründet, sondern weil jede Begründung, auch und gerade diejenige durch sich selbst, dem Sein als Grund ungemäß bleibt. Jede Begründung und schon jeder Anschein von Begründbarkeit müßte das Sein zu etwas Seiendem herabsetzen. Sein bleibt als Sein grund-los. Vom Sein bleibt der Grund, nämlich als ein es erst begründender Grund, weg und ab. Sein: der Ab-Grund.«62

Heidegger spricht auch hier hypostasierend vom Sein, das als Grund west, wobei diese Rede aber wieder auf die Grundlosigkeit des Seienden bezogen ist, da das Sein auch als Ab-grund bestimmt wird. Und es kommt ebenfalls wieder auf den Vollzug dieses Denkens an, das sich nämlich von der Vorstellung, es gebe einen letzten Grund,63 lösen und zu einem Denken des Seins finden soll, das ohne letzten Grund auskommt: »Denken wir dem nach und bleiben wir in solchem Denken, dann merken wir, daß wir aus dem Bereich des bisherigen Denkens abgesprungen und im Sprung sind. Aber fallen wir mit diesem Sprung nicht ins Bodenlose? Ja und Nein. Ja – insofern jetzt das Sein nicht 62 GA

10, 166. Eine ähnliche Erläuterung findet sich ebd., 76 f.

63 Die Konzeption eines letzten Grundes wird von Heidegger in leicht kul-

turkritischem Unterton auch mit dem Wunsch nach einer meta­phy­sischen Absicherung in Verbindung gebracht, wobei er daran erinnert, dass Leibniz nicht nur den Satz vom Grund aufgestellt und entsprechend die Frage nach dem Warum des Seienden (Leibniz-Frage) mit der letzten Ursache eines seienden Gottes beantwortet hat, sondern auch der Erfinder der Lebensversicherung ist: »Unter dieser Gewalt des Anspruches festigt sich der Grundzug des heutigen menschlichen Daseins, das überall auf Sicherheit arbeitet. (Beiläufig gesagt: Leibniz, der Entdecker des Grundsatzes vom zureichenden Grund, ist auch der Erfinder der ›Lebensversicherung‹)«, GA 10, 182. Diesen Punkt macht Heidegger bereits in Die Überwindung der Meta­phy­sik von 1938/39 geltend: »Die neuzeitliche Meta­phy­sik (Leibniz) besagt Sicherung des Menschseins aus ihm selbst für es selbst. […] So steht Leibniz in vielem noch ganz innerhalb der christlichen Welt und fern jeder Versetzung des Menschen ins Unbedingte. Gleichwohl ist er der Erfinder der ›Lebensversicherung‹. Diese Tatsache bringt mehr zur Aufhellung seiner Meta­phy­sik bei als weitläufige Erörterungen über die Charakteristica universalis oder die praestabilierte Harmonie«, GA 67, 167. »Diese Tatsache« dürfte allerdings eher mit Leibniz’ Arbeiten zur mathematischen Wahrscheinlichkeit zu tun haben als mit einem meta­phy­sischen Sicherheitsbedürfnis. 170  |  Rico Gutschmidt 

mehr auf einen Boden im Sinne des Seienden gebracht und aus diesem erklärt werden kann. Nein – insofern Sein jetzt erst als Sein zu denken ist.«64

Die Vorlesung schließt mit einem Verweis auf Fragment 52 von Heraklit, in dem dieser von einem spielenden Kind spricht, das laut Heidegger spielt, weil es spielt, so wie die Rose blüht, weil sie blüht. Beides soll für eine Weise des Daseins stehen, in der dieses seine eigene Grundlosigkeit im Denken vollzieht, wobei Heidegger in seiner späteren Philosophie diesen Vollzug nicht mehr mit dem Sein benennt, das in seiner hypostasierenden Beschreibung trotz aller Beteuerungen doch wie ein letzter Grund wirkt, sondern mit der Rede vom Ereignis, das sich ereignet.65 Diese neue Strategie der Vergegenwärtigung der grundlosen Situation des Menschen deutet sich am Ende der Vorlesung mit dem Beispiel des spielenden Kindes bereits an, das auch am Ende dieses Abschnitts stehen soll: »Warum spielt das von Heraklit […] erblickte große Kind des Weltspieles? Es spielet, weil es spielet. Das ›Weil‹ versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne ›Warum‹. Es spielt, dieweil es spielt. Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste.   Aber dieses ›nur‹ ist Alles, das Eine, Einzige.   Nichts ist ohne Grund. Sein und Grund: das Selbe. Sein als gründendes hat keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein und Grund zuspielt.   Die Frage bleibt, ob wir und wie wir, die Sätze dieses Spiels hörend, mitspielen und uns in das Spiel fügen.«66

4. Die Situation des Menschen Wie Wittgenstein mit seiner Philosophie dafür einsteht, dass der Mensch Teil unbegründeter Lebensformen ist, will Heidegger mit seiner gesamten Philosophie auf ein grundloses Sein hinaus, in das der Mensch gehört, dessen Dasein sich letztlich – ebenso grundlos – als Ereignis ereignet. Diese Grundlosigkeit thematisiert Heidegger 64 GA

10, 166. z. B. im Vortrag Zeit und Sein von 1962, GA 14, 3–30, hier 29. 66 GA 10, 169. 65 So

Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  171

in Der Satz vom Grund anhand des Regressproblems der Warumfrage, so wie Wittgenstein in Über Gewißheit an dem skeptischen Problem der Letztbegründung anknüpft, dass sich ebenfalls an dem Regress der Gründe abarbeitet. Bei beiden ist die Warumfrage zwar nicht beantwortbar, deshalb aber nicht sinnlos. Stattdessen macht sie bei Wittgenstein auf die Grundlosigkeit der menschlichen Lebensformen aufmerksam bzw. führt bei Heidegger zur Einsicht in das grundlose Ereignis, das er in seiner späteren Philosophie lebensweltlich als Geviert näher bestimmt.67 Zu der jeweiligen Einsicht in die Grundlosigkeit des Daseins gehört ein Blick in den Abgrund des Regresses, nach dem man verändert in die Lebenswelt als unbegründete Lebensform bzw. als grundloses Ereignis zurückkehrt. Beide Redeweisen beschreiben die endliche Situation des Menschen, die man angemessen erst nach einem solchen skeptischen Durchgang begreift und zu der man sich durchaus positiv verhalten kann, wenn man sieht, dass man immer schon grundlos vertrauend handelt bzw. spielt, indem man spielt. Diese Nähe von Wittgenstein und Heidegger68 findet sich gebündelt in den Arbeiten von Stanley Cavell, dessen Konzept der Wahrheit des Skeptizismus ebenfalls auf den Blick in den Abgrund des Regresses hinausläuft, nach dem man, wie oben zitiert, einsieht, dass unser grundlegendes Verhältnis zur Welt nicht auf Wissen, sondern auf Anerkennung beruht. Der Status der skeptischen Frage kann in diesem Sinne als Reflexion der Vernunft auf ihre Grenzen angesehen werden. Wie Wittgenstein auf die unbegründeten Lebensformen und Heidegger auf das grundlose Sein bzw. Ereignis verweist, in denen sich der Mensch befindet, spricht Cavell davon, dass wir unser Dasein nicht noch einmal absichern können und stattdessen »aufeinander eingestellt sind«,69 was im englischen Original treffender mit dem »fact of our attunement […] in forms of 67 Vgl. vor allem die Vorträge Bauen Wohnen Denken und Das Ding, GA 7,

145–164 bzw. 165–187. 68 Zur Grundlosigkeit bei Heidegger und Wittgenstein vgl. auch Lee Braver, Groundless Grounds: A Study of Wittgenstein and Heidegger, Cambridge/ London 2012, und zur Nähe von Heidegger und Wittgenstein allgemein Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 2003. 69 Cavell, Anspruch der Vernunft, 88. 172  |  Rico Gutschmidt 

life« ausgedrückt wird.70 Der im ersten Abschnitt erwähnte Rückverweis auf die Praxis hat damit den tieferen Sinn, dass man sie gar nicht verlassen kann, was als Wahrheit des Skeptizismus die Endlichkeit der Situation des Menschen aufzeigt. Der Wunsch nach einer antiskeptischen Absicherung des Daseins ist unerfüllbar, und erst mit dieser Einsicht versteht sich der Mensch angemessen selbst. Die Gottesperspektive der antiskeptischen Absicherung können wir nicht einnehmen, was aber weder eine Resignation darstellt noch gar Anlass zu Verzweiflung ist, sondern als Einsicht erst zu einer adäquaten Haltung gegenüber der Situation des Menschen führt. Mit den Worten Cavells: »Das Erlebnis ist von der Art […], daß einer auf die Welt blickt, als wäre sie ein weiteres Objekt […]. Wenn das eine Sehnsucht ist, dann nicht eine nach Allgemeinheit (d. h. nach Generalisierung), sondern nach Totalität. Es ist ein Ausdruck dafür, […] daß wir die Welt so wissen wollen, wie wir es uns von Gott vorstellen, daß Er sie weiß. Und uns davon frei zu machen wird genauso leicht sein, wie uns von dem hybriden Wunsch zu befreien, Gott zu sein – uns zu befreien, sage ich, nicht: statt dessen über unsere Endlichkeit zu jammern.«71

Allerdings ist die Befreiung von dem Wunsch nach antiskeptischer Absicherung nicht so leicht, wie es hier erscheint. In einem späteren Text spricht Cavell davon, dass sich unser Verhältnis zur Welt nach einem skeptischen Durchgang verändert. Die Einsicht in die 70 Stanley

Cavell, The Claim of Reason, Oxford 1979, 34. Anspruch der Vernunft, 394. Es ist wohl nicht zu sehr vereinfachend, wenn man die erkenntnistheo­re­t ische Position des Externalismus mit diesem unerfüllbaren Wunsch nach einer Gottesperspektive in Verbindung bringt. Allerdings sieht sich zum Beispiel Thomas Grundmann zwar in der Lage, das Regressproblem mit einem externalistischen Reliabilismus zu lösen (Grundmann, Erkenntnistheorie, 382), muss dann angesichts der skeptischen Herausforderung insgesamt aber doch einräumen, dass deren Unlösbarkeit zur Situation des Menschen gehört. So heißt es über den »Strudel des Skeptizismus«: »Denn wir haben in der Tat keine Chance, den Skeptizismus von einem unparteiischen Standpunkt aus zu widerlegen. Dieser Umstand ist letztlich zwar unbefriedigend, gehört aber unvermeidbar zur conditio humana hinzu«, ebd., 451. Mit Cavell, Wittgenstein und Heidegger müsste man allerdings eher von der Befreiung von dem Wunsch nach antiskeptischer Absicherung sprechen und von der dann erst angemessenen Einsicht in die conditio humana. 71 Cavell,

Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  173

Endlichkeit unseres Wissens lässt uns die Welt nämlich unheimlich und unvertraut werden, weshalb es gilt, ein neues Vertrauen zu den Anderen und zur Welt zu gewinnen, die nach einem skeptischen Schauer nicht mehr die gleiche ist: »Die Wiederkehr dessen, was wir als Welt akzeptieren, wird sich dann als eine Wiederkehr des Vertrauten darstellen, wird also wiederkehren unter dem begrifflichen Banner des Unheimlichen, von dem Freud gesprochen hatte. Dass das Vertraute Produkt eines Gefühls des Unvertrauten und einer Wiederkehr ist, bedeutet, dass das, was nach dem Durchgang durch den Skeptizismus zurückkehrt, niemals (schlicht) gleich ist.«72

Ein solcher Durchgang ist keine einmalige Angelegenheit einer großen Bekehrung, sondern findet immer wieder statt, etwa anhand kleiner Irritationen in der Alltagspraxis, in denen einem die Grundlosigkeit des Daseins so aufgeht, wie sie Wittgenstein und Heidegger verdeutlicht haben. Die kleinen Schritte solcher Einsichten und Wandlungen pointiert Davide Sparti mit Bezug auf Cavell und Wittgenstein wie folgt: »Die Wiederentdeckung des Gewöhnlichen stellt sich somit nicht als einmalige Reise dar, sondern als unzählige kleine Übergänge, die durch wiederholtes Sichverlieren und Sichwiederfinden veranlaßt sind, als eine Reihe von Übergängen, durch die eben diese Gewöhnlichkeit, Normalität oder Allgemeinheit ihrerseits wiederaufgenommen und wiederhergestellt, akzeptiert und gemeinsam gelebt werden muß.«73

Solche Über­legungen zur Endlichkeit und zum skeptischen Durchgang gibt es aber nicht erst im 20. Jahrhundert. Die Aufklärung über die grundlose Situation des Menschen und die entsprechenden Grenzen der Vernunft hat eine lange Tradition, die vom sokratischen Nichtwissen und die antike Skepsis über die negative Henologie bei Platon und im Neuplatonismus, die docta ignorantia des Cusaners, den Positionen Humes und Kants bis zum moder72 Cavell,

Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, 93. 73 Davide Sparti, Der Traum der Sprache. Cavell, Wittgenstein und der Skeptizismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46/2 (1998), 211–236, hier 235. 174  |  Rico Gutschmidt 

nen Existenzialismus und postmodernen Ansätzen reicht, um nur wenige Stichworte zu nennen. Die Situation des Menschen, der das Verhältnis zu sich selbst und zur Welt nicht restlos aufklären kann, wurde dabei besonders pointiert von Hume und Kant auf den Punkt gebracht. So eröffnet Kant seine Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft mit den vielzitierten Worten: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.«74 Ganz analog bestimmt Hume die wunderliche Lage des Menschen in der Untersuchung über den menschlichen Verstand, in der er über den Pyrrhoniker schreibt: »Erwacht er aus seinem Traume, so wird er der Erste sein, der in das Gelächter über sich selbst mit einstimmt und gesteht, daß all seine Einwürfe bloß zur Unterhaltung taugen und nur die wunderliche Lage des Menschen zu offenbaren dienen, der handeln, denken und glauben muß, wenn er auch nicht imstande ist, durch die sorgsamste Untersuchung über die Grundlagen dieser Tätigkeiten befriedigende Aufklärung zu erlangen oder die gegen sie erhobenen Einwände zurückzuweisen.«75

Hume spricht ebenfalls davon, dass man nach einem skeptischen Durchgang verändert in die Welt zurückkehrt, wobei man vor allem bescheidener in seinen Wissensansprüchen wird, wozu »[…] nichts so dienlich [ist], als einmal völlig von der Kraft des pyrrhonischen Zweifelns durchdrungen gewesen zu sein.«76 Und schließlich macht bereits Sextus Empiricus als Vertreter dieses pyrrhonischen Zweifelns auf den Wandel durch die Skepsis aufmerksam, da das Ablassen von den skeptischen Fragen nach der Einsicht in ihre Unbeantwortbarkeit zur Seelenruhe bzw. ataraxia führen würde: »Denn der Skeptiker begann zu philosophieren, um die Vorstellungen zu beurteilen und zu erkennen, welche wahr sind und welche falsch, damit er Ruhe finde. Dabei geriet er in den gleichwertigen Widerstreit, und weil er diesen nicht entscheiden konnte, hielt er inne. 74 KrV

A VII. Untersuchung über den menschlichen Verstand, 188. 76 Ebd., 190. 75 Hume,

Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  175

Als er aber innehielt, folgte ihm zufällig die Seelenruhe in den auf dogmatischen Glauben beruhenden Dingen.«77

Das angemessene persönliche Verhältnis zu der Situation des Menschen wurde oben bereits als die Haltung eines grundlosen Vertrauens bestimmt, die vielleicht auch hinter der antiken Vorstellung der Seelenruhe steckt. Diese Frage kann hier aber nicht weiter verfolgt werden. Erwähnt sei lediglich die starke Nähe einer solchen Haltung zum religiösen Glauben, der sich, grob und verkürzt gesagt, ebenfalls vertrauend an etwas hält, das er nicht begreifen kann. So übernimmt Heidegger seine Konzepte der Inständigkeit und Gelas­senheit von Meister Eckhart, während Wittgenstein stark von Kierke­gaard beeinflusst war.78 Beide lassen mit ihrer Philosophie die Welt als das Mysterium erscheinen, das sie ist, was Cavell als wichtige Verbindung dieser Philosophen ansieht: »Daß sie beide die Frage nach dem Mysterium der Existenz oder des Seins der Welt immerhin zulassen, bildet ein nicht unwichtiges Band zwischen Wittgensteins und Heideggers Lehre.«79 Angesichts der Unlösbarkeit des Regressproblems, das als einfache Kinderfrage beginnt und als Blick in den Abgrund zu einem quasi-religiösen Weltverhältnis führt, hat die vielbeschworene Entzauberung der Welt nie stattgefunden. In einer jüngeren Arbeit zur Mystik wird die Grundlosigkeit des Seins, die durch das Regressproblem deutlich gemacht wird, 77 Hossenfelder,

Sextus Empiricus, Abschnitt I [26]. Heidegger und Eckhart vgl. etwa Robert Dobie, Overcoming Ontotheology, Heidegger and Meister Eckhart on Gelassenheit, in: Frederick van Fleteren (Hrsg.), Martin Heidegger’s interpretations of Saint Augustine, Lewiston, NY 2005, 351–382. Eine inhaltliche Nähe Wittgensteins zu Kierke­ gaard stellt zum Beispiel Cavell fest: »Aber mir scheint, ich kann die Kierke­ gaardsche Wahrnehmung als religiöse Deutung der Wittgensteinschen verstehen«, Stanley Cavell, Wittgenstein als Philosoph der Kultur. Alltäglichkeit als Heimat, in: ders., Nach der Philosophie. Essays, Berlin 2001, 97–126, hier 102. Zur religiösen Dimension der Heidegger’schen Philosophie vgl. auch Rico Gutschmidt, Sein ohne Grund. Die post-theistische Religiosität im Spätwerk Martin Heideggers, München/Freiburg 2016 und entsprechend zu Wittgenstein ders., Gewissheit und Vertrauen. Der quasi-religiöse Status der Angelsätze bei Wittgenstein, in: Constanze Demuth und Nele Schneidereit (Hrsg.), Interexistenzialität und Unverfügbarkeit. Leben in einer menschlichen Welt, München/Freiburg 2014, 131–149. 79 Cavell, Anspruch der Vernunft, 400. 78 Zu

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mit religiösen Erlebnissen zahlreicher Traditionen in Verbindung gebracht und als Ergebnis die Frage gestellt, die nun auch diesen Aufsatz beschließen soll: »Sollte die Grundlosigkeit des Lebens die tiefste Einsicht sein, derer der Mensch fähig ist?«80

80 László

F. Földényi, Starke Augenblicke. Eine Physiognomie der Mystik, Berlin 2013, 186. Unbegründeter Glaube und grundloses Sein  |  177

Hartmut von Sass

Gottesbeweise – und kein Ende Zur theologischen Verarbeitung des infiniten Regresses 1. Vorbereitung: Wo liegt eigentlich das Problem? Gottesbeweise haben in der Theologie einen schweren Stand – aber immerhin, sie haben einen. Kaum jemand akzeptiert sie als gelungene Argumente, die ihrem eigenen Anspruch genügten, um über Gottes Existenz induktive oder gar deduktive Klarheit zu schaffen. Alle Umformungen, Verfeinerungen und Transformationen der klassischen Gottesbeweise haben stets nur eine fast verschwindend geringe Minderheit wirklich überzeugen können. Zumeist geht die Einsicht in das Scheitern aller ihrer bisherigen Formen in die grundlegendere Reserve über, die die Sinnhaftigkeit des gesamten Projekts in Abrede stellt. Während man im ersten Fall am Zweck des Unternehmens festhält, jedoch einsehen muss, dass man einen Beweis (noch) nicht vorgelegt hat, verabschiedet man im zweiten Fall bereits die Absicht, die hinter der Institution des Beweisens liegt. Diese stärkere Kritik drückt sich etwa bei Stanley Hauerwas wie folgt aus: »I contend that if you could ›prove‹ the existence of God, if you had evidence that something like a god must exist, then you would have evidence that the God that Jews and Christians worship does not exist.«1

Womit uns Hauerwas hier konfrontiert, scheint ein weitreichendes Dilemma zu sein: Entweder man versucht, Gottes Existenz und Wesen zu beweisen – und scheitert; oder aber man beweist tatsächlich erfolgreich – nur nicht das, was man beweisen wollte. Um dieses 1 Stanley Hauerwas, Connections Created and Contingent: Aquinas, Prel-

ler, Wittgenstein, and Hopkins, in: ders., Performing the Faith. Bonhoeffer and the Practice of Nonviolence, Grand Rapids MI 2004, 111–134, hier: 112; ähnlich ders., With the Grain of the Universe. The Church’s Witness and Natural Theology, Grand Rapids MI 2001, 29. 178  |   

Dilemma zu verstehen, wäre darzulegen, von welchem Gottesbegriff ausgegangen wird und welcher konkreten Grammatik dieser folgt. Für die Zurückweisung des skizzierten Dilemmas gilt selbstverständlich dasselbe: Auch sie lebt bereits von einem bestimmten Begriff Gottes, der der Tradition des Theismus (samt all seiner verzweigten Derivate) angehört. Es darf daher vermutet werden, dass nicht die Beweise zur Existenz Gottes der eigentliche Adressat der Kritik sind; vielmehr ist der wirkliche Dissens in der Gotteslehre zu suchen, die über die Sinnhaftigkeit jener Tradition entscheiden wird. Der dogmengeschichtliche Kontext der Gottesbeweise ist die natürliche Theologie als Zusammenfassung all jener Versuche, von der ›Welt‹ auf Gott zu schließen.2 ›Welt‹ kann hier so Unterschiedliches wie Verstand oder Intellekt, aber auch den Kausalzusammenhang der Natur bedeuten. Anliegen dieser in sich sehr unterschiedlichen Ansätze ist, die Religion auf ein ›rationales‹ Fundament zu stellen, um religiösem Irrationalismus und theologischem Dezisionismus Einhalt zu gebieten. Damit wird nicht nur die Denkbarkeit Gottes behauptet, sondern auch seine Beweisbarkeit und – im Fall von deren Erfolg – Gottes Wissbarkeit.3 Eine zwischen Befürwortern und Gegnern der Gottesbeweise verlaufende Mittelposition besagt, dass jenen Beweisen kein genuin beweisender Charakter zukommt, sondern dass sie über einen ledig­ 2 Dazu

Dewi Z. Phillips, From World to God?, in: ders., Faith and Philosophical Enquiry, New York 1970, 25–60; dabei können mindestens zwei Formen der natürlichen Theologie unterschieden werden: zum einen der Versuch, von der Welt unmittelbar auf Gott zu schließen, zum anderen der Versuch, die religiösen Überzeugungen als prinzipiell wissenschaftlich auszuweisen; dazu Stanley Hauerwas, Reinhold Niebuhr’s Natural Theology, in: ders., With the Grain of the Universe, 113–140, hier: 115. 3 En passant notiert: Daraus ergeben sich unterschiedliche Lesarten der atheistischen Bestreitung der natürlich-theologischen Ansprüche, je nachdem, ob die Denkbarkeit, Beweisbarkeit oder Wissbarkeit Gottes infrage gestellt wird. Diese Form des Atheismus als A-Theismus akzeptiert die Ausgangsprämissen des Unternehmens, hält aber dessen Ergebnisse für ungültig. Demgegenüber gibt es eine stärkere Form des Atheismus, die als Kritik der natürlich-theologischen Rahmenhandlung auftritt und sich gerade in den Dienst einer theologischen Klärung von ›Gott‹ stellt; dazu Hartmut von Sass, Inverse Apologetik. Zur theologischen Verarbeitung des Atheismus, in: Evangelische Theologie 74:4 (2014), 292–310. Gottesbeweise – und kein Ende  |  179

lich explikativen Status verfügen. Das heißt, dass der Anspruch des Beweisens heruntergedrosselt wird zu einem Erweis, der bereits voraus­setzt statt darzulegen, dass Gott existiert, um von dieser gerade unbewiesenen oder gar unbeweisbaren Annahme ausgehend zu entfalten, was sie theologisch schon enthält. Aus einem intellektuell gesicherten Gott folgt dann kein Glaube mehr, sondern der Glaube an Gott versichert sich seiner Inhalte, indem er etwa die Tradition der Gottesbeweise für deren Klärung in Anspruch nimmt und anerkennt, dass Gottes Existenz und Wesen allein durch Gott selbst vermittelt werden kann.4 Die Frage bleibt allerdings, inwiefern sich durch die explikative Lesart der Gottesbeweise die Anfragen an deren stärkere beweisende Gegenversion entkräften lassen. Bekanntlich wird spätestens seit Kant zwischen drei klassischen Gottesbeweisen unterschieden: dem ontologischen Gottesbeweis, der die Existenz aus Gottes Begriff herleiten will; dem kosmologischen Argument, das Gott als den Anfangspunkt einer anderenfalls unendlichen Kausalfolge versteht; und dem (physiko)teleologischen Beweis, der aus Ordnungsformen der Welt und des Universums auf eine personale Absicht hinter jener Ordnung schließt. Kants berühmte Kritik am ersten Beweis, wonach Existenz kein »reales Prädikat« sei, weshalb die Existenz gerade nicht aus dem Begriff Gottes gefolgert werden könne,5 ist ja nicht behoben, wenn man sich auf den rein explikativen Zuschnitt des Arguments zurückzieht. Die Untiefen eines infiniten Regresses innerhalb des kosmologischen Szenarios werden nicht zum Verschwinden gebracht, sollte es lediglich um ein making it explicit gehen. Und der Zweideutigkeit der weltlichen Ordnung, die oft genug weit eher einem unverstehbaren Chaos gleicht als einem sinnvollen 4 Dann

können auch offenbarungstheologische Ansätze auf die Gottes­ beweise zurückgreifen; prominentestes Beispiel für die Umstellung vom beweisenden Charakter zum explikativen Status ist Karl Barths Interpretation des ontologischen Arguments bei Anselm; siehe Karl Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms [1931], hg. von Eberhard Jüngel und Ingolf U. Dalferth, Zürich (1981) 32002, bes. 25 f., 43, 56; auch Ingolf U. Dalferth, Fides quaerens intellectum. Theologie als Kunst der Argumentation in Anselms Proslogion, in: ders., Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992, 51–94. 5 So Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 626 / A 599. 180  |  Hartmut von Sass 

Muster, entledigt man sich kaum durch die Verabschiedung des beweisenden Beweises.6 Nun meinte Kant, der Kern jener Trias der Gottesbeweise liege im ontologischen Argument, sodass dessen Widerlegung zugleich das Scheitern des kosmologischen und teleologischen Beweises nach sich ziehen müsse. Doch die Vormachtstellung des ontologischen Arguments in der Architektur jener Beweise ist unter Beschuss geraten, als man nicht nur versuchte, das ontologische Argument selbst gegen Kants Einspruch zu immunisieren,7 sondern die anderen beiden Beweise von jenem Argument abzukoppeln, woran insbesondere empiristische Ansätze interessiert waren und zum Teil noch sind. Dadurch erhält vor allem das kosmologische Argument ein thematisches Eigengewicht, was sich in zahlreichen Anläufen gegenwärtiger Religionsphilosophie, dem Argument eine haltbare Form zu geben, niederschlägt. Da einer der Ausgangspunkte und Grundprobleme der sog. regressus ad infinitum bzw. dessen Vermeidung bildet, gesellt sich zu einer gewissen Spezifität des Themas, das sich durch den vorliegenden Text zieht, zugleich seine aktuelle Relevanz. Worum es im Folgenden aber nicht geht, ist eine Verteidigung der Gottesbeweise oder eine ohnehin unnötige Rekapitulation ihrer Kritik. Für den hier gewählten Fokus kann auch weitgehend darauf verzichtet werden, in die mitunter filigranen Einzelfragen zur erneuten Reformulierung des kosmologischen Arguments einzusteigen; denn sie ändern kaum etwas an der Weise, wie mit der als meist problematisch empfundenen Figur des Regresses umgegangen wird. Vielmehr soll es um die theologische Verarbeitung jener ›regressiven‹ Denkfigur gehen. Dabei können zwei Formen unterschieden werden, wie sich der Beweis samt Regress zum zu Beweisenden samt Gottesbegriff verhält: Entweder wird der unendliche Regress arretiert, um Gott als Anfang der Kausalkette zu denken; das kosmologische Argument würde demnach davon leben, dass man den Regress 6 Siehe

Richard Swinburne, The Existence of God, Oxford 1979, 22004, Kap. 3; kritisch dazu Adolf Grünbaum, The Poverty of Theistic Cosmology, in: The British Journal for the Philosophy of Science 55:4 (2004), 561–614. 7 Das haben so unterschiedliche Autoren wie Norman Malcolm (Anselm’s Ontological Arguments, in: The Philosophical Review 69:1 (1960), 41–62) und Friedrich Hermanni (Meta­phy­sik. Versuche über letzte Fragen (Collegium Metaphysicum 1), Tübingen 2011, Kap. 2) versucht. Gottesbeweise – und kein Ende  |  181

als zu lösendes oder aufzulösendes Problem begreift, sodass – beim Erfolg jenes Manövers – Gottes zumindest schemenhafte Existenz verkündet werden könnte. Oder aber der Regress wird als Problem nicht gelöst, sondern gerade eskaliert, um über diese Dringlichkeit die Idee Gottes in ihrer Notwendigkeit darzulegen. Beide Wege kommen in den Debatten um das kosmo­logische Argument vor und sollen nun exemplarisch betrachtet werden (2), um von dort aus die Frage zu beantworten, wie theologisch auf den Regress zu reagieren ist, welches tiefere Problem sich in ihm ausspricht und wie er in der Dogmatik womöglich gar konstruktiv genutzt werden könnte (3).

