180 50 8MB
German Pages 116 [124] Year 1925
Rechts- und Staatstheorien der Neuzeit Leitsätze zu Vorlesungen von
Rudolf Stammler Professor an der Universität Berlin
Z w e i t e , vermehrte und v e r b e s s e r t e A u f l a g e
Berlin und Leipzig 1925
W a l t e r de Gruyter & Co. •oraals 0. J. GBschen'ache Verlagshandlusg - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Seimer - Karl J. Trtbner - Veit 4 Comp.
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.
Druck TOD Metzger & Wittig lo Leipzig.
Inhalt. Seite
§ 1. § 2. § 3. § 4. § 5. § 6. § 7. § 8. § 9. § 10. § 11. § 12. § 13. § 14. §15. §16. §17. § 18. § 19. § 20. § 21.
Einleitung Die Staatsräson . . . . Die Utopien Das Naturrecht Das Recht als Teil der Natur Das Streben nach Geld und Beichtum Die Aufgabe der Vervollkommnung Der eontrat social Der soziale Eudämonismus Das "Vernunftrecht Die historische Rechtsschule Das Recht des Stärkeren Die theokratische Rechtsauffassung Die Freiheitslehre Der Mehrheitsstaat Die materialistische Geschichtsauffassung Die Theorie des Anarchismus Der juristische Empirismus Der Realismus im Rechte Die Soziologie Die freirechtliche Bewegung
Register
. . . .
1 4 9 13 21 24 26 31 39 44 50 55 59 63 67 70 83 88 93 100 105 110
§ 1.
Einleitung. I. T h e o r i e heißt eine Lehre, die a l l g e m e i n g ü l t i g ist.
Sie unterscheidet sich von der T e c h n i k und von
der P r a x i s . Das Wesen der T e c h n i k besteht in der Beschränkung auf ein b e g r e n z t e s Ziel; sie macht an einem b e d i n g t e n Gesichtspunkte halt und nimmt diesen als ein v o r l ä u f i g l e t z t e s Richtmaß an. das
Die T h e o r i e geht auf
Ganze des Geisteslebens und forscht nach der
harmonischen Einfügung jedes b e d i n g t e n
Vorkomm -
nisses in die E i n h e i t des B e w u ß t s e i n s ü b e r h a u p t . Die P r a x i s ist die Anwendung einer Lehre auf einen einzelnen F a l l .
Pur sie ist es gleichgültig,
ob es sich um einen theoretischen oder technischen Lehrsatz handelt: es kommt bloß darauf an, eine in der Erfahrung gestellte Einzelfrage unter die zutreffende Regel zu bringen. STAMMLER, Rechts- und Staatstheorien.
2. Aufl.
1
2
1. Einleitung.
II. Unter den Lehren, die mit dem Ansprüche allgemeiner Gültigkeit auftreten, sind die absolut richtigen von den nur o b j e k t i v richtigen 2m unterscheiden. Die letzteren behandeln den Stoff unserer Erlebnisse nach allgemeinen Richtlinien; sie bearbeiten also Eindrücke und Strebungen nach einer festen, zugrunde liegenden Methode. Sie können durch neue Beobachtungen oder durch genaueres Eindringen in ihrem Inhalte berichtigt und verbessert werden, — für sie gibt es einen P o r t s c h r i t t der Wissenschaft. Von absoluter Bedeutung kann hiernach nur die u n a b ä n d e r l i c h gleichmäßige Art sein, in der alle bedingten Vorgänge sich einheitlich bestimmen und richten lassen. Die bedingende Weise des Ordnens wird in der Schulsprache von alters her die Form des Erkennens genannt. Sie muß im letzten Grunde selbst unbedingt feststehen, da sonst aller Bewußtseinsinhalt unstet und wirr bleiben würde. Die Einsicht in die reinen Formen des einheitlichen Bestimmens und Richtens würde Theorie im genaueren Sinne des Wortes heißen. Sie ist auf dem Wege kritischer Selbstbesinnung klarzustellen, — als Antwort auf die Frage: Iii welchen bleibenden Gedankengängen ist Ordnung und Einheit im Bewußtsein möglich?
3
1. Einleitung.
III. Eine R e c h t s - und S t a a t s t h e o r i e hat es hiernach damit zu tun, was sich von dem Rechte und dem Staate allgemeingültig feststellen läßt. Sie muß, nach dem Gesagten, die reinen F o r m e n darlegen, in denen wir juristisch denken und gegebenes rechtliches Wollen grundsätzlich beurteilen. Indem sie also die gleichmäßige Methode für das Erfassen rechtlicher Gedanken angeben will, sucht sie nach einem Maßstabe, mit dem sich w i s s e n s c h a f t l i c h — das ist: in unbedingt einheitlicher Weise des Erwägens — beweisen läßt: ob ein geschichtlich auftretendes Recht die Eigenschaft der R i c h t i g k e i t besitze oder nicht. IV. Die Geschichte dieser Bestrebungen begleitet den allgemeinen Entwicklungsgang des theoretischen Denkens. Sie erreichen im Altertum ihren Höhepunkt in der griechischen Philosophie, werden von der römischen Jurisprudenz in mehr intuitiver Weise aufgenommen und in der Scholastik des Mittelalters in Polgerungen aus deren grundlegender Gesamtlehre ausgeführt. Die Neuzeit bietet eine ununterbrochene Kette von Versuchen, den b e d i n g e n d e n E i n h e i t s g e d a n k e n für alles je vorkommende Recht herauszuarbeiten und das letztere nach der Gesetzmäßigkeit unseres Daseins ü b e r h a u p t zu verstehen. 1*
4
2. Die Staatsräson.
§2.
Die Staatsräson. I . NICCOLO MACHIAVELLI. Geboren 1469 zu Florenz. Trat 1498 in den Dienst seiner Vaterstadt, die seit 1494 zur Republik erklärt worden war. Mit der Rückführung der Medici durch Papst Julius II. 1512 verlor er sein Amt. Teilnahme an republikanischen Verschwörungen brachten ihn zeitweilig in das Gefängnis; in den Staatsdienst konnte er trotz seiner vielfältigen Bemühungen nicht wieder gelangen. Er starb 1527 auf seinem Landgute La Strada bei Florenz. MACHIAVELLI hat vier Hauptwerke hinterlassen: Über die Kriegskunst; Florentinische Geschichte; — ü principe (deutsch in histor.-polit. Bibliothek und bei Reclam); discorsi: Erörterungen über die erste Dekade des Livius. Hierher gehören die zwei letzten Bücher. Sie sind zu gleicher Zeit verfaßt, erst 1631 herausgegeben. Das Buch vom Fürsten war dem Lorenzo von Medici gewidmet, das andere Werk zwei republikanischen Freunden. Hieraus haben manche einen "Widerspruch herleiten wollen, indem das eine Mal die Monarchie, zum andern mit dem Lobe altrömischer Zustände die Republik empfohlen werde. Dies ist unbegründet. MACHIAVELLI ist der Ansicht, daß keine Staatsform die
2. Die Staatsräson.
5
an sich beste sei; es bestehe notwendig ein Wechsel der staatlichen Einrichtungen. Hierin lehnt er sich an ARISTOTELES an und wiederholt den von jenem beschriebenen Kreislauf in der Geschichte der Staaten: Einsetzung des Stärksten und Einsichtigsten zum Pürsten, dann Entartung von dessen Erben; hierauf aristokratische Regierung derer, die an Edelmut, Geistesgröße und Reichtum den übrigen überlegen waren, und nach dem Habsucht und Gewalttätigkeit ihrer Nachkommen; darum Schaffung einer Demokratie, die aber zur Zügellosigkeit der Menge führe, worauf man zur Pürstenherrschaft zurückkehre. Freilich sei es selten, daß derselbe Staat diese Schicksale heil erlebe; er gehe gewöhnlich nach einer gewissen Zeit zugrunde (disc. I, 2). Darum zieht MACHIAVELLI aus den Erfahrungen, die die Staatengeschichte bietet, eine Fülle von Regeln und guten Ratschlägen für einen Politiker, in erster Linie für einen Pürsten. Hierbei stehen neben vielen treffenden und brauchbaren Bemerkungen auch solche Angaben, die man zu allen Zeiten als unbegründete und schlechte Mittel empfunden hat. So z. B.: Rat, ein überwundenes Pürstengeschlecht auszurotten; oder die besiegte, an Freiheit gewöhnte Stadt zugrunde zu richten; Empfehlung des Treubruches, wenn es im Staatsinteresse nötig wäre; Aufstellen des berüchtigten
6
2. Die Staatsräson.
Satzes: für einen Fürsten ist es nötig, wenn er sich behaupten will, daß er lerne, nicht gut sein zu können (princ. c. 3; 6; 15; 17; u. a.). II. Die Aufhellung dieses Widerspruches bereitet Schwierigkeit. Eine bloß geschichtliche Erklärung, die sich damit begnügen würde, auf die E n t s t e h u n g jener Lehre aus der damaligen Lage des Verfassers hinzuweisen, würde über ihre s y s t e m a t i s c h e B e r e c h t i g u n g gar nichts besagen. — Die bloße Angabe, daß MACHIAVELLI die Menschen sah und nahm, wie sie sind, erledigt das Problem nicht. Er gibt doch seine Lehren und Ratschläge selbstverständlich in der Meinung, damit ein r i c h t i g e s Ergebnis zu erzielen (vgl. auch unten § 18). Danach ist das Buch vom Pürsten dem Schicksal nicht entgangen, für eine Satire gehalten zu werden; — sicherlich unbegründeter Weise. Denn die Art der Ratschläge, die MACHIAVELLI gibt, ist für Monarchie und Republik die gleiche; oft werden sie sogar für beide Staatsformen gemeinsam erteilt (z. B. disc. I, 10; 19ff.; 51; II, 20ff.; III, 3; 19; u. v. a.). In der Sache enthalten sie zumeist scharf beobachtende und im Ernste zutreffende Bemerkungen, die von begeisterter Vaterlandsliebe durchweht sind (princ. 26). Ihn einfach als moralisches Ungeheuer hinzustellen — so FRIEDRICH II. im Äntimachiavell (1740) — geht mit Grund nicht an.
2. Die Staatsräson.
7
III. In Wahrheit hat auch MACHIAVELLI das Ziel sachlich g e r e c h t f e r t i g t e r Zustände vor Augen. Nur ist ihm die alleinige Bedingung hierfür die rechtliche Satzung und der staatliche Zwang. Die Menschen, sagt er, sind von Natur schlecht (disc. I, 2; princ. c. 17; 18), und die Gesetze machen sie gut (disc. I, 3). So wurde MACHIAVELLI der Schöpfer der (nach ihm noch oft vertretenen) Staatsräson, — die als obersten Maßstab für alles menschliche Wollen das jeweilige Gebot des Staates nimmt. Aus diesem Gedankengange erklärt es sich, daß dazu kommen konnte, für die Herstellung und Durchsetzung eines starken Staates s c h l e c h t e r dings jedes Mittel für erlaubt zu halten. Auch die Religion sei nur eine äußere Einrichtung zur Unterstützung der Ordnung im Staate (vgl. disc. I, 11). Schlechte Gesetze würden im Sinne MACHIAVELLIS ausschließlich solche sein, die die Staatsgewalt zu schwächen geeignet sind (vgl. allerdings auch princ. c. 15). IV. Die Lehre MACHIAVELLIS stellt sich der kritischen Prüfung als g r u n d s ä t z l i c h m a n g e l h a f t dar. Es fehlt zuvörderst eine hier nötige Auseinandersetzung von Recht und Sittlichkeit, wie nicht minder eine solche von Recht und Staat. Vor allem aber ermangeln die Ausführungen jenes Schriftstellers der Klarheit über den letztlich entscheidenden Maßstab für MACHIAVELLI
8 innerlich Wollens.
2. Die Staatsräson.
begründete
Maßnahmen
eines
rechtlichen
Das Merkmal des Guten kann als solches nicht in der Befolgung von Paragraphen eines staatlichen Rechtes bestehen. Denn das letztere ist selbst nur von bedingter und begrenzter Bedeutung. Um ein g r u n d s ä t z l i c h r i c h t i g e s Wollen feststellen zu können, braucht man das Richten von empirisch erwachsendem Streben nach der Idee d e r W i l l e n s r e i n h e i t . Wir stellen uns in Gedanken ein Wollen vor, das von allem subjektiven Begehren gerade dieses wollenden Individuums frei ist und beurteilen nach seinem Verhältnisse zu dieser Idee den bedingten Inhalt einer gegebenen Bestrebung. Wenn nun das geschichtlich entstandene Recht in s e i n e r B e s o n d e r h e i t gerade nicht den i d e a l e n Maßs t a b des Ehrenwerten und Guten abgibt, so ist auch die Meinung MACHIAVELLIS unbegründet, daß es außer der Beachtung des positiven Rechtes kein weiteres Bedenken geben könne. Wohl ist das geltende Recht gegen w i l l k ü r l i c h e n B r u c h nach außen und innen zu schützen. R e c h t und M a c h t sind keine Gegensätze. Sie haben sich in notwendiger Weise zu e r g ä n z e n . Das R e c h t ist in seiner Eigenart, als eine besondere Weise des menschlichen Wollens, in e r k e n n t n i s k r i t i s c h e r Methode klarzulegen; bei der M a c h t handelt es sich um die p s y c h o l o g i s c h e Frage,
3. Die Utopien.
9
wie man ein als R e c h t begriffenes bestimmtes Wollen tatsächlich zur Geltung bringt.
Ohne das letztere hat
jene kritische Besinnung auf den Begriff des Rechtes keinen praktischen Wert. Soweit war MACHIAVELLI im Rechte.
Aber der
o b e r s t e Blickpunkt für die Aufgabe des Staatsmannes und
Gesetzgebers ist
damit n o c h
nicht
Sie erschöpft sich nicht in dem bloßen
angegeben. Durchführen
eines Rechtes, w i e es g e r a d e d a i s t , sondern gipfelt in seinem steten Berichtigen und Bessern n a c h Idee der
Gerechtigkeit.
machtvoll
bestehende
werden.
der
Nach ihr will auch das
Recht
maßgeblich
gerichtet
Aus d e r I d e e d e r G e r e c h t i g k e i t , und nicht
aus dem Hechte des Stärkeren (so FICHTE in seiner Schrift über MACHIAVELLIS Politik. — Vgl. unten § 1 2 ) folgt der begründete Anspruch, von willkürlicher Bedrückung durch äußere Feinde und von den Banden gewalttätiger Fremdherrschaft befreit zu sein, worauf MACHIAVELLI in schönem Abschlüsse (princ. c. 26) seine damalige Aufforderung richtete.
§ 3.
Die Utopien. I.
THOMAS MORUS.
1 5 2 9 Lordkanzler.
Geboren
1478
zu
London.
Er weigerte sich, den von HEIN-
10
3. Die Utopien.
VIII. geforderten Supremateid zu leisten. 1535 hingerichtet. Er schrieb: De optima rei publicae statu deque novo, insula Utopia, 1516. Das Buch schildert in freier Erfindung einen Musterstaat, nach kommunistischen Anschauungen und Bestrebungen eingerichtet. II. Die phantasievolle Ausmalung eines Nirgendheim, in sozialpolitischer Absicht, fand Beifall und zahlreiche Nachfolger. Hervorzuheben: CAMPANELLA, Civitas solis, RICH
1620.
—
HABRINGTON,
Oceana,
1656.
—
VAIRASSE,
Histoire des Sevarambes, 1677. — CABET, Voyage en Icarie, 1840. — BELLAMT, Loohing backward 2000—1887, 1887. — HERTZKA, Freüand,
1890. — U. v. a. m.
In der Praxis weist dagegen die soziale Geschichte nur vereinzelte Fälle kommunistischer Einrichtungen und Gemeinwesen auf. In einzelnen Richtungen die spartanische Verfassung des LYKURG. Jedenfalls nicht die ersten Christengemeinden, die mit Privateigentum und darauf gestützter brüderlicher Hilfsleistung lebten (vgl. Apost. Gesch. 2, 44ff.; 4, 32ff.; 5, lff.: Ananias hätte sein Eigentum behalten dürfen, aber nicht den Apostel betrügen sollen). — Dagegen seit dem 16. Jahrhundert die Wiedertäufer und verschiedene Sekten und Gemeinden auf religiöser Grundlage, namentlich in Nordamerika (hervorzuheben die Amanaleute und ganz eigenartig die Mormonen); in neuerer Zeit auch rein weltliche
3. Die Utopien.
11
Gemeinwesen (vgl. KATSCHER, Soziale Gemeinwesen, 1906). In bestimmter Weise der Jesuitenstaat in Paraguay von 1610 bis 1766. III. Ob MORUS ZU seinem Werke durch PLATON angeregt worden ist, bleibt sehr zweifelhaft. In Betracht käme nur der unvollendete Dialog Kritias oder Athen und Atlantis neuntausend Jahre vor Solon. Aber dieser schildert nur die Einfachheit, Tapferkeit und Vaterlandsliebe der alten Athener, ohne die geringste Bezugnahme auf innerstaatliche Einrichtungen. In seinen Hauptwerken (Staat, Gesetze, Staatsmann) gibt PLATON keine Utopien, sondern formale Richtlinien für eine gute Politik. In verwickeltem Verfahren sollte die Gruppe der Regierenden von der Bestimmung durch die Menge und von dem bloßen Zusammenzählen persönlicher Interessen unabhängig bestimmt werden (während im Politikos c. 41 die an Gesetze gebundene Monarchie für die beste Staatsform erklärt wird). Nur in diesem Sinne sollen die genannten Prätendenten der obersten Staatsämter, die man sicherlich nur in ganz kleiner Zahl zu denken hat, weder Familie noch Vermögen besitzen. Die große Masse der Einwohner aber soll unter Privateigentum und Vertragsfreiheit leben, aber auch von aller Teilnahme an den Staatsgeschäften entfernt bleiben, — was alles das Gegenteil der Zustände auf der Insel Utopien bedeutet.
3. Die Utopien.
12 IV.
Die Utopien sind Dichtwerke..
Aber sie be-
gnügen sich nicht mit der Freude an dem künstlerischen Walten schöpferischer Einbildungskraft.
(So im Alter-
tum die — nicht erhaltenen — Romane von HEKATÄOS, JAMBULOS,
THEOPOMP
und besonders
die
Schilderung
der Insel Panchaia von EUHEMEROS; in späteren Zeiten manche dahingehende Märchen und sagenhafte Reiseabenteuer, namentlich ähnliche.)
SWIFT,
Gullivers
Reisen, und
Sie wollen vielmehr in ernster Meinung den
geschichtlich erlebten sozialen Zuständen andere und bessere gegenüberstellen.
Sie geben Entwürfe für neue
rechtliche Einrichtungen und malen die hiervon zu erwartenden Folgen aus. Andererseits geschieht dieses letztere genau ebenso bei
jedem
Gesetzesvorschlag, der in beliebiger
vorgebracht wird.
Lage
Und beide — die Utopie, wie eine
besondere Reformbestrebung der praktischen Politik — erwachsen aus früher erfahrenem Rechte her; sie unterscheiden sich in der A r t der E n t s t e h u n g gar nicht. Die wesentliche Eigenart der Utopie liegt vielmehr darin, daß sie bestimmte Eigenschaften der von
ihr
geschilderten Menschen und gewisse technologische Möglichkeiten der Lebensführung erdichtet.
Für dieses frei
erfundene Dasein entwirft sie dann ihre Rechts- und Staatseinrichtungen. Niels
Elimms
(Daher die Satire von HOLBEBG,
unterirdische
Reise,
1741,
der
solche
4. Das Naturrecht.
13
Idealstaaten mit seiner Schilderung von wandelnden Bäumen oder vernunftbegabten Tigern und anderen angeblich staatenbildenden Wesen verspottete.) Die so eingeführten r e c h t l i c h e n Bedingungen des dortigen Zusammenwirkens werden nun von der Utopie als g r u n d s ä t z l i c h r i c h t i g behauptet. Ein B e w e i s könnte aber nur aus einer in sich begründeten Rechtstheorie hergeführt werden. Darum haben die Utopien in ihrer d i c h t e r i s c h d a r s t e l l e n d e n Weise zwar Wert als Anregung zu kritischer Besinnung über unser Recht und Leben, aber keine unmittelbare Bedeutung für die Klarstellung der rechten Methode einer w i s s e n s c h a f t lichen Behandlung der sozialen Erage.
§ 4.
Das Naturrecht. I. N a t u r r e c h t i s t ein R e c h t , das in s e i n e m I n h a l t e der N a t u r entspricht. Es bedeutet den Gedanken von einem innerlich begründeten Rechte, das den bloß positiven Rechten gegenübertritt. — Als Richtmaß wird die Natur genommen. Dieses Wort wird dabei zweifellos in übertragener Bedeutung gebraucht. Und da es hier nicht im Sinne von Unkultur stehen kann, so ist es als Wesen
4. Das Naturrecht.
14
gemeint.
(Wesen
eines Dinges: die
Einheit
seiner
bleibenden Bestimmungen.) — In diesem Sinne ist hier zweierlei möglich: a) Natur des M e n s c h e n , b ) Natur des R e c h t e s .
Dem ersten entstammt das N a t u r r e c h t
i. e. S., dem zweiten das V e r n u n f t r e c h t (s. § 10). II.
Die bedeutendsten Vertreter des Naturrechtes
sind: 1.
Mare
HUGO
liberum
Indica
GROTTUS
(1583—1645).
seu de iure
Zu
quod Batavis
erwähnen:
com/petit ad
commercia, 1609; — besonders aber:
De
iure
belli ac pacis, 1625. GROTIUS wirft die obige Frage (I.) zuerst in voller Bestimmtheit
in dem
Sinne auf, daß er dabei seine
Deduktion von der überlieferten kirchlichen Begründung unabhängig machen will. Durch Aufstellen eines natürlichen Rechtes, das auch über
den
Staaten
selbst
wieder gelte, ist er der Begründer des neuzeitlichen V ö l k e r r e c h t e s geworden. Indem er nun auf die Beschaffenheit der menschlichen Natur zurückgeht, nimmt, er als Grundeigenschaft des
Menschen
(alleinig
unter
allen
Geschöpfen) den
ajypetitus societatis an, das ist ein Trieb nicht nach irgendwelchem, sondern nach einem ruhigen und nach seiner Einsicht geordneten Zusammenleben mit seinesgleichen.
