Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken: Zur Dynamik des Terrors im totalitären System [1 ed.] 9783428455263, 9783428055265


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German Pages 212 Year 1983

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Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken: Zur Dynamik des Terrors im totalitären System [1 ed.]
 9783428455263, 9783428055265

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 55

Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken Zur Dynamik des Terrors im totalitären System Von

Daniel Suter

Duncker & Humblot · Berlin

DANIEL SUTER

Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 55

Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken Zur Dynamik des Terrors im totalitären System

Von

Daniel Suter

DUNCKER

&

HUMBLOT / BERLIN

Abdruck der der Rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich vorgelegten Dissertation

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Suter, DanieI:

Rechtsauflösung durch Angst und Schrecken: zur Dynamik d. Terrors im totalitären System / von Daniel Suter. - Berlin: Duncker und Humblot, 1983. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung; Bd. 55) ISBN 3-428-05526-8 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1983 bel Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed In Germany ISBN 3 428 05526 8

Inhaltsverzeichnis Erster Teil: Einleitung I. Thema und Aufbau der Arbeit ..................................

9

1. Thema

9

2. Aufbau

10

3. Was hat das mit Recht zu tun? ..............................

11

H. Methode und Maßstäbe ..........................................

12

1. Soziologischer Ansatz: Theodor Geiger ........................

12

2. Psychologischer Ansatz: Sigmund Freud ......................

12

3. Persönliche Prämissen.. . . .. . . . . . .. . .. . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . ..

15

HI. Beispiele und Quellen ...........................................

16

1. Beispiele ......................................................

a) Zur Frage der Auswahl .................................... b) Die "Große Säuberung" in der Sowjetunion ................

16 16 17

2. Quellen .......................................................

19

IV. Vorläufige Definition einiger Begriffe .............................

20

1. Angst.........................................................

20

2. Terror ........................................................

22

3. Ideologie

23

4. Totalitär

26

Zweiter Teil: Voraussetzungen Kapitell: Ausgangspunkt der Verfolgten: Die soziale Interdependenz

29

I. Gruppen erster und zweiter Ordnung .............................

29

1. Gruppen erster Ordnung ......................................

29

2. Gruppen zweiter Ordnung .....................................

30

3. übergangsformen .............................................

31

11. Soziale Ordnung ..................................................

32

1. Kollektives Menschenbild .....................................

32

6

Inhaltsverzeichnis 2. Soziale Ordnung und Norm....................................

33

3. Die Verbindlichkeit der Norm. . . . . .. . . . . . .. . . . .. . . . . .. . . . . .. . ..

33

IH. Orientierung innerhalb der sozialen Ordnung .....................

35

1. Erkennbarkeit einer Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

2. Ordnungs bewußtsein ..........................................

35

3. Bewegungsfreiheit in der sozialen Ordnung ....................

36

IV. Soziale Interdependenz und Rechtsordnung ......................

36

Kapitel 2: Ausgangspunkt der Verfolger: Die Vision einer neuen Gesellschaft

38

I. Das Leiden an der Gegenwart ....................................

38

II. Vom Aufruf zum Aufstand........................................

39

III. Die Legitimation der neuen Ordnung .............................

42

Dritter Teil: Äußerer Befund Kapitel 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten im totalitären System

46

I. Zwei verschiedene Terrorsituationen ..............................

46

1. Die Unterscheidung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

46

2. Gewalt und Einschüchterung im Kampf um die Macht ......... a) Die Instrumente des Terrors ................................ b) Kritiker des Terrors ........................................ c) Versuche zur Legitimierung des revolutionären Terrors .....

47 47 48 49

3. Terror als Mittel zur sozialen Umwälzung im totalitären System

51

II. Erste Stufe: Propaganda bereitet die Verfolgung vor. . . .. . . . . . . . ..

52

1. Totalitäre Propaganda im Kampf gegen autonomes Denken....

52

2. Propaganda als Prophezeiung .......... . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

HI. Zweite Stufe: Verdrängung aus dem Berufsleben ................

55

IV. Dritte Stufe: Ausstoßung aus der Gesellschaft. . .. . . . . .... . . . ... ..

58

V. Vierte Stufe: Verlust der Menschenwürde ........................

60

VI. Fünfte Stufe: Konzentrationslagerhaft und Massentötung ..........

62

1. Die Konzentrationslager des Dritten Reiches ..................

62

2. Die KL als Gegenwelt .........................................

64

3. Die Todesfabriken .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

67

4. Die sowjetischen Lager im Vergleich ..........................

71

Inhaltsverzeichnis

7

Kapitel 4: Die totale Säuberung in der Theorie und der Praxis der Verfolger

74

I. Säuberung als weltanschaulicher Auftrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

74

II. Die notwendige Unschärfe der revolutionären Norm ..............

76

1. Der Antagonismus von staat und Partei ......................

76

2. Gesetze als Fassade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

78

3. Geheime Normen .............................................

82

4. Wille und Herrschaft ..........................................

85

5. Die Folgen ....................................................

87

III. Der "objektive" Feind ............................................

91

1. Der Begriff des "objektiven" Feindes ..........................

91

2. Die Stigmatisierung des "objektiven" Feindes ..................

93

3. Der "objektive" Feind steht außerhalb ........................

94

4. Politische Prozesse gegen "gemeine Verbrecher" ................

96

5. Von der Schuld zur Schädlichkeit ..............................

97

IV. Die unentbehrlichen Helfer .......................................

98

1. Mobilisierung der Bevölkerung ................................

98

2. Abtreten der Verantwortung. . .. .. . .. . .. . . . . .. . . . .. . .. . . ... ...

99

3. Hierarchie und Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 101 4. Erzwungene Komplizenschaft der Opfer ........................ 104 V. Das Geständnis im politischen Stra!prozeß ........................ 107 1. Selbstanklagen ohne Grenzen .................................. 107

2. Fabrikation von Beichten ...................................... 110 3. Geständnisse als einziger Schuldbeweis ........................ 113 4. Beweiswürdigung durch das Gericht ........................... 115 5. Prozesse und politische Manipulation .......................... 117 VI. Die Schraube der Gewalt ......................................... 120 1. Die Rolle der Polizei .......................................... 120 2. Einige Unterschiede zwischen den Säuberungen in der UdSSR und im Dritten Reich ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 123

3. Im Strudel von Folter und Denunziation ...................... 126 VII. Exkurs: Die Sprache der Annihilation ... .......................... 131

Vierter Teil: Innerer Befund Kapitel 5: Die Angst der Verfolgten

I. Angstfaktoren

136 136

II. Zerfall der sekundären und primären Bindungen .................. 139

8

Inhaltsverzeichnis

111. Angstabwehr

.................................................... 144

1. Verleugnung .................................................. 144

2. Regression .................................................... 147 3. Projektion .................................................... 148 4. Identifikation mit dem Angreifer .............................. 150 5. Zusammenbruch der Angstabwehr: Tod als Erlösung .......... 152 IV. Die bleibenden Folgen des Terrorprozesses ........................ 155

Kapitel 6: Die Angst der Verfolger

160

I. Kommunikationsstörungen im totalitären System . ................. 160 11. Isolation des Regimes und Angstbereitschaft ...................... 162 111. Angst aus Schuld ................................. . .... . . . ....... 164 IV. Angstabwehr ..................................................... 168

1. Paranoide Projektion ......................................... 168

2. Verleugnung .................................................. 174 a) Verleugnung durch Kognitionseinschränkung ............... 174 b) VerleugnWlg durch Umwerten .............................. 177 V. Nachwirkungen des Terrorprozesses bei ehemaligen Verfolgern .... 181

1. Die Angst nach dem Terrorprozeß ............................ 181

2. Angstabwehr durch Verleugnung .............................. 183 3. Angstabwehr durch Isolierung ................................ 184 4. Angstabwehr durch Projektion ................................ 185 5. Angstabwehr in den sozialistischen staaten nach Stalins Tod... 186 6. Eine Lücke in der Abwehr: das Beispiel "Holocaust" .......... 189

Fünfter Teil: Ergebnisse I. Psychologie der politischen Säuberung im totatitären System

191

11. Terrorprozeß und soziale Ordnung ................................ 194 111. Fiihrerkult als Ausdruck sozialer Angst .......................... 197

Bibliografie

201

Erster Teil: Einleitung I. Thema und Aufbau der Arbeit 1. Thema Dies ist eine Studie über einige Zusammenhänge zwischen politischer Herrschaft und Angst. Untersuchungsgegenstand ist eine Herrschaftspraxis, bei der die soziale Kontrolle besonders ausgeprägt mit sozialer Angst verbunden ist; es ist die Praxis von politischen Systemen, die auch "totalitär" genannt werden. Ausgangspunkt war die Hypothese, daß eines der Merkmale totalitärer Herrschaft die "Säuberung" ist, die Verfolgung und Vernichtung von zu Feinden erklärten Menschen, und daß bei dieser Säuberung Angstvorstellungen eine zentrale Rolle spielen. Das Denken und Handeln nicht nur der Verfolgten, sondern dasjenige ihrer Verfolger ist von Angst bestimmt. Die Angst der Verfolgten steht mit der Angst der Verfolger in einer engen Wechselbeziehung, und dieses Zusammenwirken beeinflußt den Verlauf einer Säuberung. Sie verdichtet sich zum Terrorprozeß, indem die Angstvorstellungen beider Seiten sich durch den Einbezug von Angstabwehrmechanismen reziprok potenzieren und der Säuberung dadurch eine wachsende Eigendynamik verleihen. Soweit die hypothetischen Grundlagen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die Vorbedingungen, die Bestandteile und die Wirkungsweise des Terrorprozesses im totalitären System 1 . Als Nebenergebnis möchte sie dem Begriff "Terror" einige schärfere Konturen zurückgeben. Dies als Antwort auf den inflationären Gebrauch dieses Begriffes in der aktuellen tagespolitischen Diskussion, wo bereits eine Räuberbande, die ihre Banküberfälle mit politischen Parolen verbrämt, zur "Terroristengruppe" erklärt wird. Wenn wir für jede Gewalttat gleich das Etikett "Terror" zur Hand haben, dann fehlen uns bald einmal angemessene Begriffe für Ereignisse und Handlungen, von denen in den folgenden Kapiteln die Rede sein wird. 1 Damit ist auch schon eine Grenze der Arbeit angedeutet: Sie erhebt nicht den Anspruch, eine Gesamtdarstellung des Phänomens "Totalitarismus" zu sein.

10

Einleitung 2. Aufbau

Der Versuch, einen gesellschaftlichen Prozeß - in unserem Fall einen Terrorprozeß - zu beschreiben, stößt auf einige Hindernisse. Schon das Zerlegen in einzelne, auf einander bezogene Komponenten bedeutet eine erste Abstraktion, eine Interpretation. Diese Interpretation übersetzt ein komplexes soziales Geschehen in ein Modell, besser noch: in eine Art Maschine, deren Bestandteile präzise und sinnreich miteinander kooperieren. Der Bauplan dieser Maschine ist aber stets das Werk des Interpreten; kein Modell ist je die "objektive" Abbildung des sozialen Prozesses.- Die zweite Schwierigkeit besteht darin, diese Maschine in Aktion zu schildern. Alle Teile arbeiten ja gleichzeitig. Jede Aufsplitterung in einzelne Bewegungsschritte birgt die Ge~ fahr, daß anstelle eines dynamischen Vorganges ein statisches Bild vermittelt wird. Und schließlich: wenn schon die Darstellung der Maschine mit den Mitteln der Sprache ein Zerlegen unvermeidbar macht - wo entlang sollen die Schnittebenen verlaufen? Auch diese Entscheidung ist willkürlich und sagt vielleicht mehr über die Optik des Beschreibenden aus als über das Wesen des beschriebenen Prozesses. Das durchgehende Thema dieser Studie ist die Beziehung zwischen Verfolgten und Verfolgern, die wechselseitige Beeinflussung beider Seiten. Um dieses Verhältnis zu verdeutlichen, sind die einzelnen Teile symmetrisch angeordnet: jedem Abschnitt, der die Opferseite behandelt, ist der entsprechende der Verfolgerseite gegenübergestellt. Das beginnt bei den Voraussetzungen (I!. Teil), die in groben Umrissen skizziert sind. Um die spätere Entwurzelung der Opfer und die psychischen Folgen davon nachvollziehen zu können, müssen wir zuvor uns eine Vorstellung davon machen, worin denn die Verwurzelung des Einzelnen in seiner Umwelt, die soziale Interdependenz, besteht (Kapitel 1). Ebenso setzen die Säuberungsmaßnahmen der Verfolger die Frage nach dem Entstehen eines grundlegenden Gegenentwurfes zur jeweils bestehenden Gesellschaftsordnung voraus, eines Konzeptes also, nach welchem die Gesellschaft umgeformt und geläutert werden soll (Kapitel 2). Eine andere wichtige Wechselbeziehung besteht zwischen der Außenund der Innensphäre eines Individuums. Einerseits bewegt sich eine Person in ihrer Umwelt, handelt und wird behandelt, anderseits birgt sie in sich Wünsche, Gefühle und Gedanken. Zwischen beiden Bereichen herrscht ein so reger Austausch, daß wir sie mit Vorteil als zwei gegensätzliche Pole anschauen, die zusammen erst die Einheit "Person" bilden. Dieses Spannungsverhältnis kann in dieser Arbeit nicht mit derselben Nähe rekonstruiert werden wie bei der Beziehung zwischen Verfolgern und Verfolgten. So kommen die Pole "Außen-

I. Thema und Aufbau der Arbeit

11

welt" und "Innenwelt" weiter auseinander zu liegen als es ihrem Verhältnis entspräche.- Der äußere Befund (lU. Teil) beschreibt die schrittweise Ausstoßung der Opfer aus der Gesellschaft, bis hin zur Vernichtung (Kapitel 3) sowie, bei den Verfolgern, die Theorie und die Praxis der totalen Säuberung (Kapitel 4). Der innere Befund (IV. Teil) handelt von der psychischen Reaktion des Einzelnen auf das Erleben des Terrorprozesses - von der Angstentwicklung und deren Bekämpfung mit Abwehrmechanismen. Die Verfolgten müssen sich der Angst vor der drohenden Vernichtung erwehren (Kapitel 5). Diese Angst hat bei den Verfolgern ihr Gegenstück: in der Angst vor unsichtbaren Verschwörern (Kapitel 6). Die individuelle und die kollektive Angstabwehr beider Seiten sind Verhaltensweisen, welche das gesellschaftliche Leben in entscheidender Weise beeinflussen können. Namentlich wird der Verlauf des Terrorprozesses von diesen Abwehrmechanismen bestimmt. In einem letzten Abschnitt (V. Teil) werden die Ergebnisse dieser Arbeit noch einmal zusammengefaßt.

3. Was hat das mit Recht zu tun? Diese Untersuchung ist in einem Grenzgebiet der Rechtswissenschaft angesiedelt, in einer Art Dreiländereck. Gegenstand der Beschreibung ist eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung, die Massensäuberung durch breitflächige Verfolgung im totalitären System. Von da her gehört das Thema der Soziologie an. In das Gebiet der Psychologie weist der Versuch, Beginn und Verlauf der Säuberungsmaßnahmen zurückzuführen auf die bei den Verfolgern einerseits und bei den Verfolgten anderseits ablaufenden psychischen Prozesse. Obwohl an vielen Stellen materielle Rechtsnormen als Beispiele angeführt werden, hat diese Arbeit nur am Rande etwas mit Jurisprudenz als Normwissenschaft zu tun. Auch die Wertfrage der Rechtsphilosophie nach der Idealität des Rechts bleibt weitgehend ausgeklammert. Viel stärker interessiert uns die Rechtsrealität, die "Organisation der Rechtsgemeinschaft", das Recht als verbindendes und gestaltendes Element im sozialen Gefüge. Unser Thema wird uns diesen Problemkomplex gleichsam in seiner Negation vorführen: wir werden sehen, wie die Säuberungspraxis im totalitären Staat auf einem spezifischen Normenverständnis beruht und wie die Entwicklung des Säuberunsprozesses grundlegende Veränderungen in der Rechtsordnung bewirkt. - Gestützt auf rechtssoziologische überlegungen, möchte diese Studie zugleich ein Vorstoß in das noch wenig betretene Neuland der Rechtspsychologie sein.

12

Einleitung

11. Methode und Maßstäbe 1. Soziologische'r Ansatz: Theodor Geiger Das Kapitel über die soziale Interdependenz verdankt viel den Ideen, die der deutsche Rechtssoziologe Theodor Geiger in seinen Werken "Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts"2 und "Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit"3 niedergelegt hat. Geigers präzise Sprache, sein behutsames Schließen von einer Position auf die nächste, seine klaren Begriffe und Kategorien helfen, die komplexen Voraussetzungen sozialen Zusammenlebens in abstrakter und dennoch anschaulicher Weise zu formulieren. Selbstverständlich zeigen die hier entlehnten Begriffe nur einen kleinen Ausschnitt der Themen, die Geiger bearbeitet hat. Vor allem werden die Ausführungen über Gruppen und Gesellungsgebilde herangezogen, dann auch die Vorstellungen über Mobilität und Orientierung des Individuums innerhalb der sozialen Ordnung. Diese Anleihen bedeuten allerdings nicht, daß sich die vorliegende Studie darüber hinaus in allen Punkten mit Geigers Positionen deckt. Es wird leicht zu erkennen sein, daß vor allem in psychologischer Hinsicht große Differenzen bestehen. Doch nur an einem Beispiel - der Definition und Bewertung des Ideologiebegriffes - sind die gegensätzlichen Auffassungen explizit auseinandergesetzt.

2. Psychologischer Ansatz: Sigmund Freud Will man psychische Phänomene registrieren und als eine wie auch immer geordnete Gesetzmäßigkeit begreifen, dann stellt sich noch drängender als bei soziologischen Betrachtungen die Frage nach der adäquaten Darstellungsweise. Zwar lassen sich Manifestationen psychischer Prozesse oft auch äußerlich - von bloßem Auge quasi - ablesen, aber das ist nichts als das letzte, sichtbare Glied einer Entwicklungskette, deren Verlauf wir nur mühsam zurückverfolgen können. In besonderem Maße sind wir dabei auf Hypothesen und Vorstellungsmodelle angewiesen, die als Annäherungen an Erklärungen, als Deutungsversuche dienen sollen. Kein Modell darf je den Anspruch erheben, allein gültig zu sein. Es kann sich jedoch für die Wiedergabe eines Vorganges 2 Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl., Neuwied/Berlin 1970. 3 Theodor Geiger: Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, Kopenhagen 1960. Zitiert wird im folgenden aus der 2. Auflage mit dem Titel: Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, München 1964.

Ir. Methode und Maßstäbe

13

ein bestimmtes Modell vor allen anderen durch seine größere Plausibilität auszeichnen. Natürlich entwickelt sich zwischen einem Modell, einer Hypothese und den beobachteten Daten sehr leicht eine Abhängigkeit, indem die Hypothese stets auch einen Aufmerksamkeitsraster formt, der gewissen Daten eine erhöhte Bedeutung zuspricht und andere gar nicht registriert. Diese Arbeit bildet hierin keine Ausnahme. Diese Untersuchung will einen sozialen Prozeß analysieren und dabei psychische Komponenten der beteiligten Menschen miteinbeziehen. Schon von dieser Themenstellung her standen einige Anforderungen an das gesuchte psychologische Modell fest. So durfte es weder ausschließlich auf das Individuum ausgerichtet noch statisch konzipiert sein. Vielmehr sollte es den Spannungsbereich Individuum - Umwelt einbeziehen und sich auch zur Darstellung von Gruppenphänomenen eignen. Mit anderen Worten: es mußte sich dazu eignen, einen sozialen Prozeß psychologisch mitzuvollziehen. Alle diese Voraussetzungen erfüllt die psychoanalytische Theorie von Sigmund Freud, da sie den Menschen als ein sich unablässig entwikkeIndes Wesen auffaßt, in lebenslanger Auseinandersetzung mit seinen eigenen Bestrebungen und den Ansprüchen der Umwelt. So ist denn auch Freuds Lebenswerk kein starres und geschlossenes Lehrgebäude, sondern ein imposanter Erkenntnisprozeß, der im Verlaufe von Jahrzehnten einzelne Vorstellungen herausbildet, verändert und durch neue Ideen ablöst. Für unsere Arbeit bietet sich in optimaler Weise Freuds zweite Konzeption des psychischen Apparates an, die er in den Zwanzigerjahren entwarf und modifizierte. Es handelt sich um das Modell von der dynamischen Interdependenz der drei Instanzen "Es", "Ich" und "überIch", die nachstehend kurz erläutert werden. Das "Es" ist "der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit", die Welt des Unbewußten und der Triebe. "Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein Chaos, einen Kessel voll brodelnder Erregungen4 ." In diesem primitiven und irrationalen Bezirk herrscht nur ein Gesetz, eine Art Antigesetz - das Lustprinzip. "Selbstverständlich kennt das Es keine Wertungen, kein Gut und Böse, keine MoraP." Von diesem Es ist nur ein kleines Stück ausgezont und kolonisiert: das "Ich", der bewußte, reflektierende Teil der Persönlichkeit. Das Ich nimmt die Außenwelt wahr und bemüht sich, 4 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: S. Freud: Gesammelte Werke (G. W.), Bd. 15, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1979, S. 80. S S. Freud: Vorlesungen neue Folge, S. 81.