2. Zur Verarbeitung des infiniten Regresses Der kosmologische Gottesbeweis geht von der Beobachtung aus, dass die Welt bzw. das Universum kausal strukturiert ist. Wirkungen sind Wirkungen von vorausliegenden Ursachen, die ihrerseits Wirkungen anderer Ursachen sind. So entstehen Kausalketten, deren Elemente (an) stets ein sie verursachendes Element (an-1) besitzen und somit eine Figur prinzipieller Unabschließbarkeit bilden; denn nichts innerhalb dieses Szenarios arretiert jene ›Kettenreaktion‹ oder könnte sie zum Ende bringen. Nun gesellen sich zu dieser Versuchsanordnung drei weitere Annahmen, die im Verbund miteinander die proto-naturwissenschaftliche Beobachtung ins Theologische wenden. Erstens verhalten sich Elemente wie (an) und (an-1) kausal so zueinander, dass (an-1) den für (an) hinreichenden Grund bildet. Die gesamte Kette ist so charakterisiert, dass in ihr alle Kausalverhältnisse geschlossen und terminiert sind; d. h. weitere Ursachen sind für die Erklärung der Wirkung nicht nötig. Zweitens ist das Abgleiten jener Kette(n) ins Unendliche inakzeptabel; der drohende regressus ad infinitum muss demnach unbedingt zum Stehen gebracht werden. Dazu ist, drittens, eine Ursache anzunehmen, die außerhalb der Welt liegt, eine causa also, die selbst nicht wieder die weltliche Wirkung einer noch grundlegenderen Ursache darstellt. Hinter der ersten Annahme steckt das »Prinzip vom zureichenden Grund«. Dieses Prinzip drückt nach Leibniz den Umstand aus, dass:

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»[…] nichts geschieht, ohne dass es eine Ursache oder wenigstens einen bestimmenden Grund gibt, d.  h. etwas, das dazu dienen kann, a priori zu begründen, weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer anderen Weise existiert.«8

Demnach muss es jeweils ein (an-1) als Ursache für ein (an) geben, sodass geschlossene und vollständig terminierte Kausalketten entstehen, und zwar ganz unabhängig davon, ob wir de facto jedem (an) ein (an-1) zuordnen können. Dennoch ist das »Prinzip vom zureichenden Grund« nicht unumstritten.9 Zumeist wird eingestanden, dass es sich seinerseits nicht beweisen lässt, jedoch in einem pragmatischen Sinn für die Rationalität unserer sozialen und wissenschaftlichen Praktiken vorausgesetzt werden muss. Dem Prinzip komme objektive Gültigkeit zu, weil in der Lebenswelt alles für diesen Grundsatz spreche.10 Hinter der zweiten Annahme steckt eine Über­legung, die sich einerseits aus der Ersten ergibt, um sie andererseits zugleich in Verlegenheit zu bringen; denn solange die Einzelglieder der Kette (und nicht die Kette selbst; dazu Abschnitt 2.2) das Explanandum bilden, liegen potentiell zufriedenstellende Erklärungen vor, weil jedes Element auf seinen kausalen Vorgänger zurückgeführt wird. Eben dies fordert jenes »Prinzip vom zureichenden Grund«, ist dann aber auch erfüllt. Es scheinen sich keine weiteren Fragen aufzutun. Das Problem jedoch besteht nun darin, dass sich zugleich das prinzi­piell Unerklärliche nur weiter ›nach hinten‹ verschiebt. Die Erfüllung des Prinzips sorgt demnach sofort für seine Nichterfüllung, im erklärenden Erfolg ist schon immer die explanatorische Enttäuschung enthalten. Also muss der Regress – irgendwie – gestoppt werden, im Bewusstsein, dass sich dieser Anspruch aus der Kausalkette selbst weder als dringlich erweist noch eine dortige Lösung der Schwierigkeiten wahrscheinlich ist. Wenn der Schlüssel zum Problem nicht innerhalb der Kausalkette liegt, sondern ihre Beschaffenheit selbst die Schwierigkeiten stiftet, liegt es, drittens, nahe, eine Ursache ›jenseits‹ der kausal strukturier  8 Gottfried

Wilhelm Leibniz, Theodizee, Frankfurt a. M. 1999, § 44, 273. Quentin Meillassoux, Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz. Aus dem Französischen von Roland Frommel, Zürich/Berlin 22014, bes. 78 und 99. 10 So Friedrich Hermanni, Meta­phy­sik, 36 f.   9 Dazu

Gottesbeweise – und kein Ende  |  183

ten Welt aufzusuchen. Dazu müssen zunächst alle Ansätze abgewiesen werden, immanente Welterklärungen – etwa der Selbstzeugung11 – vorzulegen, um jenes Wagnis eines Schrittes, über die Kette hinaus zu gehen, doch noch zu vermeiden. Das Dilemma, welches sich aus der nicht erfüllbaren Erfüllung des »Prinzips vom zureichenden Grund« ergibt, drängt folglich auf eine causa, die ihrerseits keiner weiteren Erklärungen mehr bedarf. Eine ›nicht bewirkte Ursache‹, die causa sui,12 der aristotelische ›unbewegte Beweger‹ stehen für die terminologische Fassung einer sachlichen Ambivalenz zwischen dem Ausweg aus jenem Problem und dessen Vertiefung. Wenn der infinite Regress Ausdruck eines nicht endenden Austausches von Erklärungen ist, bildet folglich die Suche nach einer Ursache im Sinne einer Ur-Sache den klassischen »conversation stopper«13. Diese drei Hintergrundannahmen – das »Prinzip vom zureichenden Grund«, das Verbot eines Regresses ins Unendliche und die Ursache jenseits der Welt als ultimativer Beginn – stehen offensichtlich in einem engen Zusammenhang. Das besagte Prinzip führt zur Konstruktion von Ketten, deren Glieder sich nicht nur kausal zueinander verhalten, sondern in ihrem Auftreten zumindest potentiell vollständig erklärt werden sollen.14 Diese Ketten bestehen demnach aus für erklärbar gehaltenen Elementen, die jenem Prinzip Genüge tun, aber das Ausgangsproblem nur ins Unendliche delegieren, weil immer weiter gefragt werden kann, wodurch das vorangehende Element entstanden sei. Das Verbot des Regresses erfordert also die Suche nach einer ersten Ursache, die nicht den Regress als solchen aufhebt, sondern ihn verendlicht. In den unterschiedlichen Versionen des kosmologischen Arguments wird nun eine dieser drei Hintergrundannahmen jeweils be11 Für

diesen Versuch klassisch-philosophischer Spekulationen in David Humes, Dialoge über natürliche Religion, hg. und übers. von Norbert Hoerster, Stuttgart 1999, Teil VII, bes. 69 f. 12 Zu den Problemen einer causa sui in Verbindung zur religiösen Praxis (bzw. in Abkopplung von dieser) siehe klassisch Martin Heidegger, Die ontotheo-logische Verfassung der Meta­phy­sik (1956/57), in: ders., Identität und Differenz. GA 11, Frankfurt a. M. 2006, 51–79, bes. 77. 13 In einem etwas anderen Sinn dazu Richard Rorty, Religion As Con­ver­ sation-stopper, in: ders., Philosophy and Social Hope, London 1999, 168–174. 14 Vgl. auch Ted Honderich, Wie frei sind wir? Das DeterminismusProblem, übers. von Joachim Schulte, Stuttgart 1995, Kap. 3. 184  |  Hartmut von Sass 

sonders hervorgehoben. In der modalen Variante des Arguments, die vor allem Leibniz vertreten hat, liegt das Gewicht auf der ersten Annahme. Aus der Gesamtheit der kontingenten Dinge und mittels des Prinzips des zureichenden Grundes (mit Bezug auf jedes Einzelding und auf die Gesamtheit dieser Einzeldinge) schließt Leibniz auf ein notwendiges Sein, das aller Kontingenz entnommen ist.15 Hier wird nicht primär die kausal verknüpfte Kette zurückverfolgt, sondern der letzte Grund der gesamten Kette bestimmt. In der sog. ›Kalam-Version‹, die in die arabische Theologie des Mittelalters zurückführt,16 geht man im Gegensatz zur LeibnizVersion davon aus, dass die Welt nicht anfangslos ewig sei, sondern über eine endliche Vergangenheit verfüge. Damit rückt nun aber das Regress-Problem ins Zentrum, jedoch auf etwas andere Weise; denn nun wird die Zeit als Funktion des Universums gedacht, sodass sich ein klassischer Regress zwischen den temporalen Kausalgliedern kaum mehr auftut.17 Dann aber geht es nicht mehr nur darum zu klären, wodurch die Kausalkette angeschoben worden ist, sondern wie das Universum und die Zeit als dessen Funktion ihrerseits entstanden sind. In Versionen des kosmologischen Arguments, die die dritte Annahme einer außerweltlichen Ursache hervorheben, wird hingegen stärker, als dies in den anderen Versionen der Fall ist, darin investiert, Gott als Ur-Sache (ens necessarium) und Gott als vollkommener Adressat einer religiösen Praxis (ens perfectissimum) zusammenzuführen. Dazu muss der Begriff eines notwendig existierenden Wesens gegen die Kritik von Hume und Kant verteidigt werden,18 um von der Möglichkeit des Begriffs auf die Wirklichkeit des damit Bezeichneten zu schließen und zugleich zu zeigen, dass der hier bewiesene Gott kein Abstraktum bleibt, sondern tatsächlich der Gott eines lebendigen Glaubens sein könnte.19 15 Dazu

William Rowe, The Cosmological Argument, Princeton/London 1975, 123–137; kritisch John Leslie Mackie, Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1986, Kap. 7 f. 16 Dazu William L. Graig, The Kalam Cosmological Argument, London/ Basingstoke 1979, Kap. 3–5. 17 Vgl. Hermanni, Meta­phy­sik, 22. 18 Vgl. Alvin Plantinga, A Valid Ontological Argument?, in: The Philosophical Review 70:1 (1961), 93–101. 19 Hier bestätigt sich die von Kant behauptete Rückführbarkeit des kosGottesbeweise – und kein Ende  |  185

Soweit zum Kontext des kosmologischen Arguments bzw. zu diesem Argument als Kontext des infiniten Regresses. Wie wir gesehen haben, ist dabei zu unterscheiden zwischen der Erklärung der Glieder einer Kette (an-1), (an), … und der Erklärung für die gesamte Kette selbst. Wenden wir uns zunächst dem ersten Problem zu, und zwar anhand der »fünf Wege« des Thomas von Aquin.

2.1  Die »fünf Wege« des Thomas und der klassische Regress

Das Problem unendlicher Ketten lässt sich besonders gut an den sog. quinque viae des Thomas von Aquin skizzieren, wobei die vier ersten Wege Varianten des kosmologischen Gottesbeweises bilden, während der fünfte Weg eine Form des teleologischen Gottesbeweises bzw. ein argument from design darstellt. Ob es sich bei jenen Beweisen tatsächlich um ›Beweise‹ handelt, ist umstritten. Denn es ist nicht zu vergessen, dass Thomas seine summa theologica nicht in einem ›säkularen Zeitalter‹ (Charles Taylor) schreibt, sondern es mit Zeitgenossen zu tun hat, deren Glaubensfundament gar nicht bewiesen werden muss, sondern – gerade weil es feststeht – auszulegen wäre. Mit Blick auf Kontext, Zeit und Adressaten spricht also einiges dafür, dass Thomas mit den ›fünf Wegen‹ keine beweisenden Beweise, sondern explikative Erweise vorgelegt hat.20 Dabei unterscheidet Thomas den Erweis Gottes aus der Bewegung (ex parte motus), aus der Wirkursache (ex ratione causae efficientis), aus dem Möglichen und Notwendigen (ex possibili et necessario), aus den Graden der Vollkommenheit (ex gradibus) und aus der zweckhaften Absicht (ex gubernatione rerum).21 Jeder dieser Wege geht von Erfahrungstatsachen aus, d. h. er enthält empirisch-aposte­ riorische Prämissen. Diese können gemäß der Argumentation des Thomas nicht zugleich wahr und ihre Konklusion, die Existenz Gottes, falsch sein. mologischen Arguments auf das ontologische; ferner Brian Leftow, Is God an Abstract Object?, in: Noûs 24:4 (1990), 581–598. 20 Vgl. George Hendry, Theology of Nature, Philadelphia 1980, 14 f.; Bruce Marshall, Faith and Reason Reconsidered: Aquinas and Luther on Deciding what is True, in: The Thomist 63:1 (1999), 1–22, bes. 18–20. 21 Dazu Thomas von Aquin, Summa Theologica, I, questio 2. 186  |  Hartmut von Sass 

Der erste Weg geht von der Bewegung in der Welt bzw. im Universum aus. Dabei interessiert sich Thomas weniger für die Bewegung im Sinne des Lokalen, sondern des Modalen; nicht die Ortsveränderung steht demnach im Mittelpunkt, sondern der Transfer der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Von der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergeführt werden kann etwas aber nur durch etwas, das selbst realiter ist. Alles, was in Bewegung ist, muss also durch etwas anderes, nämlich eine wirkende Ursache, bewegt worden sein. Dass sich etwas von selbst bewegt haben könnte, schließt Thomas durch den Satz vom Widerspruch aus, weil es unmöglich ist, dass etwas zugleich und in derselben Hinsicht in Möglichkeit und in Wirklichkeit existiert. Also muss ein »primum movens« vorausgesetzt werden, das die Kausalkette jenes Werdens in Gang gesetzt hat, und zwar ohne selbst Teil dieser Kausalkette zu sein. Und dieses »primum«, so schließlich Thomas, verstehen alle als Gott. – Da alles in Bewegung ist, nichts aber sich selbst bewegen kann und demnach stets von anderem bewegt wird, muss es einen externen Beweger geben, um einen Regress zu vermeiden. Es müssen folglich zwei Szenarien ausgeschlossen werden: die Selbst-Bewegung, was durch den modalen Bewegungsbegriff getan wird, wonach etwas nicht simultan realitas und possibilitas sein kann; und der Regress ins Unendliche, wobei Thomas in dieses Verbot nicht eigens investiert. Es ist also zu fragen, was sich für die scholastische Tradition mit dem Ausschluss des regressus ad infinitum konkret verbindet: Handelt es sich um ein Axiom, das sich argumentativ bewährt hat, ist es der Tribut, den die Nichterklärung einer Kette enthält im möglichen Bewusstsein, dass auch eine Erstursache das Problem nicht löst, sondern umschreibt, oder ist es schlicht eine lebensweltliche oder intellektuelle Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Erklärung bedarf? Zu ähnlichen Fragen gibt der zweite Weg Anlass, wobei hier das angesprochene Kausaldenken am sichtbarsten wird. Jene Version, die von wirkenden Ursachen ausgeht, lebt von der Behauptung, dass alles, was in dieser Welt existiert, auf eine causa zurückzuführen sei. Da man die Reihe der Ursachen nicht unendlich fortsetzen dürfe, müsse eine causa prima existieren, die selbst auf keine ihr zugrundeliegende Ursache zurückführbar sei. – Aus dem kausal-­ geschlossenen Zusammenhang von actio und reactio wird wiederum mit dem Verbot eines Regresses auf eine notwendige erste Gottesbeweise – und kein Ende  |  187

Ursache geschlossen, von der Thomas sagt, sie werde mit Gott gleichgesetzt. Auch hier fehlt die Behandlung des Problems, dass der Regress als argumentative Unmöglichkeit wirklich ausgeschlossen wird, bzw. der Nachweis, dass der Schluss auf eine prima causa sui jenem Regress explanatorisch über­legen wäre. Der vielleicht interessanteste Weg, den Thomas bietet, ist der dritte. Diese via lebt von der Unterscheidung des nur Möglichen und dem unbedingt Notwendigen, wobei von der Kontingenz aller Dinge auf die Nicht-Kontingenz ihrer Ur-Sache geschlossen wird.22 Demnach ist die Welt wesentlich kontingent, sodass alles nicht notwendig bleibt, aber dennoch existiert; ihre Existenz entstand und wird vergehen, ist also entbehrlich. Doch das Kontingente kann sich nicht selbst seine eigene Existenz gegeben haben; und da der regressus ad infinitum ausgeschlossen ist, setzt das Vorhandensein eines kontingenten Universums die Existenz eines notwendigen Wesens voraus. Von diesem notwendig existierenden Wesen empfängt jedes kontingente Wesen das Sein. – Doch auch dieser Weg hat offenbar zahlreiche Probleme. Abgesehen von der erklärungsbedürftigen Differenz zwischen kontingenten und absolut notwendigen Dingen ist nicht klar, aus welchem Grund es nichts gäbe, wenn nur Vergängliches existierte. Zudem wird auch hier nicht die Möglichkeit einer unendlichen Kausalkette ausgeschlossen bzw. überzeugend gezeigt, welche Erklärung noch vonnöten sei, wenn man die Einzelglieder kausal hinreichend erklären kann. Der vierte Weg arbeitet mit einem Muster von Graden der Verwirklichung. Demnach gibt es in der Welt mehr oder weniger gute, wahre und schöne Dinge, sodass die Werte abgestuft sind. Da auch hier eine Rückführung ins Unendliche nicht in Frage kommt, muss es ein Wesen geben, welches die höchste Vollkommenheit an Wahrheit, Güte und Schönheit besitzt und somit den absoluten Endpunkt in der Abstufung der Werte darstellt. – Doch dieser Variante liegen ontologische Prämissen der (neu-)platonischen Tradition zugrunde, die mit guten Gründen zurückgewiesen werden können. Denn aus den Graden der Verwirklichung von etwas folgt keineswegs die Existenz des Optimums einer bestimmten Qualität: 22 Vgl.

Anthony Kenny, The Five Ways. St. Thomas Aquinas’ proofs of God’s existence, London 1969, 46–69; Hermanni, Meta­phy­sik, 24 f. 188  |  Hartmut von Sass 

Dass es teilweise Gutes im Gegensatz zum weniger Guten gibt, berechtigt nicht zur Annahme, es müsse eine Entität geben, die jene Eigenschaft vollkommen instantiiert. Bei Thomas wird die Zurückweisung des Regresses dazu verwendet, jene problematischen Folgerungen zu etablieren; doch es ist aus der Argumentation nicht ersichtlich, wie durch die Abweisung des Regresses der Schluss vom partiell Guten zum unbedingt Guten zu rechtfertigen wäre.23 Die klassische Kritik an all diesen regressiven Szenarien liegt auf der Hand: Falls Gott das Universum ex nihilo erschaffen haben sollte, muss immer noch die Frage nach der Herkunft von Gott selbst geklärt werden. Sofern der Ursprung Gottes als unbeantwortbar behauptet wird, lässt sich gemäß dem Ockham’schen Rasiermesser zumindest ein Schritt in der Argumentationskette einsparen: Ein theologischer Umweg, der die Unlösbarkeit jener Ursprungsfrage lediglich auf Gott verlagert und nur etwas ›später‹ mit ähnlich leeren Händen dasteht, legt nahe, gleich mit dem Geständnis einzusetzen, jene Frage sei prinzipiell unlösbar. Anderenfalls würde der Regress nur zu einem von vornherein zum Scheitern verurteilten Ausweichmanöver gehören und aus der argumentativen Sackgasse nicht herausführen, sondern sie einfach nur verlängern. Aber man kann sich auch für einen anderen Zugang zu den Gotteserweisen entscheiden und versuchen, der Figur des Regresses etwas theologisch Konstruktives abzugewinnen. Dabei muss es sich keineswegs um ein nur erzwungenes Manöver handeln; es könnte dem, was Thomas beabsichtigt hat, weit näherliegen, über den Regress auf eine ganz andere Weise nachzudenken, als ihn nur zu einer argumentativen Verlegenheit zu erklären.24 Wie wir gesehen haben, 23 Auf den fünften Weg wird hier nicht eingegangen, da er in die Tradition

des teleologischen Gottesbeweises gehört und nicht den regressus, sondern den Progress ad infinitum als Schwierigkeit mit sich führt; zu den Untiefen, von der Ordnung des Universums auf einen Ordner (Designer) zu schließen, vgl. schon Philo in Hume, Dialoge, bes. 73 und 79; ferner Hartmut von Sass, Jenseits von Hume: Demea. Eine Rehabilitierung in systematischer Absicht, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 52:4 (2010), 413–439, bes. 417–420. 24 Dafür spricht u. a., dass Thomas die Beweisbarkeit Gottes durch die Institution der Gottesbeweise überaus kritisch beurteilt hat; vgl. Summa Theologica, I, questio 2, articulus 1, Satz 1. Gottesbeweise – und kein Ende  |  189

kann der verbotene Regress auf zweierlei Wegen eingeführt werden: Entweder wird davon ausgegangen, dass der Regress ein »Ding der Unmöglichkeit« ist oder aber er wird gesteigert, um dann im Versuch seiner Anwendung und deren letztendlichem Scheitern seine Verabschiedung zu legitimieren. Im einen Fall fungiert der Regress als ein Axiom, welches sich in seiner Applikation zumindest nicht delegitimiert, vielleicht gar bewährt; der Regress wird per se exkludiert, um den Gotteserweis unter dieser Vorgabe durchzuführen. Im anderen Fall bildet der Regress eine These, die sich durch die Annahme des Gegenteils bewahrheitet; er wird folglich probehalber zugelassen, um dann zu ungewünschten Ergebnissen zu führen und somit indirekt abgewiesen zu werden.25 Doch beide Versionen kommen an einem entscheidenden Punkt zusammen: Sie inszenieren einen ontologischen Sprung oder, mit Kierke­gaard gesprochen, einen »unendlichen wesentlichen qualitativen Unterschied«26. Als Axiom, von dem ausgegangen wird, bzw. als These, die sich einstellt, wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Regress eine Eigenschaft mit sich führt, die das Weltliche als Entität und als Begriff übersteigt: Es ist das Attribut des Unendlichen. Der Regress sieht kausal miteinander verknüpfte Glieder von Ketten vor, doch worauf der Regress hinausläuft, ist eine Unbedingtheit, die sich aus dem kontingenten Szenario von Ursache und Wirkung nicht ergibt bzw. ergeben darf. Während das axiomatische Verbot des Regresses eine grammatische Regieanweisung bildet, die ihr Gewicht aus der begrifflichen Beobachtung zieht, dass die Unendlichkeit kein Merkmal der Welt sein kann, ergibt sich diese Einsicht beim thetischen Verbot des Regresses durch eine Geste des Wohlwollens, die im Versuch jedoch scheitert. Aus der quantita­ tiven Versuchsanordnung von Kausalketten ergibt sich nun einmal keine qualitativ distinkte Ebene der Unendlichkeit. Das doppelt kodierte Verbot des regressus ad infinitum erinnert folglich daran, dass zwischen Gott und Welt eine wesentliche Diffe25 Man

könnte die vier ersten Wege des Thomas diesen beiden Versionen versuchsweise zuordnen; die ersten beiden gehören demnach tendenziell dem Regress als Axiom an, die anderen beiden dem Regress als These. 26 Sören Kierke­gaard, Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel, in: Gesammelte Werke. Kleine Schriften 1848/49, Düsseldorf/ Köln 1960, 115–134, 125 und 132. 190  |  Hartmut von Sass 

renz liegt, die von der Welt ausgehend nicht übersprungen werden kann. Als Axiom und als These ist es ein grammatisches Statement über die Beschaffenheit der Welt in ihrem strikten Gegenüber zu Gott, wonach die Welt der Raum der Verursachung und der Kontingenz ist, sodass ihr die Unendlichkeit und Unbedingtheit notwendig fremd bleiben müssen. Diese kommen als Attribute nicht der ›Welt‹ zu – sondern allein ›Gott‹. Eben dies hebt der Regress und seine Abweisung in den vier kosmologischen Wegen des Thomas auf eindrückliche Weise hervor. Sie sind demnach gerade keine proto-fundamentalistischen »conversation stopper«, sondern die terminologische Auslegung dessen, was ›Welt‹ und ›Gott‹ sowie ihre unendliche Differenz schon immer mit sich führen. Als erinnerndes Explikativ des Finiten der Welt und der Unendlichkeit Gottes kommt ihnen als (pro)grammatische Geste zugleich eine pädagogische Aufgabe zu.27 Der Regress und sein – theologisches – Verbot üben den kausal unaufhebbaren und dogmatisch unaufgebbaren Unterschied zwischen Welt und Gott immer wieder von Neuem ein. Dieser Unterschied jedoch soll in der Figur des Regresses per impossibile übersprungen werden. Jenes Scheitern aber ist eine theologische Notwendigkeit – und genau daran erinnert Thomas mit seinen vier (oder fünf) Wegen, Gott kosmologisch nicht zu be-, sondern zu erweisen.