4. Das Naturrecht.
15
Dazu tritt die menschliche Gabe, auch über den augenblicklichen sinnlichen Trieb hinaus das ihm Nützliche zu erkennen und zu befolgen. Und nun kann a priori bewiesen werden, daß ein Satz natürlichen Rechtens sei, si ostendatur alicuius rei convenientia aut disconvenientia necessaria cum natura rationali ac sociali (z. B. andern keine Gewalt anzutun, welchen sonst das natürliche Recht der Notwehr zukommt; oder Verträge zu halten; u. a.). Dieser Beweis kann durch einen solchen a posteriori verstärkt werden: daß nämlich bei allen, oder doch den kultivierten Völkern ein Rechtssatz als Naturrecht anerkannt und befolgt sei. 2 . THOMAS HOBBES ( 1 6 8 8 — 1 6 7 9 ) : Elementa philosophica de cive, 1642; Leviathan sive de materia forma et potestate civitatis ecclesiasticae et civilis, 1651. HOBBES leugnet, daß der Mensch ein geselliges Lebewesen sei, denn Kinder, Unwissende, Uneinsichtige hätten dieselbe Natur wie die anderen Menschen, und könnten doch Bedingungen und Zweck rechtlicher Gemeinschaften nicht einsehen. Also kann Recht und Staat nicht lediglich durch Bezugnahme auf eine, für dieselben nun einmal vorhandene natürliche Anlage und Fähigkeit des Menschen erklärt werden. Vielmehr ist nach HOBBES der Grundzug der menschlichen Natur dieser, daß der Mensch F u r c h t vor dem Menschen hat.
16
4. Das Naturrecht.
Er müsse sie haben, da eine natürliche Gleichheit in bezug auf Möglichkeit und Leichtigkeit des Lebensverlustes besteht, und jeder Mensch dem anderen schaden will. Daher ist das Recht des status naturae, des Naturzustandes des einzelnen Menschen, jeden isoliert betrachtet (jedoch nur in der Abstraktion, und nicht, als wenn dies eine geschichtliche Tatsache gewesen wäre), daß jeder alles zu seiner Erhaltung nehmen dürfe, und das Charakteristische dieses Zustandes somit das bellum, omnium contra omnes. Nun widerspricht der Krieg der Erhaltung des Menschen, wozu diesen die Natur treibt; also prima et fundamentalis lex naturae est, quaerendam esse pacem, ubi haberi polest; ubi non potest, quaerenda esse belli auxilia. Aus diesem allgemeinen Grundgesetze werden nun 20 b e s o n d e r e naturrechtliche Grundsätze abgeleitet, deren Befolgung die unerläßliche Bedingung zur Verwirklichung des Friedens unter den Menschen ist. So vor allem: daß an dem Rechte auf alles nicht festzuhalten ist (denn sonst würde der Krieg die Folge sein und gegen die Regeln des Friedens, d. h. gegen das natürliche Grundgesetz verstoßen werden; — womit die erste naturrechtliche Begründung des Privateigentums versucht ist). Sodann: Verträge sind zu halten; man soll nicht undankbar sein, nicht schmähen, nicht stolz
4. Das Naturrecht.
17
sein; aber auch: Recht der Erstgeburt, Unverletzlichkeit der Parlamentäre, Regeln über Schiedsgerichte, Zeugen, Richten in eigener Sache; usw. — Die beste Staatsverfassung wird die sein, durch welche die Befolgung jener Sätze am sichersten gewährleistet wird. Dies ist, wie HOBBES ausführlich darlegt, die absolute Monarchie. De statu imperii Germanici liber unus, 1667 unter dem Namen SEVERINUS DE MONZAMBANO veröffentlicht, worin er nach Schilderung der Verfassung und politischen Zustände des damaligen Reiches den radikalen Reformvorschlägen des HIPPOLITHUS A LAPIDE (de ratione Status in Imperio Eomano-Germanico, pseud. 1647 erschienen), besonders dessen Forderung der exstirpatio domus Austriacae entgegentritt. — De iure naturae et gentium libri VIII ( 1 6 7 2 ) ; den Gedankengang abgekürzt entwickelt in: De officio hominis et civis (1673). PUFENDORF entwirft in auslesendem Verschmelzen der Lehren von GROTIUS und HOBBES ein System natürlicher Pflichten. Er nimmt als Natur aller Lebewesen den Erhaltungstrieb, se ipsum conservare, an; als natürlichen Zustand des Menschen, diesen losgelöst von aller Kultur (gleichsam aus der Luft oder sonst woher auf die Erde gefallen): die Schwäche u n d Hilflosigk e i t , imbecillitas. Und da nun der Mensch die Hilfe 3.
SAMUEL
PUFENDORF
STAMMLER, ROCMB- und Staatstheorien.
(1632—1694):
2. Aufl.
2
18
4. Das Naturrecht.
yon seinesgleichen braucht, andererseits jeder die Möglichkeit hat, dem anderen zu schaden, so ist das oberste Gesetz, welches die vernünftige Betrachtung der menschlichen Natur gebietet: cuilibet homini quantum in se colendam et servandam esse socialitatem. Das hiernach ausgeführte N a t u r r e c h t des Pufendorf wendet sich also als Gebot an den Einzelnen. Dieser hat als Mensch und als Bürger: den Nächsten zu lieben und zu achten, dessen Eigentum zu schonen, Verträge zu halten, in Familie und Staat sich recht zu betragen. Die geschichtliche Bedeutung dieser Lehre liegt in dem Aufbau einer weltlichen Sittenlehre gegenüber der überlieferten kirchlichen. Die Staatsgewalt habe sich dann in dem Sinne danach zu richten, daß sie bei der Sorge für die gemeine Rechtssicherheit und für die öffentliche Wohlfahrt die natürlichen Rechte des Bürgers nicht verletze. 4. Christian Thomasius (1655—1728), eine der bedeutsamsten Erscheinungen im Geistesleben seiner Zeit. Hierher: Institutiones iurisprudentiae divinae, 1687; fundamenta iuris naturae et gentium, 1705. Grundgedanke: Alle Menschen wollen möglichst lange und glücklich leben, alle verabscheuen den Tod. Mithin oberster Grundsatz des Naturrechtes im weitesten Sinne: Facienda esse, quae vitam hominum
4. Das Naturrecht.
19
reddunt et maxime diuturnam et felicissimam et evitanda, quae vitam reddunt infelicem et mortem accelerant. Daraus
ergeben
sich
drei
Arten
von
Vernunft-
geboten: a) honestum, das Ehrbare: quod vis ut alii sibi faciant, tu et facias; b ) decorum, das Wohlanständige: quod vis ut alii tibi faciant, tu et ipsis facias; c) iustum, das Gerechte: quod tibi non vis fieri,
alteri ne feceris.
Die Regeln a): E t h i k : Sie wirken auf das Innere und schaffen das höchste Gut; b): P o l i t i k : Sie verschaffen Freunde; sind für die Gesinnung gleichgültig; mittleres Gut; c ) : N a t u r r e c h t (i. e. S.): Sie hindern die Feindschaft, aber erwerben noch keine Freunde. Sie schaffen das geringste
Gut, aber halten das größte Übel ab.
Darum sind sie am notwendigsten: ohne sie ginge das Menschengeschlecht zugrunde. Damit hat THOMASIUS schärfer, als die Früheren, zwischen R e c h t und M o r a l zu scheiden gesucht. Aber auch das Naturrecht ist nur ein Gebot der Vernunft für den einzelnen Menschen. Die bürgerliche Gesellschaft hat jene Mahnungen durchzuführen, wofür THOMASIUS ein ausgeführtes System des bürgerlichen und des öffentlichen Rechtes entwirft. III.
Auch in neuerer Zeit ist oft versucht worden,
auf die menschliehe Natur
als festen Halt für soziale
Erwägungen zurückzugehen. Besonders in der Frage des utopischen S o z i a l i s m u s : bald zu seiner Begründung 2*
20
4. Das Naturrecht.
(so FOURIER, — cäbaliste, papillonne, corwposite), oder zur Bekämpfung (so SCHÄFER; A . WAGNER). IV. In der Tat ist das Heranziehen der Natur des Menschen als Unterlage einer Rechts- und Staatstheorie methodisch ungeeignet. Denn wenn man alle geschichtlichen Besonderheiten in den Eigenschaften und Trieben der Menschen, wodurch sie sich voneinander in der Erfahrung zweifellos unterscheiden, wegläßt, so bleibt überhaupt nichts übrig als physiologische Anlagen, die der Ausbildung und Erziehung noch harren. Die r e c h t e A r t der Z w e c k s e t z u n g folgt also nicht schon aus natürlicher Beschaffenheit als solcher in einheitlicher und allgemeingültiger Alt. Und auch die Eigenliebe eines jeden Menschen — als natürliche Triebfeder behauptet — erscheint ganz vag: Denn es bleibt offene Präge, in welcher Stärke und in was für einer Richtung den Einzelnen die Liebe zu sich selbst treibt oder hinreißt. Die G e s e t z m ä ß i g k e i t im Reiche des Wollens, als die Möglichkeit, den mannigfachen Inhalt des menschlichen Strebens in e i n h e i t l i c h e r Weise zu o r d n e n , kann nur als idealer Gedanke v o l l e n d e t e r H a r m o n i e unter allen denkbaren Willensinhalten vorgestellt werden. Danach allein kann auch die g r u n d s ä t z l i c h e Ber e c h t i g u n g eines besonderen rechtlichen Verlangens dargetan oder verneint werden.
5. Dag Recht als Teil der Natur.
21
§5.
Das Recht als Teil der Natur. I. BARUCH SPINOZA (1632—1677). Hierher besonders gehörig: Tractatus theobgico-politicus c. 16; auch Ethica lib. IV. SPINOZA will alle Dinge in ihrer notwendigen Bestimmtheit nehmen und in einer einzigen, naturgesetzlichen Einheit — der Substanz — erfassen. . Das ist: Id, quod in se est et per se concipitur, hoc est id, cuius conceptus non indiget conceptu alterius rei, a quo formari débet. Diese letzte Einheit sucht SPINOZA jedoch nicht in dem Bewußtsein, sondern denkt sie außerhalb jenes. Er sieht nicht, daß der Begriff, den er sich von der Substanz macht, doch wieder einen Inhalt des Bewußtseins bedeutet, und daß der logisch letzte Punkt, der überhaupt erreicht werden kann, der Gedanke von der möglichen Einheit und Ordnung jenes ist. II. Die Svbstans ist nun nach SPINOZA der bestim'mende und wirkende Grund aller Dinge. Diese folgen mit Notwendigkeit aus ihr. Man könne sie auch Gott oder auch Natur nennen. Sie ist mit Eigenschaften (Attributen) ausgestattet und offenbart sich auf einzelne bestimmte Arten (Mçdi); und so ist auch der Mensch nur ein Modus der einigen, allumfassenden Substanz. Danach nimmt
SPINOZA
auch die menschlichen
22
5. Das Recht als Teil der Natur.
Zwecke nur als Gegenstand der Naturbetrachtung auf. Sie kommen für ihn nur als Eigenschaften des Menschen in seiner eben beschriebenen Abhängigkeit von der Substanz in Betracht. Es ist also übersehen, daß das Ordnen der Veränderungen nach Zielen und Mitteln in grundlegender Weise von dem nach Ursachen und Wirkungen abweicht. Denn bei dem letzteren wird das Spätere durch das Frühere bestimmt, bei jenem ersten ist es umgekehrt. III. Nun hat SPINOZA es trotzdem versucht, ein Nalurrecht zu begründen. Aber er nimmt es, nach seiner allgemeinen Auffassung, im Sinne von Naturgesetz. Die Natur bestimme jedes Individuum, auf eine gewisse Weise zu sein und zu wirken. Es bestehen danach Regeln, die ein jegliches Wesen zur Äußerung seiner Eigenart führen. Denn jedes Ding strebe, soviel an ihm liegt, diese seine besondere Weise zu bewahren (suum esse conservare). Von Natur habe jeder Einzelne Soviel Recht, als er Macht habe: Es ist Naturrecht der Fische, su schwimmen, und der größeren Fische, die kleineren zu fressen. IV. Der methodische Gegensatz zwischen dem Gedanken des r e c h t l i c h e n Wollens und der Betrachtung ä u ß e r e r E r s c h e i n u n g e n tritt um so schärfer hervor, je mehr SPINOZA auf jenes einzugehen unternimmt. Er will es nach dessen eigener Aufgabe begründen.
5. Das Recht als Teil der Natur.
23
Es sei, meint er, für die Menschen n ü t z l i c h e r , nach den Gesetzen ihrer Vernunft zu leben. Sie können das aber nur, wenn sie sich vereinigen und ein Gemeinwesen bilden. Da aber jedes das natürliche Recht hat, den hierauf gerichteten Vertrag — wie jeden anderen — zu brechen, sobald er dazu Macht haben wird, so kann man der Treue des anderen bei jenem Versprechen desselben nicht sicher sein. Mithin würde die staatliche Gesellschaft ganz unmöglich und undenkbar sein, wenn nicht ein Jeglicher, u n t e r V e r z i c h t l e i s t u n g auf sein natürliches Recht, der höchsten Macht, zum Behufe der bürgerlichen Gesellschaft, in allen Fällen sich u n t e r wirft. Wenn so im Staate das k l e i n e r e Übel im Vergleiche zur Anarchie zu sehen ist, so erscheine auch jener in der Tat als ein angemessenes Mittel zur Erreichung der natürlichen Bestimmung des Menschen. Es sei also begründet, wenn man die Frage nach dem optimus rei publicae status aufwerfe. Dieser bestehe eben in der Aufstellung einer durchgreifenden Macht und Stärke eines Herrschers, auf den die Untertanen, gezwungen oder freiwillig, ihr natürliches Recht übertragen, weil ohne das ein Gemeinwesen mit seinen ers t r e b e n s w e r t e n Vorteilen nicht möglich sein würde. SPINOZA verfällt also, sobald er auf R e c h t u n d S t a a t zu sprechen kommt, unwillkürlich dem Ein-
24
6. Das Streben nach Geld und Reichtum.
setzen des Gedankens der W a h l ; dieser aber hat bei bloßer Beobachtung natürlicher Äußerungen in W a h r n e h m u n g e n keinen logischen Sinn und kann gegenüber der Vorstellung des Waltens der Substanz nicht gehalten werden. Und er bringt unvermeidlich die Erwägung von Zwecken und Mitteln vor und führt damit eine neue', zweite und selbständige Ordnungsreihe ein, die von der methodischen Erwägung äußerer Erscheinungen zu trennen ist und in ihrer systematischen Bedeutung unabhängig von jener erfaßt sein will.
§ 6-
Das Streben nach Geld und Reichtum. I. B. MANDEVILLE (1670—1733): The fahle of tke bees (1705). Die Schrift schildert an der Hand eines ersonnenen Binnenstaates die Bedingungen für das Wohlergehen eines Gemeinwesens. Der Staat komme in Blüte und Gedeihen am besten durch die Laster seiner Angehörigen; er verfalle, sobald diese ehrlich und genügsam würden. Denn nur unter jener Bedingung können Reichtümer vollauf erworben werden, deren luxuriöser Gebrauch wieder allen Volksgenossen ein gutes Auskommen sichere, und deren Anhäufung die Machtstellung des Staates gewährleiste.
6. Das Streben nach Geld und Reichtum.
25
II: Dagegen stand es nach MANDEVILLES Darstellung anders, sobald sich seine Bienen zu einem einfachen und tugendhaften Leben entschlossen hatten. Der geschäftliche Verkehr verfiel nun, weil alle genügsam und ehrlich geworden waren. Das Land verarmte und mußte an Yolkszahl abnehmen und schwach gegen äußere Feinde werden. Die bescheidene Lebensweise und die fehlende Gier nach Geldgewinn, auch vielleicht auf verwerflichem Wege, brachte den Staat in das Verderben. III. Man hat in der theoretischen Literatur mit dieser Darlegung regelmäßig nichts anzufangen gewußt. Ihr methodischer Fehler liegt aber in der Vernachlässigung der Frage nach dem begründeten Maßstab für die Güte eines Staatswesens. Dieser Maßstab kann nicht in dem Erwerbe und Besitze von Geld bestehen. Denn das Geld ist selbstverständlich nur ein Mittel, aber als solches nicht das höchste Ziel für menschliches Streben. Das oberste Richtmaß für gegebene soziale Zustände, und damit das Endziel jeder wissenschaftlich geleiteten Politik, ist vielmehr R e c h t und Gerechtigkeit. Ein Staat ist dann in Blühen und Gedeihen, wenn in ihm das R e c h t sicher steht und überall sich bewährt, und wenn es im Sinne g r u n d s ä t z l i c h e r R i c h t i g k e i t gelenkt und geführt wird. IV. Daraus ergibt sich weiterhin, daß die Askese der einzelnen Rechtsangehörigen keineswegs den letzten
26
7. Die Aufgabe der Vervollkommnung.
richtenden Gedanken für die Güte eines staatlichen Daseins abgibt. Auch der zweite Staat des MANDEVILLE ist in sachlich unordentlichem und unbegründetem Zustande. Gegen die Pflege des äußeren Lebens ist an und für sich nichts einzuwenden, und der Erwerb von Geld und Gut mag als Maxime des Strebens bestehen: Aber es hat alles dieses in g r u n d s ä t z l i c h b e r e c h t i g t e r Weise zu geschehen, um das "Vorgehen der Einzelnen ebensowohl, wie den Zustand des Gemeinwesens zu rechtfertigen. § 7.
Die Aufgabe der Vervollkommnung. (1679—1754): Ius naturae methodo scientifica pertractatum, IX Voll. 1740; — institutiones iuris naturae et gentium, 1754 (auch deutsch von WOLF herausgegeben). WOLF geht von dem einzelnen Menschen, als moralischem Lebewesen, aus. Dieser habe die Aufgabe, alle die Handlungen auszuüben, welche die Vollkommenh e i t des Menschen und seines Zustandes befördern, und alle entgegenstehenden zu unterlassen. Von diesen natürlichen Rechten und Pflichten des Einzelnen will WOLF ZU einer prinzipiellen Betrachtung des Staatszweckes kommen. I.
CHRISTIAN "WOLF
7. Die Aufgabe der Vervollkommnung.
27
II. Von Natur sei niemand dem anderen untertänig. Nun treten aber in der Geschichte Herrschaften auf. Dahin zählt WOLF die Familienverbindungen, das Dienstrecht und endlich die öffentliche Herrschaft, den Staat. Zum Verständnisse des letzteren sei es nötig, einen Vertrag oder gleichsam einen Vertrag anzunehmen. Der Staat habe die Vollkommenheit seiner Mitglieder durch dreierlei zu befördern: sufficientia vitae, d. i. Überfluß alles dessen, was zur Notdurft, zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen des Lebens erfordert wird, — tranquillitate civitatis, d. i. Befreiung von der Furcht vor Unrecht oder Verletzung seines Rechtes, — securitate, d. i. Befreiung von der Furcht vor äußerer Gewalt. Die Erhaltung dieser Güter heißt das gemeine Beste. Dieses ist das Hauptgesetz. Da nun die Glieder des Staates, die an sich die Herrschaft zusammen und gleichberechtigt auszuüben hätten, sie auf einen Regenten übertragen können, so hat in solchen Monarchien der Herrscher nun die Pflicht, die Ausbreitung des öffentlichen Wohles zu befördern, woraus WOLF ein System von Grundlehren für eine gute Regierung herleitet, das als aufgeklärter Despotismus zu starker Bedeutung und Durchsetzung gekommen ist. Verschiedene Völker haben untereinander, als freie Personen, dieselben Rechte und Pflichten, wie die einzelnen Menschen. Darum findet auf sie in entsprechender
28
7. Die Aufgabe der Vervollkommnung.
Weise das Naturrecht Anwendung.
Demnach sind sie
auch verpflichtet, sich und ihren Zustand immer vollkommener zu gestalten.
So besteht unter ihnen eine
Gemeinschaft (civitas maxima), auf Grund welcher das willkürliche Völkerrecht entstehe. III.
In diesen vernünftigen Gedanken des WOLF
über menschliches Leben und Tun sind die Fragen des sittlichen und des sozialen Wollens nicht deutlich unterschieden. Die beiden sind aber im Interesse der Klarheit zunächst ihrem B e g r i f f e nach jeweils zu bestimmen. Es ist dabei nicht gleich auf die sachliche Berechtigung ihres Inhaltes einzugehen. Man darf nicht etwa die Moral als das r i c h t i g e Wollen, das R e c h t als ein minderwertiges Gebot nehmen. Es gibt auch schlechte beide
als
Moral
und gutes
Teilvorstellungen
Recht. des
Vielmehr sind
Gattungsbegriffes
vom W o l l e n zu begreifen und nach ihren b e g r i f f lichen Merkmalen darzulegen.
WOLF ist in der Ver-
nachlässigung dieser Aufgabe hinter die Bemühungen des THOMASIUS (§ 4 Nr. 4) zurückgefallen.
Nun sind die Zwecke des Menschen entweder f ü r sich allein
zu nehmen oder in Verbindung
mit
denen anderer Menschen. Bei jenem kommt es auf ein Bestimmen der wünschenden Gedanken an, die im getrennten Sehnen eines jeden auftreten, — bei diesem besteht ein eigenartiges Wollen, das die Ziele
ver-
7. Die Aufgabe der Vervollkommnung.
29
schiedener Menschen w e c h s e l s e i t i g als M i t t e l f ü r einander
setzt.
Dort ist es das I n n e n l e b e n
der
Einzelnen, — hier ihr Z u s a m m e n w i r k e n , das entscheidend in Frage steht.
So ergibt sich der Begriff
des r e c h t l i c h v e r k n ü p f e n d e n Wollens als eine allgemeingültig bestimmte Art des Wollens, die über den dadurch verbundenen Willensinhalten in s e l b s t ä n d i g e r Weise gedacht wird. IV.
Der Gedanke der Vervollkommnung läßt es
noch ganz offen: in w e l c h e m
Sinne eine Vervoll-
kommnung statthaben soll. Es gibt auch eine Vervollkommnung in tigungen.
minderwertigen
und
schlechten
Betä-
Fragt man also nach den bleibenden Be-
dingungen, unter denen man die Gedanken g u t und b ö s e , das ist: r i c h t i g und u n r i c h t i g im Wollen, unterscheidet, so wird dieser Gegensatz durch die b l o ß e Verweisung
auf notwendige
Vervollkommnung nicht
angegeben, sondern unerörtert v o r a u s g e s e t z t . Es fehlt die Bestimmung auf den allein absolut richtenden Gedanken der W i l l e n s r e i n h e i t
(§2 IV).
Sie ist das Richtmaß, das der idealen Vorstellung unb e d i n g t e r Harmonie aller denkbarer Willensinhalte miteinander entspringt.