Einleitung ,,(. ..) den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. (... ) Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthäW". Das Ich liegt noch mit einer weiteren Instanz in steter Auseinandersetzung: mit dem "über-Ich". Schon der Name betont die hierarchische Stellung dieser Instanz, die das Ich und seine Bestrebungen überwacht. Das Über-Ich erfüllt drei Aufgaben: die Selbstbeobachtung einer Person, die Gewissensbildung und die Idealfunktion. "Das über-Ich ist für uns die Vertretung aller moralischen Beschränkungen, der Anwalt des Strebens nach Vervollkommnung, kurz das, was uns von dem sogenannt Höheren im Menschenleben psychologisch greifbar geworden ist7." Durch die Erziehung wird das über-Ich weitergegeben, indem die Eltern ihre eigenen Über-Ich-Normen auf die Kinder übertragen. "So wird das über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt habens." Die drei Instanzen Es, Ich und Über-Ich stehen nach Freuds Vorstellung in einem bewegten Spannungsverhältnis zueinander: ,,sie denken bei dieser Sonderung der Persönlichkeit in Ich, über-Ich und Es gewiß nicht an scharfe Grenzen, wie sie künstlich in der politischen Geographie gezogen sind. Der Eigenart des Psychischen können wir nicht durch lineare Konturen gerecht werden wie in der Zeichnung oder der primitiven Malerei, eher durch verschwimmende Farbenfelder wie bei den modernen MalernD." Das Ich versucht, zwischen den Triebbedürfnissen aus dem Es, den Geboten des über-Ichs und den Anforderungen der Realität (d. h. der Außenwelt) zu vermitteln, was ihm von den divergierenden Bestrebungen erschwert wird. "Aber anderseits sehen wir dasselbe Ich als armes Ding, welches unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und demzufolge unter den Drohungen von dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des über-Ichs. Dreierlei Arten von Angst entsprechen diesen drei Gefahren, denn Angst ist der Ausdruck eines Rückzuges vor der Gefahr10 ." 6

s. Freud:

1976, S. 252/53.

Das Ich und das Es, in: G. W., Bd. 13, 8. Aufl., Frankfurt a. M.

S. Freud: Vorlesungen - neue Folge, S. 73. S. Freud: Vorlesungen - neue Folge, S. 73. 9 S. Freud: Vorlesungen neue Folge, S. 85/86. 10 S. Freud: Das Ich und das Es, S. 286. 7

S

11. Methode und Maßstäbe

15

Das Ich ist demzufolge "die eigentliche Angststätte"l1. Um nicht mit dieser Angst leben zu müssen, bedient sich das Ich etlicher Methoden der Angstabwehr 12 , die alle eines gemeinsam haben - es sind keine Problemlösungen, sondern sie bekämpfen bloß das Symptom. Statt die Ursache der Angst zu beseitigen, verwenden sie Taschenspielertricks, um die Angst nicht wahrnehmen zu müssen.

3. Persönliche Prämissen Den Anstoß zu dieser Studie gaben Überlegungen zur Rolle der Angst im sozialen Zusammenleben. Die ersten, ungeordneten Gedanken bekamen eine Richtung mit der Idee, daß bei politischen Verfolgungen die Angst nicht allein bei den Opfern zu suchen wäre, sondern man eine spezifische Angst der Verfolger annehmen könnte. Beim Versuch, einen Wirkungszusammenhang zwischen beiden Angstmanifestationen herzuleiten, halfen theoretische und praktische Erfahrungen mit der Psychoanalyse weiter. Die Wahl dieses Modells war auch beeinflußt von der Sympathie für Freuds skeptische, aber nie resignative Auffassungen vom Menschen in seiner Welt. Eine ausschließlich "wissenschaftlich-distanzierte" Motivation hätte nicht ausgereicht, während mehrerer Jahre das Interesse an einem Thema wachzuhalten, das die Konfrontation mit so grauenvollen Taten und Leiden anderer Menschen - und den Anlagen dazu in der eigenen Person - erzwingt. Die gefühlsmäßige Abscheu (letztlich selbst Angst) vor Angsterregung zum Zwecke der Herrschaftssicherung war ein starker Ansporn. In rationalisierter Gestalt kehrt sie als eher idealistische überzeugung wieder, daß jede soziale Kontrolle eine unantastbare Sphäre, ohne die es die Menschenwürde einer Person nicht geben kann, zu respektieren hat. Nun wird aber unsere relative Freiheit nicht nur von außen - durch Beziehungen, Verpflichtungen, politische und ökonomische Gegebenheiten - beschränkt, sondern ebenso von innen her, durch Triebe, Wünsche und unbewußte Strebungen, die uns oft genug zu Handlungen verleiten, welche alle Vernunft nicht zu verhindern vermag, selbst wenn sie es wollte. Doch es sind die eigenen Grenzen nicht unverrückbar, der Freiraum kann erweitert werden. Der aufklärerische Impetus des Wortes "Wo Es war, soll Ich werden"13 ist auch den äußeren Zwängen entgegenzuhalten. Darin steckt das wertende Bekenntnis zum Vor12

S. Freud: Das Ich und das Es, S. 287. Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen, 11. Aufl., München

18

S. Freud: Vorlesungen - neue Folge, S. 86.

11

1978.

16

Einleitung

rang des Individuums und seinen Beziehungen. Das schließt die Abneigung ein gegen große und einfache Wahrheiten und gegen alle Versuche, die Welt und die Menschen aus einem einzigen Prinzip heraus zu erklären oder sie unter ein einziges Prinzip zu zwingen. So ist die vorliegende Arbeit auch nicht die Erklärung des Zusammenhanges von Terrorherrschaft und Angstentwicklung, sondern sie ist als ein Vorschlag gedacht, der einige Überlegungen zusammenstellt und eine Theorie formuliert, mit der vielleicht ein Stück weiter gearbeitet werden kann. Wo immer ich im Eifer meine Ergebnisse allzu apodiktisch präsentiere, wünsche ich mir die Nachsicht und die kritische Distanz eines Lesers, der sich fragt: Könnte es nicht auch anders sein?

III. Beispiele und Quellen 1. Beispiele a) Zur Frage der Auswahl Die Beispiele, welche zur Illustration der theoretischen Erwägungen herangezogen werden, stammen überwiegend aus Berichten und Untersuchungen über die inneren Verfolgungs- und Vernichtungsprozesse in zwei politischen Systemen: dem Dritten Reich und der UdSSR. Für diese Wahl sprachen mehrere Gründe. Da war das Problem der Nähe und Ferne: die Beispiele sollten zwar der Vergangenheit angehören, einer weitgehend abgeschlossenen, überschaubaren Periode, die bereits Gegenstand der historischen Forschung geworden war; der zeitliche Abstand durfte jedoch nicht die Grenze überschreiten, jenseits der ein Geschehen nur noch Geschichte ist und heute keine Betroffenheit mehr auszulösen vermag. Ähnliches galt für die geografische Distanz, haben wir doch zu Ereignissen nur dann eine innere Beziehung, wenn sie sich in Räumen abspielen, in die wir uns hineindenken können. Weitere Auswahlkriterien waren der Umfang und die Intensität des Verfolgungsprozesses. Die Beispiele sind Extremfälle politischer Unterdrückung, anhand derer menschliche Verhaltensweisen modellhaft beschrieben werden. Dies in der Meinung, daß solche Lehrstücke geeignet seien, soziologische und psychologische Abläufe aufzuzeigen - und damit unseren Blick zu schärfen für vorhandene Ansätze zu vergleichbaren Entwicklungen in unserem Lebensbereich. Aus diesem Grunde, die ideologischen und strukturellen Konstanten jeder Massensäuberung herauszuarbeiten, sind zwei verschiedene Herrschaftssysteme zum

UI. Beispiele und Quellen

17

Vergleich herangezogen worden. Beide existierten ungefähr zur gleichen Zeit, waren aber aus ganz verschiedenen Bedingungen heraus entstanden. Es liegt daher überhaupt nicht in der Absicht dieser Studie, eine Identität des Nationalsozialismus und dem, was allgemein unter "Stalinismus" zusammengefaßt wird, zu behaupten, allein weil sich in deren Herrschaftsausübung gewisse parallele Züge zeigen. Ebenso sei mit Nachdruck betont, daß hier nur ein Teilaspekt aus dem Bereich der sozialen Kontrolle untersucht und nicht etwa eine Analyse des Nationalsozialismus oder des Stalinismus (geschweige denn des "Kommunismus") geliefert wird. b) Die "Große Säuberung" in der Sowjetunion Während die äußeren Daten und die wichtigsten Entwicklungen des Dritten Reiches allgemein bekannt oder zumindest leicht zugänglich sind, trifft dies für die "Große Säuberung" in der Sowjetunion weniger zu. Damit die spätere Erwähnung einzelner Ereignisse in ihrem größeren Zusammenhang gesehen werden kann, sei hier ein knapper Abriß des Verlaufes der "Großen Säuberung" vorangestellt. Seit dem Bestehen der Sowjetunion hatte es sowohl Parteireinigungen (z. B. 1921) als auch Gerichtsverfahren mit politischer Stoßrichtung gegeben. Nach Lenins Tod (21. 1. 1924) verschärften sich die parteiinternen Flügelkämpfe. Stalin, seit April 1922 Generalsekretär der Bolschewiki, gelang es durch geschicktes Paktieren, die Spannungen zwischen den Faktionen auszunutzen und seine Stellung soweit zu festigen, daß bis 1927 die "Vereinigte Opposition" (Trotzki, Sinowjew) zerschlagen war. Trotzki, Stalins schärfster Rivale, verlor alle Macht und mußte in die Verbannung nach Kasachstan gehen. Zwei Jahre später, Trotzki war inzwischen ins türkische Exil ausgewiesen worden, wurden auch Stalins vormalige Verbündete Bucharin und Rykow aus ihren Ämtern verdrängt. Von nun an war Stalin mit Abstand der mächtigste Mann in Staat und Partei. Der erste wichtige Prozeß im Vorfeld der eigentlichen Großen Säuberung war der "Schachty-Prozeß" vom Sommer 1928. 53 Techniker aus den Kohlegruben standen unter der Anklage, Sabotage- und "Schädlingsarbeit" begangen und Grubenunfälle organisiert zu haben. Die meisten von ihnen erhielten mehrjährige Kerkerstrafen; fünf wurden hingerichtet. Von 1928 bis 1931 fanden mehrere Gerichtsverfahren gegen angebliche Sabotagegruppen statt. Diese Verschwörerzirkel - die, wie heute bekannt ist, gar nie bestanden hatten - wurden von der Anklage mit fantasievollen und pompösen Namen bedacht (z. B. "Union für die Befreiung der Ukraine", "Partei der werktätigen Bauern", "Industriepartei", "Unionsbüro der SDAPR"). Alle diese Prozesse und viele 2 Suter

18

Einleitung

außergerichtliche Maßnahmen richteten sich gegen Intellektuelle, Wissenschaftler und technische Spezialisten. In derselben Periode wurden, im Zuge der Agrarkollektivierung, hunderttausende von mittelständischen Bauern ("Kulaken") deportiert und getötet. Anfang 1933 begann eine tiefgreifende Parteireorganisation, die den Ausschluß einer großen Zahl von Mitgliedern nach sich zog. Zum Fanal für die eigentliche Große Säuberung (russisch: "Tschistka") wurde die Ermordung des prominenten Parteimitgliedes Sergej M. Kirow am 1. Dezember 1934. Stalin selbst soll die Tat angeordnet haben, welche einen geeigneten Vorwand abgab, um die bereits angelaufenen Verfolgungen mutmaßlicher Oppositioneller zu verschärfen. Im Januar 1935 fand ein erster, nicht öffentlicher Prozeß gegen neunzehn ehemalige parteiinterne Gegner Stalins statt, bei dem Sinowjew zu zehn und Kamenew zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurden. Parallel dazu liefen Strafverfahren gegen viele mittlere und untere Parteikader, die summarische Haftstrafen zwischen zwei und fünf Jahren erlitten. Aufsehen erregte in der ganzen Welt im August 1936 der erste öffentliche Moskauer Prozeß "über die Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums". Alle sechzehn Angeklagten (darunter Sinowjew und Kamenew) gestanden vor Gericht, ungeheuerliche Sabotageakte und Mordtaten geplant zu haben. Sie wurden ohne Ausnahme zum Tode verurteilt und erschossen. Im Oktober 1936 löste Jeshow den bisherigen Chef der Geheimpolizei NKWD14, Jagoda, ab. Jeshow steigerte die Repression und Vernichtung angeblicher Schädlinge derart, daß dieser Abschnitt der Tschistka im Volk seinen Namen bekam: "Jeshowschtschina". Im Januar 1937 ging vor dem Militärkollegium des obersten Gerichtshofes der UdSSR der zweite Moskauer Prozeß "über die Strafsache des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums" gegen Pjatakow, Radek und fünfzehn weitere Angeklagte über die Bühne. Das Gericht sprach dreizehn Todesurteile und vier langjährige Kerkerstrafen aus. Im Sommer des gleichen Jahres wurden führende Generale der Roten Armee (u. a. Tuchatschewski, Jakir) in einem Geheimprozeß zum Tode verurteilt. Der dritte Moskauer Prozeß vom März 1938 "über die Strafsache des antisowjetischen Blocks der Rechten und Trotzkisten" endete für achtzehn Angeklagte - unter ihnen Bucharin, Rykow und Jagodamit der Höchststrafe; drei weitere erhielten Freiheitsentzug zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahren. 14 Abkürzung für "Narodnij Komissariat Wnutrennich Djel" (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten).

III. Beispiele und Quellen

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Die öffentlichen Prozesse gegen hohe Parteimitglieder und Kampfgefährten Lenins waren nur die Spitze eines Eisberges. Hunderttausende unbekannter Bürger sind in diesen Jahren hingerichtet worden oder in einem der unzähligen Konzentrationslager umgekommen. Das jähe Ende der Tschistka zeichnete sich noch 1938 ab, als Jeshow seinen Posten verlor. Sein Nachfolger Berija wurde vor allem für die Deportation ganzer Völker verantwortlich. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion ihren Einflußbereich beträchtlich erweitert. Doch 1948, zu Beginn des Kalten Krieges, entzog sich Jugoslawien unter Tito dem sowjetischen Führungsanspruch. Um ähnliche Entwicklungen zu verhindern, kam es zwischen 1949 und 1952 in den meisten Staaten des Ostblocks - auf Veranlassung der UdSSR und unter aktiver Beteiligung ihrer Geheimpolizei zu ausgedehnten Säuberungen in Partei und Gesellschaft. Führende Funktionäre und Regierungsmitglieder bekannten sich nach dem Muster der Moskauer Prozesse schuldig, "Volksfeinde" und Verräter gewesen zu sein. Einige prominente Persönlichkeiten und viele unbekannte Parteimitglieder verloren ihr Leben oder erlitten langjährige Haftstrafen. Auffallend war bei diesen Verfahren - abgesehen von der hysterischen Verurteilung des "titoistischen Revisionismus" - der unübersehbar antisemitische Einschlag. Auch in der UdSSR begann nach dem Kriege eine antisemitische Säuberungskampagne. Mitte Januar 1953 erschienen sensationell aufgemachte Presseberichte über die Aufdeckung einer "Ärzteverschwörung" in Moskau, bei der ausschließlich jüdische Ärzte die Ermordung wichtiger Parteiführer geplant hätten. Eine neue Tschistka schien sich anzubahnen. Doch am 25. Februar brachen die Judenpogrome ganz plötzlich ab, und am 5. März 1953 wurde Stalins Tod bekanntgegeben. Der Sturz von Innenminister Berija im Juli 1953 und seine spätere Hinrichtung markierten den Beginn der Entstalinisierung, die ihren Höhepunkt 1956 auf dem 20. Parteitag der KPdSU erreichte, wo Chruschtschow in einer Geheimrede mit Stalins Person und Politik abrechnete. 2. Quellen

Das ausschließlich schriftliche Quellenmaterial läßt sich ganz knapp in folgende Kategorien einteilen: Wo sie sich finden ließen, wurde auf authentische Verlautbarungen und offizielle Publikationen des Dritten Reiches und der UdSSR zurückgegriffen. Im Falle der UdSSR erwies sich der Führungsanspruch der KPdSU innerhalb der kommunistischen Weltbewegung als großer Vor-

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Einleitung

teil: das russische Sendungsbewußtsein brachte mit sich, daß sehr viele politische und programmatische Schriften - von der Verfassung bis zu den Moskauer Prozeßprotokollen - in offizieller übersetzung auf Deutsch erschienen sind. Da einige der verwendeten Texte aus der UdSSR und aus dem Dritten Reich heute nur noch sehr schwer zugänglich sind und ein bloßer Literaturhinweis dem Leser nicht viel dienen würde, sind in manchen Kapiteln mitunter längere Passagen zitiert. Dies auch auf die Gefahr hin, dadurch den Fluß der Argumentation etwas zu hemmen. Eine weitere Quellenkategorie besteht aus Zeugnissen von Zeitgenossen, welche die Verfolgungen zum Teil am eigenen Leibe miterlebt und miterlitten haben. Von diesen unmittelbaren Schilderungen heben sich jene Studien und Analysen ab, die sich bemühen, die Ereignisse zu begreifen und in einen Kontext einzuordnen. Schließlich bilden einige theoretische Schriften, die sich allgemeiner mit Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auseinandersetzen, den Hintergrund dieser Arbeit.

IV. Vorläufige Definition einiger Begriffe 1. Angst

Es gibt Begriffe, die jedem von uns unmittelbar verständlich scheinen, weil sie Erfahrungen ausdrücken, die wir seit unserer frühesten Kindheit immer wieder aufs neue machen. Ein solcher Begriff ist Angst. Das "Verstehen" von Angst ist meist ein direktes Erinnern an Gefühle, die wir gar nicht in Worte fassen müssen, um sie nachzuvollziehen. Versuchen wir aber, den Begriff Angst zu umschreiben, dann auferlegt er uns mehr Probleme, als es zu Beginn den Anschein machte. Eine vorläufige Annäherung kann die etymologische Auslegung sein. Jacob und Wilhelm Grimm führen im "Deutschen Wörterbuch" Angst auf angere zurück, die lateinische Bezeichnung für (be)engen: "angst ist nicht blosz mutlosigkeit, sondern quälende sorge, beengender zustand überhaupt, von der wurzel engelS." Unter den vielen Belegstellen, welche die Gebrüder Grimm gesammelt haben, ist ein Wort Luthers besonders anschaulich: "angst im ebraischen lautet als das enge ist, wie ich achte, das im deudschen auch angst daher komme, das enge sei, darin einem bange und wehe wird, und gleich beklemmet, gedruckt und gepresset wird, wie denn anfechtungen 15 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, Spalte 358.

IV. Vorläufige Definition einiger Begriffe

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und unglück thun, nach dem sprichwort, es war mir die weite welt zu enge t8 ." "Beklemmet, gedruckt und gepresset" geben die körperlichen Empfindungen wieder, in denen sich die Angst ausdrückt. Der Begriff Angst wandelt sich zum "Befund Angst"17, dem, bei aller Vielfalt seiner Erscheinungsformen, drei konstante Merkmale zugeordnet werden können. Ein erstes ist das Bedrohtsein. Angst ist die Antwort auf eine erkannte - vermeintliche oder reale - Gefahr. Grundlose Angst gibt es nicht, wohl aber, daß der Grund, die Art der Bedrohung für einen Außenstehenden nicht ersichtlich oder nicht einfühl bar ist. Bedrohung setzt voraus, daß einer etwas zu verlieren hat. So enthält jede Angst zwei Ausrichtungen: die Angst vor etwas und die Angst um etwas I8 . Ein zweites Element ist die Zukunftsbezogenheit. Angst blickt auf Bevorstehendes, Vergangen es kann nicht ihr Gegenstand sein. Die zurückliegende, unangenehme Erfahrung wird nur zur Illustration von aktuellen Befürchtungen herangezogen. Auch dort, wo eine Schuld aus früherer Zeit Angst hervorruft, ist sie zwar deren Anlaß, jedoch Gegenstand der Angst ist die mögliche Bestrafung, die zu kommen droht.Als drittes Merkmal ist die Verstimmung zu nennen, oder, wie FreudIG es nennt, der Unlustcharakter der Angst. Obwohl Angst ein untrennbarer Teil der menschlichen Existenz ist, scheint sie für den Betroffenen von außen zu kommen. Angst "befällt" den Menschen, "fällt ihn an". In diesen Ausdrücken ist die Wucht eines Angriffes. Angst ist Störung, Dissonanz, Alarm 20 • Ausgehend von Kierkegaards Werken "Furcht und Zittern" (1843) und "Der Begriff Angst" (1844) hat vor allem die Existentialphilosophie einen fundamentalen Unterschied zwischen Angst und Furcht herzuleiten versucht: Angst wird als das namen- und gegenstandslose, existentielle Grauen angesehen, während die Furcht sich auf eine konkrete Gefahrenquelle beziehen soll. Auch Freud hat an einigen Stellen diese Differenzierung übernommen21 . So reizvolle Ergebnisse eine sol18 J. und W. Grimm, Spalte 358. 17 Siehe Walter von Baeyer / Wanda von Baeyer-Katte: Angst, Frankfurt a. M. 1973, S. 15 ff. 18 Mario Wandruszka: Was weiß die Sprache von der Angst?, in: Wilhelm Bitter (Hrsg.): Angst und Schuld in theologischer und psychotherapeutischer Sicht, 2. Aufl., Stuttgart 1959, S. 19. 19 S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst, in: G. W., Bd. 14, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1976, S. 162. 20 S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst, S. 199/200: "Die Angst ist die ursprüngliche Reaktion auf die Hilflosigkeit im Trauma, die dann später in der Gefahrsituation als Hilfssignal reproduziert wird." 21 S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst, S. 197/198; S. Freud: Jenseits des Lustprinzips, in: G. W., Bd. 13. S. 10.