2.2  Kleiner Umweg: Element der Menge – Menge der Elemente

Bislang haben wir lediglich den Regress einer kausal verknüpften Kette betrachtet bzw. das Verbot, dass diese Kette ins Unendliche reichen dürfe. Die Frage stellt sich jedoch, ob bereits alles hinreichend erklärt ist, wenn jedes einzelne Element der Kette durch die kausale Rückführung auf ein anderes Element erklärt werden kann. Das jedoch ist eine umstrittene Frage. Betrachten wir folgenden Fall28: Angenommen, wir sehen drei Eskimos an einer New Yorker 27 Vgl.

Lydia Schumacher, The Logic of Faith: Prolegomena to a Theolog­ ical Theory of Knowledge, in: New Blackfriars 92:1042 (2011), 664–677. 28 Das Beispiel stammt von Paul Edwards und wird hier etwas vereinfacht wiedergegeben; vgl. The Cosmological Argument, in: Brad A. Brody (ed.), ReaGottesbeweise – und kein Ende  |  191

Straßenecke und fragen uns, warum sie dort sind. Es stellt sich bei Nachforschungen heraus, dass Eskimo 1 unbedingt in Manhattan wohnen möchte, Eskimo 2 sein Freund ist und Nummer 1 begleitet, während Eskimo 3 eine Anzeige in der Zeitung gelesen hat und nun seine Jobsuche erfolgreich abschließen konnte. Nun wissen wir also, warum sich alle an jener Straßenecke stehenden Eskimos in New York aufhalten, und dennoch fragt jemand, warum sich die gesamte Gruppe der drei Eskimos in New York aufhalte. Darauf zu reagieren, indem diese zweite Frage als sinnlos abgewiesen wird, nimmt offenbar folgendes Prinzip in Anspruch: (P) Wenn die Existenz der einzelnen Elemente einer Reihe erklärt ist, ist zugleich die Reihe selbst hinreichend erklärt.

Was aber ist von diesem Prinzip zu halten? Gegen (P) ist eingewendet worden, dass es Fälle gebe, die die Frage nach der gesamten Reihe über die Frage nach ihren einzelnen Elementen hinaus sehr wohl als sinnvolles Problem zulassen. So meint Friedrich Hermanni, dass das Vorhandensein der Bücher in einer Bibliothek durch Erklärungen für das Dasein jedes einzelnen Buches beantwortet werden könne, aber sich weiterhin die Frage stelle, warum genau diese zehn Bücher zusammenstünden. Diese Bücher als separate Gruppe hätten dann einen Grund, der nicht in den Erklärungen für das Vorhandensein jedes dieser zehn Bücher aufgehen müsste, etwa dass sie als Semesterapparat in einer Universitätsbibliothek zusammengestellt worden sind.29 Demnach wäre (P) in dieser undifferenzierten und uneingeschränkten Form falsch. Das Kapital, das aus diesem hier nur knapp skizzierten Szenario geschlagen werden soll, mündet jedoch in eine gewisse Zweideutigkeit: Entweder geht es darum, (P) direkt abzuweisen, um über die einzelnen Kausalerklärungen für die Glieder innerhalb der Kette hin­aus eine intentionale Zusatzerklärung für bestimmte Ordnungen und Zusammenstellungen der Kettenglieder zu behaupten. Oder aber es geht um die ganz grundsätzliche Frage, warum es überhaupt Ketten mit Gliedern gibt und nicht vielmehr gar nichts. Dies aber hinterlässt eine recht seltsame Situation; denn einerseits mag dings in the Philosophy of Religion. An Analytic Approach, Englewood Cliffs NJ 1974, 71–83. 29 Vgl. Hermanni, Meta­phy­sik, 34. 192  |  Hartmut von Sass 

es zutreffen, dass (P) in der vorgetragenen Form unzutreffend ist, woraus sich jedoch nicht die Notwendigkeit einer personalen Erklärung ergibt;30 die geordnete Zusammenstellung kann sehr wohl aus kausalen Konfigurationen der Kettenglieder erklärt werden, sodass sich der Verweis auf eine Supra-Erklärung erübrigt.31 Und andererseits steht die meta­phy­sische Frage nach der Existenz von etwas im Gegensatz zum Nichts in einem Missverhältnis zum umrissenen Szenario, weil es Erwägungen zur erklärungsbedürftigen Ordnung von Gliedern über deren separate Erklärungen hinaus gar nicht erfordert; jene Frage lässt sich auch ganz ohne diesen Umweg stellen und wird im Verweis auf das Prinzip des zureichenden Grundes dadurch beantwortet, dass es eine causa sui gebe, die die Existenz der Ketten und Glieder zufriedenstellend erkläre. Also: Mit Blick auf unser Thema führen diese Über­legungen in eine Sackgasse; denn entweder zeigt man, dass sich das Prinzip (P) als falsch erweist, kann dies aber nicht zugunsten einer traditionellen Lesart des kosmologischen Arguments als Beweis nutzen; oder aber man erkennt hinter der Kritik an (P) die grundsätzliche Frage nach dem Dasein von ›allem‹, womit man jedoch die eigentliche Problematik des Regresses, aber auch des kosmologischen Arguments als eigenständigem Thema verlassen hat. – Schauen wir uns nun kurz eine familienähnliche, aber nur mittelbar theologische Version an, bei der dies etwas anders ist.

2.3  Die pragmatische Lösung des ›Neuen Realismus‹

Der ›Neue Realismus‹ (der so ›neu‹ gar nicht ist) behauptet, dass es alles gibt, bis auf eines: die Welt.32 Die grundliegende Über­legung besteht darin, dass alles existiert, wenn und insofern es einen Kon30 Hier

geht offenbar diese Version des kosmologischen Arguments in den Bereich des sog. (physiko-)teleologischen Beweises über. 31 Das aber hängt davon ab, von welcher Art von Menge (abstrakt-nomi­ nal oder real-konkret) man spricht; darauf hingewiesen hat etwa William L. Rowe, Zwei Kritiken am kosmologischen Argument, in: Christoph Jäger (Hrsg.), Analytische Religionsphilosophie, Paderborn 1998, 53–73, bes. 62 und 70. 32 Einer der engagiertesten Vertreter des ›Neuen Realismus‹ ist Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 82013 (Seitenzahlen in KlamGottesbeweise – und kein Ende  |  193

text besitzt bzw. in einem Gegenstandsbereich ist; bzw. umgekehrt: Wenn ein solcher Kontext und Bereich nicht vorhanden ist, kann auch nicht von der Existenz von etwas gesprochen werden. Das aber bedeutet, dass es diese Kontexte und Gegenstandsbereiche genau dann gibt, wenn auch sie in wiederum umfassenderen Kontexten und Gegenstandsbereichen existieren – usw. Auch hier also zeichnet sich ein infiniter Regress ab, nur nicht zwischen Gliedern kausal strukturierter Ketten, sondern zwischen Elementen hermeneutisch fassbarer Kontexte. Die These aber, nach der es die Welt nicht gibt, besagt dann soviel wie: ›Welt‹ bezeichnet keinen letzten Zusammenhang, der buchstäblich alles enthielte, sie ist demnach kein Superkontext, ultimativer Horizont oder ein Container, der alles umfasst. Der Grund: Gäbe es sie, verpflichtete dies zur Annahme eines noch grundlegenderen Kontextes, ohne den – gemäß der Ausgangsprämisse – die Welt nicht existierte. Diesen Kontext gibt es nun in der Tat nicht; und deshalb existiert die Welt nicht. Am Grunde dieses Szenarios liegt folglich ein einfaches Dilemma: Entweder ist die Welt tatsächlich der »Bereich aller Bereiche« (18), der existiert, weil es einen Kontext dieses Bereichs der Welt gibt; dann aber ist es eben nicht mehr der »Bereich aller Bereiche«, weil es ja einen Kontext gibt, der nicht zur Welt gehört, gerade damit sie existieren kann. Oder aber die Welt ist nicht diese Bereichstotalität; dann aber stellt sich das Problem des Regresses noch unmittelbarer, weil Kontexte nur existieren, wenn sie selbst in Kontexten verortet werden können – usw. Der Begriff der Welt wird hier in direkter Abgrenzung zu Wittgensteins berühmter Festlegung zum Auftakt des Tractatus etabliert, wonach gilt: Die Welt sei alles, was der Fall sei, mithin die Gesamtheit der Tatsachen, nicht aber der Dinge (48)33. Gemäß dem ›Neuen Realismus‹ hingegen gibt es etwas nur, wenn es in der Welt mern beziehen sich im Abschnitt 2.3 auf diesen Text); vgl. ferner ders., Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie, Berlin 2014; ders. (Hrsg.), Der Neue Realismus, Berlin 2014; Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Aus dem Amerikanischen von Jens Rometsch. Mit einem Nachwort von Markus Gabriel, Berlin 2013. 33 So Ludwig Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Band 1, Frankfurt a. M. 91993, 7–85, Satz 1.1. 194  |  Hartmut von Sass 

ist, wobei die Welt in der Welt nicht vorkommt (22; Mengen sind nicht Mengen ihrer selbst). Somit ist die Welt nicht mehr die Gesamtheit der Tatsachen, auch nicht der Dinge, sondern der Bereich, in dem alle Bereiche vorkommen (63, 67). Sie ist ein ultimativer Gegenstandsbereich, wobei für ›Gegenstandsbereiche‹ festgelegt ist, dass sie ontologische Grundeinheiten sind, in denen eine bestimmte Art von Gegenständen enthalten ist (35). Diese Bereiche nennt etwa Markus Gabriel »Sinnfelder« (68 u. ö.). Der Welt ist demnach ein umfassendes Sinnfeld, das es selbst nicht geben kann; denn anderenfalls müsste es ein Sinnfeld der Welt geben, für das wiederum gefragt werden könnte, ob es existiere, d. h. nun: ob es einen kontextualisierenden Zusammenhang mit sich führe – usw. Existieren bedeutet folglich, in einem Sinnfeld vorkommen (87). Hänsel und Gretel existieren, weil es sie im Feld der Märchen gibt; einen Mercedes 230 SEL gibt es ebenso, sofern er zum Bereich der Automobile gehört; sogar das Nichts gibt es, sofern es im Sinnfeld ontologischer Kategorien lokalisiert werden kann. Zu bestreiten, dass x existiere, heiße folglich, ein entsprechendes Sinnfeld von x zu negieren, genauer: dass x in einem Sinnfeld vorkomme (116). Existenz bezeichnet nun keine Eigenschaft der Gegenstände mehr, sondern eine Eigenschaft von Sinnfeldern, nämlich das Merkmal, dass in ihnen etwas ›erscheint‹ (94). Die Welt kann es demnach nicht geben, weil sie das Sinnfeld aller Sinnfelder ist (96). Gäbe es sie, gäbe es zugleich einen sinnvollen Kontext für sie, was sie zugleich ihrer Totalität berauben müsste. Wir können die Welt auch nicht begreifen, weil begreifbar zu sein, mit sich bringen würde, in einem Zusammenhang zu sein, also Sinn zu haben; doch dies ist für die Welt offenbar ausgeschlossen. Diese Versuchsanordnung aber bleibt ›realistisch neu‹ im Ambivalenten: Es kann gemeint sein, dass die Welt als »Bereich aller Bereiche« nicht existiert, weil sie selbst kein Sinnfeld haben kann; die NichtExistenz der Welt kann aber auch heißen, dass es einfach unüberschaubar viele verschiedene Sinnfelder gibt, die sich überlappen, ineinander übergehen und nur durch heuristische oder pragmatische Grenzziehungen voneinander abgehoben werden können. Welche Sinnfelder es gibt, ist dann nicht das Geschäft einer primären Wissenschaft, auch nicht der empirischen Naturwissenschaften oder irgendeiner anderen Institution, die einen »privilegierten Zugang« Gottesbeweise – und kein Ende  |  195

zur Wirklichkeit beanspruchte (114). Vielmehr ist die Abgrenzung von Kontexten und Sinnfeldern zweckrelativ und anwendungs­ orien­tiert (87, 107).34 Im einen Fall wird der Regress demnach durch das, was die Welt genannt wird, gestoppt – um den Preis der Nichtexistenz der Welt. Im anderen Fall wird von einer Pluralität von Sinnfeldern ausgegangen – um den Preis, den Regress zulassen zu müssen, zumal es kein letztes Sinnfeld geben kann (107). Das erste Szenario ähnelt folglich der klassischen Anordnung, wie wir sie auch bei Thomas haben (Abschnitt 2.1): Der Regress ist nicht erlaubt; also muss er gestoppt werden; während diese Aufgabe bei Thomas dem ens necessarium (das alle Gott nennen) zufällt, zieht der neue Realist die nicht-existente Welt heran, um den Regress zu vermeiden. Doch beides kommt offenbar einer Verlegenheit gleich, weil eine causa sui genauso enigmatisch bleiben muss, wie die Nichtexistenz der Welt als Ende des Regresses keinen explanatorischen Wert besitzt. Die zweite Variante hingegen ähnelt dem Szenario, dass über die Glieder der Kette hinaus auch die Ordnung der Kette selbst erklären will (Abschnitt 2.2): Es wird von einer Pluralität von Ketten ausgegangen, die durch eine letzte Instanz als geordnete Entitäten erklärt werden müssen; während diese Aufgabe innerhalb des kosmologischen Arguments dem ens perfectissimum zufällt, nimmt der neue Realist auf die Pragmatik sozialer Kontexte Bezug. Doch auch hier stellen sich familienähnliche Probleme ein, weil die Ordnung der Ketten aus den Ketten selbst erklärt werden kann bzw. Sinnfelder zum Fragen nach zugrundeliegenden Sinnfeldern einladen und die Existenz von Sinnfeldern das tatsächliche Zugrundeliegen weiterer Sinnfelder ja gerade voraussetzt. Deutlich ist, dass das, was hier ›Welt‹ genannt wird, im Kontext der Gottesbeweise mit ›Gott‹ bezeichnet wurde.35 Und doch ist 34 Es

ist interessant, jenen ›Neuen Realismus‹ mit der Hermeneutik JeanLuc Nancys zu vergleichen, was hier leider nicht geschehen kann; siehe jedoch Jean-Luc Nancy, Der Sinn der Welt, Zürich/Berlin 2014, bes. 11–17, 43–45, 111–115. 35 Das heißt dann auch, dass Gott sowenig wie die Welt existieren kann; denn für ihn müsste es qua definitionem einen Kontext seiner Existenz geben; wenn aber Gott umfassend-total gedacht wird, kann er diesen Kontext nicht besitzen; also existiert er nicht (vgl. bei Gabriel, Warum es die Welt nicht 196  |  Hartmut von Sass 

ebenso klar, dass sich die klassische Versuchungsanordnung trotz aller thematischen Kontinuitäten auf interessante Weise transformiert hat. Drei Aspekte seien hervorgehoben, auch deshalb, weil sie uns in der Neuverortung des Regresses helfen werden. Zum einen bietet auch das Szenario des Neuen Realismus keine Lösung der regressiven Problematik immer neuer Sinnfelder; auch hier kann folglich stets weiter gefragt werden nach zugrundeliegenden und gleichsam existenzstiftenden Sinnfeldern, die als Beantwortung der Ausgangsfrage nur zu weiteren Nachfragen Anlass geben. Obwohl aber das Problem nicht gelöst wird, so wird es doch in bestimmter Hinsicht aufgelöst: Bereits in der traditionellen Auskunft, nach der alles geklärt sei, wenn die Glieder der Kette erklärt seien (Prinzip P), steckt eine pragmatistische Haltung. Und dieser begegnen wir in leicht veränderter Form wieder, wenn die Erklärungen dort gesucht werden, wo sie sich stellen und tatsächlich gebraucht werden. Zwar ist richtig, dass immer weiter gefragt werden könnte, doch der lebensweltliche Sinn und konkret praktische Kontext jener Frage verflüchtigt sich zusehends – und wird letztlich obsolet. Nicht also, dass die Erklärungen irgendwann und -wo an ihr Ende kommen, ist der entscheidende Punkt.36 Weit eher geht es darum, dass weitere Erklärungen nicht mehr Verwendung finden könnten, sodass die Suche nach immer tieferliegenden »Sinnfeldern« verflacht. Zum anderen wird die Regressproblematik durch den Neuen Realismus dadurch transformiert, dass der philosophische Rahmen – gleichsam das intellektuelle »Sinnfeld« – verändert wird. Der Regress wird hier nicht mehr als Instanz der Erklärungen verstanden, sondern als Kontext der Sinnstiftung. Es handelt sich dann nicht mehr vornehmlich um ein epistemologisches Problem, sondern um eine hermeneutische Herausforderung. Nicht mehr Ketten von kausal verknüpften Gliedern stellen sich nun ein, sondern immer komgibt, 211); für eine andere (und theologische) Darlegung der Nicht-Existenz Gottes siehe Hartmut von Sass, Warum Gott nicht existiert. Eine theologische Besinnung, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 56:3 (2014), 348–367. 36 Dazu Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, in: Werkausgabe Band 8, Frankfurt a. M. 61994, 113–257, §§ 110 und 563; ferner John H. Whittaker, At the End of Reason Comes Persuasion, in: ders. (ed.), The Possibilities of Sense, Houndmills/Basingstoke/New York 2002, 133–153. Gottesbeweise – und kein Ende  |  197

plexere, sich überschneidende oder gar miteinander inkommensurable Gegenstandsbereiche zeichnen sich hier ab. Die verbindende Relation ist nicht mehr die der Erklärung und Fundierung (Ursache und Wirkung), sondern die des Verstehens und der Explikation (Tatsache und Kontext). Und schließlich bleibt für unsere Zwecke die neorealistische Verknüpfung von Regress und Existenz (bzw. der Arretierung des Regresses und der Nicht-Existenz) interessant. Nach Gabriel kann die Welt nicht existieren, weil sie der »Bereich aller Bereiche« ist, der kein noch einmal fundamentaleres Sinnfeld zulassen kann. Existieren heißt, in einem Sinnfeld vorkommen; die Welt hat dieses sinnvolle und sinnstiftende Feld jedoch nicht und kann es auch gar nicht besitzen; also existiert sie nicht. Oder anders formuliert: Sie kommt in der Reihe der Dinge, die in einem sinnvollen Zusammenhang miteinander stehen, selbst nicht vor. Ähnlich aber verhält sich die Lage, wenn man diese Über­legung in die Theologie zurücküberträgt: Gott gehört in die Reihen, die die Welt konstituieren, nicht hinein und kommt in ihnen auch nicht vor. Weder emergiert er aus ihnen (Panentheismus), noch ist er mit ihrer Totalität identisch (Pantheismus).37 In keinem Sinnfeld könnte Gott wirklich vorkommen; vielmehr könnte er die Bedingung der Möglichkeit bezeichnet, dass es Sinnfelder und nicht nur Felder ohne Sinn gibt. Genau an diese strikte Trennung von Gott und Welt hatte Thomas in den quinque viae erinnert.

3. Infiniter Regress und Hermeneutische Theologie Wir sollten uns folglich an Thomas’ Erinnerung halten, die immer wieder und innerhalb unterschiedlicher Konstellationen auftaucht, etwa dem Neuen Realismus, der nun seinerseits und ganz ungewollt drei für uns wichtige Aspekte hervorgehoben hat: das Auf­lösen (statt des Lösens) des Regresses, die hermeneutische Lesart des Regresses und die Verbindung von Regress und (Nicht)Existenz der Welt. 37 Vgl. die kritisch-ironische Note zum Pan(en)theismus bei Arthur Scho-

penhauer, Einige Worte über den Pantheismus, in: Parerga und Paralipomena II, Band V der Gesammelten Werke in fünf Bänden, hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1999, 95–97. 198  |  Hartmut von Sass 

3.1 Differenz!

Genau diese Trias ist nun unter etwas anderen als den neorealistischen Vorzeichen weiterzuführen. Zwar gehört der Topos des regressus ad infinitum zum Kontext der natürlichen Theologie und ihrem spezifischen Zugriff auf die Gottesbeweise. Und daher liegt auch die kritische Reserve gegenüber der regressiven Problematik nahe, nach der der Regress nicht nur ein natürlich-theologisches Modul sei, sondern als Lehrstück gänzlich verschwindet, sobald die theologia naturalis erst einmal verabschiedet ist. Demgegenüber möchte ich diese Reserve erst einmal suspendieren, um der Frage Raum zu geben, wie man mit dem Regress als theologischer Denkfigur umgehen könnte, wenn man die Prämissen der natür­lichen Theologie in der Tat verabschiedet und dennoch meint, damit müsste man sich nicht zugleich des Regresses entledigen. Oder in der Begrifflichkeit des Neuen Realismus: Dinge haben nur Sinn in einem sinnvollen Zusammenhang; ändert man jedoch das Sinnfeld, ändert sich auch das, was sich im Sinnfeld befindet. Ersetzt man also die natürliche Theologie als dogmatische Rahmenhandlung des Regresses durch ein anderes dogmatisches Setting, müsste sich auch der theologische Sinn des Regresses verschieben. Als diesen alternativen und darin zugleich transformierenden Rahmen möchte ich die Hermeneutische Theologie erproben. Das heißt, es wird der Versuch unternommen, am Regress als einem Thema der Theologie festzuhalten, ohne dessen ›natürliche‹ Herkunft gutzuheißen. Diese gänzlich unhermeneutische Geste der Abspaltung eines Themas von seinem Kontext ist nötig, da die natürliche Theologie eine Konfusion darstellt und die theologisch zentrale Differenz zwischen Gott und Welt/Natur/Kultur fahrlässig untergräbt.38 Nun könnte man die Theologie geradezu danach einteilen, ob sie den Glauben an Gott in Kontinuität mit der ›Kultur‹ oder ›Natur‹ versteht oder aber als deren unbedingten Kontrapunkt begreift, Religion also als Inbegriff kultureller Praxis bzw. natürlicher Anlagen oder aber die Wirklichkeit Gottes als kritische Unterbrechung al38 Dazu

näher Stanley Hauerwas, Church Matters: On Faith and Politics, in: ders., Approaching the End. Eschatological Reflections on Church, Politics, and Life, Grand Rapids MI/Cambridge 2013, 67–86, bes. 75. Gottesbeweise – und kein Ende  |  199

ler kulturell-natürlichen Lebensformen lehrt. Nicht der Gestus der Affirmation, Steigerung des im Kulturellen latent Angelegten bzw. dessen Vollendung im Religiösen regiert hier, sondern die Gegenbesetzung, Abgrenzung, mithin die Metaphoriken der Trennung. Die im doppelten Sinn spannende Kritik an der Welt/Natur/Kultur muss aber keineswegs gegen die wohlwollende Sorge um sie ausgespielt werden. Im programmatischen Gegensatz zur natürlichen Theologie ist die Hermeneutische Theologie eine Theologie der Differenz. Ein Teil der Probleme der theologia naturalis liegt genau darin, den »unendlichen wesentlichen qualitativen Unterschied« zwischen Gott und Welt nicht festzuhalten, sondern in Figuren der Implikation, Teilhabe oder Schlussfolgerung zu konterkarieren.39 Diese Differenz hingegen wiederzugewinnen und in genau dieser Rückgewinnung zu modellieren, ist eines der zentralen Anliegen der Hermeneutischen Theologie.

