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German Pages 152 Year 1983
Günter Spendel Rechtsbeugung durch Rechtsprechung
Rechtsbeugung durch Rechtsprechung Sechs strafrechtliche Studien von
Günter Spendel
W DE
G 1984
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Dr. Günter Spendel . Professor der Rechte an der Universität Würzburg
CIP-Kurztitelaufnähme der Deutschen Bibliothek
Spendel, Günter: Rechtsbeugung durch Rechtsprechung : 6 strafrechtl. Studien / von Günter Spendel. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1984. ISBN 3-11-009940-3
Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gö'schen'scne Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J. Trübner, Veit 8c Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Verlagsbuchbinderei Dieter Mikolai, Berlin 10
Dem Andenken meiner Mutter
Vorwort Unter dem vielleicht etwas paradoxen und provozierenden Titel „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung" sind sechs Studien zusammengefaßt, die alle um das gleiche Thema kreisen: daß gerade der Richter, der berufene Hüter des Rechts, zuweilen seine hohe Aufgabe verkennt und verkehrt, daß er das Recht beugt, wo er angeblich Recht spricht, daß er nicht Rechtsbrüche richtet, sondern selbst Justizverbrechen begeht. Die vorliegenden Abhandlungen, zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Anlässen entstanden und nochmals überarbeitet, sind auch in Erinnerung an den eigenen Richterdienst geschrieben; sie untersuchen erschütternde Fälle und erregende Fragen der Rechtsbeugung, die das richterliche Standesdelikt schlechthin ist und schon in der Bibel verflucht wird. Es werden Schandurteile der NS-Justiz und Fehlurteile darüber in der Nachkriegsjudikatur kritisch gewürdigt, die die Fragwürdigkeit allen menschlichen Rechtens und Richtens schmerzlich bewußt machen. Heute, ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Hitler-Herrschaft und damit eines Terrorregimes ohnegleichen, muß man feststellen, daß die Justiz die hierdurch entstandenen Rechtsprobleme nicht befriedigend gelöst hat. Gewidmet ist das Buch dem Andenken meiner unvergeßlichen Mutter. Ihr kritischer und klarer Verstand, ihr fester und rechtschaffener Charakter, ihr unbestechliches und untrügliches Urteil haben mich nicht zuletzt in den zwölf Jahren des Ungeists und Unrechts tief beeindruckt. Möge etwas davon in den nachfolgenden Blättern zu spüren sein! Würzburg, im Juli 1983
Günter Spendet
Inhaltsverzeichnis Seite
1. Justizkrise und Justizkritik
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2. Zur Problematik der Rechtsbeugung, Ein Fall vorweggenommenen Gesetzesunrechts
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3. Justizmord durch Rechtsbeugung, Ein Todesurteil wegen „Rassenschande"
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4. Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters, Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung
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5. Richter und Rechtsbeugung
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6. Justiz und NS-Verbrechen, Die „Standgerichtsverfahren" gegen Admiral Canaris u.a. in der Nachkriegsrechtsprechung
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7. Anhang zu Nr. 2 und 3 a) Beschluß des Amtsgerichts Wetzlar vom 17. Juni 1935 . . . b) Beschluß des Landgerichts Limburg/Lahn vom 19. August 1935 c) Urteil des Sondergerichts Nürnberg-Fürth vom 13. März 1942 d) Urteil des Bundesgerichtshof s vom 2 I.Juli 1970
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Abkürzungsverzeichnis a. F. AG AusfVO BayObLG BGB1. BGH BGHSt. BT-Drucks. BVerwGE Diss. DJT DJZ DReZ DRiZ oder: DRichtZ EGStGB FGG
GoltdArch. GVG JuS Die Just. Just. u. NS-Verbr. JW JZ Krit. Just. LeipzKomm. LG MDR MilStGB NJW OGHSt. OLG Pol. u. Kult.
alte Fassung Amtsgericht Ausführungsverordnung Bayerisches Oberstes Landesgericht Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Drucksachen des Deutschen Bundestages Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Juristen-Zeitung Deutsche Rechts-Zeitschrift Deutsche Richterzeitung Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch v. 2.3.1974 Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Goltdammer's Archiv für Strafrecht Gerichtsverfassungsgesetz Juristische Schulung, Zeitschrift für Studium und Ausbildung Die Justiz, Zeitschrift für Erneuerung des Deutschen Rechtswesens Justiz und NS-Verbrechen, Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1966 Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kritische Justiz, Vierteljahresschrift Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 10. Aufl. ab 1978 Landgericht Monatsschrift für Deutsches Recht Militärstrafgesetzbuch Neue Juristische Wochenschrift Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone in Strafsachen Oberlandesgericht Politik und Kultur, Zeitschrift
XII Recht u. Pol. RGB1. RGSt. RGZ RKG RMilG ROW SchwG SJZ StGB StPO VerwArch. VolksGH ZJA f. d. Br. Z. ZRP ZStrW ZZP
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1. Justizkrise und Justizkritik Wie alle staatlichen und damit menschlichen Einrichtungen ist auch die Justiz immer wieder, mehr oder minder weitgehend, der Kritik bedürftig. Eine solche nachhaltigere Justizkritik ist bei uns in Deutschland seit Anfang dieses Jahrhunderts aufgelebt, und zwar seit dem 30. März 1906, als der Frankfurter Oberbürgermeister Adickes im Preußischen Herrenhaus bei den Etatsberatungen seine berühmte Rede über die Notwendigkeit einer grundlegenden Justizreform gehalten hat1. Hier ist von „konservativer" Seite den Gründen nachgegangen worden, warum das Vertrauen des Volkes in seine Rechtsprechung eher schwinde als wachse, und nach den Zielen gefragt worden, die zur Beseitigung des Übelstandes zu verfolgen seien. Seit dieser Zeit sind das Wort von einer bestehenden Justizkrise und der Ruf nach einer durchgreifenden Justizreform nicht mehr verstummt, sondern stets von neuem laut geworden. Dabei ist es nur natürlich, daß sich alle Kritik gegenüber der Rechtspflege am Bild des Richters orientiert. Denn es gilt, wie der Strafrechtler Eberhard Schmidt in Weiterbildung einer alten Sentenz treffend gesagt hat, das Wort: „Alles Metall meint Gold, alles Lebende den Menschen alles Juristische den Richter"2. Sah Adickes noch die Ursachen vornehmlich in einer verfehlten Justizorganisation und in der fortlaufenden Vermehrung der Richterstellen, deren wachsende Quantität im umgekehrten Verhältnis zur Qualität ihrer Inhaber stünde und nur die Mittelmäßigkeit begün1
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Die Rede ist mit geringfügigen Auslassungen erneut abgedruckt in DRichtZ 1965, S. 258. Eberb. Schmidt, Der Richter, in: Die Sammlung, l.Jg. 1946, S.277; s. weiter Albrecht Wagner, Der Richter, Geschichte - Aktuelle Fragen - Reformprobleme, 1959, S. V, l f.,4.
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stige, so kamen nach dem ersten Weltkrieg andere und gewichtigere Umstände hinzu, die zur scharfen Kritik herausforderten - vor allem die mangelnde Unparteilichkeit in politischen Verfahren, die insbesondere von „linker"3, aber auch von „rechter" Seite gerügt wurde4, so z.B. in den „Fememord-Prozessen", Vorwürfe, die gegen die Rechtspflege im Weimarer Staat nach 1945 in einseitiger Weise erneut erhoben wurden5. Tatsächlich ist nicht zu leugnen, daß ein nicht geringer Teil der Richterschaft vor 1933 dem neuen republikanischen Staat ablehnend gegenüberstand, mochten auch viele ihrer Vertreter in den Urteilen um Objektivität bemüht gewesen sein. Es kam die Rede von der „Vertrauenskrise" der Justiz auf6. „Revolutionäre" Kreise forderten sogar die Einschränkung oder Abschaffung der richterlichen Unabhängigkeit, womit nur einer noch größeren Parteilichkeit der Judikatur Vorschub geleistet worden wäre7. Neben dem Vorwurf der „Partei)usuz" wurde von sozialistischer Seite oft auch der der „Klassenjustiz" erhoben. Mit dieser Kritik wurde allerdings meist keine bewußte Voreingenommenheit der Richter behauptet, 3
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Vgl. z.B. mit Belegen Radbruch, Offener Brief an Herrn Dr. Otto Liebmann, Herausgeber der Deutschen Juristen-Zeitung, in: Die Justiz, I.Bd. 1925/26, S. 193, 195 („.. .war es leider die Rechtspflege selbst, die durch immer neue Fehlgriffe in politischen Prozessen jenes Mißtrauen im Volke erregte..."); Sinzheimer, Die Legalisierung des politischen Mordes, in: Die Justiz, V. Bd. 1929/30, S. 65, 68; Procurator (= Rob. Kempner), Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich (Reichsgericht gegen Links! und Rechts?), in: Die Justiz, V.Bd., S.678ff.; Liepmann, Kommunistenprozesse, 1928, S. 5f., 68; zu diesem kritisch Neusei (Fußn.6) S. 38 ff., 48 ff. Vgl. z.B. Zarnow (= Moritz), Gefesseitejustiz, I.Bd. 1930, II. Bd. 1932. Einerseits z.B. Heinr. und Elisab. Hannover, Politische Justiz 1918-1933, 1966, z. B. S. 12/13, 27f. und passim; andererseits Friedr. Grimm, Politische Justiz - die Krankheit unserer Zeit, 1953, S. 2/3, 53 ff., 56 ff., 62 ff., 66. Um eine ausgewogene Beurteilung dieser Sachlage bemühte sich in den 20er Jahren Eyck, Die Krisis der deutschen Rechtspflege, 1926, um eine Ehrenrettung des Reichsgerichts nach 1945 Neusei, Die Spruchtätigkeit der Strafsenate des Reichsgerichts in politischen Strafsachen in der Zeit der Weimarer Republik, Diss. Marburg a. d. L. 1971. Auch der letztere räumt ein, daß, im Unterschied zum RG, die Untergerichte „dem neuen Staat nicht immer den erforderlichen Schutz gegeben haben" (Neusei a. a. O. S. 125). Dazu den Überblick des ehemaligen Reichsjustizministers im Weimarer Staat Schiffer in seinem bedeutsamen Buch „Die deutsche Justiz" (1. Aufl. 1922), 2. Aufl. 1949, S. 9 ff., 12 ff.
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sondern nur die auf ihrer sozialen Herkunft und Stellung beruhende Befangenheit, ja Unfähigkeit gemeint, Angehörige anderer sozialer Schichten besonders in Strafsachen vorurteilslos beurteilen zu können8. Die vor 1933 beklagten Mißstände mußten vergleichsweise noch gering erscheinen gegenüber den unglaublichen Gerichtsentscheidungen, die unter der NS-Diktatur ergangen sind. Wie man auch zu unserer Justiz, ihrer Funktion und ihrem Funktionieren, sonst stehen mag, für diese Phase ihrer Geschichte gilt jedenfalls die Feststellung, daß sie beispiellos versagt hat und zu schärfster Kritik nötigt. Es sind zahllose Richtersprüche gefällt worden, die nicht anders denn als Justizverbrechen bezeichnet werden können. „Der Dolch des Mörders war", so lautete das bildkräftige Verdikt des amerikanischen Militärtribunals im Nürnberger Juristenprozeß, „unter der Robe des Juristen verborgen"9. Das Hitler-Regime hatte eine „Perversion der Rechtsordnung" bewirkt10, wie sie schlimmer kaum vorstellbar war Schandgesetze wurden für Recht, Schandurteile für Rechtsprechung erklärt. So ist wohl das „Blutschutzgesetz" vom 15. Sept. 1935, das in Deutschland plötzlich jüdischen und „arischen" Deutschen den Eheschluß verbot und bei Heirat beide Partner, bei außerehelichem Geschlechtsverkehr den männlichen (jüdischen oder arischen) Teil wegen „Rassenschande" bestrafte, unter den historischen und rechtlichen Umständen als „gesetzliches Unrecht" anzusehen". Einen „Täter" aber - einen 29jährigen jüdischen Diplomingenieur ungarischer Staatsangehörigkeit, der seit seiner Studentenzeit vier Liebesverhältnisse mit „arischen" Mädchen angeknüpft hatte - zum 8
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Zu dem Vorwurf näher mit weiteren Nachweisen Schiffer a. a. O. S. 15 ff.; s. ferner Erich Kuttner, Klassenjustiz, 1913. Das Nürnberger Juristenurteil, hrsg. vom Zentral-Justizamt f. d. Brit. Zone, 1948, S. 43. Zu dieser Erscheinung und diesem Begriff s. Fritz v. Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen, 1955; ferner dens., Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung als Warnung und Lehre (l.Aufl. 1946), 2.Aufl. 1947; neuerdings ohne überzeugende Gründe den Ausdruck ablehnend Stolleis, „Perversion des Rechtsdenkens" im Nationalsozialismus, in: Recht u. Politik, 19.Jg. 1983, S. l, 3/4. Ad. Arndt in Anm. zum Urt. d. OLG Kiel in SJZ 1947, S. 330, 336; Klug, Der Rechtsstaat und die Staatsphilosophie der geordneten Anarchie, in: Ernst v. HippelFestschr. 1965, S. 148, 157; Sauer, System der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 1949,5.246.
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„gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" i.S.d. §20a StGB a.F. zu erklären, um ihn als solchen wegen „Rassenschande" zum Tode verurteilen zu können, bedeutete sicherlich einen der vielen Justizmorde durch Rechtsbeugung im „Dritten Reich"12. Wie einst in vergangenen Jahrhunderten verbohrte Richter willfährig einer kirchlichen Autorität gedient und mit ihrer Blutjustiz den Hexenwahn gefördert hatten, so fanden sich nun plötzlich nach 1933 allzuviele verblendete Richter, die mit drakonischen Strafen den Rassenwahn unterstützten und sich diensteifrig der staatlichen Autorität unterordneten13. Aber nicht nur gegen jüdische Mitbürger oder politische Gegner wurden die Gerichte, vor allem die Strafgerichte, zu einem Instrument des Terrors. 1942 oder 1943 verurteilte ein Sondergericht, d.h. ein aus drei Berufsrichtern bestehendes, für politische Delikte, später auch z.T. für allgemeine Verbrechen zuständiges Gericht, einen bislang unbestraften, zudem vermindert schuldfähigen 82jährigen Rentner zum Tode, weil er nach einem Fliegerangriff eine aus einem Stall auf die Straße gelegte fremde Pferdeleine an sich genommen und daraus Leibriemen und Hosenträger für sich geschnitten hatte, und zwar unter „entsprechender" Anwendung des (u. a. das Plündern in freiwillig geräumten Gebäuden bestrafenden) § l Volksschädlingsverordnung v. 5. Sept. 1939. Dieses barbarische Urteil hat selbst der letzte NS-Reichsjustizminister Thierack in den „Richterbriefen", die in der zweiten Kriegshälfte zur Lenkung der Justiz herausgegeben wurden, da nur der „Abschreckung" dienend, als „nicht mehr gerecht" bezeichnet14!
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Zu diesem Fall Holländer s. einmal das haarsträubende Kasseler SondergerichtsUrteil bei Noam/Kropat, Justiz und Judenverfolgung, I.Bd.: Juden vor Gericht 1933-1945, 1975, S. 168 ff. und sodann die beiden unerhörten Urteile des SchwG Kassel, das zwei wegen Rechtsbeugung und Totschlags nach 1945 angeklagte Mitglieder des NS-Sondergerichts freisprach, sowie das Rev.-Urt. des OLG Frankfurt/M. bei Moritz/Noam, Justiz und Judenverfolgung, II. Bd.: NS-Verbrechen vor Gericht 1945-1955, 1978, S. 308 ff. So der treffende Vergleich schon von Schiffer, Die deutsche Justiz, 2. Aufl. 1949, S. 20. Vgl. Boberach (Hrsg.), Richterbriefe, Dokumente zur Beeinflussung der deutschen Rechtsprechung 1942-1944, 1975, S. 95 f., 105/106.
Justizkrise und Justizkritik
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Daß das Verbrechen der Rechtsbeugung (§ 336 StGB), das Standesdelikt des Richters, nur selten begangen worden sei, ist im Hinblick auf die Rechtsprechung der NS-Zeit ganz sicherlich ein Selbstbetrug15. Es gehört schon ein beträchtlicher Mangel an richtigem Urteil und gutem Willen dazu, ihre traurige Rolle unter der Hitler-Diktatur nicht bestätigen zu können oder gar beschönigen zu wollen. Dabei wäre es allerdings ebenso einseitig und verkehrt, nicht anzuerkennen, daß es auch manchen gewissenhaften und mutigen Richter gab, der sich um gerechte oder wenigstens vertretbare Urteile bemühte und selbst als Mitglied eines Sondergerichts Unrecht und Unheil verhütete. So hat der Verfasser noch selbst als junger Referendar erlebt, wie ein Landgerichtsrat am Telefon dem Oberlandesgerichtspräsidenten heftige Vorwürfe machte und sich, allerdings vergeblich, dagegen wehrte, als Beisitzer in einem Sondergericht eingesetzt zu werden, obwohl er in einer dienstlichen Beurteilung als „politisch unzuverlässig" bezeichnet worden sei. Einige Zeit später erreichte dann dieser Richter durch seine nachdrückliche Ausübung des richterlichen Fragerechts (§240 I StPO) und sein geschicktes Eingreifen in die Verhandlungsführung des Sondergerichts-Vorsitzenden, der mit der erklärten Absicht in die Sitzung gegangen war, ein Exempel zu statuieren und um jeden Preis ein Todesurteil zu verhängen, daß auch die entlastenden Umstände zur Sprache kamen und der Angeklagte wegen Wirtschaftsvergehens nur fünf Jahre Zuchthaus erhielt, was dessen Rettung vor der Guillotine und Entlassung aus der Strafhaft mit Kriegsende, dreiviertel Jahr nach dem Urteil, bedeutete. Fragt man, wie die Pervertierung des Rechtsdenkens und der Rechtsprechung nach 1933 so schnell und so leicht möglich war, ist als eine wesentliche, wenngleich nicht alleinige Ursache die unkritische Geisteshaltung zu nennen, die auf dem juristischen „Positivismus" und der im Grunde inhaltsleeren Formel „Gesetz ist Gesetz" beruhte, wie sie im militärischen Bereich durch den gedankenlosen Satz „Befehl ist Befehl" begünstigt und ergänzt wurde, auf jener Lehre, die die „Autorität der Staatshoheit" als maßgeblichen Gesichtspunkt betrachtete und von dem „Untertan" Gehorsam
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So schon Spendet in LeipzKomm., 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, RNr. 3 mit Anschauungsmaterial in RNr. 57 ff. zu §336 StGB.
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gegenüber jedem Gesetz verlangte, wie sie ihn weitgehend jedem militärischen Befehl gegenüber von dem „Untergebenen" forderte16. So lehrte etwa zu Ausgang des vergangenen Jahrhunderts der Rechtsphilosoph Bergbohm: „Als Recht ist jedes Recht außer dem positiven", d.h. dem staatlich gesetzten, „schlechthin ein Nonsens"17; der Staatsrechtler Georg Meyer: „Der Staat als die höchste Rechtsmacht auf Erden ist rechtlich durch keine Schranke gebunden, in rechtlicher Beziehung omnipotent"; und noch unglaublicher: „Selbst brutale Gewaltakte würden, wenn sie in der Form des Gesetzes aufträten, formell Recht, für Gerichte, Verwaltungsbehörden, Untertanen verbindlich sein"18; der spätere Kommentator der Weimarer Reichsverfassung Gerhard Anschütz: „Der Staat ist — rechtlich - allmächtig. Was manche Verfassungsurkunden vom Monarchen sagen, das gilt in Wahrheit vom Staate: er kann nicht Unrecht tun" (!?)19. Nach dem Staatsrechtler Richard Thoma war „es dem menschlichen Geist versagt, Naturrecht oder Vernunftrecht zu erschließen", und reichten „die erhabensten Lehren..., daß jedem Menschen gewisse Freiheiten und Rechte gebühren, die um der Menschenwürde und des geistigsittlichen Fortschrittes willen niemals angetastet werden dürfen, nicht aus zum Nachweis der Existenz und unmittelbaren juristischen Geltung schlechthin überstaatlicher und unantastbarer Rechtssätze"20. Und noch 1932, unmittelbar vor der Machtübernahme durch den
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Daß der Gesetzespositivismus einer der Gründe für das Versagen der Justiz unter dem NS-Regime war, betonen auch Radbruch in SJZ 1946, S. 105; Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968, S. 28 ff., 182 ff.; s. ferner Fritz v. Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung..., l.Aufl. 1946, S. 8. Dagegen zu Unrecht von seiner linken Ideologie aus Reifner, Juristen im Nationalsozialismus, in ZRP 1983, S. 13, 14/15 (kritisch zu seinen Thesen Bertram, Der Jurist und die „Rutenbündel des Faschismus", in ZRP 1983, S. 81); ferner schon Franßen, Positivismus als Strategie, in JZ 1969, S. 766. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, I.Bd. 1892, S. 479. Georg Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte, 1895, S. 14 und 15, Hervorheb, z. T. vom zitier. Verf. Anschütz, Der Ersatzanspruch aus Vermögensbeschädigungen durch rechtmäßige Handhabung der Staatsgewalt, in: VerwArch. 5. Bd. (1897), S. l, 14. Rieh. Thoma, Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der Deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, I.Bd. 1929, S. l, 50.
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Nazismus, meinte der Rechtsphilosoph und Strafrechtler Radbruch in seiner Lehre von der Rechtsgeltung: „Die Rechtswissenschaft, rein immanent wie sie ist, gefangen und befangen in einer bestimmten Rechtsordnung, deren Sinn zu ermitteln ihre einzige Aufgabe ist, kann die Geltung einer Rechtsordnung immer nur an ihrem eigenen Geltungsanspruch messen. ... Ja, sie wäre sogar unfähig, den Imperativen eines Paranoikers, der sich König dünkt, mit zwingenden Gründen die Geltung abzusprechen"21. Dieser juristische Positivismus beherrschte das Denken der Juristen vor 1933 weitgehend, auch wenn das Dogma von der Omnipotenz des Staates als Gesetzgeber schon in den 20er Jahren in der Rechtslehre immer mehr angezweifelt22 und auch in der Rechtsprechung nicht ausnahmslos anerkannt worden war23. Als das NS-Regime alsbald die schlechte Theorie praktizierte, die sie vertretenden Rechtsgelehrten auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 4. April 1933 aus den Lehrämtern jagte und z.B. die politischen Morde aus Anlaß der Rohm-Affäre durch das „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr" vom 3. Juli 1934 „als Staatsnotwehr" nachträglich für „rechtens" erklärte, erkannten plötzlich selbst die „Positivisten" das Unrecht solcher „Gesetze". Wenn Radhruch nach dem bitteren Anschauungsunterricht des NS-Terrorregimes gemeint hat, die Richter wären so „verbildet" gewesen, „daß sie ein anderes als das gesetzte Recht nicht kannten"24, so wird dabei vergessen, wie gerade die meisten Rechtsgelehrten und so auch Radbruch diesen juristischen Positivismus bejaht oder doch begünstigt haben, durch den die
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Radhruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, S. 77, s. auch S. 83/84. Vgl. dazu das lesenswerte Buch von Drost, Das Ermessen des Strafrichters, Zugleich ein Beitrag zu dem allgemeinen Problem Gesetz und Richteramt, 1930, S. l ff., 6 ff. 23 Zum Abweichen der Judikatur vom Dogma der staatlichen Gesetzesallmacht z. B. in der Aufwertungsfrage s. RGZ 107, S. 78, 88; auch RGZ 100, S. 129, 131/132; 104, S. 394, 397/398 und dazu Spendet in LeipzKomm., 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, RNr. 52 zu §336 StGB. " Radhruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in SJZ 1946, S. 105, 108 1. Sp. Dagegen ders. selbst in seiner „Einführung in die Rechtswissenschaft", 7. u. 8. Aufl. 1929, S. 33: „Es ist heute allgemein anerkannt, daß es anderes als .gesetztes', .positives' Recht nicht gebe." 22
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jungen Rechtsbeflissenen und späteren „Rechtswahrer" so „verbildet" wurden25. Die staatsgläubige, unkritische Haltung, die von den Juristen gegenüber dem Gesetzesinhalt erwartet wurde, fand ihre Entsprechung und Ergänzung in dem Gehorsam und der Disziplin, die von den Bürgern gegenüber staatlichen Hoheitsakten und von den Soldaten gegenüber militärischen Befehlen verlangt wurden. Das zeigte sich z.B. in der Auslegung der Deliktsmerkmale des „Widerstands gegen die Staatsgewalt" (§113 StGB) und in der Aufstellung des widersinnigen Begriffs eines „verbindlichen rechtswidrigen Befehls"26. Danach wurde zwar kein reiner Untertanengeist und kein blinder Kadavergehorsam gefordert27, aber doch gefördert. So handelt zwar nach richtiger Ansicht der Täter, der sich irrig von jemand angegriffen und daher in Notwehr gegen den vermeintlichen Angreifer zu verteidigen glaubt, trotz seines guten Glaubens rechtswidrig (Fall der Putativnotwehr); befindet sich dagegen ein Amtsträger trotz „pflichtmäßiger Prüfung" in diesem Wahn oder Irrtum, so wird nach herrschender Meinung seine Verletzung des Privaten zur „rechtmäßigen Amtsausübung (Diensthandlung)" aufgewertet28 und der sich mit Recht gegen die in Wahrheit widerrechtliche Amtshandlung wehrende Bürger noch wegen „Widerstandes gegen die Staatsgewalt" bestraft. So ist nicht etwa der schikanöse Zollbeamte, der abends im Schnee eine Frau zur nächsten Amtsstelle vor sich her trieb und stieß, obwohl er den Korb der im Grenzzollbezirk angetroffenen und auf dem Heimweg befindlichen Trägerin mit nicht zollpflichtigen Waren an Ort und Stelle hätte kontrollieren können, angeklagt worden, sondern die sich gegen den Beamten zur Wehr setzende Frau. Sie ist 25
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Daß Radbruch sich vom Positivismus schon früh, wenn auch zunächst nicht endgültig und eindeutig, zu lösen suchte, zeigen andere Sätze von ihm vor 1933, s. dazu mit Nachweisen Spendet, Jurist in einer Zeitenwende, Gustav Radbruch zum 100. Geburtstag, 1979,5.29. Dazu kritisch Spendelin LeipzKomm., 10. Aufl., 30.Lfg. 1982, RNr. 74ff. zu §32 StGB. Vgl. z.B. Schwinge, Militärstrafgesetzbuch, 6. Aufl. 1944, Anm. III. l.b) zu §47 MStGB (S. 107: „Im militärischen Leben gibt es somit den Grundsatz absoluten, d.h. blinden Gehorsams ebensowenig wie anderswo."). Vgl. z.B. RGSt. 44, S.353ff.; 67, S.337, 340 und dazu die Kritik von Spendet in LeipzKomm. RNr. 65 zu § 32 StGB.