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che Annahme in philosophischen Gedankengängen auch erbringen mag, so wenig entspricht diese Polarisierung dem semantischen und sprachhistorischen Inhalt dieser beiden Begriffe - weder im Deutschen, geschweige denn in den übrigen europäischen Sprachen22 • Deshalb wird im folgenden kein prinzipieller Unterschied zwischen Angst und Furcht gemacht.

2. Terror Zuviele Ereignisse und Handlungen werden heute "Terror" genannt; durch die maßlose Verwendung hat der Begriff soviel an Umfang gewonnen, wie er an Inhalt verloren hat. Geblieben ist ein vager gemeinsamer Nenner von etwas Gewalttätigem und Unheimlichem. "terror" hat im Lateinischen die Bedeutung von Schrecken und bildet lautmalerisch die seelische und körperliche Verfassung des Geschreckten nach, sein Zittern und Zähneklappern23 • Die Wurzel ist eine Gefühlsregung, für deren enge Beziehung zur Angst die deutsche Sprache das Begriffspaar "Angst und Schrecken" kennt. In seinem Gebrauch hat das Wort Terror eine Verlagerung durchlaufen, indem es mehr und mehr auch auf das Ereignis angewendet wurde, das den Schrecken auslöst. Die Vielfalt denkbarer Schreckensursachen hat mit der Zeit Definitionen entstehen lassen, die - an der äußeren Dramatik des Geschehens haftend - nichts als eine zufällige Aneinanderreihung verschiedener Terrorsituationen sind 24 • Die wenig befriedigende Uneinheitlichkeit einer solchen Begriffsbestimmung rührt daher, daß sie sich an die variablen Größen hält, statt die Konstante des Phänomens herauszustellen. Die Konstante ist nicht auf seiten je22 Mario Wandruszka weist in seinem ebenso kurzen wie brillianten Aufsatz nach, daß in der deutschen Sprache Angst und Furcht synonym verwendet wurden. "Angst ist das jüngere Wort (was den Kündern der Urangst zu denken geben sollte), besitzt noch eine mehr oder weniger deutliche Beziehung zu einem spürbaren körperlichen Vorgang, eben der Beklemmung, wird daher oft als der stärkere, kräftigere Ausdruck gebraucht - Angst als Steigenmg von Furcht -, (... )." (M. Wandruszka, S. 17). 23 M. Wandruszka, S. 15. 24 Ein Beispiel für viele: Wanda von Baeyer-Katte schreibt zum Stichwort "Terror" in der Enzyklopädie "Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft", Bd. 6, Freiburg!Basel!Wien 1972, S. 341: "Mit dem Wort ,Terror' werden im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet: 1. Verfolgungen aus religiösen oder politisch-ideologischen Gründen, speziell unter Verwendung von Schauprozessen oder öffentlichen Schaugerichten; 2. einzelne Schreckenstaten, begangen aus Gründen einer revolutionären oder anarchistischen Strategie im Gefolge von Guerilla-, Partisanen- oder Bürgerkriegen; 3. Konzentrationslager als politische Umerziehungs- oder als Vernichtungslager."

IV. Vorläufige Definition einiger Begriffe

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ner zu finden, welche sich des Terrors bedienen, sondern auf seiten derer, die als Opfer den Terror erleiden. Welche Gestalt Terror im Laufe der Geschichte auch angenommen hat, die Gefühle der Verfolgten änderten sich nicht: zuvorderst stand und steht bei ihnen die Angst. Terror als Form der Angst - nicht der Angst eines Einzelnen, sondern einer Mehrzahl von Betroffenen (wiewohl jeder von ihnen mit seiner Angst alleine ist). Es handelt sich um eine verbreitete Angst, ein Angstklima, eine soziale Angst. Nun ist allerdings nicht jede soziale Angst notwendigerweise gleich Terror. Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen mit Massenarbeitslosigkeit können gewaltige Ängste erwecken, sie üben aber keinen Terror aus. Wir beschränken daher den Begriff auf eine durch menschliche Handlungen gezielt bewirkte soziale Angst. Das Bewußtsein des Handelnden kann sich darin erschöpfen, Angst zur Disziplinierung von Untertanen zu schüren; es kann aber ebenso auf ein weitergehendes Ziel gerichtet sein - etwa die Reinigung einer Gesellschaft von "Volksfeinden" und den Aufbau einer "neuen Ordnung". Wir beziehen also in unsere Definition diejenige Seite mit ein, die die soziale Angst verursacht. Terror ist kein Zustand, er ist ein gesellschaftlicher Vorgang, der dreierlei Beteiligte voraussetzt: die Gruppe der Verfolger, diejenige der Verfolgten sowie die (vorerst) weder der einen noch der anderen Kategorie angehörenden Bevölkerungsteile. Um diese Komplexität und den Bewegungscharakter des Terrors zu verdeutlichen, ist im folgenden meist vom Terrorprozeß die Rede25 • Manche Erklärungsversuche betonen den Aspekt der physischen Gewalt beim Terrorprozeß und übersehen dabei, daß sich genauso Formen von Terror denken lassen, welche die Angst durch psychologische Mittel einflößen und damit mindestens so erfolgreich operieren, wie andere mit nackter Gewalt.

3. Ideologie Ein Anliegen, dem sich Theodor Geiger in den letzten Jahren seines Lebens intensiv - man darf wohl sagen: mit missionarischem Eifer 25 Dabei folgen wir weitgehend den sorgfältigen Begriffsabgrenzungen von Eugene V. Walter in: Terror and resistance. A study of political violence, London/Oxford/New York 1969, S. 5: "I shall try to avoid confusion by maintaining a precise usage, employing tenns such as ,terrorism' and ,organized terror' consistantly as equivalents to process of terror, by which I mean a compound with three elements: the act or threat of violence, the emotional reaction, and the social effects." Hingegen betrachtet Walter nur die emotionelle Reaktion auf Seiten der Verfolgten, während wir gerade auch den psychischen Auswirkungen des Terrorprozesses auf die Verfolger eine große Bedeutung beimessen werden.

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gewidmet hat, ist die Bekämpfung dessen, was er "Ideologie" nannte28 • Ideologie bedeutete ihm das falsche Bewußtsein schlechthin, ein primäres Gefühlsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt, das in der Maske einer absoluten theoretischen Wahrheit auftritt27 • Nicht allein für den wissenschaftlichen, mehr noch für den politischsozialen Diskurs fordert Geiger eine Ideologie-Kritik, welche streng darauf achten solle, die objektiv verifizierbare Erkenntniswirklichkeit von zweckgerichteten ("pragmatischen"), der empirischen Bewahrheitung oder Widerlegung entzogenen Gefühlsimpulsen freizuhalten. Ideologie als geistige Umweltverschmutzung - Geiger spricht einmal von den "Gedankensümpfen der Metaphysik und der Ideologie"28 und empfiehlt an anderer Stelle als Abhilfe: "Wenn also eine Aussage ideologieverdächtig ist, gilt es im Stromlauf ihrer Voraussetzungen die Stelle zu finden, wo ein trüber Bach unkontrollierter Gefühlsvorstellungen sich in das klare Wasser der Theorie ergossen hat29." Man geht kaum fehl in der Annahme, daß Geigers Position in dieser Frage auf sein eigenes (auch gefühlsmäßiges) Erleben des Dritten Reiches und dessen manipulativer Propaganda- und Herrschaftsmethoden zurückzuführen ist. Vom Ausschluß der Gefühle aus der öffentlichen Diskussion erhofft Geiger sich die "Befreiung aus dem Ideologiebann" in einer "nüchternen" Gesellschaft. Für diese Arbeit ist Geigers Ideologiebegriff zu eng gefaßt, weil er Ideologie in erster Linie als eine Denkstörung im Individuum begreift und dabei die überindividuellen, gesellschaftlichen Bedingungen und Funktionen einer Ideologie weitgehend ausklammert. Ideologie hat immer auch den Charakter einer sozialen Rechtfertigung. Von daher 28 Um nur seine wichtigsten Werke, die zu diesem Thema in deutscher Sprache vorliegen, chronologisch aufzuzählen: - über Moral und Recht. Streitgespräch mit Uppsala (Originalausgabe in dänischer Sprache: Lund 1946), Berlin 1979; - Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, Kopenhagen 1947; - Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie (Potsdam 1949), abgedruckt in: T. Geiger: Arbeiten zur Soziologie, hrsg. von Paul Trappe, Neuwied/Berlin 1962; - Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens, StuttgarU Wien 1953; - Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, Kopenhagen 1960; - Befreiung aus dem Ideologiebann. Die Emanzipation von der Befangenheit, in: Arbeiten zur Soziologie. !7 In dieser Beurteilung stimmt er mit den meisten positivistischen Autoren überein. Ganz ähnlich äußert sich Max Imboden in: Die politischen Systeme, Basel/Stuttgart 1962, S. 139/140. 28 T. Geiger: Vorstudien, 2. Aufl., S. 39/40. 29 T. Geiger: Ideologie und Wahrheit, S. 92.

IV. Vorläufige Definition einiger Begriffe

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gesehen ist der "trübe Bach unkontrollierter Gefühlsäußerungen" und das Zurückverfolgen einer Ideologie bis auf einen einzelnen Urheber von geringerem Interesse als die Frage, welche gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen diesen Bach auf ihre Mühlen leiten - und was für Maschinen damit angetrieben werden sollen. Wir gehen hier weniger der Logik und ihren Widersprüchen innerhalb einer Ideologie nach, als der Logik in den Beziehungen einer Ideologie zu den gesellschaftlichen Zuständen - und zwar ebenso mit Blick auf die Ursachen, die das Aufkommen einer Ideologie begünstigen, wie darauf, welche sozialen Prozesse diese Ideologie vorantreiben und erklären helfen soll. In diese Betrachtung beziehen wir außer den intellektuellen Denkfiguren auch die affektiven Komponenten mit ein. Der psychoanalytische Ansatz kennt die prinzipielle Trennung von Gedanken- und Gefühlswelt nicht. Die von Geiger so beklagte Vermengung von theoretischen und gefühls bedingten Elementen anerkennen wir als für jeden Denkvorgang - und damit auch für jede Ideologie typisch, ohne daß wir schon an dieser Stelle die Wertung einbauen wollen, eine solche Vermengung müsse als Sündenfall gezwungenermaßen zum Schlechten führen. So gelangen wir zu einem offeneren Begriff der Ideologie, die wir zunächst einmal als eine Welt-Anschauung bezeichnen, als ein (selbstentwickeltes oder von außen entliehenes) Orientierungsinstrument eines Individuums oder einer Gruppe im Geflecht der sozialen Interdependenz. Theodor W. Adorno hat in den "Studien zum autoritären Charakter" Ideologie in einer Weise definiert, die auch für diese Arbeit ihre Gültigkeit hat, weshalb wir seine Begriffsbestimmung übernehmen: "Der Terminus Ideologie (... ) steht für ein System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen - für eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft. Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Zeitgeschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft30 ." Es wäre ein Irrtum, zu glauben, eine solche Definition laufe auf das Prinzip "tout comprendre c'est tout pardonner" hinaus und verhindere eine kritische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Ideologie. Wenn man die Begriffsbestimmung von moralischen Wertungen freihält, 30

Theodor W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M.

1973, S. 2/3.

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heißt das keineswegs, daß nicht zu jeder beliebigen Ideologie, ihrem Inhalt und ihrer Anwendung, eine dezidierte Stellungnahme möglich ist. Die Stellungnahme beruht auf einer persönlichen - ihrerseits ideologischen - Wertwahl, über die sich jeder Urteilende bewußt werden sollte. Hier gehen wir, was die Methode, wenn auch nicht das Ziel anbelangt, einig mit Geiger, der eine "existentiale Selbstanalyse" als Weg zur Erkenntnis der eigenen ideologischen Aussageprämissen vorschlägt31 .

4. Totalitär Obwohl es sich bei "totalitär" um einen im politologischen und soziologischen Diskurs derart geläufigen Begriff handelt, daß sogar so umsichtige Autoren wie Theodor Geiger32 und Alexander und Margare te Mitscherlich33 ihn ohne nähere Erklärung verwenden, ist er doch keineswegs unproblematisch. Die Schwierigkeiten einer Inhaltsbestimmung rühren daher, daß "totalitär" oder "Totalitarismus" von der politischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus bzw. dem Nationalsozialismus einerseits und dem Bolschewismus anderseits belastet sind. Von ihrer Entstehungsgeschichte her haben diese Begriffe weniger erkenntnistheoretischen als vielmehr wertenden, polemischen CharakterM. Während die Bezeichnung "totaler Staat" von den italienischen Faschisten bis zu den deutschen Staatsrechtsdozenten Ernst Forsthoff35 und Carl Schmitt36 in bejahendem Sinne als Selbstdarstellung eines Systems verwendet wurde, bekam das Etikett" totalitär" eine zunehmend negative Färbung. Im Kalten Krieg geriet die Bezeichnung "totalitärer Staat" vollends zum Kli31 T. Geiger: Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie, in: Arbeiten zur Soziologie, S. 430. Das Ergebnis eines solchen Versuches ist der obige Abschnitt "Persönliche Prämissen" . 32 T. Geiger: Demokratie ohne Dogma. Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, S. 30, 302, 321. 33 A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967, S. 280, 283. 34 Einen guten Abriß der Begriffsgeschichte bietet: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 23, MannheimlWien/Zürich 1978, S. 606/607. Aufsätze aus den Jahren 1935 - 1965, die die Spannung zwischen theoretischer Analyse und politischer Auseinandersetzung dokumentieren, enthält der Band: Bruno Seidel I Siegfried Jenkner (Hrsg.): Wege der TotalitarismusForschung, 3. Aufl., Darmstadt 1974. 35 E. Forsthoff: Der totale Staat, Hamburg 1933. 38 C. Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923 - 1939, Hamburg 1940. (Hier vor allem die Aufsätze: 17. Die Wendung zum totalen Staat [1931]; 21. Weiterentwicklung des totalen Staats in Deutschland [1933]; 28. Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat [19371.)

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schee, mit dem ohne zu differenzieren das Dritte Reich wie sämtliche Staaten des Ostblocks bedacht wurden. Man gebrauchte den Begriff als Gegensatz zum eigenen System, das man - gleichermaßen undifferenziert wie idealisierend - "freiheitliche Demokratie" nannte.

In den letzten beiden Jahrzehnten sind verschiedene Versuche unternommen worden, den Begriff für die wissenschaftliche Analyse zu retten37 • Eine einheitliche Inhaltsbestimmung hat sich bisher noch nicht durchgesetzt; es ist auch zweifelhaft, ob dies je erreicht wird. Deshalb kann, wer den Begriff "totalitär" verwenden will, keine Selbstverständlichkeit voraussetzen, sondern muß ihn definieren. Die dieser Arbeit zugrundeliegende Konzeption stützt sich im Kern auf die Begriffsbestimmung ab, die Martin Drath so formulierte: "Deshalb erscheint das Ziel, ein neues gesellschaftliches Wertungssystem durchzusetzen., das bis in die ,Metaphysik' hinein fundiert wird, als das Primärphänomen des Totalitarismus, das seine Eigenart bestimmt und ihn bis ins einzelne durchformt38. ce Diese Beurteilung stellt nicht die Herrschaftsmethoden in den Vordergrund - sie brauchen sich von denen anderer, z. B. autoritärer Systeme gar nicht zu unterscheiden - sondern die alle Lebensbereiche umfassende Weltanschauung, der mit staatlichen und außerstaatlichen Machtmitteln zum Durchbruch verholfen werden soll. Damit besitzt der Totalitarismus eine ausgeprägt revolutionäre Ideologiell9 • Sie drückt die Rechtfertigung der zu erschaffenden Ordnung aus, "das ,wissenschaftlich' begründete Bewußtsein, damit eine historische Aufgabe zu erfüllen"4G. Eine eigentliche Schlagkraft entwickelt die Ideologie erst, wenn sie Anleitungen zum politischen Handeln erteilt. Dies macht ihre Kodifikation notwendig. Abgesehen davon, daß eine Kodifikation die Organisation und Integration der Anhänger begünstigt, schafft sie eine feste Grundlage für die konsequente Umdeutung der Realität im Sinne der Ideologie 41 • 37 Zu den interessantesten Arbeiten gehören die folgenden Aufsätze aus der Sammlung von B. Seidel/ S. Jenkner: - Martin Drath: Totalitarismus in der Volksdemokratie (1958); - Gerhard Schulz: Der Begriff des Totalitarismus und der Nationalsozialismus (1961); - Peter Christian Ludz: Offene Fragen in der Totalitarismus-Forschung -

(1961);

ders.: Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaft (1964). Siehe auch: Martin Greiffenhagen / Reinhard Kühnl / Johann Baptist Müller: Totalitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München 1972. 38 M. Drath, S. 340. 3D M. Drath, S. 337; M. Greiffenhagen, S. 48. 40

4t

M. Drath, S. 339.

P. C. Ludz: Entwurf, S. 557.

Einleitung

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Weil der Anspruch, ein neues Wertungssystem einzuführen, die N otwendigkeit in sich schließt, die bestehenden Werte zu zerstören, sind totalitäre Ideologien von der Grundannahme des schicksalshaften Kampfes beherrscht. Zwangsläufig bildet sich die Vorstellung vom ideologisch vorherbestimmbaren Feind heraus, dessen Widerstand auch nach einem äußeren Sieg der Revolution im Untergrund andauert. Diese Arbeit möchte aufzeigen, auf welche Weise die Erwartung eines Widerstandes das politische Handeln eines totalitären Systems bestimmt 42 • Wenn wir im folgenden "totalitär" sagen, meinen wir eine Totalität in zweifacher Hinsicht: Erstens von der Ideologie her, der alle Lebensbereiche erfassenden Weltanschauung, die keine anderen Wahrheiten neben sich duldet und die Welt nicht nur interpretiert, sondern auch zu verändern trachtet. Zweitens mit Blick auf die Herrschaftspraxis, welche, der totalitären Ideologie entsprechend, versucht, jeden einzelnen Bürger zu kontrollieren und seine Privatsphäre aufzuheben. Wo die bis in alle Winkel reichende überwachung sich mit dem Willen verbindet, den ideologischen Feind auszurotten, liegt der totalitäre Terrorprozeß nahe.- Häufiger als "totalitärer Staat" werden wir den weiter ge faßten Begriff "totalitäres System" verwenden, da letzterer auch die dezidierte Nicht-Einheit, die eigentümliche Dualität von totalitärer Bewegung und totalitärem Staat einschließt.

