Realistik und Utopie [Reprint 2021 ed.] 9783112472088, 9783112472071


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Realistik und Utopie [Reprint 2021 ed.]
 9783112472088, 9783112472071

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Wolfgang Heise

Realistik und Utopie

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Wolfgang Heise

Realistik und Utopie Aufsätze v(ur deutschen Literatur \ wischen Lessing und Heine

Akademie-Verlag • Berlin

1982

Für die Genehmigung zum Abdruck des Aufsatzes: „Zehn Paraphrasen zu .Wandrers Nachtlied'" danken wir dem Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1982 L i z e n z n u m m e r : 202 • 100/167/82 L e k t o r : J u t t a Kolesnyk G e s a m t h e r s t e l l u n g : IV/2/14 VEB D r u c k e r e i »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 G r ä f e n h a i n i c h e n / D D R • 5882 B e s t e l l n u m m e r : 753 991 9 (2150/76) • LSV 8025 Printed in G D R D D R 10,50 M

Inhalt

Vorwort

7

„Der Tag ist angebrochen

..."

Unser Verhältnis zur Klassik als Verhältnis zur eigenen Geschichte Zur Antikerezeption

in der klassischen deutschen

Literatur

9 36

„Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer" Zu Lessings Dialektik der geschichtlichen Perspektive Herders Humanitätskonzept

. .

Zehn Paraphrasen zu ,Wandrers

Nachtlied"

Zur Krise des Klassizismus Aspekte

55 71

Über Wahrheit im Gedicht

Weltanschauliche

. . .

109 177

der Frühromantik

227

Heine und Hegel

254

Zur ästhetischen Kultur des Vormärz

288

Anmerkungen

305

Personenregister

315

Vorwort

Ein Vorwort zu eigenen Studien ist keine dankbare Aufgabe. Doch da diese aus unterschiedlichen Anlässen geschrieben wurden und verstreut erschienen, ist eine Erklärung angebracht, worin ihr Zusammenhang liege. Denn nur von der Einheit der Sache, nicht von der Person her läßt sich ihre gemeinsame Veröffentlichung rechtfertigen. Inwiefern uns die klassische deutsche Literatur heute bedeutsam ist, uns angeht, habe ich im ersten Aufsatz zu begründen versucht. Die folgenden bemühen sich auf unterschiedlichen Wegen, diese Bedeutsamkeit zu erschließen. Historische Konkretheit begreift die Vermittlung zur Gegenwart in sich, sowohl in der Kontinuität der Geschichte, die zur Gegenwart führt, als auch in den Fragen, die wir als Zeitgenossen unserer Umwälzungsperiode, die uns prägt, an die Geschichte richten. Dabei geht notwendig historisches und systematisches Fragen ineinander. Literatur läßt sich nicht ohne Begreifen der in ihr Sprache und Gestalt gewordenen Weltanschauung und die philosophische Physiognomie einer Epoche nicht ohne Erkunden der in ihrer Poesie geleisteten Weltaneignung und -deutung erfassen. Beide wollen in Beziehung gesetzt werden zu den epochalen Erkenntnisbedingungen und -möglichkeiten wie zu den je spezifischen Voraussetzungen und Formen theoretischen Erkennens und poetischer Produktion. Dabei zeichnet sich um so schärfer die Notwendigkeit ab, sich die Veränderungen in Gegenstand, Funktion, Produktions- und Kommunikationsbedingungen der Poesie bewußt zu machen, die mit den Prozessen der industriellen Revolution einsetzen. Dies wird in den vorgelegten Texten in bezug auf den Übergang zu den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts versucht und die Fragestellung ins Kulturhistorische erweitert. Auf diesem Wege zugleich ein schärferes Bewußtwerden unserer eigenen Geschichtlichkeit, unseres gegenwärtigen Daseins über die

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Epochenkonfrontation anzuregen ist Intention des Verfassers. Ob dies mehr als bloßer Wunsch, entscheidet freilich der Leser - soweit er mit dem Gebotenen etwas anfangen kann. Berlin, Dezember 1980

Wolfgang Heise

,Der Tag ist angebrochen .. Unser Verhältnis zur Klassik als Verhältnis zur eigenen Geschichte

1 In der Diskussion um die deutsche Klassik, die seit Beginn der siebziger Jahre sich immer wieder entzündet hatte und doch im Diffusen endete, ging und geht es letztlich um unser eigenes geschichtliches Selbstverständnis. Von einem kollektiven Prozeß der Selbstverständigung freilich zögere ich zu sprechen. Dafür müßten wohl Haltungen und Kommunikationsformen neu gewonnen werden. Wenn wir über Klassik reden, bereden wir unser Woher, Wohin und Wofür - ohne der Gefahr des Zerredens immer zu entgehen. Im Thema Klassik ist ein Bündel allgemeinerer Themen präsent, deren Reihe von der Rolle der Literatur in unserer gegenwärtigen und künftigen Gesellschaft bis zur Weltliteratur oder zur Geschichte der deutschen Literatur seit dem frühen Mittelalter reicht. Davon sei a b j gesehen. Hier handelt es sich um eine besondere Geschichtstradition, aus der wir kommen, die Maßstäbe gesetzt hat - ob wir sie nun ernst nehmen oder nicht. Überlegt seien hier Aspekte dessen, was Klassik bedeutet und für uns bedeuten könnte - und wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr weitergehen soll. „Es geht", um diese Entfremdungsformel der Ohnmacht zu benutzen, immer weiter, die Frage ist nur: wohin? Unbehagen, Unsicherheit zeichnen sich ab - gerade weil der Zusammenhang zwischen dem, was wir mit der Klassik im kulturell-künstlerischen Leben und in den wissenschaftlichen Institutionen anfangen, sich in wechselseitiger Entfremdung äußert. Das verweist auf tiefere Irritation, die nicht durch ein fertiges Rezept schnell überwunden werden kann, sondern kollektive Denkanstren-" gung fordert. Der Mangel bestimmten Wollens, der sich in der bisherigen Diskussion zeigt, in beredter Kommunikationslosigkeit und beobachtbarem Nebeneinander von Erinnerungsritual und Positivismus, von Klassikfremdheit und illusionistischer Verklärung - als ob sie ein wohlbehüteter Tempelschatz wäre, dessen Edelsteine als schmücken-

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der und repräsentativer Zierat jederzeit verfügbar seien - hat die folgenden Überlegungen und Thesen veranlaßt. Doch sei betont: das Grundproblem sehe ich in praktizierter Fremdheit gegenüber der klassischen Literatur, in der Vergleichgültigung. Drei Grundfunktionen sind zu erfüllen, will die literaturgeschichtliche Forschung zur Poesie zwischen 1750 und 1830 produktiv und weiterführend im Geistesleben unserer Gesellschaft wirken: 1. Die Sammlung, Sichtung und Herstellung der Texte der klassischen Werke - sowie die Erschließung authentischer Materialien ihres historischen Kontextes. Dies wäre als archivalisch-philologische Funktion zu bezeichnen. 2. Die historische Untersuchung dieser Texte in ihrem eigenen sozial-, politik-, kultur- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang als Momente des historischen Prozesses und seiner literarischen Kommunikation. Das betrifft die Entstehungs-, Produktions- und Rezeptionsbedingungen, Entschlüsselung des aktuellen Bedeutungsspektrums, Untersuchung der poetische Gestalt gewordenen Realerfahrungen und Intentionen, der ideologischen Funktionen etc. Dies ließe sich als Funktion der historischen Rekonstruktion bezeichnen. 3. Die dritte Funktion besteht in der Vermittlung jener Literatur der Vergangenheit an die geistigen Lebensbedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft. Literatur wird hier also nicht nur in ihrer Epoche, sondern in der epochenübergreifenden Entwicklungskontinuität mit der Gegenwart als letzter, aktuell dringlichster, zugleich auch vorübergehender historischer Etappe verstanden, die potentielle Vergangenheit und Produktionsort der Zukunft in gesetzmäßig-perspektivischem Zusammenhang ist. Erst hier gewinnt die spezifisch ästhetische Analyse ihren wirklichen Gehalt, wird die Wertung aktuell, setzen die historische, wissenschaftlich-weltanschaulich parteinehmende Begründung der Traditionswahl, die Bestimmung des „uns angehenden" Gehalts, die Begründung der künstlerischen Vollendung klassischer Werke ein - und ist zugleich die Begründung solchen Wertens gefordert. Dies ist eine Seite, deren Ergänzung die Erkenntnis und der Nachweis sind, daß diese Werke zu rezipieren für unsere Gegenwart notwendig sei, daß sie eine wichtige Rolle in den geistigen Auseinandersetzungen unserer Epoche und in unserer Gesellschaft, in der Formierung unserer intellektuellen und emotionalen Physiognomie zu spielen vermögen, somit der Nachweis, warum und worin sie uns angehen. Diese dritte Funktion wollen wir ausdrücklich als Funktion der 10

Literaturwissenschaft verstehen, sie kann nicht allein Sache der Rezeptionspraxis von der Schule bis zum Theater und ihrer jeweiligen Vermittlungsspezialisten - oder auch des stummen Lesers sein. Soweit hier wissenschaftlich-theoretische Vorgaben überhaupt zu leisten sind - denn Rezeption ist kein nur-begrifflicher Akt - , fallen diese in das Gebiet der Literaturwissenschaft. Keine historische Zusammenhangserkenntnis oder Interpretation kann aus dem Gegenwartsbezug, aus seinen sozialen und ideologischen Determinanten herausspringen, doch ist aus dieser Bindung eine produktive Aufgabe zu machen. Diese dritte Funktion ist ebenfalls historisch, jedoch in einem allgemeineren und weiteren Sinne als die vorhergehende. Für sie handelt es sich um die bewußte Interpretationsleistung im Sinne des Marxismus-Leninismus, welche die Historisierung der Gegenwart, damit den Blick auf die geschichtliche Perspektive einschließt. U n d sie ist selbst geschichtlich vermittelt, zunächst über die objektiven K ä m p f e der deutschen Geschichte und über die spezifische Rezeptionsgeschichte dieser Literatur bei ihren verschiedenen Parteiungen. W i r stehen in einer Tradition, die von Aufklärung und Klassik zu Marx und Engels führt, die die Geschichte und das Ringen um das sachadäquate „Erben" der deutschen Arbeiterbewegung einschließt, die einen Höhepunkt in der Klassikrezeption im Kontext des antiimperialistischen und antifaschistischen Kampfes findet, die als E r b e zur Kultur- und Bildungsnorm der jungen sozialistischen Gesellschaft gehört - und uns nun auf dreißig Jahre Arbeit und E r f a h r u n g mit der Klassik zurückblicken läßt. Diese Tradition steht im Klassengegensatz zur Integration der Klassik in die bürgerliche Kultur Deutschlands: vom liberalen Bildungstempel zur nationalistisch-imperialistischen und faschistischen Benutzung, bis zur „abendländischen" Mystifikation oder zu Abschreibungen aus unterschiedlichen Motiven - zwischen linksextremer Revolte und technokratischer Blindheit. Diese dritte Funktion sei als im weitesten Sinne kritisch-interpretatorisch bezeichnet. Sie reflektiert den Zeitabstand und die geistigen K ä m p f e der Gegenwart, ist mit deren Agens. Sie führt die marxistische Linie fort - und bezieht sich auf deren Gegner. Ihr Gegenstand sind nicht schlechthin klassische Texte, sondern diese Texte in ihrer Bedeutung für uns, f ü r unsere Epoche - die somit zum Gegenstand mit gehört. Sie m u ß nicht weniger exakt arbeiten als die vorhergehenden, ist durch die marxistische Methodologie auf Objektivität verpflichtet, auf historische Konkretheit - doch diese u m f a ß t die Gegenwart mit. Und sie bedarf auch des künstlerischen und emotionalen 11