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in der unteren Instanz zunächst auch verurteilt worden (!), und selbst das Reichsgericht, das die Angeklagte schließlich von dem Vorwurf des Widerstands gegen die Staatsgewalt freisprach, hat noch nicht einmal die Notwehr der Beschuldigten ausdrücklich festgestellt, sondern nur kurz die Frage „putativer Notwehr" gestreift (RGSt. 28, S. l, 4/5 [1895])29. So war es immer wieder möglich, daß bei Militär schikanöse Befehle erteilt und befolgt wurden, die selbst nach damaligem Recht bereits verboten waren, etwa der („das persönliche Ehrgefühl des Untergebenen kränkende" und eine „vorschriftswidrige Behandlung" i.S.d. früheren §121 MilStGB von 1872 darstellende) Befehl, aus einem Misthaufen mit bloßen Händen Stroh herauszulesen (RMilG 14, S. 97 [1909]) oder der Befehl, nachts im kalten Kasernenflur im Nachthemd barfuß Laufschritt zu machen (RMilG 17, S. 298 [1913] oder der (beliebte) Befehl an einen Rekruten, als Nichtschwimmer (hier: vom 3-m-Brett) ins Wasser zu springen, wobei dieser in dem zu entscheidenden Fall statt ins Schwimmbecken auf den Steinboden der Schwimmhalle sprang und beide Arme brach (RKG l, S. 38 [1937], wo das Gericht noch nicht einmal die Unverbindlichkeit des rechtswidrigen Befehls, sondern nur die Mißhandlung Untergebener ausdrücklich feststellte). Daß solche Befehle bereits früher rechtswidrig und sogar strafbar waren, ändert nichts an der Tatsache, daß sie allzu häufig gegeben und ausgeführt, ja geradezu zum Prinzip des militärischen Drills und der soldatischen „Disziplin" gemacht wurden. Bezeichnend für diesen auf Beugung des Willens und Erzwingung des Gehorsams angelegten „Kommißgeist" ist die zynische Äußerung Hitlers in seinem Buche „Mein Kampf" (II. Bd. 1927, Ges.-Ausg. 1939, S. 459), im Heer, das er als „die letzte und höchste Schule" vaterländischer Gesinnung pries, solle der junge Mann lernen, nicht nur zu gehorchen, sondern auch „Unrecht schweigend zu ertragen"! So ist es, wenigstens zu einem Teil, erklärlich, wenngleich nicht entschuldbar, daß Menschen, die als Bürger die Amtshoheit des Amtsträgers auch bei fehlerhaften Diensthandlungen weitgehend zu respektieren, als Soldaten der Befehlsgewalt ihrer militärischen Vor29
Vgl. ferner die Fälle in RGSt. 2, S. 411; 6, S. 432/433; 26, S. 22; 27, S. 153; 40, S. 2127 213, 215 unt. und dazu Spendet in LeipzKomm., 10. Aufl., 30. Lfg. 1982, RNr. 72, 97 ff. zu § 32 StGB.
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gesetzten auch bei üblen Schikanen möglichst zu gehorchen, als Juristen der Selbstherrlichkeit des staatlichen Gesetzgebers auch bei unrechtem Gesetzesinhalt unbedingt zu folgen gelernt hatten, als Richter unter dem NS-Regime willfährige Handlanger der Diktatur geworden sind. Die Obrigkeitshörigkeit allein erklärt natürlich noch nicht die Terrorjustiz zwischen 1933 und 1945. Andere Gründe wie Fanatismus, Karrierestreben usw. kamen oft hinzu, da es sonst nicht verständlich wäre, wieso manche Gerichte noch weit über das von der „Staatsführung" Erwartete hinausgingen, so etwa sowohl in dem vorstehend angeführten als auch in dem nachfolgend in der dritten Studie behandelten Fall, in dem die Sondergerichte jeweils wegen „Rassenschande" auf Todesstrafe erkannten. Aus diesen Motiven haben sich umgekehrt Richter auch antipositivistisch über angeblich „liberalistische" oder „formal-gesetzliche" Regelungen übereifrig hinweggesetzt, wie die zweite Abhandlung zeigt30. Mit dem militärischen, politischen, wirtschaftlichen und geistigen Zusammenbruch des NS-Regimes war auch der Justiz die große Chance geboten, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Ihr kam dabei zunächst, trotz der vielen Todesurteile unter dem früheren System, zugute, daß ihr Hitler bekanntlich mißtrauisch und feindselig gegenübergestanden hatte, ja ihre Repräsentanten verachtete. Die Richterschaft erschien daher zwar nicht gerade als Gegnerin oder gar Verfolgte des NS-Regimes, aber doch als die staatliche Institution, die ihm noch den meisten Widerstand entgegengesetzt hatte. Das Buch eines Richters (Schorn, Der Richter im Dritten Reich, 1959), der als Regimegegner aus seinem Amt entfernt worden war, konnte diesen Eindruck noch verstärken. Aber schon bald zeigten die vielen NS-Schandurteile, die einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden, und manche Nachkriegsurteile, die die Allgemeinheit empörten, ein anderes Bild. Wenn man erwartet hatte, daß die Rechtsprechung des neuen Staates eine Selbstreinigung vornehmen und nicht nur die allgemeinen NS-Verbrechen, sondern auch die NS-Justizverbrechen angemessen bestrafen würde, so sah man sich meist herb enttäuscht.
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Daß die nationalsozialistische Einstellung zur richterlichen Bindung an das Gesetz zwiespältig und willkürlich war, betont Arth. Kaufmann, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, in: Pol. u. Kult., 10.Jg. 1983, S. 3, 31/32.
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Denn die Richter, soweit sie unter dem beseitigten Regime gedient, aber nicht gefehlt hatten, waren offenbar zu sehr befangen, um die Schuldigen, ihre ehemaligen Kollegen, angemessen beurteilen und verurteilen zu können. Sie hatten ja selbst in mannigfachen Formen „mitmachen" und sich dem (immer verbrecherischer werdenden) Staatsapparat „einfügen" müssen, von der Ausführung des „Deutschen Grußes" bis zur Anwendung auch nationalsozialistischer Gesetze. Sie hatten nun, bewußt oder unbewußt, Hemmungen, den Stab über diejenigen zu brechen, die, z.B. als Kollegialmitglieder durch einen fanatischen Gerichtsvorsitzenden in rechtswidrige Verfahren und Verurteilungen verstrickt oder als jüngere Richter durch den damaligen Zeitgeist verblendet, Fehlurteile gefällt hatten. Nur zögernd, wenn nicht widerstrebend gingen so manche Staatsanwälte und Richter an die Aufgabe der Verfolgung nationalsozialistischer Justizverbrechen heran. Ein Anklagevertreter verstieg sich in einer Fachzeitschrift zu der angesichts der vielen NS-Terrorurteile mehr als befremdlichen Behauptung, daß die Rechtswidrigkeit der Todesurteile unter dem NS-Regime „die Ausnahme" gewesen sei31. Ein bekannter Senatsvorsitzender des Bundesgerichtshofs sprach bezüglich der Verfahrens- und Urteilsweise Freislers in einem unüberlegt hingeworfenen, etwas verworrenen Satz von der „Unmöglichkeit, sein Verhalten .objektive Rechtsbeugung' zu nennen"". Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar im Ergebnis richtig, aber in der Begründung z. T. grotesk die Aberkennung von Versorgungsansprüchen eines ehemaligen Polizeipräsidenten und ehrenamtlichen Beisitzers am VolksGH u. a. deshalb nicht von der Frage, ob er an rechtsbeugenden Entscheidungen dieses Gerichts mitgewirkt habe, abhängig gemacht, weil Richter „- wie z. B. der Präsident des Volksgerichtshofs Dr. Freisler - als fanatische Nationalsozialisten von der unmenschlichen und rechtsstaatswidrigen Denkweise des nationalsozialistischen Regimes so durchdrungen waren, daß ihnen ... der unbedingte Rechtsbeugungsvorsatz gefehlt haben mag"
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Eberh. Kaiser, Verantwortlichkeit von Richtern und Staatsanwälten wegen ihrer Mitwirkung an rechtswidrigen Todesurteilen, in NJW I960, S. 1328, 1330 l.Sp. Sarstedt, Fragen zur Rechtsbeugung, in: Heinitz-Festschr. 1972, S.427, 434, dazu nähere Kritik nachfolg. S. 75 ff., 82 f.
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(BVerwGE 26, S. 82, 87 [l 967])". Ein anderer Richter meinte in seiner Anmerkung zu einem Urteil des Bundesgerichtshofs, für den die Tat (Flucht von vier Matrosen nach der Tei/kapitulation am 5./ 6. Mai 1945, um nicht in feindliche Gefangenschaft zu geraten) und die Strafe (Todesurteile eines Marinekriegsgerichts nach der Gesamtkapitulation am 9. Mai und Urteilsvollstreckung am 10. Mai 1945) „in unerträglichem Mißverhältnis" standen und „an der objektiven Rechtswidrigkeit der Todesurteile" kein Zweifel war, daß der Ermessensmißbrauch bei der Strafmaßbestimmung keine Rechtsverletzung sei34. Und die mit dem hanebüchenen Fall befaßten Schwurgerichte wollten schon gar nichts davon wissen, daß die Mitglieder des Kriegsgerichts auch das Unrecht dieser Todesurteile erkannt haben könnten. So hat die Sache zweimal den gerichtlichen Instanzenzug durchlaufen und insgesamt fünf Urteile erfordert, um schließlich, wie so manche anderen Nachkriegsverfahren, mit einem empörenden Freispruch zu enden35. Die vom BGH im Ergebnis vertretene Auffassung, die Mitglieder des Kriegsgerichts hätten angesichts der offensichtlichen Maßlosigkeit der Strafe zumindest ein bedingtes Bewußtsein vom Unrecht ihrer Entscheidung gehabt, erklärte das SchwG Hamburg in seinem dritten und letzten Spruch einfach für „nicht richtig"36. Hier wie in anderen Fällen drängt sich der begründete Verdacht auf, daß die Nachkriegsrechtsprechung die subjektiven Tatvoraussetzungen weniger nicht feststellen konnte als nicht annehmen wollte. Oder was soll man sonst noch dazu sagen, wenn in dem vorstehend erwähnten Rassenschande-Ful Holländer (s. oben S. 3/4 zu Anm. 12) das SchwG Kassel nach 1945 zweimal zu dem Ergebnis kam, es sei für die früheren Mitglieder des Sondergerichts als „überzeugte, ja sogar fanatische Nationalsozialisten" wegen der „Möglichkeit der Rechts35
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Zum Volksgerichtshof s. Gribbohm in seinem gleichnamigen Aufsatz in JuS 1969, S. 55, 109; Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 1974; zu dem letzten Präsidenten Freisler s. Buchheit, Richter in roter Robe, 1968. So Günther Schnitz in seiner Anm. zum Urt. d. BGH in MDR 1952, S. 695. Zu dem Marinekriegsgericbts-Fall s. Just. u. NS-Verbr. V, S. 257 (=OGHSt. /, S.217, l.Rev.-Urt.); S. 193 (SchwG Hamburg, 2. erstinst. Urt.); X, S. 504 (= BGH in MDR 1952, S. 693, gekürzt, 2.Rev.-Urt.); S. 449 (SchwG Hamburg, 3. erstinst. Urt.). SchwG Hamburg (3. erstinst. Urt.) in Just. u. NS-Verbr. X, S. 449, 490.
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Blindheit" kein Rechtsbeugungsvorsatz zu bejahen37. Welches Ausmaß geistiger Beschränktheit und Verbohrtheit wird hier den NSRichtern von ihren Kollegen entlastend zugebilligt, über die ein Gericht bei einem Nichtjuristen als Täter hinwegginge! Wenn der rechtsunkundige Laie ein Tier nicht für eine „Sache" i. S. der Gesetze und dessen vorsätzliche Verletzung nicht für eine „Sachbeschädigung" i. S. d. § 303 StGB hält, wird das als ein unbeachtlicher „Subsumtionsirrtum" betrachtet; wenn dagegen der rechtskundige #zcÄfer einen Juden auf Grund von vier Liebesverhältnissen mit arischen Frauen und der darin gesehenen „Rassenschande" als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher" qualifizieren und deshalb zum Tode verurteilen zu dürfen glaubte, soll dies eine beachtliche Überzeugung oder strafbefreiende Vorstellung sein. In Wahrheit ist hier der Urteilende nicht ein straf/oser Irrtums-, sondern ein in seiner fanatischen NSIdeologie befangener strafbarer Überzeugungstäter, der sehr wohl wußte, daß seine Meinung selbst nicht von allen Vertretern des NSRegimes geteilt wurde38. Wie sehr die Nachkriegsjustiz geeignet ist, Mißtrauen zu erzeugen, bestätigen z.B. auch folgende Entscheidungen: Im Falle des KGRats Rehse, des juristischen Beisitzers im NS-Volksgerichtshof unter Vorsitz des berüchtigten Roland Freisler39, hielten die nach 1945 damit befaßten Gerichte, d. h. der BGH und das SchwG Berlin in seinem zweiten Urteil40, den Rechtsbeugungsvorsatz für problematisch und glaubten ihn verneinen zu müssen, obwohl Freislers rüde, das Prozeßrecht gröblich verletzende Verhandlungsführung Rehse „seelisch stark belastete" und er die völlig ungenügende Beratung und Begründung der Todesurteile durchaus erkannte. Selbst der NS-Reichsjustizminister Thierack hatte einmal den Präsidenten des Volksgerichts37 38 39 40
SchwG Kassel in: Moritz/Noam, Justiz und Judenverfolgung, II.Bd.: NS-Verbrechen vor Gericht 1945-1955, 1978, S.308, 315 (l.Urt.); S.320, 326 (2.Urt.). Vgl. dazu näher Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, RNr. 99 u. 87 zu § 336 StGB mit weit. Nachw. Rehse hat im VolksGH an 231 Todesurteilen mitgewirkt, s. SchwG Berlin in DRichtZ 1967, S. 390, 391 l.Sp. BGH in NJW 1968, S. 1339, 1340; zum 2. - freisprechenden - Urteil des SchwG Berlin s. Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 1974, S. 856; and. noch das 1. - verurteilende - Erkenntnis des SchwG Berlin, s. DRichtZ 1967,5.390,393.
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hofs in einem Schreiben auf die zu weitgehende Anwendung eines Kriegsgesetzes, und zwar auf die fehlerhafte Auslegung des Tatbestandsmerkmals „öffentlich" in der KriegssonderstrafrechtsVO (KSStVO), hingewiesen41. Noch mehr muß aber Vertrauen erschüttern und Kritik erregen, daß die Gerichte nach 1945 den Tötungs- und Rechtsbeugungsvorsatz der Mitglieder des Volksgerichtshofs, also den des Vorsitzenden wie zumindest seines juristischen Beisitzers Rehse, dann bejahen konnten, wenn die Mitwirkung eines Laien und Zeugen an eben diesem durch Rechtsbeugung begangenen Justizmord zur Aburteilung stand. So hat der BGH (NJW 1956, S. 1485, 1486 r.Sp. letzt. Abs.) in dem Strafverfahren gegen den weiblichen Gestapo-Spitzel, der durch seine Denunziation den Priester Dr. Metzger vor den Volksgerichtshof gebracht hatte und nun nach 1945 wegen Beihilfe zum Mord angeklagt worden war, richtig ausgeführt: „Die Verurteilung Dr. Ms. und die Vollstreckung des Todesurteils gegen ihn waren daher eine vorsätzliche rechtswidrige Tötung" (also doch auch vorsätzliche Rechtsbeugung!) „unter dem Deckmantel der Straf rechtspflege"42! Hier wird mit zweierlei Maß gemessen! Wird ein Laie wegen seiner Mitwirkung an einem rechtswidrigen Todesurteil des Volksgerichtshofs, begangen durch seine Spitzeldienste und seine Zeugenaussage, angeklagt, so kann das Nachkriegsgericht implicite auch das Unrechtsbewußtsein der NS-Richter hinsichtlich ihrer Todesurteile erkennen und bejahen; kommen die NS-Richter selbst auf die Anklagebank, so ist dem Nachkriegsgericht diese Erkenntnis plötzlich verschlossen und wird von ihm das Unrechtsbewußtsein verneint. Und noch sonderbarer und befremdlicher wird die Sache, wenn man feststellen muß, daß bei der zweiten Veröffentlichung der höchstrichterlichen Entscheidung gegen die Denunziantin, d.h. bei dem Abdruck des BGH-Urteils in der amtlichen Sammlung, der Absatz aus den Urteilsgründen, der die maßgebliche Charakterisierung des NS-Todesurteils als „vorsätzlicher rechtswidriger Tötung" 41 42
SchwG Berlin in DRichtZ 1967, S.391 l.Sp. u. 390 r.Sp. Das Todesurteil des VolksGH v. 14.10.1943 (Vorsitzender Freister, juristischer Beisitzer Rehse) gegen Dr. Metzger ist abgedruckt bei Bened. Maria Kempner, Priester vor Hitlers Tribunalen, 1966, S. 282 ff., 285.
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enthält, kurzerhand ohne erkennbaren Anlaß weggelassen worden ist43. So wird der gravierende Widerspruch, der vorstehend gerügt wurde, aus welchen Gründen auch immer, objektiv verwischt44. Aber nicht nur in solchen Fallentscheidungen, sondern auch allgemein in Auslegungsfragen verrät sich die mangelnde Bereitschaft unserer Justiz, Justizverbrechen zu verfolgen, so schon in der früheren Deutung des Rechtsbeugungsvorsatzes, den die Judikatur schließlich auf die Form des direkten beschränkt hat. Soweit das Gesetz keine Ausnahmen zulaßt, ist ein Vorsatzdelikt regelmäßig in zwei Formen subjektiv begehbar - mit direktem wie mit bedingtem Vorsatz. Das muß auch für das Verbrechen der Rechtsbeugung gemäß § 336 StGB gelten. Denn es ist nicht einzusehen, warum ein Richter, der eine rechtsverletzende Entscheidung (z. B. die rechtswidrige Verurteilung eines Angeklagten ohne Nachweis der Schuld) für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, also bedingt-vorsätzlich das Recht zum Nachteil des Beschuldigten beugt, nicht bestraft und damit günstiger gestellt werden sollte als ein juristischer Laie, z. B. ein Arzt, der die Fehlerhaftigkeit und Tödlichkeit seiner Behandlung des Patienten in Betracht zieht und sich gleichwohl mit ihr abfindet. Der BGH hatte denn auch nach 1945 zunächst richtig einen bedingten Rechtsbeugungsvorsatz als ausreichende subjektive Strafbarkeitsvoraussetzung anerkannt45, seine ersten Entscheidungen in dieser wichtigen Frage aber recht bald aufgegeben und mit einer undurchdachten Meinung in der Rechtslehre nur den direkten Rechtsbeugungsvorsatz als hinreichend anerkannt, da sonst angeblich die richterliche Unabhängigkeit gefährdet sei46. Die Rechtsprechung hat damit die Strafvorschrift des § 336 StGB selbstherrlich und sinnwidrig „umfunktioniert" 47 und sich ein „befremdliches Justizprivileg" ange43
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Vgl. einerseits den ersten Abdruck des BGH-Urteils in NJW 1956, S. 1486 r.Sp. letzt. Abs., andererseits den zweiten Abdruck in BGHSt. 9, S. 308/309! Vgl. schon die Kritik bei Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, RNr. 93 mit Anm. 120 zu §336 StGB. BGH in Just. u. NS-Verbr. X, S. 233, 235; 504, 507 (= MDR 1952, S. 693, 694 \.Sp.);XIII, S. 336, 343. BGHSt. 10, S.294/295, 298; BGH in NJW 1971, S.573, 575. Dellian, Haftungsprivileg des Richters im Strafrecht? in ZRP 1969, S. 51; ähnlich Seebode, Versteckte Strafrechtsreform - geringere Richterverantwortlichkeit? in ZRP 1973, S. 239, 240 („Selbstschutz contra legem").
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maßt48, das ihr nicht zukam. Erst eine gesetzliche Klarstellung bei der Neufassung des §336 StGB, die auf die zunehmende Kritik in der Rechtslehre zurückging, mußte dem ein Ende machen. Dennoch sind schon wieder Bestrebungen im Gange, das Gesetz zu manipulieren und den Rechtsbeugungsvorsatz auf den direkten (unbedingten) einzuengen49. Auch der BGH hat in einer nicht veröffentlichten Entscheidung zu §336 StGB nach dessen gesetzlicher Neufassung sich nicht zu einer Anerkennung der Rechtslage, d. h. des bedingten Vorsatzes durchringen können, sondern die Frage, die in Wahrheit keine ist, ausdrücklich offengelassen50. Angesichts all solcher Erscheinungen nimmt es nicht wunder, wenn auch nach 1945 wieder oft heftige Justizkritik geübt worden ist. Schon die vielen unbegreiflich milden Strafurteile oder als skandalös empfundenen Freisprüche zu den allgemeinen NS-Verbrechen, insbesondere den Massenmorden und Ausschreitungen in den Konzentrationslagern, lösten Vorwürfe gegen die Rechtsprechung aus. Die Ständige Deputation des Deutschen Juristentages lud deshalb Anfang 1966 eine Reihe von theoretischen und praktischen Juristen zu einer Klausurtagung ein, die die mit der Verfolgung, und Ahndung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zusammenhängenden strafrechtlichen und strafprozessualen Fragen erörterte51. Trotz mancher treffenden Einzelbemerkung blieb und bleibt die ganze Diskussion um die Aburteilung der NS-Greuel und die Haltung der Nachkriegsrechtsprechung von einem „Wenn und Aber" beherrscht; die Stimmen lassen nicht immer eine echte und tiefe Empörung über das, was in zwölf Jahren NS-Herrschaft geschehen ist, eine eindeutige und einhellige Entschließung, mit den begangenen Verbrechen „abzurechnen", vernehmen. Im Gegenteil, man fragte nach einem „übergesetzlichen Schuldminderungsgrund" für die in die staatliche Verbrechensmaschinerie verstrickten und von staatlichen Parolen verblende48 49
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Mattracb/Schroeder, Strafrecht, Besond. Teil, 2.TBd., 6. Aufl. 1981, S. 194 (§74 115). Vgl. zu allem näher mit weit. Nachweisen Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, RNr. 77 ff., 82 zu §336 StGB und nachfolgend S. 55. BGH bei Holtz in MDR 1978, S. 626. Verhandl. d. 46. DJT 1966, II. Bd. 1967, Teil C: Probleme der Verfolgung und Ahndung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.
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ten Täter52. Man fand mehr schwierige und große Probleme als einfache und klare Lösungen53. Kurz - wo schreiendes Unrecht und schwerste Schuld unzweifelhaft waren, wurde die gerechte Strafe in Zweifel gezogen oder - wie neuerdings Rudolf Wassermann, selbst hoher Richter, treffend gesagt hat - „wo Buße not tat, wurde nach Entlastung gesucht"54. Soweit im besonderen die Justizverbrechen unter dem NS-Regime und deren Beurteilung durch die Nachkriegsjustiz zur Debatte stehen, sind die Stimmen seltsam geteilt und die Äußerungen noch unausgeglichener und ungenauer. Auf der einen Seite finden sich die Autoren, die nach bekannter Vogel-Strauß-Politik vor den vielen NSSchandurteilen und - nicht weniger schlimm! - vor den nicht gerade seltenen Fehlentscheidungen hierüber nach 194555 die Augen verschließen und sich vormachen, eine Rechtsbeugung sei auch in der NS-Justiz kaum vorgekommen56. Auf der anderen Seite begegnet einem die Ansicht, kein Richter sei wegen seines Terrorurteils von einem Nachkriegsgericht bestraft worden57. Weder die erste noch die zweite Behauptung ist richtig. Tatsächlich sind einige Richter auf Grund ihrer maßlosen Strafurteile zur Rechenschaft gezogen und bestraft worden58. Aber diese Fälle kann man an der Hand abzählen, und sie betrafen Standgerichtsurteile gegen Ende des Krieges. Das 52
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Hanack, Zur Frage geminderter Schuld der vom Unrechtsstaat geprägten Täter, in: Verh. d. 46. DJT 1966, II. Bd. 1967, Teil C, S. 53, 56. Vgl. z. B. Hanack, Zur Problematik der gerechten Bestrafung nationalsozialistischer Gewaltverbrecher, 1967, S. 4, 7. Rud. Wassermann in seinem so betitelten Aufsatz in Recht u. Politik, 19. Jg., 1983, S. 5. Vgl. dazu mit Nachw. Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, RNr. 11, 57, 92 zu § 336 StGB. Vgl. dazu schon im vorhergehenden S. 5 zu Anm. 15 und S. 11 zu Anm. 31. So z. B. Rasehorn, Der Richter im NS-Staat und die Anpassungstradition der Justiz, in Frankf. Hefte 1979, S. 34, 37 r.Sp. Zu Verurteilungen von fierw/mchtern in Standgerichten s. OLG Nürnberg in Just, u. NS-Verbr. II, S.318 (Regensburger Fall); BayObLG a.a.O. VII, S. 175 Anm. l (Lohrer Fall). - Zur Bestrafung von Offizieren als Mitgliedern und Anklägern eines Standgerichts s. BayObLG in Just. u. NS-Verbr. VI, S. 591 (Aschaffenbarger Fall); BGH a. a. O. X, S. 233" (Zellinger Fall). Zu dem ersten und letzten Fall näher Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, RNr. 58, 97, 115 und 131 f. zu §336 StGB.