3.2  Skizze zur Hermeneutischen Theologie

Bevor wir zur Neuverortung des regressus ad infinitum kommen, ist ganz knapp darzulegen, worin diese Denkfigur ›probehalber‹ integriert werden soll. Die von Bultmann inspirierte Hermeneutische Theologie kann als ein Unternehmen gelesen werden, das die Kritik an der Vergegenständlichung Gottes konstruktiv zu verarbeiten versucht. Gott sei, so Bultmann, nicht jenseits unserer Wirklichkeit, sondern in ihr zu suchen,40 um daraus für den Glaubensbegriff zu folgern: 39 Auf

weitere klassische Probleme des natürlich-theologischen Programms (Problem des Bösen; Verhältnis von Beweis und Glauben; Verhältnis von Bewiesenem und dem lebendigen Gott; die Annahmen eines foundationalism) möchte ich hier nicht näher eingehen; vgl. u. a. Hartmut von Sass, Allerletzte Fragen. Zur Kritik meta­phy­sischer Theologie und ihrer gegenwärtigen Renaissance (zu Fr. Hermanni, Meta­phy­sik), in: Theologische Rundschau 78:1 (2013), 99–117. 40 So Rudolf Bultmann, Die protestantische Theologie und der Atheismus, in: Andreas Lindemann (Hrsg.), Neues Testament und christliche Existenz. Theologische Aufsätze, Tübingen 2002, 294–298, 297; im Orig. kursiv. 200  |  Hartmut von Sass 

»Der Glaube ist also nicht eine besondere Erkenntnisweise, ein Organ, vermöge dessen neue, sonst unsichtbare Gegenstände oder Sachverhalte wahrgenommen würden, sondern als zum eschatologischen Geschehen gehörig ist er eine Weise des Exis­ tierens, gläubiges Existieren in und aus der Heilsgeschichte.«41 Auch die Bultmann folgenden Hermeneutiker halten ein »supranaturales Gespenst«42, das erst noch zur Wirklichkeit hinzukommen müsste und diese dadurch gleichsam verdoppelte, für eine theologische Verwirrung. Dieses »extramundane ›Über uns‹«43 als eine weniger als notwendige »Zutat zur Welt«44 habe mit dem christ­lichen Gott nichts zu tun. Eben daher sei Gott in unserer Existenz zu finden, ohne dass Gott dadurch zum verfügbaren Gegenstand unserer lebensweltlichen Möglichkeiten werde. Gott ist folglich weder als ein von der Wirklichkeit verschiedenes Subjekt zu verstehen, noch fällt Gott mit der Wirklichkeit zusammen. Bultmann selbst deutet einen alternativen Weg an, der zwischen diesen beiden Polen des theologischen Spektrums verläuft, indem er Gott als das »Wie unserer Existenz« bezeichnet.45 Die hier von Bultmann zugespielte Denkform wird insbesondere von Gerhard Ebeling aufgenommen, wobei er sie kreativ fortführt: »Glauben ist ja nicht ein separater Akt, irgendein spekulativer Aufschwung ins Jenseits. Sondern Glauben ist das Bestimmtsein der Existenz als Existenz im Diesseits, und darum nicht etwas neben all dem, was ich tue und leide, hoffe und erfahre, sondern etwas, was konkret nur ist in all diesem, also die Bestimmtheit meines Tuns, Leidens, Hoffens und Erfahrens.«46 41 Rudolf

Bultmann, Theologie als Wissenschaft, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 81:4 (1984), 446–469, 456. 42 Gerhard Ebeling, Glaube und Unglaube im Streit um die Wirklichkeit, in: ders., Wort und Glaube, Tübingen 21962, 393–406, 397. 43 Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus [1977], Tübingen 31978, 82. 44 Gerhard Ebeling, Vom Gebet. Predigten über das Unser-Vater, Tübin­ gen 1963, 91. 45 So Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg. von Eberhard Jüngel und Klaus W. Müller, Tübingen 1984, 63. 46 Gerhard Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen 1969, 208. Gottesbeweise – und kein Ende  |  201

Diese folgenreiche Umstellung sei als die Modalisierung des Glaubens gekennzeichnet, deren Konturen sichtbarer werden, wenn wir Ebelings Votum auslegen. Zunächst handelt es sich um eine grammatische Arbeit am Begriff des Glaubens. Dabei wird ›glauben‹ von anderen Verbformen kategorial unterschieden, sofern es nicht länger eine additive Tätigkeit neben anderen Beschäftigungen meint, sondern auf einen Modus verweist, der all unser Tun in spezifischer Weise begleitet. Demnach tun wir nicht dieses und glauben (an) jenes, sondern glaubend bzw. im Glauben tun wir etwas dadurch Bestimmtes.47 Kritisch richtet sich diese Auskunft gegen die traditionelle Dislozierung des Glaubensbegriffs, der an die Stelle einer modal verstandenen fides als das »Bestimmtsein der Existenz als Existenz« den wesentlich auf spezifische Inhalte ausgerichteten Glauben setzt. Die doppelte Gefahr dieses Verständnisses liegt zum einen darin, dass der Glaube an … seine potenziellen Gehalte wieder zu einem Gegen-Stand werden lässt und dadurch eine fides historica der Heilstatsachen reaktiviert; zum anderen besteht die Gefahr darin, dass der Glaube selbst epistemisch missverstanden wird, indem er gemäß dem quasi platonischen Modells eine mindere Erkenntnisweise darstellt, deren Hoffnung sich nicht auf Gott richtet, sondern darauf, irgendwann einmal durch Meinen oder gar Wissen ersetzt werden zu können. Ein modal verstandener Glaube jedoch entzieht sich diesen Abstufungen und bestimmt sich nicht primär über abgrenzbare Inhalte, sondern als eine alles umfassende Qualifizierung. Nun ist der Glaube kein »separater Akt«, weil es ihn ja gar nicht ohne etwas anderes geben kann. Er bildet keine ontologisch autarke ›Seinsweise‹, sondern eine modal autonome Sehweise. Glaube ist damit nicht für sich, sondern nur an anderen Tätigkeiten sichtbar, um gerade so von ihnen als ihre »Bestimmtheit« kategorial unterschieden zu sein. Umgekehrt sind diese anderen Tätigkeiten – das »Tun, Leiden, Hoffen und Erfahren« – nur als schon immer bestimmte zugänglich. Es gibt sie nicht, ohne entweder im Glauben oder durch dessen facettenreiche Negationen bestimmt zu sein. »Tun, Leiden, Hoffen und Erfahren« werden demnach stets durch 47 Dazu

vor allem Ingolf U. Dalferth, Radikale Theologie, Leipzig 2010, u. a. 221 und 234. 202  |  Hartmut von Sass 

ein sie qualifizierendes Adverb begleitet, das den gesamten Rahmen ihrer jeweiligen Zuhandenheit terminiert. Darin ist bereits enthalten, dass der modal verstandene Glaube die »Weise des Existierens« allein dadurch bestimmt, dass er andere Tätigkeiten konkretisiert. Man tut, leidet, hofft und erfährt glaubend (bzw. im Glauben), hingegen wird das gegenständliche Inventar unserer Lebenswelt nur indirekt qualifiziert, indem unser praktischer, grammatisch in Verben explizierter Bezug zu dieser Lebenswelt schon immer ›adverbial‹ qualifiziert ist. Das »Bestimmtsein der Existenz« wird somit nicht unmittelbar durch einen perspektivischen Bezug auf unsere Um-Welt gewährleistet (X als Y sehen), sondern mittelbar über die Qualifizierung dieses Sehens selbst (X als Y glaubend sehen). Die modal verstandene fides ist somit eine adverbiale Bestimmung von Tätigkeitsvollzügen, nicht aber von GegenStänden oder Eigenschaften. Zusammenfassend gilt nun: Die Theologie hat es nicht mit einem zur Welt addierten Referenten zu tun, sondern sie denkt einer irreduziblen Referenz auf die uns umgebende Welt nach. Diese folgenreiche Umstellung vom verobjektivierenden Denken in Substanzen zum Verstehen ungegenständlicher Vollzüge als Resultat der Modalisierung des Glaubens ist der Kern der Hermeneutischen Theologie. Sie steht demnach für die theologische Einübung einer Transformation, die vom Glauben als der Referenz auf etwas programmatisch umstellt auf den Glauben als Vollzug durch etwas. Nicht die Bezugnahme ist das zentrale Element der fides, sondern der Umstand, dass der Glaube eine Weise bezeichnet, die gesamte Existenz zu vollziehen.48

3.3  Hermeneutische Relozierung des infiniten Regresses

Das hat Auswirkungen auf alle Lehrstücke der Dogmatik und somit auch auf die Integrierbarkeit des regressus ad infinitum. Diese Integration aber lebt nun ihrerseits von drei Voraussetzungen, die sich aus den vorangehenden Erwägungen ergeben: 48 Zu

einer ausführlichen Interpretation der Hermeneutischen Theologie siehe Hartmut von Sass, Gott als Ereignis des Seins. Versuch einer hermeneutischen Onto-Theologie (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 62), Tübingen 2013, bes. Kap. 2. Gottesbeweise – und kein Ende  |  203

(i)  Der Regress als Figur des Infiniten ist als Eigenschaft der Welt ein Exemplar dessen, was »schlechte Unendlichkeit« (Hegel) genannt werden kann. Unendlichkeit meint hier lediglich, dass es zu jedem (an-1) ein kausal bedingtes (an) gibt, sodass ein rein quanti­ tativer Begriff des Infiniten entsteht, gleichsam eine endliche Unendlichkeit (oder »unendliche Endlichkeit«49). Doch es war genau der Sinn der oben erwähnten Kalam-Version des kosmologischen Arguments (siehe Abschnitt 1.), das Prädikat des Unendlichen nicht auf das Universum anzuwenden, sodass die zeitliche Begrenztheit des Universums gelehrt wurde. (ii)  Daraus ergibt sich, dass das Attribut der Unendlichkeit (wie schon bei Thomas; vgl. Abschnitt 2.1) allein auf ›Gott‹ angewendet werden kann. Soll der Regress folglich der »schlechten Unendlichkeit« entnommen werden, ist er nicht als Prädikat der Welt/Natur/ Kultur zu verstehen, sondern einzig und allein als Eigenschaft G ­ ottes. (iii)  Gott aber ist nicht eine »Zutat zur Welt«, sondern, mit Bultmann, eine modale Bestimmung unserer gesamten Existenz. Genauer: Gott bezeichnet die Wirklichkeit des Glaubens, welcher alle unsere Tätigkeiten modal qualifiziert. Genau deshalb existiert Gott nicht, sondern ereignet sich als diese unverfügbare Qualifikation menschlicher Existenz. Nicht die Bezugnahme auf eine quasi-supra­ naturale Entität bildet dann den Kern des Glaubens, sondern der Vollzug der Existenz, die von Gott bestimmt ist. Damit aber sind nun alle Zutaten beisammen, um den Regress als Element eigentlicher Unendlichkeit neu zu verorten. Wenn Gott nicht der Referent des Glaubens im Sinne einer gegenständlichen Bezugnahme sein kann, sondern die Qualifizierung des Glaubensvollzugs, der alle Tätigkeiten bestimmt, werden auch alle Attribute Gottes der Logik der Referenz entnommen und der Dynamik des Vollzugs zugeordnet. Da gemäß der Annahme der Regress als Eigenschaft Gottes verstanden werden soll, ist daher auch dieses Prädikat eine Näherbestimmung des Glaubensvollzugs. Der Regress richtet sich nicht mehr auf die Wirklichkeit und ihre kausalen Verknüpfungen, sondern auf den glaubenden Bezug zu dieser kausal strukturierten Wirklichkeit. Nicht mehr dem objektiven Referen49 Nancy,

Der Sinn der Welt, 47.

204  |  Hartmut von Sass 

ten, sondern der modalen Referenz gehört der Regress als Bestimmung an. Innerhalb der skizzierten Modalisierung des Glaubens trifft diese Umstellung auf alle Eigenschaften der fides und Gottes als deren Wirklichkeit zu. Die traditionelle Eigenschaftslehre steht damit nicht mehr im Dienst der Klärung einer transmundanen Person, einer »Zutat« zur Welt, sondern dient der Entfaltung eines bestimmten Bezugs zur Welt. Diese Eigenschaften Gottes aber können unterschieden werden in inhaltlich gefüllte und formal bestimmte Attribute. Zu ersteren kann z.B. Gottes Liebe oder seine Vergebung gezählt werden; zu letzteren gehören z.B. Gottes Allmacht und der Regress als Figur göttlicher Unendlichkeit. Die formalen Attribute geben die Struktur der inhaltlichen Eigenschaften Gottes an, wobei im Formalen noch einmal zu differenzieren ist zwischen modalen und hierarchisierenden Bestimmungen. Zur modalen Version gehört z.B. die Allmacht, wobei sie auf alle inhaltlichen Eigenschaften angewendet werden kann: die Allmacht der Liebe, die Allmacht der göttlichen Vergebung – etc. Zur hierarchisierenden Version hingegen zählt z.B. der Regress, sofern er die inhaltlichen Eigenschaften begrifflich aufeinander bezieht und ordnet. Der regressus ad infinitum müsste demnach die wesentliche Verborgenheit der göttlichen Eigenschaften bezeichnen (deus absconditus), sodass das klassische Verbot jenes unendlichen Regresses für den theologischen Versuch stünde, eine Eigenschaft Gottes als die grundlegende und als solche offenbare zu bestimmen, eine Eigenschaft also, derer sich alle weiteren verdanken (deus revelatus). Traditionellerweise wird als diese Eigenschaft die Liebe angesehen, die Gott nicht besitzt, sondern in strikter Identifikation ist.50 In summa: Der Regress ist Element einer endlichen Unendlichkeit, solange er im Rahmen der natürlichen Theologie abgehandelt wird. Diese lebt von der konfusen Vermischung von Gott und Welt/ Natur/Kultur, sodass göttliche Prädikate unberechtigter Weise auf Endliches übertragen werden. Demgegenüber muss der Regress theologisch als Figur eigentlicher Unabschließbarkeit und als Attri­ 50 Dazu

Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 201, 431 f., 459; ferner Dewi Z. Phillips, Wittgensteinianism. Logic, Reality, and God, in: William J. Wainwright (ed.), The Oxford Handbook of Philosophy of Religion, Oxford 2005, 447–471, bes. 471. Gottesbeweise – und kein Ende  |  205

but Gottes verstanden werden, weil ›Gott‹ der einzige Kandidat ist, auf den die Eigenschaft des Unendlichen zutreffen kann. Mit der Hermeneutischen Theologie aber ist Gott nicht als vergegenständlichte Zutat zur Welt zu verstehen, sondern als Bestimmung der gesamten Existenz im Glauben. Alle Gottesprädikate sind folglich Charakterisierungen dieser Existenz. Der Regress gehört als formal-hierarchisierende Eigenschaft zu diesen Bestimmungen des glaubenden Vollzugs. Dies tut er, indem er die inhaltlichen Eigenschaften Gottes ordnet – in der notwendigen Ambivalenz zwischen der Unabsehbarkeit von Gottes Wirken einerseits, das im Regress terminologisch geordnet wird (Regress der Eigenschaften als ihre begriffliche Rückführung aufeinander, die nicht endet), und andererseits der Begrenzung dieser Unabsehbarkeit, die sich im Verbot des Regresses ausdrückt (der arretierte Regress als Ausdruck einer basalen Eigenschaft Gottes: Gott als Liebe). So verstanden gehört der Regress nicht länger in das Programm der Gottesbeweise, das an kausalen Erklärungen des Universums interessiert ist, sondern in die Tradition der Gotteserweise, die sich an der begrifflichen Klärung von ›Gott‹ und ›Glaube‹ abarbeiten. Nicht die induktive oder gar deduktive Reduktion steht dann im Mittelpunkt der Theologie, sondern eine Hermeneutik regressiver Explikation der durch Gott bestimmten Existenz.

206  |  Hartmut von Sass 

Coda: Regress / Progress »Das Ausbleiben der Bedrängnis ist das im Grunde Bedrängende und zutiefst Leerlassende, d. h. die im Grunde langweilende Leere. (…) Denn letztlich ist in all dem Organisieren und Programmbilden und Probieren ein allgemeines sattes Behagen in einer Gefahrlosigkeit.«51

Gegen die Langeweile, so legt Heidegger nahe, hilft nur die Bedrängnis. Wo sich nichts mehr aufdrängt und kaum mehr etwas bedrängt, wird eine Gefahrlosigkeit initiiert, die im endlosen Leerlauf begründet zu sein scheint. Man bräuchte ein Ende, um jener Leere zu entgehen. Nur ein telos in der Spannung zwischen Ende, Ziel und Zweck könnte die ersehnte Kurzweil stiften. Einer Apokalypse bedarf es, um die Bedrängnis wieder erfahrbar zu machen und die Existenz – endlich – zu intensivieren. Diese Absage an den progressus ad infinitum könnte anachronistisch auf den Regress übertragen werden. Eine inverse Eschatologie zeichnet sich dann ab, die die Möglichkeit, das Ende des Spiels zu verkünden, an den Anfang setzt. Die Lehre von den letzten Dingen korrespondiert nun mit dem Artikel über die Schöpfung, weil beide Module der Intensivierung bilden. Endlose Enden am Anfang und am Schluss wären Ausweis einer Gefahrlosigkeit, die keine Bedrängnis mehr kennt. Ein Verbot gegen Vor- und Rückläufe ins nur noch vermeintlich Unendliche auszusprechen, gliche dann dem Versuch, die Existenz wieder gefährlich aussehen zu lassen oder sie tatsächlich auf produktive Weise zu gefährden. Noch der hermeneutisch gelesene Regress als Attribut Gottes nimmt Anteil an jener Gefahrenstiftung, weil der Regress zugleich ein Tabu präsentiert und unter Verbot, mithin unter intellektuelle Quarantäne gestellt wird. Nur wer jenes Verbot als Stiftung eines prekären Endes kennt, lebt im Sinn der Bedrängnis und nicht im Leeren – game over.

51 Martin

Heidegger, Die Grundbegriffe der Meta­phy­sik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [1929/30]. GA 29/30, Frankfurt a. M. 2010, 244 f. Gottesbeweise – und kein Ende  |  207

III. Regress und Zirkel in (idealen) Systemen

Stefan Berg

Regress und Reentry Basalität bei Hans Albert und George Spencer Brown

Zirkel und Regresse tauchen in der Philosophie insbesondere dort auf, wo nach letzten Gründen und ultimativ stabilen Fundamenten, wo also in irgendeiner Weise nach Basalität gefragt wird. Der folgende Text befasst sich mit zwei philosophischen Äußerungen aus dem 20. Jahrhundert, in denen sowohl zirkuläre bzw. regressive als auch basale Strukturen behandelt werden. Sie sind darin so unterschiedlich, dass ein vergleichender Blick dienlich ist, um ein vielschichtiges Bild der Verwobenheit dieses Komplexes zu erhalten. Den Auftakt liefern Hans Albert und das von ihm formulierte Münchhausen-Trilemma, in dessen Kontext eine sehr kritische Auseinandersetzung mit Basalität und Zirkularität bzw. Regressivi­ tät erfolgt. Albert ist dabei konzeptionell im Gravitationsfeld des erkenntnistheo­re­tischen Fundamentalismus (foundamentalism) bzw. Evidentialismus zu verorten – allerdings in der Weise, dass er die genannten Positionen mit seinem kritischen Rationalismus zu vermeiden sucht, ohne eine konstruktive Alternative jenseits des Vermeidens aufzubauen. Sein Ansatz bildet in meinen Augen daher eine Art Negativ-Abklatsch von Fundamentalismus und Evidentialismus, ein Hohlraum, dem das Volumen, das ihn formte, abhanden gekommen ist, eine bloße Hülle, die als solche nur bedingt interessant ist. Ich greife seine Gedanken hier aber dennoch auf, um den Zugang zum Thema Basalität und Zirkularität bzw. Regressivität zu erleichtern. Wer dessen nicht bedarf, kann zum fünften Kapitel dieses Aufsatzes springen. Dort wende ich mich derjenigen Position zu, um die es mir vor­ rangig geht: dem hierzulande noch immer vor allem über LuhmannFußnoten bekannten englischen Logiker George Spencer Brown. Er entwirft in seinen Laws of Form ein ganz erheblich anderes Bild, in dem Zirkel und Regresse nicht ganz so bedrohlich erscheinen   |  211

und Basalität auf eine neue, nichtmeta­phy­sische Weise gedacht ­werden kann.

1. Ich beginne meine Über­legungen also mit einem Blick in den Traktat über kritische Vernunft aus der Feder des Philosophen Hans Albert,1 eines Hauptvertreters des so genannten kritischen Rationalismus. Im ersten Kapitel (zum Problem der Begründung) wird unter der Abschnittsüberschrift Die Suche nach sicheren Grundlagen die Frage nach einem festen Grund unter unseren philosophischen Füssen gestellt. Dabei fällt der inflationäre Gebrauch von Formulierungen ins Auge, die um die Metapher des Grunds bzw. Fundaments (›Begründung‹, ›Grundlage‹, ›Fundierung‹, ›Fundament‹) sowie der Rede von Sicherung (›Sicherheit‹, ›Absicherung‹) kreisen.2 Ein Baumeister muss einen tragfähigen Grund finden, um darauf ein stabiles Gebäude errichten zu können. Gelingt diese Gründung nicht, so kann entweder nicht gebaut oder es muss mit einem späteren Einsturz des Gebäudes gerechnet werden. Oder anders gesagt: Es geht um Absicherung auf einer tiefen, also nicht oberflächlichen Ebene, also einer solchen, zu der man erst einmal mit gewissem Aufwand vordringen muss. Dies wird erreicht, indem instabile Schichten als solche identifiziert und beiseite geräumt werden. Nach solcher vorgängigen Freilegungsarbeit kann auf fester Grundlage in die Höhe gebaut werden. Der Leitgedanke, welcher das Szenario prägt, ist demnach prekäre Stabilität, und zwar insofern, als die Stabilität des Grundes für die Stabilität des darauf errichteten Gebäudes bürgt. Im Kontext geht es freilich nicht um Baukunst, sondern um Erkenntnistheorie. Albert fragt »nach einem archimedischen Punkt für den Bereich der Erkenntnis«3, rückt die Frage nach »Erreichbarkeit und Entscheidbarkeit der Wahrheit«4 ins Zentrum und formuliert von hier aus das »allgemeine Postulat der klassischen Methodologie 1 Hans

Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 51991. 2 Vgl. Albert, Traktat, 9–12. 3 Ebd., 10 (kursiv i. O.). 4 Ebd., (kursiv i. O.). 212  |  Stefan Berg 

des rationalen Denkens […]: Suche stets nach einer zureichenden Begründung aller deiner Überzeugungen«5. Es bringt eine gewisse Dynamik mit sich, wenn man Probleme und mögliche Lösungen auf dem Feld der Erkenntnistheorie in einer baukünstlerischen Metaphorik formuliert. Es wird darin eine in höchstem Maße gewertete binäre Alternative eröffnet: auf der einen Seite die instabilen, oberflächlichen, wertlosen, weil statisch defizienten Schichten unzureichender und daher von ihrer Bezweifelbarkeit her poröser Überzeugungen mit allen in ihnen schlummernden Gefahren, auf der anderen der stabile, in der Tiefe gelegene, wertvolle, weil statisch verlässliche und absichernde Grund zureichend begründeter Überzeugungen. Das so entfaltete Szenario dient Albert als Kontrastfolie, auf der er ein philosophisches Problem identifizieren und seine eigene Lösung präsentieren kann. Die Suche, die Albert hier mit baukünstlerischen Metaphern beschreibt, will er also selbst nicht betreiben, sondern sich gerade von ihr absetzen, sie also nicht betreiben müssen. In den drei folgenden Abschnitten werde ich referieren und kritisch betrachten, welche Position Albert gegenüber der beschriebenen Suche bezieht.

2.

Albert kommt im Abschnitt zum Prinzip der zureichenden Begründung auf den Versuch zu sprechen, »die Begründung einer Überzeugung […] durch Rückführung auf sichere […] Gründe mit logischen Mitteln, das heißt: mit Hilfe logischer Folgerungen, zu erreichen, und zwar so, daß sich alle Komponenten der betreffenden Aussagen-Menge aus dieser Grundlage durch logische Folgerungen ergeben«6. Dieser Versuch aber führe, so Albert, in eine äußerst unkomfortable Situation, die er als ›Münchhausen-Trilemma‹ bezeichnet. Die entsprechende Passage möchte ich ausführlich zitie­ ren, um später damit weiterarbeiten zu können:

5 Ebd., 6

11 (kursiv i. O.). Ebd., 14 f. Regress und Reentry  |  213

»Nun entsteht aber, wenn unser Prinzip ernst genommen wird, sogleich folgendes Problem: Wenn man für alles eine Begründung verlangt, muß man auch für die Erkenntnisse, auf die man jeweils die zu begründende Auffassung […] zurückgeführt hat, wieder eine Begründung verlangen. Das führt zu einer Situation mit drei Alternativen, die alle drei unakzeptabel erscheinen, also: zu einem Trilemma, das ich […] das Münchhausen-Trilemma nennen möchte. Man hat hier offenbar nämlich nur die Wahl zwischen: 1. einem infiniten Regress, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert; 2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, daß man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich: 3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde.   Da sowohl ein infiniter Regress als auch ein logischer Zirkel offensichtlich unakzeptabel zu sein scheint, besteht die Neigung, die dritte Möglichkeit, den Abbruch des Verfahrens, schon deshalb zu akzeptieren, weil ein anderer Ausweg aus dieser Situation für unmöglich gehalten wird. Man pflegt in Bezug auf Aussagen, bei denen man bereit ist, das Begründungsverfahren abzubrechen, von Selbstevidenz, Selbstbegründung, Fundierung in unmittelbarer Erkenntnis – in Intuition, Erlebnis oder Erfahrung – zu sprechen oder in anderer Weise zu umschreiben, daß man bereit ist, den Begründungsregreß an einem bestimmten Punkt abzubrechen und das Begründungspostulat für diesen Punkt zu suspendieren, indem man ihn als archimedischen Punkt der Erkenntnis deklariert. […] Nennt man aber eine Überzeugung oder Aussage, die nicht selbst zu begründen ist […], eine Behauptung, deren Wahrheit gewiß und die daher nicht der Begründung bedürftig ist: ein Dogma, dann zeigt sich die dritte Möglichkeit als das, was man bei einer Lösung des Begründungsproblems am wenigsten erwarten sollte: als Begründung durch Rekurs auf ein Dogma. Die Suche nach dem archimedischen Punkt der Erkenntnis scheint im Dogmatismus enden zu müssen.«7 7

Ebd., 15 f.