Siehe dazu M. Drath (S. 347): "Erst der Widerstand, der einem totalitären System aus der bestehenden Gesellschaft erwächst oder den es von ihr erwartet, macht das System wirklich total." 42

Zweiter Teil: Voraussetzungen Kapitell

Ausgangspunkt der Verfolgten: Die soziale Interdependenz I. Gruppen erster und zweiter Ordnung

1. Gruppen erster Ordnung Gruppen erster Ordnung beruhen auf unmittelbaren, persönlichen Beziehungen ("face to face")!. Hier stehen die positiven oder negativen Gefühle im Vordergrund, die die Mitglieder einer solchen Gruppe einander entgegenbringen. In der Regel ist es ein kleiner, gut überschaubarer Kreis von Individuen, in dem der Einzelne nach seiner "Persönlichkeit" beurteilt wird. Die Verhaltenserwartungen untereinander leiten sich von den Vorstellungen ab, die der eine von den Charaktereigenschaften des anderen besitzt. Die Gruppenglieder bewerten demnach sich selbst, die anderen und die Gruppe als ganzes nach inhaltlichen oder Substanzvorstellungen. Entwicklungsgeschichtlich steht die Gruppe erster Ordnung an erster Stelle: das Kleinkind lebt ausschließlich in solchen primären, emotionalen Beziehungen zu den Menschen seiner Umgebung - vorab natürlich zu seiner Mutter. Erst viel später lernt es, auch distanziert-funktionale Verhältnisse zu entwickeln, etwa indem es den Lehrer nicht mehr allein als positive oder negative Identifikationsperson, sondern stärker als Rollenträger und Stoffvermittler erfährt. Gerade am Beispiel des Kindes ist die für die geistige und körperliche Entwicklung unersetzliche Bedeutung der Primärgruppen erkennbar. Personen, denen es in der frühen Jugend an affektiver Zuwendung mangelte, sind nicht nur seelisch verkümmert und häufig unfähig, Gefühlsbeziehungen zu unterhalten, sondern sehr oft gelingt ihnen auch die Integration in die Gesellschaft nicht, und sie werden zu sozialen Außenseitern I

T. Geiger: Demokratie ohne Dogma, S. 56 f.

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Kap. 1: Ausgangspunkt der Verfolgten: Die soziale Interdependenz

oder gar sozial destruktiv2 . Theodor Geiger zeigt in seinem Essay "Formen der Vereinsamung" auf, wie das Fehlen von Beziehungen erster Ordnung auch für den erwachsenen Menschen im Grunde ein existentieller Defekt ist3 . 2. Gruppen zweiter Ordnung

Jedes Individuum ist durch eine Vielzahl von sachlichen Verbindungen mit anderen Individuen und Gruppen verknüpft. Im Mittelpunkt steht nicht ein Gefühl, sondern ein Zweck; Vorstellungen über die Funktion, die der Kontakt erfüllen soll, bestimmen diese Verbindungen. Die Betrachtungsweise ist distanziert und reicht über die beteiligten Individuen hinaus, denn nicht um deren Person willen, um des gemeinsamen Zieles willen wird man Mitglied einer Gruppe zweiter Ordnung 4 - und dies bisweilen eher trotz denn wegen der daran mitbeteiligten Personen. Diese Haltung erfordert die Fähigkeit zu abstrahieren. In der individuellen wie der sozialen Entwicklung markieren die funktionalisierten Beziehungen und die Gruppen zweiter Ordnung eine höhere Differenzierungsstufe. Die sozialen Verhältnisse gewinnen dadurch an Komplexität, gesellschaftliche Strukturen verselbständigen sich, denn die beteiligten Personen sind austauschbar; es zählt nur ihre jeweilige Rolle. Den Funktionsvorstellungen, welche den Gruppen zweiter Ordnung zugrunde liegen, entsprechen Rollenerwartungen, die die Gruppenglieder einander gegenüber hegen. Im Gruppenzweck finden diese Vereinigungen ihre Erfüllung und ihre Grenze. Die Bürgerinitiative gegen Atomkraftwerke vermag nicht zusätzlich dem Bedürfnis dienen, eine Fremdsprache zu erlernen; das liegt außerhalb ihrer Zweckbestimmung. Wenn eines ihrer Mitglieder eine Sprache lernen möchte, so muß es sich einer weiteren Gruppe zweiter Ordnung anschließen und z. B. Teilnehmer an einem Abendkurs werden. Während Primärgruppen tendenziell ganzheitlich sind - in dem Sinne, daß sie mehrere Bedürfnisbereiche zugleich abdecken können -, ist die Sekundärgruppe funktionsspezifisch begrenzt. Ein und dasselbe Individuum muß demnach seine verschiedenen Interessen nebeneinander in mehreren Gruppen zweiter Ordnung befriedigen. So zentral die primären Beziehungen für die seelische Entwicklung des Menschen sind, so sehr werden anderseits Ausmaß und Gewicht 2 Vgl. Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität, Stuttgart 1974, S. 209/210. 3 In: T. Geiger: Arbeiten zur Soziologie, S. 260 - 292; vgl. auch T. Geiger: Vorstudien, S. 46 - 48. 4 T. Geiger: Demokratie ohne Dogma, S. 56 f.

I. Gruppen erster und zweiter Ordnung

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der anonymen sekundären Beziehungen unterschätzt. Wäre eine PerSOn von all ihren funktionalen Verbindungen zu anderen Personen und Gruppen abgeschnitten, so könnte sie innerhalb der modernen, arbeitsteiligen Industriegesellschaft kaum überleben. 3. Obergangsjormen

Im sozialen Leben kommen Gruppen erster und zweiter Ordnung selten in völlig reiner Gestalt vor. Um so zahlreicher sind übergangsund Mischformen zwischen affektiven Primär- und funktionszentrierten Sekundärbeziehungen. Besonders Gruppen erster Ordnung enthalten eine ganze Reihe funktionaler Merkmale. Viele ihrer Interaktionsmuster sind rituell schematisiert, und die Persönlichkeit ihrer Mitglieder ist oftmals nur mehr das Kolorit in einer gängigen Schablone. Zwischen Eltern und Kindern regieren nicht bloß Gefühle; die Kommunikation verläuft über weite Strecken in den Bahnen von Rollenerwartungen. Jede Gesellschaft und jede Zeit haben ihren mehr oder weniger strengen Kanon von typischen Vater-, Mutter- und Kindrollen. Im Verhältnis zwischen Ehegatten kommen wechselseitige geschlechtsbedingte Erwartungen ins Spiel. Vom gesellschaftlichen Kollektiv geht ein in seiner Stärke variabler Druck aus, der den Einzelnen anhält, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Die Mutter soll sich "wie eine Mutter", der Vater "wie ein Vater" verhalten. Der Kodex wird täglich von neuem eingeübt, im steten Vergleich mit dem Gebaren der anderen Menschen im eigenen Lebensbereich. Am direktesten drücken Kinder dies aus, etwa wenn sie ihren Wunsch, nach dem Abendbrot noch draußen spielen zu können, mit dem Argument untermauern: "Alle anderen Kinder dürfen noch draußen spielen - nur ich nicht!" Die Rollenkodices verändern sich nur zögernd. Gerade in den gefühlsbezogenen Primärgruppen zeigen sie ein zähes Beharrungsvermögen. Zweckorientierte Gruppen scheinen sich in manchem den veränderten Bedingungen leichter anzupassen, und sei es, daß neue Gruppen mit neuen Funktionsvorstellungen entstehen, während die alten sich auflösen. Doch auch sekundäre Gruppen können Elemente primärer Beziehungen aufnehmen. Eine explosive Mischung entsteht dort, wo eine starke affektive Bindung an eine Integrationsfigur und ein hingebungsvolles Engagement zugunsten eines Gruppenzweckes miteinander verschmelzen. Solche Kollektive weisen häufig ganzheitliche bis to-

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Kap. 1: Ausgangspunkt der Verfolgten: Die soziale Interdependenz

talitäre Züge auf, wenn sie sich anheischig machen, sämtliche emotionalen und sachlichen Lebensbedürfnisse ihrer Mitglieder in der Gruppe und durch die Gruppe zu befriedigen. Diese Synthese entsteht sowohl in gewissen religiösen Sekten als auch im Phänomen des politischen Führerkultes.

11. Soziale Ordnung

1. Kollektives Menschenbild Die kollektive Daseinsform des Menschen läßt sich äußerlich an der Mannigfaltigkeit primärer und sekundärer Beziehungen ablesen, die den Einzelnen mit anderen Individuen und Gruppen verbinden. Doch gibt die Gegenüberstellung von Einzelmensch und Gesellschaft ein im Grunde schiefes Bild von der sozialen Realität. Die Polarisierung täuscht vor, daß es sich bei den beiden Begriffen um zwei unabhängig voneinander bestehende Größen handle, wo es doch nur zwei Aspekte eines und desselben Gebildes sind. Norbert Elias hat diesen Gedanken in der Einleitung zu seinem Hauptwerk "über den Prozeß der Zivilisation" abgehandelt: "Das ist der Grund, aus dem es (... ) nicht besonders fruchtbar ist, wenn man unter einem Menschenbild das Bild von einem einzelnen Menschen versteht. Es ist angemessener, wenn man sich unter einem Menschenbild das Bild vieler interdependenter Menschen vorstellt, die miteinander Figurationen, also Gruppen oder Gesellschaften verschiedener Art, bilden. Von dieser Grundlage her verschwindet die Zwiespältigkeit der herkömmlichen Menschenbilder, die Spaltung in Bilder von einzelnen Menschen, von Individuen, die oft so geformt sind, als ob es Individuen ohne Gesellschaften gäbe, und in Bilder von Gesellschaften, die oft so geformt sind, als ob es Gesellschaften ohne Individuen gäbe 5." Die Gesamtheit der Figurationen und ihr Verhältnis untereinander können auf zwei Arten beschrieben werden. Entweder als Muster der Interaktionen aller Elemente in einem bestimmten Zeitraum. Dies ergibt Aufschluß über die Dynamik der Prozesse, des Ineinandergreifens und Aufeinanderprallens - kurz, ein Funktionsbild der Figurationengesamtheit. Oder wir können die Hierarchie der Positionen in und zwischen den Figurationen in einem bestimmten Zeitpunkt feststellen; auf diese Weise erhalten wir ein statisches Zustandsbild der Gesamtheit 6• Diese Betrachtungsweisen einer sozialen Ordnung beschreiben im ersten Fall eine Ablaufordnung, einen Mechanismus und im zweiten 5 Norbert Elias: über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, 2. Aufl., Bernf München 1969, S. LXVII. I T. Geiger: Vorstudien, S. 51 ff.

Ir. Soziale Ordnung

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Fall eine Anordnung oder einen Bauplan. Indem wir etwas als Ordnung bezeichnen, erheben wir die Interaktionen und Positionen über das rein Zufällige hinaus und unterstellen ihnen eine Regelhaftigkeit. 2. Soziale Ordnung und Norm

Damit ein soziales Geschehen den Charakter einer Ordnung erhält, müssen die Interaktionsprozesse gewissen Regeln gehorchen. Die Regel, welche einen Handlungsablauf oder eine Position festlegt, nennen wir Norm. Innerhalb der sozialen Ordnung bildet die Gesamtheit aller Einzelregeln das Normgefüge. Geiger unterscheidet die "subsistente Norm", den Gehalt einer Norm, von der "Verbalnorm", der Formulierung eines Normsatzes 7 • Dem Normgehalt kommt mehr Bedeutung zu als der Verbalnorm. Er enthält drei bis vier Komponenten: den Normkern (ein auf eine bestimmte Situation zugeschnittenes Gebarensmodell), das Normstigma (welches den Anspruch der Verbindlichkeit einer Norm erhebt) und die Normadresse (an die sich die Handlungsanweisung der Norm richtet); je nach dem kommen als vierter Bestandteil noch die Normbenefiziaren hinzu (zu deren Gunsten die Norm wirkt)8. Der Normsatz drückt das Verhältnis dieser Komponenten zueinander in Worten aus - entweder deklarativ, wenn er eine bereits vorbestehende Norm der Realordnung formuliert, oder proklamativ, wenn der Normsatz die Realordnung erst neu einführt. 3. Die Verbindlichkeit der Norm

Die Verbindlichkeit einer Norm ist in erster Linie eine Folge der sozialen Interdependenz und nicht der Straf androhung für den übertretungsfall9 . Den äußeren Rahmen dessen, was normkonformes Verhalten ist, bekommt jeder von seinen Mitmenschen in zahlreichen Schattierungen vorgelebt. Dem suggerierten Gebarensmuster folgt er auf die ihm gemäße Art. Die Motive für diese Anpassungsleistung - sofern man sie überhaupt bewußt und nicht unwillkürlich vollzieht - können stark variieren: der eine integriert sich in seine soziale Umwelt aus dem Wunsch heraus, nicht aufzufallen; ein anderer macht sich die Regeln der Gesellschaft zu eigen, weil er dadurch seinen Einfluß auf andere Menschen 7 8 g

T. Geiger: Vorstudien, S. 58. T. Geiger: Vorstudien, S. 62. T. Geiger: Vorstudien, S. 82/83.

3 Suter

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Kap. 1: Ausgangspunkt der Verfolgten: Die soziale Interdependenz

zu mehren hofft; ein dritter würde sein Verhalten mit "Einsicht in die Notwendigkeit" umschreiben. Welches die Beweggründe auch sein mögen, die Erfahrung des "man macht es so" prägt sich ein, wird verinnerlicht. Der Einzelne übernimmt die Norm und legt sie als Maßstab an das Verhalten anderer Menschen an. Damit wird auch er Teil jenes gesellschaftlichen "man", des sozialen Drucks, der die Menschen anhält, sich normenkonform zu verhalten. Die Norm als solche muß gar nicht allgemein bekannt sein, noch weniger der Normsatz. Es reicht, wenn für Alltagssituationen je eine entsprechende Verhaltensweise besteht, die als Interaktionsmuster gewohnheitsmäßig akzeptiert ist. Dahinter kann durchaus die Erwartung stehen, daß ein regelwidriges Benehmen eine gesellschaftliche Sanktion nach sich zöge. In manchen Fällen mag das ein wirksames Disziplinierungsmittel sein, doch neigt man gemeinhin eher dazu, die Sanktion als Ursache der Verbindlichkeit einer Norm zu überschätzen. überdenkt man nämlich einmal die eigene Integration in die sozialen Ordnungsmechanismen, so findet man wohl nicht so rasch Beispiele, wo man selbst sich allein durch die Strafandrohung von der Verletzung einer Norm hat abhalten lassen. Die Kenntnis des Normsatzes spielt am ehesten auf dem Gebiet der Erziehung eine Rolle; hier wird die Norm noch oft in formelhafter Gestalt überliefert und eingeprägt 1o . Die Verbindlichkeit einer Norm ist eine relative Größe. Eine Norm wird nicht vollständig eingehalten oder gänzlich mißachtet, sie ist vielmehr "verbindlich in höherem oder geringerem Grad"ll. Gewisse übertretungen - z. B. des Gebotes, Straßen auf dem Fußgängerstreifen zu überqueren - fallen uns in der Regel nicht schwer, während wir viel größere Hemmungen haben, im Supermarkt einen Kaugummi zu entwenden. Bei der regelwidrigen Straßenüberquerung ertappt und gebüßt zu werden, zieht kaum einen Verlust der eigenen Selbstachtung nach sich. Doch als Ladendieb dazustehen, und sei es wegen eineS noch so geringfügigen Deliktsbetrages, wird vom Ertappten wie von seiner Umwelt als Schande empfunden. Der Stellenwert einer Norm im gesellschaftlichen Wertsystem entscheidet wesentlich darüber, in welchem Maße die Norm befolgt, und auch darüber, mit welcher Intensität ihre Verletzung verfolgt wird. Das Normgefüge einer sozialen Ordnung zerfällt in Regeln, die mehrheitlich beachtet werden, und in solche, die überwiegend mißachtet werden; oder anders ausgedrückt: in "living law" und in "paper law". 10

11

T. Geiger: Vorstudien, S. 80. T. Geiger: Vorstudien, S. 72.

IH. Orientierung innerhalb der sozialen Ordnung

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IH. Orientierung innerhalb der sozialen Ordnung 1. Erkennbarkeit einer Ordnung

Orientierung ist mehr als bloßes Nachahmen vorgelebter Handlungsmuster; sie ist Standortbestimmung und aktive Teilnahme in einem Umgang mit der Ordnung. Reflektieren setzt Kenntnis voraus, und damit einer sich im sozialen Umfeld zurechtfindet, muß er eine Ordnung erkennen. Im Chaos gibt es keine übersicht. Die Erkennbarkeit einer Ordnung ist abhängig von ihrer Gliederung und ihrer Dauer. Strukturen müssen über das reine Vorhandensein hinaus auch sichtbar und überprüfbar sein; und die Regelhaftigkeit kann sich nur dann einprägen, wenn sie über eine gewisse Dauer hinweg gleichmäßig funktioniert. Eine Geheimordnung, deren Normen nur wenigen Eingeweihten bekannt sind, oder eine instabile Ordnung ohne konstante Normen entziehen sich dem Betrachter. Kenntnis der Ordnungsstrukturen und der Norminhalte bringt Orientierungssicherheit oder Ordnungsgewißheit12 • Nur wer die Ordnung, die ihn umgibt, auch erkennt, kann sich in ihr einrichten und sicher fühlen. 2. Ordnungsbewußtsein

Kommt zum intellektuellen Erkennen einer sozialen Ordnung das affektive Moment des Anerkennens hinzu, dann sprechen wir von Ordnungsbewußtsein. Dieses kann Ausdruck der physischen und psychischen Integration eines Menschen in seine Umwelt sein. Die physische Integration spiegelt sich in der Erfassung einer Person durch die soziale Infrastruktur: die Sicherung durch Krankenkasse und Altersrente, der Zugang zu Kommunikationsmitteln, die Versorgung mit Energie, das Ermöglichen von Ausbildung und Freizeitbeschäftigung und vieles andere mehr. Die psychische Integration steht für das Ausmaß, in dem sich eine Person als Teil ihres sozialen Umfeldes begreift und sich mit ihm und seinen Problemen soweit identifizieren kann, daß sie, bei allem Dissens in Einzelfragen, eine solidarische Grundhaltung einnimmt. Zur subjektiven Integration gehört ein Vertrauen in die soziale Ordnung und die Überzeugung, von ihr als Mitglied anerkannt und geschützt zu werden. Diese Realisierungssicherheit oder Ordnungsgewißheit 13 baut darauf, daß die bekannten Normen, denen man sich selbst 12 13

T. Geiger: Vorstudien, S. 102. T. Geiger: Vorstudien, S. 103.

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Kap. 1: Ausgangspunkt der Verfolgten: Die soziale Interdependenz

unterwirft, auch zum Schutze der eigenen Person vor übergriffen von Mitmenschen wirksam werden.

3. Bewegungsfreiheit in der sozialen Ordnung Das Bestehen von Normen und die Regelmäßigkeit ihrer Anwendung bedeuten einerseits Sicherheit und Schutz für Individuen und Gruppen, anderseits setzen sie Orientierungsmarken für sozial erwünschtes Gebaren. Normen sind also sowohl Begrenzung als auch abgesteckte Freiräume, deren Ausgestaltung jedem selbst überlassen bleibt. Das Zusammenspiel von Freiheit und Gebundenheit kennzeichnet jede soziale Ordnung. Freiheit innerhalb eines Normensystems ist "nichts anderes als der Inbegriff der Möglichkeiten sozial risikoloser Disposition im Lebensvollzug" 14. Die Freiheit kann in der Wahl der Bindungen bestehen, die man eingeht. Jedes Individuum kann sich in mehreren Gruppen zweiter Ordnung bewegen und dort verschiedene Rollen einnehmen. Die Mobilität innerhalb des Sozialgefüges verhilft dem Einzelnen in der pluralistischen Gesellschaft dazu, seine Persönlichkeit nach seinen eigenen Vorstellungen zu entfalten l5 .