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spricht nicht etwa für die Rechtlichkeit der Vorkriegsjustiz, sondern in Anbetracht der vielen Terrorentscheidungen des VolksGH und der Sondergerichte - gegen die Richtigkeit der Afoc/>kriegsrechtsprechung, die die Bereitschaft zur Selbstreinigung vermissen ließ. So muß die Bilanz erschrecken und kommt per Saldo einer Bankrotterklärung gleich. Unsere Justiz darf sich daher nicht wundern, wenn sie sich „dem Verdacht" aussetzt, „daß sie aus falsch verstandener Kollegialität unfähig ist, verbrecherische Urteile von Kollegen zu ahnden"59. Man wird fatal an das bekannte Wort von den Krähen, die einander nicht die Augen aushacken, erinnert. Unberechtigte Kritik an der Rechtsprechung erregt weit mehr Widerspruch, wie die Diskussion in Tagespresse und Fachzeitschriften um den falschen Nachspann (Schriftbild) des Films über Freislers VolksGH-Prozesse gegen die Widerstandsgruppe „Weiße Rose" bewies60, als berechtigte Kritik an skandalösen Freisprüchen von NS-Blutrichtern Zustimmung findet, wie die Auseinandersetzung um den Fall des Beisitzers im Freislerschen Senat, des KGRats Rehse, zeigte61. Daß schließlich auch in manchen Presseorganen als angeblichen Repräsentanten der Öffentlichkeit einer Einstellung der Verfolgung von NS-Richtern das Wort geredet wird, sei nur am Rande vermerkt62. 59
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So für den Fall, und dann „für immer", daß die Justiz bei den seit 1979 (!) wieder aufgenommenen,- bisher (1983) aber ohne Erfolg gebliebenen (d.h. noch nicht einmal zur Anklage gediehenen) Ermittlungen gegen ehemalige Richter und Ankläger des NS-Volksgerichtshofs auf eine „biologische Lösung", also auf die Erledigung der Verfahren durch den Tod der betagten Beschuldigten hoffen sollte, Rud. 'Wassermann in Recht u. Politik, 19.Jg. 1983, S. 5, 10 l.Sp. Zum Stand dieser Berliner Ermittlungen jetzt v. Feldmann in Krit.Just. 1983, S. 306. Vgl. z. B. die Leserzuschriften und Stellungnahmen in der Frankf. Allgem. Zeit. v. 16.10.82, Nr. 240/S.8 (Fikentscher), v. 1.11.82, Nr. 253/S.ll (Verhoeven/ Krebs), v. 18.11.82, Nr. 267/S.6 (BGH-Präs. Pfeiffer) u. S. 12 (fr.), v. 4.12.82, Nr. 281/S. 8 (Verhoeven), v. 27.12.82, Nr. 299/S. 9 (Repgen), v. 22.1.82, Nr. 187 S. 19 (Wiesner). Klärend zu diesem Streit Fikentscher/Koch, Strafrechtliche Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, in NJW 1983, S. 12; Helmut Weber/ Engel, Der Film die „Weiße Rose" und die Rechtslage bei Urteilen des Volksgerichtshofs, in JZ 1983, S. 192. Dazu Rud. Wassermann in Recht u. Politik, 19. Jg. 1983, S. 5, 6. Vgl. den Leitartikel „Späte Abrechnung" von Fr. K. Fromme in der Frankf. Allg. Zeit. v. 9.8.1982, Nr. 181/S. l und dazu die Leserzuschrift des Verf. in FAZ v. 31.8.82, Nr. 200/S. 6, die allerdings um zwei die Ausführungen durch literarische Nachweise stützende Sätze gekürzt wurde.
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Bei der Justizkritik nach 1945 ist auffallend, daß sie sich mit Vorliebe in allgemeinen und soziologischen Betrachtungen über Fragwürdigkeiten der Rechtsprechung und ihre Vertreter ergeht, nicht aber zu einer kritischen Analyse konkreter Fälle, insbesondere der Justizverbrechen in der NS-Zeit und deren z. T. falsche Beurteilung in der Nachkriegsjudikatur, gelangt63. Wie man einerseits den „sozialpsychologischen Hintergrund" beschwört, um die Greueltaten der zu Richtenden zu erklären oder mehr oder minder zu entschuldigen64, so werden andererseits der „soziologische Hintergrund des Richters"65 oder die „weltanschaulichen Hintergründe" der Rechtsprechung66 bemängelt, so etwa, daß die Richter nur zum geringen Teil aus der Arbeiterschaft stammen67 - als ob sich die verschiedenen Klassen und Berufe möglichst angemessen auf die Rechtsbeflissenen verteilen müßten. Diese ganzen „hintergründigen" Reflexionen sind z. T. doch recht vordergründig und fragwürdig. Ob man gute Ärzte, Gelehrte, Geistliche, Ingenieure, Künstler usw. hat, hängt letztlich auch nicht entscheidend von deren sozialer Herkunft ab. Und wenn mit Fug und Recht vom Richter „vorurteilslose Welterfahrung" und „Weite des Gedankens" gefordert wird68, so fragt sich, da neben Schule und Universität das Elternhaus ein maßgeblicher Erziehungsfaktor ist, ob diese Eigenschaften in den sozialen Schichten, aus denen sich bisher nur ein ganz geringer Teil unserer Richter rekrutierte, besser gedeihen. Es ist noch keineswegs ausgemacht, daß eine aus „nicht gehobenen Klassen" stammende Richterschaft dem NS-Regime mehr Widerstand entgegengesetzt hätte und nicht im Gegenteil noch mehr von den Parolen und Phrasen 63
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Das gilt selbst für das umfangreiche Werk von Weinkauff/Albrecht Wagner, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968. Einen allerdings nicht immer fundierten Versuch, auch konkrete Justizverbrechen näher zu charakterisieren und zu kritisieren, unternimmt Ilse Staff, Justiz im Dritten Reich, 2. Aufl. 1979. Hanack in: Verh. d. 46.DJT 1966, II. Bd. 1967, Teil C, S. 53. Rasehorn, Was formt den Richter? in: Böhme (Hrsg.), Weltanschauliche Hintergründe in der Rechtsprechung, 1968, S. 11. Böhme a. a. O. und darin Rieh. Schmid, Weltanschauliche Hintergründe in der Strafrechtsprechung, S. 31. Berra (= Rasehorn), Im Paragraphenturm, 1966, S. 21 ff., Rud. Wassermann, Richter, Reform, Gesellschaft, 1970, S. 28, 31. Rud. Wassermann a. a. O. S. 35, 40.
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der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" verführt worden wäre. Dagegen ist nicht zu bestreiten, daß „gerade Personen, die man nach ihrer ganzen Haltung konservativen Kräften zurechnen muß, sich oft immun gegen den Nationalsozialismus zeigten"69. Bleibt schon die Kritik an der NS-Justiz meist im allgemeinen stecken, so begnügt sie sich noch mehr mit summarischen Verdikten über einzelne Fehlentscheidungen zu Justizverbrechen in der Nachkriegsrechtsprechung. Die Rechtswissenschaft, der in erster Linie die Aufgabe zukäme, sich mit solchen Urteilen im wahrsten Sinne des Wortes „auseinander-zu-setzen", vermeidet fast ganz jede kritische Würdigung und ergeht sich dafür lieber in Abhandlungen über theoretische Fragen, die in meist geschraubter und gestelzter Diktion Gelehrsamkeit vortäuschen, wo in Wahrheit nur ein juristisches Glasperlenspiel vorgeführt wird. Im Gegensatz zu dieser Sachlage wird in den folgenden fünf Studien unternommen, konkrete Fälle und Fragen der Rechtsbeugung durch Richter näher zu untersuchen und Schandurteile aus der NS-Zeit und Fehlentscheidungen wie falsche Lehrmeinungen der Nachkriegszeit bloßzulegen. Die Abhandlungen dürften dem aufgeschlossenen und vorurteilsfreien Leser zeigen, daß die Kritik an der Justiz vor wie nach 1945 alles andere als unbegründet ist, ja, daß sie not tut, weil wirklich in unserer Rechtsprechung in dieser Hinsicht nicht alles zum besten steht. Nicht ohne Grund haben Krisis und Kritik im Griechischen die gleiche Wortwurzel. Wo eine Krisis besteht, d. h. ein Mißstand oder eine Notlage - hier für das Recht -, die zur Entscheidung und Abhilfe drängt, da bedarf es auch der Kritik, d. h. der Prüfung und Beurteilung dieser Sachlage, der Ermittlung und Aufdeckung ihrer Kennzeichen und Mängel, um die Krise beheben zu können. Das gilt nicht zuletzt für Richter und Rechtsprechung, deren Weg zum Recht selbst ein ist, ein Scheiden und Sichten, ein Auswählen und Verwerfen, ein Beurteilen und Verurteilen, ist doch bezeichnenderweise in der griechischen Sprache ein Wort für Richter auch der Ausdruck , „Kritiker".
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Rud. Wassermann a.a.O. S.21, 24 selbst.
2. Zur Problematik der Rechtsbeugung Ein Fall vorweggenommenen Gesetzesunrechts"' Ein großes und allgemeines Problem des Rechts ist das Verhältnis von Gesetz und Richter. Es ist von Radbruch in seiner prägnanten und erhellenden Formulierungsweise, die mit seine Besonderheit und Stellung in der Rechtswissenschaft ausgemacht hat1, unter zwei entgegengesetzten Blickwinkeln gesehen und gekennzeichnet worden. Noch im Jahre 1932, am Vorabend der Diktatur, hat er im Hinblick auf den Wert der Rechtssicherheit die zugespitzte und bedenkliche These gewagt: „Der Richter, indem er sich dem Gesetze ohne Rücksicht auf seine Gerechtigkeit dienstbar macht, wird also trotzdem nicht bloß zufälligen Zwecken der Willkür dienstbar. Auch wenn er, weil das Gesetz es so will, aufhört, Diener der Gerechtigkeit zu sein, bleibt er noch immer Diener der Rechtssicherheit. Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt"2. Und schon vorher hatte derselbe Autor festgestellt: „Es ist heute allgemein anerkannt, daß es anderes als ,gesetztes', »positives' Recht nicht gebe"3. Nur vierzehn Jahre später, nach dem bitteren Anschauungsunterricht eines Terrorregimes, hat sich Radhruch im Rückblick auf die Mißachtung der Gerechtigkeit zu der Gegenthese bekannt, es stehe dem „gesetzlichen Unrecht" doch ein „übergesetzliches Recht" gegenüber und die Richter hätten nicht so „verbildet" sein dürfen, „daß sie ein anderes als das
* Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 1968, S. 312. 1 Vgl. dazu Spendet, Gustav Radbruch - Lebensbild eines Juristen, 1967, S. 32. 2 Radbrttcb, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, S. 83/84. 3 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 7./8. Aufl. 1929, S. 33.
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Zur Problematik der Rechtsbeugung
gesetzte Recht nicht kannten"4. Damit sind die beiden extremen Positionen fixiert, die man zu diesem sich so leicht zu einem Spannungsverhältnis auswachsenden Gegensatz von Richter und Gesetz einnehmen kann und die Radbruch selbst im Laufe eines von Widersprüchen nicht freien, schmerzlichen Wandlungsprozesses eingenommen hat - die positivistische Haltung auf der einen, die natur- oder vernunftrechtliche auf der anderen Seite. Es bedarf keiner langen Darlegung, daß dieses große Problem im Strafrecht besonders im Verbrechen der Rechtsbeugung sichtbar werden muß. Denn wenn hier die vorsätzliche Beugung des Rechts durch einen Richter5 bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei mit Zuchthaus [jetzt: „Freiheitsstrafe"] bestraft wird, drängt sich sogleich die Frage auf, ob der Tatbestand des § 336 StGB auch durch Anwendung eines Schandgesetzes verwirklicht werden kann. Wer „Gesetz" gleich „Recht" setzen wollte, wird dies verneinen müssen, wie es ja auch einige Autoren tun6. Wer dagegen richtigerweise das Gesetz nur als eine, wenngleich die wichtigste Form des Rechts ansieht und über dem staatlichen, geschriebenen Recht ein höheres, übergesetzliches anerkennt7, wird eine Rechtsbeugung durch Anwendung eines unrechten Gesetzes für möglich halten, was heute wohl überwiegende Meinung ist8. Wann solche ungültigen Normen vorliegen und wie sie als solche zu erweisen sind, darüber gehen allerdings die Ansichten weit ausein4
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Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in SJZ 1946, S. 105, 1081.5p. Genau gesagt spricht das alte Gesetz vom „Beamten", das neue auch vom „Amtsträger", so daß es eine interessante Auslegungsfrage ist, ob auch ein Verwaltungsbeamter, z. B. ein Steuerbeamter bei der Bearbeitung einer Steuererklärung darunter fällt [s. jetzt dazu Spendet in LeipzKomm., 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, §336 RNr. 50 ff., 53 Evers, l· Die Strafbarkeit des Richters wegen Anwendung unsittlicher Gesetze, in DRiZ 1955, S. 187; Schlösser, Strafrechtliche Verantwortlichkeit ehemaliger Richter an Sondergerichten, in NJW 1960, S. 943. Vgl. dazu z. B. aus der Sicht des Kriminalisten die immer noch instruktiven Ausführungen von Drost, Das Ermessen des Strafrichters. Zugleich ein Beitrag zu dem allgemeinen Problem Gesetz und Richteramt, 1930, S. 1-12. Vgl. Schönke-Schröder, Komm., 13. Aufl. 1967, RNr. 5 zu §336 StGB mit weit. Nachweisen [vgl. heute dazu Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, §336 RNr. 50 ff., 53].
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ander. Ist z.B. das berüchtigte „Blutschutzgesetz" des NS-Regimes9, insbesondere die Strafbestimmung wegen „Rassenschande", ein derartiges „gesetzliches Unrecht" gewesen? Die These wird in der Theorie verschiedentlich vertreten10. Aber so unerhört der Erlaß des genannten Gesetzes war und vielen auch erschien — ob seine Anwendung eine Rechtsbeugung darstellte, diese Frage ist zweifelhaft und jedenfalls in der Praxis noch nie bejaht worden. Man braucht heute nur an die Rassengesetzgebung der Südafrikanischen Union zu denken, um die Schwierigkeit einer befriedigenden Antwort zu erkennen. Um so interessanter dürfte der nachfolgend erörterte ungewöhnliche Fall sein, der das Problem von der Kehrseite zeigt: Nichtanwendung des Gesetzes, die angeblich einem höheren, natürlichen Recht diente, in Wirklichkeit aber gerade dadurch das wahre Recht verletzte und großes Unrecht war. Im Jahre 1935, wenige Monate vor Erlaß des genannten „Nürnberger Blutschutzgesetzes", hatte in dem jetzigen Bundesland Hessen ein „arischer" Mann bei dem zuständigen Standesbeamten das Aufgebot mit einer Jüdin beantragt, und zwar mit der Begründung, die - man muß schon sagen - im wahrsten und ursprünglichen Sinne des Wortes „treuherzig", weil ebenso anständig und treffend wie „unklug" und gefährlich war, daß er mit seiner Braut seit längerem ein Liebesverhältnis unterhalte und sie in der für sie immer schwerer werdenden Zeit (!)n nicht im Stich lassen könne. Der Standesbeamte, ein fanatischer „Hoheitsträger der Partei", empfand diesen Antrag als eine Provokation und war auch nicht durch den Hinweis des Gesuchstellers auf die eindeutige Rechtslage und die Anweisungsmöglichkeit des Amtsgerichts dazu zu bewegen, dem begründeten Begehren stattzu9
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„Gesetz zum Schütze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom 15.9.1935, §2 („Außerehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten"), § 5II („Der Mann, der dem Verbot des §2 zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder mit Zuchthaus bestraft"), ferner §11 II der l.AusfVO vom 14.11.1935 („Rassenschande"). Sauer, System der Rechts- und Sozialphilosophie, 2. Aufl. 1949, S.246; Klug, Der Rechtsstaat und die Staatsphilosophie der geordneten Anarchie, in Festg. f. Ernst v. Hippel, 1965,5.157. In einer Zeit, in der sich ja andere Ehegatten von ihrem jüdischen Partner scheiden ließen!
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Zur Problematik der Rechtsbeugung
geben. Der von dem Beteiligten darauf gemäß §§ 11, 48 PersStG von 1875 (heute §45) gestellte Antrag, den Standesbeamten zum Erlaß des Aufgebots anzuhalten, wurde von dem Amtsrichter, ebenfalls einem erklärten Anhänger des damaligen Regimes, in einem von nazistischen Phrasen triefenden Beschluß abgelehnt, da die einschlägigen eherechtlichen Vorschriften, obwohl sie eindeutig für den Gesuchsteller sprächen, nicht mehr auf Grund des höheren ungeschriebenen Rechts, wie es sich aus der nationalsozialistischen Weltanschauung und NS-Gesetzen ergäbe, gültig wären12. Nach diesem Beschluß, den der später denn auch zum Landgerichtspräsidenten ernannte Amtsrichter an alle möglichen Dienststellen gesandt hatte, ordnete der Reichsinnenminister in einem Erlaß an, die Bearbeitung solcher Anträge in den Standesämtern zurückzustellen, weil eine gesetzliche Regelung in Aussicht genommen sei. Die gegen den amtsrichterlichen Beschluß erhobene Beschwerde wurde vom Landgericht verworfen, obwohl die Kammer nicht verkannte, daß das Gesetz die erstinstanzliche Entscheidung nicht stützte, und der Ministerialerlaß für das Gericht in Wahrheit nicht verbindlich war13. Sie sah aber in der Verwaltungsanordnung eines engen Mitarbeiters und Paladins des „Führers" den Ausdruck des Führerwillens, der für die Beschwerdekammer „schlechthin bindend" wäre. Einige Zeit später wurde der Gesuchsteller, der nunmehr mit seiner jüdischen Braut in wilder Ehe zusammenlebte, auf Grund des inzwischen ergangenen „Blutschutzgesetzes'' wegen „Rassenschande" in Untersuchungshaft genommen, in der er sich erhängte. Der nach 1945 nicht wieder in den Justizdienst übernommene Amtsrichter wurde zwar wegen seines Beschlusses und anderer Handlungen nach dem „Entnazifizierungsgesetz" zu drei Jahren Internierungshaft verurteilt, ein wieder als Richter amtierendes ehemaliges Mitglied der Beschwerdekammer pensioniert, eine Strafverfolgung gemäß § 336 StGB aber zum Teil „mangels Unrechtsbewußtseins" der Täter für nicht erfolgversprechend gehalten. Der Fall gibt Anlaß, einige Fragen der Rechtsbeugung und damit auch des Verhältnisses von Richter und Gesetz neu zu durchdenken. 1. Der objektive Tatbestand dieses Verbrechens ist unzweifelhaft gegeben. Denn der Amtsrichter (ebenso jedes für die Ablehnung des 12 13
AG Wetzlar in JW 1935, S. 2083 Nr. 75, s. Anhang 7 a), S. 117. LG Limburg, s. Anhang 7 b), S. 119.
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Antrages stimmende Mitglied des Beschwerdegerichts) hat in dem Verfahren gemäß §11 [heute §45] PersStG als „Beamter" [heute: „Richter"] „bei der Entscheidung einer Rechtssache" im Sinne des § 336 StGB gehandelt. Der Berufsrichter ist der Täter des genannten Delikts katexochen; und als Rechtssache sind nicht nur die Verfahren der Straf- und streitigen Zivil-, sondern auch der freiwilligen Gerichtsbarkeit anzusehen14. Ist das unproblematisch, so bedarf nur das Tatbestandsmerkmal „Rechtsbeugung" als Tathandlung näherer Prüfung und Begründung. Nach einer immer wieder vertretenen subjektiven Lehrmeinung ist das Recht mittels falscher Anwendung oder Nichtanwendung des Gesetzes nur dann gebeugt, wenn diese Rechtsanwendung mit der Rechtsauffassung des Richters im Widerspruch steht15. Eine solche Auslegung wird teils auf den Gedanken gegründet, daß der Richter nach seiner Überzeugung Recht zu sprechen habe, dann aber nicht pflichtwidrig und strafbar handeln könne, wenn er von der Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung überzeugt sei, teils auf den Wortlaut des §336 StGB gestützt, aus dem die Notwendigkeit, die Tätervorstellung zur Bestimmung der Tathandlung zu berücksichtigen, folge. Diese subjektive Rechtsbeugungstheorie ist falsch. Aus dem Sprachgebrauch ist sie keineswegs zwingend zu folgern; denn „Rechtsbeugung" heißt soviel wie Verbiegung des Geraden und Gerichteten (Richtigen, Rechten) und deutet damit eher auf etwas äußerlich Greifbares und Erkennbares als auf etwas Subjektives hin. Zutreffend hat daher Engisch festgestellt: „Daß es der Sache nach eine objektive Beugung des Rechts so gut wie eine objektiv unrechtmäßige Wegnahme einer fremden Sache ... gibt, läßt sich wohl nicht bestreiten"16. Und der Hinweis auf die richterliche Überzeugung ist ganz einfach eine Vermengung von Merkmalen des objektiven Tatbestan14
Schönke-Schröder, Komm., 13. Aufl. 1967, RNr.3 zu §336 StGB. Vgl. z.B. Oppenheim, Die Rechtsbeugungsverbrechen (§§336, 343, 344) des Dtsch. Reichsstrafgesetzbuches, 1886, S. 86; Sauer, System des Strafr., Besond. Teil, 1954, S. 519; Joly, Die Rechtsbeugung des Richters (§336 StGB), Gott. Diss. 1954 (Masch.-Schr.), S.26f.; Muuelak, Die Rechtsbeugung, Köln. Diss. 1960, S.20f. u. ö.; s. auch Heinitz, Probleme der Rechtsbeugung, 1963, S. 8 („Beugen des Rechts heißt zunächst nichts weiter, als eine Rechtsnorm bewußt falsch anzuwenden"). " Engisch, Zur „Natur der Sache" im Strafrecht, in Festschr. f. Eb. Schmidt, 1961, S. 119. 15
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Zur Problematik der Rechtsbeugung
des mit der Vorsatzfrage. Die subjektive Auffassung widerlegt sich außerdem durch ihre absurden Konsequenzen, wie der vorliegende Fall schlagend zeigt: Der Amtsrichter hätte danach Recht gesprochen, wenn er als fanatischer Nationalsozialist von der Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung überzeugt war, dagegen das Recht gebeugt, wenn er ausnahmsweise dem Gesetz gemäß den Standesbeamten nur deshalb zum Erlaß des Aufgebots angewiesen hätte, weil der Antragsteller ein ehemaliger Schul- oder Kriegskamerad von ihm gewesen wäre - zwei Ergebnisse, die beidemal völlig „verkehrt" sind17. In Wahrheit erinnert schon die Tatsache, daß wir die Rechtsnatur des „Blutschutzgesetzes" anzweifeln, an den Rechtscharakter der früheren gesetzlichen Regelung, durch deren Nichtanwendung der Richter das Recht gebeugt hat. Die subjektive Lehre wird auch nicht dadurch richtiger, daß manche Autoren die Tendenz oder Intention des Täters, gegen das Recht zu verstoßen, als „subjektives ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal"18 oder „subjektives Unrechtselement"19 neben der objektiven Rechtsverletzung fordern. Denn auch gegen diese Meinung spricht, daß sie eine auf Nichtwahrung des Rechts zielende innere Einstellung des Richters nicht ohne den Vorsatz des Täters bestimmen kann und damit den Begriff der Rechtsbeugung auf die vom Gesetzgeber allein bestrafte vorsätzliche Tatbegehung einengt, obwohl doch die gesetzliche Beschränkung der Strafbarkeit erst auf Grund einer auch fahrlässig begehbaren Rechtsbeugung sinnvoll und begreiflich ist20. Richtig ist wie auch sonst bei den Tatbeständen eine objektive Bestimmung der Handlung. Eine Rechtsbeugung liegt daher tatbestandsmäßig nur, aber auch immer dann vor, wenn die Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache das objektive Recht eindeutig verletzt und unrichtig ist21. Daß in dem hier interessierenden Falle der Amtsrichter und die Beschwerdekammer das Recht in Form eines klaren und gerechten Gesetzes beugten, bedarf heute wohl keiner weiteren Ausführung. 17
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Vgl. dazu Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung (§ 336 StGB), Würzburger Diss. 1968, S.U. Eb. Schmidt, Lehrkomm, zur StPO u. zum GVG, Teil I, 2. Aufl. 1964, RNr. 526. Musielak a. a. O. S. 36. Ebenso Seebode a.a.O. S. 16. Vgl. dazu näher mit eingehender Begründung Seebode a.a.O. S. 18f.