Scnsoriums, das nicht durch historische Methoden schlechthin zu ersetzen ist, um zu erfassen, auf welche Gegenwartsfragen und -erfahrungen klassische Kunst antwortet, welche Erfahrung sie uns vermittelt, auf welchen Gehalt ihr Schönes weist. Diese drei Aspekte sind nicht metaphysisch voneinander getrennt. Sie bedingen einander, setzen sich wechselseitig voraus. Interpretation ohne gesicherte Textgrundlage, ohne Rekonstruktion des historischen Kontextes wäre pure Willkür. Umgekehrt gehen Wertbestimmungen als Auswahlprinzipien schon in die philologische Textherstellung ein. Es ist eine Wertentscheidung, gewiß eine gut begründbare, daß wir wohl eine unendliche Mühe auf die Schiller-Nationalausgabe verwenden, aber nicht auf eine Ausgabe der Werke Ifflands, obwohl diese für die zeitgenössische literarische und theatralische Kommunikation entschieden repräsentativ waren und keine historische Rekonstruktion der Literatur- und Theatergeschichte von ihnen absehen darf. Nur - verliert die Rekonstruktion die Gegenwart aus den Augen, so schneidet sie sich selbst den Zugang zu grundlegenden, auf die Gegenwart verweisenden gesetzmäßigen Zusammenhängen ab, ohne dabei zu merken, daß sie dadurch zu dieser Gegenwart dezidiert Stellung bezieht, sich zugleich über die eigenen immanenten Voraussetzungen und um Erkenntnismöglichkeiten betrügt. Gegenwart ist dabei nicht praktizistisch zu verstehen, sondern im epochalen Sinne. Für sich genommen ist die rekonstruktive Funktion sowohl ein Kettenglied poesiegeschichtlicher wie allgemeinerer kulturgeschichtlicher Forschung. In unserem Fragenkreis zeichnet sich sowohl das Bedürfnis nach einer noch zu schaffenden Hermeneutik auf der Grundlage des Dialektischen und Historischen Materialismus ab als auch nach weiterer Untersuchung des seit Vico immer wieder anvi-* sierten Zusammenhangs, daß die Wahrheit über die Geschichte immer nur geschichtlich vermittelt zu fassen ist und außerhalb des Geschichtsprozesses kein Subjekt sie sucht. Hier geht es mir darum, Literaturwissenschaft als soziales Organ zu begreifen, das ein historisches Selbstverständnis, ein bewußtes V e r j hältnis der Gegenwart zur Vergangenheit und dadurch der Zeitge j nossen zu sich selbst vermittelt oder - bescheidener - vermitteln hilft. Dabei soll nicht vergessen werden, daß Rezeption beim individuellen Rezipienten endet, bei dem, was er an dem Werk erfährt und daraus macht. Produktive Rezeption ist dadurch gekennzeichnet, daß sie produktive Impulse freisetzt, Artikulation unseres historischen Lebens vermittelt, dessen Bewußtsein stimuliert und - in dem weiten Spek12

trum vom Persönlich-Intimen bis zu allgemeinsten weltanschaulichhistorischen Zusammenhängen - an jener Souveränität aktiv mitwirkt, die Brecht für das Verhältnis der Menschen unserer Zeit und Gesellschaft zu sich, zu ihrer Wirklichkeit wie zu der sie aussprechenden Kunst fordert. Dazu gehört eben auch der Historismus in bezug auf sich selbst. Falsche Alternativen sind die Flucht aus einer bedrängenden und beunruhigenden Gegenwart in die zum Erbauungsbild zurechtgemachte Vergangenheit - oder jene falsche Aktualisierung, die das Werk als Spielmaterial für aktuelle Zwecke oder auch nur subjektive Gefühle verwurstet, ohne seine Objektivität, seinen Anspruch zu begreifen. D a s Verhältnis zum Kunstwerk reproduziert das Verhältnis zum andren Menschen, und der ist kein Spiegel und auch kein Rohmaterial. Dies bezieht sich auf die Interpretation und Reproduktion des klassischen Werkes. Etwas anderes ist, daß im Fortgange der Poesie Werke der Vergangenheit Stoffe, Gegenstände, Motive späterer Poesie w e r j den, daß ihr Thema neu angegangen, daß ihre Gestalten verwendet, daß sie als spezifische Ausprägungen älterer und weiterer Grundmotive aufgefaßt und verarbeitet, daß sie in neuem Kontext „zitiert", als innere Partner oder Antagonisten behandelt werden. Darin sehe ich den Ausweis produktiver Auseinandersetzung, einer produktiven Weiterführung in geschichtlicher Kontinuität, die die objektive Diskontinuität poetisch praktiziert. In diesem Zusammenhang wäre eine grundsätzliche Polemik, die solches für unzulässig erklärt, Polemik gegen ein notwendiges Entwicklungsmoment aller Poesie, wäre Stagnationsdekret ohne Macht. Voraussetzung ist, daß der Poet im eigenen Namen spricht. Doch führt dies über mein Thema hinaus, das auf die kritisch-interpretatorische Funktion der Literaturwissenschaft im genannten Sinne zielt. Mir scheint, daß diese gerade der Spezifik der künstlerischpoetischen Widerspiegelung entspricht. Zu deren Besonderheit gehört, daß sie im und am je beschränkten Wirklichkeitsausschnitt, am je Besonderen im Gegenstand, Gefühl usw. - ein Allgemeines, im Allgemeinen Mögliches ausspricht und dank der poetischen Umsetzungsprozesse eine Form schafft, die, aus Realitätsaneignung geboren, Form und Organisator allgemeiner und künftiger Erfahrungen werden und diese deuten kann, enthoben ihrem Ursprungs- und zeitgenössischen Wirkungsraum, dem unmittelbaren politischen und ideologischen K o n J text. Hier liegt auch das vielumstrittene Problem der Wahrheit in der Kunst, und hier wäre der kommunikationstheoretische Gesichtspunkt, 13

der auf neue Weise die Rezeptionsleistung bestimmen läßt, zu diskutieren. Das ist nicht mein Thema. Freilich: solche bleibende Gegenwärtigkeit - und vielleicht sollte man daraufhin den Begriff des Klassischen als Wertung bestimmen, weil diese allein aus der Dialektik von Form und Inhalt, Bedeutung und Vollendung zu begreifen ist - , solche Gegenwärtigkeit hat objektive Voraussetzungen: die historische Kontinuität des Geschichtsprozesses, Kontinuität unabgeschlossener Kämpfe, ungelöster oder analog reproduzierter Konflikte und Probleme im Verhältnis der Menschen zueinander wie zum Ganzen ihres Lebensprozesses, die Permanenz individueller und sozialer Grundbedürfnisse, Erlebnisstrukturen letztlich des Volkes bzw. auch einer kulturell-historisch verbundenen Völkergruppe einschließlich des Codes der Verständigung. Es muß da ein Stück eigener Geschichte sein, das zu uns spricht, bzw. wenn wir weltliterarisch vorgehen, das einer uns analogen, nachvollziehbaren und verständlichen Geschichte entspringt-was wiederum objektiv bedingt ist. Literaturgeschichte als Organ, klassische Werke zu vergegenwärtigen, bedeutet nicht, daß sie das Organ dieser Werke sei, sie hat kritisch zu sein - wie jeder Rezipient. Aber es bedeutet doch, daß wir nicht nur das Vergangene an Bedürfnis und Leistung der Gegenwart messen, sondern auch uns messen am Anspruch und an der Leistung der Klassik, nicht einfach konsumieren, sondern uns diesem Anspruch auch zu stellen suchen. Damit erledigen sich sowohl Konzeptionen, welche die Klassik als bloßen Vorläufer zur Gegenwart überlegen betrachten - wie auch Tempelkulte „ewiger" Werte.

2 Wie ist das „Klassische" an jener Poesie zu begründen, deren Bewegung vom Sturm und Drang bis hin zum zweiten Teil des Faust führt? Wie verschränken sich hier die Momente von Vollendung und Gegenwärtigkeit, des Vorbildlichen und uns Angehenden? Diese Frage ist so allgemein, daß rationeller Weise hier nur nach Voraussetzungen, Methode und Konturen einer Antwort gesucht werden kann. Um diese Frage geht es angesichts unserer Wirklichkeit, unserer gegenwärtigen Situation in der D D R . Wir müssen sie uns stellen, die wir in einer stabilisierten sozialistischen Gesellschaft leben, im Randstaat des sozialistischen Systems gegenüber dem Imperialismus, die wir in einer Welt ungeheurer Spannung und revolutionären Wandels 14