Und nun ist dieser Gedanke
in seiner leitenden Aufgabe auf die begrifflich verschiedenen Klassen des s i t t l i c h e n und des s o z i a l e n Waltens (oben III a. E.) g l e i c h m ä ß i g anzuwenden. Das ergibt
30
7. Die Aufgabe der Vervollkommnung.
für die Harmonie des Innenlebens die Richtlinie reiner Lauterkeit (Matth. 5, 38ff.); und für die Harmonie des Zusammenlebens die Aufgabe, den Blickpunkt der sozialen Gerechtigkeit in seiner methodischen Eigenart zu beschreiben und die Möglichkeit, nach ihm sich zu richten, näher darzulegen. — Erörterungen im Stile der sogenannten Aufklärungsphilosophie und der vernünftigen GedanTcen des CHRISTIAN WOLF sind in der Richtung dieses Zieles noch nicht auf halbem Wege angelangt. Das gleiche gilt von neueren Formulierungen, die als Grundlage einer Rechts- und Staatstheorie die Förderung der Kultur angeben und nach dem Aussprechen dieses Stichwortes die Erörterung abbrechen. Aber Kultur kann nichts anderes besagen, als die Ausbildung menschlicher Fähigkeiten in richtiger Weise. Ein gelegentlicher neuerer Versuch, die Kultur als wertvoll gewordene Wirklichkeit anzugeben, bestätigt jene Begriffsbestimmung von selbst. Von der überall grundlegenden Unterscheidung von richtig und unrichtig geht (wie SOKRATES durch PLATON gelehrt hat) alle Betrachtung von menschlichem Geistesleben aus. So bleibt als Grundfrage unseres Zusammenhanges die Frage nach den bleibenden Bedingungen der Richtigkeit eines Wollens.
8. Der contrat social.
31
§8.
Der contrat social. Geboren 1712 zu Genf; im politischen Leben nie hervorgetreten und ohne festen Beruf. Nach unruhigem, vielfach abenteuerlichem Leben gestorben 1778. — Discours sur Vorigine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, 1753; — besonders: Du contrat social ou principes du droit publique., I.
JEAN
JAQUES
ROUSSEAU.
1762. ROUSSEAU muß als einer der schärfsten Denker in der Geschichte der Rechtsphilosophie bezeichnet werden. Er fragt: Wie an die Stelle von willkürlicher Gewalt, die unaufhörlich erlebt worden ist, ein innerlich beg r ü n d e t e r Zustand des R e c h t e s gesetzt werden könne? — Dies sei nur möglich, wenn man den obersten Gedanken des geordneten Zusammenlebens in dem Sinne eines contrat social auffasse : Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale, et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisible du tout. Im Sinne dieses Gesellschaftsvertrages besteht das Gemeinwesen als ein zusammengesetzter Körper: une république oder un corps politique, der als souverain die gesetzgebende Macht ausübt. Es ist ein n i c h t seltenes, s t a r k e s Mißver^
32
8. Der contrat social.
s t ä n d n i s , als ob R O U S S E A U mit dem Aufstellen seines Gesellschaftsvertrages erzählen w o l l t e , wie seinerzeit das R e c h t überhaupt entstanden sei. Davon ist bei ihm keine Rede. Er sagt im Eingange seines Buches klar und bestimmt: der Mensch werde frei geboren und sei doch überall in Fesseln. Comment ce changement s'est-il fait? Je Vignore. Qu'est-ce qui peut le rendre légitime? Je crois pouvoir résoudre cette question. Es bedeutet also der contrat social im Sinne des ROUSSEAU nicht eine angebliche geschichtliche Tatsache. Er will vielmehr eine Formel für den Rechtsgedanken liefern und einen systematischen Maßstab für Recht und Gerechtigkeit abgeben. "Wenn nun das gesellschaftliche Leben der Menschen wie ein gemeinsames Wirken auf Grund eines Vertrages aufgefaßt werde, so sei sein allgemeiner Zweck: die Verwirklichung der volonté générale. Dieser Gesamtwille darf aber nicht q u a n t i t a t i v genommen werden; er hat nichts zu tun mit dem einstimmigen Wollen aller Rechtsangehörigen oder gar mit den Bestimmungen durch eine Mehrheit. ROUSSEAU stellt ihn statt dessen als ein besonders geartetes Wollen auf, nämlich als die Maxime, die das Wohl aller Menschen überhaupt zur Richtschnur nimmt. Damit wollte er das Merkmal des Begriffes gut geben und die Vorstellung der Tugend logisch bestimmen. Dem Gesamtwillen
33
8. Der contrat social.
nachzuleben, sei das einzige unbedingte Gebot für das menschliche Handeln. Um den G e s a m t w i l l e n im einzelnen Fall festzustellen, sei es zutreffend, a l l e Genossen um ihre Meinung zu befragen.
Sie müssen alle gleichmäßig Anteil
an der obersten Gewalt haben; die Herrscher müssen mit den Beherrschten zusammenfallen. die
Sätze ROUSSEAUS: Die
vertreten werden.
Daraus folgen
Souveränität kann
nicht
Der G e s a m t w i l l e ist entweder er
selbst oder er ist ein anderer; ein Mittleres ist nicht denkbar. Die Abgeordneten des Volkes sind also n i c h t seine Repräsentanten, sondern nur Geschäftsführer, die nichts unabänderlich beschließen können.
Jedes
s e t z , w e l c h e s das V o l k n i c h t in e i g e n e r
Ge-
Person
genehmigt h a t , ist nichtig. Für
die Praxis
trennt
ROUSSEAU die
g e b u n g von der v o l l z i e h e n d e n
Gewalt.
gehöre
Souveräns,
zum Wirkungskreise
letztere bestehe
die
des
als ein
Regierung
GesetzNur jene für
die
vermittelnder
Körper zwischen Souverän und Untertanen.
Erst für
die rechtmäßige Ausübung der v o l l z i e h e n d e n Gewalt, nicht für die g e s e t z g e b e r i s c h e ROUSSEAU die
Möglichkeiten
der
Macht unterscheidet Monarchie,
Aristo-
kratie, Demokratie. Wenn das Volk abstimmt, so bleibt es, nach dem Gesagten, offene Frage: ob es auch wirklich den GeStammler, Rechts- und Staatstheorien. 2. Aufl.
3
34
8. Der contrat social.
s a m t w i l l e n zum Ausdruck bringt. Möglicherweise verfehlt es diesen und erläßt ein Scheingesetz, also ein solches, das nur auf den Nutzen Einzelner abzielt; denn die volonté générale ist, wie ausgeführt, scharf zu scheiden von der volonté de tous.
Der G e s a m t w i l l e selbst ist
immer auf das allgemeine Beste gerichtet; er kann nicht irren.
Er geht auch nicht durch jene Verfehlung zu-
grunde; er ist unzerstörbar, aber er ist dann gerade nicht zum Ausdrucke gelangt.
Dem sucht
ROUSSEAU
möglichst zu steuern, indem er Vorschläge über zweckmäßiges Wählen und Abstimmen und sonstige Staatseinrichtungen macht. II.
Die Lehre
ROUSSEAUS
hat geschichtlich den
größten Einfluß dadurch ausgeübt, daß sie als Grundgedanke der französischen Revolution genommen wurde und sich dem System des Lehnswesens siegreich gegenüberstellte. Allerdings wurde Punkte
sie hierbei in einem
wichtigen
durchaus umgestaltet: in der Ausübung
der
Gesetzgebung durch das Parlament an Stelle der durch das Volk selbst. Von besonderem Einflüsse war hierfür E M . JOS. S I E Y È S
(1748—1836).
Er war Priester
und
Generalvikar des Bischofs von Chartres;, dann in der Nationalversammlung hervorragend tätig und für die Entwürfe der Verfassungen in der Revolutionszeit von größter
Bedeutung.
Unter
vielen
Plugschriften
und
8. Der contrat social.
35
Aufsätzen zu bemerken: Essay sur les privilèges (1788); Qu'est-ce que le tiers état (1789). glaubt, daß die Einrichtung der Volkssouveränität mit dem Stellvertretungssystem in Einklang gebracht werden könne. Die Vermittlung geschah durch den Satz, daß die Parlamentarier Vertreter des gesamten Volkes seien, auch wenn sie nur von einem Teile des letzteren gewählt seien, und daß sie an Aufträge und Anweisungen von Wählern nicht gebunden seien. Das Volk gelange zu mehr Freiheit, zu Unabhängigkeit und Macht, wenn es für die verschiedenen staatlichen Berufsarbeiten sich Stellvertreter ernenne, anstatt genötigt zu sein, das ganze Leben hindurch auf der Wacht zu stehen. Es solle sich bloß die Macht vorbehalten, alljährlich vernünftige und von ihm unmittelbar gekannte Männer zu ernennen. Danach zerfalle die politische Tätigkeit in zwei Teile: Vaction ascendante et descendante; jenes die Handlungen, durch die das Volk seine verschiedenen Stellvertreter ernennt, das zweite diejenigen, durch welche die Stellvertreter das Gesetz geben und ihm dienen. SIEYÈS
III. Nach ROUSSEAUS Grundauffassung hat es seither in der Geschichte überhaupt noch kein Recht gegeben. Es war alles nur Willkür, weil die staatlichen Ordnungen nicht im Sinne der volonté générale im contrat social bestellt und durchgeführt waren. ROUSSEAU 3*
36
8. Der contrat social.
b e s t i m m t also den Begriff Recht nach dem Inhalte gewisser b e f e h l e n d e r Regeln. Dies wäre bloß dann zutreffend, wenn er gezeigt hätte, daß zwischen r e c h t l i c h e m "Wollen und willkürlicher Gewalt es einen allgemeinen Unterschied von nur formaler Bedeutung nicht gebe. Es gehören zwar beide zu dem s e l b s t h e r r l i c h verbindenden Wollen. Die miteinander verbundenen Willensinhalte vermögen nach dem Sinne der Verbindung an dieser Einfügung nichts zu ändern. Sie stehen den k o n v e n t i o n a l e n Regeln gegenüber, wie sie vor allem in Brauch und Sitte uns entgegentreten. Bei diesen beruht der Geltungsanspruch, in dem sie als verbindendes Wollen erscheinen, auf der A n e r k e n n u n g der Unterstellten (vgl. § 16). Allein das s e l b s t h e r r l i c h verbindende Wollen läßt sich danach einteilen: ob es ein Einstellen von F a l l zu F a l l oder in b l e i b e n d e r A r t ist. Bei jenem liegt Willkür vor, ein Gebieten nach subjektiver Laune, ein Binden eines Einwirkenden si voluerit; — das zweite besagt das logische Merkmal der U n v e r l e t z b a r k e i t , das den Begriff des R e c h t e s gegenüber dem der W i l l k ü r bestimmt. IV. Das so b e g r i f f l i c h erfaßte rechtliche Wollen hat nun einer einheitlichen Aufgabe zu folgen: der Idee der Gerechtigkeit. Erst bei dem Einsetzen dieses idealen Blickpunktes als leitenden Gedankens kann der I n h a l t
37
8. Der contrat social.
eines g e s c h i c h t l i c h
gegebenen
Rechtes
als ein
grundsätzlich richtiger gekennzeichnet werden. Dagegen geht es nicht an, den B e g r i f f des Rechtes durch Bezugnahme auf einen bestimmt gearteten Inhalt des fraglichen "Wollens abzugrenzen.
Denn dieser B e -
g r i f f ist ein logisch bestimmter Ausschnitt aus dem Gebiete des Wollens und soll sich von anderen Klassen des letzteren — der Moral, der Sitte, der "Willkür — durch ein festes Merkmal unterscheiden. nach der inneren Frage
gleichmäßig
Begründetheit an
alle
diese
Die Frage
kann aber Arten
als
gerichtet
werden, taugt mithin nicht zur Angabe des Merkmals, wodurch diese letzteren
sich
voneinander
unter-
scheiden. Wenn nun ROUSSEAU das ideale Ziel des Rechtes mit dem Hinweise auf das G l ü c k aller beschreiben will, so ist das eine unzutreffende Beschreibung dieses grundlegenden Gedankens.
Solange das Lustbegehren als
P r i n z i p eines angeblich dann r i c h t i g e n Wollens genommen wird, bleibt solche Angabe in den Bahnen des S u b j e k t i v i s m u s und verfehlt die Absicht der Obj e k t i v i t ä t , die doch auch ROUSSEAU hegte.
Alles
Streben nach Glück und Lust und Annehmlichkeit ist stets nur der S t o f f im menschlichen Erleben, der in f o r m a l r i c h t i g e r Weise zu führen ist.
Bloß deshalb,
weil etwas s u b j e k t i v a n g e n e h m ist, kann es noch
38
8. Der contrat social.
nicht als g r u n d s ä t z l i c h r i c h t i g behauptet werden. Dies ist in a n d e r e r Weise zu unternehmen. Den eben betonten Grundfehler der L u s t l e h r e teilt ROUSSEAU mit allen e u d ä m o n i s t i s c h vorgehenden Richtungen (vgl. § 9). An dieser Stelle ist besonderer Anlaß, den Begriff und die Idee des Rechtes in ihrem Unterschiede und ihrer praktischen Bedeutung hervorzuheben, da in diesem Punkte die einflußreiche Lehre vom contrat social ihren wesentlichen Kern hat. Die k a t e g o r i a l e Betrachtung bestimmt das R e c h t als eine Klasse des menschlichen Wollens. Sie teilt das Gebiet des Wollens, als eigenartige Richtung des Bewußtseins, nach allgemein bedingenden Merkmalen ein. Der Begriff des Rechtes ist also eine Teilvorstellung. Die ideale Betrachtung faßt das Ganze des möglichen Geisteslebens in das Auge. Die Idee ist die Vorstellung einer a b s o l u t e n H a r m o n i e aller je möglichen Erlebnisse. Ihr Einsetzen ist für eine w i s s e n s c h a f t liche Bearbeitung unerläßlich. Wir würden nichts als einen W i r r w a r r von E i n z e l h e i t e n haben, stände nicht die Möglichkeit ihrer einheitlichen O r d n u n g im Hinter gründe. Und es muß diese Möglichkeit eine a l l u m f a s s e n d e Möglichkeit sein, da bei jeder beg r e n z t e n Vereinheitlichung der fragende Blick auf die nebenstehenden B e s o n d e r h e i t e n fallen muß. So ist auch jedes Wollen, das als ein r e c h t l i c h e s Wollen
9. Der soziale Eudämonismus.
39
b e g r i f f l i c h bestimmt ist, darauf zu prüfen, ob es in Beobachtung des idealen Gedankens voller Harmonie aller möglichen rechtlichen Begehrungen gerichtet ist, ob es also mit anderem r e c h t l i c h e n Streben nach der Idee des R e c h t e s z u s a m m e n s t i m m t . Daraus folgt, daß ein besonderes verbindendes Wollen zwar dem zerteilenden B e g r i f f e des Rechtes restlos entsprechen kann und doch vielleicht in seinem Inhalte von der Idee des Rechtes n i c h t geleitet ist. Es ist somit die Möglichkeit von u n r i c h t i g e m Rechte zu behaupten. Mit der Klarstellung dieser Unterscheidung zwischen dem B e g r i f f e und zwischen der Idee des Rechtes fällt die Lehre ROUSSEAUS als unhaltbar dahin.
§ 9.
Der soziale Eudämonismus. I. Diese Lehre ist namentlich in England ausgebildet worden. Die wichtigste Ausführung rührt von JEREMIAS BENTHAM her ( 1 7 4 8 — 1 8 3 2 ) ; besonders: Grundsätze der Zivil- und Krimindlgesetzgebung (deutsch von BENEKE, 1 8 3 0 ) . Sein bedeutendster Nachfolger ist J . S . MILL ( 1 8 0 6 — 1 8 7 3 ) ; hierher: Utilitarianism, 1 8 6 2 . Sie weisen darauf hin, daß Lust und Schmerz die
40
9. Der soziale Eudämonismus.
treibenden Ursachen für menschliche Handlungen sind, und meinen, damit die G e s e t z m ä ß i g k e i t des menschlichen Wollens angegeben zu haben. Gut oder böse seien die Handlungen, wenn sie zur Glückseligkeit oder zu ihrem Gegenteile führen. Danach würde der Endzweck der sozialen Ordnung der Nutzen aller sein. Soweit sich das nicht erreichen läßt, sei wenigstens die größte Glückseligkeit der größten Zahl das höchste Gesetz. Die Lehre des Eudämonismus war übrigens im 18. Jahrhundert ganz allgemein, auch in Deutschland, herrschend. Die WoLFische Philosophie widersprach ihr nicht, da sie das von ihr genannte Ziel der Vervollkommnung offen ließ (§ 7). Erst KANT vernichtete den Eudämonismus in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) mit der Betonung des einfachen Gedankens, daß jedes Begehren von Lust und Vermeiden von Unlust an sich notwendig n u r s u b j e k t i v sei; deshalb könne es unmöglich den Anspruch erheben, in seiner p e r s ö n lichen B e g r e n z t h e i t zugleich der Ausdruck für das allgemeine Gesetz des Wollens zu sein, von dem doch die g r u n d s ä t z l i c h e B e r e c h t i g u n g eines besonders aufsteigenden Begehrens abhängig sei. Von bemerkenswerten Rechtsphilosophen hat dann nur noch HUGO in seinem Naturrecht (4. Aufl. 1819) den E u d ä m o n i s mus prinzipiell zu halten gesucht, ohne erwähnenswerte
9. Der soziale Eudämonismus.
41
Gründe dafür anzugeben; er ist wohl auch der letzte theoretische Verteidiger der S k l a v e r e i gewesen (a. a, 0 . § 189). Einen praktisch durchschlagenden Einfluß hat freilich die L u s t l e h r e , trotz ihrer gänzlichen Ablehnung in der Theorie nur zu sehr behalten. II. Die prinzipielle Unbegründetheit der L u s t l e h r e zeigt sich im besonderen in dem oben eingeführten sozialen Eudämonismus. 1. Die Beförderung des subjektiven Glückes der einzelnen Gemeinschafter ist von vornherein eine ziemlich unlösliche Aufgabe. Das innere Glück, als den Frieden mit sich, kann die Eechtsordnung nicht verleihen; und über das sogenannte äußere Glück besteht keine Übereinstimmung. 2. Die Utilitarier versuchen es so: Es solle die größtmögliche Summe größtmöglichen Glückes beschafft und dann möglichst gleich auf die Einzelnen übertragen werden. — Aber das Empfinden des Glückes läßt sich von dem fühlenden Subjekte nicht loslösen und auf andere keineswegs verteilen. 3. Es könnte jedoch das Beschaffen persönlicher Lust auch als ein ideales Ziel für den Gesetzgeber nur dann mit Grund aufgestellt werden, wenn das oberste Gesetz für rechtes "Wollen des Einzelnen die Beförderung seines persönlichen Wohlergehens wäre. Da dieses letztere nicht zutrifft, sondern das Merkmal eines richtigen
42
9. Der soziale Eudämonismus.
menschlichen Wollens in der Pflichterfüllung liegt, ohne Rücksicht auf subjektives Behagen des Handelnden, so kann auch das oberste Gesetz der menschlichen Gesellschaft nicht das Glück der Einzelsubjekte in dieser sein. 4. Neuere Hedonisten haben eine Art von Normalglück genannt: Danach soll das Ziel des Rechtes sein, jedem ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen. Das ist richtig. Aber jenes "Wort heißt doch dasselbe wie vernunftwürdig. Es ist ein Wollen, das des Menschen würdig ist: in seiner Eigenschaft, o b j e k t i v richtig wollen zu sollen. Damit kommt man also von dem bloßen subjektiven Glücke als solchen ab. III. Auf der L u s t l e h r e als Prinzip fußt die politische Forderung q u a n t i t a t i v e r Gleichheit. Sie wurde im Altertum von PLATON und ARISTOTELES bekämpft, taucht in der Neuzeit bei THOMAS MORUS auf (§ 3), findet sich dann in vereinzelten Äußerungen bei PUFENDORF ( § 4 ) und WOLF ( § 7 ) , schiebt sich bei ROUSSEAU ein (§ 8) und verschwindet dann aus der r e c h t s p h i l o s o p h i s c h e n L i t e r a t u r , um in der politischen P r a x i s eine um so größere Rolle zu übernehmen. In fester Formulierung erscheint die genannte Forderung bei BABEUF ( 1 7 9 5 ) , wonach jedem nach seinen Bedürfnissen (nicht: nach seinen Leistungen und nach der gesamten Materie der jeweiligen geschichtlichen Bedingtheiten) ein Anteil an den äußeren Gütern zu-
9. Der soziale Eudämonismus.
43
geteilt werden sollte. Seitdem ist die Verwechselung von Gleichheit und von G e r e c h t i g k e i t in politischen Erörterungen oft hervorgetreten. Material betrachtet sind die Menschen in jeder Hinsicht einander ungleich. Das zeigt sich in den Bedingtheiten eines jeden Einzelnen, vor allem auch in den geschichtlichen Bedingtheiten, die durch die Generationen unvermeidlich hindurchgehen. Hieraus kann also um so weniger die Notwendigkeit m a t e r i a l e r Gleichheit gefolgert werden, als die soziale Ungleichheit in technischer Beziehung von wohltätiger Bedeutung ist und als Quelle des Ansporns die m a t e r i a l e K u l t u r (§ 7 a. E.) erst ermöglicht. I d e a l erwogen sind alle Menschen vor Gott zwar gleich, nämlich alle u n v o l l k o m m e n , was an sich eine rein negative Peststellung ist. Dagegen kann der Satz, d a ß vor dem Gesetze alle gleich seien, n u r b e s a g e n : d a ß
ein jeder nach R e c h t und G e r e c h t i g k e i t behandelt werden soll. Geht man über diese formale Richtlinie hinaus und möchte m a t e r i a l e Gleichheit im Sinne der Utopien (§ 3) fordern, so bleibt keine Möglichkeit selbst einer nur phantasievoll gestützten Begründung, als die L u s t l e h r e mit ihrer unannehmbaren (oben II) Eigenart. IV. Nur scheinbar gehört zu dem Eudämonismus die Berufung auf das G e m e i n w o h l , salus publica, als
Grundlage guter Gesetze.
Die Berufung hierauf ent-
10. Das Vernunftrecht.
44
stammt dem Altertum und ist seitdem oft wiederholt worden.
Auch BISMAKCK sagte in seiner Rede vom
21. Februar 1881: Für mich hat immer nur ein einziger Kompaß,
ein einziger Polarstern,
bestanden: salus
nach dem ich steuere,
publica.
Der genannte Ausdruck besagt den Wunsch nach einem objektiven Richtmaße, das einem von den bloß subjektiven Begehrungen der Einzelnen frei machen könnte.