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Dies geschah schließlich auch „zum Nachteil einer Partei", da dem Gesuchsteller der Erlaß des Aufgebots, auf den er einen Anspruch hatte, zu Unrecht verweigert wurde. 2. Ist der objektive Tatbestand des § 336 StGB erfüllt, so ist damit auch die Rechtswidrigkeit der Tat zu bejahen. Es ist nicht etwa paradox, daß diese beiden Gesichtspunkte auch bei dem vorliegenden Delikt zu trennen sind. Es ist vielmehr denkbar, daß ein Richter gerechtfertigt das Recht zum Nachteil eines Beteiligten beugt. Das zeigt etwa folgender Fall, der unter dem NS-Regime öfters vorgekommen sein soll: Ein Richter hat den Angeklagten auf Grund eines Schandgesetzes oder trotz Mangels an Beweisen nur deshalb verurteilt, weil ohne die Freiheitsstrafe der Beschuldigte von der politischen Geheimpolizei in ein Konzentrationslager gebracht und weit schlimmeren Folgen für Freiheit und Leben ausgesetzt worden wäre22. Hier ist zweifellos das Straf- und Prozeßrecht zum Nachteil des Beschuldigten verletzt worden - dieser ist ja zu Unrecht ins Gefängnis gekommen! - und damit der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt, aber die Tatbestandsverwirklichung dürfte wegen Notstandes [jetzt: §34 StGB] gerechtfertigt sein23; denn die Verletzung der Rechtsgüter Freiheit und Reinheit der Amtsführung in der Rechtspflege war nach Lage des Falles das einzige Mittel, um einen bedeutend längeren und härteren Freiheitsentzug und eine Lebensgefährdung, also ein erheblich größeres Übel zu verhüten, d. h. das Rechtsgut Freiheit nicht noch mehr zu beeinträchtigen und die Rechtsgüter Gesundheit und Leben zu bewahren. Wie diese Frage aber auch entschieden werden mag, für den hier zu beurteilenden Sachverhalt kommt jedenfalls ein solcher Rechtfertigungsgrund nicht in Betracht. Eine andere Unrechtsbestimmung, die für die Vorsatz- bzw. Irrtumsfrage bedeutsam wird, ist von Maurach vorgeschlagen worden. Danach enthält § 336 StGB einen „offenen Tatbestand", da die „Substanz" der Rechtsbeugung „die Anwendung unrichtigen Rechts" sei, die ebensowenig wie „bei dem Gesamtvorgang Zuwiderhandlung 22 23
Schorn, Der Richter im Dritten Reich, 1959, S. 32 f. So auch/o/jy a.a.O. S. 102f.; Musielak a.a.O. S.92; Seebode a.a.O. S. 132f.; die Lösung erwogen bei Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 10. Aufl. 1967, S. 522 [s. jetzt dazu Spendet in LeipzKomm. 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, §336 RNr. 71 ff.].
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gegen eine objektiv gültige Rechtsvorschrift* die Gültigkeit dieser Norm" zum Tatbestandsmerkmal deklariert werden könne. Der Irrtum des Täters (Richters) über die Verbindlichkeit des von ihm angewandten oder nicht angewandten Rechtssatzes wäre dann kein Tatbestands-, sondern ein Verbotsirrtum, der nach der „Schuldtheorie" nur im Falle seiner Unvermeidbarkeit beachtlich wäre und die Strafbarkeit ausschlösse24. Daß sich dieser Konstruktion gegenüber der Einwand aufdrängt, der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung werde „entleert" und lasse nur die Merkmale „Führung oder Entscheidung einer Rechtssache durch einen Beamten zugunsten oder zum Nachteil einer Partei" übrig, erkennt Maurach bereits selbst, auch wenn er ihn für unbegründet hält25. Aber als Vor- oder Nachteil eines Beteiligten i. S. d. §336 StGB kommt z.B. nicht die rechtmäßige Verurteilung eines Käufers zur Zahlung des geschuldeten Kaufpreises (Vorteil für den Kläger, Nachteil für den Beklagten) in Betracht, sondern nur die auf einer Rechts&ewgwwg, also auf einer objektiven Rechtsverletzung beruhende und damit vom Recht mißbilligte Besser- oder Schlechterstellung, weil auch die richtige oder gerechte Rechtsanwendung zu einem Vor- oder Nachteil eines Verfahrensbeteiligten führt26. Die „Beugung des Rechts" ist daher mit der herrschenden Meinung als Merkmal des objektiven Tatbestandes von § 336 StGB anzusehen. 3. Maurachs Ansicht zur Rechtsbeugung, die der Autor übrigens in seiner Darstellung des Besonderen Teils nicht weiter verfolgt hat27, greift allerdings eine schwierige Vor5&«ng ermangelt, oder sogar eine jeder Rechtsgrundlage entbehrende und daher widerrechtliche nich t gerichtliche Prozedur mit einem McÄfurteil, dem schon jede Rechtsqualität, jede Uneuseigenschaft abgeht. Bei der ersten Alternative wäre neben Mord oder Totschlag bei dem Gerichtsvorsitzenden Dr. T. auch Rechtsbeugung in unmittelbarer Täterschaft, bei dem Ankläger in der Form der Anstiftung zu prüfen; im zweiten Falle käme für die scheinbaren „Gerichtspersonen" einfach „nackter Mord" und nicht etwa Justizmord durch Rechtsbeugung" in Betracht29. Die Formulierungen des ersten Revisionsurteils weisen in diese letzte Richtung, wenn der BGH davon spricht, daß eine Proze27
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So für die „Nürnberger Gesetze", genauer: das NS-„Blutschutzgesetz" vom 15.9.1935 z.B. Klug, Der Rechtsstaat und die Staatsphilosophie der geordneten Anarchie, in: Ernst v. Hippel-Festschr., 1965, S. 157; zu der Frage s. Spendet in LeipzKomm., 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, RNr. 50 ff. zu § 336 StGB. BGH - l.Urt. - a.a.O. S.332 = BGHSt. 2, S. 176 ob. Vgl. zu dieser Unterscheidung im Hinblick auf ein militärisches „StandgerichtsVerfahren" (Zellinger Fall) Spendet in LeipzKomm., RNr. 131 f. zu §336 StGB; allgemein z.B. Karl Peters, Strafprozeß, Lehrb., 3. Aufl. 1981, S.494ff., 247 (§33 III); Beling, Dtsch. RStrafprozeßr., 1928, S.205, 207ff. Vgl. auch nachfolg. Anm. 63.
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dur, bei der „nur das .gerichtliche Gesicht' gewahrt" werde, und ein Spruch, mit dem sich seine Verfasser „nicht ernsthaft um die erschöpfende Klärung der Schuldfrage bemüht" haben, „weder dem Namen noch der Sache nach ein gerichtliches Verfahren und ein Urteil" seien30. Die Ausführungen der zweiten BGH-Entscheidung deuten dagegen in die erste Richtung, da der Senat den Tatrichter daran erinnerte, Dr. T. könnte neben (Beihilfe zum) Mord eine Rechtsbeugung begangen haben, falls er „- gleichgültig aus welchen Gründen bewußt Scheinverfahren gegen die fünf Widerstandskämpfer durchgeführt" hätte31. Die „Standgerichtsverfahren" in den beiden KZ wiesen, wie eine nähere Betrachtung lehrt, eine ganze Reihe schwerster Rechtsverletzungen auf, die die Annahme, daß die Todesurteile zumindest nichtig, die Tötungen rechtswidrig waren, rechtfertigt. 1. Die unzulässige Bildung des „Standgerichts": Die Einsetzung eines Standgerichts kam nur aus militärischen Gründen für die sofortige Ahndung gerade begangener schwerer Delikte in Betracht, um die allgemeine Ordnung und Sicherheit der kämpfenden Truppe aufrechtzuerhalten. Da die den Inhaftierten vorgeworfenen Taten (Widerstand gegen das NS-Regime) bereits länger zurücklagen und seit dem Zossener Aktenfund im Sept. 1944, also über ein halbes Jahr bekannt waren, konnte keine Rede davon sein, daß ein Standgerichtsverfahren notwendig war32. Die Einsetzung der „SS-Richter" entsprach somit keiner gesetzlichen Regelung, insbesondere nicht der Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) vom 17.8.1938 i. d. F. der 4.DVO vom 1.11.1939 und der ll.DVO vom 11.1.194533. Man kann die Bildung des „Standgerichts" auch nicht etwa deshalb noch als gesetzmäßig ansehen, weil sie durch einen Befehl Hitlers als des obersten Richters gedeckt worden und dieser auf Grund seiner unbegrenzten Machtfülle, die er sich durch Beschluß des Reichstages 30
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BGH - l.Urt. - in: Just. u. NS-Verbr. XIII, S.331/332 ob. (etwas anders formuliert in BGHSt. 2, S. 175 unt.). BGH - 2. Urt. - a. a. O. S. (336) 343 unt. Nr. IV. So treffend SchwG Augsburg a. a. O. S. 316 zu Nr. l; s. auch BGH in seinem 1. Urt. a. a. O. S. 332 (= BGHSt. 2, S. 177). Die einschlägigen Vorschriften sind enthalten in der Gesetzessammlung von Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg, 1958, S. 136 ff., 198 ff., 213 ff.
„Standgerichtsverfahren" in der Nachkriegsrechtsprechung
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vom 26.4.1942 habe bestätigen lassen34, an keine gesetzliche Zuständigkeitsregelung gebunden gewesen sei. Denn „die Frage nach der gesetzlichen Grundlage eines Verfahrens wird sinnlos, wenn man davon ausgeht, daß die Bindung an jede gesetzliche Regelung entfallen sei"35. Wie willkürlich die „Führer-Befehlsbefugnis" ausgeübt wurde, zeigt außerdem die Vorgeschichte: zuerst hatte Hitler 1944 die am Aufstand vom 20. Juli 1944 beteiligten Offiziere durch einen „Ehrenrat" aus der Wehrmacht „ausstoßen" lassen, beseitigte dann durch einen Sondererlaß die nach § 2 a KStVO trotzdem fortbestehende Wehrmachtsgerichtsbarkeit, übertrug die Ermittlungen der Gestapo und erklärte den Volksgerichtshof für zuständig. Nach dem Zossener Aktenfund verbot er auch dies wieder und behielt sich selbst jede weitere Anordnung vor, bis er schließlich Anfang April 1945 die sofortige Aburteilung durch ein „SS-Gericht" befahl oder zumindest „billigte"3'. 2. Die Unzuständigkeit eines SS-Standgerichts: Die inhaftierten Offiziere unterstanden der Militär- bzw. Än'egsgerichtsbarkeit (§§2 Nr. l, 2 a KStVO). Das gleiche galt für die anderen für das militärische Abwehramt im Oberkommando der Wehrmacht tätigen Beschuldigten, RGRat v. Dohnanyi und Pastor Bonhoeffer (§3 a KStVO). Für keinen der Beschuldigten war jemals die Zuständigkeit der SS-Sondergerichtsbarkeit nach der SSPolGerVO vom 17.10.1939 ien37. 3. Die Besetzung des „Standgerichts": Zu einem der Beisitzer wurde jeweils ein Henkersknecht des Regimes berufen, d. h. „der in der willfährigen Ausführung verbrecherischer Weisungen erfahrene 34
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Vgl. RGBl. I, S. 247: „... Der Führer muß daher - ohne an bestehende Rechtsvorschriften gebunden zu sein - in seiner Eigenschaft als Führer der Nation..., als oberster Gerichtsherr ... jederzeit in der Lage sein, nötigenfalls jeden Deutschen ... mit allen ihm geeignet erscheinenden Mitteln zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und bei Verletzung dieser Pflichten nach gewissenhafter Prüfung ohne Rücksicht auf sogenannte wohlerworbene Rechte mit der ihm gebührenden Sühne zu belegen ..." So treffend der BGH noch in seinem 1. Urt. in: Just. u. NS-Verbr. XIII, S. 332 unt. = BGHSt. 2, S-177/178. Vgl. dazu BGH - l.Urt. - a.a.O. S.333 = BGHSt. 2, S. 178. Vgl. BGH - 2. Urt. - a. a. O. S. (336) 339 ob.; SchwG Augsburg a. a. O. S. (287) 316 zu Nr. 2.
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Kommandant" des jeweiligen Konzentrationslagers, von dem schwerlich ein unbefangenes Urteil zu erwarten war38. Welche Perversion des Rechtes und Staates erreicht war39, zeigt dieser Umstand: ein Verbrecher wurde „Richter". Auch der BGH vermochte in seinem ersten Urteil von einem solchen Mitglied des „Standgerichts" nur in Anführungszeichen als „Richter" zu sprechen40. 4. Die Nichtbestellung eines Verteidigers: Diese Unterlassung stand im Widerspruch zu der Vorschrift des §511 und II KStVO i.d.F. der ll.DVO v. 11.1.1945, nach dessen Wortlaut der Beschuldigte nicht nur „in jeder Lage des Verfahrens einen Verteidiger wählen kann" (Abs.I), sondern auch „der Gerichtsherr, in der Hauptverhandlung der Verhandlungsleiter, einen Verteidiger bestellt, wenn sich der Beschuldigte noch keinen gewählt hat und wenn ein Todesurteil zu erwarten oder aus anderen Gründen die Mitwirkung eines Verteidigers angezeigt ist" (Abs. II). Nach § l III KStVO war es zwar möglich, ein militärisches Kriegsstrafverfahren, soweit dafür nicht gewisse Mußvorschriften „unter allen Umständen" zu beachten waren, „nach pflichtmäßigem Ermessen zu gestalten". Diese Möglichkeit durfte aber nicht willkürlich genutzt, sondern mußte eben „pflichtmäßig" gewahrt werden. §51 II KStVO i.d.F. der ll.DVO, der die Bestellung eines Verteidigers vorschrieb, gehörte zu den Bestimmungen, die grundsätzlich einzuhalten waren und deren Nichtanwendung nur ausnahmsweise erlaubt sein sollte. Da die Ermittlungen gegen die Inhaftierten schon seit vielen Monaten liefen, bestanden um so weniger Gründe, den Beschuldigten keinen Verteidiger zu gewähren41. 5. Die Nichtzuziehung eines Protokollführers: Nach § 531 KStVO war grundsätzlich auch ein Urkundsbeamter zuzuziehen42, wenngleich nach dem durch die ll.DVO vorn 11.1.1945 eingeführten 38
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So treffend der BGH noch in seinem l.Urt. a.a.O. S.333 = BGHSt. 2, S. 179; s. auch BGH - 2. Urt. - a. a. O. S. 339; SchwG Augsburg a. a. O. S. 316 zu Nr. 3. Die Erscheinung und den ihr entsprechenden Begriff näher bewußt gemacht zu haben ist ein Verdienst von Fritz v. Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen, 1955. BGH-l.Urt. -a.a.O. S. 333 = BGHSt. 2, S. 179. BGH - l.Urt. - a.a.O. S.333/334 = BGHSt. 2, S. 179/180; SchwG Augsburg a.a.O. S.316 zu Nr.5. Vgl. BGH - 2. Urt. - a. a. O. S. 339 ob.
„Standgerichtsverfahren" in der Nachkriegsrechtsprechung
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Abs. II „bei einfacher Sachlage" davon abgesehen werden konnte. Bedenkt man, daß sogar die Frage auftauchte, ob das „Standgericht" im KZ Flossenbürg überhaupt mit drei „Richtern" besetzt war43, und daß formlos und ohne Verteidiger prozediert wurde, so wird deutlich, wie notwendig die Anwesenheit eines Protokollführers war, der wenigstens die allerwichtigsten Förmlichkeiten festgehalten und so eine Kontrolle des „Gerichtsverfahrens" ermöglicht hätte. 6. Die Mißhandlung eines „Angeklagten" zur Zeit des „Standgerich tsverfahrens": In dem ersten Urteil des SchwG München ist zwar die Tatsache, daß Admiral Canaris am Abend des S.April 1945, d.h. innerhalb des Zeitraums der Hauptverhandlung gegen ihn und seine Leidensgenossen, das Nasenbein gebrochen worden ist, überhaupt nicht gewürdigt, in der dritten Entscheidung des SchwG Augsburg sogar als nicht mehr ganz sicher erweisbar angesehen worden44. Es besteht aber auf Grund der klaren Zeugenaussage eines Zellennachbarn von Canaris, des fließend deutsch sprechenden Leiters des dänischen Nachrichtendienstes, eigentlich kein begründeter Zweifel an diesem Umstand45. „War dem aber so, dann läge auf der Hand", wie das Revisionsgericht zu Recht in seinem ersten Urteil bemerkte, „daß die angebliche Gerichtsverhandlung nicht einmal den äußeren Schein wahrte"4*. 7. Die Kürze des „Standgerichtsverfahrens": Mit den Beschuldigten wurde nach langer Haft im wahrsten Sinne des Wortes „kurzer Prozeß" gemacht. Gegen die fünf Inhaftierten wurde nur an einem einzigen Tag verhandelt, und zwar am Sonnt., d. S.April 194547. Pastor Bonhoeffer wurde sogar erst am Sonntag nachmittag, nicht vor 16 Uhr ins KZ Flossenbürg gebracht. In den wenigen Stunden konnte schwerlich gegen die fünf Männer ausreichend verhandelt werden. Auch das SchwG Augsburg hat aus dem Bestreben des früheren „Anklägers" Huppenkothen und des „Vorsitzenden" Dr. T., „eine wesentlich längere Verhandlungsdauer glaubhaft" zu machen, den 43
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BGH - 2.Urt. - a.a.O. S.340 zu Punkt CII1; SchwG Augsburg a.a.O. S.299 unt. Nr. IX. Vgl. dazu schon S. 92/93 Anm. 11. Davon ging der BGH auch noch in seinem 2. Urteil aus, s. a. a. O. S. (336) 339. BGH - l. Urt. - a. a. O. S. 334 = BGHSt. 2, S. 180 a. E. SchwG Augsburg a. a. O. S. 299, 315; BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 345 unt.
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Justiz und NS-Verbrechen
Schluß gezogen, daß sich die Tatbeteiligten „sehr wohl der Fragwürdigkeit der ganzen Angelegenheit damals bewußt waren"48. Von einer ernsthaften Beweiserhebung konnte keine Rede sein. Nachdem zuerst General Oster „abgeurteilt" worden war, wurde er als Zeuge in der Verhandlung gegen Admiral Canaris gehört49. Die Kürze des Verfahrens legt es nahe, daß es den Beteiligten nicht auf ein gerechtes Urteil, sondern nur darauf ankam, möglichst schnell einen juristischen Vorwand für die Beseitigung verhaßter politischer Gegner zu finden, wie ein Fliegerangriff Gelegenheit und Tarnung für die „Liquidierung" des „Bürgerbräu-Attentäters" Eiser bieten sollte. 8. Die Nichteinholung der „Urteilsbestätigung": Nach § l II Nr. 4 KStVO mußte das Urteil eines Standgerichts durch den Gerichtsherrn bestätigt werden. Für diese Bestätigung, vor der jede kriegsoder polizeigerichtliche Entscheidung nur den Charakter eines Gutachtens hatte, sahen die §§ 77 ff. KStVO ein Nachprüfungsverfahren vor. Wohl gab es nach §90b II KStVO i.d.F. der 10.DVO vom 23.6.1944 gewisse Ausnahmen, und zwar für die Fälle der Freischärlerei, Spionage und Sabotage, in denen das Urteil durch einstimmigen Beschluß des erkennenden Gerichts für vollstreckbar erklärt werden konnte. Aber diese Voraussetzungen lagen ersichtlich nicht vor, ebensowenig andere der höchst fragwürdigen Vorschriften, die in den letzten Kriegswochen für „Sonder-" und „zivile Standgerichte" erlassen worden waren50. Die Nichteinholung der formell erforderlichen „Urteilsbestätigung" widersprach also dem damaligen Gesetz ebenfalls und zeigt, daß die Beteiligten nicht an einem gesetzmäßigen Verfahren interessiert waren51. 9. Die Art der „Urteilsvollstreckung": Schließlich sprach der Vollzug der „Todesurteile" allem Rechte höhn. So rechtswidrig wie das ganze „Verfahren" begonnen hatte, so rechtswidrig endete es auch. Die „Hinrichtungen" wurden „in Formen vollzogen, die Menschen-
48 49
50 51
SchwG Augsburg a.a.O. S.317 zu Nr.XV. SchwG Augsburg a.a.O. S.301, 304. Zu Hans Paul Oster s. jetzt die Biographie von Graf von Thun-Hohenstein, Der Verschwörer. General Oster und die Militäropposition, 1982. Vgl. dazu SchwG Augsburg a.a.O. S.319. BGH - 1. Urt. - in: Just. u. NS-Verbr. XIII, S. 334 (nicht abgedruckt in BGHSt. 2, S. 173, 180); - 2. Urt. - a. a. O. S. 342; SchwG Augsburg a. a. O. S. 319.
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wert und Menschenwürde, auf deren Achtung selbst der todeswürdige Verbrecher einen unantastbaren Anspruch hat, völlig mißachteten"52. Der „Ankläger" Huppenkothen hat daher nicht ohne Grund seine Anwesenheit bei der Exekution zu leugnen gesucht". Auch das Vollstreckungs- oder „Meßverfahren" zeigt, daß das „Hauptveriahren", d. h. die ganze vorausgegangene Prozedur im KZ Flossenbürg (und gegen RGRat v. Dohnanyi im KZ Oranienburg) kein echtes Rechts- und Gerichtsverfahren war54.
V. Trotz all dieser schweren Rechtsverletzungen, die jedem Juristen sofort in die Augen springen müßten, hat das zunächst mit der Sache befaßte SchwG München in seinem ersten Urteil vom 16. Febr. 1951 den ehemaligen „Ankläger" Huppenkothen (der „Vorsitzende" Dr. T. war, wie schon bemerkt, in der ersten Hauptverhandlung noch nicht angeklagt) freigesprochen. Der Tatrichter hat es noch nicht einmal für nötig gefunden, die Frage nach der „Rechtsnatur der sogenannten Standgerichte"55 auch nur aufzuwerfen, geschweige denn die Frage zu beantworten, ob das „Standgerichtsverfahren" nicht in Wirklichkeit ein bloßes Scheinverfahren war, das nur den nackten Mord juristisch etwas bemänteln sollte. Das SchwG München hat sich deshalb vom höchsten Strafgericht in dessen den Freispruch aufhebendem Urteil vom 12. Febr. 1952 sogar sagen lassen müssen, daß es „das Wesen des Rechts ... und des Richterspruchs völlig verkannt"56, also eine Rechtsblindheit offenbart habe, wie sie schlimmer einem Richter der Nachkriegszeit wohl nicht vorgeworfen werden kann. Die Wendungen des BGH in seiner ersten Entscheidung, die hier auf den vorausgegangenen Seiten angeführt worden sind, lassen unmißverständlich erkennen, daß er zunächst das „Standgerichtsverfahren" eindeutig „verurteilt" hat. 52 53
54 55 56
BGH - 1. Urt. - a. a. O. S. 334 (nicht abgedruckt in BGHSt. 2, S. 180). Zu dieser Tat- und Beweisfrage s. SchwG Augsburg - 3. tatricht. Urt. - a.a.O. S. 302, 314 f. So auch BGH - 1. Urt. - a. a. O. S. 334; SchwG Augsburg a. a. O. S. 319. BGHSt. 2, S. 179 (in: Just. u. NS-Verbr. XIII, S. 333 heißt es: „Rechtscharakter"). Vgl. BGHSt. 2, S. 173, 179.
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Gleichwohl hat das SchwG München in seinem zweiten Urteil vom 5. Nov. 1952 den früheren „Ankläger" Huppenkothen wiederum, ebenso den nachträglich mitangeklagten „Vorsitzenden" des „Standgerichts" im KZ Flossenbürg Dr. T., von dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen, weil die „Todesurteile" der damaligen Rechts- (!?) und Beweislage entsprochen und die Tatbeteiligten den etwaigen „Scheincharakter der Verfahren" nicht erkannt hätten57. Also - das ist die haarsträubende Begründung - nicht die Gegner, sondern die Vertreter des verbrecherischen Regimes waren materiell im Recht. Der zweite erstinstanzliche Freispruch ist vom BGH mit Erkenntnis vom 30. Nov. 1954 erneut aufgehoben und die Sache nunmehr an einen anderen Tatrichter, und zwar an das SchwG Augsburg zurückverwiesen worden. Der Senat rügte einen Widerspruch in der Beweisführung des Erstrichters und Mängel in der Sachaufklärung. Vor allem vermißte er ausreichende Feststellungen zur Frage der Urteilsbestätigung durch den Gerichtsherrn58. Damit verschieben sich auffallenderweise die Gewichte in den Gründen der zweiten Revisionsentscheidung. Nicht mehr die Tatsache, daß Huppenkothen und Dr. T. an einem nur scheinbaren oder zumindest an einem wenn noch gerichtlichen, so doch nichtigen Strafverfahren und Strafurteil mitgewirkt haben, stand wie beim ersten BGH-Urteil im Mittelpunkt der revisions gerichtlichen Erörterung, sondern die Frage, ob die Tatbeteiligten im Anschluß an die „Urteilsberatung" gemäß der l.DVO vom 19.9.1938 zur KStVO zur Frage der Begnadigung schriftlich Stellung genommen und warum sie nicht die Urteilsbestätigung in den Fällen Canaris u. a. eingeholt hätten. Es offenbart eine mehr als „formal-juristische" Denkweise, den ausschlaggebenden Rechtsverstoß in dieser Unterlassung zu sehen; ja, es ist geradezu gespenstisch, entscheidend darauf abzustellen, wieso Huppenkothen nicht „selbst bei Kaltenbrunner oder im Führerhauptquartier wegen der Urteilsbestätigung vorsprach"59. Als ob von Hitler oder Kaltenbrunner, also den „Gerichtsherren", die die rechtswidrige Prozedur befohlen und
57 58 59
Nach BGH - 2. Urt. - in: Just. u. NS-Verbr. XIII, S. (336) 339 vor Nr. III. BGH - 2. Urt. - a. a. O. S. 342, s. schon l. Rev.-Urt. a. a. O. S. 334. BGH - 2. Urt. - a. a. O. S. 342 zu Nr. III. 2.