leben, da die Völker ganzer Kontinente zu neuen sozialen Existenzformen aufgebrochen sind, da die wissenschaftlich-technische Revolution erste Konturen der Zukunft vorzeichnet, da die menschlichen Belange in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, zwischen Hunger und Raumfahrt sich fächern. Seit jene klassischen Werke entstanden - in der Postkutschenzeit, vor der industriellen Umwälzung in Deutschland, vor der Entfaltung des industriellen Kapitalismus - , ist in zwei Weltkriegen die Expansion des deutschen Imperialismus gescheitert. Weimar sah Buchenwald, und Auschwitz wurde Epochensymbol. Doch im Kampf demokratischer und sozialistischer Kräfte gegen diese Entwicklung zum Imperialismus und seiner Katastrophe war die klassische Tradition lebendig: gegen ihre Ausnutzung als Legitimation und Ornament imperialistischer Weltherrschaftsansprüche. Und der neue deutsche sozialistische Staat behandelt sie - vom Anfang an - als seine Tradition, seine Kultur- und Bildungsvoraussetzung, als Bestandteil sozialistischer Kultur. Die Frage nach dem Klassischen, nach dem Wert klassischer Literatur - auch für unsere eigene Entwicklung - ist auch neu zu stellen angesichts der Tatsache, daß neue Generationen in eine entwickelte sozialistische Gesellschaft hineinwachsen. Die ist für sie zunächst Gegebenheit, quasi natürliches Milieu, dem sein Gewordensein, die Kämpfe, Leistung und Leiden seiner Vorbereitung, seiner Durchsetzung, dem sein Werden nicht an dem, was unmittelbar erfahren wird, abzulesen ist. Was einst kühn erdacht und vorgefühlt, tritt ihnen in der zumeist nicht attraktiven Gestalt schulischen Lernstoffs entgegen. Was Resultat von Erfahrungen, historisch erlittene Erkenntnis, verkrustet sich in lernbarem Merksatz. Modern strukturierte Umwelt vom Lebensstandard bis zu den Medien - erzeugt ein verändertes System von Ansprüchen, Beschäftigungen, einen Pegel der Selbstverständlichkeiten, auf deren Boden Iphigenie als vorzeitliche, unnatürlich-fremde Erinnerung erscheint. Die Pille hätte die Gretchentragödie vermeiden lassen - solche Argumente lassen sich leicht ausspinnen. Natürlich haben sich Verhaltensgewohnheiten und Normen in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern geändert. Hat sich dadurch die Frage der Emanzipation der Frau erledigt? Fehlt dem Faust zum Menschheitsrepräsentanten nicht, was ihn hinanzieht? Die Klassik steht in Frage, weil ihre Aneignung nicht selbstverständlich ist. Das ist sie nie gewesen. Sie verlangte immer Interesse und Anstrengung. Doch geschah dies in anderen Zusammenhängen, 15

anderer Funktion, von anderen Voraussetzungen her. Schon die Generation der Älteren hatte andere - keineswegs günstigere Voraussetzungen. Und mindestens ist unsere Frage zu stellen als Selbstkorrektur der Denk-, Interpretations- und Erwartungsgewohnheiten derjenigen, die sich berufsmäßig mit der Klassik beschäftigen und die ihre Vertrautheit, ihr Zu-Hause-Sein im Stoff als Bildungsnorm für alle Gesellschaftsmitglieder spontan voraussetzen. Äußerlich gesehen scheint alles in schönster Ordnung zu sein. Klassik wird in unserer Gesellschaft hoch geehrt und gefeiert, übers Erbe wird ständig diskutiert, seine Erforschung wird staatlich anerkannt, gefordert und gefördert, schließlich reich finanziert. Klassiker-Ausgaben sind schnell verkauft, Hauptwerke Schullesestoff, die Statistik der Bücher, noch mehr der Besucher der Weimarer Gedenkstätten, ja des ganzen Netzes von Erinnerungsstätten zwischen Kamenz und Stavenhagen berichtet imponierende Zahlen, die Jahrestage der Goethe-Gesellschaft vereinen eine wachsende internationale Besucherschar, Gedenktage werden mit großem Aufwand und in manchmal anstrengender Dichte gefeiert . . . Dennoch: Jeder, der mit der Vermittlung der Klassik, der besonders mit Schülern und Studenten zu tun hat, weiß, wie schwer eine adäquate Vermittlung ist, welche Widersprüche zwischen dem subjektiven Erfahrungs- und Denkhorizont und den Ansprüchen des literarischen Gegenstands überwunden werden müssen, wie schwer die Bereitschaft zu dieser Anstrengung zu motivieren ist, welche Fremdheitsbarrieren in Sprache, Problemstellung, Weltanschauung und Werten überwunden werden müssen, auch welche einst selbstverständlichen Voraussetzungen fehlen und - wie z. B. Stoffe und Metaphorik der Bibel oder die antike Götterwelt - neu gelernt werden müssen. Die spontane Phantasie neigt zum Alltäglich-Naturalistischen, zum Fortspinnen des Gewohnten - oder zu dessen grotesk-surrealer Umkehrung und Negation, so sie nicht verdorrt in der Armut, anderes als bekannte, gelernte Thesen und Meinungen oder deren Mangel zu finden. Die alltäglichen Lebenserfahrungen und Leistungsanforderungen, Tempo, Rhythmus, Reizfülle und Informationsfluß unseres Lebens, die aus der physischen und psychischen Angespanntheit erwachsenden Alternativ- und Entspannungsbedürfnisse und deren Befriedigungsformen, die materiell praktischen Interessen, Notwendigkeiten, die zu ihrer Bewältigung erforderten Bildungsvoraussetzungen haben insgesamt einen enthistorisierenden Effekt. Spontan wird die möglichst umweglose, auf unmittelbar drängende subjektive Emotio-

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nen und Bedürfnisse antwortende Kulturproduktion bevorzugt. Eine Haltung, in der Poesie lebendig wird, die Versenkung, Nachdenken, Bemühen, Überwinden von Widerständen fordert, kann normaler^ weise erst in einem längeren Lernprozeß zum Bedürfnis und zur Genußquelle werden, weil zur Voraussetzung eigener Aktivität. Stellen wir die Frage nach der klassischen Poesie heute - so steht diese Poesie einmal als Paradigma von Poesie überhaupt, zum zweiten handelt es sich um den in ihr Wortgestalt gewordenen Umkreis menschlicher Möglichkeiten - der Sinngebung, des Beziehungsreichtums, der Produktivität und Lebensgestaltung - als großes Modell zugleich des Bewältigens und Beantwortens von Erfahrungen des Epochenwandels. Zum dritten zielt diese Frage auf das Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte, das im Umgang mit Klassik sich artikuliert und formt, ja eine weitere Dimension und kommunikative Beziehung gewinnt: Es umgreift die Spanne zwischen dem Resultat und unverwirklichter Möglichkeit, zwischen Faktischem und den Entwürfen, Träumen, Hoffnungen und Verzweiflungen, zwischen dem, was sich durchsetzte und dem, was nur Wort blieb, das verschüttet und unterdrückt wurde, seines Inhalts entleert und als Dekor mißbraucht. Das rechte V e r j ständnis ist im Herstellen historischer zwischenmenschlicher kommunikativer Beziehungen zu erblicken. Erst in bezug auf Vergangenheit erfahren wir Gegenwart als Geschichte. Umgekehrt gilt, daß erst ein lebendiger geschichtlicher Erfahrungshorizont den wirklichen Gehalt klassischer Poesie zu erschließen vermag. So stoßen wir auf Grundfragen der Weltanschauungsbildung heute: W i e erfährt denn das wirkliche gegenwärtige Individuum seine und seines historischen Lebenszusammenhangs Realität, in welchem Verhältnis von praktischer Erfahrung und Einbezogensein in die gesellschaftliche Informationsbewegung? W i e erfährt es Gegenwart als Geschichte? W a s vermag es direkt bewußt davon zu erleben als Subjekt oder Objekt im Gewebe von Mikro- und Makroprozessen auf der kleingewordenen Erde bis hin zu den von ihm unabhängigen Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Lebens? Es ließe sich nun weit ausführen, welches Ensemble von Wissenschaften in Bewegung gesetzt und zusammengeführt werden muß, um hier Antworten zu finden. Diese Problematik ist theoretisch und empirisch wohl bekannt, führt weit aus der Literaturgeschichte hinaus, um so mehr auf die Voraussetzungen ihres Urteilens, Forschens und Wirkens hin; ihre systematische und kollektive Bearbeitung, deren Umfang, Ergebnis und Konsequenz spiegeln die gesellschaftliche Rolle und Effektivität eines 2

Heise, Realistik

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gut Teils der Gesellschaftswissenschaften. Schon der Widerspruch; daß nach Bildungsgesetzen von Weltanschauung gefragt wird - und Poesie ist spezifisches Bild gewordene Weltanschauung - und dennoch keine Frage jenseits weltanschaulicher Voraussetzungen, allgemeiner Deutungsmuster und Werte auch nur gestellt werden kann, das Zuerfragende Frager und Frage mit betrifft, ist ein Stachel wissenschaftlicher Unruhe, der zur Untersuchung von Lebenszusammenhang, innerer Systematik, historischer Widerspiegelungsdialektik nicht nur der Literaturwissenschaft zwingt. Aus all dem erhellt, daß jede Rezeption klassischer Literatur ihre Voraussetzungen, Impulse und mögliche produktive Funktion im gegenwärtigen geschichtlichen Leben und den aus ihm erwachsenden Erfahrungen und Gedanken findet. D i e wissenschaftliche Bearbeitung und Interpretation sind nur eine besondere Form, eine spezialistischarbeitsteilige und auf allgemeinere Vermittlung hin orientierte Form der gesellschaftlichen Rezeption. Doch die unmittelbar erfahrene Gegenwart ist in zeitlicher und räumlicher Hinsicht ein Moment des weltweiten Epochenprozesses, wie er massenhaft getätigt, gelebt und erfahren wird. Erfahrung, die wir mit uns selbst machen, amalgamiert sich mit weltweit kommunizierter - dies entspricht der objektiven Dialektik des Weltprozesses, ist mit deren Produkt, vermittelt sie zugleich. Diese Erfahrung betrifft die Menschen im Wandel der Formation, im riesigen Spannungsfeld des revolutionären Weltprozesses, der nationalen und internationalen Klassenkämpfe, der Völkerkämpfe, der explosiven Produktivkraftentwicklung, des in diesem Umbruch sich vollziehenden Aufbrechens und Aufarbeitens aller vorhandener Stufen bisheriger Formationsgeschichte der Menschheit - der Begegnung zwischen Steinzeit und Raumfahrt, zwischen Urgesellschaft und Sozialismus, ideell gesehen zwischen archaischen Geisteshaltungen und einer neuen Stufen der Welterkenntnis zujagenden Wissenschaft - das ist eine alles andre denn lineare und leicht durchschaubare Bewegung, die erst in einer kommunistischen Welt ihre antagonistische Form verlieren kann. Und in dieser Gesamtbewegung erst kann „Menschheit" mehr werden als Gattungsbezeichnung, Sammelbegriff und Versöhnungstraum. Den ungeheuren Widersprüchen unserer Epoche entsprechen Extreme der Erfahrung des Menschen-Möglichen: im Produktiven und Destruktiven, Human-Solidarischen und Bestialischen, in aktiver Gestaltungs- und Tatkraft einerseits, der Leidensfähigkeit und -geduld bis zu purer Opfer- und Objekthaltung andererseits, der Versteine18