Eine rechtsphilosophisch ausreichende Be-
schreibung des Gedankens von möglicher R i c h t i g k e i t wird damit gefordert, aber noch nicht selbst geliefert. Wie man aber einen allgemeingültigen Halt in dem Durcheinander von nur persönlichen Strebungen zu denken und zu erwarten habe, dafür genügt die bloße Verweisung auf das Wort Gemeinwohl nicht.
§ 10.
Das Vernunftrecht I.
Dieses sind die Versuche, die zunächst
das
Wesen des R e c h t e s feststellen (vgl. § 4, I ; auch § 8) und es weiterhin unternehmen, d a n a c h
begründete
Rechtssätze zu erhalten. So KANT, Metaphysik
der
Sitten,
1. Teil
Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen,
1797:
unter denen
10. Das Vernunftrecht.
45
die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann. Und hiernach ein bis in das einzelne ausgeführtes System des bürgerlichen und öffentlichen Rechtes. In gleicher Art PICHTE, Grundlage des Naturrechtes 1796 (während der geschlossene Handelsstaat 1800 den Entwurf eines Idealstaates, mit sozialistischem Aufbau, bietet). — Über HEGEL siehe unten § 1 5 , II. II. Der Gegensatz von V e r n u n f t r e c h t und posit i v e m R e c h t darf nicht auf die H e r k u n f t des I n h a l t e s beider bezogen werden: als ob jenes durch Vernunft, als eine magische Kraft, frei geschaffen würde, und das zweite innerhalb der geschichtlichen Erfahrung entstände. Der H e r k u n f t nach sind beide gleich: Der Stoff ist immer der Erfahrung entlehnt. Die Idee ist nicht schöpferisch. Die Meinung, aus vernünftiger Überlegung her rechtliche Einrichtungen und staatliche Bildungen neu erschaffen zu können, ist trügerisch und in sich methodisch falsch. V e r n u n f t heißt vielmehr das Vermögen des Menschen, den geschichtlich bedingten Stoff nach P r i n zipien zu bearbeiten, d. h. unter zwei sich bietenden Möglichkeiten die r i c h t i g e Wahl zu treffen. Und das so gefundene Recht will nicht unabhängig von gesetzter Autorität Zwangsgeltung für sich schon haben, sondern nur ein ideales Vorbild sein.
46
10. Das Vernunftrecht.
III. Der Fehler jener Versuche aus der Aufklärungsperiode lag in der Art ihrer Ausführung, da sie nämlich ein ausgeführtes Rechtsbuch mit einem unwandelbaren Inhalte entwarfen. Das geht nicht an. Denn der Inhalt des Rechtes geht auf die Regelung von menschlichem Zusammenwirken, das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtet ist. Alles, was sich aber auf menschliche Bedürfnisse und auf die Art ihrer Befriedigung bezieht, ist steter Veränderung unterworfen. Es g i b t keinen einzigen R e c h t s s a t z , der seinem p o s i t i v e n I n h a l t e nach u n b e d i n g t f e s t s t ä n d e . Statt dessen kann nur die Aufgabe bestehen, eine allgemeingültige formale Methode zu finden, in der man den notwendig wechselnden Stoff geschichtlich bedingten Rechtes dahin richten und leiten mag, daß er die Eigenschaft des o b j e k t i v R i c h t i g e n erhält. IV. Eine solche Methode ist in folgender Weise zu finden und zu begründen. Es ist der unbedingt einheitliche Grundgedanke alles jemals möglichen Rechtsinhaltes klarzustellen, um danach ein geschichtlich gegebenes Begehren zu richten. Dazu ist nötig, auf das systematische Grundgesetz des menschlichen Wollens ü b e r h a u p t zurückzugehen. Dieses ist die Idee der W i l l e n s r e i n h e i t (§ 2, IV; vgl. § 7, IV). Sie ist nun auf das r e c h t liche Wollen anzuwenden.
10. Das Vernunftrecht.
47
Das letztere gehört zu dem sozialen oder verb i n d e n d e n Wollen, bei dem die Zwecke des einen Menschen als Mittel für den anderen gesetzt werden, und umgekehrt (§ 7, III). Die damit erwachsenden Aufgaben der sozialen Frage werden uns geschichtlich geliefert (siehe oben II). Der Materie nach sind wir in den Problemen der Politik an die geschichtlichen B e d i n g t h e i t e n unseres Daseins unweigerlich gebunden. Soweit hat die m a t e r i a listische Auffassung der Geschichte (§16) ganz Recht. Andererseits liegt kein Grund vor, die mannigfaltigen sozialen Aufgaben bloß als b e g r e n z t e Einzelh e i t e n stehen zu lassen, die wild und wirr nebeneinander aufkämen und sich in blindem Werden im Sinne von Naturgewalten lösten. Wir können den Stoff des historischen Geschehens in seinen gegebenen Möglichkeiten auswählend führen. Dieses zeigt sich schon in jedem Werke technologischer Arbeit. Soll nun die auswählende Betätigung im Sinne g r u n d s ä t z l i c h e r R i c h t i g k e i t geschehen, so gründet man auf dem Gedanken von der u n b e d i n g t e n Harmonie aller je möglichen Einzelheiten des menschlichen Strebens. In diesem Gedanken a b s o l u t e r H a r m o n i e auch des sozialen Wollens ist das einzelne Begehren zu r i c h t e n — in des Wortes doppelter Bedeutung: zu beurteilen und zu leiten.
48
10. Das Vernunftrecht.
Iii der sozialen Praxis besagt dieser Plan das Verwerfen des S u b j e k t i v i s m u s . Es darf nicht das bloß s u b j e k t i v gültige Fordern und Verneinen des einen Gesellschafters das h ö c h s t e Gesetz für das verbindende Wollen sein, unter dem die mehreren Gesellschafter stehen. Es hat der Gedanke einer u n b e d i n g t e n gegens e i t i g e n R ü c k s i c h t n a h m e durchzugreifen, der Blickpunkt einer reinen G e m e i n s c h a f t , in der nicht der eine Willensinhalt als b l o ß e s Mittel eingesetzt wird, sondern als Richtlinie eine G e m e i n s c h a f t frei wollender Menschen besteht. Das ist nur eine I d e e , d. i. die Richtung des Denkens, die ein begrenztes Erlebnis auf sein Zusammenstimmen mit der A l l h e i t der denkbaren Einzelheiten beurteilt. Sie ist die Vorstellung des Ganzen aller je möglichen Erlebnisse. Das Ganze ist selbst kein Gegenstand der Erfahrung. Die Besinnung darauf stellt eine Aufgabe und liefert eine A n w e i s u n g , der stets nachzugehen ist, obgleich sie niemals vollständig erledigt werden kann. So kehrt auch die Idee der reinen Gemeinschaft in der empfindbaren Wirklichkeit nicht wieder. Da alle Begehrungen der Menschen bedingt und ihrem Stoffe nach endlich sind, so vermag keine Verknüpfung von ihnen sie restlos gegeneinander auszugleichen. Aber doch ist dieser ideale Gedanke der L e i t s t e r n für das nach R i c h t i g k e i t strebende soziale Wollen.
49
10. Das Vernunftrecht.
ist
Wir nennen seine Formel das soziale Ideal.
Sie
eine
als
kritische
Definition Richtlinie
des
Grundgedankens,
der
alles rechtliche "Wollen begleitet,
sofern folgerichtig ausgedacht wird.
Wenn man einen
gewissen Rechtsinhalt als g r u n d s ä t z l i c h
berechtigt
bezeichnet oder dies ihm abspricht, so wird
damit
im letzten Grunde gesagt, daß dieses rechtliche Wollen in seiner gegebenen Lage von dem G e m e i n s c h a f t s g e d a n k e n geleitet sei oder ihn verfehle. Und
es
ist
der
dargelegte
Grundgedanke
der
e i n z i g e , der alles denkbare soziale Wollen zu umspannen vermag.
Er unterscheidet sich von
jedem
sonstigen Ziele für die äußere Regelung des Zusammenwirkens.
Sie alle sind begrenzt und in geschichtlich
bedingter Art befangen.
Nennt man im politischen
Kampfe ein solches Ziel (mit schlechtem Sprachgebrauch) ein Ideal, so ist es doch sachlich unrichtig, es dem vorhin
geformten
Grundgedanken
des
sozialen
Ideales
logisch gleichzustellen, — denn keines von ihnen vermag sich als die Richtlinie auszugeben, die für alle irgendwelche
Bestrebungen, zu beliebiger Zeit und
Lage, in u n b e d i n g t e r E i n h e i t Geltung besitzt. Bei ihm handelt es sich nicht um eine Beschreibung von wirklichen Rechtsvorgängen, oder um die Darlegung des Sinnes eines Gesetzbuches oder sonstigen geschichtlichen Rechtsinhaltes, oder gar um gewisse Postulate STAMMLER, Rechts- und Staatatheorlto. 2. Aufl. 4
50
11. Die historische Rechtsschule.
auf rechtliche Änderungen, — sondern es wird mit ihm eine Antwort darauf gegeben: Welches ist das logisch bedingende Merkmal des Begriffes Gerechtigkeit? Ger e c h t i g k e i t ist das Richten eines besonderen rechtlichen "Wollens nach der Idee reiner Gemeinschaft.
§ 11.
Die historische Rechtsschule. I. Darunter versteht man eine eigenartige R e c h t s philosophie, die im Beginne des 19. Jahrhunderts, im Zusammenhange mit der allgemeinen Richtung jener Zeit, der R o m a n t i k , entstand. Besonders: F. K. VON S a v i g n t ( 1 7 7 9 — 1 8 6 1 ) u n d P u c h t a ( 1 7 9 8 — 1 8 4 6 ) .
Das wesentliche Merkmal r o m a n t i s c h e r Lebensauffassung ist der Geisterglaube. Neben dem Menschen stehen Geister, die in sein Schicksal bestimmend eingreifen, hilfreich oder auch schädigend. Den (glauben an solche Wesen übertrug dann die hier fragliche Richtung auf das Volk. Ihre letzte maßgebliche Auffassung ist die, daß, wie der Mensch ein beseeltes Wesen sei, das Volk als Ganzes noch einmal eine eigene Seele habe; ein psychiches Gesamtphänomen, das zwar für sich selbst wissenschaftlich nicht erforschlich sei, das aber seine Realität innerhalb der Welt der Erfahrung darin erweise,
11. Die historische Rechtsschule.
51
daß es in den Gliedern des Volkes gewisse gemeinsame Überzeugungen über mancherlei Fragen wecke. Wenn diese auf rechtliche Dinge gerichtet sei, so sei sie, die Ü b e r z e u g u n g , bereits das R e c h t . Der Gesetzgeber habe das s c h o n b e s t e h e n d e Recht nur zu formulieren und zu redigieren. Der äußere Anlaß zum Hervortreten dieser Richtung entstand aus dem literarischen Streit von THIBAUT und SAVIGNY ( 1 8 1 4 ) : Ob für Deutschland ein allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch erlassen werden sollte. THIBAUT hob die Mängel des überkommenen Privatrechtes hervor und befürwortete die einheitliche Kodifikation aus politischen Gründen, SAVIGNY sprach dagegen aus der soeben entwickelten Grundmeinung her. Er hatte damals Erfolg. Allgemein traten als praktische Polgerungen der historischen Rechtsschule hervor: a) Abneigung gegen die Gesetzgebung, besonders die Gesetzbücher, und Vorliebe für das Gewohnheitsrecht; nicht als die technisch beste Art der Rechtsbegründung, im Dienste der Rechtssicherheit, sondern als besseres Mittel zur Erkenntnis dessen, was der Volksgeist rechtlich wolle, wobei die tatsächliche Übung nicht die Begründung, sondern nur die Feststellung des Rechtes, nämlich der rechtlichen Überzeugung, gebe, das Recht selbst aber a m B e g i n n e der dauernden Übung, und nicht erst a m E n d e derselben^ entstanden sei. b) Besondere Betonung 4*
52
11. Die historische Rechtsschule.
der geschichtlichen Erforschung gegebenen Rechtes, nicht sowohl im praktischen Interesse der Rechtsanwendung, als yielmehr in dem Streben, den eigentlichen Gegenstand der Forschung, nämlich die Eigenart des betreffenden Volksgeistes besser zu erkennen, c) Verneinen der Berechtigung einer sachlichen Kritik von positivem Recht an der Hand der richtenden Idee der Gerechtigkeit. Man könne nur prüfen, ob ein technisch geformter Rechtssatz auch wirklich dem Willen des Volksgeistes entspreche; bejahendenfalls sei dieses R e c h t auch r i c h t i g , weil das Walten des Volksgeistes nicht abfällig und verwerfend beurteilt werden dürfe. II. Die historische Rechtsschule geht von der Vorstellung des Volkes, als eines körperlichen Dinges mit einer eigenen Seele aus. GIEHKE hat danach das Wesen der menschlichen Verbände (1902) dahin angegeben, daß sie reale leiblich-geistige Einheiten seien. Das ist nach beiden Seiten der Betrachtung hin unhaltbar. Ein rechtlicher Verband ist kein Körper im Räume. Der Begriff einer r e c h t l i c h e n Vereinigung von Menschen wird aber nicht durch das Merkmal einer Ausdehnung nach drei Dimensionen bestimmt. Vielmehr fällt sie begrifflich unter den Gedanken der V e r b i n d u n g von Zwecken. Sie findet hierin ihre wesentliche Eigenart und nicht in ihrem Bestehen als angeblich körperlicher Gegenstand.
11. Die historische Rechtsschule.
53
Nicht anders steht es mit der Vorstellung von Völkerindividuen, die für sich beseelte Lebewesen seien. Es würde das eine Übertragung der Vorstellung von dem eigenen Bewußtsein auf das Volk bedeuten. Eine solche Übertragung ist dann wissenschaftlich begründet, wenn ohne sie der andere Gegenstand gar nicht gedacht werden könnte. Das ist bei der Vorstellung eines jeden Menschen gegeben, bei der des Volkes aber nicht. Die letztere besteht als ein Inbegriff rechtlich verbundener Menschen in restlos bestimmter Weise, ohne daß es notwendig wäre, hier das rätselhafte Urding einer eigenen Psyche als bedingendes Merkmal einzusetzen. III. Die Behauptung der Volksseele, als eines u n w a n d e l b a r bestehenden Wesens, ist aber nicht nur mystisch, sondern auch widerspruchsvoll. Denn da der Volksgeist das Recht in der geschichtlichen Erfahrung v e r u r s a c h e n soll, so würde er, wie jede besondere Ursache, selbst wieder die W i r k u n g einer anderen Ursache sein, und müßte überhaupt, als Eigenschaft eines b e g r e n z t e n N a t u r d i n g e s , des Volkes, eine erkennbare N a t u r e r s c h e i n u n g darstellen, — was er beides, nach jener Lehre, gerade nicht sein soll. IV. Die Volksseele darf nicht mit n a t i o n a l e n E i g e n t ü m l i c h k e i t e n verwechselt werden, die man als verhältnismäßig übereinstimmende Eigenschaften der Menschen gewisser Kreise beobachten kann.
54
11. Die historische Rechtsschule.
Der Begriff der N a t i o n kommt in Frage bei einem verbundenen Zusammenleben, das aus einer im allgemeinen gleichartigen Abstammung her entspringt.
Er vollendet
sich durch den W i l l e n der Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t , der in verschiedenen Zeiten und Lagen bald schwächer oder stärker hervortritt.
Dabei ergeben sich verhältnis-
mäßig übereinstimmende Eigenschaften des Lebens und Strebens.
Die nationalen Eigenschaften eines Volkes
wandeln sich wohl im Laufe der Zeiten, obgleich manche bestimmte
Charakterzüge
durch
weite
Zeiträume
gleichmäßig hindurchgehen.
Auch kreuzen sie sich
ständig mit internationalen
Einflüssen, denen gegen-
über sie jedoch regelmäßig die weitaus wichtigere Bedeutung tatsächlich beanspruchen. Die theoretische
Rechtfertigung des
nationalen
Gedankens folgt aus der Notwendigkeit getrennter Ordnungen, in denen das Recht allein in Wirklichkeit erscheint.
Die Menschen leben unvermeidlich in konzen-
trischen Kreisen.
Die Vorstellung eines sogenannten
Weltbürgertums, im Sinne einer rechtlichen Regelung ohne getrennte Ordnungen, ist eine Chimäre.
Von un-
bedingt a l l g e m e i n e r Bedeutung für alle Menschen ist nur der B e g r i f f des R e c h t e s und die Idee
der
Gerechtigkeit,
des
Wollens.
als
formal
ordnende
Weisen
Sie sind in einer freilich allgemeingültigen
Art bei den abgegrenzten
Kreisen menschlichen Zu-
12. Das Recht des Stärkeren.
55
sammenlebens anzuwenden und durchzuführen. Zu dem Wesen des R e c h t s g e d a n k e n s aber gehört die Kategorie der R e c h t s h o h e i t . Dies ist die Gedankenrichtung eines rechtlichen Wollens, nach der es den Zweck seines Bestimmens in sich selbst t r ä g t .
Sie kann in der
praktischen Ausführung nur in den einzelnen Rechtsordnungen erscheinen, da ohne diese ein Auftreten des Rechtsbegriffes, wie bemerkt, ohne tatsächlichen Sinn ist.
Nur unter der Wahrung dieses bestimmenden Ge-
dankens kann eine i n t e r n a t i o n a l e Verbindung in abgegrenzten Fragen gerechtfertigt sein. Gesamtstellung des nationalen Rechtshoheit
Diese muß die
Verbandes in seiner
ebenso unangetastet lassen, wie die
rechtlichen Verpflichtungen eines einzelnen Menschen seine Bedeutung als Selbstzweck nicht beeinträchtigen dürfen.
Ein V e r z i c h t auf die Selbstbestimmung einer
Nation, in dem Suchen eines Friedens um jeden Preis, ist t h e o r e t i s c h unbegründet.
§ 12.
Das Recht des Stärkeren. I. Von alters her finden sich Versuche, den B e griff des Rechtes mit dem Hinweise auf die größere S t ä r k e eines Gebietenden zu bestimmen.
So WIELAND
im Deutschen Merkur, 1777: Das Recht des Stärkeren
56
12. Das Recht des Stärkeren.
sei iure divino die wahre Quelle aller Obrigkeit. Die höchste Gewalt in einem Staate werde nicht durch das Volk geschaffen. Denn dieses sei von Natur unvermögend, sich selbst zu regieren, habe also auch kein natürliches Recht hierzu. — K A T O , Der Kampf ums Recht des Stärkeren (1894): Überall sei Kampf, auch in der Gesellschaft. Recht entspringe daraus, daß entweder die unterlegenen Schwachen die Gewalt der Stärkeren anerkennen oder zwei gleich Starke eine gegenseitige Anerkennung vornehmen. Das finde innerhalb eines Staates statt, wie auch zwischen verschiedenen Staaten. — Allein das bietet bloß eine genetische Beschreibung, wie man zu Recht gelangen möge, — läßt jedoch die s y s t e m a t i s c h e Frage nach den bedingenden Merkmalen des B e g r i f f e s Recht in Wahrheit unbeantwortet. Es kann aber der Unterschied von R e c h t und von w i l l k ü r l i c h e r Gewalt nicht durch die Anerkennung des unterworfenen Schwächeren begrifflich festgelegt werden, weil dabei die bloße Macht für sich in dem Zustande der Uneingeschränktheit verbliebe. Umgekehrt liefert die Anerkennung eines sozialen Wollens durch die unter ihm Verbundenen nur den Begriff von K o n v e n t i o n a i r e g e l n , als n u r einladenden Sätzen, und läßt den s e l b s t h e r r l i c h e n Anspruch, mit dem die r e c h t l i c h e Gewalt in der Geschichte auftritt, unbeachtet (vgl. §8, III; auch §13 und 16).
12. Das Recht des Stärkeren.
57
II. Zum anderen hat man es unternommen, den idealen Maßstab für die innere Güte von Staatseinrichtungen dem R e c h t e des S t ä r k e r e n zu entnehmen. Hier ist vor allem CARL LUDWIG VON HALLES (1768—1854) zu nennen. Hauptwerk: Restauration der Staatswissenschaft oder Theorie des natürlich-gesellschaftlichen Zustandes der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, 6 Bde., 1816—1825. Recht und Staat seien nicht Menschenwerk, sondern die Natur selbst bildet durch Ungleichheit der Kräfte und wechselseitige Bedürfnisse mancherlei gesellige Verhältnisse unter den Menschen. Diese natürliche Bildung geschehe nach dem allgemeingültigen Gesetze: daß der Mächtigere herrscht, der Schwächere abhängig und dienstbar ist. Dieses Gesetz stützt HALLER auf den Hinweis auf die anorganische Natur, wo das Größere immer das Kleinere verdränge; auf die Beobachtung der Tierwelt, in der die stärkere Klasse über die schwächere herrsche; endlich auf die Wahrnehmung, daß der Mensch über die Tiere nur herrscht, soweit er seine Überlegenheit bewiesen, und über seinesgleichen bloß, sofern er sie irgendwie übertrifft. Diesem durch die ganze Schöpfung hindurchgehenden Gesetze entspricht ein Hang der Menschen. In der Tat sei es einfach, weise und wohltätig.
58
12. Das Recht des Stärkeren.
Für die Ausübung der größeren Macht gilt freilich ein natürliches Pflichtgesetz. Es ist allen Menschen eingepflanzt und umfaßt die Gerechtigkeit — meide Böses, tue Gutes — und die Liebe — beleidige niemand, sondern nütze, wo du kannst. Der Herrscher hat es zu befolgen, die Untertanen haben beim Mißbrauche einen erlaubten, selbsthelfenden Widerstand, Anrufen der Hilfe dritter, Flucht oder Trennung. Nach jenem Naturgesetze baut sich der Staat auf. Es herrscht der Hausherr über Frau und Kinder, der Grundherr über Hintersassen und Gesinde, und schließlich muß eine -oberste und unabhängige Gewalt bestehen, entweder in der Person eines großen Herrn (Fürstentum) oder bei einer Korporation (Republik). Diese Unabhängigkeit ist kein angeborenes, sondern ein erworbenes Glücksgut, und zwar das höchste von allen. Wer sie hat, ist im Rechte; aber da sie als Herrschaft auf höherer Macht beruht, so steht und fällt sie mit dieser. III. L. GUMPLOWICZ (in verschiedenen Schriften, besonders: Rechtsstaat und Sozialismus, 1881; Grundriß der Soziologie, 1885) will in der sozialen Betrachtung nicht vom Menschen, sondern von der Gruppe ausgehen. Die Staaten entstehen und bestehen dadurch, daß schwächere Stämme und Klassen von mächtigeren Geschlechtern und Rassen unterworfen und beherrscht
13. Die theokratische Rechtsauffassung.
59
werden. Das Recht sei die Ordnung der Ungleichheit. Die Beobachtung lehre als naturnotwendig, daß mit Grund die Herrschaft einer mächtigen Minderheit über eine weniger starke und darum zum Gehorsam bestimmte Masse zu organisieren sei. IV. Diese Versuche übersehen, daß der Stärkere in diesem Zusammenhange nicht der p h y s i s c h , sondern der sozial Stärkere ist. Die soziale Macht besagt aber nichts anderes, als eine gewisse Art der verbindenden Regelung. Sie ist eine Folge dieser letzteren unter bedingten Verhältnissen und kann darum nicht ihr u n b e d i n g t e r Maßstab sein.