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damit die juristische Verbrämung der Beseitigung ihrer politischen Gegner verlangt hatten, noch eine sachgemäße „Überprüfung" zu erwarten gewesen wäre! Infolge dieser Akzentverschiebung in der Beurteilung der Vorgänge bemerkte denn auch der BGH in den Gründen seiner zweiten Entscheidung nur noch ganz am Rande, d.h. am Schluß und in Kürze, daß der damalige „Gerichtsvorsitzende" Dr. T. neben dem Mord (angeblich in der Begehungsform der Beihilfe) zugleich einer Rechtsbeugung schuldig geworden wäre, falls er bewußt „Scheinverfahren gegen die fünf Widerstandskämpfer durchgeführt" oder „wenigstens mit der Möglichkeit gerechnet und sie billigend in Kauf genommen" hätte, „daß es sich um solche — nur der ,Legalisierung' oder , Verbrämung' bereits ausgesprochener Tötungsbefehle Hitlers dienende - Scheinverfahren handelte"'0. Klar und richtig findet sich hier nur die Anerkennung auch eines bedingten Rechtsbeugungsvorsatzes61; unausgesprochen bleibt dagegen, warum dann für den „Ankläger" Huppenkothen nicht auch eine Anstiftung zur Rechtsbeugung in Betracht kommen sollte, undeutlich außerdem der Begriff „Scheinverfahren"62. Anscheinend versteht der Senat in seinem zweiten Urteil darunter nicht ein Nicht-Gerichtsverfahren mit „Nichturteil"63, sondern nur ein zwar ganz rechtsfehlerhaftes, aber eben noch wirkliches Gerichtsverfahren mit „nichtigem (unwirksamem) Urteil".
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BGH - 2. Urt. - a. a. O. S. 343 zu Nr. IV. " Zu dieser Frage s. Spendel, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters, Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung, in: Heinitz-Festschr., 1972, S. 445 ff.; dens. in LeipzKomm., 10.Aufl., 28.Lfg. 1982, RNr. 77ff, 89ff. zu §336 StGB, jeweils mit weit. Nachw.; Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969, S. 107ff. 42 Vgl. schon oben S. 95/96 zu Anm.23. 63 Unbestreitbare Fälle des „Scheinverfahrens" mit „Mc^iurteil" sind etwa die „Fememorde" der „Femegerichte" in den 20er Jahren oder die Todesurteile der sich „Strafgewalt" anmaßenden „Volksgerichte" von Terroristen in der Neuzeit; s. ferner den Zellinger Standgerichts-Fall in: Just. u. NS-Verbr. X, S. 205 ff. und dazu näher Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 28.Lfg. 1982, RNr. 131 f. zu §336 StGB; praktische Beispiele für gerichtliche Verfahren mit „nichtigem Urteil" sind unanfechtbare Verurteilungen nach einem nicht (mehr) geltenden Strafgesetz oder unanfechtbare Doppelbestrafungen, s. dazu Spendel in LeipzKomm., 10. Aufl., 30.Lfg. 1982, RNr. 110 zu §32 StGB.
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VI. Das neu mit der Sache befaßte SchwG Augsburg hat darauf im dritten tatrichterlichen Urteil vom 15. Okt. 1955 Huppenkothen und Dr. T. — in bedenklicher Anwendung der Konkurrenzregeln64 wegen fünf rechtlich zusammentreffender Verbrechen der Beihilfe zum Mord (Fall Canaris u. a.), Huppenkothen außerdem wegen eines weiteren Falles einer Beihilfe zum Mord (Fall v. Dohnanyi) verurteilt, den ersteren zu insgesamt 7 Jahren, den letzteren zu 4 Jahren Zuchthaus65. Den beiden Angeklagten die bürgerlichen Ehrenrechte nach §32 a. F. StGB abzuerkennen, sah auch dieses Gericht keine Veranlassung66. Im Gegensatz zum BGH in seinem zweiten Urteil war das SchwG Augsburg mit Recht der Auffassung, daß für die Bewertung der sog. Standgerichte und ihrer Todesurteile „die Frage ordnungsmäßiger Bestätigung nur eine höchst untergeordnete Rolle spielte"67. Es ist aber über den Charakter dieser Prozedur und ihrer Ergebnisse ebensowenig zu einer klaren und exakten Aussage gekommen. Einerseits ist es zu der Überzeugung gelangt, daß die „Standgerichte" gegen Canaris u. a. „einzig zu dem Zwecke" durchgeführt wurden, „unbequem gewordene Häftlinge unter dem Schein eines gerichtlichen Verfahrens beseitigen zu können"68; andererseits hat es sich nicht von der Ansicht frei zu machen vermocht, daß die im KZ Flossenbürg (ebenso Oranienburg) „verkündeten Urteile als solche mit den zum Zeitpunkt ihrer Erlassung vorhandenen gesetzlichen Vorschriften hinsichtlich ihres formellen Zustandekommens noch in einer gewissen Übereinstimmung standen". Das SchwG Augsburg hat daher in dem „Standgerichtsverfahren" einen gerichtlichen Strafprozeß, in dem jeweiligen „Todesurteil" einen Richterspruch erblickt. Es hat jedoch diese Prozeduren und ihre Ergebnisse, d. h. den Ausspruch und die Ausführung der Tötung, für rechtswidrig 64
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Annahme von Tateinheit statt für die Taten im KZ Flossenbürg (Fall Canaris u. a.)! Vgl. zu dem Urteil des SchwG Augsburg insoweit auch kritisch BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 357 und 358. SchwG Augsburg in: Just. u. NS-Verbr. XIII, S. 323 vor Nr. XXI; BGH - 3. Urt. a. a. O. S. 344. SchwG Augsburg a.a.O. S.323 vor Nr. XXI. SchwG Augsburg a.a.O. S.315 unt. Nr. XIV. SchwG Augsburg a.a.O. S.316 ob., Hervorheb, vom zitier. Verf.
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erklärt69. Es hat dies unter Übernahme der Formulierung des ersten BGH-Urteils damit begründet, daß den die „Standgerichtsverfahren" anordnenden Befehlsgebern, also Hitler und Kaltenbrunner, es nicht „um einen auf Wahrheitserforschung und Gerechtigkeit gegründeten unabhängigen Richterspruch zu tun war, sondern um die Vernichtung von Gegnern"70. Materiell-rechtlich ist das SchwG Augsburg in den schon im vorhergehenden Abschnitt III gerügten Fehler verfallen, für die beiden Tatbeteiligten nur Beihilfe zum Mord anzunehmen und nicht hinsichtlich des früheren „Gerichtsvorsitzenden" Dr. T. Mord in (mittelbarer) Täterschaft, hinsichtlich des ehemaligen „Anklägers" Huppenkothen in der Form der Anstiftung71. Unklare und unzureichende Vorstellungen über den Kausalbegriff verraten die teils stereotyp gebrauchten, teils völlig unangebrachten Wendungen, daß die Tätigkeit der zwei Tatbeteiligten die Ermordung der Widerstandskämpfer „erleichtert und gefördert" hätte, ohne daß „sie im strengen Sinne ursächlich gewesen" sein müßte72, und daß dieses Tun „möglicherweise für den Tod" der Häftlinge „nicht eigentlich ursächlich" (!?) gewesen wäre73 (womit offenbar darauf angespielt wird, daß neben der Anordnung eines „Standgerichtsverfahrens" durch Kaltenbrunner vielleicht noch ein direkter Tötungsbefehl Hitlers ergangen sei74). Diese Bemerkungen sind deshalb verfehlt, weil nach der im Strafrecht herrschenden Bedingungs- oder Äquivalenztheorie an dem Bedingungscharakter und damit an der (Mit-)Ursächlichkeit von „Anklage" und „Urteil" für die „Hinrichtung" überhaupt kein Zweifel bestehen kann75. Beide Tatbeiträge müssen sogar als wesentliche " SchwG Augsburg a. a. O. S. 317 unter Nr. XVII und S. 320. 70 SchwG Augsburg a. a. O. S. 320. 71 SchwG Augsburg a.a.O. S.320/321. 71 SchwG Augsburg a.a.O. S.321 vor Nr. XVIII. Zu dieser Wendung von der „fördernden" Gehilfenhandlung Spendet, Beihilfe und Kausalität, in: DreherFestschr., 1977, S. 167, 174 ff., 184. 7} SchwG Augsburg a. a. O. S. 323 vor Nr. XXI. 74 Vgl. dazu die kurze Bemerkung des SchwG Augsburg a.a.O. S.316 unt. 75 Zur Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel bei Vorliegen von „Ersatzfaktoren'' Spendel, Die Kausalitätsformel der Bedingungstheorie für die Handlungsdelikte, 1948, S. 41 ff., und dazu allgemein Klug, Zur logischen Analyse der Kausalitätsformel im Strafrecht (1951), in: Klug, Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, l.Bd. 1981, S. 131.
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Mitbedingungen für diese Art der Tötung bezeichnet werden, da sie erst den pseudorechtlichen Vorwand für die „Exekution" und somit eine notwendige Voraussetzung, einen entscheidenden (Real-)Grund für die Erhängung in der Form der „Vollstreckung eines Todesurteils" abgaben. Schließlich hat der Tatrichter, trotz des kurzen Hinweises im zweiten BGH-Urteil76, völlig übersehen, daß von seinem Standpunkt aus — Annahme eines zwar rechtsfehlerhaften, aber noch gerichtlichen Verfahrens gegen Canaris u. a. - der frühere „Gerichtsversitzende" den Mord durch eine Rechtsbeugung, Huppenkothen eine Anstiftung hierzu, begangen hätte.
VII. Ohne daß sich der Sachverhalt wesentlich geändert hätte, hat der BGH in seinem dritten Urteil vom 19. Juni 1956 wie die beiden ersten Freisprüche des SchwG München überraschenderweise auch die Schuldsprüche des SchwG Augsburg ganz oder teilweise aufgehoben, und zwar hinsichtlich des früheren „Vorsitzenden" Dr. T. in vollem Umfange, hinsichtlich des ehemaligen „Anklägers" Huppenkothen im Fall v. Dohnanyi, und insoweit selbst auf Freispruch erkannt. Die Verurteilung Huppenkothens blieb also nur wegen seiner Beteiligung an der Tötung von Admiral Canaris und seinen vier Leidensgenossen bestehen, und zwar mit der Folge einer 6jährigen Zuchthausstrafe, auf die noch ein Teil der Untersuchungshaft angerechnet wurde77. Liest man die dritte höchstrichterliche Entscheidung von 1956 im Vergleich mit der ersten von 1952, so traut man seinen Augen nicht und meint, ein anderes Gericht zu vernehmen, so verändert sind Denk- und Sprechweise des Strafsenats. Kein Wort jetzt mehr davon in seinen Gründen, daß dem Diktator Hitler rechtlich keine unbeschränkte Befehlsgewalt zur willkürlichen Einsetzung von Standgerichten zuzubilligen oder daß mit dem jeweiligen KZ-Kommandanten der skrupellose Vertreter eines verbrecherischen Apparats und ein 76 77
BGH - 2.Urt. - in: Just. u. NS-Verbr. XIII, S. 343 um. Nr. IV, s. schon im vorhergeh. S. 105 zu Fußn. 60 u. S. 98 zu Fußn. 31. BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 344, 347 ob. vor B, 358.
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willfähriger Vollstrecker von Mordbefehlen zum beisitzenden „Richter" deklariert worden war78! Was schon nach den tatsächlichen Feststellungen des ersten SchwG-Urteils dem BGH „das Bild einer schrankenlosen Willkür und ebenso wichtige Anzeichen dafür" bot, „wie der Angeklagte" (seil. Huppenkothen, dasselbe muß für den nachträglich angeklagten Dr. T. gelten) „die Vorgänge selbst beurteilt" hat79 - d. h. die regelwidrige Art der Berufung und Verhandlung des „Standgerichts" -, sind ihm plötzlich nur noch „Verfahren", die „,an sich minimalen Zulässigkeitserfordernissen entsprochen' haben"80 und die nicht ausreichende „tatsächliche Grundlagen für die Gewinnung einer einwandfreien richterlichen Überzeugung vom Vorliegen reiner Scheinverfahren" bilden können; dem ehemaligen „Gerichtsvorsitzenden" Dr. T. seien „keine Verletzungen zwingender Bestimmungen in der Verfahrensgestaltung" nachweisbar81. Man fragt sich, was eigentlich noch alles geschehen muß, um von einem rechtswidrigen Verfahren mit zumindest nichtigem Urteil sprechen zu können. Den Gegensatz zwischen seiner ersten und dritten Entscheidung hat der BGH anscheinend selbst empfunden, da er kurz bemerkt, „zur Frage der Bindung des Senats an das erste Revisionsurteil" brauche er nicht Stellung zu nehmen; denn Dr. T. sei zu dieser Zeit in dem Verfahren noch nicht angeklagt gewesen. Hinsichtlich Huppenkothens, der bereits wegen Aussageerpressung gegenüber einem 78
Vgl. BGH - l.Urt. - a.a.O. S.332 unt. (= BGHSt. 2, S. 178 ob.): „Auch wenn man nicht annehmen wollte, daß der Ermächtigung" (d. h. des Reichstages durch Beschluß vom 26.4.1942, s. oben Anm. 34 zu S. 98 f.) „selbst schon jeder Rechtscharakter abgeht, weil sie unbegrenzt war, so kann kein Zweifel darüber sein, daß erst recht ihre willkürliche Handhabung und Ausnutzung keinerlei Recht schaffende Wirkung haben konnte" und S. 333 (= BGHSt. 2, S. 178 unt.): Mit dem KZKommandanten wirkte ein Mann als „Richter" mit, „dessen Aufgabe, wie auch dem Schwurgericht nicht gut unbekannt sein konnte, darin bestand, verbrecherische Weisungen auszuführen". " BGH - l. Urt. - a. a. O. S. 333 (= BGHSt. 2, S. 179). 80 BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 353 unt. unter bereitwilliger Übernahme, ja Abschwächung einer bedenklichen Formulierung des SchwG Augsburg a.a.O. S.319 unt., das nur in der Möglichkeitsform davon gesprochen hatte, daß „die Durchführung der Standgerichtsverfahren ... an sich minimalen Zulässigkeitserfordernissen entsprochen haben mag", das aber dies nicht für entscheidend gehalten hatte! 81 BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 355 vor Nr. II.
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anderen Widerstandskämpfer und Gestapo-Häftling (Fall v. Guttenberg) rechtskräftig zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, unterließ das höchste Strafgericht dann einfach eine solche Stellungnahme; es begnügte sich mit der Verweisung, was für die „Durchführung der Verfahren" im KZ bezüglich des früheren „Vorsitzenden" ausgeführt worden sei, habe entsprechend für den ehemaligen „Ankläger" zu gelten, obwohl der gegen diesen „sprechende Verdacht ... erheblich schwerer" wiege als bei Dr. T.82. Aufschlußreich sind auch bereits die allgemeinen Vorbemerkungen, die der BGH seinen besonderen Ausführungen zum Fall vorangestellt hat. Er betont zunächst, für die Beurteilung der „Standgerichtsverfahren" sei „nicht entscheidend, wie sich die Ereignisse vom April 1945 nach heutiger Erkenntnis darstellen", sondern „ins Auge zu fassen, wie sich seine" (des früheren „Anklägers") „Aufgabe nach der Gesetzeslage und den sonstigen Gegebenheiten zur Tatzeit darstellte"83. Es scheint, als wenn sich die Nachkriegsrichter von diesem Ausgangspunkt aus fast mehr in die Denkweise der ehemaligen „Gerichtspersonen" als in die der damaligen „Angeklagten" hineinversetzen konnten. Denn der BGH kommt zu dem Schluß: „Einem Richter, der damals einen Widerstandskämpfer ... abzuurteilen hatte und ihn in einem einwandfreien" (soll dieses Attribut etwa auch den Prozeduren gegen Canaris u.a. zukommen?!) „Verfahren für überführt erachtete, kann heute in strafrechtlicher Hinsicht kein Vorwurf gemacht werden, wenn er angesichts seiner Unterworfenheit unter die damaligen Gesetze nicht der Frage nachging, ob dem Widerstandskämpfer etwa" (?!) „der Rechtfertigungsgrund des übergesetzlichen Notstands unter dem Gesichtspunkt eines höheren, den Strafdrohungen des staatlichen Gesetzes vorausliegenden Widerstandsrechts zur Seite stehe, sondern glaubte, ihn des Hochoder Landesverrats bzw. des Kriegsverrats (§57 MStGB) schuldig erkennen und deswegen zum Tode verurteilen zu müssen"84.
Solchen Sätzen vorausgeschickt hat der Senat das auch gern unter dem NS-Regime gebrauchte Wort vom Staat - d.i. hier aber doch: der nationalsozialistische und verbrecherische! -, der in einem „Kampf um Sein oder Nichtsein" gestanden habe; dieser habe zu seinem Schütze strenge, „unerbittliche" Gesetze erlassen und anwen-
82 83
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BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 355 vor und unter Nr. II. 1. a. BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 352 II. Abs. BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 352 unt., Hervorheb, vom zitier. Verf.
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den dürfen84. Als ob Deutschland wie das kleine Griechenvolk vor über 2000 Jahren von der Heeresmacht eines Riesenreichs überfallen worden wäre und nicht selbst seine Nachbarn angegriffen hätte; als ob uns Deutschen die physische Vernichtung86 und nicht den Juden, Zigeunern usw. die Vergasung, den Polen die Dezimierung gedroht hätte; als ob rechtliche Zustände beseitigt und nicht gerade wiederhergestellt werden sollten87! Immerhin hat der BGH wenigstens erkannt, daß die Gesetze auch der Aufrechterhaltung eines verbrecherischen Terrorregimes ohnegleichen dienten. Aber er meinte etwas pathetisch: „Stand schon der Widerstandskämpfer selbst bei einem solchen Widerstreit" (seil, zwischen Pflicht zum Gesetzesgehorsam und Recht zum Widerstand) „vor schwerster sittlicher Entscheidung, so sieht sich der Richter, der heute darüber zu urteilen hat, inwieweit die Widerstandsbestrebungen und -handlungen im Sinne des Strafrechts - unter dem Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstands - gerechtfertigt waren, vor eine Aufgabe gestellt, die die Grenze dessen berührt, was mit den Mitteln irdischer Rechtsprechung entschieden werden kann"88.
Sollte die „irdische Rechtsprechung" wirklich erst einer übernatürlichen Erleuchtung bedürfen, um zu erkennen, daß der Krieg in allererster Linie doch zur Verteidigung eines skrupellosen mörderischen Systems und nicht des ausblutenden Volkes fortgesetzt wurde, daß jeder Tag die Tötung Abertausender von Häftlingen in den Zwangslagern, von Soldaten im Felde, von Zivilisten hinter der Front und außerdem die Vernichtung von unermeßlichen Sachwerten in der Heimat bedeutete, daß die Repräsentanten des Regimes im Unrecht und ihre Gegner im Recht waren?! Die Ausführungen des BGH laufen im Grunde auf den befremdlichen Tenor hinaus, der leider in manchen Kreisen heute noch anzutreffen ist: Die Rechtmäßigkeit des Widerstands von Admiral Canaris oder Pastor Bonhoeffer sei eigent85
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BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 352 III. Abs. und Beschluß des Großdeutschen Reichstages vom 26.4.1942, RGB1.1, S. 247: „... in der gegenwärtigen Zeit des Krieges, in der das deutsche Volk in einem Kampf um Sein oder Nichtsein steht...". Die dem Volke übrigens von den NS-Machthabern nach deren wahnwitzigen Vorstellungen eher drohte als von den Kriegsgegnern, s. auch SchwG Augsburg a.a.O. S.321 ob. Wobei allerdings einem Teil des Volkes die Ersetzung des einen totalitären Systems durch ein anderes drohte. BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 352 Mitte, Hervorheb, vom zitier. Verf.
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lieh viel fragwürdiger als die der „Standgerichtsverfahren" eines Huppenkothen und Dr. T. Denn - so ist das übliche Denkschema die ersteren haben „immerhin" die gesetzlichen Tatbestände des Hoch- und Landesverrats verwirklicht und müssen nach einem möglichen Rechtfertigungsgrund für ihre Taten suchen; die letzteren haben (angeblich) „minimale" gesetzliche Voraussetzungen eines „Standgerichtsverfahrens" erfüllt und können die Begründung des eventuell gegebenen Unrechts ihrer Handlungsweise verlangen. In dem hier zu entscheidenden Falle kam es aber gar nicht entscheidend auf das materielle Recht der damaligen „Angeklagten" zum Widerstand an, sondern auf das formelle (prozessuale) Unrecht der früheren „Gerichtspersonen" bei ihrem Vorgehen. Die Häftlinge hatten Anspruch auf ein rechtmäßiges Gerichtsverfahren, selbst wenn sie sich wirklich strafbar gemacht hätten. Das hatte der BGH noch in seiner ersten Revisionsentscheidung richtig gesehen, als er bemerkte, daß die Art und Weise des Vorgehens der SS-Juristen gegen die Widerstandskämpfer abzuurteilen war, „gleichviel, ob die Handlungen", die diesen vorgeworfen wurden, „von der damals herrschenden Auffassung aus als todeswürdige Taten angesehen wurden" oder nicht89. Angesichts der im dritten BGH-Urteil zum Ausdruck kommenden Einstellung wundert es fast, daß der Senat die Verurteilung des früheren „Anklägers" Huppenkothen teilweise aufrechterhalten hat. Zwar hält er auch hinsichtlich dieses Tatbeteiligten die Durchführung der „Standgerichtsverfahren" und den Erlaß der „Todesurteile" für „nicht erweislich widerrechtlich"! Er wertet aber wenigstens die „Vollstreckung der Todesurteile" als rechtswidrig und die Teilnahme Huppenkothens an diesen „Hinrichtungen" als „Beihilfe zum Mord", weil die „Verurteilungen" von Canaris u.a. im KZ Flossenbürg nicht durch den „Gerichtsherrn", also Hitler oder, von diesem delegiert, Kaltenbrunner, bestätigt worden seien90. Dabei findet der 89
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BGH - l.Urt. - a. a. O. S. (325) 331 letzt. Abs. = BGHSt. 2, S. (173) 175; s. schon Anm.25! BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 356, 357; das Revisionsgericht kommt also „auf einem anderen Weg" (S.357) - nicht „Verfahren" und „Urteil" waren rechtswidrig, sondern die Mitwirkung bei der „Hinrichtung"! - zum Ergebnis des SchwG Augsburg: Verurteilung und Bestrafung Huppenkothens.
„Standgerichtsverfahren" in der Nachkriegsrechtsprechung
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BGH einerseits das Unrecht der Tötungen durch die An des Vollzugs (Erhängen in völlig entkleidetem Zustand) bekräftigt, läßt es aber andererseits in gleichem Atemzuge ausdrücklich dahingestellt, ob die „Hinrichtungen" dann noch rechtswidrig gewesen wären, wenn Huppenkothen die fehlende Urteilsbestätigung eingeholt hätte91. Schon diese Unentschiedenheit in der Bewertung des Tötungsaktes als solchen zeigt, wie grotesk es ist, die Rechts Widrigkeitsfrage letztlich nicht von der Art der Einsetzung der „Standgerichte" und der Durchführung des „Verfahrens", kurz: von der Art des Zustandekommens der „Todesurteile" abhängig zu machen, sondern von deren „Bestätigung" durch den „Gerichtsherrn", das aber heißt: durch den Urheber (Anstifter) der Morde, also Hitler bzw. Kaltenbrunner. Wie sollte ein „Nachprüfungsverfahren" etwas anderes als die Fortsetzung der juristischen Farce sein, da es dem Diktator und seinen verbrecherischen Gefolgsleuten doch nur auf die Vernichtung der verhaßten Gegner und eine Verbrämung der eigenen Handlungsweise ankam92! Die Sinnwidrigkeit der höchstrichterlichen Überlegung wird besonders deutlich, wenn man sich folgendes klarmacht: Huppenkothen soll durch seine Mitwirkung an den „Hinrichtungen" nach dem BGH lediglich einer „Beihilfe zum Mord", und zwar des Befehlsgebers (also Hitlers bzw. Kaltenbrunners) schuldig geworden sein. Danach hat dieser doch durch seinen Befehl zu dem unzulässigen SSStandgerichts-Verfahren die Tötungen nicht nur mittelbar verursacht, sondern auch rechtswidrig, vorsätzlich und aus niedrigen Beweggründen wie „Rachsucht und hemmungslosem Vernichtungswillen" verübt93. Wird aber die Rechtswidrigkeit eines solchen Tötungsbefehls in Form der Anordnung einer widerrechtlichen Prozedur anerkannt, dann mußte dessen Ausführung ebenfalls rechtswidrig sein94.
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BGH - 3. Urt. - a. a. O. S. 356 unt. '2 Zu diesem Ziel s. auch den BGH schon in seinem ersten Urteil in: Just. u. NSVerbr. XIII, S. 335 (nicht abgedruckt in BGHSt. 2, S. 173) und selbst noch in seinem dritten Urteil a.a.O. S.357 ob.; SchwG Augsburg a.a.O. S.321. " Vgl. BGH-3. Urt.-a.a.O. S. 357 i. V. m. SchwG Augsburg a. a. O. S. 320/321. M Zur Rechtswidrigkeit der Ausführung rechtswidriger Befehle näher Spendet in LeipzKomm., 10. Aufl., 30. Lfg. 1982, RNr. 74 ff., 79, 90 ff., zu §32 StGB mit weit. Nachweisen.