rung und der Erneuerungsfähigkeit. Das ist hier nicht auszumalen, nur an den Zusammenhang der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mit der Ausrottung des Menschen durch den Menschen zu erinnern. Wesentlich ist, daß hier Erfahrung in ihrer Komplexität verstanden wird, wie sie aus der Lebenspraxis erwächst, daß sie nicht identifiziert wird mit der wissenschaftlichen Empirie, die ihre hoch entwickelte und differenzierte, methodisch je systematisch organisierte und kontrollierte arbeitsteilige Spezialisierung auf bestimmte Gegenständlichkeiten hin ist. Ihr sind die geschichtlich gespeicherten Universalien, Anschauungen, Werte, theoretischen Abbreviaturen wohl immanent, zugleich die lebenspraktische Orientierung. Erfahrung bleibt für Poesie und deren Verständnis leer, so sie nicht das wirklich gelebte Leben der Individuen faßt, ja teilt. Hier wird Phantasie zum Ferment, Wirklichkeit zu erschließen. Der Zusammenhang der Epoche durchdringt im Objektiven wie Subjektiven, direkt und indirekt, in Voraussetzung, Intention und Adressaten jedes Kunstwerk - und jede Interpretation. Darum sind beide Verhalten zum und im Geschichtsprozeß, ihre Wahrheit ist geschichtlich-ideologisch vermittelt oder auch verfehlt. Wollen witf uns nicht bloßer Spontaneität überlassen, ist es notwendig, zu klären, was die Klassik historisch geleistet und was sie für uns bedeuten kann, was wir mit ihr gewinnen wollen. Es ist also konzeptionell artikuliertes Wollen notwendig, das sich bewußt auf die materiellen und ideologischen Kämpfe der Epoche bezieht - auch in der notwendig experimentierenden Haltung, die in der Wahrheit klassischer Werke das uns Betreffende, ja uns selbst zu entdecken sucht. Nur als Beispiel sei hingewiesen auf die offenkundige Problematik der Dramen der deutschen Klassik auf unseren Bühnen. Theater sind hochsensible kollektive Produktions- und Reproduktionsorgane. Wenn wir nun feststellen, wie oft da trivialisiert oder verflacht wird, nur des Regisseurs oder der Akteure Subjektivität, deren aktuelles Befinden dargestellt, gedanklich-allgemeine Gehalte privatisiert werden oder verfehlt, so wäre dies gewiß richtig, aber zu bequem. Hier zeigt sich öffentlich, was massenhafter vorgeht. Hier werden die inneren Schwierigkeiten sichtbar, die überwunden werden müssen, damit das W e r k der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts theatralische Gegenwärtigkeit gewinnen kann und uns angeht. In welchem Gewände und Werk auch immer: zwischen Bühne und Publikum wird über das gegenwärtige gemeinsame Leben kommuniziert. Nur das aktuell lebendig 2»

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Erlebte geht uns an, und nur uns Angehendes kann erlebt werden, als eigene Möglichkeit erfahren, dadurch die alltäglich geformte routinierte Alltagspartikularität aufgebrochen, das Identische im anderen bewußt, freigesetzt und ins Spiel gebracht werden: Erst in solchem Spiel entsteht theatralischer Genuß. Die theatralische Vergegenwärtigung von Werken der Vergangenheit, soll sie mehr sein als bloße Gegenwartskostümierung, ist eben nur zu gewinnen über die Erfahrung der Gegenwart als Geschichte, als geschichtlich geworden, werdend, vorübergehend und zukunftsträchtig. Hier wäre durchaus die Literaturwissenschaft zu befragen, welche Hilfen sie den Regisseuren und Schauspielern gibt. Ob ihre Einsichten in diesen Prozessen anwendbar seien, ob sie als produktiv machende Vorschläge begriffen werden - und ob nicht eine gewisse interpretatorische Selbstgenügsamkeit ausspart, daß da Epochen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dem korrespondiert auf Seiten der Künstler eine verbreitete Neigung zur Theoriefeindlichkeit, ein gewisser Fetischismus, die eigene Unmittelbarkeit von der Emotion bis zum Einfall zu verabsolutieren.

3 Wie läßt sich die geschichtliche Leistung der klassischen deutschen Literatur umreißen? Der Terminus des Klassischen ist vieldeutig. Im folgenden verstehe ich darunter weder einen Stil noch eine Phase im Schaffen Goethes und Schillers, sondern die fortschreitende Bewegung - bzw. deren Leistungen im Entwicklungsprozeß von der literarischen Revolution der siebziger Jahre bis zu Goethes Spätwerk. Für sie steht der Faust als epochenumspannendes Gesamtwerk. So entstand eine Nationalliteratur. Ich sehe hier ab von Fragen des Literaturmarktes, der literarischen Gesamtkommunikation, ihrer Differenzierung in Funktion, ideologischen Tendenzen und Niveau, sondern frage nach der für heute bedeutsamen künstlerisch-geistigen Leistung. Nationalliteratur gilt zunächst in bezug auf die bürgerliche deutsche Nation. D a diese der Vergangenheit angehört, die werdende sozialistische Nation nur einen Teil des deutschen Volkes umfaßt, liegt hier schon ein spezielles Problem. Wie die deutsche revolutionäre Arbeiterbewegung in Engels' Worten stolz darauf ist, von Kant, Fichte und 20

Hegel abzustammen, und ein objektiver geschichtlicher Zusammenhang besteht zwischen klassischer bürgerlicher Philosophie und dem Marxismus, so gründet auch der sozialistische Anspruch auf die Erbschaft der literarischen, vom Bürgertum getragenen Emanzipationsbewegung auf historischer Gesetzmäßigkeit. Nur ist hier der qualitative Unterschied zwischen Poesie und Philosophie zu beachten. Dies „Erben" der Poesie wird aus einem theoretisch-kulturpolitischen Anspruch zur Realität in dem Maße, in dem die klassische Literatur faktischer Bestandteil unserer literarischen Kommunikation wird (direkt oder indirekt). Der Bezugspunkt dieser Literatur zur Gegenwart soll in ihrem Epochenverhältnis gesucht werden - als einer Literatur des Formationswandels, der Zeitgenossenschaft der bürgerlichen politischen und industriellen Revolution vom Vorabend bis zur nachrevolutionären Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft. Dies Epochenverhältnis meint das spezifische Verhältnis der Poesie zur geschichtlich-sozialen Wirklichkeit, deren Bestandteil sie zugleich ist. Es kann nicht reduziert werden auf Ansichten oder politische Gesinnungen - sowenig die Epoche, das historische Integral menschlicher Praxis identisch ist mit der begrifflichen Abbreviatur, in der wir sie in der Rückschau abbilden. Das Verhältnis zur Epoche, zur geschichtlichen Wirklichkeit vermittelt sich im poetischen Werk, das Werk ist „Verhalten", das sich von individueller Zufälligkeit gelöst hat, kollektive Form geworden ist. Es integriert den ganzen Horizont heterogener ideeller Verhaltensweisen in Bejahung und Verneinung, artikuliert sich im Selbstausdruck wie in der weltanschaulichen Verallgemeinerung, in dem, was es zeigt, und dem, was es anzeigt, in Wertung und Sinngebung - dies kann ich hier nicht ausführen. Das poetische Werk als für die sprachliche Kommunikation produziertes Gebilde ist ebenso parteiergreifende Aktion wie Abbild in spezifischer Hinsicht und spezifischem Verhältnis. Und wir treten in die Kommunikation mit ihm ein, wie es selbst historische Kommunikation vermittelt. Wir müssen uns dabei auf seinen Ernst und sein Spiel, seine Direktheit und Indirektheit einlassen und zu ihm ein personales und geschichtliches Verhältnis gewinnen. Die weltliterarische Leistung der klassischen deutschen Literatur ist nicht Resultat eines Begabungswunders. Sie ist ermöglicht durch den Prozeß der Formationsentwicklung im europäischen Maßstab und seine spezifisch nationalen Durchsetzungs- und Widerspiegelungsbedingungen; durch die vorangegangene internationale und nationale Arbeit der Erzeugung künstlerischer und intellektueller Darstel21

lungs- und Erkenntnismittel; durch die sozial-, ideologien- und wissenschaftsgeschichtlich sehr komplex bestimmte weltanschauungsgeschichtliche Situation; durch das historisch erzeugte und tradierte Potential sozialer Spielphantasie; die gesellschaftliche Verteilung der Aktionsmöglichkeiten in der Situation der Auflösung der ständischen Bindungen. Dies kann sowenig hier ausgeführt werden wie der schnell einsetzende Prozeß der Trivialisierung und epigonalen Klischeebildung im Zusammenhang des sich entwickelnden Markt- und dementsprechenden Modemechanismus.

4 D e r folgende Thesenversuch hat vor allem Goethes W e r k im Blick als das W e r k der umfassendsten Epochenreflexion und des weitesten weltanschaulichen Vorstoßes. E r will zur Diskussion um Leistung, Wert und Gegenwärtigkeit der Klassik anregen. I. D i e klassische deutsche Literatur ist eine Emanzipationsliteratur. D a s gilt für ihre ideologische Funktion, Problemstellung und Wirklichkeitsbeziehung, für das, was sie ausspricht, und die Adressaten, die sie anspricht. Im Zusammenhang der geschichtlichen Formationsbewegung artikuliert sie literarisch die kulturell-ideologische Emanzipation des deutschen Bürgertums. Dies geschieht freilich ohne die Grundlage einer starken nationalen Klassenbewegung, geschieht als Leistung einer intellektuellen Avantgarde gegen den bestehenden G e samtzustand der Gesellschaft feudaler, kleinbürgerlicher und ersten frühkapitalistischer Verhältnisse, gegen den kleinstaatlichen Absolutismus und die diesen Zustand legitimierende, in ihn integrierende Weltanschauung und Kultur. 1. Sie ist Literatur vor Bestehen einer politischen Öffentlichkeit, in der die antifeudalen K r ä f t e sich äußern und formieren konnten. Sie schuf im Ensemble ihrer Gattungen eine literarische Öffentlichkeit, in welcher das Politisch-Operative und Direkte nur tendenziell und verschlüsselt erscheinen konnte. Andre Formen scheiterten, wurden unterdrückt und zerschlagen. 2. Diese Poesie vertritt unter dem spontanen Führungsanspruch der literarischen Avantgarde den ganzen dritten Stand, fungiert als Zur-Sprache-Kommen eines Klassenbündnisses und als Sammellinse nationaler E r f a h r u n g im Gegensatz zum System der sozial-hierarchischen und lokalen bornierten Aufsplitterung dieser E r f a h r u n g in gegeneinander abgedichtete Sozialsphären.