§ 13.
Die theokratische Rechtsauffassung. I. Die heidnischen Religionen stützen regelmäßig die Berechtigung staatlicher Handlungen und rechtlicher Einrichtungen auf eine unmittelbare Ermächtigung oder Anordnung der Götter. Auch dem orientalischen Monotheismus ist dieses geläufig; und eine entsprechende theokratische Rechtsauffassung erhielt sich durch das Mittelalter hindurch. In der neueren Zeit wurde das mit besonderem Nachdrucke von DE MAISTRE (1754 —1821) aufgenommen; vornehmlich in dem Werke Du pape
60
13. Die theokratische Rechtsauffassung.
(3 Bde., 1817.) Das Buch gipfelt in dem Gedanken, daß die Staaten nicht auf Selbstbestimmung und Gesetzgebung der Menschen beruhten; sie könnten nur zu geringeren Zwecken sichtbare Abbilder der höheren Ordnung Gottes sein, über die der Papst gesetzt ist. Nur sous des restrictions terribles sei den Menschen die Reform der staatlichen Zustände möglich; und grundsätzliche Änderungen in den Verfassungen dürften bloß mit Genehmigung des Papstes vor sich gehen. II. Solche Versuche, gewissen rechtlichen Bestimmungen einen heiligen und unverbrüchlichen Charakter zu verleihen, können nie darüber hinausführen, daß das Recht ein menschliches Wollen ist. Es entstammt dem bedingten Verlaufe des Menschendaseins und ist von ihm aus zu begreifen und zu begründen. Einer geläuterten religiösen Anschauung kann nur die Annahme einer göttlich gesetzten Aufgabe entsprechen, wonach die Menschen ihr rechtliches Wollen, das sie selbst zu verantworten haben, leiten und bewähren sollen. III. Besondere Beachtung verdient F ß . J. STAHL (1802—1862). Philosophie des Rechtes, 3 Bde., 3. Aufl. 1854; — Politische Reden und viele Abhandlungen; — Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, Vorlesungen, nach seinem Tode 1863 herausgegeben. Er lehrte: Das Recht ist die Lebensordnung des
13. Die theokratische Rechtsauffassung.
61
Volkes zur Erhaltung von Gottes "Weltordnung. Es ist bestimmt durch Gottes Gebote, gegründet auf Gottes Ermächtigung (II, 194). Es hat verbindende Kraft, weil es die göttliche "Weltordnung aufrecht zu erhalten dient, wozu jedes, auch das schlechteste Recht etwas beiträgt (II, 220). Das Reckt entspringt aus dem Bewußtsein, ein Gebot Gottes (wo der Gottesglaube fehlt, eine sittliche Notwendigkeit) zu erfüllen, dem man gebunden ist, nicht als beliebige Einrichtung, nicht als bloßer menschlicher Schutz und Nutzen (II, 234). Der Staat ist eine göttliche Institution. Sein Ansehen gründet sich auf göttliche Anordnung, wenngleich nicht auf Gottes unmittelbare, die Natur durchbrechende Tat. Insbesondere hat die Obrigkeit ihre Gewalt von Gott; sie ist von Gottes Gnaden. Das rechte Prinzip ist danach: Autorität, nicht Majorität. (III, 176ff.) Nach STAHL bezieht sich die Sanktion Gottes nicht nur auf die Einrichtung des Staates überhaupt, sondern auf dessen bestimmte Verfassung. Auch für die letztere in ihrer Besonderheit sei als höhere Ursache göttliche Fügung vorausgesetzt. Mit der Gründung einer bestimmten Verfassung löse sich der Staat von dem ihn gründenden Menschenwillen ab und stütze sein Gelten nicht auf diesen letztgenannten, sondern auf den göttlichen Willen. Solange noch nichts besteht, hätten allerdings die Menschen Macht und Fug, diese oder jene
13. Die theokratisohe Rechtaauffaaaung.
62
"Verfassung festzusetzen; sobald das geschehen und ein Staat geworden ist, seien sie und ihre Nachkommen diese nun bestimmten
an
Staatsgesetze gebunden, eben
weil der Staat göttliche Ordnung sei (III, 178). IV.
Die Lehre
STAHLS
will eine s y s t e m a t i s c h e
Begründung des Rechtes geben.
Mit der soeben er-
wähnten Abscheidung eines vormaligen geschichtlichen Zustandes ohne bestimmte Staatseinrichtungen wird das aber widerspruchsvoll durchbrochen und mit der Frage nach der H e r k u n f t von bedingtem rechtlichen Wollen durchquert.
Der Satz von dem göttlichen Ansehen der
Obrigkeit konnte auch nach den STAHLSchen Prämissen nur besagen, daß sich der geschichtlich Rechtszwang als lasse.
Aber
Ausführung.
solcher
STAHL
vorliegende
allgemeingültig begründen
gibt hierfür keine befriedigende
Die Behauptung, daß auch schlechtes
Recht die göttliche Weltordnung unterstütze, schwebt in der Luft und ist nicht geeignet, den grundsätzlichen Vorzug des r e c h t l i c h e n Wollens vor dem nur k o n ventionalen zu beweisen (s. § 17, IV). Für den Rechtsinhalt will die philosophie die Wissenschaft
STAHL sehe
Rechts-
des Gerechten sein (I, 1).
Wie hiermit die bedingungslose Unabänderlichkeit einer einmal von den Menschen gewählten Rechtsverfassung zu vereinigen sei, bleibt undeutlich.
Es ist nicht ein-
zusehen, weshalb bei einer Änderung und bei neuen
14. Die Freiheitslehre.
63
Möglichkeiten des Zusammenwirkens nicht auch andere Rechtsbestimmungen erforderlich werden, deren innere Berechtigung für die veränderte Sachlage gerade wissens c h a f t l i c h zu begründen ist. Dann freilich ist die Ausarbeitung der bedingenden Methode einer überzeugenden Beweisführung notwendig, ohne welche die bloße Verweisung darauf, daß auch Recht und Staat in die Einheit der göttlichen Weltordnung sich einfügen müssen, der eben gestellten Aufgabe nicht genügt. § 14.
Die Freiheitslehre. I. Zunächst aufgekommen als F r e i h a n d e l s s c h u l e im 18. Jahrhundert in Frankreich. Besonders ausgeführt bei ADAM SMITH, Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations (1776). Im 19. Jahrhundert durchgesetzt als Manchesterlehre (COBDEN 1836). Die Grundlage aller Politik sei freies Walten der wirtschaftlichen Kräfte mit- und gegeneinander, wodurch nach innerer Notwendigkeit eine Harmonie der Interessen sich herausstellen werde. Die staatliche Gesetzgebung habe nur die veralteten Hindernisse des freien Wettbewerbes, sowohl im Innern, als im internationalen Verkehr, wegzuräumen und den Bruch des Rechtes zu verhüten (Laissez faire, laissez aller, — Nachtwächter-
64
14. Die Freiheitslehre.
Staat). — Gegensatz (besonders seit 1872): Die ethische Nationalökonomie oder der Katheder Sozialismus. II. Allgemeiner WILH. VON HUMBOLDT ( 1 7 6 7 bis 1835) in dem Buche: Ideen zu einem Versuche, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen; bes. das. § II a. E. Er meint, daß die währe Vernunft dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andere Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihr jeder einzelne, nach dem Maße seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechtes, selbst und willkürlich gibt.
III. Die ökonomische Freiheitslehre übersieht, daß es für die soziale Betrachtung eine unbedingte Freiheit gar nicht geben kann. Das gesellschaftliche Dasein der Menschen ist ein Zusammenwirken. Es ist sonach nur möglich, wenn ein ordnendes Wollen die einzelnen Willensinhalte als Mittel füreinander verbindet; andernfalls blieben lauter vereinzelt gedachte Individuen übrig. Demgegenüber genügt auch nicht die Aufstellung, daß der Staat Recht und Pflicht habe, aus sittlichen Gründen in das freie Getriebe der Volkswirtschaft einzugreifen.
65
14. Die Freiheitslehre.
Denn einmal bleibt dabei die Berufung auf s i t t liche Erwägung ohne kritische Klarstellung dieses Begriffes in seinem Verhältnis zu der sozialen Frage (vgl. § 7, III). Zum anderen ist das rechte Verhältnis von Wirtschaft und Recht nicht getroffen. Das Recht greift nicht in die Volksmrtschaft ein, als in eine Tätigkeit, die außerhalb des Rechtes als ein Organismus bestände, — sondern Volksmrtschaft ist nur als A u s f ü h r u n g einer bestimmten Rechtsordnung denkbar (vgl. § 16, IV; 17, I). Die Einheitswirtschaft von Zentralpunkten aus und die Überlassung der sozialen Beiträge an die Entschließung der Einzelnen sind nur zwei logisch einander gleichstehende Mittel und Wege, deren die rechtliche Regelung des Zusammenwirkens sich bedienen mag. Ohne die logische Bedingung des rechtlichen Verbindens besteht aber der Begriff der Gesellschaft und der sozialen Wirtschaft überh a u p t nicht. IV. Für die Ausgestaltung der rechtlichen Ordnung ihrerseits ist der Freiheitsgedanke unbrauchbar. 1. Er widerstreitet dem Begriffe des Rechtes. Dieses besitzt die Eigenschaft der Selbstherrlichkeit. Das rechtliche Wollen verbindet die Zweckinhalte in einer bleibenden Art, die von der Zustimmung der Unterstellten von Fall zu Fall unabhängig ist. Diese STÄMMLER, Bechta- und Staatstheorien. 2. Aufl.
5
66
14. Die Freiheitslehre.
Zwangsregelung grundsätzlich beizubehalten und ihr doch zugleich die u n b e d i n g t e F r e i h e i t der rechtlich Verbundenen zum Inhalt zu geben: heißt einen unlösbaren "Widerspruch setzen. 2. Es taugt der Gedanke der a b s o l u t e n F r e i h e i t aber auch keineswegs zum idealen Ziel des rechtlichen Wollens. Denn die hier gemeinte Freiheit wäre eine äußere. Sie, zum P r i n z i p erhoben, würde mithin die grundsätzliche Gestattung mit sich führen, in seinem äußeren Wirken nach persönlichem Willensinhalte vorzugehen. So würde sie das Gegenteil des gesuchten Maßstabes für ein o b j e k t i v r i c h t i g e s Wollen sein. Wollte man aber die Lehre HUMBOLDTS SO verstehen, daß das Recht die Verbundenen n i c h t u n n ö t i g einengen, sondern ihnen soweit n u r t u n l i c h Freiheit gewähren sollte, so hätte man in Wahrheit ein anderes, bis dahin noch ungeklärtes Richtmaß eingeführt. Jene gewisse Freiheit von nur verhältnismäßiger und von schwankender Bedeutung wäre nun bloß ein b e d i n g t e s M i t t e l ; über seine Art und rechte Anwendung ist dann nach jenem anderen, darüber stehenden Prinzip, das ein r i c h t i g e s Zusammenleben bedingt, im besonderen Fall erst noch zu befinden.
67
15. Der Mehrheitsstaat.
§ 15.
Der fflehrheitsstaat. I.
Bei
manchen
praktischen
Politikern
waltet
offenbar die Meinung ob, in der Berufung auf die Mehrheit eine a l l g e m e i n g ü l t i g e
Staatsauffassung zu besitzen
und mit jener Berufung den B e g r i f f und das P r i n z i p des Rechtes angegeben zu haben.
Dann schwebt vor:
Wo Mehrheit ist, da ist auch Recht; und: Was die Mehrheit beschließt, das ist i n n e r l i c h r i c h t i g . Es ist festzustellen, daß sich derartige Auffassungen im Laufe des letzten Jahrhunderts weithin ausgebildet haben.
Sie
mögen vielfach sich
in vulgärer Grund-
stimmung finden (öfter wohl mit dem Postulat materialer Gleichheit (§ 9IV) zusammen), es hat jedoch kein nennenswerter "Vertreter einer Rechts- und Staatstheorie sich solches zu eigen gemacht.
Auch
ROTTECK,
DAHL-
MANN und andere freisinnige Politiker der damaligen Zeit, die von Volkssouveränität und Volksherrschaft handeln, stehen der vorhin skizzierten Lehre von der Mehrheit fern.
Sie führt ihr zahlenmäßig nicht unbe-
deutendes Dasein und Wirken nur in Äußerungen flüchtiger Tagespolitik und in Ausführungen von sachlich unbedeutender Art. Dagegen ist die Forderung, in der Mehrheit das Merkmal von R e c h t und G e r e c h t i g k e i t zu sehen, 5*
68
15. Der Mehrheitsstaat.
gerade von den größten und schärfsten Denkern abgelehnt und bekämpft worden. So von PLATON (Politikos c. 26ff.) und ROUSSEAU (oben § 8 ) ; — s. auch GOETHE, Epigramme Nr. 52, 5 4 . SCHILLER im Demetrius. — Vgl. noch STAHL (§ 13, III): Autorität, nicht Majorität. II. In Wahrheit liefert die Berufung auf die Mehrheit weder das Merkmal für den Begriff des R e c h t e s , noch auch dasjenige für die I d e e der G e r e c h t i g k e i t . Das R e c h t bedeutet ein verbindendes Wollen mit s e l b s t h e r r l i c h e m Charakter (§ 8, III; vgl. § 17). Sein Begriff erschöpft sich nicht in dem Z u s a m m e n z ä h l e n vieler Abstimmender, es ist etwas anderes, als eine Summe von einzelnen Zustimmungserklärungen oder gar von gesonderten persönlichen Meinungen dieser oder jener Mehrzahl. Der ideale Gedanke der G e r e c h t i g k e i t läßt sich in keiner Weise beschreiben als das Begehren einer gewissen z a h l e n m ä ß i g e n Mehrheit. Dabei würde sonst eine einfache Verwechslung von Q u a n t i t ä t und Qual i t ä t vorliegen. Die Grundaufgabe aller Politik geht auf das Bewirken g u t e r Zustände. Bloß deshalb, weil ihrer viele etwas meinen und begehren, braucht es noch nicht g u t zu sein. III. Die Entscheidung irgendeiner Mehrheit kann höchstens ein b e d i n g t e s M i t t e l sein. Dann muß
15, Der Mehrheitsstaat.
69
behauptet und bewiesen werden, daß u n t e r gegebenen g e s c h i c h t l i c h e n B e d i n g t h e i t e n , die gerade in Frage stehen, das sachlich b e s t e Ergebnis erzielt wird, wenn man die Mehrheit einer näher bestimmten Menge von Menschen einfach abzählt. Das demokratische P r i n z i p ist dann als P r i n z i p verlassen. In Wahrheit wird nun ein ganz anderes P r i n z i p für die Rechtfertigung des Mittels einer gewissen Mehrheit eingesetzt, welches P r i n z i p aber von denen, die als l e t z t e n Gedanken bis dahin n u r die Mehrheit genannt haben, noch gar nicht klar zum Ausdruck gebracht worden ist. IV. In jedem Falle, da man nun das Mittel einer zahlenmäßigen Mehrheit einsetzen will, muß gefragt werden: wie beschaffen die Abstimmenden sein sollen, deren Mehrheit entscheiden soll. Irgendwie müssen sie bestimmt werden, und zwar selbst wieder durch historisch bedingte r e c h t l i c h e Einrichtungen von positiver Art. Ein natürliches Recht, an staatlichen Abstimmungen teilzunehmen, gibt es hier so wenig, wie sonst überhaupt (§ 10, III); und zwischen der Feststellung, daß jemand dem physiologischen Begriff Mensch entspricht und zwischen der rechtlichen Einrichtung des aktiven und passiven "Wahlrechtes besteht an sich nicht der geringste Zusammenhang. Wieder kann lediglich gefragt werden: welches voraussichtliche Ergebnis dieses oder jenes Systems der Abstimmungen, durch diese oder
70
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
andere Abstimmenden, nach der Idee eines harmonischen Zusammenlebens in der gerade geschichtlich gegebenen Lage den Vorzug verdiene. Einer aprioristischen Entscheidung, die allgemein für alle Menschen und Völker Geltung hätte, entzieht sich auch diese Frage durchaus.
§ 16.
Die materialistische Geschichtsauffassung. Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859). — MARX und ENGELS, Das kommunistische Manifest (1848). — ENGELS, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (1878); hieraus drei Kapitel in Sonderausgabe unter dem Titel: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Die materialistische Anschauung der Geschichte geht von dem Satze aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. I . MABX,
Der Mensch ist hiernach ein mit sozialen Instinkten
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
71
ausgerüstetes Lebewesen; mit Trieben versehen, die ihn zu einer andauernden Geselligkeit mit seinesgleichen bewegen; — welchen sozialen Antrieben er folgt, um den Kampf um das Dasein besser führen zu können. Darum komme es bei aller sozialen Betrachtung im l e t z t e n Grunde auf die Art der sozialen Wirtschaft an. Vor allem ist das Recht eines Volkes nach jener Lehre durch die Besonderheit wirtschaftlicher Verhältnisse bedingt. Den äußeren Erscheinungen im Räume sollen also
im sozialen Leben die ökonomischen
Phänomene
ent-
sprechen. Sie, die sozialwirtschaftlichen Erscheinungen, sind, nach dem sozialen Materialismus, Naturgebilde. Sie entstehen, bewegen und verändern sich und gehen unter, — alles in naturwissenschaftlich zu erforschenden Prozessen. In ihrer Gesamtheit bilden sie die Materie des sozialen Daseins der Menschen; in ihrem Leben und Vergehen stellen sie deren Bewegungen dar. Eine w i s s e n s c h a f t l i c h e Betrachtung des sozialen Lebens müsse also im letzten Grunde immer auf die gesetzmäßige Erforschung von ökonomischen Phänomenen zurückgehen. Dabei verkennt diese Lehre durchaus nicht die maßgebliche Bedeutung der Ideen im weitesten Sinne
72
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
des "Wortes; sie leugnet keineswegs das Auftreten idealer Ziele in menschlichen Vorstellungen und Bestrebungen, noch auch übersieht sie die Tatsache, daß solche Ideen oftmals die nächsten Gründe für die historisch vorliegenden Rechtsänderungen abgegeben haben und immer abgeben werden. Aber sie meint, daß die gemeinsamen Geisteserscheinungen in der Menschengeschichte nichts als widergespiegelte Abbilder der wirtschaftlichen Verhältnisse seien. Es seien Beflexwirkungen der ökonomischen Phänomene. II. MARX war bei dem Entwerfen seiner Lehre von HEGEL ausgegangen. Vgl. dessen Grundlinien der Philosophie des Rechtes (1821); dazu Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, nach seinem Tode (zuerst 1837) herausgegeben. Diese Philosophie nimmt folgende Sätze zu ihrer Unterlage: a) Der Grund der Welt ist die V e r n u n f t . Sie ist a b s o l u t e s Subjekt. Das Absolute ist der sich selbst offenbarende Geist. Nur dieser existiert bleibend und wahrhaft, aus ihm ist alles abzuleiten, ihm allein kommt seinem Wesen nach Wirklichkeit zu (daher der Satz: was vernünftig ist, ist wirklich, und umgekehrt). — b) Die Vernunft verwirklicht sich selbst. Dabei findet ein stetes Werden statt. Die Welt stellt einen Entwicklungsprozeß dar (nicht in dem späteren Sinne der Deszendenzlehre), nämlich die Selbstbe-
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
73
wegung des Absoluten. — c) Dieses beständige Sichanders-werden des Absoluten geschieht in dialektischer Art. Jeder Begriff trägt sein Gegenteil schon in sich. Er muß an einem gewissen Punkte in sein Gegenteil umschlagen. Danach geht die dialektische Entwicklung der Dinge so vor sich, daß ein Begriff sich selbst bestimmt, Bestimmungen in sich setzt und dieselben wieder aufhebt und durch dieses Aufheben selbst eine
affirmative,
und zwar reichere, konkretere Bestimmung gewinnt (Philos.
d. Gesch., Einl.); — etwa so: daß ein Satz als wahr gesetzt wird, dieser Position tritt der negierende Zweifel gegenüber; es muß eine Negation der Negation einsetzen, wir sind genötigt, ein Drittes und Höheres zu suchen. Diese Betrachtungsweise sollte nun auf das Recht und auf die Geschichte der Menschheit angewandt werden. Dem subjektiven Willen des Individuums stellen sich die selbständigen Zwecke des objektiven Geistes gegenüber, und beide erfahren ihre dialektische Synthese in dem dadurch gewonnenen Reiche der verwirklichten Freiheit (Rphilos. § 4). Das Recht ist etwas Heiliges überhaupt, allein, weil es das Dasein des absoluten Begriffes, der selbstbewußten Freiheit ist (das. § 30).