IV. Soziale Interdependenz und Rechtsordnung Mit der wachsenden Differenzierung der Lebensbereiche im Gefolge der industriellen Revolution und der Mobilität der Menschen innerhalb der Sekundärgruppen schwinden jene Ordnungsmechanismen, die in früheren, statischen und kleinräumig organisierten Lebens- und Gesellschaftsformen wurzelten. Sitte und Brauch repräsentieren noch jene zyklische Behäbigkeit ländlichen Lebens. Als Relikte einer versinkenden Zeit hält man Teile davon noch hier und dort aufrecht. Sie erfüllen indessen kaum mehr ihre ursprünglich regulierende Funktion, sondern sind häufig als regionale Folklore-Attraktionen nutzbar gemacht. Es liegt eine seltsame Ironie darin, daß eine derartige Zeremonie immer erst dann als "unverfälschtes Brauchtum" propagiert wird, wenn sie ihre innere Lebensberechtigung, ungeachtet der Bewahrung äußerer Formen, verloren hat. Man mag die Entwertung überkommener Ordnungsmechanismen als kulturellen Verlust betrauern; aufhalten läßt sich diese Entwicklung 14 15

T. Geiger: Vorstudien, S. 227. T. Geiger: Vorstudien, S. 134.

IV. Soziale Interdependenz und Rechtsordnung

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aber nicht. Gerade weil die alten Regeln ihre einstige Stärke und Verbindlichkeit aus der ritenhaften Starrheit geschöpft haben, vermochten sie sich den Wandlungen der sozialen Strukturen nicht anzupassen. Von der Entwicklung überholt, stießen sie ins Leere und wurden aufgegeben, wenn sie nicht von außen eine neue Existenzberechtigung verliehen bekamen. Ein ähnliches Schicksal erleidet ein anderer, ehemals wichtiger Ordnungsfaktor: die Moral. In Epochen mit einheitlichem Weltbild und annähernd geschlossener religiöser überzeugung hatte die Moral als verinnerlichte Wert- und Verhaltens ordnung ihren Sinn. Ihr Geltungsanspruch ruhte auf den als überzeitlich geglaubten Werten z. B. des Christentums. So war die Moral der normative Ausdruck der allgemein geteilten religiösen überzeugung. Wohl gab es zu allen Zeiten Einzelne, die gegen die herrschenden Moralnormen aufbegehrten. Doch sie blieben Ausnahmeerscheinungen; und noch die Vehemenz der Angriffe von Autoren wie Reine, Börne oder Grabbe ist eher ein Zeichen dafür, wie stark die bürgerliche Moral in der damaligen Bevölkerung verankert war. Reute ist dagegen in vielen Gesellschaften die religiöse überzeugung zur Privatangelegenheit des Einzelnen geworden; kein Moralsystem kann mehr den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Menschen bewegen sich in wechselnden Koalitionen zwischen und in sekundären Zweckverbänden, die alle eine ihren spezifischen Zielen entsprechende Gruppenmoral besitzen. Diese Moralvorstellungen sind häufig auf die jeweilige Gruppe bezogen, so daß sie keine Entscheidungshilfe für Probleme außerhalb der Gruppengrenzen abgeben können. In diesem "Schisma der Moralen"16 ist keine Einheitlichkeit mehr zu finden, keine gemeinsame Moral verbindet mehr alle Glieder innerhalb einer sozialen Ordnung. Auf der Ebene des Glaubens kann es in der pluralistischen und säkularisierten Gesellschaft keine Gemeinsamkeit geben. Deshalb muß ein integrierend wirkendes Normensystem den Glaubensbereich ausklammern und danach streben, einesteils unpersönlich und sachlich zu sein, andernteils aber allumfassend und auf jede soziale Situation anwendbar. Diese Doppelfunktion erfüllt nur eine Rechtsordnung, welche gleichermaßen Nähe und Distanz zu den Gruppen und Personen ihres Geltungsbereiches einhält. Nähe, weil sie jede Gruppe erfaßt; Distanz, weil sie keiner Gruppe zugehörig ist. Eine hier idealtypisch skizzierte Rechtsordnung steht über allen Gruppen, indem sie sich auf eine Zentralmacht 17 stützt, die das Monopol über Entwicklung und Anwendung 16 17

T. Geiger: Vorstudien, S. 305. T. Geiger: Vorstudien, S. 128 ff.

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Kap. 2: Ausgangspunkt der Verfolger: Vision einer neuen Gesellschaft

von Rechtsnormen innehat und über die dafür notwendigen Institutionen verfügt1 8 •

Kapitel 2

Ausgangspunkt der Verfolger: Die Visiou einer neuen Gesellschaft I. Das Leiden an der Gegenwart Nicht jede Sozialordnung ist von dem minimalen Konsens aller Gruppen getragen, der für ihr Funktionieren unentbehrlich ist. Wo die Herrschaftsstrukturen einseitig das Interesse und die Vormacht einer Schicht, Klasse oder Gruppe begünstigen und die Bedürfnisse anderer Bevölkerungsteile mißachten, da können sich die Benachteiligten nicht in gleichem Maße mit den bestehenden Verhältnissen identifizieren wie die Privilegierten. Es kommt dabei weniger auf den Grad der Diskriminierung als auf das Bewußtsein an, diskriminiert zu werden. Sklavenaufstände brechen nicht dann aus, wenn es den Leibeigenen am schlechtesten geht, sondern wenn sie zur überzeugung gelangt sind, ihr Los könnte und müßte besser sein. Eine andere Heimatlosigkeit oder Desintegration kann entstehen, wenn eine bisher vertraute und als verläßlich angesehene Ordnung zerfällt - sei es als Folge von Krieg, Bürgerkrieg oder Revolution -, wenn Ordnungssicherheit und Ordnungsgewißheit verloren gehen. In diesem qualvollen Zustand der Unordnung gedeihen Sehnsüchte nach Sicherheit und Geborgenheit in einer - alten oder neuen - Ordnung. Von jeher hat das Leiden an bedrängenden Lebensverhältnissen religiöse und politische Erlösungsfantasien beflügelt. Der traurigen Wirklichkeit hält man den Glanz des Wunsches entgegen, und manchmal erwächst aus den Spekulationen ein ganzes Traumreich. Hier interessieren uns diejenigen Entwürfe, die nicht ein transzendentes Paradies ausmalen, in welches der Leidende dereinst aufgenommen werden soll, sondern solche, die sich als Vorschläge für eine bessere Ordnung T. Geiger: Vorstudien, S. 133: "Innerhalb der rechtlich geordneten Gesellschaft ist die soziale Interdependenz veranstaltlicht und monopolisiert. Sie ist in einer Zentralmacht verdichtet und wird von den Organen dieser Zentralmacht gehandhabt. Recht ist insofern: ein von einer Zentralmacht monopolisierter Ordnungsmechanismus." 18

11. Vom Aufruf zum Aufstand

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auf Erden verstehen. Oft sind derartige Utopien Komplementärbilder: Was ihr Autor in der Gegenwart am schmerzlichsten vermißt, das findet in seinen Gedanken eine besonders liebevolle Ausgestaltung 1• Der Zerrissenheit, dem Chaos und dem Elend hält er die Wiederherstellung der verlorenen Ganzheit entgegen2 • 11. Vom Aufruf zum Aufstand Eine Idealgesellschaft zu erträumen, ist eine Sache, die Erfüllung des Traumes eine andere. Wohl liegt in jedem theoretischen Entwurf ein Stück Schöpfung, und ohne die Kraft, das Nochnichtvorhandene zu denken, käme es nie zu sozialen Umwälzungen. Anderseits: wie viele Utopien blieben belächelte Luftschlösser, während einige - zum Teil nicht minder fantastische - die Grenze vom allgemeinen Appell zum politischen Programm einer Gruppe überschreiten konnten. Seit Platon versuchten Philosophen, ihre Gesellschaftsmodelle den Herrschenden zur Ausführung anzutragen; in der Regel mit demselben Erfolg, der schon Platon beschieden war. Das Interesse der Tyrannen und Fürsten an der Veränderung eines Systems, dem sie selbst ihre hervorragende Stellung verdankten, mußte begreiflicherweise gering bleiben. Günstigere Realisierungschancen besaßen Utopien, welche sich an die Benachteiligten selbst wandten und eine Erneuerung durch Druck von unten versprachen. Manche revolutionären Gedanken fielen sofort auf fruchtbaren Boden, und es sammelten sich Anhängerscharen um sie. Eine Neigung zu spontanen Erhebungen zeigten in der Vergangenheit vor allem religiös-soziale Erweckungsbewegungen mit einem charismatischen Propheten oder Heilsbringer in ihrer Mitte3 . Sie rührten an 1

Vgl. Dietrich Schindler: Verfassungsrecht und soziale Struktur, Zürich

1932, S. 92:

"Kommt aber die Theorie zu einer Kritik des Gegebenen und zur Aufstellung von Postulaten, so bedeutet sie eine andere Art der Ergänzung: die Kompensation der Wirklichkeit. Die Theorie fügt der Wirklichkeit das hinzu, was ihr fehlt." 2 Viele der klassischen Utopien und Staatsentwürfe weisen diesen Kompensationscharakter auf. Thomas Hobbes schrieb seinen "Leviathan" (1551) aus dem Erlebnis der sechs Jahre Bürgerkrieg heraus; Johannes Bodinus forderte im Anschluß an die französischen Glaubenskriege mit seinen "Six livres de la republique" (1576) ein starkes, von der Kirche und den Ständen unabhängiges Königtum. Auch das berühmte Werk von Thomas Morus, dessen Titel "Utopia" (1516) der ganzen Gattung den Namen gegeben hat, verstand sich (wie die zahlreichen soziologischen Erörterungen im Text belegen) als sehr konkrete Kritik an den sozialen Mißständen im damaligen Engla~d. S Um nur zwei Beispiele zu nennen: die Täufer von Münster um Thomas

40 Kap. 2: Ausgangspunkt der Verfolger: Vision einer neuen Gesellschaft verborgene Erlösungssehnsüchte und entfachten in vielen Menschen jene hell auflodernde Begeisterung, von der Endzeitbewegungen oft getragen werden. Gefühlsüberschwang war und ist ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich. Ekstase befähigt Menschen zwar zur überwindung großer Hindernisse, doch ist dieser Sturm und Drang zu explosiv, als daß die freigesetzte Energie gesteuert und aufbewahrt werden könnte. Die Maßlosigkeit solch enthusiastischer Manifestationen ist ohne kritische Selbstbetrachtung. Restlose Hingabe an den Augenblick läßt keine planende Vorausschau zu. Messianische Bewegungen sind deshalb von zwei Seiten her bedroht. Einmal besteht die Gefahr, daß die Begeisterung verpufft und die Gläubigen - ernüchtert, weil das versprochene Paradies auf Erden nicht kommen will - von der Bewegung abfallen. Zum anderen stellt ihr schrankenbrechender Impetus die herrschende Ordnung in Frage; und je tiefer der Aufruhr die Fundamente des Bestehenden erschüttert, desto erbitterter schlägt die Ordnungsmacht zurück. So mancher Aufbruch nach einer besseren Welt endete mit der grausamen Rache der Mächtigen4 • Andere Utopien nahmen einen weniger stürmischen Verlauf. Sie blieben für längere Zeit das Gedankengut eines kleinen Kreises von Gleichgesinnten, die mit zähem Eifer für ihre Überzeugung missionierten. Einige der politischen und sozialen Ideen, die zunächst als Gespinnste abwegiger Sektiererzirkel galten, wurden später von Gruppen aufgegriffen, welche sich die Gedanken für ihre Opposition zu bestehenden Zuständen nutzbar machten. eum grano salis trifft dies auf den Marxismus ebenso zu wie für den Zionismus und den Rassenantisemitismus des 19. Jahrhunderts. Die kühne Vision, die untergründige Sehnsüchte, Ängste und Haßgefühle anspricht, ist eine einigende und mobilisierende Kraft. Aber erst der planmäßige Einsatz von wirksamen Parolen macht aus einer vagen Zielvorstellung eine Ideologie, die als Anleitung zu politischem Münzer und die jüdischen Häretiker um den "mystischen Messias" Sabbatai

Zwi.

(Zu Sabbatai Zwi siehe Gershom Scholem: Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah 1626 - 1676, Princeton, New Jersey 1973.) 4 Es sei hier an den Bannfluch erinnert, den Luther im Bauernkrieg 1525 "wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern" schleuderte: "Drumb sol hie zuschmeyssen, wurgen und stechen heymlich odder offentlich, wer da kan, und gedencken, das nicht gifftigers, schedlichers, teuffelischers seyn kan, denn eyn auffrurischer mensch, gleich als wenn man eynen tollen hund todschlahen mus, schlegstu nicht, so schlegt er dich und eyn gantz land mit dyr." (D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, 18. Bd., hrsg. von O. Brenner und W. Möllenberg, Weimar 1908, S. 358.)

11. Vom Aufruf zum Aufstand

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Handeln taugt. Diese Art der politischen Agitation bedient sich der gleichen Identifikationsmechanismen, wie sie in der messianischen Bewegung lebendig werden - mit dem Unterschied, daß die Beeinflussung dosiert gehandhabt wird. Gerade jenes grenzenlose Ausleben der Leidenschaft darf, weil es letztlich unproduktiv ist, nicht aufkommen. Es gilt, die geweckten Emotionen sofort für die politische Arbeit dienstbar zu machen. Totalitäre Ideologien betrachten die emotionale Mobilisierung der Massen als erstrangiges Mittel zur sozialen Kontrolle und Lenkung. Ihre Vorkämpfer befassen sich darum sehr eingehend mit den Techniken der Beeinflussung. Ziel ist es dabei, durch ein geschicktes Zusammenspiel von Propaganda und Organisation die Menschen auf die Linie der jeweiligen Doktrin auszurichten. "Die Propaganda bearbeitet die Gesamtheit im Sinne einer Idee und macht sie reif für die Zeit des Sieges dieser Idee, während die Organisation den Sieg erficht durch den dauernden, organischen und kampffähigen Zusammenschluß derjenigen Anhänger, die fähig und gewillt erscheinen, den Kampf für den Sieg zu führen 5." Der Kampf um die Macht, das heißt gegen die alte und für die neue Ordnung, kann nach Hitlers Meinung nur dann siegreich sein, wenn er im Namen einer großen Idee ausgefochten wird: "Der Mangel einer großen neugestaltenden Idee bedeutet zu allen Zeiten eine Beschränkung der Kampfkraft. Die überzeugung vom Recht der Anwendung selbst brutalster Waffen ist stets gebunden an das Vorhandensein eines fanatischen Glaubens an die Notwendigkeit des Sieges einer umwälzenden neuen Ordnung dieser Erde 6 ." Auch Stalin mißt der Idee eine Bannerfunktion im politischen Kampf zu, wenngleich er, den Lehren des historischen Materialismus folgend, den Vorrang der ökonomischen Bedingungen betont und die Herkunft der Ideen aus ihnen ableitet: "Neue gesellschaftliche Ideen und Theorien entstehen im Grunde genommen eben darum, weil sie für die Gesellschaft notwendig sind, weil es ohne ihr organisierendes, mobilisierendes und umgestaltendes Wirken unmöglich ist, die herangereiften Aufgaben der Entwicklung des materiellen Lebens der Gesellschaft zu lösen. Entstanden auf der Basis der neuen Aufgaben, welche die Entwicklung des materiellen Lebens der Gesellschaft stellt, bahnen sich die neuen gesellschaftlichen Ideen und Theorien den Weg, werden Gemeingut der Volksrnassen, mobilisieren diese, organisieren sie gegen die absterbenden Kräfte der Gesellschaft und erleichtern auf diese Weise den Sturz der absterbenden Kräfte der Gesellschaft, die die Entwicklung des materiellen Lebens der Gesellschaft hemmen 7 ." Adolf Hitler: Mein Kampf, 305. - 306. Aufl., München 1938, S. 653. A. Hitler, S. 596/597. 7 J. Stalin: über dialektischen und historischen Materialismus (1938), in: J. Stalin: Fragen des Leninismus, Moskau 1946, S. 661. 5

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Kap. 2: Ausgangspunkt der Verfolger: Vision einer neuen Gesellschaft

III. Die Legitimation der neuen Ordnung Jedes menschliche Tun wirft die Frage nach seiner Berechtigung auf. Nicht nur: Warum handelt man so? Sondern auch: Weshalb soll man so handeln? Im ersten Fall ist nach der Kausalität des HandeIns gefragt; im zweiten wird das Problem der Legitimation angesprochen. Revolutionäre Gesellschaftsentwürfe pflegen sich auf Normen zu berufen, die als über allen menschlichen Gesetzen stehend angenommen werden. Gerade wenn die geltende Ordnung nicht bloß verändert, sondern vollständig ersetzt werden soll, muß - abgesehen von einer inhaltlichen Konzeption des zu Schaffenden - eine Vorstellung darüber bestehen, in wessen Namen die Erneuerung angestrebt werden soll. Je radikaler die Umwälzung, desto stärker stützt sich der revolutionäre Akt auf überpositive, naturrechtliche Normen. Das kann soweit gehen, daß die Protagonisten des Umsturzes sich gar nicht als die eigentlichen Urheber des neuen Systems erklären, sondern als Vollstrecker einer ewigen und absoluten Weltordnung - der einzig wahren Ordnung auftreten: "Unser Wissen ist Stückwerk, jedoch der Glaube an die ewige Gesetzmäßigkeit der Natur und des Lebens ist alles 8 ." In totalitären Ideologien kommt zur naturrechtlichen Legitimation der aggressive Freund-Feind-Gegensatz als konstituierendes Element hinzu. Die unbedingte Konfrontation findet nicht nur in Sachfragen statt; vehementer noch wird sie auf emotionaler Ebene vorangetrieben, indem die totalitäre Ideologie zum gefühlsmäßigen Bruch mit all dem aufruft, was das Gegnerische verkörpert. Die Haßpropaganda appelliert geschickt an vorhandene Ressentiments und Ängste. Sie zerreißt Interdependenzbande zwischen gesellschaftlichen Gruppen und schafft eine Polarisierung. "Als Weltanschauung bedeutet der Nationalsozialismus eine vollkommene Umkehrung der Lebenseinstellung zu derjenigen der letzten Jahrzehnte. (... ) Da zu behaupten: Mensch sei Mensch, ist der größte Blödsinn, der überhaupt aufgestellt werden kann. Wir sehen ja am besten an den Tieren, welche Abweichungen unter den verschiedenen Tierrassen vorhanden sind. So wie nicht Hund gleich Hund ist und hier ein Unterschied zwischen hochwertigen 8 Robert Ley: Der Weg zur Ordensburg, Berlin, ohne Jahr (ca. 1935/36), unpaginiert (11. Seite). Die marxistische Auffassung von der Gesetzmäßigkeit der Geschichte spiegelt sich in Lenins Aufruf an die Partei vom September 1917, wenn er schreibt: "Die Geschichte wird uns nicht verzeihen, wenn wir die Macht jetzt nicht ergreifen. " (W. 1. Lenin: Werke, Bd. 26, Berlin [DDR] 1961, S. 3.) Hier erscheint die Geschichte als unabhängige Instanz, die das menschliche Handeln mißt und bewertet.

IH. Die Legitimation der neuen Ordnung

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und minderwertigen nicht bestritten werden kann, so ist es auch unter den Menscheno." Eine Synthese von Konfrontationsdenken und überpositivem Naturgesetz bildet der nationalsozialistische Antisemitismus. Aus dem Gesetz der Natur leitet Hitler die Verpflichtung zum Kampf gegen das Judentum ab: "Siegte der Jude mit Hilfe des marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrtausenden menschenleer durch den Äther ziehen. Die ewige Natur rächt unerbittlich die übertretung ihrer Gesetze. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn10." Alles Leben steht unter einer doppelten Bedrohung: Hinter dem personifizierten Gegner, "dem Juden", lauert die vernichtende Rache einer unpersönlichen "Natur", von der keine Hilfe zu erhoffen ist l1 . Ein Konzentrat des ganzen Mystizismus, des Schicksalsglaubens und der Totalität in der nationalsozialistischen Weltanschauung ist der "Kernsatz der SS", den Himmler selbst seiner Elitetruppe als ideologisches Grundgesetz verliehen hat: "So sind wir angetreten und marschieren nach unabänderlichen Gesetzen als ein nationalsozialistischer, soldatischer Orden nordisch-bestimmter Männer und als eine geschworene Gemeinschaft ihrer Sippen den Weg in eine ferne Zukunft und wünschen und glauben, wir möchten nicht nur sein die Enkel, die es besser ausfochten, sondern darüber hinaus die Ahnen späterer, für das ewige Leben des deutschen germanischen Volkes notwendiger Geschlechter12 • " Mit der Rückführung der eigenen politischen Vision auf kosmische Gesetzmäßigkeiten verleiht die totalitäre Ideologie ihren Anhängern eine Weltauslegung, in der alle Dinge ihren vorbestimmten Ort und Stellenwert besitzen. Während die Nationalsozialisten in erklärter Feindschaft zu Politik und System der Weimarer Republik standen und ihr Drittes Reich als "völkische Revolution" und als Beginn einer neuen Zeit feierten, trat Stalin 1924 das Erbe Lenins mit dem Anspruch an, das Werk seines Vorgängers fortzusetzen. Solange Stalin herrschte, war die Betonung der Führungskontinuität von Lenin zu Stalin ein Eckpfeiler der offiziellen Propaganda 13 •

° Curt

Rosten: Das ABC des Nationalsozialismus, 2. Aufl., Berlin 1933,

S.82/83. 10 A. Hitler: Mein Kampf, S. 69/70.

Dazu Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, Zürich 1945, S. 221: "Er projiziert seinen Sadismus auf die Natur (...)." 12 Gunter d'Alquen: Die SS. Geschichte, Aufgabe und Organisation der Schutzstaffeln der NSDAP, Berlin 1939, S. 25/26. 11

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Kap. 2: Ausgangspunkt der Verfolger: Vision einer neuen Gesellschaft

Für Stalin stellte sich daher das Problem der Legitimation seiner Politik auf eine besondere Art: Er mußte sich im wesentlichen auf dieselben Werte berufen, wie sein Vorgänger. Er war also beim Aufbrechen der gesellschaftlichen Strukturen auf diejenigen ideologischen Grundbegriffe angewiesen, in deren Namen einige Jahre zuvor der Sowjetstaat errichtet worden war. Allerdings lagen schon in Lenins Politik Ansätze zu den Vorstellungen und Praktiken, die Stalin weiterentwickelte. Abgesehen davon, daß das Modell der Klassenkämpfe die Idee eines unversöhnlichen Gegensatzes in der Gesellschaft enthält, hatte Lenin selbst im Januar 1921 zu einer umfassenden Säuberung der Partei aufgerufen14 • Zu Beginn seiner Herrschaft wies Stalin in einer Vorlesung darauf hin, daß die proletarische Revolution, im Unterschied zur bürgerlichen, nicht mit der Machterringung abgeschlossen sei, sondern daß ihre Hauptaufgabe, die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft, erst dann beginne 15 • Damit war allerdings noch nicht begründet, mit welchen Mitteln die Umgestaltung vollzogen werden sollte. Die gewaltigen Eingriffe in das Gefüge von Partei und Gesellschaft, die Massenvernichtungen verlangten nach einer eigenen ideologischen Verankerung. Sie bestand aus zwei Positionen: der Theorie von der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verketzerung Trotzkis als Erzfeind. Diese beiden Theoreme erwiesen sich als hervorragende ideologische Werkzeuge, mit denen sich die ganze Tschistka rechtfertigen ließ. In seiner Rede "über die rechte Abweichung in der KPdSU (B)" führte Stalin im April 1929 seine These aus, wonach beim Voranschreiten des Sozialismus sich der Klassenkampf verschärfe: "Die untergehenden Klassen leisten nicht deshalb Widerstand, weil sie stärker geworden sind als wir, sondern weil der Sozialismus schneller wächst als sie und sie schwächer werden als wir. Und gerade deshalb, weil 13 Als Beleg mögen diese Sätze aus der Spätzeit der Stalin-Ära genügen: Marx-Engels-Lenin-Institut (Hrsg.): J. Stalin. Kurze Lebensbeschreibung, Moskau 1944: "Das Banner Lenins, das Banner der Partei und der Komintern wurde von Stalin, dem besten Sohn der bolschewistischen Partei, dem würdigen Nachfolger und großen Fortsetzer des Werkes Lenins, hoch erhoben und vorwärts getragen" (S. 42). "Stalin - das ist Lenin von heute" (S. 77). 14 Der kurze Artikel "über die Parteireinigung" schließt mit den Worten: "Man muß die Partei reinigen von Gaunern, von Verbürokratisierten, von Unehrlichen, von unbeständigen Kommunisten und von Menschewiki, die ihre ,Fassade' übertüncht haben, aber im Herzen Menschewiki geblieben sind." (W. I. Lenin: Werke, Bd. 33, Berlin [DDR] 1962, S. 21.) 15 J. Stalin: Zu den Fragen des Leninismus (1926), in: Fragen des Leninismus, S. 140.