214  |  Stefan Berg 

Die Über­legung, die Albert aus dieser Sachlage ableitet, lautet: »Wer sich nun mit der Dogmatisierung irgendwelcher Aussagen, Kriterien oder anderer Instanzen nicht zufriedengeben will, wird sich fragen müssen, ob sich nicht die ganze Situation vermeiden läßt, die zur Entstehung des Münchhausen-Trilemmas führen muß. […] Das Problem des archimedischen Punktes der Erkenntnis mag zu den falsch gestellten Problemen gehören.«8 Von hier aus entwickelt Albert seinen eigenen Ansatz eines kritischen Rationalismus, der das seiner Ansicht nach falsch gestellte Problem weiträumig umgehen will und konsequent unter der Voraussetzung formuliert wird, daß »[a]lle Sicherheiten in der Erkenntnis […] selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos«9 seien. Man müsse sich also »damit abfinde[n], daß es keinen archimedischen Punkt gibt, es sei denn man habe ihn selbst produziert«.10 Daraus folgt, dass auf Strategien der Immunisierung gegen mögliche Kritik und Absicherung gegen das Risiko des Scheiterns grundsätzlich verzichtet werden solle, weil sie ohnehin bloß in dogmatistische Gefilde führten. Albert schlägt vor, die »Methodo­logie der zureichenden Begründung« durch diejenige »der kritischen Prüfung« zu ersetzen, die sich mit der Formulierung prinzipiell kritisierbarer Hypothesen bescheidet.11 Dabei gilt: »Jeder Infallibilismus ist […] ein potenzierter Dogmatismus. Ein konsequenter Kritizismus, der keinerlei Dogmen zuläßt, involviert dagegen notwendigerweise einen Fallibilismus in Bezug auf jedwede mögliche Instanz.«12 Im kritischen Rationalismus gibt es daher grundsätzlich »weder eine Problemlösung, noch eine für die Lösung bestimmter Probleme zuständige Instanz, die notwendigerweise von vornherein der Kritik entzogen sein müßte.«13 Im Ergebnis führt das nicht nur zu einem »theo­re­tischen Pluralismus«, in dem bei jeder Theo­rie »nach Alternativen« gesucht werden kann,14 sondern auch zu einer veränderten Grundhaltung: »An die   8

Ebd., 17 f. 36 (kursiv i. O.). 10 Ebd., 43. 11 Ebd., 43. 12 Ebd., 44. 13 Ebd. 14 Ebd., 59 (kursiv i. O.).   9 Ebd.,

Regress und Reentry  |  215

Stelle der – sinnlichen oder geistigen – Schau tritt die Konstruktion und das Experiment, also: die menschliche Aktivität […]. Die Erkenntnis bewegt sich also zwischen Konstruktion und Kritik; sie ist ein Teil der menschlichen Praxis, in der laufend Entscheidungen getroffen werden müssen.«15

3. Worauf ich nun den Fokus meiner kritischen Betrachtung legen will, ist die Frage, ob und inwiefern es Albert gelingt, »von einer anderen Auffassung der ganzen Problemsituation aus[zugehen]«16. Dies müsste sich insbesondere anhand des argumentativ ja recht gewichtig eingesetzten Münchhausen-Trilemmas zeigen lassen, weshalb ich auch an diesem Punkt mit meinen Über­legungen ansetze. Es mag helfen, sich zunächst eine einfache Tatsache zu vergegenwärtigen: Man wird nicht behaupten dürfen, dass der kritische Rationalismus grundsätzlich vor der ersten Option des Trilemmas, also dem Auftreten infiniter Regresse, schütze oder deren Dynamik hemme. Der Ansatz mag das Prinzip negieren, dass allein zureichende Begründungen akzeptiert werden, aber die Alternative kann ja nicht sein, dass gar nicht mehr nach Begründungen gefragt wird. Auch Hypothesen bedürfen einer Begründung. Wie sonst als im Streit um überzeugende und nicht überzeugende Begründungen sollte das kritische Geschäft ausgetragen werden, das Albert vorschwebt? Auch wenn man sich mit dem Aufstellen von Hypothesen bescheidet und im Modus der experimentellen Konstruktion und kritischen Prüfung operiert, ist man demnach die Frage nach Begründung nicht los und nicht vor regressiven Strukturen gefeit. Denn warum sollte man bei der erstbesten Begründung einer Hypothese stehen bleiben? Wäre es nicht gerade ein Kennzeichen einer kritischen Grundhaltung, wie sie Albert fordert, dass nicht schon eine oberflächliche Begründung akzeptiert, sondern eine vertiefende Reflexion gesucht wird? Und wo sollte man damit aufhören? 15 Ebd.,

16 Ebd.,

65 (kursiv i. O.). 43.

216  |  Stefan Berg 

Man kann also in einen infiniten Regress nicht nur dann hineingeraten, wenn man nach einer Letztbegründung sucht, sondern auch, wenn man kritisch nach Gründen fragt. Genauer gesagt: Infinit wird der Regress ja nicht, weil man wissenschafts- oder erkennt­ nistheo­re­tisch nur zureichende Gründe akzeptiert und damit in der Konsequenz die Möglichkeit einer Letztbegründung unterstellt, sondern weil man stets hinter jeden Grund nach dem Grund des Grundes zurückfragen kann. An diesem Zusammenhang ändert der kritische Rationalismus nicht das Geringste, und auch Albert verteidigt seine Position ja im Anhang seines Traktats durch den Versuch, Begründungen für seine Hypothesen zu liefern. Analog verhält es sich mit der zweiten Option des Trilemmas, also dem logischen Zirkel. Die Prämissen eines kritischen Rationalismus bieten auch vor ihm keinen Schutz. Logische Zirkel werden nicht von der Annahme einer möglichen Letztbegründung erzeugt, sondern bilden sich etwa dort, wo eine Hypothese in einem zirkulären Begründungsverhältnis zu einer anderen steht und man nicht aus dieser Spannung herauskommt, weil man die je andere Hypothese niemals loswird. Mit dem Auftreten solcher Phänomene muss auch ein kritischer Rationalist rechnen. Bei dieser Gelegenheit kann man sich klar machen, dass die erste und zweite Option ohnehin zwei Varianten einer Regressivität bilden, wobei die eine eben zirkulär und die andere linear organisiert ist. Mir scheint es nicht plausibel, dass im skizzierten Kontext prinzipielle Wahlmöglichkeit zwischen linearem und zirku­ lärem Regress bestehe. Vielmehr ist es doch eher so, dass manche Begründungsreflexionen in lineare, andere in zirkuläre Regresse, dritte in spiralförmige Strukturen münden. So gesehen ließe sich das Trilemma auf ein Dilemma verkürzen: verbotener Regress oder problematischer Abbruch. Wenn der kritische Rationalismus nicht vor den beiden Regressen schützt, so muss seine Leistung im Wesentlichen mit der dritten Option zusammenhängen. Diese problematisiert den Abbruch eines Begründungsverfahrens, wobei das Problem nicht im Abbrechen als solchem liegt, sondern in der Kontingenz des Abbruchs an einer bestimmten Stelle. Warum nicht noch einen Grund weiter fortschreiten? Eine Antwort auf diese Frage kann in der Tat nur von außen gegeben werden, das heißt, sie lässt sich nie aus einem Glied Regress und Reentry  |  217

der infiniten Kette der Gründe ableiten und muss daher – wie Albert sagen würde – eine externe Stabilität, ein Dogma, in Anspruch nehmen. Inwiefern ändert nun der kritische Rationalismus etwas an diesem Zusammenhang? Indem dieser Ansatz weder das Entstehen von Regressen noch das von Zirkeln verhindert, bleibt das skizzierte Problem bestehen: Wo soll man die Suche nach Gründen abbrechen? Auch wenn ein kritischer Rationalist nicht mit einer Letztbegründung rechnet, hätte er – angestachelt von erfolgter oder antizipierter Kritik – im Prinzip die Möglichkeit, sich infinit auf regressiver oder zirkulärer Bahn in der Begründung seiner Hypothesen fortzubewegen. Wenn er das nicht will oder kann, muss er ein Element seiner Begründung unbegründet lassen, und im Grunde sollte auch er sich dafür rechtfertigen können, weil dies ja kritische Rückfragen provozieren könnte und dürfte. Auch der kritische Rationalist muss sich also fragen: Gibt es bessere oder schlechtere Punkte zum Ausstieg aus einer begründenden Argumentation? Und kommt dabei nicht auch bei ihm ein externer Grund ins Spiel – und sei es Erschöpfung des Forschers oder seines Forschungsbudgets? So gesehen hat sich die trilemmatische Situation unter kritischrationalistischen Bedingungen nicht in dem Maße verändert, wie man es sich erhofft hätte. Immerhin: Sucht man als (wenn man so will) unkritischer Rationalist nach einer ultimativen Begründung, so ist es notwendig, auf ewig nach weiteren Gründen weiter zu fragen, so dass der Abbruch gewissermaßen als fatales Sich-Auflehnen gegen eine Notwendigkeit erscheint. Das bleibt dem kritischen Rationalisten erspart. Aber: Sucht man als ein solcher nicht mehr nach einer ultimativen Begründung, so ist es eben gleichwohl möglich, auf ewig nach weiteren Gründen zu fragen, so dass der Abbruch zunächst bloß als die Nichtverwirklichung weiterer Möglichkeit, also gewissermaßen als bloße Unterbrechung erscheint. Allerdings besteht ja eben auch für den kritischen Rationalisten ein gewisser Rechtfertigungsdruck, also ein nicht zu übersehender Anlass, Gründe zu nennen. Entsprechend treibt ihn zwar keine logische Notwendigkeit, aber doch eine diskursive Nötigung durch bestehende Möglichkeit immer weiter in den Regress hinein. Und die Instanz solcher Nötigung ist ausgerechnet der Kritizismus, von dem Albert sich so viel erhofft. Was die Unterstellung einer möglichen 218  |  Stefan Berg 

Letztbegründung leistet, erledigt die Erwartung möglicher Kritik vielleicht nicht schlechter. Der Regress – und mit ihm der so unausweichliche wie proble­ matische Abbruch – entsteht demnach hier wie dort, aber eben auf verschiedene Weisen: im Fall des unkritischen Rationalismus als ein der Kette der Gründe folgendes Hinabstürzen in eine grundlose Tiefe, im Fall des kritischen Rationalismus als ein Hineingetriebenwerden in eine Wüste ohne einen der Kritik enthobenen Haltepunkt. Entsprechend erscheint der Abbruch des Regresses im Fall des unkritischen Rationalismus als Ausdruck der Not eines Stürzenden, während er im Fall des kritischen Rationalismus eher wie die Verschnaufpause eines Getriebenen wirkt. Das entdramatisierende Moment des kritischen Rationalismus besteht also bloß darin, einen Halt nicht als Abbruch, sondern eben nur als Unterbruch zu bezeichnen und sich mit der Möglichkeit zu versöhnen, dass des philosophischen Sisyphosdaseins kein Ende ist.

4. Albert baut mit dem Münchhausen-Trilemma demnach eine Drohkulisse auf, der sein eigener kritisch-rationaler Ansatz weit weniger entgeht, als die argumentative Dramaturgie suggeriert. Dass es ihm in hohem Maße gelingt, »von einer anderen Auffassung der ganzen Problemsituation aus[zugehen]«17, darf daher bezweifelt werden. Zumindest was das Münchhausen-Trilemma angeht, halten sich die Effekte meines Erachtens in Grenzen. Dies könnte ein Anlass sein, mit einer umfassenden und detaillierten Kritik am kritischen Rationalismus zu beginnen, doch ich habe anderes im Sinn und möchte noch etwas beim Thema des Münchhausen-Trilemmas verbleiben. Was mich dabei im nächsten Schritt interessiert, ist die Frage, ob es nicht einen weiteren Weg geben könnte, die von Albert benannte Problemsituation anders aufzufassen – und zwar einen, welcher auf einer tieferen Ebene ansetzt. Um diesen Weg zu finden, ist die Über­legung hilfreich, dass man die Gemengelage vielleicht auch etwas weniger dramatisch und 17 Ebd.,

43. Regress und Reentry  |  219

nicht ganz so zugespitzt betrachten könnte. Dazu finden sich bei Albert gleich mehrere Anhaltspunkte: (a) Da ist zunächst die von mir im ersten Abschnitt skizzierte Metaphorik, derer sich Albert zur Charakterisierung der von ihm letztlich abgelehnten Position bedient. Wie bereits oben angedeutet, bringt die Entlehnung der Sprache aus dem Bereich der Baukunst eine bestimmte Dynamik mit sich. Diese zeichnet sich durch eine gewisse Dichotomisierung aus: das gut Gegründete gegenüber dem lax Hochgezogenen, die gewissenhafte Tiefgründigkeit gegenüber der unverantwortlichen Oberflächlichkeit, das dauerhaft Stabile gegenüber dem vergänglich Instabilen. Kurz: Hier wird ein SchwarzWeiß-Bild gemalt, in dem es nur zwei Alternativen gibt: Entweder man sucht nach einem ultimativ stabilen Grund oder man tut es nicht und riskiert den Einsturz des auf instabilem Grund errichteten Gedankengebäudes. Auf diese Weise kommt ein Suchen nach Gründen nur als Suche nach einem ultimativen Grund in den Blick, womit erhebliche Differenzierungsmöglichkeiten übergangen werden. Um im Bild zu bleiben: In der Baukunst gibt es ja durchaus differenzierte Kriterien, wie gut etwas gegründet sein muss, und so ist es ja ein ganz erheblicher Unterschied, ob ich ein Zelt, ein Gartenhaus, eine Scheune, ein Einfamilienhaus, einen Wohnblock oder einen Wolkenkratzer errichten möchte. Was als ein akzeptables Fundament gelten kann, verändert sich mit der Bauintention bzw. den zur Verfügung stehenden Ressourcen oder funktionalen Anforderungen. Würden Baumeister nur absolut stabile Gründungen zulassen, wäre das Bauen nicht nur unerschwinglich teuer, sondern vermutlich würde dann überhaupt nichts mehr errichtet. Man muss sich nicht gleich in einen lupenreinen Pragmatisten verwandeln, um diese Über­legung ins Spiel bringen zu dürfen. Es genügt, sie als einen Hinweis darauf zu verstehen, dass Erkenntnistheorie nicht allein die Frage von Letztbegründung, sondern auch diejenige anderer, weniger spektakulärer Begründungsmodi im Blick zu behalten hat. Wir verweisen täglich vermutlich hundertfach auf Gründe, und wir tun meines Erachtens auch gut daran, dies zu tun, weil wir darin einen Aspekt unseres Verhaltens transparent machen und uns auf diese Weise unseren Mitmenschen öffnen. Ich wäre daher vorsichtig mit der Forderung, ganz von der Frage nach Gründen auf das Erwarten von Kritik umzustellen. Das wird sich 220  |  Stefan Berg 

nicht nur – wie oben mehrfach berührt – nicht durchhalten lassen, sondern wird auch vielen Aspekten unseres Alltagslebens nicht gerecht. Die Alternative ultimativer Grund oder Einsturz ist jedenfalls zu dramatisch gezeichnet, um dem Problemfeld differenziert gerecht zu werden. (b) Ein anderer Punkt betrifft das Münchhausen-Trilemma. Ein erhöhter Problemdruck in diesem Kessel wird nicht zuletzt dadurch erzeugt, dass infiniter Regress und logischer Zirkel traditionell als in so hohem Maße tabuisierte Figuren gelten, dass die ersten beiden Optionen von Anfang an praktisch ausscheiden. Man treibt so gewissermaßen von selbst in die Fänge der dritten Option hinein, so dass der Abbruch der Suche nach einem Grund als letzter Ausweg erscheint. Dort aber wird man sogleich von Alberts wortgewaltiger Dogmatizismus-Kritik empfangen, weshalb man sich des Eindrucks kaum erwehren kann, tatsächlich in einer Sackgasse gelandet zu sein. Die argumentative Dramaturgie lenkt die Leserinnen und Leser an diesem Punkt überaus suggestiv, indem untergründig das Bild großer Enge und hohen Drucks gezeichnet wird. Dies betrifft alle drei Optionen. So wird nüchtern betrachtet wenig Aufmerksamkeit auf die Begründung verwendet, dass und in welcher Weise infiniter Regress und logischer Zirkel eigentlich problematische Figuren sind. Wäre vielleicht ein anderer, ein versöhnterer Umgang damit denkbar? Und auch was den Abbruch anbelangt, so deutete sich oben in diesem Abschnitt unter (a) an, dass auch Situationen denkbar sind, in denen das Abbrechen einer Begründungskette unproblematisch ist, weil die erreichte relative Sicherheit in der Begründung für den betreffenden Moment genügt. Dies setzte aber eben voraus, dass man die Paradigmen der Erkenntnistheorie nicht von der erkenntnistheo­re­tischen Kardinalfrage ultimativer Begründetheit her entwirft, sondern ein vielschichtigeres Konzept zulässt, in dem das Maß der angestrebten relativen Sicherheit von den Anforderungen der entsprechenden Situation bestimmt wird. (c) Schließlich möchte ich auf einen letzten Aspekt eingehen, der die Situation zwar nicht im eigentlichen Sinn dramatisiert, aber doch den Blick auf mögliche weitere Lösungen in maßgeblicher Weise verengt: Es geht um Alberts Verständnis von Begründung und Logik. Regress und Reentry  |  221

Wie schon mehrfach tangiert, setzt Albert den Wert von Begründungen extrem niedrig an. »Sie werden sich immer finden lassen«18, schreibt er an einer Stelle so hemdsärmelig, dass es angesichts eines solchen Satzes schwer fällt, den Beliebigkeitsvorwurf nicht zu erheben. Zwar mag jedem der eine oder andere Diskurs in den Sinn kommen, wo Begründungen sehr fleißig hin und her geschoben bzw. ausgetauscht wurden – das extremste mir bekannte Beispiel sind die Streitigkeiten unter französischen Musikästheten der Aufklärung, die sogenannte Querelle des Bouffons, wo mehr oder minder gleichartige Musik unter Anwendung nahezu gleichlautender Begründungen einmal als natürliche gefeiert und einmal als unnatürliche verdammt wurde –, aber daraus den Schluss zu ziehen, dass es auf Begründungen grundsätzlich nicht so sehr ankomme, ist doch sehr vermessen. Jedenfalls fühlt sich Albert vor diesem Hintergrund dazu moti­ viert, die Funktion der Logik in erheblicher Weise zu beschränken. Unter den konzeptionellen Bedingungen eines kritischen Rationalismus, also dort, wo die »Orientierung an der klassischen Begründungsidee«19 aufgegeben wurde und Begründungen »nicht als Dogmen, sondern als Hypothesen«20 betrachtet werden, sagt er zur Logik Folgendes: »Wenn man die Rolle der Logik bei einem solchen Verfahren bestimmen möchte, dann wird man sagen können, daß sie hier nicht als Instrument der positiven Begründung, sondern als Organon der Kritik in Betracht kommt. Dementsprechend ist die Methodologie auch nicht wie die klassische am Satz vom zureichenden Grunde orientiert, sondern vielmehr an einer methodologischen Version des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch […].«21

Hier wird die Logik heuristisch auf einen kritisch reaktiven Modus festgelegt und ihr damit die Verbindung zu ihren produktiven Potenzen abgeschnitten. Man mag sich fragen, ob die Logik nicht schon immer eher als ein ›Organon der Kritik‹ gebraucht wurde, wie Albert hier formuliert, aber man wird deswegen doch nicht so weit 18 Ebd.,

51. 19 Ebd., 50. 20 Ebd., 51 f. (kursiv i. O.). 21 Ebd., 52 (kursiv i. O.). 222  |  Stefan Berg 

von sich weisen wollen, dass die Logik bei der Suche nach neuen und überzeugenderen Begründungen eine Rolle spielen kann und spielen darf. Überhaupt fragt man sich einmal mehr, warum die Alternativen so zugespitzt werden. Lassen sich kritische Analyse und positive Begründung so voneinander absetzen? Geht nicht jedes Bemühen um positive Begründung mit einer Auseinandersetzung mit schon vorgebrachter oder noch vorzubringender Kritik einher? Und muss sich Kritik nicht selbst wiederum positiv begründen bzw. kann nicht auch durch einen Gegenentwurf, der eine andere positive Begründung formuliert, eine Kritik erfolgen? Man kann darüber hinaus spekulieren, ob hinter Alberts Über­ legungen noch eine andere Intention steckt, als im Text des Traktats deutlich wird. Ich könnte mir jedenfalls vorstellen, dass er mit logischen Reflexionen eher ein Schließen als ein Öffnen des Diskurses assoziiert. Wenn logische Argumente ins Feld geführt werden, läuft dies oft auf ein klares Ja oder Nein hinsichtlich irgendeines Problems hinaus, selten jedoch auf das Anerkennen, dass weiterer Diskussionsbedarf bestehe. Das ist bei einem kritischen Gebrauch von Argumenten anders, denn wenn beispielsweise ein impliziter Widerspruch aufgedeckt ist, so ist eine weitere Runde im Spiel der konkurrierenden Hypothesen eröffnet. Es steht also zu vermuten, dass Albert eine gewisse Neigung besitzt, die Logik eher als Spielverderber denn als Spieltreiber zu empfinden. Das wiederum mag mit einem bestimmten Bild von Logik zusammenhängen, von dem man sich fragen darf, ob dazu nicht auch Alternativen denkbar wären – und dies bringe ich freilich im Wissen vor, dass ich mich nun George Spencer Brown zuwenden werde, der einen in gewisser Weise logischen Beitrag geleistet hat, der sich viel eher als diskussionsöffnender Spieltreiber denn als debattenhemmender Spielverderber ansprechen lässt.

Regress und Reentry  |  223

5. Ich lasse also Hans Alberts kritischen Rationalismus hinter mir und gehe zur Beschäftigung mit George Spencer Brown über. Dieser hat in den Laws of Form einen Kalkül vorgelegt,22 in dem ein völlig anderes Bild von Begründungszusammenhängen entworfen wird. Einen Zugang zu den Laws of Form zu finden gestaltet sich jedoch nicht ganz so einfach, denn der Text ist in die Darstellungsweise eines mathematischen Kalküls gegossen und besteht im Wesentlichen aus Anweisungen und deren sparsamer Erläuterung. Um den Einstieg zu erleichtern, beginne ich mit zwei Erläuterungen zur Mathematik der Laws of Form: (a) Die erste betrifft den Inhalt. Wir bewegen uns mit den Laws of Form an den Fundamenten der Mathematik: noch unterhalb der Ebene, wo Zahlenwerte oder Mengen ins Spiel kommen, dort, wo die Grenze zur Logik verschwimmt bzw. noch nicht existiert. Ursprünglich ging es Spencer Brown im Wesentlichen um eine theo­ re­tische Begründung für den Gebrauch komplexer bzw. imaginärer Zahlen,23 die zur Entstehungszeit des Textes zwar bereits praktisch, etwa im Bereich des Ingenieurwesens, in Verwendung, aber in der Boole’schen Algebra noch nicht zu rechtfertigen und daher verboten waren. Daraus erwuchs der Anspruch, »die Theo­rie der Boole’­schen Algebren einerseits mit einer zugehörigen Arithmetik zu fundieren und andererseits mit Gleichungen höheren Grades unter Verwendung imaginärer Werte zu erweitern«24 – und dies ist eben nur auf 22 Ich

verwende im Folgenden die deutsche Ausgabe: George Spencer Brown, Laws of Form/Gesetze der Form, übers. von Thomas Wolf, Leipzig 1997; vgl. auch die aktuelle englische Ausgabe: Laws of Form, Leipzig 52011. Erstmals erschien der Text als: Laws of Form, London 1969. Als in meinen Augen besonders hilfreiche, weiterführende Literatur zu den Laws of Form verweise ich auf Dirk Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt am Main 1993, sowie ders. (Hrsg.), Probleme der Form, Frankfurt a. M. 1993. 23 Spencer Brown bringt im Vorwort zur ersten amerikanischen Ausgabe das bekannte Beispiel: Die Gleichung x 2 + 1 = 0 lässt sich in x 2 = -1 und weiter in x = –1x umformen. In die letzte kann man nun +1 oder -1 einsetzen und erhält in beiden Fällen paradoxe Gleichungen: +1 = -1 bzw. -1 = +1. Dieses Problem lässt sich mit der Einführung einer vierten Zahlenklasse neben 0, positiven und negativen Werten lösen: den komplexen oder imaginären Zahlen ±i. 24 Tatjana Schönwälder-Kutze/Katrin Wille/Thomas Hölscher, George 224  |  Stefan Berg 

grundsätzlichster Ebene zu leisten, wo Mathematik und Logik ineinander übergehen. Und so wird in den Laws of Form nicht nur gezeigt, dass die »Logik keine fundamentale Disziplin«25 sei, sondern es werden die eigentlichen »Grundlagen der Logik«26 erst ausgearbeitet. Zugleich wird eine »primär[e] Arithmetik«27 betrachtet, »deren Geometrie noch kein numerisches Maß hat: Und so erstaunlich es scheinen mag, zeigt es sich, daß die Propositionen der Logik ebenso wie jene weiterer und mächtigerer Anwendungen zur Gänze aus solcherart konstruierten Kalkülen ableitbar sind«.28 Kurz: Spencer Brown hat den Anspruch, etwas vorzulegen, das so grundsätzlich ist, dass es nichts mehr voraussetzt, aus dem aber insbesondere Arithmetik und Logik abgeleitet werden können. (b) Die zweite Erläuterung betrifft die Darstellungsweise Spencer Browns: »Methodisch wählt er eine Form der Darstellung, die er in einem Beweisverfahren der akademischen Disziplin Mathematik vorgeprägt findet. Das Charakteristische seines Vorgehens nennt er ›injunktiv‹, wodurch die LeserInnen zu mitvollziehenden Denkhandlungen aufgefordert werden und die Darstellung aus dem Wechselspiel zwischen Aufforderung, Ausführung und Betrachtung ihren theo­re­tischen Aufbau gewinnt.«29 Was dahinter steckt, wird in einem späten Vorwort aus dem Jahr 1985 deutlich, wo der Autor eine Art pädagogisches Credo formuliert. Ihm zufolge kann man nichts durch »Gerede und Interpretation«, sondern nur durch »Befehl und Betrachtung«30 lernen. Dies ist im Gebrauch mathematischer Sprache besonders leicht zu verwirklichen, denn »die ursprüngliche Form mathematischer Kommunikation [ist] nicht Beschreibung […], sondern Anweisung«31. Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass dem oben genannten Grundsätzlichkeitsanspruch entsprechend in den Laws of Form allerdings »kein Spencer Brown, Eine Einführung in die ›Laws of Form‹, Wiesbaden 22009, 27 (kursiv i.O.). 25 Brown, Laws of Form, xix. 26 Ebd., xxxiii. 27 Ebd., xxvii. 28 Ebd., xix. 29 Schönwälder-Kutze/Wille/Hölscher, Einführung, 27 f. 30 Brown, Laws of Form, x. 31 Ebd., 67. Regress und Reentry  |  225