Die Weltgeschichte zerfällt in vier Perioden: die orientalische, griechische, römische, germanische Welt. Sie entsprechen den Stufen des Knaben, Jünglings,
74
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
Mannes, Greises, wobei das letzte Lebensalter die vollkommene Reife des Geistes bedeute. In der Weltgeschichte sei es vernünftig zugegangen (Philos. d. Gesch. Einl.). Die wirkliche Geschichte beginnt mit dem Staate. Den Begriff der "Weltgeschichte erhalten wir in dem dialektischen Sich-setzen des konkreten Geistes eines Volkes, seinem durch ein Sich-wissen geschehenden Untergange und dem Hervortreten eines anderen welthistorischen Volkes. Die Prinzipien der VolJcsgeister sind um ihrer Besonderheit willen, in der sie als existierende Individuen ihre objektive Wirklichkeit und ihr Selbstbewußtsein haben, überhaupt beschränkte, und ihre Schicksale und Taten in ihrem, Verhältnisse zueinander sind die erscheinende Dialektik der Endlichkeit dieser Geister, aus welcher der allgemeine Geist, der Geist der Welt, als unbeschränkt ebenso sich hervorbringt, als er es ist, der sein Recht, — und sein Recht ist das allerhöchste, — an ihnen in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt (Rphilos. §340). Die HEGEL sehe Philosophie ist ohne k r i t i s c h e F r a g e s t e l l u n g ausgeführt. Sie erörtert nicht die Möglichkeit von allgemeingültigen Erkenntnissen und die Grenzen, in denen eine absolut richtige Einsicht überhaupt bestehen kann. Sie stellt ihre Behauptungen u n b e g r ü n d e t hin. Das tritt in ihrer ganzen Eigenart entscheidend
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
75
hervor: a) Das Zurückgehen auf das Absolute "bleibt ungeklärt. Auch der Gedanke des U n b e d i n g t e n ist ein Gedanke, der zu anderen in ein Verhältnis gesetzt werden soll; auch er untersteht der Notwendigkeit eines gleichmäßigen Ordnens des Bewußtseins (vgl. auch § 5, I). Die Einheit dieses Ordnens — nach altem Sprachgebrauche: der Gedanke der Gesetzmäßigkeit — ist das Letzte, auf das die theoretische Erwägung gegründet zu werden vermag. — b) Der Begriff der Entwicklung hat einen verständlichen Sinn nur bei der Frage nach der Annäherung eines Zustandes an eine Zweckbestimmung. Er fügt sich somit als eine besondere Ausführung in den Rahmen der Gedanken von Zielen und Mitteln ein; er steht unter diesen und bietet für sich nicht eine oberste Spitze der Betrachtung. — c) Die Dialektik ist als allgemeingültige Methode unbewiesen und undeutlich. Da ihr eine kritische Grundlage fehlt, so kann sie ihr Zutreffen nur auf vages Beobachten dieser oder jener Geschehnisse und Überlegungen stützen. Das Umschlagen in das Gegenteil gibt aber weder eine Anleitung für den gewissen Punkt, an dem es geschehen möge, noch auch sagt es deutlich, ob die N o t w e n d i g k e i t dieses Geschehens nun als eine k a u s a l e oder als eine finale oder wie sonst gemeint sei. Gegenüber der k r i t i s c h e n Methode weist die
76
Die materialistische Geschichtsauffassung.
Betrachtungsweise
HEGELS drei sichere
Mängel
auf:
a) Sie kennt nicht die Analyse der Bewußtseinsinhalte nach F o r m und S t o f f . Die erstere ist die b e d i n g e n d e A r t , in der ein gegebenes Etwas einheitlich bestimmt werden kann, der Stoff ist der nach der Form bestimmte B e s t a n d t e i l eines G e d a n k e n s (vgl. § 1, II). Nur von den r e i n e n F o r m e n des Ordnens unseres Geisteslebens vermag es ein a b g e s c h l o s s e n e s S y s t e m zu geben.
Denn das System ist eine erschöpfend ge-
gliederte Einheit.
Die dazu nötige
Vollständigkeit
kann dem laiabgeschlossenen S t o f f e der Eindrücke und Strebungen als solchem niemals zukommen. Die Unhaltbarkeit der Aufstellung eines Systems
stofflich
b e d i n g t e r I n h a l t e und die damit gegebene Vernachlässigung des guten Rechtes der e m p i r i s c h e n
For-
s c h u n g hat seinerzeit zu dem begründeten Sturze der HEGELSchen Metaphysik mit Recht wesentlich beigetragen. — b) Sie bekümmert sich nicht um die Scheidung
der
systematischen
und
der
genetischen
Frage. Die Erwägung des W e r d e n s eines Dinges baut sich auf seinem Wesen auf und setzt dieses logischerweise voraus.
Die V e r ä n d e r u n g eines Gegenstandes
kann nur seine unwesentlichen Zutaten betreffen, die an die Einheit seiner bleibenden Bestimmungen sich anfügen. Es führt nicht zu klarer Einsicht, wenn die genannten b e i d e n Richtungen der Erwägung in der
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
77
einen Auffassung eines Entwicklungsprozesses v e r m e n g t werden. — c) Sie geht fehl in dem Verhältnisse von Idee und W i r k l i c h k e i t . Die R e a l i t ä t des Erlebens besteht in dem Gedanken der g e o r d n e t e n B e d i n g t h e i t e n . Die Vorstellung der u n b e d i n g t e n Allheit der jemals möglichen Besonderheiten — das ist die Idee — bedeutet nur eine Aufgabe und gibt eine A n l e i t u n g zum Ordnen. Sie liefert den B l i c k p u n k t , nach dem man sich richten mag, aber sie kann, gerade in ihrer U n b e d i n g t h e i t , nie innerhalb der b e d i n g t e n Vorkommnisse restlos sich zeigen. Die Verwirklichung der Idee ist, in klarer Erfassung der letzteren, überhaupt nicht zu erreichen. Das Ewige ist in der Eigena r t des d a m i t b e z e i c h n e t e n Gedankens niemals gegenwärtig (wie HEGEL, Vorr. z. Rphilos. sagt), — es bezeichnet nur die gedachte Richtlinie, nach der ein Gegenwärtiges, das immer bedingt und begrenzt ist, beurteilt und geführt werden mag. III. Die wichtigste Einzelanwendung der materialistischen Geschichtsauffassung liegt in dem modernen (wissenschaftlichen) Sozialismus vor. Mit folgendem Gedankengange: 1. Die soziale Wirtschaft der Neuzeit ist zum großen Teile schon sozialisiert und wird dieses immer mehr; das heißt: die Produktion erfolgt in planmäßig organisierten ökonomischen Einheiten (Fabriken, Groß-
78
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
grundbesitz, Großhandel usw.), in denen Menschen zu gemeinsamer Arbeit zusammengefaßt werden. Diese ökonomischen Einheiten schwellen für sich stetig an und verringern sich zugleich an Zahl. Trotzdem besteht noch die alte Rechtsordnung, die sich darauf gründete, daß die Werkzeuge der Produktion dem Arbeitenden gehörten, und die deshalb ihm das Produkt zusprach. So entsteht ein sozialer Konflikt zwischen der angegebenen wirtschaftlichen Grundlage und dem über ihr schwebenden Rechte; ein Konflikt, der in den industriellen und kommerziellen Krisen sichtbar zum Ausdrucke kommt. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln paßt nicht mehr zu der veränderten Sozialokonomie, es ist w i r t s c h a f t l i c h v e r a l t e t . 2. Das gesetzmäßige Wesen der modernen ökonomischen Phänomene, das ist planmäßiges Zusammenwirken vieler auf berechnete Ziele, steht im Konflikt mit der Anarchie der Produktion auf dem Weltmarkte". So ist es ein n a t u r n o t w e n d i g e r Prozeß, daß diese Anarchie fällt, was nur durch Kollektivierung der Produktionsmittel geschehen kann. IV. Die materialistische Geschichtsauffassung ist u n f e r t i g und n i c h t a u s g e d a c h t . 1. Sie ist u n f e r t i g ; denn sie verwendet ihre grundlegenden Begriffe, wie Gesellschaft, ökonomische Phänomene, soziale Produktionsweise usw., ohne diese
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
79
nach einheitlich bedingenden Merkmalen klarzustellen. Eine kritische Besinnung hierauf zeigt, daß die soziale Erwägung eine solche des Verbindens von menschlichen Zwecken ist. Die soziale Frage gehört nicht zur Natur-, sondern zur Zweck Wissenschaft. Das Verhältnis von Wirtschaft und Recht ist nicht das von Untergrund und Überbau. Vielmehr kann soziale Wirtschaft n i c h t g e d a c h t werden ohne eine bestimmte rechtliche Art, nach der sie sich ausführt. Jeder ökonomische Begriff setzt gewisse rechtliche Einrichtungen voraus, mit deren Wegdenken er selbst unweigerlich verschwinden würde. Nicht aber ist das Umgekehrte der Fall. In diesem Sinne ist das Recht die F o r m ( = logisch bedingende Weise), die Wirtschaft dagegen der Stoff ( = logisch bedingter Gedanke) in der Vorstellung des g e s e l l s c h a f t l i c h e n Daseins der Menschen. Beide sind in dem Begriffe des Z u s a m m e n w i r k e n s von selbst und in gleichzeitiger Entstehung enthalten, aber mit dem oben genannten verschiedenen logischen Rangverhältnis zueinander (vgl. § 14, III; auch § 17, I). ö k o n o m i s c h e P h ä n o m e n e bedeuten nicht Naturdinge im Sinne räumlicher Wahrnehmungen. Es sind gleichheitliche Massenerscheinungen in r e c h t lich g e o r d n e t e n Beziehungen. Sie bilden sich in der Ausführung eines geschichtlich gegebenen sozialen
80
16- Die materialistische Geschichtsauffassung.
Lebens. Ihnen entstammen Bestrebungen auf Änderung der unterliegenden • Rechtsordnung. Wenn solche Bestrebungen erfolgreich sind, bilden sich unter dem neuen Rechte andere wirtschaftliche Erscheinungen des genannten Sinnes; und es ergibt sich also ein unabgeschlossener Kreislauf des sozialen Lebens. 2. Sie ist n i c h t a u s g e d a c h t ; denn sie hat den Gedanken der G e s e t z m ä ß i g k e i t des sozialen Lebens nicht folgerichtig ausgebaut. G e s e t z m ä ß i g k e i t besagt die oberste einheitliche Weise, in der besondere Erlebnisse sich ordnen. Eine gesetzmäßige Erfassung sozialer Bestrebungen wird nicht einfach durch eine Einsicht in ihren Werdegang geliefert; so wenig, wie die Erkenntnis des Werdens eines naturwissenschaftlichen Lehrsatzes dessen i n h a l t liche R i c h t i g k e i t verbürgt. Auch Irrtum und verwerfliches Streben entstehen kausal notwendig. Eine soziale Änderung ist dann w i s s e n s c h a f t l i c h begründet, wenn sie in ihrem Inhalte notwendig ist, um gegebene Zustände mit dem Grundgedanken des sozialen Lebens — der Idee reiner Gemeinschaft (§10, IV) — in Einklang zu setzen. Dies ist bei der Klarlegung einer kritisch begründeten Geschichtsauffassung zu bewähren. Die soziale Geschichte betrachtet den Fortgang der Art des menschlichen Zusammenwirkens. Sie ist so-
81
16. Die materialistische Geschichtsauffassung.
nach eine G e s c h i c h t e v o n Z w e c k e n .
Jedes einzelne
Ziel kann auch nach der Seite seiner ursächlichen Bestimmung naturwissenschaftlich erörtert werden:
das
G a n z e der sozialen Geschichte ist jedoch eine fortlaufende Kette menschlicher Bestrebungen. In welchem Sinne kann nun die Menschengeschichte als ein einheitlicher Entwicklungsprozeß erfaßt werden, — was i s t die Geschichte der Menschen? Sie selbst ist ja nicht ein einfacher Naturvorgang, als eine einzige Wirkung unter einer bestimmten Ursache. Aber sie kann auch nicht als ein fortlaufendes natürliches Werden genommen werden, bei dem n i c h t s als
Ursachen und Wirkungen
denn sie soll ja die zeitliche
wahrzunehmen
wären,
Folge der gesellschaft-
lichen B e s t r e b u n g e n , in Betrachtung von Zielen und Mitteln, wiedergeben. Der Ausspruch, daß alle (schriftlich überlieferte) Geschichte eine solche von Klassenkämpfen gewesen sei, löst das Problem keineswegs.
Dieser Satz sagt weiter
nichts, als daß die Bestrebungen auf Erhaltung oder Änderung einer sozialen Regelung stets e i n a n d e r e n t g e g e n g e s e t z t gewesen sind. Daß dieses in geordneten Gesellschaften dann nach Klassen geschieht (gleichviel, ob man darunter alle sozialen Gruppen oder nur einen beliebig angenommenen Teil von ihnen versteht), läßt wiederum die Präge offen: welche der einander beStammleb, Hechts- und Staatstheorien. 2. Aufl. 6
82
16- Die materialistische Geschichtsauffassung.
kämpfenden Bestrebungen einen grundsätzlichen Vorzug besitze ? Hierfür haben wir, wie dargelegt, als unbedingt gemeinsam führende Richtlinie nur die Idee der "Willensreinheit (§2, IV), die für das soziale Leben als der ideale Gedanke einer Gemeinschaft frei wollender Menschen hervortritt (§ 10, IV). Nennt man das nach ihr gerichtete Zusammenwirken das gemeinschaftliche Wollen, so ergibt sich: Die Geschichte der Menschen ist das Fortschreiten ihres gemeinschaftlichen "Wollens. Ein besonderes geschichtliches Ereignis ist dann wissenschaftlich bestimmt, wenn es in seinem Einfügen oder in seinem "Widerspruch zu jenem Grundgedanken eingesehen wird. Eine unbedingte Sicherheit dafür, daß die Menschheit immer auf dem "Wege des geschichtlichen Portschrittes sein werde, gibt es nicht. Aber man darf nach aller Beobachtung doch darauf vertrauen, daß der Zug nach dem Richtigen sich immer stärker und sicherer bewähren wird. Freilich ist alsdann eine durchgreifende Unterscheidung nötig und bedeutsam. Die kritische Grundlegung der "Wissenschaft bietet, ebenso wie die letztere selbst, nur Möglichkeiten, zu objektiv richtigen Ergebnissen zu gelangen. Daß man diese Möglichkeiten benutzen müsse, das entzieht sich der theoretischen
17. Die Theorie des Anarchismus.
83
Begründung. Sie selbst kann keine Antwort auf die Zweifelsfrage geben: weshalb die Menschen auf Wahrheit und Gerechtigkeit bedacht sein sollen? Hier öffnet sich der Zugang zu einem anderen Gedankenreiche, dessen Beherrschung einer Klärung des religiösen Empfindens zufällt. § 17.
Die Theorie des Anarchismus. I. A n a r c h i s m u s bedeutet die Vorstellung von einem sozialen Leben, das anders, als durch r e c h t liches Wollen, geregelt ist. Er ist von Anarchie zu trennen, welche unregelmäßige Zustände in einem rechtlichen Gemeinwesen besagt. Sein erster systematischer Vertreter ist Pboudhon (1809—1865). Aus zahlreichen Schriften hervorzuheben: Qu?est-ce que la propriété? Recherches sur le principe du droit et du gouvernement, 1840; de la création de Vordre dans l'humanité, 1843 ; les confessions d'un révolutionnaire, 1849; idée générale de la Révolution au XIXième siècle, 1851; de la justice dans la Révolution et dans VEglise, 1858. Er nimmt für das Zusammenleben der Menschen eine n a t ü r l i c h e Ordnung an. Der menschliche Verkehr, die wirtschaftliche Produktion und aller Handel und Wandel, würden schon an und für sich nach ge6*
84
17. Die Theorie des Anarchismus.
wisser zugrunde liegender Gesetzmäßigkeit sich abwickeln und in dem Falle, daß man sie absolut frei und ungestört gewähren ließe, in einer naturgemäßen Harmonie sich vollziehen. Diese Lehre widerlegt sich durch die Klarstellung des Begriffes Sozialwirtschaft, die nur die Ausführung einer sozialen Ordnung zu sein vermag und ohne die bedingende Unterlage eines verbindenden Wollens gar nicht gedacht werden kann (§ 14, III; vgl. § 16, IV). II. STIRNER (1806—1856), Der Einzige und sein Eigentum. Dieses Buch enthält den schärfsten Versuch, alle Autorität abzuschütteln, in dem Rechte, der Moral, der Religion. Das oberste Ziel ist ihm die unbedingte Freiheit des Individuums, des Ich, wie es gerade da ist. Sie erreiche weder der Liberalismus, der nur einen neuen Herrn in der Mehrheit einsetze, — noch der Sozialismus, der alle zu Lumpen gegenüber dem Alleineigentümer, der Gesellschaft, mache. Darum sei der Staat zu tilgen und zu ersetzen durch den Verein der Egoisten. Mit der Behauptung des empirischen Ich als obersten Gesetzes für das "Wollen verfällt STIRNER dem unausweichlichen Widerspruch, in dem jeder radikale Skeptizismus befangen ist. Er behauptet das nur subjektiv Gültige als das objektiv Richtige. Er
17. Die Theorie des Anarchismus.
85
verzichtet nicht auf die g r u n d s ä t z l i c h e R e c h t f e r t i g u n g eines gegebenen Bestrebens, denn alsdann würde überhaupt keine Erwägung und Erörterung über berechtigte Zielsetzung mehr möglich sein; aber er sieht jene in der Z u f ä l l i g k e i t , wie sie die besonderen Eigenschaften dieses oder jenes Menschen allein bieten können. III.
Der heutige Anarchismus baut sich auf PROTTOHON und STIRNER auf und sucht sie teilweise zu verschmelzen. Es gibt zwei Richtungen: 1. Der k o m m u n i s t i s c h e Anarchismus. Ihm schweben freie Gemeinschaften mit brüderlichem Zusammenleben vor, ohne Privatbesitz. Aus seinen Reihen geht die Propaganda der Tat hervor. 2. Der i n d i v i d u a l i s t i s c h e Anarchismus. Er denkt an bloß konventionale Gemeinschaften mit Privatbesitz. Sein Ziel erwartet er von dem geistigen Fortschritt der Menschheit. Diese Lehren geben eine besonders starke Anregung zur kritischen Erwägung des Verhältnisses der r e c h t lichen und der k o n v e n t i o n a l e n Organisation des sozialen Lebens. Es fragt sich, ob sich der selbstherrliche Anspruch der r e c h t l i c h e n Regelung als solcher — gleichviel welches ihr Inhalt ist — begründen läßt. S. ob. § 8, III, auch § 13, IV.
86
17. Die Theorie des Anarchismus.
IV. Das R e c h t des Rechtes. Man hat versucht, die Notwendigkeit einer r e c h t lichen Gemeinschaft dadurch zu begründen, daß der Rechtszwang unvermeidlich v e r u r s a c h t werde; es entstehe also das Streben nach ihm bei Machthabern, wie auch bei Unterworfenen. — Allein das Recht ist eine Art des menschlichen "Wollens. Darum kann es nur als ein notwendiges Mittel zu begründetem Zwecke gerechtfertigt werden; und das hat zu geschehen mit seinem Ansprüche der S e l b s t h e r r l i c h k e i t , also ohne Rücksicht auf die jeweilige Anerkennung der ihm Unterstellten, — und der U n v e r l e t z b a r k e i t , also der Unabhängigkeit von der Willkür eines Machthabers. Der Rechtszwang ist nicht ein unerläßliches Mittel zu möglicher Sittlichkeit. Denn die letztere hat es mit dem Innenleben der Menschen zu tun (vgl. § 7, III). Auch kann nicht etwa die Erziehung zu gutem "Wollen das Recht als solches rechtfertigen; denn das Problem ist gerade dieses: wie der Rechtszwang ohne alle R ü c k s i c h t auf den I n h a l t eines bestimmten Rechtes an und f ü r sich begründet werden könne. lehrt, daß ohne Recht ein bellum omnium, contra omnes sein würde (s. § 4 , II — zustimmend K A N T , der Idee des menschlichen Zusammenlebens zufolge). Allein die Anzweiflung des R e c h t s Zwanges läßt die HOBBES
17. Die Theorie des Anarchismus.
87
Möglichkeit einer sozialen Ordnung nach Willkür oder durch bloße K o n v e n t i o n a i r e g e l n noch offen. Die Frage spitzt sich sonach darauf zu: Ist die rechtliche Art des sozialen "Wollens eine notwendige Bedingung, um das Zusammenleben der Menschen g e s e t z m ä ß i g zu gestalten? Diese Präge ist zu bejahen. Bei den k o n v e n t i o n a l e n Regeln und bei den willkürlichen Geboten wird, nach dem Sinne dieser Wollensarten, alles in das s u b j e k t i v e B e l i e b e n der Verbundenen oder des Verbindenden gelegt. Sie bieten darum keine geeignete Grundlage für ein o b j e k t i v e s Ausgestalten der menschlichen Gesellschaft. Beide greifen nur von Fall zu Fall ein; es ist bei ihnen der B e s t a n d des sozialen Lebens als solcher nicht in einer a l l g e m e i n g ü l t i g e n , dem bloß persönlichen Ermessen entzogenen, Weise sicher gestellt. Im besonderen ist der anarchistische Vorschlag, nur konv e n t i o n a l e s Verbinden g r u n d s ä t z l i c h anzuerkennen, deshalb verfehlt, weil er die zufällige Befähigung zu freier Konvention bei einzelnen Menschen voraussetzt und sich nicht für die Regelung jedes denkbaren menschlichen Zusammenlebens in gleicher Weise eignet. Das r e c h t l i c h e Wollen weist dagegen seinem Begriffe nach die Eigenschaft des b l e i b e n d e n Verbindens auf. Es vermag jede denkbare Verknüpfung der Zwecke aller m ö g l i c h e n Menschen aufzunehmen, es
88
18. Der juristische Empirismus.
macht das gesellschaftliche Dasein an und für sich von irgendeinem subjektiven Belieben unabhängig und gewährleistet den Bestand des sozialen Lebens als solchen. Erst wenn dieses festgestellt ist, kann an die g e s e t z m ä ß i g e Ausgestaltung für den I n h a l t eines verbindenden Wollens gedacht werden. Darum ist das R e c h t in seiner Eigenart als unverletzbar selbstherrlich verbindendes Wollen das unentbehrliche Mittel zu möglicher G e s e t z m ä ß i g k e i t des sozialen Lebens: und hierin liegt seine a l l g e m e i n g ü l t i g e Begründung, hierdurch ist das R e c h t des R e c h t e s überhaupt dargetan.
§ 18.
Der juristische Empirismus. I. Unter E m p i r i s m u s versteht man die Grundanschauung: wonach von einzelnen Tatsachen auszugehen wäre, um aus ihrer voraussetzungslosen Feststellung ein Weltbild zu entwerfen und allgemeine Richtlinien für das Erkennen und das Wollen der Menschen zu erhalten. Diese Lehre ist in sich widerspruchsvoll und unhaltbar. Denn einen Eindruck als eine Tatsache behaupten, heißt: ihn nach einem grundlegend f e s t e n , formalen Verfahren e i n h e i t l i c h b e s t i m m e n . Es
18. Der juristische Empirismus.
89
ist nicht möglich, eine einzelne Tatsache für sich allein festzustellen, oder gar die Methode des Feststellens auf die E i n z e l h e i t e n zu gründen, die erst nach ihr geordnet sind. Vielmehr ist die Möglichkeit des e i n h e i t l i c h e n Ordnens unserer Gedankenwelt überall v o r a u s g e s e t z t . Sie ist in ihrer Eigenart durch kritische Selbstbesinnung zu klären, indem wir uns fragen: In welchen gleichmäßigen Formen ist jene Möglichkeit eines durchgängig harmonischen Bestimmens und Richtens verständlich? Dabei kommt es auf das logische Rangverhältnis zwischen E i n z e l h e i t und grundlegender Methode an; und nicht darauf, was jemand zeitlich zuerst erlebt. Das Ganze ist die logische B e d i n g u n g jeder E i n z e l h e i t , die erst durch das Einfügen in einen unbedingt festen Grundriß den Rang einer Tatsache erhält. II. Eine bloß empirische Richtung ist von manchen Schriftstellern dahin verfolgt worden, daß sie größere Zeiträume in deren hervorstechenden Eigentümlichkeiten schildern. Diese beschreibende Weise vollführen sie dann wohl auch für rechtliche Fragen, die bei verschiedenen Völkern in verhältnismäßig gleichen Zügen aufgetreten sind. So vor allem MONTESQUIEU ( 1 6 8 9 — 1 7 5 5 ) . Von ihm zu nennen: Lettres persanes, 1721: Satirische Schilderungen der zeitgenössischen, besonders französischen Zu-
90
18. Der juristische Empirismus.
stände, in Briefen, die ein angeblicher, im Abendlande reisender Perser in seine Heimat sendet. — Considérations sur les causes de la grandeur décadence,
1734. — De
Vesprit
des
Romains
des
lois,
et de leur 1748.