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3. Sie ist Poesie für ein nicht mehr durch Standesschranken begrenztes und aufgeteiltes, für ein prinzipiell universales nationales Publikum - der Intention und dem Bildungsanspruch nach. 4. Die literarische Bewegung gewinnt ihre geistige Höhe durch bewußte Fortführung der deutschen wie der europäischen Aufklärungsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert, durch Verarbeitung der gleichzeitigen internationalen Erfahrung im Brennspiegel der nationalen Entwicklungsproblematik. Dies ist durch die Konstellation bedingt, in der die praktische politische Ohnmacht in Deutschland bei gleichzeitiger allmählicher Verbürgerlichung konfrontiert ist mit der englischen und französischen Entwicklung als gegenwärtiger Zukunft und der ungebrochenen Macht von Absolutismus und Leibeigenschaft in Osteuropa. 5. Dabei ist der geistige Entfaltungsraum gekennzeichnet durch die Befreiung von weltanschaulich-ideologischen und kulturellen Bindungen an die Feudalwelt, eine bewußte Modernität, ohne daß schon die Unterordnung unter die ideologischen Bedürfnisse einer herrschenden Bourgeoisie eine neue Borniertheit schuf. 6. Auf diese Weise wurde die Poesie (wie jeweils in ihrer Spezifik die Philosophie und Musik) zu einer einzigartigen Sammellinse produktiver Energie und zur Werkstätte der Verarbeitung geschichtlicher Selbst- und Welterfahrung in Erkundung, Kritik, Gegen- und Möglichkeitsentwurf. 7. Ihre Chance und ihre Gefährdung liegen in dieser Konstellation: Erringt sie auf der einen Seite eine neue weltliterarische Höhe, so ist sie auf der anderen gefährdet durch den Umschlag von Not in Tugend, durch verklärende Anpassung an die „platte" und Flucht in die „überschwängliche" Misere. Doch die produktive Antwort auf die geschichtliche Konstellation gewann in der poetischen Verarbeitung der Selbst- und Welterfahrung und darin der Verteidigung der Poesie gegen eine prosaische depravierende Welt eine neue Dialektik von Wirklichkeit und Möglich-' keit, von Augenblick, Zustand und Gesamtentwicklung. In einem Spektrum, das von der unmittelbaren Rebellion gegen absolutistische Herrschaft, unterjochende Verhältnisse bis hin zur poetischen Konzeption reicher Humanität - zur Konzeption des Menschen als Akteur seiner Geschichte, als aktives Subjekt, als produktiver Gestalter der Natur wie des eigenen gesellschaftlichen Miteinander reicht, werden Zustand, Bedürfnis und Möglichkeiten des Menschen im Epochenwandel erkundet, ausgesprochen, utopisch und antizipierend entwor23

fen. Aus der Tiefe und Allgemeinheit dessen, was da dichterisch zu Bewußtsein gebracht wird, erwachsen Entwürfe und Intentionen, die über die bürgerliche Gesellschaft hinausweisen, sie gerinnen in poetischen Gestaltungen, die dank ihrer Objektivität das unmittelbare ideologische Bindungsgefüge ihrer Genesis sprengen. II. Die weltliterarische Leistung liegt in einem Ensemble unterschiedlicher Momente: in der Einheit von befreiter subjektiver lyrischer Ausdrucksfülle und -intensität; psychologisch tiefer und reicher Individualitätsgestaltung im Verhältnis des Individuums zur Gesell^ schaft, im Verhältnis seiner subjektiven Intentionen, Bedürfnisse und Möglichkeiten zur „Politur" und den gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen; der dramatischen und epischen modellhaften Gesellschaftsanalyse und -kritik, bezogen auf die Formationsbewegung bzw. deren Phasen als Zustände; Entwurf und Erkundung geschichtlicher Handlungsmöglichkeiten an historischen Modellen, die zugleich die Gegenwart historisieren - und weltanschaulicher Verallgemeinerung einer emanzipatorischen menschheitlichen Perspektive. 1. Die Komplexität dieses Gefüges läßt eine neue Stufe weltliterarischer Realistik und poetischen Erfassens der Epochenphysiognomik entstehen, die ihren Höhepunkt und ihre Zusammenfassung in Goethes Faust findet. Methodisch zeichnet sie sich durch einen weiten Spannungsbogen von sinnlich-individueller Konkretheit und Gegenständlichkeit bis zum historisch-weltanschaulichen Gehalt aus, der vermittelt ist durch hohe Reflektiertheit des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit. In vielfältiger Spiegelung und Komplexität erscheint als Grundthema das Verhältnis der „aktiven Seite", die im Gegensatz zur Philosophie dank der künstlerischen Konkretheit nicht auf geistige Arbeit reduziert ist, zum „notwendigen Gang des Ganzen". 2. Dadurch entsteht zugleich ein Typ Poesie, der weltanschaulichemanzipatorischen Anspruch erhebt, ja, weltanschauliche Emanzipation in actu ist: Vollzug und Darstellung eines humanen Auf-sichgestellt-Seins jenseits religiöser Bindungen und Versicherungen. a) Die weltanschauliche Emanzipation - die in bezug auf den literarischen Gesamtprozeß sehr widerspruchsvoll sich bewegt - liegt in der Entdeckung und Bejahung der wirklichen, diesseitigen Welt als Existenz-, Handlungs- und Erfüllungsraum des Menschen; in bewußter Bejahung des sinnlich-gegenständlichen Menschen und seines Lebensanspruchs; in der Befreiung seiner Sinnlichkeit vom Sündenbewußtsein - und damit dem Abbau des Heiligenscheins der bestehenden Verhältnisse, in der Aufklärung des Schicksals in seiner natür24

liehen Kausalität. Der Abbau des Jenseits als Erlösungssphäre läßt am Diesseits die Dialektik von Gegenwart und Zukunft als natürlichnotwendigen Zusammenhang bewußt werden, er befreit das perspektivische Geschichtsdenken. Die Poesie macht am Modell ihres Schöpfertums den Menschen als Schöpfer seiner Welt und ihrer Götter bewußt (programmatisch dazu: Faust, Vorspiel auf dem Theater). b) Entscheidendes Mittel dessen ist die Verwandlung der religiösen Vorstellungswelt in poetische Spielmetaphern und -formen bei gleichzeitiger Freisetzung und Aufnahme des irdischen Gehalts. Dies beansprucht alle kritisch-künstlerischen Methoden - von kritisch-analytischer Darstellung des Verhältnisses von irdischem Zustand und Glauben bis hin zur Parodie und Umkehrung. c) In der Aufhebung der religiösen Entfremdung, die zugleich an der Emanzipation der Poesie von religiöser Zwecksetzung und Normierung sich bewährt, wird ein Bild des natürlichen, befreiten Menschen Gehalt des Schönheitsideals. Das ist ein Aspekt zugleich der Antikerezeption. 3. Die literarische Emanzipationsbewegung sprengt - schon in ihren rebellischen Anfängen - den Form- und Regelkanon, somit die poetische Kommunikationsnorm der ständischen Gesellschaft sowie deren Weiterführung in den didaktischen Modellen der Aufklärung von oben. Ausgangspunkt ist die poetische Subjektivität in ihrer konkreten Gegenstandsbeziehung und ihrem Aktions- und Ausdrucksbedürfnis. In immer erneuten Anläufen wird von hier aus eine Form-InhaltDialektik neuer Struktur entwickelt, mit je individuell-gesetzlichem Werk, in dem die Individualität des Poeten in je neuer Auseinandersetzung mit dem Gegenstand - im Rahmen der inneren Gattungsgesctzlichkeit als Kommunikationsbedingungen - konstitutiv ist, was zu einer unerhörten Vielfalt der Formbildung führt, einer - zwar immer durch Willkür gefährdeten - auf die innere Gesetzlichkeit, die „innere Form" verpflichteten Freiheit. Nach der Phase der Sturm-und-DrangRealistik und -Expressivität wird ein Werkideal verfolgt, dessen Objektivität, Vollkommenheit und Schönheit als Bedingung der Allgemeinheit des Gehalts, der Selbstbefreiung von und der Kritik an der depravierenden Prosa des Alltags, der bestehenden Wirklichkeit und zum Medium der Perspektive wird. In der Auseinandersetzung mit der werdenden bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Widersprüchlichkeit wird das harmonische Modell dieser Schönheit aufgebrochen zugunsten eines der neuen Wirklichkeit angemessenen realistischen Gefüges ästhetischer Beziehungen (Wanderjähre, Faust II). 25

a) Emanzipatorische Leistungen wie die Aufnahme des Epochengehalts, seine Verwandlung ins poetische Bild gelingen über das Betreiben und Erkennen der Poesie als relativ selbständiger Sphäre menschlicher Tätigkeit mit eigener Werkgesetzlichkeit, die gegenüber den Zwecksetzungen von Kirche und absolutistischem Staat einerseits, gegenüber den Marktbedürfnissen und -praktiken als autonom behauptet wird. Darin liegt eine Befreiung von instrumentaler Unterordnung unter didaktische Zwecke wie unter das pure Unterhaltungsund Ablenkungsbedürfnis. Dies ist die Voraussetzung, den neuen Weltanschauungsanspruch, die emanzipatorische Bildungsfunktiori und die Universalität des Gehalts zu gewinnen, in der Poesie eine Öffentlichkeit mit spezifischem Geltungsanspruch und einen geistigen Emanzipationsraum zu erobern. Kehrseite dessen und die historischen Spesen dafür sind der Verzicht auf unmittelbares operatives Agieren, auf das direkte Sich-Einlassen auf die Prosa des gesellschaftlichen Lebens. Eine idealistische hypertrophierende Verselbständigung dessen ist die frühromantische Kunstreligion, die aus der Preisgabe der geschichtlichen Perspektive ihren Impuls erfährt. D e r weltanschauliche Kerngedanke der Bestimmung der Kunst als Selbstzweck aber ist, d a ß die Kunst ästhetische Realisierungsgestalt des Menschen als Selbst-1 zweck sei: genauer: seine Darstellung als Selbstzweck, als „Natur", freie Entwicklung und Betätigung seiner K r ä f t e als Selbstzweck. Dies ist die historisch-ideologische Form und zugleich Vermittlung, Kunst mit höchstem Anspruch gegen den depravierenden Druck der unmittelbaren Verhältnisse als einen Freiheitsraum zu produzieren, in dem zu diesen Verhältnissen in ihrer Historizität Stellung bezogen wird. 4. D e n Wirklichkeitsgehalt gewann diese Poesie der Klassik durch eine schöpferische Synthese von direkt individueller sozialer E r f a h rung, solidarisch aufgenommener Volkserfahrung und der jener historischen Epoche möglichen höchsten weltanschaulichen philosophischtheoretischen wie künstlerischen Bewußtheit und entsprechenden Verallgemeinerungsformen. a) In diesem Zusammenhang gewinnt die bewußte A u f n a h m e der Weltliteratur als Aneignung geschichtlicher Menschheitserfahrung einen wichtigen Stellenwert. D a s betrifft zunächst die Poesie der Antike und Renaissance, besonders Shakespeares, des englischen und französischen Aufklärungsrealismus (besonders Diderots), schließlich die speziell volksliterarischen und -theatralischen Traditionen. Dies führt in Überwindung des Europazentrismus zu einem universalen, Orient und Okzident umfassenden geschichtlichen weltliterarischen