IH. Die Legitimation der neuen Ordnung

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sie schwächer werden, wittern sie die letzten Tage ihres Daseins und sind gezwungen, mit allen Kräften, mit allen Mitteln Widerstand zu leisten16 ." In der Umkehrung heißt das: Je gewaltiger der Kampf und je schärfer die Verfolgungsmaßnahmen, desto näher rückt das ersehnte Ziel, die Verwirklichung des Sozialismus. Ein Paradoxon wurde blutige Realität: Das Chaos, in dem das Land versank, zeigte den erfolgreichen Aufbau der neuen Ordnung an. Nicht weniger zweckmäßig war die zweite Konstruktion. Indem man eine gewaltige Propagandakampagne gegen die heimtückische Schädlings- und Sabotagetätigkeit von Trotzki und seinen Komplizen entfesselte, konnte man die Massenverhaftungen und Erschießungen als notwendige Verteidigung von Lenins Erbe gegen einen inneren Todfeind deklarieren. Als 1934 die Säuberungen intensiviert wurden, war Trotzkis Gefolgschaft in der UdSSR zu einem politisch unbedeutenden Häuflein zusammengeschmolzen, und Trotzki selbst befand sich im französischen Exil. Gerade weil es den "Trotzkismus" in der Sowjetunion nicht mehr gab, ließ sich dieser Begriff zu einem Symbol für alles Böse und Bedrohliche aufbauen. Dieses Feindbild vereinigte sich mit der These des sich verschärfenden Klassenkampfes; zusammen bildeten sie eine Legende der totalen Konfrontation, die den Terrorprozeß zu rechtfertigen hatte.

16

In: J. Stalin: Fragen des Leninismus, S. 283.

Dritter Teil: Äußerer Befund Kapitel 3

Der Proze13 der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten im totalitären System I. Zwei verschiedene Terrorsituationen

1. Die Unterscheidung Untersucht man die politischen und soziologischen Bedingungen, unter welchen die Herrschaft einer Zentralmacht über ihre Bevölkerung sich in massivem Angsterregen ausdrückt, dann lassen sich zwei grundverschiedene Situationen auseinanderhalten. Kriterium ist dabei nicht die Wahl der Einschüchterungsmethoden (die brauchen gar nicht verschieden zu sein), sondern die Entwicklungsphase eines politischen Systems zum Zeitpunkt, da ein Terrorprozeß in Gang gesetzt wird. Die erste Situation, in der Gewalt als Ausweg aus einer Krise eingesetzt wird, ist die Konstituierungsphase eines radikal neuen Regimes, das sich - während oder unmittelbar nach einer Revolution - gegen den Widerstand von Kräften des ancien regime durchsetzen will. Terror ist hier selten die Wahl bloß einer Seite; und der eigene Terror (der sich vielfach offen als solcher bekennt) wird mit dem Gegenterror des Feindes begründet. Nicht viel anders ist die Lage beim Zerfall eines Regimes, wenn der Bestand der Macht von Aufständen herausgefordert wird. Hier ringen ebenfalls zwei oder mehrere Parteien um die Vorherrschaft, mit allen Mitteln, einschließlich des Terrors. Ganz anders bietet sich die zweite Situation dar, welche ungleich seltener ist: Sie setzt die von keiner Opposition mehr in Frage gestellte Herrschaft einer totalitären Bewegung oder Partei voraus. Diese Terrorphase beginnt erst nach erfolgreicher Konsolidierung der Macht. Der Terrorprozeß richtet sich nicht gegen einen manifesten Feind wie im Bürgerkrieg. Er wird hier einseitig von der Zentralmacht als Mittel zur Umgestaltung und Säuberung der Gesellschaft verwendet.

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Damit sowohl die Unterschiede als auch die Parallelen zwischen den beiden Terrorsituationen sichtbar werden, folgt zunächst eine knappe Darstellung des Bürgerkriegsterrors. Als Beispiel dient die TerrorKontroverse zur Zeit der russischen Oktoberrevolution.

2. Gewalt und Einschiichte'Tung im Kampf um die Macht a) Die Instrumente des Terrors In den dramatischen Tagen unmittelbar vor der Oktoberrevolution konstituierte sich am 22. Oktober 1917 (dem 4. November nach dem westlichen, gregorianischen Kalender) in Petrograd die Rote Arbeitergarde als "Organisation der bewaffneten Kräfte des Proletariats zum Kampfe gegen die Konterrevolution und zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften"!. In Ziffer 8 ihres Statuts stellte sich die Arbeitergarde folgende Aufgabe: "Um die revolutionäre Ordnung aufrechtzuerhalten, übernimmt die Axbeitergarde bei Unruhen den Schutz der Straßen, der staatlichen und öffentlichen Institutionen und privater Gebäude, kämpft gegen Pogrome und unterdrückt Provokationsakte finsterer Mächte2." Während der erste Teil dieser Ziffer normale schutzpolizeiliche Funktionen umreißt, mündet der Schluß in eine Art Generalklausel für eine politische Polizei. Auffallend ist, daß der Gegner nicht näher bezeichnet, sondern mit dem archetypische Bilder des Ur-Bösen evozierenden Etikett "finstere Mächte" versehen wird. Die Verlagerung des Feindes in den Bereich des Außermenschlichen ist, wie wir sehen werden, ein fester Bestandteil jeglicher Terrorpropaganda. Die gewaltigen Probleme nach der Revolution, der Bürgerkrieg, die Sabotage, die innere Gegnerschaft des eroberten Staatsapparates und die akute Bedrohung durch fremde Interventionstruppen veranlaßten die Bolschewiki im Dezember 1917, die Geheimpolizei "Tscheka"3 ins Leben zu rufen. In einem von Lenin unterzeichneten Erlaß sind die Funktionen der Tscheka aufgezählt: ,,1. Die Verfolgung und Bestrafung aller Akte der Konterrevolution und

Sabotage in ganz Rußland ungeachtet ihrer Ursachen. 2. Die überstellung aller Konterrevolutionäre und Saboteure an das Revolutionstribunal und die Ausarbeitung eines Planes zum Kampf gegen sie4 ."

1 William Henry Chamberlin: Die Russische Revolution 1917 - 1921, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1958, S. 430. ! W. H. Chamberlin, S. 431. 3 Mit vollem Namen: "Allrussische Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage" (Wserossijskaja Tschres-

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Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten

Mit der Tscheka erhielt die junge Revolution ein Instrument zur Einschüchterung und Verfolgung ihrer Feinde. Die Umschreibung des Aufgabenbereiches dieser Truppe war sehr weit gefaßt. Vor allem der Zusatz "ungeachtet ihrer Ursachen" objektivierte den Begriff der Konterrevolution in einer Weise, die das Forschen nach der - allenfalls fehlenden - subjektiven Schuldkomponente überflüssig machte. b) Kritiker des Terrors Die Maßnahmen, mit denen sich Lenins Partei die Macht sicherte, fand auch bei radikalen Sozialisten in Westeuropa nicht nur Zustimmung. Früh schon erhoben sich besorgte Stimmen, die die Hoffnung auf eine neue, gerechtere Ordnung durch die Praktiken der russischen Revolutionäre gefährdet sahen. So auch Rosa Luxemburg, die 1918 im Gefängnis von Breslau einen Aufsatz verfaßte, der erst 1922 aus ihrem Nachlaß veröffentlicht wurde 5 • Der Hauptfehler der bolschewistischen Politik war in ihren Augen die Abschaffung der demokratischen Rechtes. Nachdrücklich verteidigte sie die Meinungsäußerungsfreiheit gegen jede Zensur: "Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden7 ." Lenins Methoden - "Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft"8 - bezeichnete sie als ungeeignet, die gewünschte geistige Umwälzung zu erreichen, denn: "Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert9 ." Schärfer noch fiel die Kritik von Karl Kautsky aus, den Lenin lange als seinen politischen Lehrmeister betrachtet hatte, bevor sich ihre Auffassungen trennten 10 • Kautsky stellte die Problematik des revoluwitschajnaja Komissija po Borbe s Kontrrevoluzijej i Sabotaschem), abgekürzt nach den Anfangsbuchstaben WeTscheKa oder Tscheka. 4 "Prawda" vom 7. (20.) Dezember 1917, S. 2; zitiert nach: Manfred Hellmann (Hrsg.): Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum staatsstreich der Bolschewiki, München 1964, S. 334/335. 5 Rosa Luxemburg: Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß von Rosa Luxemburg, herausgegeben und eingeleitet von Paul Levi, Berlin 1922. Levi hat am Text einige Veränderungen vorgenommen; die Zitate folgen daher der einzigen kritischen Gesamtausgabe: Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: R. Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin (DDR) 1974, S. 332 - 365. 6 Siehe R. Luxemburg, S. 355/356. 7 R. Luxemburg, S. 359 Fußnote 3. 8 R. Luxemburg, S. 361/362. 9 R. Luxemburg, S. 362.

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tionären Terrors in den Mittelpunkt seiner Schrift "Terrorismus und Kommunismus"ll. Wie Rosa Luxemburg wandte er sich gegen die rigorose Unterdrückung jeder abweichenden Meinung in Rußland: "Ein Netz von Revolutionstribunalen und außerordentlichen Kommissionen ,zur Bekämpfung der Gegenrevolution, der Spekulation und der Vergehen im Amte' wird geschaffen, die nach Willkür über jeden urteilen, der ihnen denunziert wird, und nach Belieben jeden erschießen, der ihnen nicht paßt, jeden Spekulanten und Schleichhändler, den sie erwischen, sowie deren Helfershelfer unter den Sowjetbeamten. Aber sie bleiben dabei nicht stehen, sondern packen auch jeden ehrlichen Kritiker dieser ganzen furchtbaren Mißwirtschaft. Unter dem Sammelnamen der ,Gegenrevolution' wird jede Art der Opposition zusammengefaßt, welchen Kreisen und Motiven sie immer entspringen, welche Mittel immer sie anwenden, welche Ziele sie sich stellen mag '2 ." Mit Blick auf die Zukunft prophezeite Kautsky der Sowjetrepublik, daß sie in einer Diktatur, vor deren Eigengesetzlichkeit er warnte, ersticken werde: "Mit der Diktatur ist es wie mit dem Kriege, und das mögen diejenigen in Deutschland beachten, die jetzt unter dem Einflusse der russischen Mode mit dem Gedanken der Diktatur spielen, ohne ihn zu Ende zu denken. Wie den Krieg kann man auch die Diktatur leicht beginnen, wenn man über die Macht im Staate verfügt, man kann aber, sobald man einmal begonnen hat, diese ebensowenig wie jenen nach Belieben abbrechen. Man wird vor die Alternative gestellt, zu siegen oder in einer Katastrophe zu enden '3." c) Versuche zur Legitimierung des revolutionären Terrors Die Vorwürfe, eine Schreckensherrschaft zu errichten, wehrten die Bolschewiki mit dem Hinweis auf die Kampfmethoden des Gegners ab: "Diejenigen, die sich über den Terror der Bolschewiki beklagen, vergessen, daß die Bourgeoisie, um sich ihren Geldbeutel zu erhalten, vor nichts zurückschreckt14 • " Der Bürgerkrieg zwinge die Revolution zu drastischen Maßnahmen; dennoch seien Terror und Unterdrückung nur eine vorübergehende Phase der revolutionären Umgestaltung: 10 Auf Kautskys Broschüre "Die Diktatur des Proletariats" (Wien 1918) antwortete Lenin im gleichen Jahr mit der Polemik "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky" (W. I. Lenin: Werke, Bd. 28, Berlin [DDR]

1959, S. 225 - 327).

11 Karl Kautsky: Terrorismus und Kommunismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der Revolution, Berlin 1919. 12 K. Kautsky: Terrorismus, S. 132. 13 K. Kautsky: Terrorismus, S. 144. 14 N. Bucharin / E. Preobraschensky: Das ABC des Kommunismus (Moskau 1919), Hamburg 1921, S. 121.

4 Suter

50 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten "Die proletarischen Staaten, die sich gegen die Räuberimperialisten verteidigen, führen einen Klassenkrieg, der heilig ist. Er erfordert aber Blutopfer. Und je weiter der Krieg um sich greift, desto mehr Opfer fallen, desto mehr schreitet die Zerrüttung fort. Die Kosten der Revolution können jedoch keineswegs als Beweisgrund

gegen diese Revolution angesehen werden15."

Den Opfern des Bürgerkrieges werden die vom Kapitalismus verschuldeten Zerstörungen des Ersten Weltkrieges entgegengehalten: "Die Menschheit muß ein für aHema~ mit dem Kapitalismus ein Ende machen. Um dessentwillen lohnt es sich, die Zeit der Bürgerkriege durchzuhalten, dem Kommunismus den Weg zu bahnen, der alle Wunden heilen und die Entwicklung der Produktivkräfte der menschlichen Gesellschaft schnell vorwärts bringen wird I6 ." Mit der Verheißung einer glücklichen Zukunft überdeckten Bucharin und Preobraschensky ihr Unbehagen über den hohen Preis der Revolution. Ganz anders argumentierte Leo Trotzki in seiner Entgegnung auf Kautsky. Für Trotzki bedeutete der Terror der Bolschewiki keine bedauerliche Folge der besonderen Situation in Rußland, Terror war ein notwendiger Bestandteil einer jeden proletarischen Revolution 17 • Nur mit diesem äußersten Mittel lasse sich der Widerstand der Bourgeoisie brechen: "Die historische Zähigkeit der Bourgeoisie jedoch ist kolossal. Sie hält sich und will den Platz nicht räumen. Dadurch droht sie, die ganze Gesellschaft mit sich in den Abgrund zu ziehen. Sie muß abgerissen, abgehackt werden. Der rote Terror ist ein Werkzeug, das gegen eine dem Untergang geweihte Klasse angewendet wird, die nicht untergehen WilP8." überdeutlich drücken diese Worte den natur rechtlichen Gedanken aus, die Revolution vollziehe das Gesetz der Geschichte. So gesehen ist der Terror nicht bloß ein legitimes, sondern geradezu das einzig vernünftige Mittel, um den historischen Prozeß zu beschleunigen. Zwar war auch Trotzki der Meinung, die kommunistische Gesellschaft werde dereinst den Staat entbehrlich machen, doch dies setzte eine vorübergehende Maximierung der staatlichen Zwangsfunktionen voraus: N. Bucharin / E. Preobraschensky, S. 127. Leo Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky, Hamburg 1920. 17 L. Trotzki: Anti-Kautsky, S. 11: "Wer prinzipiell gegen den Terrorismus, d. h. die Unterdrückungs- und Abschreckungsmaßnahmen in Bezug auf die erbitterte und bewaffnete Gegenrevolution ablehnt, der muß auf die politische Herrschaft der Arbeiterklasse, auf ihre revolutionäre Diktatur verzichten. Wer auf die Diktatur des Proletariats verzichtet, der verzichtet auf die soziale Revolution und trägt den Sozialismus zu Grabe." 18 L. Trotzki: Anti-Kautsky, S. 48. 15 16

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"Wie eine Lampe vor dem Erlöschen noch einmal hell aufflammt, so nimmt auch der Staat, bevor er verschwindet, die Form der Diktatur des Proletariats an, d. h. des schonungslosesten Staates, der das Leben der Bürger von allen Seiten gebieterisch erfaßtu ." Die Parallelen zu Stalins späterer Konzeption von der Verschärfung des Klassenkampfes sind unverkennbar: hier wie dort die Annahme, daß dem Untergang eine Phase des Aufbäumens unter Aufbietung aller Kräfte vorausgehe. Der revolutionäre Terror und der totalitäre Terror bedienen sich ähnlicher Rechtfertigungsmuster.

3. Terror als Mittel zur sozialen Umwälzung im totalitären System Der Terrorprozeß im totalitären System eröffnet den Vernichtungsfeldzug nicht gegen einen bewaffneten Feind, sondern gegen Menschen, die bereits lange zuvor entwaffnet worden und seither unter scharfer Kontrolle gehalten sind, so daß sie sich des Angriffes weder erwehren noch durch Flucht entziehen können. Der Unterschied zu den Schrecken eines Bürgerkrieges liegt im Zweck und in der Gestalt des totalitären Terrors. Sein Zweck liegt nicht in der Erringung oder Sicherung der Macht; er wendet die uneingeschränkte Macht an, um das visonäre Ziel, in dessen Namen die Herrschaft erobert wurde, zu erreichen. Er will aus dem "vorhandenen Menschenmaterial" die endgültige Ordnung bauen. Und weil dieses Unternehmen ohne organisierten Widerstand einer Gegenseite begonnen werden kann, funktioniert der totalitäre Terror am Anfang wie eine präzise Maschine. Er setzt die Gewalt nach Plan ein, während sein Gegenstück - der Bürgerkriegsterror - chaotisch ist und sich ohne übersicht vom Zufall des Augenblickes und des Kriegsglückes dirigieren läßt. Zwar tobt sich auch der Bürgerkrieg an der wehrlosen Bevölkerung aus; und was an individuellen Sadismen hier zu Tage tritt, ist, für sich genommen, vielleicht in seiner Grausamkeit nicht mehr zu überbieten. Doch der totalitäre Terror hebt sich davon nicht durch seine gesteigerte Bestialität ab. Seine Besonderheit ist die perfektionierte Organisation der Gewaltakte, die Quantität der Opfer, die er - darin einem industriellen Betrieb gleichend - zu verarbeiten in der Lage ist. Dem Vernichtungsprozeß sind im totalitären System die Grenzen viel weiter gesteckt als in jedem Bürgerkrieg - wie weit, das haben uns die Beispiele des Dritten Reiches und der UdSSR zur Zeit der Tschistka vor Augen geführt. Und es besteht kein Grund zur Annahme, daß diese Grenzen nicht noch ausgedehnt werden könnten. u

L. Trotzki: Anti-Kautsky, S. 141.

52 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten Die folgenden Abschnitte beschreiben den Aufbau und den äußeren Entwicklungsgang des totalitären Terrorprozesses anhand der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Die Einteilung in eine Stufenfolge mag etwas Künstliches an sich haben. In der politisch-sozialen Realität lassen sich diese Phasen nicht durchwegs so deutlich auseinanderhalten. Sie überlappen und vermischen sich zuweilen; spätere Stadien künden sich schon in vorhergehenden an. Anderseits hilft aber die Aufgliederung mit, die wesentlichen Elemente im Ablauf des totalitären Terrors herauszuarbeiten: die Finalität und die Steigerungsdynamik, die den Terrorprozeß auf einen Kulminationspunkt zutreiben.

11. Erste Stufe: Propaganda bereitet die Verfolgung vor

1. Totalitäre Propaganda im Kampf gegen autonomes Denken Jede Propaganda ist eine Art Karikatur der Ideologie, die ihr zugrunde liegt. Sie entnimmt komplexen Weltanschauungen einige Glaubenssätze und schmiedet daraus eingängige Schlagworte. In der Verkürzung treten die Kontraste schärfer hervor - ein erwünschter Effekt, denn Propaganda soll schlagen, soll eine verbale Waffe im politischen Kampf sein. Diesen aggressiven Zug enthält in ganz besonderem Maße die Propaganda von totalitären Bewegungen und Systemen, da bereits deren Ideologie von Feindbildern dominiert wird. Mit dem Sanktions apparat des totalitären Systems im Rücken und mit ihrer MonopolsteIlung, die keine widersprechende Meinung neben sich duldet, hat die Propaganda nicht bloß deklaratorische Kraft - sie wirkt normativ, indem sie sagt, was ist und was gilt. Sie deutet den ganzen Erfahrungsbereich der Bürger um. Wie man sich auch innerlich zu den Propagandathesen stellen mag, sie drücken die Realität aus. Durch den Zwang, seine arische Abkunft nachweisen zu müssen, wurde die nationalsozialistische Rassenlehre für jeden Bewohner des Dritten Reiches zu einer Kernfrage des eigenen Lebens. Die Umsetzung ideologischer Positionen in den gesellschaftlichen Alltag verleiht einer Ideologie eine stark suggestive Kraft, denn sie konkretisiert sich ja täglich an vielen Orten und wird daher zu einem sinnlich erfahrbaren Gegenstand. Derselbe Vorgang lief auch in der UdSSR während der Tschistka ab. Die konstanten Aufrufe zu erhöhter Wachsamkeit vor den trotzkistischen "Volksschädlingen", die nicht abreißende Kette der Verhaftungen und Denunziationen schufen ein Treibhausklima, in dem auch die absurdesten Feindeslegenden und Anschuldigungen plausibel erschienen.