Prinzip verwendet werden darf, bis es entweder ins Leben gerufen oder in Begriffen anderer Prinzipien, die bereits existieren, gerechtfertigt wurde.«32 Geht man von diesen beiden Erläuterungen aus, so liegt auf der Hand, warum für die Laws of Form besondere Rezeptionsbedingungen gelten, man auf ihre Über­legungen also nicht genauso leichthändig zurückgreifen kann wie auf diejenigen anderer Denker. Die erste Erläuterung (a) erinnert insbesondere daran, dass man den Kerngedanken des Kalküls mit einer gewissen Vorsicht aus dem mathematisch-logischen Kontext herauslösen muss, um ihn für andere Bereiche zu adaptieren. Spencer Brown selbst hält dies für durchaus möglich, wie folgender Gedanke zeigt: »Ein wesentlicher Aspekt der Sprache der Mathematik ist der Grad ihrer Formalität. Obwohl es richtig ist, daß wir in der Mathematik damit befaßt sind, eine Kurzfassung des tatsächlich Gesagten zur Verfügung zu stellen, ist dies nur die halbe Geschichte. Worauf wir zusätzlich abzielen, ist eine allgemeinere Form zur Verfügung zu stellen, in der die gewöhnliche Sprache der Erfahrung eingebettet werden kann. […] Somit ist der Gegenstand der Logik, wie symbolisch er auch abgehandelt werden mag, insofern er sich auf die Grundlagen der Logik beschränkt, kein mathematischer. […] Seine mathematische Abhandlung ist eine Abhandlung der Form, in der unsere Art und Weise, über unsere gewöhnliche Lebenserfahrung zu sprechen, eingebettet gesehen werden kann. Es sind die Gesetze dieser Form, nicht so sehr jene der Logik, die ich versucht habe, aufzuzeichnen.«33

Dies lässt sich so verstehen, dass Spencer Brown beansprucht, mit den Laws of Form etwas vorzulegen, was über mathematisch-logische Grundsätzlichkeit noch einmal hinausragt. Es geht um eine Struktur, die sozusagen universelle Grundsätzlichkeit besitzt und auch in alltäglichen Erfahrungen auftritt, sich in mathematisch-formaler Sprache aber am klarsten formulieren lässt.34 Diese universelle Struktur nennt er Form: etwas – soviel sei hier vorweggenommen –, das immer und überall dann auftritt, wenn eine Unterscheidung 32 Ebd.,

xxviii. xxxiii. 34 Vgl. Fritz B. Simon, Mathematik und Erkenntnis. Eine Möglichkeit, die ›Laws of Form‹ zu lesen, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt a. M. 1993, 39–57. 33 Ebd.,

226  |  Stefan Berg 

getroffen wird bzw. wenn sich Unterschiedenheit auf irgendeine Art und Weise ereignet. Welche Grundsätzlichkeit und welche Universalität Spencer Brown mit dieser Struktur assoziiert, macht nicht nur das daoistische Motto, das dem Kalkül vorangestellt ist, deutlich – es lautet: ›Der Anfang von Himmel und Erde ist namenlos‹ –, sondern auch die Wortwahl, die dort auftritt, wo sich der Autor von der mathematisch-logischen Sprache entfernt. So schreibt er: »Das Thema dieses Buches ist, daß ein Universum zum Dasein gelangt, wenn ein Raum getrennt oder geteilt wird.«35 Und weiter: »[M]athematische Texte beginnen die Geschichte irgendwo in der Mitte und überlassen es dem Leser, den Faden aufzunehmen, so gut er kann. Hier wird die Geschichte von Anfang an verfolgt.«36 Diese Gedanken greifen in schöpfungstheologische bzw. meta­phy­sisch-universalgeschichtliche Räume aus und wecken – jedenfalls in mir – eher eine gewisse Zurückhaltung darin, Spencer Brown auf dem Pfad der Universalisierung zu folgen. Was die zweite der obigen Erläuterungen (b) zu bedenken gibt, lässt sich kürzer behandeln. Folgt man den Anweisungen des Kalküls, so zeigt sich tatsächlich eine Struktur, ohne dass langfädig erzählt und erklärt werden müsste. Beginnt man als Rezipient jedoch, über den Kalkül und diese Struktur zu sprechen, so gerät man unweigerlich in die Gefilde, die Spencer Brown als ›Gerede und Interpretation‹ abtun würde. Man braucht dies meines Erachtens nicht allzu ernst zu nehmen, denn nicht nur gehorsamer Nachvollzug, sondern auch ein distanzierteres Sprechen über dem Gegenstand bzw. die von der Autorenintention wegführende Weiterinterpretation des Ansatzes sind legitime Weisen, sich mit den Gedanken auseinander zu setzen. Allerdings sollte man im Hinterkopf behalten, dass sich die Struktur wohl kaum prägnanter zeigt, als wenn man sich der Mühe aussetzt, den Kalkül mit Stift und Papier nachzuvollziehen. Das zuletzt Gesagte soll in Erinnerung bleiben, wenn ich im Folgenden dennoch versuche, den Kalkül in einigen Grundlinien vorzustellen. Dabei soll es nicht um diejenigen Abschnitte gehen, 35 Brown, 36 Ebd.

Laws of Form, xxxv.

Regress und Reentry  |  227

in denen etwa logische und mathematische Strukturen aus der Kernstruktur hergeleitet werden. Vielmehr möchte ich mich darauf konzentrieren, besagte Kernstruktur als solche gebührend vorzustellen  – um dann im Anschluss weiterfragen zu können, wie in diesem Ansatz mit Basalität umgegangen wird.

6. Der Kalkül lässt sich grob in drei Teile gliedern: Kapitel 1 und 2 explizieren die Form, also besagte basale Struktur, Kapitel 3 bis 10 zeichnen ausgehend von der Form den Aufbau von Komplexität nach, Kapitel 11 und 12 wechseln auf eine höhere Ebene, bieten eine Metabetrachtung, springen darin zurück an den Anfang und formulierten den Gedanken des Reentry der Form in die Form. Für meine Fragestellung sind der erste und dritte Abschnitt von vorrangigem Interesse, weshalb sie im Zentrum der folgenden Darstellung stehen werden und über den zweiten relativ kurz hinweggegangen werden kann. Im ersten Abschnitt findet sich die Keimzelle des Kalküls und damit das Gravitationszentrum des Ansatzes: die Anweisung ›Triff eine Unterscheidung‹.37 Auf sie lässt sich bei Spencer Brown alles beziehen, weshalb ich sie im Folgenden genauer auslegen möchte. Dabei gehe ich in drei Schritten vor. (a) Hierbei gilt es zunächst zu verstehen, in welchem Sinn von ›Unterscheidung‹ (distinction) die Rede ist. Das Entscheidende lässt sich in folgende Aspekte zergliedern: Es ist erstens auffällig, dass der Text Unterschiedenheit als ein Phänomen von Räumlichkeit einführt. Unterschiedenheit wird also zuerst auf einer mathematisch-geometrischen Ebene thematisch. Der Kalkül geht dabei allerdings nicht so vor, dass er zuerst einen Raum als gegeben setzen und dann in diesen hinein eine Unterscheidung platzieren würde, sondern so, dass zuerst eine Unterscheidung getroffen wird, um dann von ihr aus den Raum als bereits gespaltenen zu konzipieren:

37 Ebd.,

3.

228  |  Stefan Berg 

»Konstruktion Triff eine Unterscheidung. Inhalt Nenne sie die erste Unterscheidung.   Nenne den Raum, in dem sie getroffen wird, den Raum, der durch die Unterscheidung geteilt oder gespalten wird.   Nenne die Teile des Raumes, der durch die Teilung oder Spaltung gebildet wird, die Seiten der Unterscheidung oder wahlweise die ­Räume, Zustände oder Inhalte, die durch die Unterscheidung unterschieden werden.«38

Entscheidend ist in meinen Augen die Formulierung, dass der Raum durch »Teilung oder Spaltung gebildet« werde, dass sich Raum also erst und nur dann ausfaltet, wenn und indem in ihm eine Grenze gezogen wird.39 Raum ist demnach das, was sich auffaltet, wenn eine Unterscheidung getroffen wird, genauer gesagt: was sich auf den beiden Seiten einer Unterscheidung bildet, wenn und indem sie getroffen wird. Das bedeutet, dass Raum nie an und für sich, also als undifferenzierte Einheit, gedacht werden kann, sondern immer nur von einer schon vorausliegenden Unterschiedenheit her, also dass die Einheit eines Raumes nur gedacht werden kann, indem Unterscheidungen, die bereits in ihn eingetragen sind, zurückgenommen werden. Am Zitierten kann man sich darüber hinaus zweitens vergegenwärtigen, dass das Phänomen der Unterschiedenheit zwar im Kalkül zuerst an Räumlichkeit thematisch wird, aber nicht sachlich auf Räumlichkeit eingeschränkt ist. Sie kann also auch an »Zustände[n] oder Inhalte[n]« auftreten. Hier bestätigt sich demnach, was oben nur angedeutet wurde: dass die Mathematik, in diesem Fall die Geometrie, nur eine abstrakte Darstellungsform bereitstellt, in der sich universale Strukturen in besonderer Klarheit formulieren lassen. Unterschiedenheit ist bei Spencer Brown folglich eben kein mathematisch-geometrisches Phänomen, sondern die Laws of Form nut38 Ebd.

(kursiv = fett i. O.). betrifft auch Bezeichnungsvorgänge, die erst dann möglich werden, wenn vorgängig unterschieden wurde: »Wenn einmal eine Unterscheidung getroffen wurde, können die Räume, Zustände oder Inhalte auf jeder Seite der Grenze, indem sie unterschieden sind, bezeichnet werden.« (Spencer Brown, Laws of Form, 1) 39 Dies

Regress und Reentry  |  229

zen eine mathematisch-geometrische Sprache, um Ereignisse von Unterschiedenheit zu thematisieren. Drittens möchte ich auf einen sozusagen holistischen Aspekt zu sprechen kommen, der mir im Unterscheidungsverständnis der Laws of Form gegenwärtig zu sein scheint. Spencer Brown definiert: »Unterscheidung ist perfekte Be-Inhaltung. Das heißt, eine Unterscheidung wird getroffen, indem eine Grenze mit getrennten Seiten so angeordnet wird, daß ein Punkt auf der einen Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu kreuzen. Zum Beispiel trifft ein Kreis in einem ebenen Raum eine Unterscheidung.«40

Das Unterscheiden zieht in Spencer Browns Kalkül eine Grenze im unendlichen Raum. Die Unterscheidung trennt also etwas von allem anderen. Die geometrische Illustration durch einen Kreis auf ebenem Raum, wie sie im Zitat eingesetzt wird, veranschaulicht dies besser, als dies etwa durch eine Gerade hätte bewerkstelligt werden können, deren Verlauf sich selbst im Unendlichen verliert. Auf diese Ganzheitsdimension hinzuweisen, ist in meinen Augen deshalb wichtig, weil damit hervorgehoben wird, dass und inwiefern wir uns hier auf einer grundsätzlichen Ebene befinden: eine Ebene, die beansprucht, nichts vorauszusetzen, repräsentiert durch den geometrisch leeren Raum, der als geometrischer Raum aber auch nur und insofern konstituiert wird, als eine Unterscheidung in ihm getroffen wird. Diese Unterscheidung wird im Verlauf des Kalküls wiederholt als die ›erste Unterscheidung‹, und erinnert man noch einmal Spencer Browns Satz, wonach ein (erstes) Unterscheidungsereignis ein Universum zum Dasein bringe,41 so hängt ein Geruch von prima philosophia und creatio ex nihilo über dem Text. Im zuletzt zitierten Textabschnitt findet sich schließlich Spencer Browns Definition von Unterscheidung als »perfekte Be-Inhaltung«, worauf ich hier viertens eingehen möchte. Im englischen Original findet sich an dieser Stelle der Satz »Distinction is perfect continence«, wobei eine Anmerkung des Autors aus dem Jahr 2000 den Begriff continence auf containment eingrenzt und damit eine 40 Ebd.

(kursiv i. O.). xxxv.

41 Ebd.,

230  |  Stefan Berg 

deutliche Spur legt. Ich möchte hier jedoch nicht in eine detaillierte Diskussion der Übersetzungsprobleme allgemein42 und spezifisch des englischen continence43 eintreten; es muss der schlichte Hinweis genügen, dass der Vorgang des Unterscheidens bei Spencer Brown nicht einfach Unterschiedenheit im Sinn einer Zweiheit erzeugt, sondern einen Zusammenhang konstituiert, und zwar einen Zusammenhang von Unterschiedenem. Oder anders gesagt: Eine Unterscheidung schafft und teilt einen Raum – ein containment, also ein Raum, der ganz (perfect) von dem ausgefüllt ist, was er beinhaltet: sich selbst als geteilten Raum. (b) Bildet distinction den einen konzeptionellen Bestandteil dessen, was Spencer Brown als ›Form‹ bezeichnet, so steht indication für den anderen. Auch hier seien verschiedene Aspekte aufgeschlüsselt: Zunächst ein Wort zur Begrifflichkeit: Indication changiert bei deutscher Übersetzung zwischen ›bezeichnen‹, ›markieren‹ oder auch ›hinweisen‹, wobei sich Thomas Wolf in der Übersetzung der Laws of Form für ›Bezeichnung‹ entschieden hat. Auch hier will ich mich nicht in Details verlieren. Der wichtigste Zusammengang lässt sich anhand dieser Zeilen verdeutlichen: »Wenn einmal eine Unterscheidung getroffen wurde, können Räume, Zustände oder Inhalte auf jeder Seite der Grenze, indem sie unterschieden sind, bezeichnet [indicated] werden.   Es kann keine Unterscheidung geben ohne Motiv [motive], und es kann kein Motiv geben, wenn nicht Inhalte als unterschiedlich im Wert [value] angesehen werden.   Wenn ein Inhalt einen Wert [value] hat, kann ein Name herangezogen werden, diesen Wert zu bezeichnen [indicate].   Somit kann das Nennen des Namens [calling the name] mit dem Wert [value] des Inhalts identifiziert werden.«44 42 Vgl.

das Vorwort des Übersetzers in: Spencer Brown, Laws of Form, vii. Schönwälder-Kuntze/Wille/Hölscher, Einführung, 70–72. 44 Spencer Brown, Laws of Form, 1. Es folgt etwas später noch diese Erläuterung: »Wenn der Inhalt Wert hat, kann gleichermaßen ein Motiv oder eine Absicht oder Anweisung, die Grenze in den Inhalt hinein zu kreuzen, herangezogen werden, um diesen Wert zu bezeichnen. / Somit kann das Kreuzen der Grenze ebenfalls mit dem Wert des Inhalts identifiziert werden.« (2) Ich verstehe dies so, dass es darum geht, das Verständnis der indication zu erweitern, also aus dem Statisch-Geometrisch-Visuellen zu lösen, so dass der Umgang mit der Unterscheidung, also das Kreuzen der Grenzen im Sinne eines 43 Vgl.

Regress und Reentry  |  231

Steht distinction für den – wenn man so will – material-gramma­ tischen Vorgang der Grenzziehung, so meint indication den seman­ tisch-pragmatischen Komplex, der die Unterschiedlichkeit hinsichtlich Motivation, Wertung und Benennung bezeichnet. Es gibt also niemals nur ein abstraktes Dass der Unterschiedenheit zweier Seiten, sondern in jede Unterschiedenheit ist ein konkretes Inwiefern der Unterschiedenheit der beiden Seiten eingegangen: dass im Vollzug des Unterscheidens ein Motiv gegenwärtig ist, eine Wertung vorzunehmen und zweierlei als Unterschiedliches zu bezeichnen und entsprechend zu benennen. In der indication liegt gewissermaßen, was den Unterschied macht, warum und inwiefern hier also etwas von anderem abgegrenzt wird. Dies macht zweitens bewusst, dass Unterscheiden bei Spencer Brown eine Asymmetrie bedingt – und die indication ist dasjenige konzeptionelle Element, das sie generiert. Sie kommt daher, dass in einer Spaltung des Raumes (distinction) stets nur eine der beiden Seiten markiert wird: »Laß einen Zustand, der durch die Unterscheidung unterschieden wurde, markiert sein durch eine Markierung der Unterscheidung. Laß den Zustand durch die Markierung erkannt werden. Nenne den Zustand den markierten Zustand.«45 »Nenne den Zustand, der nicht mit der Markierung markiert wird, den unmarkierten Zustand.«46

In dieser Passage wird die Differenz zwischen marked und unmarked space eingeführt. Darin zeigt sich noch einmal ein mathe­matisches Moment: dass Unterscheidung immer auch eine Art Setzung ist, mit der etwas aus allem anderen herausgegriffen und als etwas definiert wird. Eben dies bedingt die Asymmetrie – eine Asymmetrie der Aufmerksamkeit desjenigen, der aus bestimmten Motiven so und nicht anders unterscheidet; und dies bedingt eben eine konkrete Wechsels von einer Seite auf die andere, dass also der Vollzug des Umgangs bereits alles enthält, also den Wert im Vollzug bezeichnet. 45 Ebd., 3. 46 Ebd., 5. 232  |  Stefan Berg 

Unterschiedlichkeit des Wertes und führt zu einer eindeutigen Benennung. Drittens mag es helfen, sich an dieser Stelle zwei mögliche Missverständnisse zu vergegenwärtigen. Zum einen ist der Kalkül nicht so zu verstehen, dass distinction und indication voneinander entkoppelt werden könnten. Vielmehr hängen sie untrennbar zusammen. Bei Spencer Brown wird das aber nicht immer deutlich, weil er im Aufbau des Kalküls zuerst unterscheiden und dann eine Seite der Unterscheidung markieren lässt. Tatsächlich gehen aber jede distinction mit indication und jede indication mit distinction einher. Zum anderen könnte man ja bezweifeln, dass jede Unterscheidung eine Asymmetrie konstituieren würde. Worin sollte sie zum Beispiel liegen, wenn zwischen Flora und Fauna unterschieden wird? Hier muss man sich klar machen, dass es sich um einen komplexeren Fall handelt. Um zwischen Flora und Fauna unterscheiden zu können, muss erst einmal Flora von allem anderen (Steine, Wolken, Autos etc.) und Fauna von allem anderen (Steine, Wolken, Autos etc.) unterschieden werden, bevor sie aufeinander bezogen werden können. Und inwiefern mit der Unterscheidung etwa der Flora von allem anderen eine Fokussierung der Aufmerksamkeit einher geht, kann man sich am ›etc.‹ vergegenwärtigen, das ich im vorhergehenden Satz in der Aufzählung all dessen verwendet habe, um zu sagen, was alles nicht Flora ist; das ›etc.‹ zeigt an, dass auf dieser unmarkierten Seite der Unterscheidung keine Aufmerksamkeit liegt und sich auch die beispielhaft genannten Steine, Wolken und Autos im ›etc.‹ zu einer gänzlich undifferenzierten Größe auflösen. Soweit die ersten beiden Schritte meiner Auslegung. Ich möchte einen kleinen Moment innehalten und darauf hinweisen, dass der gesamte Komplex, den die ersten beiden Schritte bis hierhin entfaltet haben, dasjenige ist, was Spencer Brown als ›Form‹ bezeichnet. Er selbst schreibt: »Nenne den Raum, der durch jedwede Unterscheidung gespalten wurde, zusammen mit dem gesamten Inhalt des Raumes die Form der Unterscheidung.«47 47 Ebd.,

4. Regress und Reentry  |  233

In diesen Zeilen klingt es so, als wäre mit ›Form‹ nur der Aspekt der distinction gemeint, doch halte ich es auch im Hinblick auf den letzten Abschnitt, also das zwölfte Kapitel mit seiner Einführung des Reentry der Form in die Form, für notwendig, den ganzen Komplex aus distinction und indication als ›Form‹ anzusprechen. Unterscheiden ist letztlich nichts anderes als eine Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eines anstelle von allem anderen, distinction also nichts anderes als indication, nur dass es im geometrischen Konstruieren des Kalküls eben in zwei Schritte zerfällt. Diese ›Form‹ ist jene besagte basale und universal auftretende Struktur, die bei Spencer Brown in den Laws of Form als Fundament bzw. als Keimzelle für den Aufbau des mathematisch-logischen Systems fungiert. Basalität wird bei Spencer Brown demnach nicht als eine Art stabiler Block oder nicht mehr weiter abzutragende Schicht gedacht, sondern als das Ereignis des Auftretens einer Einheit in und als Unterschiedenheit. Dies wird später noch eingehender zu betrachten sein. (c) Doch bis dahin ist es noch eine gewisse Wegstrecke. Es folgt erst einmal der dritte Schritt in der Auslegung der Anweisung Draw a distinction, der in den Blick nimmt, dass die Form über einen Imperativ eingeführt wird. Auf die hintergründigen pädagogischen Über­legungen bin ich oben bereits kurz eingegangen. Mir geht es hier nun um die philosophischen Implikationen. Auch dazu vermerke ich die mir wichtigsten Aspekte. Erstens ist ganz schlicht daran zu erinnern, was ein Imperativ bedingt: Er stiftet jemanden dazu an, etwas zu tun. Es soll also eine Instanz zum Unterscheiden gebracht werden. Man könnte dies von den pädagogischen Intentionen des Autors oder den stilistischen Eigenheiten eines mathematischen Kalküls her erklären. Aber die Pointe sitzt tiefer, denn es soll gezeigt werden: Jedes Unterscheiden geht auf eine Instanz zurück, die so und nicht anders unterscheidet (distinction) und dabei seine eigene Motivation (indication) mit einbringt. Mit der Verwendung des Imperativs Unterscheide! wird also darauf verwiesen, dass es keine Unterscheidung ohne unterscheidende Instanz gibt; und dabei wird sie etwas von sich in die Unterschiedenheit mit hineinlegen. Der Imperativ weist also darauf hin, dass Unterschiedenheit nicht einfach gegeben ist, sondern in einem Vollzug erzeugt werden muss. Dieser Vollzug konstituiert ein Ereignis – dies ist das Ent234  |  Stefan Berg 

scheidende am Imperativ –, worauf zweitens näher einzugehen ist. Eine Anmerkung Spencer Browns macht deutlich, wie man diesen Zusammenhang verstehen sollte: »Bei neuerlicher Betrachtung des ersten Kommandos, triff eine Unterscheidung, merken wir an, daß es ebensogut ausgedrückt werden kann etwa durch laß da eine Unterscheidung sein finde eine Unterscheidung erkenne eine Unterscheidung beschreibe eine Unterscheidung definiere eine Unterscheidung oder laß eine Unterscheidung getroffen werden da wir hier einen Ort erreicht haben, der so primitiv ist, daß Aktiv und Passiv sowie auch eine Anzahl anderer eher peripherer Gegensatzpaare schon lange ineinander kondensiert sind, und fast jede Form von Worten mehr Kategorien suggeriert, als tatsächlich vorhanden sind.«48

Die Erzeugung von Unterschiedenheit muss bei Spencer Brown demnach sehr breit verstanden werden. Es wäre etwa nicht angemessen, dabei allein an einen bewussten, intellektualistisch-konstruierenden Akt zu denken. Zwar kann auch auf solchem Wege Unterschiedenheit erzeugt werden, aber es kann auch genügen, zwei Dinge unterschiedlich wahrzunehmen oder in einer Handlung zweierlei unterschiedlich zu behandeln. Spencer Brown lagen phänomenologische Kategorien nicht nahe, aber mir kommt an diesem Punkt in den Sinn, dass man von einem Unterscheidungsereignis bzw. einem Ereignis von Unterschiedenheit sprechen könnte. Darin wird Unterschiedenheit für eine Instanz Ereignis – jenseits der Distinktion von Aktiv (die In­ stanz erzeugt die Unterschiedenheit) und Passiv (der Instanz prägt sich eine vorhandene Entschiedenheit ein). Spencer Browns imperativische Rede mag zwar für sich haben, dass sie ein solches Ereignis herbeiführen kann, doch scheint mir eine phänomenologische façon de parler zur Benennung dessen, worum es sachlich geht, besser geeignet zu sein, weil in ihr die Differenz von Aktiv und Passiv 48

Ebd., 72 f. Regress und Reentry  |  235

nicht noch einmal unterlaufen werden muss, wie es Spencer Brown in seiner Erläuterung tun muss. Gerade zum letzten Punkt könnte man nun noch vieles sagen, doch möchte ich hiermit die Darstellung des ersten Teils des Kalküls abschließen, um nun ganz wenige Sätze zum zweiten, also zu den Kapiteln 3 bis 10, folgen zu lassen. Schon im zweiten Kapitel wurden mit den Formen der Kondensation = und der Aufhebung = zwei Operationen definiert, die es erlauben, sozusagen mit Unterscheidungen zu rechnen. Dies wird in den Kapiteln 3 bis 10 nun weiter ausgebaut, um eine primäre Arithmetik und eine primäre Algebra bis hin zu Gleichungen zweiten Grades zu entwickeln, wobei sich auf diesem Wege auch das Auftreten imaginärer Werte rechtfertigen lässt. Folgt man Spencer Brown, so lässt sich also von dem von ihm gelegten Fundament aus alles Weitere entwickeln,49 so dass in der Coda von Kapitel 11 ein lakonisches »und so weiter«50 zu finden ist. Für die hier intendierte Behandlung von Basalität ist entscheidend, dass Spencer Brown im dritten Teil des Kalküls, vor allem in Kapitel 12, noch einmal auf den Beginn zurückkommt, »um einen letzten Blick auf die Vereinbarung zu werfen, mit der der Bericht begonnen wurde«51. Das Kapitel befasst sich mit dem Reentry, also mit dem Wiedereintritt der Form in die Form. Ich hatte ja bereits oben die unterscheidende Instanz thematisiert, welche durch den Imperativ Draw a distinction! angesprochen und zum Unterscheiden angestiftet wird. Diese Instanz wird von Spencer Brown erst hier im zwölften Kapitel eingeführt und dort als Beobachter (observer) thematisiert:

49 Vgl. darüber hinaus auch Spencer Brown, Laws of Form, 97–116 (Appen-

dix 2: Das Kalkül interpretiert für die Logik). 50 Ebd., 59. 51 Ebd. 236  |  Stefan Berg 

»Wir wollen auch anmerken, daß die Seiten jeder Unterscheidung […] zwei Arten des Bezuges besitzen.   Der erste oder explizite Bezug ist auf den Wert einer Seite, entsprechend seiner Markierung.   Der zweite oder implizite Bezug ist auf einen äußeren Beobachter. Das heißt, das Äußere ist die Seite, von der aus eine Unterscheidung der Annahme nach gesehen wird.«52

Die Bewegung vom ersten (expliziten) zum zweiten (impliziten) Bezug lässt sich als eine Verschiebung der Aufmerksamkeit beschreiben. Der Fokus wandert vom unterschiedenen und markierten Zustand der Unterscheidung auf denjenigen, der die Unterscheidung trifft und die Markierung setzt. Indem sich die Aufmerksamkeit des Beobachters auf sich selbst im Gegensatz zur Unterscheidung verschiebt, wird eine andere Unterschiedenheit Ereignis: diejenige zwischen der beobachteten Form und dem Beobachter der Form – was freilich selbst wieder als Form angesprochen werden kann, also die Form reproduziert.53 Von hier aus könnte man beliebig viele Schritte weiter gehen und immer neue Beobachter einführen, die Beobachter beobachten. Dabei wird formal betrachtet aber niemals etwas anderes geschehen, als dass sich in der fortlaufenden Verschiebung der Aufmerksamkeit die Markierung verschiebt und sich auf diese Weise immer wieder die identische Struktur, also die Form, reproduziert. Anschließend an die oben genannte Form der Kondensation – die wiederum auf das Axiom 1 aus Kapitel 1 zurückgeht (»Wieder-Nennen ist Nennen«54) – kann Spencer Brown zum Schluss kommen: 52 Ebd.,

60. Niklas Luhmann findet sich eine interessante Zusammenfassung: »Ich selbst verstehe den Kalkül so, aber da bin ich nicht sicher, dass die Unterscheidung sozusagen aus der Unterscheidung herausgezogen wird und dass am Ende explizit wird, dass die Unterscheidung in der Unterscheidung immer schon vorhanden war. Es wird eine Einheit in Operation gesetzt, die im Moment des Beginns noch nicht analysiert werden kann. Erst später, wenn man Beobachtungsmöglichkeiten in den Kalkül einführt, also selbstreferenzielle Figuren gebrauchen kann, wird klar, dass schon am Anfang ein verborgenes Paradox vorhanden war, nämlich die Unterscheidung in der Unterscheidung.« (Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, hg. v. Dirk Baecker, Heidelberg 62011, 72) 54 Spencer Brown, Laws of Form, 2. 53 Bei

Regress und Reentry  |  237

»Nun sehen wir, daß die erste Unterscheidung, die Markierung und der Beobachter nicht nur austauschbar sind, sondern, in der Form, identisch«55 – wobei eben wichtig ist, dass sie in der Form identisch sind, also nur im Hinblick auf die Struktur als Form betrachtet. Aus dem Kalkül heraus betrachtet wird mit diesem ingeniösen Schlusskapitel aufgedeckt, dass es keinen Sinn mehr macht, über die Form und ihren Beobachter hinaus zu fragen, weil man auf nicht anderes mehr stoßen wird als die Form und ihren Beobachter. Der Punkt, von dem her sich alle Komplexität des mathematischen Systems aufbauen lässt, kann nicht mehr weiter vereinfacht und in seiner Komplexität reduziert werden. Insofern ist das zwölfte Kapitel der Schlussstein, der – indem sich ein Kreis schließt – besagt, dass es keinen Sinn macht, auf eine tiefere Ebene vordringen zu wollen als diejenige, auf der Kapitel 1 und 2 eingesetzt hatten. Basaleres wird nicht mehr gefunden werden können.