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Justiz und NS-Verbrechen
Darum drängt sich gegenüber dem dritten BGH-Urteil sofort die Frage auf: Wie sollte der Gerichtsherr und Befehlsgeber (Hitler bzw. Kaltenbrunner) als Mörder durch seine Bestätigung der „Gerichtsurteile" (der widerrechtlichen Tez/ausführung seines gegen das Recht erteilten Befehls!) die „Hinrichtungen" (die restliche und endgültige rechtswidrige Ausführung seiner verbrecherischen Weisung!) zu rechtmäßigen Tötungen stempeln können?! Daß der BGH diese Frage nicht gestellt und richtig beantwortet hat, ist unverständlich. Was er zutreffend in seinem ersten Urteil dem SchwG München vorgeworfen hat95, muß er sich ähnlich bei seiner dritten und letzten Entscheidung vorhalten lassen: Er hat die Rechtslage teilweise verkannt. Konnte er das an den Widerstandskämpfern verübte Unrecht schon nicht wiedergutmachen, so durfte er das den SS-Juristen gegenüber anzuwendende Recht, eingedenk des zu Anfang angeführten Aphorismus, wenigstens nicht schlecht machen! Auf Grund seines falschen Ausgangspunktes hat der BGH schließlich auch den früheren „Ankläger" Huppenkothen trotz dessen Beteiligung an dem „Standgerichtsverfahren" im KZ Oranienburg (Fall RGRat v. Dohnanyi) freigesprochen, weil weder das Fehlen einer Urteilsbestätigung noch die Mitwirkung bei der „Hinrichtung" des Häftlings nachgewiesen sei. Die für diesen Fall vom Tatrichter ausgeworfene Einzelstrafe von 3 Jahren Zuchthaus ist infolgedessen weggefallen, so daß beim Angeklagten Huppenkothen nur noch die 6jährige Einzelstrafe, die vom SchwG Augsburg für die Mitwirkung an den „Verfahren" im KZ Flossenbürg (Fall Canaris u. a.) eingesetzt worden war, übrigblieb. Das also ist das Ergebnis eines Nachkriegsprozesses, der fast sieben Jahre gedauert und sechs Entscheidungen erfordert hat! Jeder Leser, der sich noch ein waches Rechtsgefühl bewahrt hat, wird zugeben müssen, wie wenig von einer rechtlichen Bewältigung unserer Vergangenheit auch hier bei der Aburteilung eines NS-Verbrechens durch die Nachkriegsjustiz die Rede sein kann. Mit dieser Kritik darf der Verfasser Zustimmung gerade bei dem Rechtsgelehrten erwarten, zu dessen Ehren die vorliegende Urteilsanalyse geschrieben worden
95
Vgl. den Text zu Fußn. 56.
„Standgerichtsverfahren " in der Nachkriegsrechtsprechung
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ist - bei Ulrich Klug, der nicht nur für eine formal-logisch einwandfreie Behandlung juristischer Probleme, sondern auch für eine materiell-rechtlich angemessene Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen entschieden eingetreten ist96.
96
Vgl. einerseits Klug, Juristische Logik, 4. Aufl. 1982, und seine Untersuchungen zu Spezialproblemen der juristischen Logik in dem Sammelband „Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Straf recht", l.Bd. 1981, S. 97 ff., andererseits z.B. dens., Die Verpflichtung des Rechtsstaats ZUF Verjährungsverlängerung, in JZ 1965, S. 149 = Skeptische Rechtsphilosophie..., 2.Bd. 1981, S.247.
7. Anhang zu Nr. 2 und 3 a) Beschluß des Amtsgerichts Wetzlar vom 17.6.1935* Der Antrag des Karl Gelzenleuchter in Mudersbach, Kreis Wetzlar: den Standesbeamten in Hohensolms anzuweisen, das von dem Antragsteller bei dem Standesamt Hohensolms beantragte Aufgebot zur Schließung der Ehe zwischen dem Antragsteller und der Jüdin Martha Mayer aus Osthofen, Kreis Worms, zu erlassen, wird abgelehnt.
Gründe Der Antragsteller, der nach seinen eigenen Angaben deutschen Blutes ist, unterhält seit dem Jahre 1930 ein Liebesverhältnis mit der Jüdin Martha Mayer aus Osthofen und hat ihr die Ehe versprochen. Am 26. Mai 1935 beantragte er bei dem für seinen Wohnsitz zuständigen Standesamt in Hohensolms unter Vorlage der erforderlichen Standesurkunden das Aufgebot zur Eheschließung zwischen ihm und der Martha Mayer. Der Standesbeamte lehnte den Erlaß des beantragten Aufgebotes ab mit der Begründung, zur Eheschließung zwischen einem deutschblütigen Manne und einer Jüdin könne er als Nationalsozialist keine Amtshilfe leisten. Der Antragsteller beruft sich darauf, daß die Weigerung des Standesbeamten in den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen keine Grundlage finde, und hat beantragt, den Standesbeamten anzuweisen, das begehrte Aufgebot zu erlassen. Es ist richtig, daß die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen die Eheschließung zwischen einem deutschblütigen Manne und einer Jüdin nicht verbieten. Dieser formal-gesetzliche Zustand vermag aber den Antrag des Antragstellers nicht zu stützen.
Abdruck zu a) und b) nach den Originalakten; Beschl. d. AG Wetzlar auch in JW 1935,5.2083.
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Mit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus in Deutschland sind die Grundlagen der nationalsozialistischen Weltanschauung zugleich die Grundlagen für den völkisch-staatlichen Neuaufbau des deutschen Reiches geworden. Dieser wird durchgeführt und im Tiefsten getragen aus der Erkenntnis der unlöslichen naturgesetzlichen Einheit von Rasse, Seele und Recht. Die Wiederbefreiung des deutschen Menschen von allen schädigenden Einflüssen artfremder Rassen, die Wiedererstarkung der deutschen Seele und ihre Reinerhaltung für alle Zukunft ist hierbei das unverrückbare höchste Ziel. In dieser völkisch gerichteten Grundhaltung wurzelt das Rechtsdenken und die Rechtsfindung im neuen Deutschland ebenso wie das gesamte bereits vorliegende Gesetzgebungswerk des dritten Reiches. Hierfür sind unter anderen insbesondere das Gesetz zur Bereinigung des Berufsbeamtentums nebst Durchführungsverordnungen, sowie das Reichserbhofgesetz, das Gemeindeverfassungsgesetz und das Wehrgesetz die eindeutigsten Bekundungen. Diese grundlegenden Gesetze sind durchdrungen von der Einsicht in die seelisch und körperlich schädigenden Wirkungen der Blutsmischung deutschstämmiger Menschen mit Angehörigen artfremder Rassen oder Blutsgemeinschaften, insbesondere mit Juden; sie erstreben folgerichtig das Ziel, die durch Rassemischung eingetretene Entartung des deutschen Volkes mit allen Mitteln und unverzüglich aufzuhalten und darüber hinaus den rassischen Wiederaufstieg des deutschen Volkes nach allen Richtungen hin zu sichern. Diesem auf allen Gebieten der Gesetzgebung wie auch in dem gesamten amtlichen und halbamtlichen Schrifttum des Staates und der N.S.D.A.P. zu Tage tretenden Streben wäre es ein Schlag ins Gesicht, wollte der nationalsozialistische Staat gleichzeitig weiterhin Ehen zwischen Deutschblütigen und Juden zulassen. Der Einwand, daß trotz alledem solche Mischehen bisher gesetzlich noch nicht verboten seien, schlägt nicht durch. Dieser Einwand entspringt typisch jüdisch-liberalistischem Moral- und Rechtsdenken; letzteres hatte mit dem Grundsatz: „Was nicht verboten ist, ist erlaubt" deutsches Recht und deutsche Sitte bereits fast völlig instinktlos und wurzellocker gemacht. Nationalsozialistische - d. i. arteigene - Rechtsanschauung hat demgegenüber wieder das artgemäße Gesetz des Sollens aufgerichtet als Anforderung an jeden Einzelnen: seine innere Haltung und äußere Lebensführung allein auf das Wohl seines Volkes auszurichten und dessen Belangen sich unterzuordnen. Dieser Satz ist bindendes geltendes Recht des dritten Reiches und, wie oben dargelegt, bereits in grundlegenden Gesetzen eindeutig zum Ausdruck gekommen. Mit diesem Rechtssatz steht die Eheschließung eines deutschblütigen Mannes mit einer Jüdin in unlösbarem Widerspruch. Eine solche Eheschließung kann daher nicht mehr zugelassen werden und der Standesbeamte hat mit Recht den Erlaß des vom Antragsteller begehrten Aufgebotes abgelehnt.
Beschluß Amtsgericht Wetzlar vom 17. Juni 1935
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Der Antrag des Antragstellers, den Standesbeamten zum Erlaß des begehrten Aufgebots anzuweisen, war daher wie geschehen abzulehnen. Die Entscheidung ergeht gebührenfrei.
b) Beschluß des Landgerichts Limburg/Lahn vom 19.8.1935 In Sachen betreffend die Eheschließung des Karl Gelzenleuchter in Mudersbach, Kreis Wetzlar, mit der Martha Mayer aus Osthofen, Kreis Worms, hat die I.Zivilkammer des Landgerichts in Limburg/Lahn auf die Beschwerde des Karl Gelzenleuchter gegen den Beschluß des Amtsgerichts Wetzlar vom 17. Juni 1935 in der Sitzung vom 19. August 1935 beschlossen: Die Beschwerde wird kostenpflichtig zurückgewiesen. Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 500,- RM festgesetzt.
Gründe Der Beschwerdeführer, der arischer Abstammung ist, beabsichtigt, mit der Jüdin Martha Mayer die Ehe einzugehen. Er hat bei dem zuständigen Standesbeamten das Eheaufgebot beantragt. Dieser hat sich geweigert, das Aufgebot zu erlassen. Der Beschwerdeführer hat hierauf bei dem zuständigen Amtsgericht in Wetzlar den Antrag gestellt, daß dieses den Standesbeamten anweisen solle, seinem Verlangen nachzukommen. Das Amtsgericht hat durch den angefochtenen Beschluß den Antrag zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die nach § 11 Abs. 3 Personenstandsgesetz und § 20 FGG zulässige, an keine Frist gebundene Beschwerde des Antragstellers. Die Beschwerde konnte keinen Erfolg haben. Das Beschwerdegericht schließt sich in vollem Umfange den Ausführungen des Amtsgerichts in dem angefochtenen Beschluß, auf den Bezug genommen wird, an. Daß die Reichsführung die Eheschließung zwischen Ariern und Nichtariern nicht billigt, ergibt sich auch aus dem Erlaß des Reichs- und Preußischen Ministers des Innern an die Standesbeamten vom 26. Juli 1935 (Deutsche Justiz 1935, Seite 1086). Die Standesbeamten werden darin angewiesen, bis zu der kommenden gesetzlichen Regelung das Aufgebot oder die Eheschließung in einem Falle wie hier zurückzustellen. Auch angesichts dieses Erlasses sieht sich das Beschwerdegericht nicht in der Lage, dem Standesbeamten die vom Beschwerdeführer gewünschte Anweisung zu erteilen. Der Wille des Führers, den der Reichsministers des Innern als einer seiner engsten Mitarbeiter durch den Erlaß kundgetan hat, ist, wie für jeden Volksgenossen, so auch für den Richter schlechthin bindend. Die Beschwerde war hiernach zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus §§92, 93, 105 Abs. 3 PrGKG.
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c) Urteil des Sondergerichts Nürnberg vom 13.3.1942* Gründe L 1. Der Angeklagte Katzenberger ist Staatsangehöriger Volljude: er gehört der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Nach der Abstammungsseite ergibt ein Auszug aus dem Geburtsregister für die jüdische Gemeinde in Maßbach, daß der Angeklagte am 25. November 1873 als Sohn des Handelsmannes Louis David Katzenberger und seiner Ehefrau Helene, geb. Adelberg, geboren wurde. Der am 30.Juni 1838 in Maßbach geborene Vater des Angeklagten war nach einem Auszug aus der Judenmatrikel Thundorf der eheliche Sohn des Kunstwebers David Katzenberger und seiner Ehefrau Karoline Lippig; die am 14. Juni 1847 in Aschbach geborene Lena Adelberg - Mutter des Angeklagten - war nach einem Auszug aus der Geburtenmatrikel der israelitischen Kultusgemeinde Aschbach die eheliche Tochter des Händlers Adelbert Lehmann und seiner Ehefrau Ley. Die Eltern des Angeklagten wurden ausweislich eines Auszuges aus der Judenmatrikel Thundorf am 3. Dezember 1867 vom Distriktsrabbiner in Schweinfurt verehelicht. Die Großeltern des Angeklagten väterlicherseits schlössen nach einem Auszug aus der Judenmatrikel Thundorf am 3. April 1832 in Werneck die Ehe; die Großeltern mütterlicherseits verehelichten sich nach einem Auszug aus dem Trauregister der israelitischen Kultus gemeinde Aschbach am 14. August 1836. Dem Auszug aus dem Trauregister der israelitischen Kultusgemeinde Aschbach über die Eheschließung der Großeltern mütterlicherseits ist zu entnehmen, daß die im Jahr 1809 in Aschbach geborene Bela-Lea Seemann der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat. Nach der Bekenntnisseite geben die erwähnten Abstammungsurkunden keine weiteren Auskünfte darüber, daß Eltern- oder Großelternteile sich zu dem mosaischen Glauben bekannt haben. Der Angeklagte selbst erklärt, daß er mit Sicherheit sagen könne, daß alle seine vier Großelternteile dem mosaischen Glauben angehört haben. Seine Großmütter habe er noch persönlich gekannt; die beiden Großväter seien auf jüdischen Friedhöfen beerdigt. Ebenso wie er selbst gehörten seine beiden Eltern der mosaischen Religionsgemeinschaft an. Das Gericht sieht keinen
* Aus: Ilse Staff, Justiz im Dritten Reich, 2. Aufl. 1978/79, S. 178 ff.
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Anlaß, in die Richtigkeit dieser bestimmten Angaben, die durch die vorliegenden Auszüge aus ausschließlich Judenmatrikeln voll gestützt werden, Zweifel zu setzen. Trifft es aber zu, daß alle vier Großelternteile dem mosaischen Glauben angehört haben, so gelten die Großeltern nach der Beweiserleichterungsvorschrift im §5 Abs. l in Verb, mit §2 Abs. 2 Satz 2 der VO zum ReichsBG vom 14. Nov. 1935 - RGB1.1, S. 1333 - als Volljuden. Demnach ist der Angeklagte selbst Volljude im Sinne des Blutschutzgesetzes. Daß er selbst dieser Überzeugung gewesen ist, ergibt seine eigene Einlassung. Der Angeklagte Katzenberger kam im Jahre 1912 nach Nürnberg. Hier betrieb er zusammen mit seinen Brüdern David und Max bis zum November 1938 einen Schuhhandel. Seit 1906 ist der Angeklagte verheiratet, er hat 2 Kinder im Alter von 30 und 34 Jahren. Dem Angeklagten und seinen Brüdern David und Max gehörte bis zum Jahre 1938 das Anwesen Spittlertorgraben Nr. 19 in Nürnberg; im Hofgebäude des Anwesens waren Büro- und Lagerräume eingerichtet; das Hauptgebäude an der Straße dient als Wohnhaus mit mehreren Stockwerkwohnungen. Im Jahre 1932 kam die Mitangeklagte Irene Seiler als Mieterin in das Haus Spittlertorgraben Nr. 19 in Nürnberg; seitdem ist der Angeklagte Katzenberger mit ihr bekannt. 2. Die Irene Seiler, geborene Scheffler, ist deutsche Staatsangehörige deutschen Blutes. Ihre Abstammung ist durch Urkunden über alle 4 Großelternteile belegt; sie selbst, ihre Eltern und alle Großelternteile gehören dem evangelischlutherischen Bekenntnis an. Diese Feststellung nach der Bekenntnisseite beruht auf den vorliegenden Geburts- und Heiratsurkunden der Familie Scheffler, die zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht wurden. Nach der Abstammungsseite hin kann folglich an der Deutschblütigkeit der Irene Seiler, geb. Scheffler, kein Zweifel bestehen. Der Angeklagte Katzenberger war davon, daß Irene Seiler deutschen Blutes und deutsche Staatsangehörige ist, überzeugt. Irene Scheffler heiratete am 28. Juli 1939 den Handelsvertreter Johann Seiler. Die Ehe blieb bisher kinderlos. Die Angeklagte besuchte in ihrem Geburtsort Guben Lyzeum und Realschule bis zur Unterprima; anschließend in Leipzig l Jahr die staatliche Akademie für Kunst- und Buchgewerbe. Im Jahre 1932 kam sie nach Nürnberg; hier war sie in der photographischen Werkstätte ihrer Schwester Hertha, die diese seit dem Jahre 1928 als Mieterin im Hause Spittlertorgraben 19 unterhielt, tätig. Am I.Januar 1938 übernahm sie das Geschäft ihrer Schwester selbständig auf eigene Rechnung. Am 24. Februar 1938 legte sie die Meisterprüfung ab.
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3. Dem Angeklagten Katzenberger liegt zur Last, fortgesetzt als Jude mit der Irene Seiler, geb. Scheffler, einer Staatsangehörigen deutschen Blutes, außerehelichen Verkehr gepflogen zu haben; er soll bis März 1940 sehr oft in die Wohnung der Seiler im Hause Spittlertorgraben gekommen sein und bis zum Herbst 1938 sehr oft die Besuche der Seiler in den im Hinterhaus des Anwesens befindlichen Geschäftsräumen empfangen haben. Seiler, die durch Annahme von Geldgeschenken und langfristige Stundung der Monatsmieten in eine starke Abhängigkeit zu dem Angeklagten Katzenberger nach und nach gekommen sei, sei dem Katzenberger in geschlechtlicher Hinsicht zugänglich gewesen. So sei es zwischen beiden zu geschlechtlichen Annäherungen aller Art, insbesondere auch zu Geschlechtsverkehr gekommen. Beide sollen sich, bald in der Wohnung der Seiler, bald in den Geschäftsräumen des Katzenberger gegenseitig geküßt haben. Seiler habe sich sehr oft dem Katzenberger auf den Schoß gesetzt; hierbei soll Katzenberger die Seiler in der Absicht, sich dadurch eine geschlechtliche Befriedigung zu verschaffen, über den Kleidern an den Oberschenkeln getätschelt und gestreichelt haben. Bei solchen Gelegenheiten habe sich Katzenberger eng an die Seiler angeschmiegt und hierbei seinen Kopf an den Busen der Seiler gelegt. Dem Angeklagten Katzenberger liegt zur Last, diese Rassenschande unter Ausnutzung der Kriegslage begangen zu haben; der Mangel an Aufsichtskräften sei ihm zustatten gekommen, um so mehr, als er seine Besuche bei der Seiler im Schütze der Verdunkelung ausgeführt habe. Zudem sei der Ehemann Seiler zur Wehrmacht eingezogen, so daß auch Überraschung durch den Ehemann ausgeschlossen gewesen sei. Der Angeklagten Irene Seiler liegt zur Last, gelegentlich ihrer Einvernahme durch den Ermittlungsrichter bei dem Amtsgericht Nürnberg am 9.7.1941 bewußt der Wahrheit zuwider angegeben und mit einem Eid bekräftigt zu haben, diesen Annäherungen hätten jegliche geschlechtlichen Beweggründe gefehlt, insbesondere glaube sie, daß dies auch bei Katzenberger der Fall gewesen sei. Seiler soll sich hierdurch des Zeugenmeineids schuldig gemacht haben. Die Angeklagten führen zu ihrer Verteidigung aus: Die Angeklagte Seiler: Als sie im Jahre 1932 im Alter von 22 Jahren in die photographische Werkstätte ihrer Schwester nach Nürnberg gekommen sei, sei sie auf sich selbst gestellt gewesen; ihre Schwester Hertha sei nach Guben zurückgekehrt und habe dort ein Atelier eröffnet. Ihr Vater habe sie an den Vermieter, den Angeklagten Katzenberger, empfohlen, diesen gebeten, auf sie ein fürsorgliches Augenmerk zu haben und ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. So sei sie mit dem Juden Katzenberger näher bekannt geworden. In der Folgezeit sei Katzenberger auch tatsächlich ihr Berater geworden; insbesondere sei er ihr in ihrer mißlichen finanziellen Lage helfend zur Seite gestanden. In ihrer Freude über die ihr seitens Katzenberger erwiesene
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Freundschaft und Güte habe sie nach und nach in ihm nur noch den väterlichen Freund gesehen; es sei ihr gar nicht mehr zum Bewußtsein gekommen, daß sie in Katzenberger einen Juden vor sich habe. Es sei richtig, daß sie im Schuhlager des Katzenberger im Hinterhaus ein- und ausgegangen sei; wenn sie dies nach Büroschluß getan habe, so deshalb, weil sie dann Schuhe habe besser aussuchen können. Auch sei es vorgekommen, daß sie dem Katzenberger bei solchen Besuchen und beim Verweilen des Katzenberger in ihrer Wohnung gelegentlich mal einen Kuß gegeben und zugelassen habe, daß Katzenberger sie küßte. Hierbei habe sie sich auch öfters dem Katzenberger auf den Schoß gesetzt; das sei so ihre Art, da denke sie sich nichts dabei. Keineswegs sei etwa in geschlechtlichen Beweggründen der Ausgangspunkt für ihr Handeln zu suchen. Sie habe stets auch angenommen, daß Katzenberger keine anderen als nur fürsorglich väterliche Gefühle zu ihr beherrschen. Auf diese Annahme gestützt, habe sie am 9. Juli 1941 dem Ermittlungsrichter die mit ihrem Eid bekräftigte Aussage gemacht, daß sie glaube, daß die ausgetauschten Zärtlichkeiten auch bei Katzenberger keinen erotischen Gefühlen entsprungen seien. Der Angeklagte Katzenberger: Er will sich nicht strafbar gemacht haben. Er schützt vor, nur sehr freundschaftlich mit Frau Seiler Umgang gepflogen zu haben; die Familie Scheffler in Guben habe sein Verhältnis zur Frau Seiler auch nur als weitestgehend freundschaftlich gewertet. Wenn er über die Jahre 1933, 1935 und 1938 hinaus seinen Umgang mit Frau Seiler fortgesetzt habe, so sei dies vielleicht nach der Auffassung der NSDAP ein Unrecht; die Tatsache der Fortführung sei aber ein Zeichen für sein gutes Gewissen. Nach der Judenaktion im Jahre 1938 seien zudem die Zusammenkünfte seltener geworden. Nach der Verehelichung der Frau Seiler im Jahre 1939 sei auch der Ehemann Seiler oftmals überraschend nach Hause gekommen, als er - Katzenberger - bei der Frau Seiler in der Wohnung anwesend gewesen sei. Niemals habe jedoch der Ehemann Seiler ihn in einer verfänglichen Situation mit seiner Frau angetroffen. Im Januar oder Februar 1940 sei er auf Wunsch des Ehemannes Seiler zweimal in die Wohnung der Seiler gekommen, um den Eheleuten bei der Abgabe von Steuererklärungen behilflich zu sein. Die letzte Unterredung in der Wohnung der Eheleute Seiler habe er im März 1940 geführt. Damals habe Frau Seiler ihm nahegelegt, die Besuche wegen der ihr seitens der NSDAP gemachten Vorhalte einzustellen; in Gegenwart ihres Mannes habe Frau Seiler ihm zum Abschied einen Kuß gegeben. Irgendwelche erotischen Absichten habe er bei Frau Seiler niemals verfolgt. Deshalb könne er auch keine Kriegslage und keine Verdunkelung ausgenutzt haben.
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. Das Gericht hat die Ausflüchte des Angeklagten Katzenberger und die Einschränkungen, mit denen die Angeklagte Seiler ihre Zugeständnisse abzuschwächen versucht hat, wie folgt gewürdigt: Als die Angeklagte Seiler im Jahre 1932 nach Nürnberg übersiedelte, war sie im Alter von 22 Jahren ein vollaufgewachsenes, geschlechtsreifes Mädchen. Sie zeigte sich auch - nach ihren eigenen, insoweit glaubhaften Angaben im Umgang mit Freunden geschlechtlicher Hingabe nicht unzugänglich. In Nürnberg trat sie als Nachfolgerin ihrer Schwester in der photographischen Werkstätte im Anwesen Spittlertorgraben Nr. 19 in den Bannkreis des Angeklagten Katzenberger. Im Umgang mit diesem ließ sie sich innerhalb eines Zeitraumes von fast zehn Jahren nach und nach zum Austausch von Zärtlichkeiten herbei, wobei - nach dem Geständnis beider Angeklagten Situationen geschaffen wurden, die keineswegs als Auswirkungen nur väterlicher Freundschaft gewertet werden können. Seiler setzte sich oft bei Zusammenkünften mit Katzenberger, sei es in dessen Geschäftsräumen im Hinterhaus, sei es in ihrer Wohnung, dem Katzenberger auf den Schoß und küßte ihn unbestritten auf Mund und Wangen. Bei dieser Gelegenheit erwiderte Katzenberger, wie er zugibt, diese Zärtlichkeiten mit eigenen Küssen, schmiegte seinen Kopf an den Busen der Seiler und tätschelte und streichelte deren Oberschenkel über den Kleidern ab. Die Annahme, diese zugegebenen wechselseitig getauschten Zärtlichkeiten seien bei Katzenberger der Ausdruck nur väterlicher Empfindungen, bei Seiler nur stark gefühlsbetonte Handlungen aus kindlichem Gefühl gewesen, die sich aus der Situation unwillkürlich ergeben hätten, widerspricht jeder Erfahrung des täglichen Lebens. Die Ausflüchte der Angeklagten nach dieser Richtung erachtet das Gericht als nichts anderes als den plumpen Versuch, die geschlechtsbetonten Handlungen auf das Gebiet des Gemütes, frei von jeder Geschlechtslust abzuschieben. Das Gericht hat in Ansehung der Persönlichkeit der beiden Angeklagten und auf Grund der Beweisaufnahme die sichere Überzeugung gewonnen, daß in geschlechtlichen Beweggründen der Ausgangspunkt für die Zärtlichkeiten der beiden Angeklagten zu suchen ist. Seiler befand sich meist in finanziellen Schwierigkeiten. Katzenberger nahm diesen Umstand zum Anlaß, der Seiler häufig Geldgeschenke zu machen; er gab ihr wiederholt Geldbeträge von einer bis zu zehn Reichsmark. Außerdem stundete er ihr in seiner Eigenschaft als Hausverwalter des Anwesens, in dem die Seiler wohnte und das der Firma, bei der er Teilhaber war, gehörte, die geschuldeten Mieten sehr lange. Vielfach schenkte Katzenberger der Seiler Zigaretten, Blumen und Schuhe. Die Angeklagte Seiler räumt auch ein, daß sie durchaus darauf bedacht war, sich die Gunst des Katzenberger, mit dem sie sich duzte, zu erhalten.