II. Erste Stufe: Propaganda bereitet die Verfolgung vor

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Es verlangte in der UdSSR und im Dritten Reich einiges an kritischer Selbstsicherheit und Mut, um die künstliche Realität der Propaganda zu durchschauen. Nun gibt es wenig, was der überzeugungskraft jeglicher politischer Propaganda so zuwiderläuft, wie ein zögerndes Räsonieren. In totalitären Systemen wird diese Haltung denn auch allgemein als zersetzend diffamiert. Der Zweifler ist, weil er die Abwehrentschlossenheit schwächt, ein verkappter Komplize des Feindes - so argumentierte die sowjetische Propaganda. Im Dritten Reich galt analytisches Nachdenken als typische Eigenschaft der jüdischen Krämerseele, während der arische Volkscharakter als offen dargestellt wurde. Ganz ausgeprägt war in Deutschland die antiintellektuelle Propaganda 20 • "Offenheit" mag auch insofern ein Idealbild sein, das sich totalitäre Systeme von ihren Untertanen machen, als ein solchermaßen offener Mensch buchstäblich nichts verbirgt; er ist ungefährlich und leicht zu kontrollieren. Zur Kontrolle gehört neben der Indoktrination der Zwang zum öffentlichen Bekenntnis zum herrschenden System, vornehmlich an Massenveranstaltungen, bei denen sich der Beitrag der Teilnehmer in frenetischer Akklamation erschöpft.

2. Propaganda als Prophezeiung Im totalitären System ist die Propaganda Wegbereiter und sprachliche Vorwegnahme der politischen Aktion: vage Andeutungen, die nach und nach Konturen erhalten und schließlich unmißverständlich aussprechen, was der Machtapparat zu tun beabsichtigt. Das Vorrücken in Etappen enthüllt der Bevölkerung das Kommende portionenweise; so wird auch weit entferntes mit der Zeit denk- und danach realisierbar. Es ist kaum anzunehmen, daß eine Mehrheit der Deutschen sich schon 1933 die physische Ausrottung der Juden hätte vorstellen können. Aber die neun Jahre bis 1942, mit ihrer unablässigen antisemitischen Hetze und dem fortschreitenden Ausstoßen der Juden aus allen gesellschaftlichen Bereichen, ließen genügend Raum, sich auch an diesen Gedanken zu gewöhnen. Das Zusammenspiel von Propaganda und nachvollziehender Tat ist eine doppelte Demonstration der Macht: Es offenbart sich darin sowohl die Macht der herrschenden Ideologie, die durch die Ereignisse "Recht 20 Typisch für diese Ressentiments sind die Worte Heinrich Himmlers in einer Rede, die er am 4. Oktober 1944 vor SS-Leuten hielt (Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof [IMG], Bd. 29, Nürnberg 1948, S. 132): "Leider Gottes ist es ja so, daß sich diese Feiglinge immer mehr in der Oberschicht als in der Unterschicht oder in der Mittelschicht eines Volkes finden. Offenkundig verdirbt also Intellekt irgendwie den Charakter, mindestens die Willensbildung und Energie."

54 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten bekommt", als auch die Macht eines Herrschaftssystems, das seine Ideologie in die politische Realität zu übertragen vermag. Propaganda als Prophezeiung ist überdies ein Abwälzen von Verantwortung und Schuld - in erster Linie auf die Opfer, die ja früh genug gewarnt worden waren und die nun die Folgen ihrer Unbelehrbarkeit zu tragen haben, in zweiter Linie aber auf die Gesamtbevölkerung, denn die Propaganda hat auch ihr vorausgesagt, was kommen werde, und keiner kann sich damit entlasten, von alledem nichts gewußt zu haben. So verkündete Hitler am 30. Januar 1939, als die deutsche Führung bereits intensiv den Krieg vorbereitete, in seiner Rede vor dem Reichstag: "Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa21 ." Auf diese Rede nahm Hitler am 8. November 1942, im ersten Jahr der "Endlösung", Bezug: "Sie werden sich noch der Reichstagssitzung erinnern, in der ich erklärte: Wenn das Judentum sich etwa einbildet, einen internationalen Weltkrieg zur Ausrottung der europäischen Rassen herbeiführen zu können, dann wird das Ergebnis nicht die Ausrottung der europäischen Rassen, sondern die Ausrottung des Judentums in Europa sein. Man hat mich immer als Prophet ausgelacht. Von denen, die damals lachten, lachen heute Unzählige nicht mehr, und die jetzt noch lachen, werden es vielleicht in einiger Zeit auch nicht mehr tunu ." Hinter der Feststellung, daß die damaligen Vorhersagen sich als wahr erwiesen haben, steht die unverhüllte Drohung Hitlers, daß auch in Zukunft all das eintreffen werde, was er prophezeie. Die Deutschen hatten daher allen Grund, die nationalsozialistisch·en Propaganda thesen als Vorboten einer künftigen Realität beim Wort zu nehmen. Wie die Propaganda in der UdSSR die Menschen auf dramatische Ereignisse vorzubereiten hatte, sei hier anhand zweier Publikationen erläutert, die 1937 von der "Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR" auch in deutscher Sprache verbreitet wurden. Auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU, das vom 3. - 5. März 1937 tagte, hielt Stalin zwei programmatische Reden, deren Titel - "über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler" - schon Inhalt 21 Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen 1932 - 1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. II: Untergang, 1. Halbband 1939 - 1940, München 1965, S. 1058. 22 M. Domarus, Bd. II, 2. Halbband 1941 - 1945, S. 1937.

UI. Zweite Stufe: Verdrängung aus dem Berufsleben

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und Ton verriet. Diese Referate wurden sofort veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt 23 • Ein halbes Jahr später, im Oktober 1937, erschienen unter dem Titel "über die rechte Abweichung in der KPdSU (B)" Auszüge aus einer Rede, die Stalin 1929 gehalten hatte, im Separatdruck. Es war dies zur Hauptsache eine Abrechnung mit Bucharin, die in den Sätzen gipfelte: "Entweder werdet ihr diese Forderung der Partei erfüllen - dann wird die Partei euch willkommen heißen. Oder ihr werdet es nicht tun - dann aber schreibt die Folgen euch selbst zu 24 ." Während in den Referaten vom März 1937 den Feinden von Partei und Staat ganz allgemein die gnadenlose Vernichtung angedroht wird, nennt die neu aufgelegte Rede von 1929 auch den Namen des prominentesten Angeklagten: Nicolai Bucharin. Die Menschen in und außerhalb der Sowjetunion wurden darauf eingestimmt, daß ein Prozeß gegen einen der engsten Mitarbeiter Lenins bevorstand. Im März 1938 ging dann dieses Verfahren über die Bühne. Doch daß Bucharin bereits einige Zeit vor der Brandrede Stalins eingekerkert worden war 25, das blieb wohl den meisten Sowjetbürgern verborgen. Bevor die propagandistischen Fanfaren einsetzten, war der Ablauf der Ereignisse längst festgelegt. Der Bevölkerung aber präsentierte man die Sache so, daß sie vom Weitblick des genialen Stalin beeindruckt sein mußte - denn hatte der Generalsekretär nicht schon vor acht Jahren die heutigen Verräter entlarvt und unmißverständlich gewarnt?

III. Zweite Stufe: Verdrängung aus dem Berufsleben Noch während die Nationalsozialisten durch die rücksichtslose Unterdrückung aller politischen Gegner ihre neuerrungene Macht festigten, unternahmen sie auch die ersten Schritte zur Deklassierung der jüdi23 Welche Bedeutung die offiziellen Stellen diesen Reden beimaßen, geht daraus hervor, daß allein diese Ausgabe bereits Mitte April 1937 laut Impressum in einer Auflage von 65 100 Exemplaren vorlag. Zu dieser Zeit kam das Deutsche Reich gar nicht mehr als Absatzgebiet in Frage. - Dieselben Referate sind enthalten in: J. W. Stalin: Werke, Bd. 14, 2. Aufl., Dortmund

1976, S. 119 - 160.

24 J. Stalin: über die rechte Abweichung in der KPdSU (B), Moskau 1937, S. 64. Hier betrug die deutschsprachige Auflage bloß 9 100 Exemplare. Dieselbe Stelle in: J. Stalin: Fragen des Leninismus, S. 320. 25 In seinem Schlußwort vor dem Todesurteil sagte Bucharin am 12. März 1938, er sitze nun "schon mehr als ein Jahr im Gefängnis". (Siehe: Volkskommissiariat für Justizwesen der UdSSR [Hrsg.): Prozeßbericht über die Strafsache des antisowjetischen "Blocks der Rechten und Trotzkisten", verhandelt vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichtshofes der UdSSR vom 2. -13. März 1938, Moskau 1938 [= Moskauer Prozeßbericht 1938), S. 834.)

56 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten

schen Bevölkerung. Trotz der Gleichzeitigkeit dieser Handlungen und trotz der prinzipiellen Ähnlichkeit aller politischen Gewalt sind diese beiden Formen von Repression auseinanderzuhalten. Die politische Linke verstand sich von vorneherein als entschiedener Gegner der Nationalsozialisten. Und wenn sich die Nationalsozialisten auch über die tatsächliche Stärke der Arbeiterbewegung täuschen mochten, so bestand doch kein Zweifel, daß diese das neue Regime aktiv bekämpft hätte. Das Zerschlagen der Linksparteien und ihrer Massenorganisationen war aus nationalsozialistischer Sicht eine schiere Notwendigkeit zur Absicherung der Herrschaft. Die dabei ausgeübte Gewalt diente gleichzeitig der Einschüchterung potentieller Gegner und der Ermutigung der eigenen Anhänger. Im Gegensatz zu den Linksformationen waren die deutschen Juden nicht aus eigenem Selbstverständnis heraus Feinde des Nationalsozialismus, sondern die nationalsozialistische Ideologie stempelte sie dazu. Von den Juden - bei denen eine deutsch-nationale Gesinnung nicht selten war - gingen keine wesentlichen Impulse aus, die geeignet gewesen wären, die Machtstellung der Nationalsozialisten zu gefährden. Die antijüdische Politik war denn auch keine Frage der Herrschaftskonsolidierung; sie war eine auf Dauer angelegte Annäherung an die ideologischen Ziel vorstell ungen. Die besondere Qualität der Maßnahmen gegen die Juden läßt sich daran ablesen, daß, nachdem vor allem die SA im Februar und Anfang März 1933 auf lokaler Ebene eigenmächtig eine Vielzahl von Repressalien gegen jüdische Geschäfte und deren Inhaber organisiert hatte, Hitler selbst am 10. März 1933 eine Weisung an Partei, SA und SS erließ, wonach Ausschreitungen zu verhindern und Disziplin zu zeigen sei 26 • Am 26. März verbot hierauf die Politische Zentralkommission der NSDAP ausdrücklich alle unkontrollierten Akte. Auch wenn diesem Verbot nicht überall Nachachtung verschafft werden konnte, ist es doch ein Hinweis auf die Absicht von Partei und Regierung, in der sogenannten "Judenfrage" strenge Disziplin walten zu lassen. Bezeichnenderweise wurden die übergriffe als die Tat kommunistischer Provokateure dargestellt, die, um die neue Regierung zu diskreditieren, diese Gewaltakte in NSDAP-Uniformen begangen hätten 27 • Jedes ungeordnete, spontane Vorgehen gegen die Juden war dem Regime zuwider. Sogar in den Fällen, die die Propaganda später als eruptives Aufflammen des Volkszornes zu erklären pflegte - wie etwa 28 Helmut Genschel: Die Verdrängung der Juden aus der Wirtschaft im Dritten Reich; Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Bd. 38, Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M./Zürich 1966, S. 45 Fußnote 7. 27 H. Genschel, S. 46 Fußnote 10.

III. Zweite Stufe: Verdrängung aus dem Berufsleben

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in der "Reichskristallnacht" - waren Steuerung und Kontrolle besonders straff. Schon ganz zu Beginn des Dritten Reiches zeigte die neue Führung, wie sie sich die Aktionen gegen die Juden vorstellte. Anlaß dazu war der nominell von der NSDAP - nicht von der Regierung inszenierte, landesweite Boykott gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933. Schon Tage zuvor propagierte die nationalsozialistische Presse diese "Abwehrreaktion gegen die internationale jüdische Hetzpropaganda". Am Vormittag des 1. Aprils, einem Sonnabend, bezogen bewaffnete SA-Posten vor den Geschäften Stellung. Auf Schaufenster und Türen klebten sie Plakate mit Aufschriften wie "Achtung, Jude! Betreten verboten!" oder "Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!". Wer ungeachtet der Warnungen ein solches Geschäft betrat, wurde beschimpft. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verlief der nationale Boykott-Tag in dem von der Partei vorgesehenen Rahmen. Weniger spektakulär, für die Betroffenen aber sehr viel weitreichender, waren die Erlasse, welche die Juden nach und nach aus vielen Berufen drängten. Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums"28 vom 7. April 1933 ermöglichte die Entlassung von Beamten, "auch wenn die nach dem geltenden Recht hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen" (§ 1 Abs. 1). Es wurden Beamte, "die nicht arischer Abstammung" waren, in den Ruhestand versetzt (§ 3), wobei es Ausnahmeregelungen für langjährige Beamte und Frontsoldaten sowie Angehörige gefallener Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg gab. Auch arische Beamte, "die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten", konnten aus dem Dienst entlassen werden

(§ 4).

Im April 1933 verweigerte man jüdischen Ärzten die Krankenkassenzulassung. Das "Reichskulturkammergesetz"29 vom 22. September 1933 entzog jüdischen Künstlern, Musikern, Schauspielern, Schriftstellern und Journalisten die Existenzgrundlage, da sie nicht Mitglieder der verschiedenen berufsständischen Kammern werden konnten. In den Betrieben durften Juden vom 20. Januar 1934 an nicht mehr zu Betriebsführern und Vertrauensleuten gewählt werden 30 • Mit dem 5. Februar 1934 waren Juden vom Staatsexamen für Ärzte und Zahnärzte ausgeschlossen; vom 22. Juli 1934 an waren ihnen auch die juristischen Staatsprüfungen verwehrt. 28 Uwe Brodersen (Hrsg.): Gesetze des NS-Staates. Mit einer Einleitung von Ingo von Münch; Gehlen-Texte Bd. 2, Bad Homburg v. d. H.!Berlin/Zürich 1968, Nr. 8 (Reichsgesetzblatt I 1933 S. 175). 29 U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 88 (Reichsgesetzblatt I 1933 S. 661). 30 Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, siehe: U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 80 (Reichsgesetzblatt I 1934 S. 45).

58 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten Zug um Zug woben eine Fülle von Gesetzen und Verordnungen ein immer dichteres Netz, das den Juden in Deutschland die gesellschaftliche und berufliche Bewegungsfreiheit raubte und sie von ihren ökonomischen Grundlagen abschnitt.

IV. Dritte Stufe: Ausstoßung aus der Gesellschaft Im Laufe des Sommers 1935 nahmen bei Ortseingängen, vor Geschäften und Gaststätten Schilder zu mit der lakonischen Inschrift: "Juden unerwünscht". Sie zeigten eine neue Dimension der Judendiskriminierung an, die vor allem in den "Nürnberger Gesetzen" vom 15. September 1935 ihren Niederschlag fand. Der Reichstag beschloß damals einstimmig zwei Gesetze in Nürnberg, wo er zu Ehren des gleichzeitig stattfindenden NSDAP-Parteitages zusammengetreten war. Das erste, das "Reichsbürgergesetz", bestand aus nur drei Paragraphen, von denen der zweite am schwersten wog: ,,§ 2. (1) Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwand-

ten Blutes, der durch sein Verhalten beweist, daß er gewillt und geeignet ist, in Treue dem Deutschen Volk und Reich zu dienen. (2) Das Reichsbürgerrecht wird durch Verleihung des Reichsbürgerbriefes erworben. (3) Der Reichsbürger ist der alleinige Träger der vollen politischen Rechte nach Maßgabe der Gesetze 31 ." Mit dieser Bestimmung war die alte Forderung aus Ziffer 4 des NSDAP-Programmes vom 24. Februar 1920 erfüllt, daß Staatsbürger nur sein dürfe, wer "Volksgenosse", d. h. "deutsch·en Blutes" sei ("Kein Jude kann daher Volksgenosse sein")32. Die jüdische Bevölkerung war mit einem Schlag zu Fremdlingen im eigenen Land geworden. Auch das zweite Nürnberger Gesetz, das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre"33, zielte auf die gesellschaftliche Aussonderung der Juden ab, indem es nicht nur Eheschließungen zwischen ihnen und "Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" verbot (§ 1), sondern sogar den außerehelichen Verkehr zwischen Angehörigen dieser Gruppen unter Strafe stellte (§ 2) - später fand der nationalsozialistische Sprachgebrauch für diesen Tatbestand die Bezeichnung "Rassenschande". 31

U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, NI'. 61 (Reichsgesetzblatt I 1935 S.

1146). 32 33

C. Rosten: Das ABC des Nationalsozialismus, S. 53. U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 62 (Reichsgesetzblatt I 1935 S.

1146).

IV. Dritte Stufe: Ausstoßung aus der Gesellschaft

59

Mit der konsequenten Aussonderung aus der Gesellschaft gingen die Juden bald auch der staatlichen Sozialleistungen - Kinderbeihilfen, Steuervorteile und Renten - verlustig. Das Jahr 1938 brachte eine scharfe Beschleunigung des Prozesses. Die endgültige Verdrängung aus der Wirtschaft setzte mit der am 26. April 1938 erlassenen "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden"34 ein, die jedes Vermögen über 5 000 Reichsmark erfaßte und eine große Welle von "Zwangsarisierungen" jüdischer Wirtschaftsbetriebe einleitete35 . Mit der "Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen"36 vom 17. August 1938 wurden die Juden zu Menschen zweiter Klasse herabgewürdigt, indem sie ihren Kindern nur noch bestimmte Vornamen, gemäß einer vom Reichsministerium des Innern zusammengestellten Liste, geben durften (§ 1). Personen, welche zu diesem Zeitpunkt bereits andere Vornamen besaßen, mußten "vom 1. Januar 1939 ab zusätzlich einen weiteren Vornamen annehmen, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche Personen den Vornamen Sara" (§ 2). Die "Verordnung über die Reisepässe von Juden"37 verfügte am 5. Oktober 1938 die Einziehung aller Pässe von Juden; die Ausweise wurden mit einern Merkmal versehen, das den Inhaber als Juden kennzeichnete. Einen Höhepunkt erreichte diese Phase der sozialen Ausgliederung mit der sogenannten "Reichskristallnacht"38 vorn 9. auf den 10. November 1938, als im ganzen Reich gegen zweihundert Synagogen, rund 7 500 Geschäfte und viele Wohnungen von Juden in Brand gesteckt oder verwüstet wurden; über 20000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt39 . Gemessen am Umfang der Zerstörungen und der Anteil Deportierter ist die Zahl von 91 Todesopfern - so bitter das klingen mag - relativ niedrig und unterstreicht die nahezu perfekte Organisation der Pogrome. Zwei Tage später, am 12. November 1938, wurden drei antijüdische Verordnungen erlassen. Die erste auferlegte den Juden die Zahlung einer Kontribution von einer Milliarde Reichsmark an das Deutsche U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 64 (Reichsgesetzblatt I 1938 S. 414). H. Genschel: Verdrängung, S. 139 ff. 38 U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 66 (Reichsgesetzblatt I 1938 S. 1044). 37 U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 67 (Reichs gesetzblatt I 1938 S. 1342). 38 Äußerer Anlaß der Progrome, welche von den Nationalsozialisten mit der schwülstigen Leerformel "Reichskristallnacht" bezeichnet wurden, war das Attentat, bei dem der 17jährige Herschel Grynszpan am 7. November 1938 in Paris den deutschen Gesandschaftssekretär vom Rath erschoß. 39 H. Krausnick: Judenverfolgung, S. 334/335; H. Genschel: Verdrängung, S.178. 34

35

60 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten

Reich als Sühne für "die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich"40. Noch erdrückender wirkte sich die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben"41 aus, die es Juden untersagte, eigene Geschäfte und Handwerksbetriebe selbständig zu führen, Dienstleistungen an Märkten anzubieten, Betriebsführer zu sein sowie einer Genossenschaft anzugehören. Eine zusätzliche Demütigung enthielt die "Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben"42, welche die Juden verpflichtete "alle Schäden, welche durch die Empörung des Volkes über die Hetze des internationalen Judentums gegen das nationalsozialistische Deutschland" entstanden seien, sofort zu beseitigen. Mit den neuen Bestimmungen waren die deutschen Juden ihrer wirtschaftlichen Grundlagen und Existenzmöglichkeiten beraubt. Das Wort "Ausschaltung" im Titel der einen Verordnung weist darauf hin, daß hier auf ökonomischer Ebene die "Endlösung" vorweggenommen wurde. V. Vierte Stufe: Verlust der Menschenwürde

Kurze Zeit nach der "Reichskristallnacht" trat die "Polizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit" vom 28. November 1938 in Kraft, die es den Länderregierungen des Reiches erlaubte, den Juden "räumliche und zeitliche Beschränkungen des Inhalts (aufzuerlegen), daß sie bestimmte Bezirke nicht betreten oder sich zu bestimmten Zeiten in der Öffentlichkeit nicht zeigen dürfen"43. Dieser räumliche "Judenbann" galt schon bald für den ganzen Regierungsbezirk von Berlin und wurde in der Folge immer weiter ausgedehnt. Die erste zeitliche Beschränkung wurde allen Juden im Dritten Reich am 3. Dezember 1938, dem "Tag der nationalen Solidarität" auferlegt, als sie ihre Häuser von 12 - 20 Uhr nicht verlassen durften. Mit Beginn des Krieges bestand für Juden eine allgemeine nächtliche Ausgangssperre, die im Sommer um 21 Uhr und im Winter um 20 Uhr einsetzte. Auch in ihren Wohnverhältnissen waren die Juden nicht mehr sicher: Vom Januar 1939 an war der Mieterschutz für sie so gut wie aufge40 Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit. Siehe: U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 69 (Reichsgesetzblatt I 1938 S. 1579). 41 U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 70 (Reichsgesetzblatt I 1938 S.