7. Die zurückliegende ausführliche Darstellung des Kalküls erschien mir erforderlich, weil in ihm eine an sich mathematische Struktur thematisiert wird. Das Problem ist daran weniger, dass es für NichtMathematiker eines gewissen Aufwands bedarf, mit diesem Denken vertraut zu werden, sondern eher, dass nun unter anderem zu fragen sein wird, wie stark diese Struktur an mathematische bzw. logisch-formale Kontexte gebunden ist, ob man also erwarten darf, sie auch außerhalb dieses Rahmens anzutreffen respektive sie etwa in hermeneutische oder phänomenologische Ansätze integrieren zu können. Doch bevor ich zu dieser Frage komme, möchte ich zunächst vertiefend auslegen, wie Spencer Brown in seinem Ansatz Basalität denkt und welche Rolle dabei regressive und zirkuläre Muster spielen. Um das spezifische Profil zeigen zu können, wird auch der eine oder andere Rückverweis auf Hans Alberts kritischen Rationalismus erfolgen. (a) Die elementarste Differenz zwischen Spencer Brown und Albert liegt darin, dass Basalität bei Albert als Resultat eines Vertie55 Ebd.,

66.

238  |  Stefan Berg 

fungs-, Abtragungs- oder Freilegungsprozesses in den Blick kommt, bei Spencer Brown aber als ein Ausgangspunkt für eine Entwicklung. Die Denkrichtungen sind also gewissermaßen entgegengesetzt. Bei Albert geht es um das Basale als eine maximale Stabilität, die über eine immer weiter fortschreitende Reduktion konstruiert wird, also über eine denkerische Bewegung der Verengung hin zum ontologisch immer Härteren, immer weniger Veränderlichen. Dabei muss man freilich in Anschlag bringen, dass Albert letztlich an der Möglichkeit einer auf dem Wege der Letztbegründung gewonnen Basalität zweifelt und daher einen kritischen Rationalismus entwirft, der ohne eine solche Basalität auszukommen hofft. Aber durch bloße Negation und Verabschiedung kommt man bekanntlich noch nicht in ein anderes philosophisches Fahrwasser, so dass das Begründungsdenken der alten, nach Fundamenten suchenden Baumeister noch immer als langer Schatten über diesem Entwurf liegt. Bei Spencer Brown wird demgegenüber eine Basalität vorgestellt, die tatsächlich anders gedacht ist. Sie ist keine Sackgasse des Denkens, sondern ein Ereignis, das weitere Ereignisse nach sich ziehen kann. Obwohl es auch hier letztlich um Begründung geht und der Autor dies auch rhetorisch durchaus betont, ist die denkerische Bewegung gegenläufig: Es wird eine Struktur gezeigt und von ihr aus nachgezeichnet, wie sich etwas entfaltet, also sich eine Komplexität aufbaut. Basalität ist hier als Keimzelle einer Entwicklung gedacht, ist kein Ziel denkerischer Anstrengung, sondern Ausgangspunkt für Entwicklungen. (b) Zudem kann Basalität in den Laws of Form insbesondere deshalb als Keimzelle fungieren, weil sie nicht als in sich ruhender, hermetisch geschlossener Block, sondern als ein in sich spannungsvolles Ereignis gedacht wird. Die von Albert in Betracht gezogene (und verworfene) Basalität hat für sich genommen die Dynamik eines Betonsockels auf felsigem Untergrund. Man kann sie der Idee nach freilegen und sie dann als Grundlage für konstruktiven Aufbau nutzen, aber aus sich selbst heraus wird sie nichts tun – es sei denn, man versucht, ihr etwa das Eigenleben eines unbewegten Bewegers oder die emanative Kraft des Einen bei Plotin zuzusprechen. Denkt man noch einmal an die ganz zu Beginn thematisierten Metaphern des Bauwesens zurück und erinnert sich an den meditierenden Rationalisten Descartes, so Regress und Reentry  |  239

wird deutlich, dass der eigentliche Baumeister dieses Denkens das Subjekt ist; niemand anderes legt die Basalität frei und errichtet etwas auf ihr. Das Fundament als letztbegründetes ontologisch stabiles Element wird von einer anderen, offenbar nicht minder stabilen Größe, dem Subjekt, in Anspruch genommen. Ohne das Subjekt ist das Fundament weder freigelegt noch baut sich auf ihm etwas auf, so dass man auch zum Schluss kommen könnte, dass die eigentlich stabile und kreative Instanz in diesem Denken das Subjekt ist und jeder Rekurs auf eine außerhalb seiner selbst gelegene Stabilität philosophisches Blendwerk. An dieser Stelle könnte man den Faden zu Kants transzendentalem Ansatz und etwa der Kritik der reinen Vernunft weiterspinnen, doch halte ich es für attraktiver, Spencer Browns Ansatz zu betrachten, der Basalität grundsätzlich anders konzipiert. Für ihn ist entscheidend, dass mit der Form kein Block, sondern eine überaus komplexe Struktur als basales Element fungiert. Diese Struktur zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass sie nicht als an sich existierend gedacht wird, sondern in einem Vollzug immer wieder aufs neue Ereignis wird. Wie bereits oben angedeutet ist es das Ereignis des Auftretens einer Einheit in und als Unterschiedenheit. Sie bleibt in ihrem Wieder-Auftreten zwar immer sie selbst  – deshalb, weil Axiom 1 bzw. der Form der Kondensation zufolge eine Wiederholung der Struktur nichts an der Struktur verändert –, ist darin aber zugleich immer neu: ein singulärer Vollzug, ein singuläres Ereignis in seinem konkreten Kontext. Dabei sind sowohl die Unveränderlichkeit als auch die Fähigkeit, sich immer wieder im singulären Ereignis zu erneuern, dem Maß der Abstraktion zu verdanken, das von jedweder inhaltlichen Füllung der distinction absieht, sie aber zugleich über die indication vorbereitet – und beide Aspekte sogar im Gedanken der Form untrennbar zusammenzieht. Der Struktur eignet weiter aber auch eine interne Spannung. Dafür ist schon allein das Gefälle verantwortlich, welches die Aufmerksamkeit auf die eine Seite lenkt (marked space), indem es sie von der anderen (unmarked space) abzieht. Doch wichtiger ist, dass im Unterscheiden etwas geschieht, das eine Einheit aus zweierlei56 ent56 Auf

die Frage nach mehrfachen Unterscheidungen bzw. die Frage, was geschieht, wenn mehrere einzelne Unterscheidungen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, geht Spencer Brown nicht ein. Es geht ihm um den forma240  |  Stefan Berg 

stehen lässt. Diese Kombination aus Einheit und Zweiheit, die nicht noch einmal miteinander vermittelt werden kann, erzeugt in vielfacher Weise Spannung und Unruhe. Im Gefolge von Spencer Brown, etwa bei Luhmann, wird immer wieder auf die Paradoxalität dieses Zustandes hingewiesen – und diese Paradoxalität hat etwas durch und durch Vitales, weil sie eine Spannung auf Dauer stellt und so zu weiteren, also an die erste Unterscheidung anschließenden und sich an ihr abarbeitenden, Unterscheidungsoperationen motiviert. Wenn Basalität bei Spencer Brown eine Basalität im Medium von Operationalisierungen ist und man erkennt, dass gerade die Spannung der basalen Unterscheidung das Operationalisieren initiiert und am Laufen hält, so kann man folgern, dass die Para­doxalität der ersten Unterscheidung ein genuines Kennzeichen ihrer Basalität ist. Basalität wäre so gesehen der faktische Ausgangspunkt für weiteres, einen größeren Zusammenhang entfaltendes Opera­tio­nalisieren. Zur spannungsvollen Komplexität der Form gehört ferner, dass sich die Struktur über die zweigliedrige Einheit hinaus öffnet, sich darin aber bloß noch einmal reproduzieren kann, indem eine neue zweifache Einheit geschaffen wird. Die Struktur wird geöffnet, indem der Beobachter als strukturgenerierende Instanz in den Blick kommt, doch wird sie darin zugleich geschlossen, weil die Einbeziehung des Beobachters formal betrachtet die Aufmerksamkeit innerhalb einer neuen Unterscheidung verschiebt und auf diese Weise nur ein neues Ereignis der Form kreiert. Die Instanz des Beobachters kann demnach nie als eine einfache Einheit gegenüber der zweifachen Einheit der Form in den Blick kommen, denn wenn sich der Beobachter als einfache Einheit selbst zu beobachten versucht, generiert er in solcher Selbstbezüglichkeit nur noch einmal die zweifache Einheit der Form. Es wird im Versuch der reflexiven Distanznahme im Selbstbezug57 demnach kein drittes Element len Akt (ersten) Unterscheidens, auf dem alle denkbaren Unterscheidungen basieren. 57 Spencer Browns Basalität hat demnach auch etwas mit Selbst-Referenz zu tun und kann überdies als paradoxale Struktur betrachtet werden. Vgl. Louis H. Kauffman, Self-reference and recursive forms, in: Journal of Social and Biological Structure 10:1 (1987), 53–72; Elena Esposito, Paradoxien als Unterscheidungen von Unterscheidungen, in: Hans Ulrich Gumbrecht/ Regress und Reentry  |  241

bzw. erstes Element sichtbar, sondern bloß einmal mehr die Form. Schlicht gesagt: Etwas Basaleres als dieser Gedanke einer zwei­ fachen Einheit ist offenbar nicht mehr zu formulieren.58 Die Basalität der Form bei Spencer Brown ist demnach sozusagen nach unten gesichert, weil nichts Einfacheres mehr gefunden werden kann als diese sich auf der Suche nach Einfacherem nur immer wieder selbst reproduzierende Figur. Aber mit der ihr eigenen spannungsvollen Unruhe ist in sie zugleich auch der Keim für eine von ihr her sich ausfaltende Komplexität gelegt. Die Basalität Spencer Browns ist mithin eine entwicklungsoffene bzw. zu Entwicklung hin tendierende Struktur und unterscheidet sich daher erheblich von einem Denken, das Basalität als eine Größe ohne jede Dynamik begreift. (c) Im Kontext des vorliegenden Bands ist es von besonderem Interesse, auch die regressiven bzw. zirkulären Aspekte der Form bei Spencer Brown genauer zu betrachten und mit Albert zu vergleichen. Für Letzteren waren Regresse und Zirkel ja so etwas wie Indikatoren dafür, dass die Suche nach Basalität in eine Art Sackgasse führt. Bei Spencer Brown verhält es sich genau umgekehrt; bei ihm scheint Regressivität eher ein Indiz dafür zu sein, dass man die basalste Ebene erreicht hat. Bei Albert ging es maßgeblich darum, die Situation des Münchhausen-Trilemmas zu vermeiden und weder in einen ins Bodenlose stürzenden Regress noch in einen auf der Stelle tretenden Zirkel K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991, 35–57; Niklas Luhmann, Sthenographie und Euryalistik, in: Hans Ulrich Gumprecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt a. M. 1991 58–82. 58 Dies ist keine Alternative zu einer Basalitätsfigur wie etwa dem cartesischen Cogito, von dem Descartes ja auch sagt, dass man hinter es nicht zurückkomme. Spencer Brown würde an Descartes wohl die formale Struktur interessieren, in der das Subjekt auf der tiefsten Ebene sich selbst von seinem Zweifel unterscheidet, wobei das ergo sum als Reentry der Unterscheidung von Zweifel und Subjekt auf Seiten des Subjekts fungiert: Ich zweifle (Unterscheidung zwischen mir und meinem Zweifel), also bin ich (Reentry). Gewisse Reflexionen, die im Rahmen von subjektphilosophischen oder idealistischen Ansätzen unternommen wurden, sind im Übrigen einer formalen Analyse überaus zugänglich, wie Dirk Baecker, Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie, Berlin 2013 unter Beweis stellt. 242  |  Stefan Berg 

zu geraten, um entweder das eine oder das andere nicht einfach an kontingentem Punkt abzubrechen. Regress und Zirkel wurden demnach mit Haltlosigkeit bzw. auswegloser Gefangenschaft assoziiert – Bilder stürzender und eingekerkerter Philosophen. Obwohl wir auch in den Laws of Form auf eine regressive bzw. zirkuläre Struktur treffen, fehlen solche negativen Assoziationen. Wenn die Regressivität bzw. Zirkularität in Kapitel 12 aufgedeckt wird, so erfolgt die Mitteilung darüber eher im Ton der Beruhigung und Befriedigung: Der Kreis hat sich geschlossen, die Arbeit ist getan. Tatsächlich ist der Charakter der Regressivität bzw. Zirkularität bei Spencer Brown ein recht anderer, wobei mehreres zusammenkommt. Genau genommen fällt es bereits schwer, zu sagen, ob es sich beim Reentry um eine regressive oder um eine zirkuläre Struktur handelt. Sie ist auf eine komplexe Art dynamisch in sich selbst verschlungen. Regressiv ist sie darin, dass sich mit jedem Reentry eine Wiederholung der Form ereignet, sich also extern betrachtet eine Reihung unter zeitlichen Bedingungen ergibt. Zirkulär ist sie wiederum darin, dass man aus ihr nicht herausspringen kann, sondern auch beim Versuch reflexiver Distanznahme in ihr verbleibt, sich also intern betrachtet nur neue Runden auf immer gleicher Bahn ergeben. Aus der internen Logik des Kalküls heraus betrachtet handelt es sich im Übrigen auch nicht um eine Spirale, weil die Beobachtung des Beobachters nicht als Beobachtung höherer Stufe fungiert, sondern als eine Beobachtung zwar anderen Inhalts, aber – und das ist entscheidend – von formal identischer Struktur, weshalb formal eben keine neuen Einsichten mehr gewonnen werden können, also keine formale Vertiefung auf dem Weg der (Selbst) Reflexion möglich ist. (d) Aufgrund dieser komplexen Anlage bilden die zirkulärregressiven Strukturen der Form tatsächlich eine Art Basalität – jedoch handelt es sich dabei um ein Fundament, das in geradezu paradoxer Weise eines Fundamentes entbehrt, einen grundlosen Grund. Genauer gesagt: Sie schwebt meta­phy­sisch im leeren Raum, ist operational betrachtet aber ein »harte[r] Felsen«, auf dem sich »mein Spaten [zurück biegt]«59, um mit Wittgenstein zu sprechen. 59 Wittgenstein,

Philosophische Untersuchungen, §217. Regress und Reentry  |  243

Diese Gemengelage macht verständlich, warum Spencer Browns Laws of Form für das nachmeta­phy­sische und antisubjektivistische Projekt der (soziologischen) Systemtheorie etwa Luhmanns eine bedeutende Inspirationsquelle darstellt. Oft werden systemtheo­re­ tische Ansätze dem Konstruktivismus zugerechnet, weil sie leicht so verstanden werden können, dass ohne die Unterscheidungsoperation eines Beobachters keine Unterschiedenheit vorliegt, dass also der Beobachter die Unterscheidungen konstruierte. Tatsächlich bleibt es aber in der Schwebe, ob der Beobachter die Unterschiedenheit setzt oder auf eine gesetzte Unterschiedenheit trifft. Diese epistemologische Frage interessiert Spencer Brown nicht, denn es geht ihm in seinem differenziologischen bzw. operationalisierenden Ansatz um das Ereignis von Unterschiedenheit als solches – und man kann sich fragen, ob er die skizzierte Gestalt von Basalität hätte entwerfen können, wenn er zu stark auf diese epistemologische Frage und die festgefahrenen realistischen bzw. konstruktivistischen Alternativoptionen ihrer Beantwortung fixiert gewesen wäre, wie es meines Erachtens bei Albert der Fall ist. Gewisse Potentiale sehe ich vor diesem Hintergrund darin, Spencer Brown mit phänomenologischen Ansätzen ins Gespräch zu bringen – ein Weg, der mir in der Auseinandersetzung mit Spencer Brown noch kaum beschritten zu sein scheint. Im Übrigen entzieht sich das von Spencer Brown entwickelte Konzept von Basalität den drei unglücklichen Optionen, die bei Albert das Münchhausen-Trilemma bilden. Weder kann man das Reentry des zwölften Kapitels der Laws of Form als einen Abbruch durch einen Rekurs auf eine externe Größe im Sinn von Alberts dritter Trilemma-Option verstehen noch haftet der Regressivität bzw. Zirkularität des Kalküls das Destruktiv-Problematische an, das Albert mit den ersten beiden Optionen des Trilemmas verbindet. Es stellt sich also die Frage, ob das Denken der Laws of Form nicht einen gangbaren Weg darstellt, Basalität anders zu denken – ob hier nicht eine nachmeta­phy­sische Gestalt von Basalität entwickelt wird, die bloß in bestimmten operationalen Zusammenhängen auftritt. Im letzten Abschnitt ist daher noch die Frage zu erörtern, ob diese Gestalt von Basalität ein rein mathematisches Phänomen ist oder auch auf andere philosophische Kontexte übertragen werden kann.

244  |  Stefan Berg 

8. Zur Beantwortung dieser Frage muss vor allem geklärt werden, ob und wie man das höchst abstrakte Konzept der Form mit konkreten Inhalten füllen und anhand von konkreten Unterscheidungen durchspielen kann. Liegt Spencer Browns Basalität nur in der abstrakten Struktur der Form und ihrem Beobachter vor und löst sie sich auf, sobald man konkrete Unterscheidungsvollzüge in den Blick nimmt? Es bietet sich an, den Ausgangspunkt der Klärung bei der bekanntesten Adaption des Konzepts zu nehmen: der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Spencer Browns Theo­rie der Form ist an zentraler Stelle in diesen Ansatz eingeflossen, nämlich in das Nachdenken über die Differenz von System und Umwelt. Liest man Luhmanns Ausführungen zu diesem Komplex, so fällt nicht nur auf, wie nah er Spencer Brown steht, sondern auch, dass diese Adaption auf den ersten Blick kaum weniger abstrakt erscheint als das Original. Um dies nachvollziehen zu können, muss man mit Luhmanns Systembegriff beginnen. Interessanterweise setzt Luhmann System und Differenz nahezu gleich: »Das System ist eine Differenz«60; oder etwas ausführlicher: »Ein System ›ist‹ die Differenz zwischen System und Umwelt«61. Man liegt demnach wohl nicht allzu weit daneben, wenn man verkürzend formuliert, dass das, was bei Spencer Brown ›Form‹ heißt, bei Luhmann ›System‹ genannt wird. Allerdings kann man das nur dann gelten lassen, wenn man sogleich hinzufügt, dass ›System‹ bei Luhmann immer schon die sich selbst beobachtende Form ist, die Autopoiesis betreibt, indem sie den Unterschied zwischen sich als dem marked space und der Umwelt als dem unmarked space durch wiederholte Unterscheidungsoperationen aufrecht erhält. Luhmann legt den Akzent demnach auf das Zusammenfallen von Form und Beobachter in der Form und nimmt damit den Faden direkt beim zwölften Kapitel der Laws of Form auf. Zudem ist, wenn Luhmann von einem System spricht, schon auf rudimentärer Ebene des Konzepts an eine Größe gedacht, mit der man – anders als bei 60 Luhmann,

Einführung in die Systemtheorie, 77. Vgl. die Entfaltung des Systemgedankens in ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theo­ rie, Frankfurt a. M. 1987, insbes. 30–91 und 242–285. 61 Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 64. Regress und Reentry  |  245

›Form‹ – eine Art eigenaktive Vitalität assoziiert, das heißt: welche sich durch eine gewisse Stabilität in der Zeit und die Fähigkeit zum spontanen Operationalisieren auszeichnet, die aber zugleich – anders als ›Beobachter‹ – nicht an ein einzelnes Subjekt denken lässt. Der Systembegriff öffnet damit die Tür für den Übergang zur Soziologie und damit zur Beschäftigung mit konkreten lebensweltlichen Vollzügen und den in sie eingegangenen Unterscheidungen. Doch hat Luhmann mit ihm die Sphäre der Abstraktion noch nicht hinter sich gelassen. Dies gelingt erst mit Hilfe des Kommunika­ tions­begriffs. Kommunikation ist das Medium, in dem Systeme operationali­ sieren. Das heißt: Systeme existieren in bzw. als Kommunikation, was nach obigen Ausführungen wiederum damit gleichbedeutend ist, dass Kommunikation ihrem Wesen nach Differenz sei – schließlich kommuniziert konkrete Kommunikation etwas im Unterschied zu allem anderen, was sie auch kommunizieren könnte, aber nicht tut. In der Folge untersucht Luhmanns auf die Beschäftigung mit Differenzen getrimmte Soziologie in allererster Linie eines: Kommunikation. »Alles, was es gibt, beruht von einem operationalen Theo­rieansatz her gesehen auf demselben Grundvorgang, demselben Typ von Ereignis, nämlich auf Kommunikation.«62 Entsprechend ist die Gesellschaft im Wesentlichen nichts anderes als Kommunikation, und ihre Teilsysteme sind nichts anderes als Teilbereiche von Kommunikation – und es versteht sich von selbst, dass Luhmann nun über die Behandlung konkreter Kommunika­ tionsvollzüge beliebig nah an alltägliche Realitäten der Gesellschaft herankommen kann. Die Verbindung von Spencer Browns abstrakter Form zum konkreten Leben läuft bei Luhmann demnach über die Brückenkonzepte von System und Kommunikation. Doch was heißt das für unsere Frage nach Basalität? Tatsächlich ist Luhmanns Theo­rie so aufgebaut, dass es in den jeweiligen Teilsystemen der Gesellschaft Phänomene von Basalität gibt: fundamentale Unterscheidungen, auf die sich alle Operationen eines Systems beziehen lassen. Dies sind etwa für die Wirtschaft der Code von Haben und Nicht­haben oder für das Recht Legalität und Illegalität. Basalität hieße, dass etwa 62 Ebd.,

76.