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Nach den in der Hauptverhandlung getroffenen Feststellungen boten beide Angeklagten ihrer näheren Umwelt, vornehmlich der Hausgemeinschaft im Anwesen Spittlertorgraben Nr. 19 das Gesamtlebensbild eines intimen Verhältnisses. Von den Zeugen Kleylein, Paul und Babette, Mäsel Johann, Heilmann Johann und Leibner Georg wurde wiederholt beobachtet, daß Katzenberger und Seiler sich gegenseitig zuwinkten, wenn Seiler von einem nach dem Rückgebäude zu gelegenen Fenster ihrer Wohnung den Katzenberger in seinen Büroräumen sah. Den Zeugen waren die beobachteten häufigen Besuche der Seiler in den Geschäftsräumen des Katzenberger nach Geschäftsschluß und auch sonntags sowie das längere Verweilen dort besonders auffallend. Die Tatsache, daß Seiler den Katzenberger stets um Geld anging, war im Laufe der Jahre der ganzen Hausgemeinschaft bekannt geworden; es bildete sich auf Grund dieser Wahrnehmungen die Überzeugung, daß Katzenberger als jüdischer Gläubiger diese Zwangslage der deutschblütigen Frau Seiler geschlechtlich ausnütze, wobei der Zeuge Heilmann gelegentlich einer Unterhaltung mit dem Zeugen Paul Kleylein diese seine Auffassung in den Worten ausdrückte, der Jude könne das gegebene Geld bei der Seiler billig abarbeiten. Beide Angeklagten faßten auch selbst die gegenseitigen Besuche und wechselseitigen Zärtlichkeiten keineswegs nur so als gelegentliche Harmlosigkeiten des alltäglichen Lebens auf. Nach den Bekundungen der Zeugen Kleylein Babette und Paul beobachteten diese, daß Katzenberger sich sichtlich erschrocken zeigte, als er wahrnahm, daß von diesen Zeugen sein Verweilen in der Wohnung der Seiler noch im Jahre 1940 entdeckt wurde. Die Zeugen beobachteten auch, daß Katzenberger sich in der letzten Zeit mehr in die Wohnung der Seiler schlich, als unbekümmert einging. Im August 1940 mußte die Angeklagte Seiler sich gefallen lassen, daß gelegentlich eines Fliegeralarms im Luftschutzraum ihr der Hauseinwohner Ostreicher in Gegenwart der übrigen Hausbewohner auf eine Anrede erwiderte: „Du Judenmensch, Dir helfe ich noch!" Seiler veranlaßte zu ihrer Verteidigung gegen diesen Vorwurf in der Folgezeit nichts; sie nahm nur Veranlassung, den Vorfall kurz darauf dem Katzenberger zu berichten. Seiler ist jede auch nur einigermaßen glaubhafte Angabe darüber schuldig geblieben, warum sie gegenüber solch stärkster Verdachtsäußerung so auffallende Zurückhaltung geübt hat. Mit dem Hinweis allein, daß ihr über 70 Jahre alter Vater ihr von einem Vorgehen gegen Östreicher abgeraten habe, kann bei der Schwere des in aller Öffentlichkeit erhobenen Vorwurfs ihre Zurückhaltung nicht verständlich gemacht werden. Nach den Darlegungen des Zeugen Krim.Ob.Ass. Hans Zeuschel ist es auch nicht so, daß beide Angeklagten auf Vorhalt die geschaffenen sexuellen
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Situationen gleich von Anfang an als Harmlosigkeiten zugegeben haben. Daraus, daß Seiler erst nach eindringlichen Vorhalten nähere Zugeständnisse über ihre dem Katzenberger erwiesenen Zärtlichkeiten machte, und daraus, daß Katzenberger gelegentlich seines Beschuldigtenverhörs bei der Polizei erst dann mit der Sprache herausrückte, als ihm die Angaben der Seiler vorgehalten wurden, muß gefolgert werden, daß beide ihre Handlungen, wegen deren sie sich verantworten sollten, doch als wert erachteten, geheimgehalten zu werden. Nach diesem Sachzusammenhang ist das Gericht der Überzeugung, daß die von den beiden Angeklagten abgegebenen Erklärungen nichts anderes sind als nur Zugeständnisse aus Gründen der Zweckmäßigkeit, dazu bestimmt, eine durch Zeugenaussagen erhärtete Situation zu entgiften und zu verharmlosen. Seiler hat auch zugegeben, daß sie ihrem Ehemann keineswegs die vor ihrer Eheschließung mit Katzenberger ausgetauschten Zärtlichkeiten geoffenbart habe; sie habe nur berichtet, daß Katzenberger ihr schon viel geholfen habe. Nach ihrer im Juli 1939 erfolgten Eheschließung habe sie auch nur einmal in Gegenwart ihres Mannes dem Katzenberger einen „Freundschaftskuß " auf die Wange gegeben; im übrigen habe man es vermieden, sich gegenseitig im Beisein des Ehemannes Seiler zu küssen. Das Gericht ist auf Grund des wiederholt charakterisierten Verhaltens der Angeklagten zueinander davon überzeugt, daß es sich bei dem 10 Jahre lang gepflogenen Verhältnis des Katzenberger zur Seiler um Beziehungen ausschließlich geschlechtlicher Natur handelte. Nur so kann deren vertrauter Umgang erklärt werden. Bei der Unmenge von verführerischen Gelegenheiten kann kein Zweifel bestehen, daß der Angeklagte Katzenberger mit der Seiler in fortgesetzter Geschlechtsverbindung stand. Die gegenteiligen Behauptungen des Katzenberger, er habe kein geschlechtliches Interesse an der Seiler gehabt, hält das Gericht für unwahr; die den Angeklagten Katzenberger in seiner Verteidigung unterstützenden Angaben der Angeklagten Seiler erachtet das Gericht jeder Lebenserfahrung widersprechend; sie sind offenbar in der Absicht gemacht, den Angeklagten Katzenberger der Strafe zu entziehen. Das Gericht ist deshalb überzeugt, daß Katzenberger mit der Seiler nach Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze bis zum März 1940 an nicht mehr feststellbaren Tagen und in nicht bestimmter Zahl wiederholt Geschlechtsverkehr hatte. Unter außerehelichem Geschlechtsverkehr im Sinne des Blutschutzgesetzes ist neben dem Beischlaf jede Art geschlechtlicher Betätigung mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts zu verstehen, die nach der Art ihrer Vornahme bestimmt ist, an Stelle des Beischlafes der Befriedigung des Geschlechtstriebes mindestens des einen Teiles zu dienen. Die von den Angeklagten zugegebenen Handlungen, die bei Katzenberger darin bestan-
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den, daß er die Seiler an sich heranzog, küßte, an den Schenkeln über den Kleidern tätschelte und streichelte, charakterisieren sich dahin, daß Katzenberger damit das an der Seiler in gröblicher Form ausgeführt hat, was der Volksmund als „Abschmieren" bezeichnet. Daß nur in geschlechtlichen Beweggründen der Ausgangspunkt für solches Handeln zu suchen ist, ist offenkundig. Hätte der Jude an der Seiler nur diese sogenannten „Ersatzhandlungen" vorgenommen, so hätte er schon dadurch den vollen gesetzlichen Tatbestand der Rassenschande erfüllt. Darüber hinaus ist aber das Gericht überzeugt, daß Katzenberger, der zugegebenermaßen noch heute in der Lage ist, den normalen Beischlaf auszuüben, während der gesamten Dauer des Verhältnisses regelmäßig mit der Seiler den Beischlaf ausgeführt hat. Es ist nach der Lebenserfahrung ausgeschlossen, daß Katzenberger im Laufe von fast 10 Jahren bei dem oft bis zu einer Stunde währenden Zusammensein mit der Seiler es bei solchen das Gesetz für sich allein schon erfüllenden Ersatzhandlungen hat bewenden lassen.
III. Der Angeklagte Katzenberger ist sonach überführt, nach dem Inkrafttreten des Blutschutzgesetzes, das ist nach § 7 dieses Gesetzes nach dem 17. September 1935, als Jude mit einer Staatsangehörigen deutschen Blutes außerehelichen Verkehr gepflogen zu haben. Er hat auf Grund eines einheitlichen, von Anfang an auf Wiederholung gerichteten Vorsatzes gehandelt. Katzenberger ist mithin eines - fortgesetzten - Verbrechens der Rassenschande nach §2 und §5 Abs. II des Gesetzes zum Schütze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 schuldig zu sprechen. Die rechtliche Würdigung des festgestellten Sachverhalts ergibt, daß der Angeklagte Katzenberger bei seinem rasseschänderischen Treiben darüber hinaus allgemein die außergewöhnlichen, durch den Kriegszustand verursachten Verhältnisse ausgenützt hat. Stadt und Land sind weithin ohne Männer, die infolge ihrer Einberufung zum Heere oder für andere Zwecke der Wehrmacht verhindert sind, zu Hause tätig zu sein und so für Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Diese allgemeinen Verhältnisse, diese durch den Krieg veränderten Umstände hat sich der Angeklagte zunutze gemacht. Der Angeklagte stellte, als er seine Besuche bei der Seiler in deren Wohnung bis zum Frühjahr 1940 fortsetzte, in Rechnung, daß bei dem gegebenen Ausfall irgendwelcher eingehenderen Kontrollmaßnahmen seine Machenschaften nicht oder doch nur sehr schwer durchschaut werden können. Die durch die Einziehung des Ehemannes Seiler zum Heeresdienst veränderten häuslichen Umstände erleichterten sein Treiben.
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Unter diesem Gesichtspunkt besehen, ist das Verhalten des Katzenberger besonders verwerflich. In Verbindung mit dem Verbrechen der Rassenschande war er sonach auch wegen eines Verbrechens nach § 4 der VO gegen Volksschädlinge schuldig zu sprechen. Hierbei ist zu beachten, daß die Volksgemeinschaft eines wesentlich erhöhten strafrechtlichen Schutzes gegen alle Verbrecher bedarf, die ihre innere Geschlossenheit zu zerstören oder zu zersetzen suchen. In mehreren Fällen schlich sich der Angeklagte Katzenberger seit Kriegsausbruch 1939 nach Einbruch der Dunkelheit in die Wohnung der Seiler. In diesen Fällen wurde der Angeklagte im Schütze der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffenen Maßnahmen tätig, indem er die Verdunkelung ausnutzte. Das Fehlen der in Friedenszeiten vorhandenen helleuchtenden Straßenbeleuchtung am Straßenzug des Spittlertorgrabens gab dem Angeklagten größere Sicherheit. Diesen Umstand nützte er jedesmal in voller Erkenntnis seiner Bedeutung aus; instinktiv entzog er sich bei seinen Unternehmungen so der Beobachtung durch die Straßenbenutzer. Die im Schütze der Verdunkelungsmaßnahmen ausgeführten Besuche des Katzenberger bei der Seiler dienten mindestens dazu, das Verhältnis warmzuhalten. Es kann dahingestellt bleiben, ob bei diesen Besuchen auch tatsächlich außerehelicher Geschlechtsverkehr stattfand oder nur Unterhaltungen gepflogen wurden, weil der Ehemann Seiler anwesend war, wie Katzenberger geltend macht. Der Antrag auf Vernehmung des Ehemannes Seiler wurde deshalb auch abgelehnt. Das Gericht ist der Auffassung, daß die in dem einheitlichen Lebensvorgang eingeordneten zweckbestimmten Handlungen des Angeklagten ein Verbrechen gegen den Leib im Sinne des §2 der VO gegen Volksschädlinge darstellen. Das Gesetz vom 15. September 1935 ist erlassen zum Schütze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Die Rassenschande des Juden stellt einen schweren Angriff auf die Reinheit des deutschen Blutes dar, der rasseschändende Angriff ist gegen den Leib der deutschen Frau gerichtet. Das allgemeine Schutzbedürfnis läßt insoweit das Verhalten des anderen an der Rassenschande Beteiligten, aber nicht strafbaren Teiles unbeachtlich erscheinen. Daß der rasseschänderische Verkehr der Angeklagten noch bis mindestens 1939/1940 gepflogen wurde, ergibt die von dem Zeugen Zeuschel bekundete Tatsache, daß die Angeklagte Seiler wiederholt und immer gleichbleibend zugegeben hat, daß sie Ende 1939, Anfang 1940 sich dem Juden auf den Schoß gesetzt und die dargelegten Zärtlichkeiten ausgetauscht hat. Mithin hat sich der Angeklagte auch nach §2 der Verordnung gegen Volksschädlinge verfehlt. Der Angeklagte ist auch nach seiner Persönlichkeit ein Volksschädling; sein seit vielen Jahren ausgeführtes rasseschänderisches Treiben wuchs sich unter Ausnützung der durch den Kriegszustand geschaffenen Gesamtlage zu
Urteil Sondergericht Nürnberg-Fürth
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volksfeindlicher Einstellung aus, zu einem Angriff gegen die Sicherheit der Volksgemeinschaft in der Kriegsgefahr. Daher war der Angeklagte Katzenberger in Verbindung mit einem Verbrechen der Rassenschande wegen eines Verbrechens nach § 2 und § 4 der VO gegen Volksschädlinge in rechtlichem Zusammentreffen nach § 73 StGB zu verurteilen. Die Angeklagte Seiler hat nach der Überzeugung des Gerichts erkannt, daß die seitens Katzenberger mit ihr fortlaufend vorgenommene Betätigung eine geschlechtliche Betätigung gewesen ist; das Gericht ist überzeugt, daß Seiler sich dem Katzenberger zum Geschlechtsverkehr hingegeben hat. Demnach war der von ihr abgegebene Zeugeneid wissentlich und gewollt falsch, sie hat sich eines Verbrechens des Meineids nach §§154, 153 StGB schuldig gemacht.
IV. Bei der Strafbemessung haben das Gericht folgende Erwägungen bestimmt: Die nationalsozialistische politische Lebensform des deutschen Volkes hat ihre Grundlage im Gemeinschaftsleben. Eine Grundfrage dieses völkischen Gemeinschaftslebens ist die Rassenfrage. Die Rassenschande im Verkehr des Juden mit einer deutschen Frau schändet die deutsche Rasse, stellt einen schweren Angriff auf die Reinheit des deutschen Blutes im rasseschänderischen Angriff auf die deutsche Frau dar. Das Schutzbedürfnis ist ein besonders großes. Katzenberger unterhält sein rasseschänderisches Treiben seit Jahren. Er kannte den Standpunkt des völkisch empfindenden deutschen Menschen in der Rassenfrage genau, er war sich bewußt, daß er mit seinem Verhalten dem völkischen Empfinden des deutschen Volkes ins Gesicht schlug. Weder die nationalsozialistische Revolution 1933 noch der Erlaß des Blutschutzgesetzes 1935, weder die Judenaktion 1938 noch der Kriegsausbruch 1939 bewirkten bei ihm eine Umkehr. Das Gericht erachtet es für geboten, als einzige mögliche Antwort auf die Frivolität des Angeklagten gegen ihn die in Anwendung des § 4 der VO gegen Volksschädlinge vorgesehene schwerste Strafe, die Todesstrafe, auszusprechen. Insoweit der Angeklagte in Verbindung mit dem Verbrechen der Rasseschande auch wegen eines Verbrechens nach §2 der Volksschädlingsverordnung zu verurteilen war, gewinnt seine Tat unter Berücksichtigung der Person des Angeklagten und der Häufung der Ausführungshandlungen das Gewicht eines besonders schweren Falles. Daher muß den Angeklagten insoweit die vom Gesetz für einen solchen Fall allein vorgesehene Todesstrafe treffen. Der Sachverständige Medizinalrat Dr. Baur bezeichnet den Angeklagten als voll verantwortlich.
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Dementsprechend erkannte das Gericht auf die Todesstrafe. Gleichzeitig war geboten, die in §§ 32-34 StGB bezeichneten Rechte ihm auf Lebenszeit abzuerkennen. Bei der Bemessung der Strafe für die Angeklagte Seiler war deren Persönlichkeitsbewertung in den Vordergrund zu stellen. Seiler hat viele Jahre hindurch das schändliche Liebesverhältnis mit dem Juden Katzenberger unterhalten. Ihr schimpfliches Verhältnis wurde nicht berührt durch die völkische Erneuerung des deutschen Volkes seit dem Jahre 1933, die Verkündung des Gesetzes zum Schütze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre am 15. September 1935 machte keinen Eindruck auf sie. Die Tatsache, daß sie im Jahre 1937 Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt hat und die Parteigenossenschaft erwarb, bedeutet in diesem Zusammenhang eine frivole Herausforderung. Als mit der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen Katzenberger dem deutschen Volk für den rasseschändenden Angriff des Juden Genugtuung gebracht werden sollte, ignorierte die Angeklagte Seiler die allgemeinen Belange der mißachteten Staatsautorität sowie die Volksinteressen vollständig; sie stellte sich schützend vor den Juden. Unter Berücksichtigung dieser gesamten Umstände erachtete das Gericht eine Zuchthausstrafe von vier Jahren von der Angeklagten an und für sich als verwirkt. Strafmäßigend kommt in Betracht, daß die Angeklagte jedoch in Eidesnotstand ihr wissentlich falsches Zeugnis mit einem Eid bekräftigt hat; die Angabe der Wahrheit konnte gegen sie eine Verfolgung wegen Ehebruchs und Begünstigung nach sich ziehen. Das Gericht ermäßigte deshalb die an sich verwirkte Strafe auf die Hälfte und erkannte auf zwei Jahre Zuchthaus als schuldangemessene Strafe, §157 Abs.I Nr. l StGB. Wegen der durch die Tat erwiesenen Ehrlosigkeit mußten ihr auch die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt werden. Es ist dies auf die Dauer von zwei Jahren geschehen. Anrechnung der Untersuchungshaft: §60 StGB. Kostenentscheidung: §465 StPO.
d) Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21.7.1970* Aus den Gründen: Das SchwurG hat die Angeklagten Dr. F. und Dr. H. wegen Totschlags zu Freiheitsstrafen von 3 Jahren und 2 Jahren verurteilt. Ihnen wird zur Last gelegt, als Beisitzer eines von dem LGDir. Dr. R. geleiteten Sondergerichts am 13.2.1942 durch eine Rechtsbeugung den jüdi* NJW 1971, S. 571 ff.
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sehen Kaufmann K. wegen Rassenschande zum Tode verurteilt zu haben. Eine gleichzeitige Verurteilung der Angeklagten wegen eines jeweils tateinheitlich begangenen Verbrechens der Rechtsbeugung ist wegen Verfolgungsverjährung unterblieben. Gegen das Urteil haben sowohl die StA als auch die Angeklagten Revision eingelegt. Die Rechtsmittel haben Erfolg. A. Revision der StA. Mit ihrer Revision, die vom GenBA vertreten wird, wendet sich die StA dagegen, daß die Angeklagten nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags verurteilt worden sind. I. Zutreffend geht das SchwurG davon aus, daß unter den besonderen Merkmalen des Mordes für die Tat der Angeklagten allein ein Handeln aus niedrigen Beweggründen in Betracht kommt. Es verneint aber eine Tatmotivation der Angeklagten, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht, sieht vielmehr den tragenden Beweggrund darin, daß die Angeklagten „aus Furcht vor R. und der Partei kapitulierten". Damit ist der Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt. Einmal reichen die vom SchwurG bisher getroffenen Feststellungen zur Rechtfertigung der Schlußfolgerung, Furcht der Angeklagten sei das alles überdeckende Tatmotiv gewesen, nicht aus. Zum anderen ist es nicht auszuschließen, daß das SchwurG mögliche - niedrige - Beweggründe übersehen oder deren Tragweite verkannt hat. Nach den Feststellungen des Urteils haben die Angeklagten - anders als der Sondergerichtsvorsitzende R. - den von den Nationalsozialisten praktizierten Antisemitismus persönlich nicht gebilligt. Auch wenn sie davon ausgingen, daß dem damaligen Beschuldigten, über den sie zu urteilen hatten, als Juden nach der NS-Ideologie ohnehin jede Menschenwürde abgesprochen wurde, und sie zur Vermeidung unbequemer Auseinandersetzungen mit R. dem rechtswidrigen Todesurteil in der Gewißheit zustimmten, vor nachteiligen, insbesondere strafrechtlichen Folgen bewahrt zu bleiben, hätten sie aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Damit würden sie sich aus reiner Willkür zum Herrn über Leben und Tod des Beschuldigten aufgeworfen haben. Ein gewisser Hinweis ergibt sich insoweit bereits aus der Aussage des Angeklagten Dr. H. vor dem SchwurG, er habe es menschlich „unbewußt als eine Erleichterung empfunden, daß K. als Jude ... sowieso ein toter Mann gewesen sei. Falls ein Todesurteil nicht ergangen wäre, hätte die Gestapo sich seiner angenommen und ihn zu Tode gebracht". Schließlich läßt das Urteil des SchwurG auch eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob beruflicher Ehrgeiz und Willfährigkeit gegenüber einem - gerade in Personalangelegenheiten - einflußreichen Vorgesetzten das Handeln der Angeklagten entscheidend mitbestimmt haben könnten. 1. Verschiedene Feststellungen sprechen dagegen, daß die Furcht der Angeklagten tragender Beweggrund ihres Handelns war.