Hier
betrachtet er eine Menge geschichtlicher Rechtsordnungen, vergleicht sie und weist gewisse Übereinstimmungen bei ihnen auf. Er gelangt so zu Beobachtungen von bedingter Allgemeinheit. Sie betreffen sowohl den Inhalt, wie die Herkunft und die Ausbildung gewisser Rechts- und Staatseinrichtungen. Namentlich erörtert er dabei die abhängige Beziehung der Rechtsinstitute von unterliegenden staatlichen Regierungsformen und von natürlichen Beschaffenheiten eines Volkes und eines Landes. Die Gesamtheit dieser Beziehungen nennt er den Geist der Gesetze.
Alle derartigen Unternehmungen kommen jedoch über begrenzte Aufstellungen nicht hinaus. Sie vermögen keine Einsicht von unbedingter Gültigkeit für das Recht überhaupt zu liefern. Man kann durch das Vergleichen der Besonderheiten mehrerer Rechte gerade die Einzelheiten besser verstehen lernen; aber die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit, unter der alles denkbare Recht steht, wird dadurch nicht erlangt. III. Die Jurisprudenz der neueren Zeit ist häufig dem allgemeinen empirischen Zuge gefolgt. In ernstem
18. Die juristische Empirismus.
91
Bemühen vor allem ADOLF MERKEL (1836—1896). dessen
gesammelte Abhandlungen
auf
Vgl.
dem Gebiete der
allgemeinen Bechtslehre und des Strafrechts, 1899. Alsdann wird versucht, auch die l e t z t e n
Fragen
über das Wesen und die Bedeutung des Rechtes ausschließlich rechtliche
mit
einer
Urteile
Bezugnahme
und auf b e d i n g t e
auf
besondere
Erlebnisse
der
Satzungen,
bei
Rechtsgeschichte zu beantworten. IV. jedem
Allein
bei
allen
rechtlichen
Gedanken an ein rechtliches Wollen
überhaupt
ist der Begriff des R e c h t e s notwendig vorausgesetzt. J u r i s t i s c h denken heißt: einen Willensinhalt in seiner Eigenschaft als r e c h t l i c h e s Wollen einsehen. Den Begriff des R e c h t e s kann man jedoch nicht aus einer Reihe von rechtlichen nebeneinander
stellt;
Tatsachen herleiten, die man denn
bei
jeder
einzelnen
von
ihnen liegt bereits eine Bestimmtheit durch den Rechtsbegriff vor. Das gleiche gilt, wenn wir einen bestimmten Rechtsinhalt auf seine g r u n d s ä t z l i c h e R i c h t i g k e i t prüfen. Zu dem hierbei nötigen Maßstab taugt kein begrenztes Ziel, das in einer besonderen Rechtsaufstellung verfolgt wird.
Das unbedingt einheitliche Richtmaß kann nur
eine f o r m a l e M e t h o d e sein, in der man den mannigfaltigen
Stoff, der in
der
Geschichte
gegeben
wird,
g l e i c h m ä ß i g b e u r t e i l t (s. ob. § 2, I V ; 10, I I I und I V ) .
92
18. Die juristische Empirismus.
Die Behauptung, daß eine solche einheitlich bedingende Art und Weise kein Maßstab sein könne, ist falsch. Wenn ein Urteil richtig sein soll, so muß es nach einer kritisch gesicherten Methode gefällt sein, deren Beobachtung allein eine Gewähr für die sachliche Begründetheit jenes Urteils liefern kann. Der Einwand endlich, daß der Gedanke einer solchen leitenden Methode inhaltleer sei, ist unklar gedacht. Denn Inhalt ist die Eigenart, durch die sich der eine Gedanke von einem anderen unterscheidet; inhaltleere Gedanken gibt es überhaupt nicht. Hier liegt eine Verwechslung des Inhaltes mit seinen s t o f f lich bedingten Bestandteilen vor. Freilich gibt es Gedanken, die von den letzteren frei sind, — aber das ist es ja gerade, was wir in dem Forschen nach einem allgemeingültig messenden Verfahren haben wollten. Immer ist es also nötig, nach den reinen Formen des Begreifens und des Urteilens zu fragen, die für den Juristen unabänderlich feststehen und den stets wechselnden Stoff menschlichen Begehrens aufzunehmen haben, damit er als rechtlich und richtig geordnet vorliege. Das ist unmöglich, so lange man sich auf das Beobachten solcher, unwillkürlich schon geordneter, Einzelheiten beschränkt. Wir brauchen hier gleichfalls die Methode der kritischen Besinnung auf die Möglichkeit des einheitlichen Ordnens der Rechtsgedanken überhaupt.
19. Der Eealismus im Kechte.
93
§ 19.
Der Realismus im Rechte. I. Kikchmann (1802—1884): Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Vortrag, 1848; Die Grundbegriffe des Rechtes und der Moral als Einleitung in das Studium rechtsphilosofhischer Werke (2) 1873; Die Lehre vom Wissen (3) 1878. Grundlegendes Verfahren soll die I n d u k t i o n sein. Mit ihr sei der reale Inhalt und die reale Bewegung in der Entwicklung des Rechten und der Sittlichkeit zu erkennen. Aus geschichtlichen Tatsachen seien durch Abstraktion Gesetze zu gewinnen. Danach sei das Sittliche nicht von einem ewigen Prinzip oder von göttlichem Walten abzuleiten. Vielmehr sei das Sittliche auf Gebote der Fürsten und der Völker zurückzuführen. Es müsse deshalb immer veränderlich und überall verschieden sein. Die Veränderung werde durch drei Umstände bedingt: Durch die Vermehrung des "Wissens, durch die Vermehrung der Macht über die Natur und durch eine Veränderung der Empfänglichkeit für die Ursachen der Lust. Das beziehe sich gleichmäßig auf Recht und Moral. II. Wenn der R e a l i s m u s wirklich eine p r i n z i piell sioh heraushebende Richtung sein will, so sollte er nicht übersehen, daß er dann ein P r i n z i p braucht.
94
19. Der Realismus im Rechte.
Seine Lehre ist in selbstverständlicher "Weise von einh e i t l i c h o r d n e n d e n G e d a n k e n abhängig. Seine Eigenart besteht nur darin, daß er diese letzteren nicht sehen will. KIBCHMANN spricht doch von den allgemeinen Begriffen von R e c h t und Moral; und er sucht nach den Grundbegriffen beider. Also nimmt auch er in notwendiger Weise an, daß es f e s t b e s t i m m e n d e Gedanken gibt, die in g l e i c h m ä ß i g e r Weise den massenhaften und veränderlichen Stoff des geschichtlichen Erlebens bearbeiten und beherrschen sollen. Er nennt die auseinandergehenden sittlichen Anschauungen doch alle sittlich. Er faßt sie unter einem einheitlich bestimmenden Begriffe gerade da, wo er die v e r s c h i e d e n e A n w e n d u n g dieses Begriffes betonen zu müssen glaubt. Sonach besteht jede Vorstellung, sowohl des Wahrnehmens, wie des Wollens, als ein z u s a m m e n g e s e t z t e s Ganzes: Es ist in ihr — wenn anders eine klare Einsicht statthaben soll — eine bestimmende Methode mit einheitlich eingreifender Bedeutung vorhanden, und ferner, als zweites Element, sinnlich empfindbare Besonderheiten, die freilich auch schon irgendwie einheitlich geordnet sind und als ein ungeformter Stoff überhaupt nicht gedacht werden können. Die beiden genannten Elemente sind i m m e r v e r b u n d e n . Es ist nicht, wie man wohl gefragt hat, ein Wunder, daß sie
19. Der Realismus im Rechte.
95
zusammenkommen, weil sie in der empfindbaren Wirklichkeit niemals getrennt waren. Daß wir jedoch nur zusammengesetzte Erlebnisse haben und sie in kritischer Untersuchung auflösen können, hat weiter nichts Wunderbares an sich. Es bleibt sonach gegenüber jeder realistischen Betrachtungsweise eine eigenartige Aufgabe, sich der einheitlich ordnenden Methoden wissenschaftlicher Einsicht durch kritische Analyse zu versichern. Es geschieht im Wege einer prüfenden Besinnung, die auf die allgemeine Möglichkeit der durchgreifenden Ordnung des Geisteslebens gerichtet ist (vgl. §§ 1; 18). Im Wege der Induktion geht das freilich nicht. Man kann nicht den Begriff des Rechtes induktiv gewinnen, nämlich durch Nebeneinanderstellen vieler rechtlicher Erfahrungen, denen ihr gemeinsamer Begriff des Rechtes zu entnehmen wäre; denn bei jener Aufstellung hat man in jedem einzelnen Falle, den man beibringt, den Gedanken des Rechtes bereits als bestimmende Richtung des Begreifens vorausgesetzt. Und die Idee der Gerechtigkeit kann in ihrer Eigenart und mit ihren Gegensätzen nicht induktiv geklärt und beschrieben werden. Denn alle Induktion besteht darin, daß sie konkrete Erscheinungen unter übergeordnete Gattungen einordnet. Sie ist auf sinnlich empfindbare Materie beschränkt und kann
96
19. Der Realismus im Rechte.
die reinen Formen des Begreifens und Beurteilens nicht liefern. Dagegen ist zu betonen, daß zwischen Idealismus und Realismus überhaupt kein Gegensatz zu bestehen braucht. Es handelt sich hier wiederum nicht um ein Entweder = Oder, sondern um ein Sowohl = Als auch. Die Idee ist, wie wir hervorhoben (§ 10), nicht schöpferisch. Sie bedarf der sinnlich empfindbaren Materie, die ihr auch im sozialen Leben maßgeblich geliefert wird. Und dieser geschichtlich bedingte Stoff ist realistisch so gut wie möglich durchzuarbeiten. Hat einer nichts als Gefühl und Phantasie, so ist er namentlich in der Politik stets in Gefahr, ein schwärmerischer Weltverbesserer von bloß subjektiver Geltung zu werden. Andererseits ist für die gesamte Führung des realistisch bestens zu erkundenden Stoffes die Richtlinie der Idee des Guten unausweichlich. Wer ihrer entbehrt, gleicht dem Schiffsmann, der ohne Kompaß und Steuer fahren wollte. Aus dieser Verfehlung der genannten doppelten Aufgabe erklärt sich auch die verfehlte Stellung Kibchmanns in Sachen der Jurisprudenz als Wissenschaft. Er hat hier drei Bedenken: Der Stoff des Rechtes sei stets veränderlich; der R e c h t s i n h a l t sei nicht bloß im Erkennen, sondern auch im Fühlen; die positiven Rechtsnormen beruhten auf menschlicher Satzung.
97
19. Der Realismus im Rechte.
wußte wohl, daß die Eigenart der Wissenschaft aber nicht in dem bearbeiteten S t o f f e liegt, sondern in der formalen Weise der Bearbeitung. In der Tat kann es sich nur fragen: ob nicht für den Inhalt von r e c h t l i c h e m Wollen eine u n b e d i n g t einh e i t l i c h e Methode des Ordnens möglich sei. Auf diese Frage, die durchaus zu bejahen ist und in kritischer Erörterung beantwortet sein will, ist KIRCHMANN nicht eingegangen. KIRCHMANN
III. JHERING (1818—1892): Schüler PUCHTAS ( § 1 1 ) , wandte sich später gegen die Lehre von der historischen Schule über die Entstehung des Rechtes, besonders in dem Vortrage über den Kampf ums Recht (1872). In seinem Werke Geist des Römischen Rechtes auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung (seit 1852) schildert
er in glänzender Weise große Perioden und geschichtliche Charakterzüge der zur Rechtsbehandlung besonders begabten Römer. Er brach im 3. Bande ab, um seiner Darstellung eine rechtsphilosophische Grundlage zu geben. Es folgte der Zweck im Rechte, seit 1877 2 Bände, dann gleichfalls abgebrochen. Das Buch steht unter dem Motto, daß der Zweck der Schöpfer des Rechtes sei. Den Zweck aber gibt JHERING als psychologische Kausalität an. Das ist ungeeignet. Solange wir besondere Erlebnisse unter der Kategorie der Kaus a l i t ä t betrachten, bleiben wir in den Bahnen der STAMMLER,
Rechts- und Staatstheorien.
2.
Aufl.
7
98
19. Der Realismus im Rechte.
N a t u r w i s s e n s c h a f t , welche die k ö r p e r l i c h e n Erscheinungen einheitlich zu ordnen hat. Es werden dann vorgekommene Veränderungen nach ihrer Verursachung aus der Vergangenheit her untersucht. Der Zweck aber liegt in der Z u k u n f t , er bestimmt die Gegenwart im Sinne a u s z u w ä h l e n d e r Mittel. Das Recht aber ist nicht das P r o d u k t von Zwecken, sondern es ist selbst eine besonders geartete Zwecksetzung. Eine genaue b e g r i f f l i c h e Bestimmung des R e c h t e s gegenüber anderen Arten des Wollens hat JHERING nicht gegeben. IV. Um den G r u n d g e d a n k e n des Rechtes herauszuschälen, schildert JHERING die Interessen und bedingten Ziele, die in einer Gesellschaft auftreten können. Er versucht eine soziale Mechanik zu entwickeln. Darunter versteht er die Hebel, die angewandt würden, um den Willen in Bewegung zu setzen. Das seien teils Lohn und Zwang, teils Pflichtgefühl und Liebe. Das Ganze aber geschehe durch das Recht als eine Politik der Gewalt. Sie sei zu betätigen durch den Machthaber, der als der hartherzigste, unverbesserlichste Egoist sich einen Schatz von Lebensregeln dafür sammeln solle, um von seiner Macht den größten Nutzen zu ziehen. Es werden also hiernach die egoistischen Begehrungen nicht als der Stoff genommen, der nun in sachlich b e r e c h t i g t e r Weise zu bearbeiten ist, sondern
19. Der Realismus im Rechte.
99
als das h ö c h s t e Gesetz des Menschenlebens, und danach des Rechtes. Als Materie des Wollens sind jene nur persönlichen Wünsche und Bestrebungen selbstverständlich immer und überall vorhanden. Sie sind, wie oben (II; vgl. § 2, III) bemerkt, in der sozialen Frage auf das genaueste zu beachten und so, wie sie da sind, auf das sorgfältigste zu kennen und fest-1 zustellen. Aber bloß deshalb, weil sie da s i n d , besitzen wirklich auftretende Bestrebungen noch keine innere Berechtigung. Wollte man sich ihnen hingeben, wie sie gerade im einzelnen auftreten und drängen, so würde ihre w i s s e n s c h a f t l i c h e Beherrschung fehlen; es hätte nicht mehr Sinn, als wenn jemand die Unbilden der Witterung oder Krankheiten des Körpers hinnehmen wollte, weil sie im naturgesetzlichen Laufe der Dinge und in naturnotwendigen Prozessen entstehen. Um das zu vermeiden, ist e i n h e i t l i c h e Bearbeitung der unendlich vielen und verschiedenen Wünsche und Bestrebungen unerläßlich. Das aber geschieht n i c h t durch die Verweisung auf den b l o ß s u b j e k t i v e n Standpunkt des Machthabers.
20. Die Soziologie.
100
§ 20.
Die Soziologie. I. Das Wort Soziologie ist in der neueren Zeit beliebt geworden. Das ist jedoch der Klarheit der dabei gemeinten Gedanken nicht zugute gekommen, Der Amerikaner WARD zählt in einer Schrift hierüber nicht weniger als zwölf ganz verschiedene Bedeutungen des Wortes Soziologie auf.
Die von ihm gemachte Beobachtung
trifft zu; die genannte Zahl kann vielleicht noch vermehrt werden.
Darunter ist eine Art von Soziologie
mehrfach in den Vordergrund getreten: das ist die Richtung, die es unternimmt, die soziale Frage nach naturwissenschaftlicher
Art
zu
behandeln.
steht damit neben der materialistischen
Sie
Geschichts-
auffassung (§ 16), braucht aber von deren Theorie nicht abzuhängen.
Die Soziologie
allgemeine Lehre von der
beabsichtigt
dabei,
Gesellschaft zu geben.
muß also ihren Gegenstand, die m e n s c h l i c h e
eine Sie Ge-
s e l l s c h a f t , genau bestimmen.
Schon hier erweist sich
die einfache Übernahme von
naturgeschichtlichen
Vorgängen ganz ungeeignet. Die Betrachtung der sozialen Frage steht unter anderen
Erkenntnisbedingungen,
als die Erfor-
schung der uns umgebenden K ö r p e r w e i t .
Die einheit-
liche Ordnung der Gedanken über menschliches Zu-
101
20. Die Soziologie.
sammenleben hat es mit dem I n h a l t von Bestrebungen zu tun und erschöpft sich nicht in der Beobachtung von verursachten Veränderungen. Auch geht es nicht an, wie STMMEL vorgeschlagen hat, den Begriff der Gesellschaft durch die Kategorie der Wechselwirkung zu bestimmen, denn dieses würde die Betrachtung einer Verursachung sein, der eine andere Verursachung seitens des zuerst beeinflußten Körpers
entgegenwirkt.
des gesellschaftlichen
Bei der Erwägung
Daseins haben wir es mit
der Verbindung von Zwecken der Gesellschafter miteinander zu tun. Darum können die Gesetze der körperlichen
Wechselwirkung
auf
die
Aufgaben
der
P o l i t i k und der R e c h t s p r e c h u n g und des gesamten sozialen
Lebens n i c h t
übertragen
werden.
Wenn
beispielsweise die Naturwissenschaft lehrt, daß bei jeder Mitteilung einer Bewegung Wirkung und Gegenwirkung einander jederzeit gleich sind, so folgt daraus ein Lehrsatz für die Sozialwissenschaft keineswegs. das
System
eigene
der
Sozialwissenschaft
Weise vom Inhalt der
ist
Denn
als eine
Zweckbetrachtung
selbständig aufzubauen. II.
öfter ist es unternommen worden, Ziel und
Bedeutung von Recht und Staat durch Bezugnahme auf den menschlichen
Körper
zu erläutern.
So
lange das nur Bilder bleiben — wie in der Geschichte
102
20. D i e Soziologie.
von M E N E N I U S AGRIPPA — mögen sie im Sinne der eigentlich s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h geführten Gedanken angehen. Aber die Bildersprache bleibt selten ungefährlich, die Beschränkung auf die ist durchaus abzulehnen. In der neuesten Zeit ist von S T E I N E R eine Lehre von der Dreigliederung des sozialen Organismus aufgebracht worden. Der menschliche Organismus habe drei Systeme aufzuweisen: den Kopf Organismus, das Zirkulations- oder Brustsystem, das Stoffwechselsystem. Dem entsprächen das Wirtschaftsleben, das eigentliche politische Leben, endlich alles dasjenige, was sich auf das geistige Leben bezieht. STEINER will nicht naturwissenschaftliche Erkenntnisse herüberverpflanzen, aber er sagt, es komme darauf an, daß das menschliche Denken, das menschliche Empfinden lerne, das Lebensmögliche an der Betrachtung des naturgemäßen Organismus zu empfinden und dann diese Empfindungsweise anwenden könne auf den sozialen Organismus ( S T E I N E R , Die Kernpunkte der sozialen Frage S. 29). — Hier bleibt zuvörderst der Begriff des sozialen Organismus unklar. Ein n a t ü r licher O r g a n i s m u s ist ein zusammengesetzter Körper, dessen einzelne Teile sich gegenseitig hervorbringen und ernähren (vgl. K A N T , Kritik der Urteilskraft §§65f.); bei einem M e c h a n i s m u s , wie bei einer Maschine fehlt das. Was dieser Unterscheidung in der S T E I N E R sehen
20. Die Soziologie,
103
Lehre parallel gehen soll, wird von ihm nicht gesagt. Das Beispiel, das er (S. 49) anführt, nämlich das Österreich nach den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, macht es nicht deutlich. Man weiß nicht, wie viele soziale Organismen es geben solle; und sieht nicht, was jener Schriftsteller als einheitlich bestimmendes Merkmal für sie meint. Ist es nur der Staat; oder auch Stadt und Dorf, eine Aktiengesellschaft, die Familie, eine Fabrik usw.? — Auch für die Behauptung, daß jedes jener drei Systeme mit einer gewissen Selbständigkeit wirkten und sich nach seinen eigenen Gesetzen und Kräften ausbilden müsse, fehlen die Beispiele. STEINER versucht es, den Tausch von Waren gegen Waren in Gegensatz zu bringen zu dem Tausch von Waren gegen Reckte (S. 39f.). Das ist verfehlt; es werden im sozialen Verkehr immer und notwendig b l o ß Rechte getauscht. Der genannte Fehler führt auf eine falsche Bestimmung des Verhältnisses von Wirtschaft und Recht zurück (§14, III.); und wie neben den beiden Fragen von wirtschaftlichem und rechtlichem Leben eine geistige Produktion stehen soll, die im sozialen Leben nicht ohne weiteres in das Zusammenwirken eingriffe, ist undeutlich und wieder durch Beispiele nicht erläutert. So hat STEINER das von ihm mit Recht hervorgehobene Ziel, auf die UrgedanTcen zurückzugehen, die allen sozialen Richtungen zugrunde liegen (S. 57), nicht erreicht.