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Horizont, von dem aus die Spezifik der Gegenwart schärfere Kontur erhält. Literaturpolitisch wird dies im goethischen Konzept der Weltliteratur - mit unterschiedlich nuancierendem Bedeutungsfeld - produktiv. 5. Bedingung klassischer Kunst ist eine außerordentlich hohe Bewußtheit: einmal in bezug auf den wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisstand der Epoche; zum zweiten in bezug auf die Epoche selbst und die Bedingungen poetischer Produktion in ihr. Ästhetisches Denken wird Form einer Ortsbestimmung der Gegenwart im weltgeschichtlichen Zusammenhang. Zum dritten fordert die doppelte Orientierung auf Realität und deren poetisches Darstellen Reflexion der Grundbeziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit zum ersten M a l e werden Realismus und Idealismus in der Ästhetik theoretisch prinzipiell konfrontiert - wie auch hinsichtlich der Spezifik des Poetischen und Künstlerischen im Verhältnis zur unmittelbaren Erfahrung, zur Natur und zur Wissenschaft. Viertens betrifft dies die speziell poetologische Reflexion über die Gattungen und Genres, die zunehmend in der Dialektik von Form, historischem Gegenstand und kommunikativer Beziehung begriffen werden wie auch hier liegt eine der besonderen Leistungen Herders und vor allem Goethes - als historisch-sozial bedingte Formen der Verarbeitung des Wirklichkeitsstoffes, gesammelt in kollektiver Erfahrung. Hauptort dieser Reflexion ist nicht die direkt theoretische Formulierung, sondern es sind die poetischen Werke selbst. III. Die klassische Literatur wurde - im Ensemble ihrer Gattungen - gesellschaftliches Organ der Formierung und Konkretisierung eines geschichtlichen Epochenbewußtseins, Darstellung, Ausdruck und historisches Selbstbegreifen der Menschen im Wandel von der feudalen zur bürgerlichen Formation. Sie wurde dies im Prozeß der Verarbeitung der geschichtlichen direkt oder indirekt gewonnenen Erfahrungen vom Vorabend der Revolution von 1789 in Frankreich bis zum Beginn der dreißiger Jahre, zur Julirevolution. 1. Sie gewann diese geschichtliche Dimension durch ein von der europäischen Aufklärung genährtes, weitergeführtes konzeptionelles Entwicklungsdenken einerseits, die grundsätzliche Einbeziehung eines internationalen Erfahrungshorizonts andererseits, der sowohl die objektiven Prozesse feudaler Vergangenheit wie kapitalistischer Zukunft umschloß, als auch die geschichtlichen Erfahrungen der fortgeschrittensten bürgerlichen Klassenkämpfe, verarbeitet in Theorien wie Kunstwerken, einbezog. Doch der Kern ist der empirisch-sensuali27

stisch vermittelte Grundansatz realistischer Wirklichkeitsbeziehung (dazu Goethes „Gelegenheitsdichtung"). 2. Im Ensemble poetischer Gestalten erscheint ein Problemfeld, das am Verhältnis der Individuen zur Gesellschaft Widersprüche innerhalb und zwischen der feudalen und der bürgerlichen Gesellschaft bewußt macht, Widersprüche auch im Verhältnis der Völker zu ihrer sozialen und politischen Lebensordnung, zu ihrer „Politur" in der weiten Dimension vom Intimen bis zu großen geschichtlichen politischen und sozialen Konflikten. Darin wird ein Modell menschlicher Möglichkeiten, der subjektiven Produktivität, damit der Gestaltbarkeit der menschlichen Verhältnisse als eine utopische Perspektive entworfen, deren Realisierung nicht innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft möglich ist. Entscheidend ist, daß sich Kritik an der Feudalwelt mit einer kritischen Wendung gegen die Unterdrückungs- und Entfremdungsaspekte der bürgerlichen Gesellschaft amalgamierte, ohne daß der durch die bürgerliche Entwicklung entbundene Produktivitätsgedanke (Goethe), das perspektivische Entwicklungsdenken und der aus der Revolutionserwartung erwachsende Anspruch auf Erneuerung der gemeinschaftlichen Beziehungen (Hölderlin) preisgegeben wurden. In der Historisierung des Geschlechterverhältnisses, im Sichtbarmachen der christlich-patriarchalisch-bürgerlichen Unterdrükkung der Frau und deren Aufhebung in menschlicher Perspektive gelingt hier Goethe ein besonders weiter Vorstoß. 3. Beziehungsreichtum und historische Konkretheit (auch in symbolischer Verschlüsselung) werden gewonnen und finden ihren Zusammenhang in der sozialen Entgrenzung gegenüber den ständischen und selbst bürgerlich-ständisch-intellektuellen Normen, in der poetischen Entdeckung, solidarischen Aufnahme und realistischen Darstellung des Lebens, der Erfahrungen und der Intentionen auch der unterbürgerlichen bäuerlich-plebejischen und frühproletarischen Klassen und Schichten, der Entdeckung ihrer schöpferischen Potenzen, ihrer menschlich-tragischen Größe und selbständigen geschichtlichen Aktionsmöglichkeiten. Dies geschieht freilich innerhalb der Möglichkeiten eines ideologischen Gesamtrahmens, in dem sich die bürgerliche künstlerische Avantgarde als Sprecher der ganzen Nation betrachtet. Bei allen Widersprüchen: ein Spektrum, das sich entfaltet von der Helfenstein-Szene des Götz zu Gestalten wie Klärchen und Gretchen, zu den Räubern und zum Kammerdiener in Kabale und Liebe, zum Teil, das im Faust ein epochales Panorama umfaßt. Dies 28

Spektrum ist schon im prometheischen Grundansatz des Sturm und Drang angelegt und wird entsprechend den historischen Erfahrungen je neu angegangen. IV. Die Hauptleistung der gesamten Literaturperiode von 1750 bis 1830 sehe ich in jener Entwicklungslinie, die Goethe und Schiller verfolgten, die in Lenz einerseits, Hölderlin andererseits tragische Repräsentanten fand, die schließlich Goethe - bei deutlicher Distanzierung von Schillers Idealismus - in der entwickelten Gestalt der philosophisch-symbolischen Dichtart (Faust II) vollendete. Diese Linie ermöglichte unter den gegebenen historischen Bedingungen in Deutschland das höchste Maß an Produktivität und perspektivischer Wirksamkeit. Hier wurden Maßstäbe gesetzt - methodisch ein geschichtliches Modell poetischer Epochenbewältigung geschaffen, die ja zugleich Selbstbehauptung und Aktion ist.

5 Der „literarischen Revolution" darf keine politische revolutionäre Zielsetzung unterstellt werden. Unmittelbar-politisch gesehen war sie im ganzen bürgerlich-reformerisch. Die revolutionäre und demokratische Linie mußte unvermeidlich unter diesen historischen Bedingungen tragisch scheitern. Trotz aller Kompromisse aber zeigt die klassische Linie eine klare Distanz zur feudal-aristokratischen Konterrevolution einerseits, zur kleinbürgerlichen Untertänigkeit und Milieubindung andererseits, die wesentlich mit dem Festhalten an früheren Stufen der Aufklärung verbunden ist. Die romantische Bewegung setzt mit der Enttäuschung und Isoliertheit bürgerlicher Intelligenz in der nachrevolutionären Periode ein, reagiert dann wesentlich auf die neuen Probleme durch Zurücknahme der historischen Perspektive und weltanschaulichen Emanzipation, sosehr sie eine gesteigerte Sensibilität für die das private Individuum und die künstlerische Subjektivität bedrängenden Verhältnisse und Widersprüche der zeitgenössischen Gesellschaft entwickelt. In der nachrevolutionären Situation setzt jedoch eine besondere Leistung der Klassik an: Sie stellt sich den neuen Problemen der bürgerlichen Gesellschaft, sucht sie gedanklich-poetisch zu durchdringen im Zusammenhang der Gesamtentwicklung der Menschheit. Während in der Philosophie hieraus Hegels Dialektik entstand, ist Goethes Faust die umfassende poetische Antwort auf diese Situation, die 29

vertieften Historismus und experimentales Durchforschen der bürgerlichen Gesellschaft Ränder jähre, Wahlverwandtschaften, Dichtung und Wahrheit) einschließt. Diese Poesie impliziert eine Geschichtsdialektik im poetischen Bilde, ist poetische Epochendeutung - gegenüber allen Tendenzen der Flucht in die Vergangenheit und bloße Utopie. Hier soll nicht polemisiert werden gegen die historische Erforschung der Gesamtperiode, wohl aber gegen Konzepte, die diese Klas-. sik als bloßen Umweg zwischen Aufklärung und Moderne abwerten. Es ist notwendig, das reiche Spektrum poetischer Leistungen und divergierender sozialer Bestrebungen zu erforschen. Es ist notwendig, zu einem über den bisherigen Stand hinausgehenden marxistischen Bild von Kleist und Jean Paul, Hölderlin und E. T. A. Hoffmann gerade hinsichtlich ihrer poetischen Leistungen zu kommen. Und es ist not j wendig, in den revolutionären Kräften jener Epoche Vorkämpfer der künftigen zu erkennen - hier also eine politische Tradition bewußtzumachen. Da bestand keine Harmonie oder wechselseitige Ergänzung. Lenz' Zerbrechen, Hölderlins Wahnsinn und Kleists Selbstmord zeigen über alle individuelle Bedingtheit hinaus - Grenzen des geschichtlich Möglichen an. Lenz, der sich als „stinkender Atem des Volkes" verstand, Hölderlins politische und poetische Unbedingtheit, die mit der Wirklichkeit nicht fertig werden konnte, Kleist, der die Verwirrung der extremen Gefühle in seiner preußischen Unbehaustheit nicht zu bewältigen vermochte: sie zeichnen Möglichkeiten - so Lenz' Milieurealistik, Hölderlins über seine poetische Welt gewonnene neue lyrische Unmittelbarkeit und Einfachheit - , die gerade ob ihrer Wirklichkeitsnähe und ihres wirklichkeitsfernen Anspruchs scheiterten. Das widerlegt nicht die Größe des Ansatzes und Einsatzes, im Gegenteil, es macht zugleich kritischer gegen die Erfolgreichen, macht bewußter auch, womit klassische Vollendung bezahlt wurde - und sie schützte nicht vor der Glocke. Nur - das soll nicht blind machen für Goethes und Schillers Bewältigen der Widersprüche, für ihr Bewußtsein von dem, was sie sich versagten und versagen mußten, es sollte mehr auch auf ihre Tragik achten lehren und vor allem davor bewahren, sie mit den liberalen harmonisierten Traditionsbildern zu verwechseln. Legen wir jedoch den Maßstab der poetischen Gesamtleistung, der weltanschaulich-poetischen Emanzipationsleistung, der im Werk ge j stalteten Wirklichkeitsfülle und möglicher produktiver Impulse für unsere Epoche an, dann zeichnet sich doch die Leistung Goethes 30