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Das SchwurG hat keine konkreten Gefahren genannt, die den Angeklagten von seilen des Sondergerichtsvorsitzenden R. gedroht hätten. Insbesondere ist nicht festgestellt, daß R. in diesem oder auch in sonstigen Verfahren mit massivem persönlichem Druck oder gar der Androhung von persönlichen Folgen auf die Entscheidungsfreiheit der Angeklagten eingewirkt hat. Diese selbst haben in der Hauptverhandlung im Gegenteil übereinstimmend ausgesagt, bei der Entscheidung keinem äußeren Zwang oder Druck von Seiten R.s ausgesetzt gewesen zu sein. Das „Schlimmste", was bei der Kundgabe abweichender Meinungen in der Beratung habe passieren können, wäre auch nach der Aussage des Angeklagten Dr. H. - die mögliche Versetzung aus dem Sondergericht in eine andere Kammer gewesen. In den Bekundungen der Angeklagten im Juristenprozeß im Jahre 1947 (Das Nürnberger Juristenurteil, 1948, S. 212 ff.), auf die das SchwurG Bezug nimmt und in denen das autoritäre Wesen R.s hervorgehoben wird, ist von persönlichem Zwang oder Drohungen gegenüber den Angeklagten ebenfalls keine Rede. Vor allem hatte im Vorverfahren der Ermittlungsrichter in einem Aktenvermerk niedergelegt, daß gegen K. ein dringender Tatverdacht wegen Rassenschande nicht mehr bestehe, und sein Vertreter hatte sich wenig später dem Ansinnen R.s widersetzt, diesen vom „deutschen Objektivitätsfimmer zeugenden Vermerk aus den Akten zu entfernen. Es ist nicht festgestellt, daß die beiden Richter wegen ihres Verhaltens bis zur Hauptverhandlung von dem Sondergericht in irgendeiner Weise zur Rechenschaft gezogen worden sind; der Ermittlungsrichter war in diesem Zeitpunkt bereits selbst zum Sondergericht versetzt worden. 2. Auch im Hinblick auf den Verfahrensgegenstand drängen sich Anhaltspunkte für eine solche Motivation der Angeklagten nicht auf. Verfahren wegen Rassenschande waren häufiger. Aus dem angefochtenen Urteil ergibt sich nicht, daß der Prozeß gegen K. für die NS-Machthaber ein derartiges Gewicht hatte, daß die Angeklagten bei Stimmabgabe für einen von ihnen als geboten erkannten Freispruch schwerwiegende persönliche Nachteile hätten befürchten müssen. Selbst in höchsten NS-Juristenkreisen wurde das Todesurteil gegen K. als gewagt angesehen; sogar Roland Freisler, der Staatssekretär im Reichsjustizministerium und spätere Präsident des Volksgerichtshofs, erklärte, daß er das Urteil zwar für vertretbar, aber wegen der Anwendung des §2 Volksschädlingsverordnung v. 5.9.1939 (RGBl. I 1679) - WO - für kühn halte. Schließlich äußerte sich R. gegenüber einem anderen Richter, von 100 Vorsitzenden hätten 99 nicht den Mut gehabt, K. zu verurteilen; er habe diesen Mut besessen. ^ 3. Furcht als Beweggrund der Angeklagten war auch nicht notwendig aus der allgemeinen Situation der Strafrichter zur damaligen Zeit begründet. Die nationalsozialistischen Machthaber waren im rechtlichen Bereich stets bestrebt, den Schein der Rechtlichkeit und richterlichen Unabhängigkeit
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tunlichst zu wahren (Weinkauff-Wagner, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968, S. 160 ff., 360 ff.). Wurde dadurch deren Ziel einer mißbräuchlichen Benutzung des Strafrechts auch nur getarnt, so gab dieser Umstand andererseits doch allen, die sich nicht als willfährige Diener des Unrechts mißbrauchen lassen wollten, die Möglichkeit eines Ausweichens, ohne sich allzusehr verdächtig zu machen. Im Rahmen des unter einem totalitären Regimes Menschenmöglichen konnte der Richter immer noch der Gerechtigkeit dienen. Er konnte insbesondere durch gründliche Beweisaufnahme, Vorsicht bei der Tatsachenfeststellung, mit einer weiten Anwendung des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten" und einer engen Auslegung des Tatbestands unerträgliche Folgen vermeiden, auf vertretbare, der Schuld angemessene Strafen erkennen und die Verfahrensgarantien ausschöpfen (BGH, Urt. v. 30.6.1959 - l StR 639/58). Eine Einflußnahme der Justizbehörden oder Parteistellen auf den Prozeß K. ist nicht festgestellt. Im übrigen bezog sich eine Lenkung von Verfahren nicht auf die Feststellung des tatbeständlichen Sachverhalts, sondern in der Regel nur auf die aus ihm abzuleitenden Rechtsfolgen. In einer Anordnung des Reichsjustizministeriums v. 13.10.1942, also noch nach dem Urteil gegen K., heißt es hierzu: „Im Kriege hat die Rechtsprechung in erster Linie der Erringung des Sieges zu dienen. Sie ist nach den staatspolitischen Notwendigkeiten auszurichten. Das kann man gegenwärtig nur durch eine einheitliche Lenkung der Justiz erreichen. Die Weisungsfreiheit des Richters wird dadurch nicht aufgehoben. Die Lenkung bezieht sich nicht auf die Feststellung des Tatbestandes, sondern auf die aus ihm abzuleitenden Rechtsfolgen" (mitgeteilt bei Weinkauff-Wagner, a. a. O. S. 156; s. auch S. 361 ff.). II. Die auch damals bestehenden Möglichkeiten rechtlicher Verfahrensweise haben die Angeklagten im Verfahren gegen K. nicht genutzt, obwohl sie die Judengesetzgebung nicht gebilligt und als gesetzliches Unrecht erkannt haben, das durch eine Heranziehung der WO noch verschärft wurde. Die schriftlichen Urteilsgründe machen vielmehr das Bestreben deutlich, unter allen Umständen zur Verhängung der Todesstrafe zu kommen. Es ist auffallend, daß alle nur möglichen Umstände und Gesichtspunkte zu Lasten K.s ausgelegt und gegen ihn gewendet wurden. Dies gilt für die Beweiswürdigung ebenso wie für die unhaltbare Auslegung der §§ 2, 4 WO und die Strafzumessungserwägungen, bei denen letztlich die Rassenzugehörigkeit - bereits Tatbestandsmerkmal nach § 2 BlutschutzG - als Strafschärfungsgrund die Todesstrafe rechtfertigen sollte. Die Tragweite dieser offenkundigen Tendenz des Sondergerichtsurteils und der hierzu getroffenen Feststellungen hat das SchwurG - möglicherweise infolge der Eventualerwägungen - nicht voll gewürdigt. Das hat dazu geführt, daß bei der Begründung zu der den Angeklagten angelasteten Rechtsbeugung - der Voraussetzung
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einer Verurteilung wegen eines Tötungsverbrechens (BGHSt. 10, 294, 299 = NJW 1957, 1158) - sachliche Fehler unterlaufen sind. 1. Das SchwurG ist zutreffend davon ausgegangen, daß Rechtsbeugung durch Sachverhaltsverfälschung, durch unrichtige Anwendung der gesetzlichen Vorschriften und durch Ermessensmißbrauch bei der Strafzumessung nach zutreffender Sachverhaltsfeststellung begangen werden kann. Jedoch hat es nicht konsequent beachtet, daß es sich dabei um alternative Begehungsmöglichkeiten handelt. Das SchwurG sieht die Rechtsbeugung vor allem darin, daß die Angeklagten als Mitglieder des Sondergerichts in dem Verfahren gegen K. mit der Annahme mehrfachen Geschlechtsverkehrs zwischen dem damaligen Beschuldigten K. und Frau S., d. h. mit der Feststellung eines tatbestandserheblichen Sachverhalts i. S. der §§2, 5 Abs. 2 BlutschutzG v. 15.9.1935 (RGBl. I 1146), bewußt gegen den Grundsatz „in dubio pro reo" verstoßen hätten. Es hat hier allerdings unter begrifflicher Verkennung eine Sachverhaltsverfälschung verneint. Eine solche Verfälschung will es offensichtlich nur annehmen, wenn anstelle des festgestellten ein anderer Sachverhalt dem Urteil zugrunde gelegt wird. Das ist unrichtig. Eine Sachverhaltsverfälschung liegt auch dann vor, wenn der Tatrichter bei der Beweiswürdigung den grundlegenden Beweis- und Verfahrensgrundsatz „im Zweifel für den Angeklagten" bewußt außer Betracht läßt, um trotz fehlender oder unzureichender Anhaltspunkte zu für den Angeklagten ungünstigen Feststellungen zu kommen. 2. Die Erwägungen des SchwurG zur Frage einer Sachverhaltsverfälschung durch die Angeklagten sind von ihrem Ansatzpunkt her verfehlt. Den Angeklagten wird vorgeworfen, daß sie als Mitglieder des Sondergerichts unter Beugung des Rechts durch ihre Stimmabgabe für das Todesurteil mit direktem Vorsatz den Tod des damaligen Beschuldigten K. herbeigeführt haben. Das BlutschutzG (§ 5 Abs. 2) sah die Todesstrafe nicht vor. Lediglich in §§ 2, 4 WO war die Todesstrafe als schwerste Strafart für besondere Fälle angedroht. Eine Rückwirkung dieser Verordnung auf die ihrem Erlaß vorangehende Zeit war bereits durch ihren inhaltlichen Bezug ausgeschlossen, da sie die Ausnutzung gerade der kriegsbedingten Verhältnisse erfassen sollte. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Sachverhaltsverfälschung muß folglich die Prüfung dahin gehen, ob dem Todesurteil des Sondergerichts die - auf tragfähige Beweisanzeichen gestützte - Überzeugung der Angeklagten zugrunde lag, daß der damalige Beschuldigte im Zeitraum vom Inkrafttreten der WO bis März 1940 den Tatbestand der sogenannten Rassenschande unter den besonderen Voraussetzungen der §§ 2, 4 WO erfüllt hatte. Für den Mangel einer solchen Überzeugung und damit für eine bewußte Verfälschung des Sachverhalts durch die Angeklagten sprechen, wie in dem angefochtenen Urteil klar zum Ausdruck kommt, die eindeutige Zielsetzung
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des Sondergerichtsverfahrens, die Urteilsbegründung des Sondergerichts und die Aussagen der Angeklagten in früheren Verfahren. a) Verschiedene vom SchwurG festgestellte, aber nicht erschöpfend gewürdigte Umstände weisen darauf hin, daß in der Sache K. - für beide Angeklagte offenkundig - nur ein Scheinverfahren durchgeführt werden sollte, bei dem es dem Sondergerichtsvorsitzenden R. nicht auf eine ernsthafte und erschöpfende Klärung des Tatvorwurfs, sondern lediglich auf die Vernichtung des Beschuldigten K. unter rechtlicher Tarnung ankam. In einem Aktenvermerk vertrat der Ermittlungsrichter unter Hinweis auf die beabsichtigte Aufhebung des Haftbefehls die Auffassung, daß mangels ausreichender Indizien ein dringender Tatverdacht gegen K. zu verneinen sei. Dieser Auffassung trat der - bislang mit der Sache nicht befaßte - Sondergerichtsvorsitzende in einem von ihm veranlaßten Gespräch mit dem stellvertretenden Ermittlungsrichter entgegen, der jedoch in Gegenwart des Angeklagten Dr. F. die von R. gewünschte Entfernung dieses Vermerks aus den Akten strikt verweigerte. R. war daraufhin - aus fanatischem Rassenhaß heraus - bestrebt, das vor der vom Angeklagten Dr. F. geleiteten 4.StrK anhängige Verfahren an sich zu ziehen und vor das von ihm geleitete Sondergericht zu bringen, um den Beschuldigten der Todesstrafe zuzuführen. Durch seine Anregung an die StA, unter Ausrichtung auf ein Verbrechen gegen die WO, dessen Aburteilung nach der VO v. 21.2.1940 (RGBl. I 405) zur ausschließlichen Zuständigkeit des Sondergerichts gehörte, weitere Ermittlungen durchzuführen, hatte er damit Erfolg. Kennzeichnend für die eigentliche Zielsetzung des Sondergerichtsverfahrens war auch, daß gleichzeitig gegen Frau S., die wegen Rassenschande nicht verfolgt werden konnte, Anklage wegen Meineides erhoben worden war, weil sie vor dem Ermittlungsrichter unter Eid geschlechtliche Beziehungen zu K. verneint hatte. Das war schon deshalb ungewöhnlich, weil dadurch eine sogenannte Arierin gemeinsam mit einem Juden auf der Anklagebank saß, was an sich tunlichst vermieden werden sollte. Wenn man ein solches Bild dennoch in Kauf nahm, mußte dafür schon ein sehr gewichtiger Grund bestanden haben. Dieser Grund lag auch klar auf der Hand. Durch die Erhebung der Anklage wegen Meineides wurde zunächst einmal bezweckt, Frau S. als unglaubwürdige Beweisperson abzustempeln. Sodann wurde durch die Einbeziehung dieser Anklage in das Verfahren K. erreicht, daß sie überhaupt als Zeugin ausgeschaltet wurde. Damit nahm man, und darauf kam es letztlich entscheidend an, K. die nach Lage der Sache einzige Möglichkeit, die Anklage wegen Rassenschande zu Fall zu bringen, nämlich durch die gegebenenfalls wiederum eidliche Aussage der Frau S. in der Hauptverhandlung als Zeugin, daß zwischen ihr und K. keine geschlechtlichen Beziehungen bestanden haben. Eine solche Manipulation war in der Rechtsprechung selbst während der Zeit der Hitlerdiktatur und des Krieges,
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in der ohnehin der Grundsatz eines fair trial den staatspolitischen Notwendigkeiten untergeordnet wurde, ein außergewöhnlicher Vorgang. In verschiedenen Gesprächen, zuletzt nach der Beweisaufnahme mit dem Sitzungsvertreter der StA, ließ R. in Gegenwart beider Angeklagter keinen Zweifel daran, daß er unter allen Umständen gegen K. auf Todesstrafe erkennen wolle; er gab dem StA entsprechende Hinweise für sein Plädoyer. R. zog das Verfahren als Schauprozeß auf. Seine besonders rüde, gehässige und zynische Verhandlungsführung, die selbst bei überzeugten Nationalsozialisten als Skandal empfunden wurde, war ein - auch für die Angeklagten untrügliches Kennzeichen dafür, daß hier unter dem Mißbrauch rechtlicher Formen Unrecht gesetzt werden sollte. b) Das SchwurG hätte sich auch näher mit der - von dem Angeklagten Dr. F. abgesetzten - schriftlichen Begründung des Sondergerichtsurteils auseinandersetzen müssen, die eindeutig erkennen läßt, daß die Angeklagten die Begehung der Rassenschande und die Tatmodalitäten der WO nicht für erwiesen hielten. Das Sondergerichtsurteil steckt voller Widersprüche und abwegiger rechtlicher Konstruktionen, die ersichtlich den Mangel an beweiserheblichen Feststellungen und an substantiellen Erwägungen zu einem tatbestandlich relevanten Sachverhalt verschleiern sollten. Die „Feststellung" über den „wiederholten bis März 1940 fortdauernden rassenschänderischen Geschlechtsverkehr" des damaligen Beschuldigten steht ohne tragfähige Beweisgrundlage gleichsam als formelhafte Wendung in der Begründung. Sie wird sogleich durch die folgende Hilfserwägung in Frage gestellt, daß selbst dann, wenn es nur zu den - im Urteil näher gekennzeichneten - Zärtlichkeiten gekommen sei, der Tatbestand der Rassenschande erfüllt sei; diese Vertraulichkeiten werden sodann im Widerspruch zu den von der damaligen Rechtsprechung entwickelten Kriterien (RGSt. 70, 375 ff.) als sogenannte „Ersatzhandlungen" gewertet. Die Behauptung solcher Zärtlichkeiten ist - abgesehen von der Einlassung der Beschuldigten K. und Irene S. - lediglich durch die Aussage des Kriminalbeamten Z. in die Hauptverhandlung eingeführt worden. Bei dessen einmaliger Vernehmung der Frau S. zu Beginn der Ermittlungen war es aber auf den genauen Zeitpunkt nicht angekommen, da der Vorwurf nach der WO erst später durch R. in die Ermittlungen eingeführt wurde. Nach den in den Urteilsgründen wiedergegebenen übereinstimmenden Aussagen der beiden damaligen Beschuldigten, auf die das Urteil des Sondergerichts insoweit überhaupt nicht eingeht, ist es zu solchen Zärtlichkeiten in dem hier allein wesentlichen Zeitraum nach Inkrafttreten der WO, d. h. nach Kriegsbeginn, nicht mehr gekommen; vielmehr hat sich K. nach den vom Sondergericht getroffenen Feststellungen nur noch dreimal mit Frau S. und ihrem Ehemann getroffen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Aussage des Angeklagten Dr. F. vor dem SchwurG Bedeutung, seiner damaligen Überzeugung nach sei
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K. „wenigstens an drei Abenden während des Krieges bei Frau S. ... gewesen. Er habe ja gar nicht gewußt, ob S. (d. h. der Ehemann) gerade da sei, wenn er komme". Bezüglich dieser auch vom Sondergericht angenommenen abendlichen Besuche lassen es die Urteilsgründe aber gerade ausdrücklich dahingestellt, ob es dabei zum Geschlechtsverkehr mit Frau S. oder wegen der Anwesenheit ihres Ehemannes nur zu Unterhaltungen gekommen sei. Zur Rechtfertigung der tatbestandlichen Relevanz greift hier das Urteil auf die rechtlich unerhebliche Hilfserwägung zurück, diese Besuche hätten jedenfalls dem „Warmhalten des Verhältnisses" zu Frau S. gedient. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß ein Beweisantrag des damaligen Beschuldigten K. auf Vernehmung des Ehemannes S. über dessen ständige abendliche Abwesenheit mit eben dieser Hilfserwägung und nicht etwa mit der Begründung zurückgewiesen wurde, der Beschuldigte habe auch tagsüber genug Gelegenheit gehabt. Das SchwurG hat übersehen, daß diese verschiedenen Hilfserwägungen ein nahezu untrügliches Kennzeichen dafür sind, daß die Angeklagten von der Begehung der Rassenschande, d.h. dem vollzogenen Geschlechtsverkehr, in dem hier maßgeblichen Zeitraum nach Inkrafttreten der WO nicht überzeugt sein konnten. c) Die vorstehenden, für eine bewußte Sachverhaltsverfälschung sprechenden Erwägungen finden ihre Bestätigung auch in Erklärungen, die die Angeklagten in früheren Verfahren abgegeben haben. Der Angeklagte Dr. F. hat nach den vom SchwurG getroffenen - aber ebenfalls nicht ausreichend gewürdigten - Feststellungen sowohl im Nürnberger Juristenprozeß im Jahre 1947 als auch im Disziplinarverfahren gegen R. 1957/58 als Zeuge ausgesagt, daß nach seiner damaligen Überzeugung dem Beschuldigten K. Rassenschande nicht habe nachgewiesen werden können. Ferner erklärte er in einer eidesstattlichen Versicherung v. 20.11.1946, deren Wahrheitsgehalt er noch in den Jahren 1957 und 1958 im Disziplinarverfahren gegen R. bestätigte, zum Prozeß gegen K. u. a., „das bestehende Recht (sei) erheblich umgebogen" worden. Für die mangelnde Überzeugung des Angeklagten Dr. H. - er hatte damals von den Zweifeln des Ermittlungsrichters am dringenden Tatverdacht Kenntnis - von der Erweisbarkeit eines vorwerfbaren Sachverhalts spricht die Tatsache, daß er bei der Urteilsberatung Bedenken gegen den Nachweis des vollzogenen Geschlechtsverkehrs erhoben hat. In diesem Zusammenhang ist schließlich von Bedeutung, daß er auch in einer - später (1951) inhaltlich nochmals bestätigten - eidesstattlichen Versicherung v. 8.3.1947 das Urteil gegen K. als „untragbar, ungerecht und unmenschlich" bezeichnet hat. Beide Angeklagte haben in verschiedenen eidesstattlichen Erklärungen, zu deren Wahrheitsgehalt sie sich bei späteren Gelegenheiten bekannt haben,
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auch bestätigt, daß sie die rechtswidrige Zielsetzung, die R. mit dem Verfahren gegen K. verfolgt habe, erkannt hätten. III. Alle diese Gesichtspunkte wird das SchwurG bei der erneuten Verhandlung zu berücksichtigen haben. Auf Grund der neu zu treffenden Feststellungen wird es sich insbesondere auch mit den Beweggründen des Handelns der Angeklagten auseinandersetzen müssen. Sollten sich die Angeklagten dabei beruhigt haben, daß K. als Jude nach der NS-Ideologie ohnehin ein „Nichts" war und sie deshalb bei einer rechtswidrigen Verurteilung kein Risiko, insbesondere keine Gefahr einer strafgerichtlichen Verfolgung liefen, so läge darin ein niedriger Beweggrund (vgl. BGHSt. 18, 37, 39 = NJW 1962, S.2308; BGH, Urt. v. 7.7.1964 - l StR 37/64). Das SchwurG hat dieses Motiv zwar gesehen und es nicht ausgeschlossen. Es hat aber dessen Tragweite möglicherweise verkannt, weil es auf Grund unzulänglicher Feststellungen Furcht als tragenden Beweggrund angesehen hat (vgl. unter AI). Es ist auch nicht völlig auszuschließen, daß - zumindest bei dem Angeklagten Dr. F. - der Wunsch nach beruflichem Weiterkommen, also beruflicher Ehrgeiz, eine Rolle gespielt haben mag. Immerhin hatte der Sondergerichtsvorsitzende R. nach den Feststellungen des SchwurG als Gaugruppenwalter des NS-Rechtswahrerbundes die einflußreichste Position innerhalb der Nürnberger Justiz inne; keine Beförderung und kein Personalwechsel konnte ohne seine Zustimmung vollzogen werden. Tatsächlich wurde der Angeklagte Dr. F. Anfang 1943 zum Landgerichtsdirektor und kurze Zeit darauf als Nachfolger R.s zum Vorsitzenden des Sondergerichts ernannt, wenngleich er dort wegen „unzureichender Härte" nach wenigen Monaten wieder abgelöst wurde. Das SchwurG hat diesen Gesichtspunkt bisher nicht geprüft. B. Revisionen der Angeklagten. Die Revisionen beider Angeklagten haben mit der Sachrüge Erfolg. Das Urteil kann wegen verschiedener sachlicher Fehler und Widersprüche in den Ausführungen des SchwurG zur Frage der Rechtsbeugung als der Voraussetzung einer Verurteilung wegen Tötungsverbrechen keinen Bestand haben. I. Einerseits spricht das SchwurG ganz umfassend von der Unhaltbarkeit der dem Sondergerichtsurteil zugrunde liegenden Feststellungen und stützt sich dabei insbesondere auf die eidesstattlichen Erklärungen des Angeklagten Dr. F., nach denen dieser den Vorwurf der Rassenschande niemals für bewiesen hielt. Andererseits zieht da,s SchwurG jedoch einen Trennstrich zwischen der Beweislage für die Zeit vor und nach der Eheschließung der Frau S. (Juli 1939). Bereits darin liegt eine Unstimmigkeit. Bezüglich des Zeitraums vor der Eheschließung führt das Urteil des SchwurG aus, die Überzeugung der Angeklagten von der Erweislichkeit des Geschlechtsverkehrs K.s mit Frau S. „könne kaum widerlegt werden", und ergänzt dies sogar dahin, daß „auch ein gewissenhafter und erfahrener
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Richter ... den Nachweis als geführt ansehen konnte". Für die Zeit danach verneint das SchwurG die Schlüssigkeit solcher Folgerungen. Diese Zäsur in der Beweislage mit der Eheschließung der Frau S., an deren häuslichen Verhältnissen sich im übrigen nichts Wesentliches geändert hatte, weil sie ihren späteren Mann schon ein Jahr lang „beherbergte", ist nicht haltbar. Die Erwägungen des SchwurG sind insoweit widersprüchlich. Es gesteht den Angeklagten zu, daß sie auch für den Zeitraum nach der Eheschließung den Austausch sexuell bedingter Zärtlichkeiten zwischen K. und Frau S. für bewiesen halten konnten. Ließen aber solche Intimitäten nach Auffassung des SchwurG einen Schluß auf vollzogenen Geschlechtsverkehr überhaupt zu, so konnte es folgerichtig den Angeklagten nicht vorwerfen, bei gleichbleihender Beweislage für die Zeit nach der Eheschließung S. derartige Folgerungen gezogen zu haben. II. Auch die Ausführungen des SchwurG zur inneren Tatseite der Rechtsbeugung sind nicht frei von Mängeln. 1. Das SchwurG schließt auf den Vorsatz der Angeklagten aus der Gesamtheit der festgestellten Fehler des sondergerichtlichen Urteils. Insoweit ist bereits die Erwägung des SchwurG mißverständlich, daß bei isolierter Betrachtung der einzelnen Fehler im einen oder anderen Fall nicht auszuschließen sei, daß Irrtum ihre Ursache gewesen sein könne. Die Gesamtheit der Fehler kann aber nicht vorsätzlich herbeigeführt sein, wenn einzelne auf fahrlässigem Irrtum beruhen. Der Vorsatz muß vielmehr für jeden einzelnen Fehler feststehen, mag auch die Vielzahl hierfür ein Indiz sein (vgl. auch BGHSt. 10, 294, 298 = NJW 1957, S. 1158). Das SchwurG stützt sich bei der Begründung des Rechtsbeugungsvorsatzes entscheidend auf seine Hilfserwägung zum Ermessensmißbrauch bei der Strafbemessung. Die in diesem Zusammenhang festgestellten Mängel sind für das SchwurG ersichtlich ausschlaggebend. Dabei verkennt es aber offenbar, daß es sich bei der richtig verstandenen Sachverhaltsverfälschung und dem Ermessensmißbrauch um wesensverschiedene alternative Begehungsmöglichkeiten der Rechtsbeugung handelt, denen jeweils eine spezifische Vorsatzrichtung zugeordnet ist. Vorliegend mußte danach feststehen, daß die Angeklagten bewußt den Sachverhalt verfälscht haben. Da aber das SchwurG den Vorsatz nur aus der Gesamtheit der Fehler herleiten zu können glaubt und dabei den Strafzumessungserwägungen des sondergerichtlichen Urteils denen allerdings bei der Bewertung der Gesamttendenz dieses Urteils ein Indizwert zukommen kann - die entscheidende Bedeutung beimißt, bleibt es zweifelhaft, ob es den Nachweis eines Rechtsbeugungsvorsatzes im Sinne einer Sachverhaltsverfälschung für erbracht hielt. 2. Bedenklich sind schließlich die Erwägungen des SchwurG zur inneren Tatseite der Rechtsbeugung auch insoweit, als sie den Tatbestand des §4 WO betreffen.
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Das Urteil des Sondergerichts hat den damaligen Beschuldigten unter dem Gesichtspunkt des §4 WO, der den Ausspruch der Todesstrafe tragen sollte, angelastet, er habe unter Ausnutzung der kriegsbedingten Abwesenheit des Ehemannes S. Rassenschande getrieben. Das SchwurG führt hierzu aus, es fehle - unabhängig von der Frage der Erweisbarkeit eines Geschlechtsverkehrs - an dem Merkmal der Ausnutzung. Denn der Ehemann S. sei in seiner Heimatstadt N. stationiert und nicht kaserniert gewesen; er habe zu Hause schlafen und auch tagsüber dort hereinschauen können. Das SchwurG hat aber nicht festzustellen vermocht, daß diese besonderen Vergünstigungen S.s den Angeklagten bei der Urteilsfindung bekannt waren. Es wirft den Angeklagten deshalb insoweit eine Verletzung der Aufklärungspflicht vor. Den Vorsatz der Rechtsbeugung vermag nur ein bewußter Verstoß gegen die Aufklärungspflicht zu begründen. Ein solcher ist aber in diesem Zusammenhang nicht hinreichend dargetan. Das SchwurG hat nicht ausgeführt, aus welchen besonderen Gründen für die Angeklagten Veranlassung bestanden haben soll, den Normalfall der Kasernierung, der eine regelmäßige Anwesenheit S.s in seiner Wohnung ausgeschlossen hätte, in Zweifel zu ziehen. Selbst der Beweisantrag der Verteidigung K.s ließ die insoweit außergewöhnlichen Umstände nicht erkennen. III. Diese fehlerhaften Erwägungen beruhen darauf, daß das SchwurG die Frage der Sachverhaltsverfälschung von einem unzutreffenden Ansatzpunkt her beurteilt hat. Insoweit kann auf die Ausführungen zur Revision der StA Bezug genommen werden (unter All). Das Urteil war mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache an das SchwurG zurückzuverweisen.