104
20. Die Soziologie.
III. Eine besondere Ausprägung der sogenannten Soziologie findet sich in neuzeitlichen Betrachtungen über die Aufgabe der Jurisprudenz bei der Beherrschung und Anwendung des Rechtes, vornehmlich im Gericht und in der Verwaltung. Diese soziologische Jurisprudenz sucht zweierlei. Einmal stellt sie als Ziel ihres Strebens das lebende Recht auf. Die Summe der geformten Rechtsregeln steht zuweilen im Gegensatz zu der Rechtswirklichkeit. Es gibt gesetzgeberische Einrichtungen, die nur auf dem Papier stehen; und es vollzieht sich der rechtlich geordnete Geschäftsverkehr vielfach nach Normen, die sich in ihm erst nachträglich bilden. Aber dieses hat keine grundsätzliche Bedeutung. Das Suchen nach dem lebenden Recht setzt die sogenannte dogmatische Rechtserwägung voraus und will sie nur im einzelnen, nach der gleichen Methode, wie jene, berichtigen oder ergänzen. IV. Eine andere Färbung soziologischer Rechtsbetrachtung will die Erkenntnis von Sinn und Wert eines gegebenen Rechtes durch dessen wirtschaftliche Betrachtung erhalten. Das geht fehl. Es liegt auch hier eine schiefe oder geradezu falsche Vorstellung von dem Verhältnis von Wirtschaft und Recht zugrunde (§14,111.). Sicherlich kann man durch die Beobachtung der
21. Die freirechtliche Bewegung.
105
t a t s ä c h l i c h e n A u s f ü h r u n g einer Rechtsordnung, welche Ausführung soziale W i r t s c h a f t heißt, es erkennen, wie die Absichten eines Gesetzgebers erreicht oder verfehlt worden sind. Allein der Sinn jener gesetzgeberischen Unterlage will doch für sich nach eigener Methode festgestellt werden. Wenn aber jemand zweifelnd fragt, ob diese bedingenden rechtlichen Normen g r u n d s ä t z l i c h r i c h t i g seien, so kann dieses kritische Urteil doch nicht auf die einfache Beobachtung gestützt werden, wie ein gewisses soziales Leben sich wirklich vollzieht. Auch hier zeigt sich, daß ein ideales Richtmaß unerläßlich ist, um eine bestimmte rechtliche Entscheidung vom Standpunkte der G e r e c h t i g k e i t aus b e g r ü n d e n zu können. Wird statt dessen ausschließlich auf das soziale Empfinden verwiesen, oder auf die Berücksichtigung realer Interessen oder gar auf eine induktiv-reale Betrachtungsweise, so verfällt man dem Eingreifen ungeprüfter Schlagworte. § 21.
Die freirechtliche Bewegung. Gerichtspräsident MAGNATJD in Chäteau-Thierry, seit etwa 40 Jahren tätig; in den Ländern französischer Zunge durch eine sehr freie und persönliche I.
106
21. Die freirechtliche Bewegung.
Rechtsprechung bekannt. Président
Magnaud,
I
LETBET, Les jugements du
(1900),
II
(1903).
MAGNAUD
geht davon aus, daß das Gesetz in humanem Sinne auszulegen sei und der Richter sich bei seinem Urteilen von der Rücksicht auf die menschliche Solidarität leiten lassen müsse. Diese Auffassung führt Präsident MAGNAUD in seiner Rechtsprechung in Zivil- und Strafsachen von Fall zu Fall durch. Er weicht alsdann nach seinem Ermessen von dem geformten Paragraphen ab; jedoch anders, als etwa der römische Prätor, der während seines Amtsjahres für seine gerichtliche Tätigkeit zwar andere Regeln als das ius civile maßgeblich befolgen durfte, an solche im Edikte aufgestellten Sätze dann aber auch gebunden sein sollte. Der genannte französische Praktiker ist in seinem Lande von der einen Seite ebenso sehr als bon juge gelobt worden, als er von der
dortigen herrschenden
Jurisdiktion Ablehnung erfahren hat.
Er hat in der
Wochenschrift Morgen 1908 Nr. 26f. selbst einmal über seine Auffassung berichtet.
Eine wissenschaftlich be-
merkenswerte Ausführung ist das aber nicht, weder für die grundlegende Frage, noch nach der Seite der im einzelnen vorgehenden Praxis. II. Die in der Überschrift vorgemerkte Bewegung ist in den letzten Jahren in Deutschland entstanden, anscheinend ohne mit der Tätigkeit MAGNAUD s bekannt
21. Die freirechtliche Bewegung.
107
zu sein. Sie kommt aber in der Sache im wesentlichen auf dasselbe hinaus, wie jener ihr Vorgänger. Freilich werden die Grundgedanken der neuen Richtung von ihren Vertretern nicht immer mit voller Klarheit herausgearbeitet. Es sind aber zwei verschiedene Absichten darin verbunden. Das erste ist die p r a k t i s c h e F o r d e r u n g : daß keine technisch geformte Bestimmung unserer Gesetze einen zwingenden Charakter haben dürfte. Die Festlegung in den Paragraphen würde danach nur eine vorläufige und unmaßgebliche Angabe für den Richter sein; sie sollte in jedem Falle verlassen werden, in dem sie nicht zur richtigen Entscheidung führt, und jeder Rechtsuchende müßte diese Prüfung stets verlangen dürfen. Es ist nicht zutreffend, zu sagen, daß damit der Richter über das Gesetz gestellt werden sollte; denn es wird ja gerade an das Gesetz die Forderung gestellt, den Richter zur Vornahme jener Prüfung zu verpflichten, und dieser hätte sie dann zu vollziehen, weil er dem sie anordnenden Gesetze unterworfen ist. Aber es bestehen gegen die beschriebene Forderung der Freirechtler unwiderlegte Bedenken, die aus unseren heutigen Zuständen herfließen. Die Beseitigung des zwingenden Charakters der Formvorschriften würde bei Wechsel, Scheck und anderen Wertpapieren gerade-
108
21. Die freirechtliche Bewegung.
zu deren Beseitigung bedeuten, bei dem Grundbuch, Testament u. a. eine unerwünschte Unsicherheit unvermeidlich herbeiführen; bei Fristen und Terminen wäre eine unbedingt zulässige Nachprüfung oft gar nicht durchzuführen, z. B. bei Altersfestsetzungen, oder würde wieder Verwirrung stiften, z. B. im Rechte d$r Verjährung. Rechtsuchende und Richter sind bei uns zurzeit nicht daran gewöhnt, nach grundsätzlichen Erwägungen die richtige Entscheidung methodisch zu beweisen; sie müssen dazu erst in weiterem Fortschreiten erzogen werden. Für die Verhängung von Strafen hat sich seit dem 18. Jahrhundert der Wunsch nach formalistischer Sicherheit — auch bei sachlich engen Konsequenzen — als überwiegend festgelegt. Sonach wird ein guter Gesetzgeber beide Möglichkeiten verwerten: zwingendes und nachgiebiges Recht (vgl. PLATON im Staatsmann). Für eine ausnahmslose Beseitigung von formalistisch zwingenden Paragraphen liegt für die heutigen Verhältnisse kein überzeugender Grand vor. III. Die zweite Bedeutung der freirechtlichen Bewegung ist von theoretischer Art. Sie will sich als eine Methode zum Auffinden von richtigem Rechte geben. Sie meint, dies zu erreichen, wenn man nur den Urteiler frei das Recht finden lasse. Wenn sie sich damit gegen das sklavische Hin-
21. Die freirechtliche Bewegung.
109
geben an herrschende Anschauungen wendet, so hat sie recht. Denn diese sind meist nur unsicher festzustellen; ob sie aber auch in Wahrheit den richtigen Obersatz bieten, ist ja jedesmal offene Frage. Das gleiche gilt von der Berufung auf volkstümliche Rechtsauffassung. IV. Andererseits genügt der einfache Hinweis auf das freie rechtliche Empfinden methodisch gar nicht. Denn ein solches Rechtsgefühl bringt niemand mit auf die Welt; es bildet sich unter unübersehbaren Einflüssen bei den Einzelnen verschieden. Wir haben darin zunächst nur zufällig zusammengeraffte Erfahrung und Urteilsart und gelangen aus ihr allein lediglich zu Entscheidungen von bloß subjektivem Werte. Wer für seine angeblich frei gefundenen Rechtsurteile eine objektive Berechtigung behauptet, sollte folgerichtig auf die von ihm tatsächlich befolgte Methode des Urteilens sich kritisch besinnen.
Register. absolut 2; 72; — vgl. 46; 74 f . Abstimmungen, natürlich. Recht auf 69. allgemeingültig 1; 3; 44; 46; 75; 87; — vgl. 46 ff. Allheit 48; 77. Amanaleute 10. Anarchie ä. d. Weltmarkt 78; — i. e.rechtl. Gemeinwesen 83. Anarchismus 83 ff. Apostelgeschichte 10. appetitus societatis 14. Aristokratie 33; vgl. 5. Aristoteles 5; 42. Askese 25. aufgeklärter Despotismus 27. Autorität 61; 68.
Beschreibung von Rechtsvorgängen 49; — vgl. 93. Bestand des sozialen Lebens 88. Bestrebungen, gesellschaftliche 80. Bismarck 44.
Babeuf 42. Begriff des Rechtes 36ff.; 56; 91; 95; — undldee des Rechtes 38; 48; 96. Bellamy 10. bellum ontnium contra omnes 16. Beneke 39. Bentham 39.
Egoist 98; vgl. 84. Eigenliebe 20. Einheit des Bewußtseins 1; vgl. 75; 88ff. einheitliches Ordnen 88ff.; vgl. 75. Einheitsgedanken des Rechts 3; — vgl. 46ff.; 98.
Cabet 10. Campanella 10. Cobden 63. eontrat social 31 ff. Dahlmann 67. Demokratie 5; 33; 67 ff. Dialektik 75. Dreigliederung des sozialen Organismus 102 f.
Register. Einheitswirtschaft 65; Einzelnen, die 18; 19f.; 26ff.; 34; 41; 65; 84. Einzelheiten und Methode 88ff.; Empirismus 8 8 ff. Engels 70. Entstehung 6; 12; vgl. 32; 45; 59ff.; 80. Entwicklung 72. ethische Nationalökonomie 64. Eudämonismus 39 ff. Euhemeros 12. ewig 77. Pichte 9; 45. Form 2; 76; 79; 92. Fortschritt d. Wissenschaft 2; geschichtlicher 82. Fourier 20. Frage, soziale 13; 47; 65; 79. französische Revolution 34. Freiheitslehre 63ff.; - vgl. 84ff. freirechtliche Bewegung 105 ff. Frieden um jeden Preis 55. Friedrich II. 6. Ganze, das 1; 48; 81; 89. Gedanken wünschende 28; vgl. 86; s. Innenleben. Geist der Gesetze 90. Geld und Beichtum 24. gemeines Beste 27; — vgl. 43 f. Gemeinschaft frei wollender Menschen 48; 82. Gemeinwohl 43 f. — vgl. 27. genetisch 56; 76; vgl. 6; 80.
111
Gerechtigkeit 9; 25; 30; 43; 50; 58; 68. Gesamtwille 32 ff. Geschichte 81 ff. geschichtlich 6; 52. gesellschaftliche Bestrebungen 8 0 ; - s . Dasein 70ff.; 79; 100. Gesellschaftsvertrag 3 2 ff. Gesetzes Vorschlag 12. Gesetzgebung 33. Gesetzmäßigkeit 3; 20; 40; 75[; 80; 88; 90. getrenntes Wollen 28 f. Gewohnheitsrecht 51. Gierke 52. Gleichheit 42. Glück 87. Goethe 68. göttlich gesetzte Aufgabe 60. griechische Philosophie 3. Grotius 14 ff. Grundgedanke des Rechts~46ff.; 98. grundsätzlich richtiges Wollen 8; vgl. 29f.; 46ff.; 81 ff. Gumplowicz 58. gut 8; — 29 f.; 40. Haller 57 f. Harrington 10. Harmonie, absolute 38; 47. Hegel 72 ff. heidnische Religionen 59. Heinrich VIII. 9. Hekatäos 12. Herkunft 45; 61. herrschende Anschauungen 109.
112
Register.
Hertzka 10. historische Bechtsschule 50 ff. Hobbes 16ff.; 86. Holberg 12. Hugo 40. Humboldt 64. Ideal, soziales 49 f. idealer Maßstab 8; 57; vgl. 88. Idealismus und Realismus 96. Idealstaat 9; 45. Idee 46ff.; 77. — Begriff und - des Rechts 38 f. der Gerechtigkeit 9; 25; 30; 43; 50; 68. ist nicht schöpferisch 45; 96. Ideen i. w. S. 71 individualistisch 85. Induktion 93 ff. induktiv-real 105. inhaltleer 92. Innenleben 29f.; 86. innere Lauterkeit 30. Interessen, reale 105. internationale Verbindungen 55. Irrtum 80.
Kategoriale Betrachtung 38. Kato 56. Eatscher 11. kausal notwendig 80; 97; — vgl. Ursachen. Kirchmanns 93 ff. Klassen 58; 81. Klassenkämpfe 81. Körperwelt nnd Gesellschaft 52; 100 f. Kollektivierung der Produktionsmittel 78. kommunistisch 9f.; 70; 85. Kompaß und Steuer 96. Konflikt, sozialer 78. konventional 36; 56; 62; 86 ff. Kreislauf d, sozialen Lebens 80. in d. Gesch. d. Staaten 5. kritische Fragestellung und Methode 74ff.; — vgl. 2; 88; 92. Kultur 30; 43.
Jambulos 12. Jesuitenstaat 11. Jhering 97 ff. Julius II. 4. Jurisprudenz als Wissenschaft 93; 96 ff. juristisch denken 91. juristischer Empirismus 88 ff.
Lapide, Hippolithus a 17. laissex faire, Ulissex aller 63. Lauterkeit, innere 80. lebendes Recht 104. Lehnswesen 34. Leyret 106. Liberalismus 84; vgl. 63ff. Liebe 58. logische Bedingung 89; s. Form. Lust 38; 41. Lykurg 10.
Kant 40; 44; 86; 102. Kathedersozialismus 64.
Machiavelli 4 ff. Macht und Recht 8; 22.
Register. Macht eines Herrschers 23; — vgl. 5 5 ff. Magnaud 105 f. Maistre, de 59. Manchesterlehre 63. Mandeville 24 ff. Marx 70 ff. Maßstab 8; 25; 32; 57; 59; 91. materialistische Geschichtsauffassung 70 ff. Materie des sozialen Daseins 47; 71. Matthäus 30. Mechanismus 102. Mehrheit 32; — 68. Mehrheitsstaat 67 ff. Menenius Agrippa 102. Mensch 69. menschliche Natur 14ff.; 19. - r Körper 101. es Wollen 60. menschenwürdig 42. Merkel, Ad. 91. Methode 46ff.; 64; 80f.; 88ff. Mill, J . St. 39. Mittel 7; 24; 25; 46ff.; 66; 68f.; 86. MoDarchie 5; 11; 17; 27; 33. Monotheismus, orientalischer 59. Montesquieu 79 f. Monzambano, Severinus de 17. Moral und Recht 19; 28f.; — vgl. Innenleben. Mormonen 10. Morus 9ff.; 42. STAMMLER, Rechts- und Staatsthec
113
Nachtwächterstaat 63. Nation 54. nationale Eigentümlichkeiten 53. Natur 13f.; 20; 21 f.; 57. Naturerscheinung 53. -recht 13ff.; 22; vgl. 69. -Vorgang 81; -zustand 16. natürliche Ordnung 83; — -Rechte u. Pflichten 17; 23f.; vgl. 69. Naturwissenschaftliche Soziologie 100. Nirgendheim 10. Normalglück 42. Nutzen aller 40; vgl. 32. oberster Blickpunkt 9; vgl. 25; 41; 46ff.; 66; 80; 90f. objektiv und subjektiv 44; 84; 87; 99; 109. objektiv richtig 2; 46; 66; 84; vgl. 25. ökonomische Phänomene 71 ff.; 79. optimus rei publieae etatus 10; 23. Ordnen des Bewußtseins 75. Organismus 102. orientalischer Monotheismus 59. Papst 59. Paraguay 11. Parlamentäre 17. Parlamentarier 35. Piaton 11; 30; 42; 68; 108. Polarstern 44. Politik der Gewalt 98. ;n. 2. Aufl.
8
114
Register.
positives Recht 13; 45. Postulate auf rechtliche Änderungen 49 f. Prätor 106. Praxis I. Propaganda der Tat 85. Proudhon 83 f. psychologische Kausalität 97. Puchta 50; 97. Pufendorf 17f.; 42.
Revolution, französische 34. Richter und Gesetz 107. Richtigkeit 3; 30; 44; 47; 48; 80; 91. richtiges.Recht 108f.; vgl. 46ff. Romantik 50. römische Jurisprudenz 3. Rotteck 67. Rousseau 31 ff.; 42; 68.
salus publica 43. Savigny 50 f. Quantität und Qualität 68. — Schäfer 20. Vgl. 32; 42. Schiller 68. schlechte Gesetze 7; vgl. 39. — reale Interessen 105. - Moral 28. Realität 77. Schmerz 39. Realismus im Rechte 93 ff. Recht, Begriff des - s 9; 36ff.; Scholastik 3. selbstherrlich 36; 56; 68; 86. 56; 91; 95. Recht als Teil der Natur 21 ff.; Sieyäs 35. - - menschliches Wollen 60. Simmel 101. Recht des Rechtes 86 ff. — Sinn eines Gesetzbuches 49; 105. sinnlich empfindbare Besonder- d e s Stärkeren 9; 55ff. heiten 94. Recht und Moral 19; 28. Recht und Wirtschaft 64f.; 79; Sitte 86 f.; — s. konventional. Sittlichkeit 7; 86; — s. Innen84; 104. leben-, Moral. Rechtsgefühl 109. Skeptizismus 84. Rechtshoheit 55. Sklaverei 41. Rechts- und Staatstheorie 3. Smith 63. Regierung 33. Sokrates 30. Reichtum und Geld 24. reine Formen 2f.; 76; 79; 92. Souveränität 33; 55. vgl. 4 6 ff. Gemeinschaft soziale Bestrebungen 80; - Betrachtung 71 f.; -es Dasein 48; 82. 71 ff.; vgl. 88; -es Empfinden reines Wollen 8; s. Wülensrein105; - e Erwägung 79; -er Euheit. dämonismiiB 39ff.; - e Frage Religion 7; 59; — vgl. 83.
Register. 13; 47; 65; 79; - e Geschichte 80; -es Ideal 46ff.; -er Konflikt 78; -es Leben 70ff.; -e Mechanik 98; - e Ordnung 84; 87; -Stärkerer 59; -es Wollen 28; 46ff.; 84. Sozialismus 19; 77ff.; 84. Sozial Wirtschaft 64 f.; 79; 84; 104. Soziologie lOOff. soziologisch 104 f. Spinoza 2Iff. Staat 3; 5ff.; 23f.; 58; 60ff.; 67; 84. Staatsgewalt 18. — -räson 4; 7. Stärkeren, Recht des - 55ff. — vgl. 9; — 23f. Stahl 60ff.; 68. status naturae 16; vgl. 18. Steiner 102 f. Stellvertretungssystem 35. Stirner 84 ff. Stoff 2; 45; 76; 79; 94. subjektiv 40; 84f.; 99. Subjektivismus 37; 48. Substanz 21. Summe von Zustimmungserklärungen 68. suurn esse conservare 22. Swift 12. System 76. systematisch 6; 32; 56; 62; 76. Tatsache 93 ff. Technik 1.
115
theokratische Rechtsauffassung 59 ff. Theopomp 12. Theorie 1 f.; vgl. 3. Thibaut 51. Thomasius 18ff.; 28. Tugend 32; s. gut. unbedingter Rechtsinhalt 46; — s. absolut. ungeformter Stoff 94. unrichtiges Recht 39. Unverletzbarkeit 36; 86. Ursachen und Wirkungen 22; 81 f.; — vgl. 53. Utopien 9 ff.; 43; 70; — vgl. 45. Yairasse 10. Veränderung 76. Verbände rechtliche 52. verbindendes Wollen 28; 46 ff; 84; — vgl. 52. Verein der Egoisten 84. Vergleichen rechtlicher Besonderheiten 90. Vernunft 7; 23; 45. vernünftige Gedanken 28; — - Überlegung 45. Vernunftrecht 14; 44 ff. Vervollkommnung 26ff. verwerfliches Streben 80. Verzicht auf natürliches Recht 23; — auf Selbstbestimmung einer Nation 55. Völkerindividuen 53; recht 14; 28. Volk 33ff.; 52ff. 8*
116
Register.
Volksseele 50ff.; Souveränität 35; 67.; Wirtschaft 65; 79; 84; 104. volkstümlich 109. Vollkommenheit 26. vollziehende Gewalt 33. volonté générale 32 ff. Wagner, Ad. 20. Wahl 24. Wahrnehmungen 24. Ward 100. Wechsel d. staatl. Einrichtungen 5; — s. Kreislauf. Weltbürgertum 54. weltliche Sittenlehre 18. Weltverbesserer, schwärmerischer 96. Werden 76; — s. Entstehung, genetisch, Herkunft. Wesen 14; 44; 76. Wiedertäufer 10. Wieland 55. Willensreinheit 8; 29; 46ff.; 82.
Willkür 9; 35ff.; 87, willkürlich 31 ff.; 56; 87. Wirklichkeit 77. Wirkungen 22; 53; 81 fr. Wirtschaft u. Recht 64f.; 79; 84; 104. wirtschaftlich 63; 71; 104f. Wissenschaft 2; 82; 97. wissenschaftlich 3; 13; 38;80;82. Wohl aller Menschen 32; — vgl. 40. Wolf 26 ff.; 40; 42. wünschende Gedanken 28; s. Innenleben. Ziele und Mittel 25; 66. zusammengesetztes Ganzes 94. Zusammenwirken 29; 79. Zusammenzählen vieler Abstimmender 68. Zweck 24; 46ff.; 81 ff.; 86; 97. Zweckbestimmung 75; — —Setzung 20; Wissenschaft 79. zwingendes Recht 107 f.
Werke
von ¿Rudolf
Stammler
W i r t s c h a f t und R e c h t nach der materialistischen Geschichtsauffassung Eine sozialphilosophische Untersuchung F ü n f t e , durch einen Nachtrag ergänzte A u f 1 a g e Oktav. VIII, 706 Seiten. 1924. Rm. 14.—, in Lein. geb. Rm. 16.— *
Lehrbuch der Rechtsphilosophie Z w e i t e
A u f l a g e
Oroß-Oktav. XV, 396 Seiten. 1923. Rm. 8.—, in Halblein. geb. Rm. 9.50 *
Übungen im bürgerlichen Recht zum Akademischen Gebrauch und zum Selbststudium F ü n f t e
A u f l a g e
Oktav. 227 Seiten. 1022. Rm. 4.50, geb. Rm. 6. -
W A L T E R
D E
G R U Y T E R
B E R L I N W. i o U N D
& C O.
LEIPZIG
aiet/ger & Wittig,
Leipzig.