1580). 42

U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 71 (Reichsgesetzblatt I 1938 S.

43

U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 72 (Reichsgesetzblatt I 1938 S.

1581).

1676).

V. Vierte Stufe: Verlust der Menschenwürde

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hoben, und mit dem "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden"" vom 30. April 1939 wurden die rechtlichen Grundlagen zur Ghettobildung durch Zusammenlegung jüdischer Familien in sogenannten "Judenhäusern" geschaffen. Um die hohen Kosten der militärischen Rüstung decken zu können, preßte das nationalsozialistische Regime die letzten finanziellen Reserven aus der jüdischen Bevölkerung. Im Februar 1939 hatte sie innerhalb zweier Wochen alle Gegenstände aus Gold, Platin und Silber sowie sämtliche Juwelen und Perlen abzuliefern; einzig die Eheringe und wenige Gegenstände zum persönlichen Gebrauch wurden ihnen belassen 45 . In den Kriegsjahren nahmen die Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit und die Angriffe auf die Menschenwürde der Juden immer stärker zu. An dieser Stelle sei nur noch eine Maßnahme erwähnt, die die soziale Deklassierung mit einem äußeren Symbol besiegelte: die "Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden"41i vom 1. September 1941, die es allen Juden über sechs Jahren verbot, sich ohne den Judenstern in der Öffentlichkeit zu zeigen: "Der Judenstern besteht aus einem handtellergroßen, schwarz ausgezogenen Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift ,Jude'. Er ist sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks fest aufgenäht zu tragen 47 ." Der gelbe Sechsstern war ein Sigma besonderer Art: den Juden führte er täglich ihre Recht- und Wertlosigkeit vor Augen, und den Nicht juden erleichterte er die innere Distanzierung, den gefühlsmäßigen Rückzug von den Trägern des Sternes. Da ihre Physiognomie die Juden nicht so eindeutig von der übrigen Bevölkerung abhob, wie es die antisemitische Rassenlehre und die "Stürmer"-Karikaturen weismachen wollten, wurde der handtellergroße Stern zum Merkmal, das den Arier mahnte, ob der Menschenähnlichkeit des Gezeichneten nicht zu vergessen, daß es sich hier um keinen Menschen, sondern um einen Juden handelte. Schon vor der "Reichskristallnacht" begannen die ersten Deportationen größeren Stils. In der "Asozialen-Aktion" wurden Mitte Juni 1938 etwa 1 500 vorbestrafte Juden - unter ihnen auch solche, die bloß wegen eines Verkehrsdeliktes gebüßt worden waren - verhaftet und in Konzentrationslager verfrachtet. Ende Oktober schob die deutsche Regierung 15000 ehemals polnische Juden, die schon 1933 als staatenlos erklärt worden waren, nach Polen ab, wo ein ebenfalls antisemitisches •• U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 74 (Reichs gesetzblatt I 1939 S. 864). H. Genschel: Verdrängung, S. 204 Fußnote 131. 46 U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 75 (Reichs gesetzblatt I 1941 S. 547). 47 U. Brodersen (Hrsg.): NS-Gesetze, Nr. 75, § 1 Absatz 2. 45

62 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten Regime herrschte. Nach der "Reichskristallnacht" füllten sich die bereits bestehenden Konzentrationslager mit Juden; bald schon mußten neue und größere Lager gebaut werden. Bis zu den Massenmorden in den Vernichtungslagern des Ostens war kein weiter Weg mehr.

VI. Fünfte Stufe: Konzentrationslagerhaft und Massentötung

1. Die KonzentrationsZager des Dritten Reiches48 Am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, setzte die erste große Verfolgungswelle der Nationalsozialisten gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und andere politische Gegner ein. Gestützt auf die Notverordnung "zum Schutz von Volk und Reich" wurden tausende in "Schutzhaft" genommen49 • Die regulären Gefängnisse waren bald überfüllt, weshalb man nach neuen und leistungsfähigeren Lösungen zur Konzentration der Schutzhäftlinge suchte. Bereits am 20. März 1933 ließ Himmler auf dem Areal einer ehemaligen Pulverfabrik bei Dachau das erste Konzentrationslager einrichten50 • Während des Sommers 1933 installierten SA und SS im ganzen Reichsgebiet, vor allem aber in Preußen, eine Unzahl kleiner, improvisierter Haftlokale, die sogenannten "wilden Lager", in denen sich oft die ungehemmte Grausamkeit der Bewacher an den Gefangenen auslebte 51 • Die erstarkte nationalsozialistische Verwaltung war von 1934 an darauf aus, die staatliche Kontrolle über die KL herzustellen. Viele der wilden Lager wurden geschlossen. In der selben Zeit reorganisierte 48 Noch heute sind systematische Analysen der nationalsozialistischen Konzentrationslager selten, gemessen an der Publikationsfülle von Erlebnisberichten ehemaliger Häftlinge. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich zur Hauptsache auf: Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt a. M. 1946; Martin Broszat: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933 - 1945, in: H. Buchheim / M. Broszat / H.-A. Jacobsen / H. Krausnick: Anatomie des SS-Staates, Bd. 2, Olten/Freiburg i. Br. 1965; Martin Broszat (Hrsg.): Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 21, Stuttgart 1970; Falk Pingel: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Vernichtung im Konzentrationslager, Hamburg 1978. 49 Am 31. Juli 1933 befanden sich 26789 Personen in Schutzhaft (M. Broszat: NS-KL, S. 25). Die meisten blieben nur für einige Tage oder Wochen arretiert; ein Jahr später betrug die Gesamtzahl der Schutzhäftlinge noch etwa 10 000 (F. Pingel: Häftlinge, S. 233 Fußnote 8). 50 Broszat: NS-KL, S. 18. 5\ E. Kogon: SS-Staat, S. 7.

VI. Fünfte Stufe: Konzentrationslagerhaft und Massentötung

63

Himmler das Bewachungswesen; zu diesem Zweck wurden aus den Reihen der Allgemeinen SS die SS-Totenkopfverbände rekrutiert, die sich für einen zwölf jährigen Dienst verpflichten mußten 52 • Zwar erreichte die Zahl der Schutzhäftlinge im Winter 1936/37 mit rund 7500 Internierten ihren niedrigsten Stand53 , doch die Institution der KL war inzwischen zu einem festen Bestandteil der nationalsozialistischen Innenpolitik geworden. Von 1937 an wurde das ganze Lagerwesen umgestaltet. Bis auf Dachau wurden sämtliche bisherige KL aufgehoben und durch neue, große Komplexe ersetzt. So entstanden die KL Sachsenhausen bei Berlin (September 1936), Buchenwald bei Weimar (August 1937), Flossenbürg in Oberbayern (Mai 1938), Mauthausen bei Linz (August 1938) und das Frauen-KL Ravensbrück bei Mecklenburg (November 1938). Vorbild für diese Lager war Dachau. Wie dort sollten die Häftlinge in den eigens dafür gegründeten SS-Wirtschaftsunternehmungen in Steinbrüchen und Ziegelbrennereien eingesetzt werdenM. In diese Periode fällt eine deutliche Erweiterung der Verfolgungen, die sich nicht mehr allein auf politische Gegner, sondern allgemein auf "volksschädigende Elemente" erstreckte. Dazu zählten die Nationalsozialisten "Asoziale" (Menschen ohne festen Wohnsitz oder ohne geregelte Arbeit), Homosexuelle, Bibelforscher (Zeugen Jehovas) und Gewohnheitsverbrecher. Vermehrt wurden nun auch Juden in die Lager eingeliefert55 • Mit der territorialen Erweiterung des Dritten Reiches wurden die neu einverleibten Gebiete von "Staatsfeinden" gesäubert. Bei Kriegsbeginn betrug die Zahl aller KL-Häftlinge rund 25 000. Die Kriegsjahre brachten einen stetigen, ab 1941 aber sprunghaften Anstieg der Häftlingszahlen 5i1 und der Lager insgesamt. Zu dieser Zeit fanden in den KL die ersten planmäßigen Exekutionen im Schnellverfahren, "Sonderbehandlung" genannt, statt57 • Schon bald waren die Lager katastrophal überbelegt, was - bei gleichzeitiger Verschlechterung der Versorgungslage - das Aufkommen von Seuchen begünstigte. In Buchenwald starben von Dezember 1939 bis April 1940 2119 Häftlinge, beinahe 20 Prozent des Gesamtbestandes58• In rascher Folge entstanden neue Lager: Stutthof bei Danzig, Auschwitz bei Kattowitz (das laut einem HimmlerM. Broszat: NS-KL, S. 72 f.; G. d'Alquen: Die SS, S. 20. M. Broszat: NS-KL, S. 71. 54 Der Standort dieser und vieler späterer KL war auch mit Blick auf abbauwürdige Steinvorkommen gewählt worden (F. Pingel: Häftlinge, S. 64). 55 M. Broszat: NS-KL, S. 78; F. Pingel: Häftlinge, S. 73. 58 Diese Häftlinge stammten zum größten Teil aus den besetzten Gebieten. Bei Kriegsende waren über 90 Prozent aller KL-Insassen Nichtdeutsche, sehr viele von ihnen jüdischer Herkunft (M. Broszat: NS-KL, S. 98). 57 M. Broszat: NS-KL, S. 106; F. Pingel: Häftlinge, S. 73. 58 M. Broszat: NS-KL, S. 116. 52 53

64 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten

Befehl eine Kapazität von 100000 Insassen erhalten sollte), Neuengamme bei Hamburg und Groß-Rosen in Niederschlesien59 • Nach dem Angriff auf die Sowjetunion ging das Dritte Reich dazu über, die KL-Häftlinge systematisch für die gewaltigen Rüstungsarbeiten in der kriegswirtschaftlichen Produktion einzusetzen. Die Unterstellung der Lager unter das Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (WVHA) im März 1942 bedeutete eine Zäsur. Es waren damals an die 100000 Menschen in den KL eingesperrtjlo. Die zweite Kriegshälfte ist gezeichnet vom Widerspruch zweier gegenläufiger Ziele: einerseits hatten die KL der Vernichtung von Gegnern zu dienen, anderseits sollten die Häftlinge für die Rüstungsindustrie ausgenutzt werden, was die Erhaltung ihrer Arbeitskraft bedingte~!1. Die tägliche Arbeitszeit wurde 1943 auf 11 Stunden heraufgesetzt. Da aber die Versorgung der Häftlinge in keiner Weise der Arbeitsbelastung entsprach, war die Todesrate bereits im zweiten Halbjahr 1942 enorm hoch: in nur sechs Monaten starben rund 60 Prozent aller Häftlinge62 • Die Produktionsergebnisse, die mit diesem Menschenverschleiß erzielt wurden, waren alles andere als bedeutend. Im August 1943 erreichte der Bestand aller KL 224000 Häftlinge (Auschwitz 74000, Sachsenhausen 26000, Dachau und Buchenwald je 17000); ein Jahr später waren es gemäß WVHA-Meldung 524286. Die letzte amtliche Zahl stammt vom Januar 1945: damals befanden sich 714211 Menschen in den KL, bewacht von 40000 Angehörigen der SSTotenkopfverbände63 • Mindestens ein Drittel dieser Häftlinge starb noch im Frühjahr 1945 auf den Evakuierungsmärschen, die Himmler vor den heranrückenden Truppen der Alliierten befohlen hatte. Während des Krieges sind allein in den Konzentrationslagern (ohne die Vernichtungslager) mindestens 500000 Menschen umgekommen64 • 2. Die KL als GegenweLt

Die KL erfüllten im Dritten Reich mehrere Zwecke65 • Der erste und wichtigste war die Zertrümmerung aller Individualität bei den Häftlingen, ihre Deformierung zu einer namenlosen Masse "niederer KreaM. Broszat: NS-KL, S. 116 - 120. M. Broszat: NS-KL, S. 116. 61 M. Broszat: NS-KL, S. 129 f.; F. Pingel: Häftlinge, S. 118 f. 62 M. Broszat: NS-KL, S. 150. 63 M. Broszat: NS-KL, S. 159. 64 M. Broszat: NS-KL, S. 160. 65 Bruno Bettelheim: Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft, München 1964, S. 121; siehe auch F. Pingel: Häftlinge, S. 41. 59

60

VI. Fünfte Stufe: Konzentrationslagerhaft und Massentötung

65

turen", die sich untereinander nur durch ihre Häftlingsnummer und die Zuordnung zu einer der Häftlingskategorien unterschieden. Die innere Gewalt der KL wirkte aber auch nach außen: eine zweite Funktion lag in der allgemeinen Einschüchterung der Bevölkerung. Diese Disziplinierung wurde noch dadurch verstärkt, daß die staatliche Propaganda den Zweck der Lager nie verhehlte und dennoch keiner genaueres darüber wußte, was in den Lagern vor sich ging. Den entlassenen Häftlingen war es unter der Androhung schwerer Strafen verboten, über ihre Lagerzeit zu berichten. - Repression gegen innen und außen war indessen nicht die einzige Aufgabe der KL. Überdies dienten sie als Ausbildungsstätten der SS-Leute, die dort lernten, wie die Elite einer Herrenrasse über Unmenschen zu herrschen hatte. Die Häftlinge waren in den KL in Kategorien eingeteilt und trugen als Erkennungszeichen - abgesehen von der persönlichen Nummer auf der linken Brustseite ihrer Lagerkleidung eine dreieckige Stoffmarkierung, "Winkel" genannt. Juden besaßen einen gelben Winkel, politische Gefangene einen roten; grün kennzeichnete Kriminelle, schwarz Asoziale, braun Zigeuner, violett Bibelforscher, rosa Homosexuelle und blau Emigranten. Diese Markierungen konnten miteinander kombiniert und durch weitere Hinweise (z. B. auf Nationalität, Rückfälligkeit, Fluchtgefahr etc.) ergänzt werden 66 • Es gehörte zur Lagerpolitik der SS, daß in allen KL sämtliche Häftlingskategorien vertreten waren. Das System der gegenseitigen Rivalität - vor allem zwischen "Roten" und "Grünen"- um die Vorherrschaft, erleichterte die Kontrolle und verhinderte die Solidarisierung größerer Häftlingsgruppen gegen ihre zahlenmäßig weit unterlegenen Bewacher. Die Behandlung der KL-Insassen durch die SS war zwar durchwegs hart bis grausam; doch auch da gab es noch graduelle Unterschiede je nach Kategorie und Nationalität der HäfUinge. Von allen Gruppen wurden die Juden am schlechtesten behandelt67 • Das Gegenstück zur Hierarchie von SS-Wachmannschaft und Lagerleitung war diejenige der Häftlingsselbstverwaltung. Ihre Vertreter hatten die Lagerordnung und Arbeitsnormen bei den Gefangenen durchzusetzen. Die Macht solcher Blockältester (die einer Baracke mit 200 Bewohnern vorstanden) oder der Kapos (Führer von Arbeitskolonnen) war beträchtlich; sie reichte bis zum Entscheid über Leben und Tod eines Lagerinsassen68 • 66 E. Kogon: SS-Staat, S. 14 ff.; Benedikt Kautsky: Teufel und Verdammte. Erfahrungen und Erkenntnisse aus sieben Jahren in deutschen Konzentrationslagern, Zürich 1946, S. 125. 61 F. Pingel: Häftlinge, s. 91 ff., 168/169; E. Kogon: SS-Staat, S. 14. 68 E. Kogon: SS-Staat, S. 32 ff.; F. Pingel: Häftlinge, S. 56 ff., 102 ff., 159 ff.

5 Suter

66 Kap. 3: Der Prozeß der Aussonderung und Vernichtung der Verfolgten Nach einem oft tagelangen, qualvollen Massentransport in Viehwaggons der Reichsbahn waren die Häftlinge bei der Einlieferung in die Lager grausamen Mißhandlungen ausgesetzt, die als eine Art Initiationsriten den totalen Bruch mit der ganzen bisherigen Existenz und die Nichtigkeit ihrer Persönlichkeit deut1ich machten. Das Leben hatte in den KL einen sehr geringen Wert. Hier herrschte ein Standrecht, bei dem schon die kleinsten "Verfehlungen" die Todesstrafe nach sich ziehen konnten. Daneben bestand eine breite Skala drakonischer Körperstrafen, wie Auspeitschen, Stockhiebe, "Baumhängen" an den hinter dem Rücken gefesselten Armen, Strafexerzieren, Strafstehen, verschiedene Stufen des Arrestes, verschärfte Arbeitsnormen und Essensentzug. Dies waren nur die offiziellen Lagerstrafen, ohne die unzähligen "privaten" Untaten der Wachmannschaften, denen die Häftlinge wehrlos ausgeliefert waren69 • Eine besondere Tortur für jeden, der Zeuge einer Mißhandlung wurde, bedeutete es, daß er, um seines eigenen überlebens willen, vortäuschen mußte, von dem ganzen Vorfall nichts bemerkt zu haben 70 • Zermürbend wirkten sich das Gefühl aus, den Bewachern gänzlich ausgeliefert zu sein, und die Ungewißheit über die eigene Zukunft. Denn die KLHaft beruhte nicht auf einem Gerichtsurteil, sondern war eine Polizeimaßnahme ohne festgelegte Dauer. Rudolf Höss, der spätere Kommandant von Auschwitz, schrieb rückblickend auf seine Dienstzeit im KL Dachau (1934 - 1938): "Die ungewisse Haftdauer - oft abhängig von der Willkür völlig subalterner Beamter - war nach meiner Erfahrung und Beobachtung der Faktor, der die schlimmste, die stärkste Wirkung auf die Psyche der Häftlinge ausübte 71 ." Die Arbeit hatte in den KL häufig weniger ein Produktionsergebnis als die körperliche und seelische Erschöpfung des Gefangenen zum Ziel 72 • In den Außenkommandos, die in Steinbrüchen und Torfmooren arbeiteten, war die Todesrate außerordentlich hoch. Alle Arbeiten mußten mit primitivsten Mitteln, meist ohne die Hilfe VOn Maschinen, ge89 Es ist unmöglich, in diesem knappen Überblick einen auch nur annähernd realistischen Eindruck dessen zu vermitteln, was die KL-Häftlinge im einzelnen an Mißhandlungen zu erdulden hatten. Dafür muß auf die Zeugnisse ehemaliger Lagerinsassen verwiesen werden - vor allem auf die noch heute gültige (und leicht erhältliche) Arbeit von Eugen Kogon. Mit diesem Hinweis muß es sein Bewenden haben, auf die Gefahr hin, daß eines der Kernprobleme des Lagerdaseins - die unausgesetzte Lebensgefahr - zu wenig hervortritt. 70 E. Kogon: SS-Staat, S. 62; B. Bettelheim: Aufstand, S. 169/170. 71 Rudolf Höss: Kommandant in Auschwitz, hrsg. von Martin Broszat, Stuttgart 1958, S. 58. 72 F. Pingel: Häftlinge, S. 37 f., 130 ff.; E. Kogon: SS-Staat, S. 56 ff.; B. Bettelheim: Aufstand, S. 223 ff.

VI. Fünfte Stufe: Konzentrationslagerhaft und Massentötung

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leistet werden. Mannigfach waren die Möglichkeiten zusätzlicher Schikanen - etwa wenn Häftlinge Gruben auszuheben und anschließend wieder zuzuschütten hatten. Die Sinnlosigkeit der gewaltigen Kraftanstrengung höhlte die psychische Widerstandskraft vieler aus und ließ sie verzweifeln. Wer sich einmal aufgegeben hatte, vegetierte noch eine Weile apathisch als "Muselmann", wie es im I