246  |  Stefan Berg 

das Wirtschaftssystem in seinem Fortbestehen, also in seinem Sichselbst-von-einer-Umwelt-Unterscheiden, gefährdet wäre, wenn Kommunikation nicht mehr auf die Unterscheidung von Haben und Nichthaben rekurrieren würde. Man kann Spencer Brown also mit Luhmann so deuten, dass Basalität als ein Phänomen an und in Kommunikation auftritt: eine Unterscheidung von einer so herausragenden strukturellen Relevanz, dass ein von ihr abhängender Bereich der Kommunikation kollabiert, wenn die entsprechende Unterscheidung nicht mehr getroffen wird. Als Theologe liegt es mir nahe, dies anhand des Religionssystems zu erläutern: Luhmann benennt die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz als ihren funktionalen Code, und es klingt auf den ersten Blick überaus plausibel, dass sich Religion als Teilsystem der Gesellschaft auflöste, wenn diese Unterscheidung nicht mehr getroffen werden würde. Allerdings muss man sich fragen, ob die Sache nicht komplizierter ist. Hängt denn das Ganze des Systems an dieser einen Unterscheidung? Was ist ›das Ganze‹? Die Religion, das Christentum, eine Konfession oder mein Glauben? Und was meint ›diese Unterscheidung‹? Welcher Christ unterscheidet denn in seiner Glaubenspraxis explizit zwischen Immanenz und Transzendenz? Unterscheidet er nicht zwischen Gott und Mensch? Oder zwischen sich und Gott? Und wechseln diese Codes nicht möglicherweise im Lauf der Geschichte? Die Sache ist – jedenfalls aus dem Inneren des Systems heraus betrachtet – offensichtlich nicht ganz so einfach. Und doch möchte ich die Hypothese ernsthaft in Betracht ziehen, dass gewisse Unterscheidungen eine Art von kommunikativer Basalität besitzen können, dass also in abgegrenzten operationalisierenden Zusammenhängen bestimmte Unterscheidungen vorkommen, die für das Fortbestehen dieser Zusammenhänge eine konstitutive Rolle spielen. Die strukturelle Pointe von Spencer Browns Basalität lag ja im abstrakten Konzept der Form: einer in sich gespaltenen Einheit, die so angelegt ist, dass die Möglichkeit zum Reentry der Unterscheidung in die Unterscheidung besteht. Wie kann dies in konkreter Kommunikation – und das heißt nicht nur, aber eben auch: in konkreter Sprache – vorkommen? Der strukturelle Kern der Form wiederum war, dass sich im Unterscheiden zwei Seiten bilden und darin doch aneinander hängen. Regress und Reentry  |  247

Blickt man vor diesem Hintergrund auf die Unterscheidungen, über die Luhmann die Teilsysteme der Gesellschaft konzipiert, so fällt auf, dass sich eine ähnliche Struktur in sprachlicher Kommunikation nachweisen lässt. Es gibt begriffliche Oppositionen, die einen Unterschied benennen – genauer gesagt: die gemeinsam einen Unterschied benennen, wobei sich das Gemeinsame darin zeigt, dass die eine Seite nur von der anderen Seite her verstanden werden kann und umgekehrt. Dies gilt zum Beispiel für die basale Unterscheidung von System und Umwelt. System ist System gegenüber einer Umwelt, Umwelt ist Umwelt gegenüber einem System, das heißt, es gibt keines ohne das andere. Gleiches gilt etwa für die Unterscheidungen von Haben und Nichthaben (Wirtschaft), Legalität und Illegalität (Recht) oder eben auch Immanenz und Transzendenz (Religion). Ich möchte diese besonderen begrifflichen Beziehungen als invers-zirkuläre Unterscheidungen bezeichnen – als invers deshalb, weil jeder Versuch der Erläuterung einer Seite der Unterscheidung immer wieder in die Unterscheidung als Ganze eintritt. Dies ist meines Erachtens die sprachliche Gestalt eines Reentrys: dass die Arbeit an der Unterscheidung immer wieder auf diese Unterscheidung zurückkommen und wiederum auf einer ihrer beiden Seiten in sie eintreten wird. Als zirkulär bezeichne ich diese Unterscheidungen wiederum deshalb, weil man niemals eine ihrer Seiten definieren kann, ohne die andere in Anspruch zu nehmen. Man wird das Haben niemals ohne das mögliche Nichthaben, das Nichthaben ohne das mögliche Haben erklären können; man wird niemals Legalität ohne mögliche Illegalität, niemals Illegalität ohne mögliche Legalität erläutern können. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein Phänomen von Basalität im Sinn Spencer Browns: Man wird auch über eine noch so ambitionierte Begriffsarbeit nicht auf eine tiefere Ebene kommen können, und man kann doch ausgehend von diesen Unterscheidungen größere Zusammenhänge entfalten. Die von Spencer Brown entwickelte und von Luhmann weiterinterpretierte operationale Gestalt von Basalität lässt sich demnach durchaus von der Mathematik auf konkrete Lebensvollzüge übertragen. Basal bedeutet dann, dass in einem bestimmten größeren Zusammenhang explizit oder implizit auf eine in sich höchst span248  |  Stefan Berg 

nungsvolle Unterscheidung rekurriert bzw. diese in Anspruch genommen wird. Ich bin damit am Ende meiner Über­legungen angekommen. Ich war mit Hans Alberts kritischem Rationalismus bei meta­phy­sischen Fragen eingestiegen, bin mit George Spencer Brown in mathematische Gefilde geraten und habe über Niklas Luhmann den Weg zu Kommunikation und Sprache gefunden – ein Ort, an dem Basalität als eine Art Unterscheidungsereignis gedacht und dabei möglicherweise mit regressiven bzw. zirkulären Strukturen versöhnt werden kann. So habe ich zum Schluss eine erheblich andere Gestalt von Basalität in den Blick bekommen als die, welche Albert suchte, aber nicht fand. Was wäre aus seinem kritischen Rationalismus geworden, wenn er nicht nach einem Fundament, sondern nach einer Spannung gesucht hätte? Wäre es möglich, seine Frage nach Letztbegründung anders zu stellen? Könnte man etwa nach der Spannung von begründet und unbegründet fragen und von hier aus epistemologische Fragen anders formulieren? Wäre so gesehen die Rede von Letztbegründung nicht der Versuch, aus der unversöhnten Spannung von begründet und nichtbegründet herauszukommen? Wäre diese Spannung vielleicht sogar ein Kandidat für den Code des gesellschaftlichen Systems philosophischer Kommunikation? – Man sieht: In der Beschäftigung mit Spencer Brown dürfte noch einiges Potential liegen, eingefahrene Denkmuster aufzubrechen und philosophische Probleme neu zu beschreiben.

Regress und Reentry  |  249

Thomas Filk

Gödel und Turing Selbstreferentialität mit einem »Twist« Zusammenfassung

Der Gödel’sche Beweis über die Unvollständigkeit mathematischer Axiomensysteme sowie der sehr ähnliche Beweis Alan Turings zur Nicht-Entscheidbarkeit des Halteproblems bei Algorithmen sind Beispiele für eine mathematisch strenge und wohldefinierte Form der Selbstreferenz in der Argumentationskette. In diesem Beitrag werden die beiden Beweise und die Art ihrer Zirkelhaftigkeit in anschaulicher Weise erörtert. Insbesondere wird betont, dass die Einführung eines »nicht« (der »Twist«) in die zirkelhafte Argumentation den Schritt von einer Tautologie zu einem scheinbaren Paradoxon ermöglicht.

1. Einleitung Zirkelhafte Argumentationen oder Selbstreferenzen führen oft entweder zu scheinbaren Widersprüchen oder aber zu Tautologien. Am bekanntesten ist vermutlich das Paradoxon des Epimenides, das in einer umgangssprachlichen Form oft als »Ein Kreter sagt: Alle Kreter lügen« zitiert wird. Verschiedene Quellen schreiben diesen Ausspruch dem Philosophen Epimenides von Kreta (um 600 v. Chr.) zu. Man findet eine Version dieses Zitats im Neuen Testament im Brief des Paulus an Titus (Titus 1,12): »Einer von ihnen hat … gesagt: Alle Kreter sind Lügner …«.1 Damit diese Aussage zu einem Paradoxon wird, müssen allerdings einige sprachliche Präzisierungen vorgenommen werden: Die Aussage sollte um ein »immer« erweitert werden, außerdem sollte 1

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Katholische Bibelanstalt, Stutt­ gart (1980). 250  |   

die Negation von »Alle Kreter lügen immer« in der Form »Alle Kreter sagen immer die Wahrheit« bzw. »Kein Kreter lügt jemals« interpretiert werden. Über dieses Paradoxon ist viel diskutiert worden,2 und es wird oftmals als ein semantisches Paradoxon bezeichnet. Andere Paradoxa sind »der Barbier, der in seinem Ort alle Personen (und nur die) rasiert, die sich nicht selbst rasieren« (wer rasiert den Barbier? – die Regel kann, angewandt auf den Barbier selbst, nicht erfüllt werden) oder auch Russells bekannte »Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten« (enthält diese Menge sich selbst oder nicht?). Das Russell’sche Paradoxon lässt sich umgehen, wenn der Begriff der Menge eingeschränkter definiert wird, wie es beispielsweise im Rahmen der Zermelo-Fraenkel-Axiome geschehen ist.3 Eine weniger bekannte Form des zirkelhaften Paradoxons ergibt sich aus einem Scherz, der in manchen Kulturen kursiert, in denen der Brauch vorschreibt, dass die ältere Person immer den Vortritt hat, wenn zwei Personen auf eine Türe zugehen:4 Bei einer schwangeren Frau ist der Termin der Geburt bereits überschritten, und die Ärzte fragen sich, weshalb das Kind nicht kommt. Eine Ultraschalluntersuchung zeigt, dass die Frau Zwillinge bekommen soll, und die Bewegungen der Zwillinge deuten darauf hin, dass jeder dem anderen den Vortritt lassen möchte. Wenn wir diesen Scherz weiter ausspinnen, stellen wir fest, dass es egal ist, welcher der beiden Zwillinge zuerst auf die Welt kommt: Dem Brauch – der Ältere hat den Vortritt – wurde in jedem Fall Genüge getan. Von zwei scheinbar entgegengesetzten Alternativen sind beide richtig. Denken wir uns jedoch eine hypothetische Kultur, in der immer der Jüngere den Vortritt hat, dann würde die obige Situation zu einem scheinbaren Paradoxon führen, denn wer auch immer als Erster auf die Welt kommt, ist der Ältere und hätte somit 2 Siehe

z. B. A. Rüstow, Der Lügner. Theo­r ie, Geschichte und Auflösung, Leipzig 1910; Nachdruck BiblioBazaar, 2009; U. Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, Heidelberg 2007; W. Künne, Epimenides und andere Lügner, Frankfurt a. M. 2013. 3 Siehe z. B. H.-D. Ebbinghaus, Einführung in die Mengenlehre, Heidelberg/Berlin 2003. 4 Beispielsweise erzählt man sich diesen Scherz im Iran; persönliche Mitteilung von Sean Cleary. Gödel und Turing  |  251

den Brauch verletzt. Der Zirkel in diesem Beispiel bezieht sich auf den Prozess »Geburt«, der erst bestimmt, welcher der Zwillinge der ältere und welcher der jüngere ist, wohingegen der Brauch diese Festlegung schon voraussetzt. Ein etwas realistischeres Beispiel wäre ein modernes Parlament, bei dem der Brauch erfordert, dass die Reihenfolge, in der die Abgeordneten den Parlamentssaal betreten, durch die Zugehörigkeit zu diesem Parlament bestimmt ist, und sich diese Zugehörigkeit an dem Zeitpunkt orientiert, an dem ein Abgeordneter zum ersten Mal durch die Türe getreten ist. Kommen nun zwei neu gewählte Abgeordnete auf die Türe zu, stehen sie vor dem erwähnten Problem. Selbstbezügliche Aussagen, die sich auf die Aussage selbst (wie »Dieser Satz ist falsch«) beziehen oder aber eine Selbstbezüglichkeit auf Objekte oder Prozesse haben und dadurch zu einem Widerspruch oder einer Tautologie führen, galten lange als rein semantisches Problem.5 Kurt Gödel ist es jedoch gelungen,6 eine solche Aussage zu mathematisieren und auf diese Weise eine streng mathematische Aussage zu erhalten. Damit konnte er seinen Unvollständigkeitssatz beweisen, auf den ich im vierten Abschnitt dieses Aufsatzes eingehen werde. Zuvor aber, im zweiten Abschnitt, möchte ich ein halb mathematisches Beispiel für ein Paradoxon behandeln, das sich vergleichsweise leicht überschauen lässt und das sich trotzdem – dies wird in Abschnitt 3 geschehen – bis zu einem gewissen Grad mathematisieren lässt. Damit gewinnt man einen ungefähren Eindruck, in welcher Form Gödel die Mathematisierung »seines« Satzes gelungen ist. Im fünften Abschnitt werde ich kurz auf das Halteproblem in der Theo­rie der Algorithmen eingehen, mit dem sich Alain Turing intensiv beschäftigt hat. Eine kurze Zusammenfassung sowie Einbettung in die Thematik des »Zirkels und Regresses« erfolgt am Schluss.

5 Zur Geschichte und Theo­r ie solcher Paradoxa siehe J. C. Beall, Spandrels

of Truth, Oxford 2009. 6 K. Gödel, Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I., Monatshefte für Mathematik und Physik; Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 38 (1931), 173–198. 252  |  Thomas Filk 

2. Ein einfaches Beispiel Zu dem folgenden Beispiel wurde ich durch die schon erwähnte Russell’sche Paradoxie bzw. eine Variante – den Katalog aller Kataloge, die sich nicht selbst enthalten – angeregt. Wir stellen uns eine Reihe von Bechern vor, die durchnummeriert sind und auf denen je ein Etikett beschreibt, was sie enthalten. Allgemein enthalten diese Becher Zahlenkugeln – ähnlich den Lotto-Kugeln –, und die Aufschrift charakterisiert die Menge der Zahlen, die in dem jeweiligen Becher sind. Wir betrachten insgesamt acht Becher, wobei wir uns zunächst auf die ersten sechs Becher beschränken: 1. Becher 1 enthalte alle positiven natürlichen Zahlen kleiner als 5 – also die Zahlen 1, 2, 3, 4. 2. Becher 2 enthalte alle natürlichen Zahlen zwischen 4 und 9 – also 5, 6, 7, 8. 3. Becher 3 enthalte alle Primzahlen kleiner als 9 – also 2, 3, 5, 7. 4. Becher 4 enthalte alle Fibonacci-Zahlen kleiner als 9 (ohne Wiederholungen) – also 1, 2, 3, 5, 8. 5. Becher 5 enthalte alle geraden natürlichen Zahlen kleiner 9 – also 2, 4, 6, 8. 6. Becher 6 enthalte alle ungeraden natürlichen Zahlen (echt) kleiner 9 – also 1, 3, 5, 7. Die genauen Zahlenmengen in den einzelnen Bechern spielen keine Rolle.

3

4

7

8

5

7

8

3

5

8

6

5

7

1 2

5 6

2 3

1 2

2 4

1 3

1

2

3

4

5

6

Abb. 1: Die ersten sechs Becher enthalten verschiedene Zahlenmengen von 1 bis 8.

Wir stellen nun die Frage: Welche Becher enthalten die Zahl, die ihrer eigenen Nummer entspricht? Offensichtlich gilt das in obigem Beispiel nur für die Becher 1 und 3, denn sie enthalten auch die Zahlen 1 bzw. 3. Alle anderen Becher enthalten die Zahlen zu ihren eigenen Nummern nicht. Gödel und Turing  |  253

Wir kommen nun zu den beiden Bechern mit den Nummern 7 und 8. Die in ihnen enthaltenen Kugeln seien folgendermaßen charakterisiert: 7. Becher 7 enthalte die Zahlen zu allen Bechern, die ihre eigene Bechernummer als Zahl enthalten – das sind die Zahlen 1 und 3. 8. Becher 8 enthalte die Zahlen zu allen Bechern, die ihre eigene Bechernummer nicht als Zahl enthalten – also 2, 4, 5, 6. Bisher ist alles noch kein Problem. Doch nun wollen wir auch die Zahlen 7 und 8 auf die beiden letzten Becher verteilen. Wie man leicht sieht, lässt sich die 7 in jedem der beiden Becher unterbringen, ohne dass die Bedingung auf dem Etikett des Bechers verletzt ist. Ist die 7 in Becher Nr. 7, so ist sowohl die Bedingung von Becher 7 (enthält alle Zahlen von Bechern, die ihre eigene Zahl enthalten) sowie auch die Bedingung von Becher 8 (enthält alle Zahlen von Bechern, die ihre eigene Zahl nicht enthalten) erfüllt. Wir können die 7 aber auch in Becher 8 stecken und haben ebenfalls beide Bedingungen erfüllt. Seltsamerweise scheinen sich die beiden Anweisungen auf Becher 7 und 8 auszuschließen – entweder das eine oder das andere ist richtig –, und doch sind im Fall der 7 beide Alternativen richtig. Ich bezeichne dies für den Augenblick einmal als eine Tautologie, obwohl dieser Begriff im strengen Sinne eine etwas andere Bedeutung hat. Die Nummer 8 macht jedoch Probleme: Weder in Becher Nr.  7 noch in Becher Nr. 8 werden die Bedingungen erfüllt. Die 8 in Becher 7 verletzt beide Bedingungen – Becher 7 enthält eine Zahl, die dort nicht hingehört, und Becher 8 enthält eine Zahl, die dort eigentlich hingehört, nicht. Ordnen wir jedoch die 8 dem Becher Nr.  8 zu, ist es ähnlich: Becher 7 enthält nun eine Zahl nicht, die dort eigentlich hingehört, und Becher 8 enthält eine Zahl, die dort nicht hingehört. Wir stehen hier wieder vor dem schon angesprochenen Problem, dass der »Twist« – die Negation bzw. Umkehrung einer Tautologie – zu einem Paradoxon werden kann. Es lassen sich nun mehrere Lösungen denken. Russells ursprüngliche Typentheorie versuchte,7 die Mengen je nach ihrer Definition 7

B. Russell, Mathematical logic as based on the theory of types, in: American Journal of Mathematics 30 (1908), 222–262. 254  |  Thomas Filk 

in verschiedene Typen zu unterteilen, und die Elemente einer Menge dürfen dabei nicht zu derselben Typenklasse gehören wie die Menge selbst. Angewandt auf das obige Beispiel sind die Zahlen, welche durch mathematische Bedingungen wie »gerade«, »prim«, »Fibonacci« etc. definiert sind, in der untersten Typenklasse. In der zweiten Klasse befinden sich die Zahlen, die auf den Bechern stehen (sie kennzeichnen Mengen, deren Elemente aus der untersten Klasse sind). Die Bechernummern 7 und 8 könnten nun in eine dritte Typenklasse gehören, deren Elemente aus der zweiten Typenklasse sind. Doch die Probleme beginnen, wenn wir 7 und 8 als dritte Typenklasse auch auf die Bechernummern der dritten Klasse verteilen wollen. Dies wäre nach Russells Typentheorie nicht erlaubt, und damit könnte das Paradoxon vermieden werden. Russell unterbricht also den Zirkel mit Gewalt, indem er ihn zu einer Spirale macht, die sich immer höher in den Raum der Typenklassen windet und bei der eine Menge nur Elemente enthalten darf, die zu einer tieferen Typenklasse als die Menge selbst gehören. Eine andere Möglichkeit der Lösung besteht darin, das Problem als rein semantisch abzutun. Nichts Schlimmes passiert, wenn im letzten Fall die Kugel mit der Nummer 7 in den Becher 7 oder den Becher 8 gelegt wird, und das Gleiche gilt für die Kugel mit der Nummer 8. Die Schwierigkeit entsteht erst, wenn wir die semantisch formulierten Regeln auf dem Becheretikett auch erfüllen wollen. Dieser Schwierigkeit mit semantischen Aussagen war sich Gödel bewusst. Daher wollte er einen entsprechenden Widerspruch so formulieren, dass er nicht von der Semantik abhängt, sondern zu einem rein zahlentheo­re­tischen Widerspruch wird. Sein Ziel war, durch in der Mathematik zulässige Relationen eine Zahlenmenge zu definieren, für die sich Folgendes zeigen lässt: Es gibt eine Zahl, von der nicht abgeleitet werden kann, ob sie zu dieser Menge gehört oder nicht. Als Vorbereitung zu dieser Idee, die ich in Abschnitt 4 etwas konkretisieren werde, möchte ich im nächsten Abschnitt skizzieren, wie sich das obige Beispiel in eine solche Form bringen lassen könnte.

Gödel und Turing  |  255

3. Die Mathematisierung des Beispiels Die Mathematisierung des Beispiels aus dem letzten Abschnitt erfolgt in drei Schritten: 1. Wir ersetzen alle semantischen Aussagen durch mathematische Symbolfolgen, die aber dieselbe Bedeutung haben. 2. Wir ordnen jeder Symbolfolge eine mathematische Zahl zu (diesen Schritt bezeichnet man als die Gödel-Nummerierung), sodass sich die Mengen eindeutig durch eine Zahl charakterisieren lassen. Außerdem bezeichnen wir einen Becher (also eine Zahlenmenge) nicht mehr willkürlich mit 1, 2, … sondern mit genau der Zahl, die nach der Gödel-Nummerierung der Menge in diesem Becher entspricht. 3. Wir nehmen eine so genannte Diagonalisierung vor, bei der die definierende Zahl einer Menge mit einer Zahl in dieser Menge identifiziert wird. Dieser letzte Schritt ist die Selbstreferenz bzw. der Zirkel. Diese drei Schritte werden im Folgenden näher erläutert.

3.1  Symbolisierung von Aussagen

Zunächst werden alle semantischen Beschreibungen der mathematischen Mengen auf den Bechern 1–6 durch mathematische Symbolfolgen ausgedrückt. Beispielsweise könnte die Menge in Becher 2 (alle Zahlen zwischen 4 und 9) durch die Symbolfolge: Becher(2) ≃ {n ∈ N|4 < n < 9}

ausgedrückt werden. Die rechte Seite stellt eine Folge von mathematischen Symbolen dar (Klammern, Parametern, Mengenzeichen etc.) und repräsentiert einen wohldefinierten mathematischen Ausdruck. Der Vorteil dieser Symbolisierung besteht darin, dass die mathematische Bedeutung nun nicht mehr von einer Sprache abhängt, in der die Beschreibung vorgenommen wurde. Eine Aussage wie »enthält alle Zahlen zwischen 4 und 9« lässt sich in jeder Sprache formulieren. Die Bedeutung der Symbolfolge ist unabhängig von einer gesprochenen Sprache immer dieselbe. Um zu vermeiden, dass 256  |  Thomas Filk 

mehrere Symbolfolgen dieselbe Menge bezeichnen (obwohl das hier kein Problem darstellen würde), kann man sich auf die kürzeste Symbolfolge einigen, die eine Menge eindeutig charakterisiert. Wir definieren nun eine neue Menge B, die aus Paaren von natürlichen Zahlen besteht. In der Mathematik bezeichnet man eine solche Menge auch als Relation. Ein gegebenes Zahlenpaar (n,m) soll in dieser Menge B enthalten sein, wenn die Zahl n in dem Becher (der Menge) mit der Nummer m enthalten ist. In unserem obigen Beispiel enthält diese Menge B z.B. die Zahlenpaare (3,1) (denn die Zahl 3 gehört zu der Menge im ersten Becher) oder (4,5) (denn die Zahl 4 befindet sich im Becher mit der Nummer 5). Die Menge B enthält beispielsweise nicht das Zahlenpaar (3,2), denn die Zahl 3 befindet sich nicht in dem Becher mit der Nummer 2. Mit dieser Menge B können wir nun auch die Etiketten der Becher 7 und 8 durch mathematische Symbolfolgen ausdrücken: Becher(7) ≃ {n ∈ N|(n,n) ∈ B}

Becher(8) ≃ {n ∈ N|(n,n) ∉ B} .

Becher Nr. 7 enthält also alle Zahlen n, für die (n,n) in B ist oder, in Worten, für die der Becher n auch die Zahl n enthält. Becher Nr. 8 enthält alle Zahlen n, für die das nicht gilt. Man sollte meinen, dass sich für jedes n entscheiden lässt, in welchen der beiden Becher es gehört.

3.2  Die Gödel-Nummerierung

Nun wurden zwar alle Sätze durch mathematisch wohldefinierte Symbolfolgen ersetzt, doch Gödel wollte das Problem vollständig auf die Theo­rie der Zahlen (und Beziehungen zwischen Zahlen) zurückführen. Das heißt, die Symbolfolgen müssen durch Zahlen ersetzt werden. Wie diese Übertragung genau aussieht, ist für das Argument nicht wesentlich, aber sie muss eindeutig sein, d. h. jede mathematische Symbolfolge muss eindeutig einer natürlichen Zahl entsprechen (und aus dieser Zahl muss man die Symbolfolge zurückgewinnen können). Diese Übertragung bezeichnet man heute als Gödel-Nummerierung. Gödel und Turing  |  257

Als Beispiel können wir die Folge der Symbole durch ihren ASCII-Code ersetzen. Da die Symbole für ∈ und N Spezialsymbole sind, die im herkömmlichen ASCII- Code nicht enthalten sind, beschränke ich mich der Einfachheit halber auf eine Gödel-Nummerierung der Menge {n | 4 < n < 9}.

Jedes Symbol, das Teil des ASCII-Codes ist, besitzt eine Darstellung durch acht Ziffern aus 0 und 1 (diese Darstellungen bezeichnen je eine Zahl zwischen 0 und 255). Nach dieser Übersetzung erhält die obige Symbolfolge die Ziffernfolge: {

n

|

4


n + k. Das sieht im ersten Augenblick zwar kompliziert aus, bedeutet aber nur: Ist die Zahl m größer als die Zahl n, dann ist auch m + k größer als n + k. Es spielt dabei zunächst noch keine Rolle, ob eine solche Aussage richtig ist oder nicht, wichtig ist nur, dass es sich um eine sinnvolle Aussage handelt. Dazu sind schon mehrere Schritte notwendig, die ich hier nur skizzieren möchte:   9 Zur

Geschichte von nicht-euklidischen Geometrien siehe z. B. Henry Manning, Non-euclidean geometry, Boston 1901, und M. J. Greenberg, Euclidean and non-Euclidean geometries – development and history, New York 2008. 10 David Hilbert, Mathematische Probleme – Vortrag gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900, Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, MathematischPhysikalische Klasse, Heft 3 (1900), 253–297. 11 B. Russell und A. N. Whitehead, Principia mathematica, vol. 1, Cambridge 1910. 12 E. Nagel und J. R. Newman, Der Gödelsche Beweis, Oldenbourg 72003. 260  |  Thomas Filk 

1. Zunächst definiert man sich ein Alphabet, d. h. eine endliche Menge von Symbolen, durch die sich alle mathematischen Aussagen ausdrücken lassen. Diese Symbole umfassen Klammern, (, ), oder auch bestimmte Operationen +, −, …, oder auch Symbole für Parameter, m,n,…, logische Verknüpfungen wie ∨, ∧ (ODER bzw. UND) die wichtigen Quantoren ∃ (»es gibt«) und ∀ (»für alle«) etc. 2. Im nächsten Schritt definiert man sinnvolle Ausdrücke oder Terme. Ein Ausdruck ist dabei noch keine mathematische Aussage, die richtig oder falsch sein kann, sondern lediglich eine sinnvolle Hintereinanderschaltung der Symbole, beispielsweise 5 + 3 oder m > n usw. Natürlich wäre es sehr schwer, alle mathematisch sinnvollen Terme aufzulisten. Daher beginnt man mit einigen wenigen sinnvollen mathematischen Termen und definiert einen Satz von Regeln, wie man aus sinnvollen Termen neue sinnvolle Terme erhalten kann. Jede Folge von Symbolen, die sich durch die vorgegebenen Regeln aus einem der Ausgangsterme erhalten lässt, ist ein sinnvoller mathematischer Ausdruck. 3. Nun werden sinnvolle mathematische Terme zu Aussagen verbunden. Aussagen enthalten meist ein Gleichheitszeichen (=) oder ein »daraus folgt«-Zeichen (⇒) oder Ungleichheitszeichen (