sosehr er sich als geschichtliches „Kollektivwesen" sah und wir ihn so begreifen - als Zentrum ab. Um der gegenwärtigen Produktivität der Klassikforschung willen wäre es falsch, allzu tempelhafte Goethevergötzungen, die Konzeption der deutschen Renaissance, falsche Harmonisierungen und unkritische Modernisierungen Goethes dadurch korrigieren zu wollen, daß in einem positivistischen Synkretismus nun alle Tendenzen und Bewegungen gleichrangig behandelt werden. Wir kommen um Wertung, um Entscheidung nicht herum. Das heißt nicht Kritiklosigkeit, im Gegenteil. Eine historisch und ästhetisch fundierte Kritik hat nicht nur die Epoche mit ihren äußersten Möglichkeiten und unvermeidlichen Grenzen im Blick, sie wird von dort ansetzen müssen, wo die miserablen Bedingungen künstlerischer Produktivität in ideologische und ästhetische Bedingungen umschlagen. Und gerade Goethes Werk ist ein Modell geistiger Epochenbewältigung, das unter geschichtlich äußerst hemmenden Umständen subjektive Produktivität behauptet und entfaltet, darin aber die menschliche Produktivität zu einem Leitfaden des Geschichtsbegreifens macht und von hier aus das Verständnis der Widersprüche ihrer Entwicklung in einer menschheitlichen Gesamtperspektive sucht. Goethe hat die tiefste weltanschauliche Begründung für das individuelle Bestehen wie für den Realismus der Poesie im bewußten Ergreifen des „Stirb und Werde", der produktiven Erneuerungsfähigkeit der Individuen und Völker gefunden und poetisch ausgesprochen. Und eben dies ist die Alternative zur Unterordnung unter den unmittelbaren Druck der Verhältnisse und zur gewiß leidenschaftlichen Reaktion aus unmittelbarer Betroffenheit, zur Enttäuschungsreaktion - eine Alternative, die zugleich gründet im Festhalten am Entwicklungsgedanken und im Einbeziehen der erfahrenen Widersprüche in seinen Horizont. Grundsätzlich ändert sich die Lage nach 1830. Jetzt tritt der Kampf um die politische Öffentlichkeit und mittels ihrer um die demokratische Umgestaltung in den Vordergrund, schon verbunden mit dem aufbrechenden sozialen Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat. Hier beginnt eine neue Periode, die über die revolutionär-demokratische Dichtung (Heine, Büchner) und den bürgerlichen Materialismus (Feuerbach) zur Herausbildung der selbständigen sozialistischen Ideologie führt. Die klassische Literaturperiode in der Fülle ihrer divergierenden Ansätze und in ihren Hauptleistungen ist nicht in ein lineares Schema der Höherentwicklung des Realismus als Übergangsperiode zwischen 31

dem Realismus des 18. Jahrhunderts und dem des 19. Jahrhunderts einzuordnen. Ist sie dem ersten überlegen durch die Tiefe und Totalität der Individualisierung und die historische Dimension, so gewinnt der zweite ihr gegenüber gewiß soziale und historische Konkretheit, verliert jedoch die geschichtliche perspektivische Dimension und den in der klassischen Form artikulierten emanzipatorischen und utopischen Totalitätsanspruch menschlicher Entwicklung.

6 Ist dieser Ansatz richtig, so drängen sich sofort Lücken in der wissenschaftlichen Arbeit auf. E s fehlt bislang eine zureichende Geschichte der Klassikrezeption in der deutschen Arbeiterbewegung. In sie gehört auch Marx' und Engels' Bildung durch die deutsche Literatur, somit das Spektrum ihrer inhaltlichen und sprachlichen Goetheanismen, gerade wenn sie nicht ausdrücklich namhaft gemacht werden. In sie gehört die Klassik in ihrer auch ambivalenten Funktion innerhalb der Arbeiterbildung. Besonders wichtig scheint mir die Analyse ihrer Funktion als Wert- und Motivbildner sowie als Artikulationsform im demokratischen und antifaschistischen Kampf und - allgemeiner noch - als Ferment des Übergangs zu sozialistischen Positionen. D e r innere geschichtliche Zusammenhang der Klassikrezeption - bei aller ihrer Vielgestaltigkeit - in der progressiven und revolutionären Bewegung findet seine sachlogische Fortsetzung in der Klassikrezeption der D D R - ausgehend von ihrem Stellenwert in der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung. Von der bisherigen Entwicklung aus geht die historische in eine konzeptionelle und prognostische Fragestellung über. Weil wir in den Anfängen einer wissenschaftlichtechnischen Revolution und ihrer Konsequenzen stehen, vor einer erst anvisierten neuen Entwicklungsdynamik, vor qualitativen Wandlungen der Technologie, Tätigkeitsformen, der gesellschaftlichen Anforderungen an subjektive Qualifikation, Mobilität usw. erwachsen hier prognostische Aufgaben hinsichtlich der Verhaltens- und Bedürfnisentwicklung, Wertbildung usw. und dementsprechend auch für die kulturelle Funktion des klassischen Erbes, soll es nicht zum Refugium der Nostalgie werden, welche gerade das Nichtbewältigen der schnell sich ändernden Umwelt - im Gegensatz zu deren produktiver Gestaltung und aktiver geistiger Verarbeitung - zementiert. Lücken werden hinsichtlich Theorie und Methode der Untersu-

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chung solcher geschichtlicher Rezeption sichtbar. G e r a d e in der E r schließung des weltanschaulich-philosophischen Gehalts der poetischen F o r m , der wertenden und inhaltlichen Funktion von Formstrukturen scheinen mir weite Leerstellen zu bestehen, die praktisch durch Intuition überbrückt zu werden pflegen. Hier muß die systematisch-historische ästhetische Forschung ansetzen. D a m i t steht zugleich das Problem der - konkret historisch nachzuweisenden - Verarbeitung geschichtlicher Erfahrungen im poetischen Produktionsprozeß, zugleich des Faktums, daß in der poetischen B i l dung G e h a l t e ausgesprochen werden können, welche von der gleichzeitigen Philosophie nur in einseitig verzerrenden, weil spezifisch ideologischen Formen begrifflich artikuliert werden konnten. D i e konkretere Gestalt, die B i n d u n g ans Sinnfällige ermöglicht gerade eine begriffliche Verallgemeinerung unter anderen Voraussetzungen der Rezeption als denen der Entstehungszeit. D a r i n verbirgt sich zugleich das Wahrheits- und Abbildproblem. E s ist eine Illusion, dies in praktischer Forschung ausklammern zu können. E s steckt in allen A s p e k ten spezifisch künstlerischer Widerspiegelung. G a n z hilflos ist die Theorie der Wertung ästhetischer G e b i l d e hinsichtlich ihrer Q u a l i t ä t . Im wesentlichen bewegen wir uns zwischen Konvention und G e f ü h l , von systematischer Reflexion kann sowenig die R e d e sein wie von der Fähigkeit, überzeugend zu begründen, warum ein Werk eben ein großes Kunstwerk sei. So richtig es ist, d a ß d a f ü r keine theoretische Meßlatte erfunden werden kann, so falsch wäre es, diese Wertung als pur irrationalen A k t zu betrachten bzw. ihr Ergebnis aus der Rezeptionsgeschichte allein ablesen zu wollen. D i e s e R a n g f r a g e spielt schon in den Auseinandersetzungen der klassischen Literaturperiode eine entscheidende R o l l e , in ihr geht es um Ziel und M a ß des poetischen Schaffens selbst, sie durchdringt die Methodendiskussion, sie liegt dem hohen Anspruch der Poesie und an die Poesie zugrunde. Hier sei nur an Schillers Prolog zum Wollenstem erinnert: D i e der E p o c h e gemäße Poesie steht zur D e b a t t e . D a r a u s ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur systematisch die kunsttheoretischen Auseinandersetzungen jener Periode zu untersuchen, sondern auch die in der poetischen Praxis realisierte, die werkimmanente Poetik. U n d das ist kein Selbstzweck, sondern bringt a m M o d e l l der Vergangenheit Gegenwart zu Bewußtsein. G e r a d e die R a n g f r a g e zeigt, daß hier nicht das Vergangensein von Literatur der Vergangenheit, sondern ihr Gegenwärtigsein zur D e b a t t e steht, einschließlich der ästhetischen Maßstäbe für die Literatur der Gegen3

Heise, Realistik

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wart. Die Dringlichkeit dieser Problematik wird sofort sichtbar, wenn wir einmal an unseren in den letzten Jahren publizierten Klassikdarstellungen die Wertungen und deren Begründung zum Gegenstand einer kritischen Untersuchung machen. Erinnert sei an den Faust als poetische Summa der Epoche. Eine Phänomenologie dessen, was sich an den Aufführungen und Kommentaren der letzten Jahre ablesen läßt, sei ausgespart. Er ist zugleich ein philosophisches Hauptwerk der Epoche. Er stellt nicht nur philosophisch-symbolisch Musik als Moment von Menschheitsgeschichte dar, er enthält einen Opernakt. Diese Epoche deutscher Kultur fand ihre Gipfelleistungen in Philosophie, Poesie und Musik. Aber wir haben es in den entsprechenden Wissenschaftsdisziplinen nicht viel weiter gebracht als zu deskriptiven Zusammenfassungen. Noch dominiert die wechselseitige Abkapselung, die das relativ Notwendige verabsolutiert, sich in speziellen Grundbegriffen, Maßstäben, Jargons einmauert - und das wird auch nicht durch Round-Table-Gespräche an Festtagen aufgehoben. Dies Ensemble der geistigen Leistungen in seiner Einheit, seiner immanenten Gesetzlichkeit zu begreifen sind wir kaum über materialistische Kommentare zu Hegel hinausgekommen. Darin spiegelt sich wohl die strukturelle Unzulänglichkeit unseres Wissenschaftsbetriebs als auch die Begrenztheit unseres theoretischen Kultur- und Kulturgeschichtsverständnisses im Begreifen der geschichtlichen Systematik geistiger Leistungen im Kontext der Gesellschaftsentwicklung; schließlich zeigt sich, wie tief das Bewußtsein von der Einheit der geistigen Kultur - das doch durch die Systemkonfrontation aktiviert sein müßte - durch die überkommene Arbeitsteilung aufgelöst wurde - und das prägt nicht nur Bedürfnisse und Normen individueller Bildung. Es hat zugleich eine vorprogrammierende Funktion für das Verständnis jener Leistungen, die ja jeweils bezogen sind auf das historische Ensemble der Gattungen und Bewußtseinsformen und dieses auf je spezifische Weise reproduzieren. Damit seien die selbstkritisch-kritischen Bemerkungen abgebrochen. Natürlich, wir können nicht unsere Lebens- und Weltanschauungsprobleme durch Verabreichung von Klassik als Medizin lösen. Jeder normative Klassizismus würde die Entfremdung von der Klassik zementieren. Aber wir können unsere Weltanschauungs- und Lebensprobleme nicht ohne die geschichtliche Bewußtheit unserer selbst, nicht ohne den Epochenhorizont, nicht ohne die Anstrengung der höchstmöglichen Erkenntnis, nicht ohne die Klassik als Ferment, Form, Analogon, Modell und Stimulanz - bei voller Anerkennung

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der epochalen Unterschiede - lösen. Und ohne dies wird auch die gegenwärtige Poesie den historischen Möglichkeiten kaum gerecht werden können. Dazu gehört auch ihre Einheit von Ernst und Spiel, Phantasie und Genauigkeit, ihre philosophische Bewußtheit und ihr Lachen. Es geht um mehr als um bessere Theateraufführungen oder genauere Kenntnis von Gedichten - vielmehr um einen unabstreichbaren Aspekt dessen, wer wir historisch sind. Und darum, worauf Goethe zielte, als er in seinem vielumstrittenen Aufsatz Literarischer Sansculottismus schrieb: „Der Tag ist angebrochen, und wir werden die Läden nicht wieder zumachen."

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Zur Antikerezeption in der klassischen deutschen Literatur

D i e Frage, welche Lebens- und Bildungsbedeutung die Leistungen der klassischen Antike für uns, für unsere sozialistische Kulturentwicklung besitzen, läßt sich nicht nur in direkter Konfrontation der griechischen Kindheit der Klassengesellschaft mit unserer Epoche des Übergangs zum Sozialismus beantworten. D i e Akteure der sozialistischen Umwälzung sind selbst geschichtlich geprägt - und in diese unsere Prägung ist die Antikerezeption in rund zweitausendjähriger Geschichte eingegangen. Seit der ersten Berührung der Germanen mit der römischen Zivilisation, seit der Herausbildung römischer Provinzialkultur auf deutschem Boden, dann - nach den Stürmen der Völkerwanderung - seit der karolingischen Bildungspolitik finden wir einen ständigen, wenn auch oft unterbrochenen, immer wieder erneuten spannungsreichen Prozeß der Aneignung antiker Kultur, zugleich der Auseinandersetzung mit ihr. Diese Aneignung führt von Anregung über Kopieren zu Verarbeitung und Einschmelzung, zum Abwerfen als fremd und leblos empfundener Formen, zu erneuter Traditionswahl, Umformung und Integration. Christengott und Kirche sind spätantikes E r b e . Wir gingen durch die lateinische Schule. Dieser Prozeß war Moment des Ubergangs von der Barbarei zur Zivilisation, er durchdrang deren weitere Bewegung in Deutschland, er wirkt auf neue Weise in der Gegenwart. D i e Rückwendung zum klassischen Griechenland beginnt - als Ferment bürgerlicher Emanzipation - nach den humanistischen Leistungen der Renaissance für Deutschland erst im 18. Jahrhundert. D i e progressiven und revolutionären Bestrebungen artikulierten sich in ihrem Griechenlandbilde - und in Reaktion darauf formulierten die regressiven und reaktionären ihre Konzeption; denken wir an das 36

Sterilwerden des Klassizismus im 19. Jahrhundert und an die Brutalisierung des Bildes der Antike seit Nietzsche. Immer aber war dies ein Mittel, die jeweiligen klassenmäßigen Bestrebungen in historischem Selbstverständnis und ästhetischer Gestalt auszusprechen. Wohl die künstlerisch produktivste Beziehung zum antiken Griechenland ward in unserer klassischen Literaturepoche gefunden. Zur Funktion und Methode dieser produktiven Verwendung will ich einige Bemerkungen machen. Es war vor allem Winckelmann gewesen, der innerhalb der deutschen Entwicklung die griechische Antike als Reservoir der antifeudalen bürgerlichen ideologischen Emanzipationsbewegung erschloß. Er fußte dabei auf der gelehrt-humanistischen Tradition und 3er westeuropäischen Aufklärung. Winckelmann formulierte ein neues, antikisch geprägtes, sinnenfrohes und gehaltvolles Schönheitsideal für die bildende Kunst, dessen normativer Anspruch das Bild der vergangenen klassischen Schönheit als Sollen, als Ideal, damit als Zukunftsnorm gegen die feudalabsolutistisch beherrschte soziale Realität setzte. Er vermittelte zugleich ein neues Verständnis bildender Kunst als Gestalt weltanschaulichen und moralisch-politisch emanzipatorischen Gehalts. Er begründete schließlich das Verständnis der Kunst als Geschichte, als eines geschichtlich-gesetzmäßig im Zusammenhang jeder nationalen und sozialen Entwicklung verlaufenden Prozesses. Freilich, es hat der weiterführenden Kritik von Lessing und Herder bedurft, um diesen ideologischen und wissenschaftlichen Gehalt für die literarische Produktion und das geschichtliche Selbstverständnis fruchtbar zu machen: Dies geschah vor allem in der moralischpolitischen Dynamisierung und Aktivierung des Schönheitsideals durch Lessing, der den stoisch geprägten Helden Winckelmanns durch den menschlichen Helden ersetzte, und in Herders historischer Verallgemeinerung und damit Relativierung des Winckelmannschen Geschichtsmodells, das dadurch für eine nationale Literatur erst praktikabel wurde. Seitdem hatte der produktive Rückgriff auf die Ideen-, Stoff- und Formenwelt der klassischen griechischen Antike - im Gegensatz zur meist römisch orientierten Antikerezeption höfischer Repräsentationskunst - mehrere, sich gegenseitig bedingende, einander durchdrin-* gende, aber auch gegeneinander verselbständigende Funktionen: 1. Zunächst verlieht diese Traditionswahl den bürgerlich-progressive« Zielen und Wertungen die Würde der historischen Legitima-

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tion, zugleich die indirekte oder direkte politische Programmatik. Im Schönheitsideal klassizistischer Norm wurde der freie Polisbürger mitgemeint, und seine Jugend trug republikanischen und demokratischen Charakter. In der direkt politischen Programmatik dominierte das Modell der römischen Republik. Das griechisch gebildete menschliche Schönheitsideal aber impliziert als Norm des Bejahenswerten, des Zuverwirklichenden die Zukunft als Programm und die Verneinung gegenwärtiger Wirklichkeit. Diese antikische Kostümierung war eine Form, die notwendig über den beschränkten bürgerlichen Klasseninhalt der heranreifenden Umwälzung hinwegtäuschte - analog den ideologischen Konzeptionen der „Natur" und allgemeiner Menschlichkeit: Sie trug utopischen Charakter. Marx hat diesen Zusammenhang in seiner Analyse der heroischen Illusionen der bürgerlichen Revolution gezeigt. Wir wollen dabei nicht vergessen, daß eben im Medium dieser Illusionen menschliche Wirklichkeit und humanes Streben sich aussprechen konnten; sonst würden wir uns nicht dafür interessieren; könnten keine echte Wirkung erfahren. Doch seien hier drei Momente angemerkt, welche die allgemeine ideologische Funktion dieser ästhetischen Gestalt heroischer Illusion für Deutschland, in dem ja eine umfassende politische Bewegung fehlte, modifizieren; zugleich erfolgte eine Modifizierung durch die historische Verschiebung der Klassenproblematik - vom dominanten Widerspruch zwischen Feudalgesellschaft und Bourgeoisie angesichts der sich entwickelnden nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft auf deren innere Widersprüchlichkeit; schließlich erfolgte die Modifizierung durch den historischen Erkenntnisprozeß, der die Unwiederholbarkeit griechischer Lebensbedingungen zu begreifen begann? a) Das politische Ideal antiker Polis (oder, wenn auch in Deutschland seltener, der römischen Republik) wurde zur ästhetischen Gestalt eines Kriteriums der gegenwärtigen Verhältnisse, das sich notwendig nicht nur gegen die feudalen Verhältnisse und absolutistische Herrschaft richtete, sondern in zunehmendem Maße auch gegen die kapitalistischen Verhältnisse (Arbeitsteilung, Deformierung, Klassenantagonismus usw.); b) der Mangel politisch-praktischer Umwälzung, ja der Kräfte, die zu, solcher schon in der Lage waren, führte zur - teilweise resignativen Reduktion auf ein Individualideal, sei es der Tugend, sei es einer allseitige Ausbildung der Persönlichkeit fordernden Bildungsnorm; c) die Idealisierung wurde so hoch getrieben, daß sie, konfrontiert 38

mit der revolutionären Praxis, zum Scheitern verurteilt war (Hyperionproblematik) . 2. Ausgehend von diesem Zukunftsantizipierenden in der Bejahung griechischer Schönheit wurde die antike Tradition ästhetischen, ideellen wie mythologischen Charakters als poetisches Material, als Stoffe und Formen umfassende poetische „Sprache" verwandt, um den eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen und Bestrebungen einen allgemeinen und objektiven Ausdruck zu verleihen, dadurch zugleich den Bereich der kümmerlichen Anschauung zu durchbrechen, der im Deutschland des verwesenden Feudalismus dominierte (auch wenn dies keineswegs der einzige Weg war, näher lag die Wendung zu eigener oder verwandter historischer Entwicklung als Traditionswahl: Götz, Egmont, Faust-Stoff z. B.). Zugleich aber verlieh eben diese „Sprache" (im genannten allgemeinen Sinne) dem eigenen bürgerlich-emanzipatorischen Anliegen die allgemeinmenschlichen Anspruch erhebende Form. 3. Damit hängt zusammen, daß dies die Möglichkeit bot, sich von christlich gebundenen Formen und Wertungen zu befreien und schon vom poetischen Medium her eine zum Materialismus tendierende, meist spinozistisch formulierte Welt- und Lebensbejahung, Sinnenfreude, antifeudales „Heidentum" als Bildungsnorm zu formulieren. Diese Sprach-, Modell- und Utopiefunktion muß nun durch ein weiteres Moment ergänzt werden: 4. Der Klassizismus der bürgerlichen Emanzipationsphase trägt gewiß das Stigma des Unhistorischen. Die antikische Norm entspringt bürgerlichem Utopismus. E r ist zugleich Vehikel und Ferment historischer Selbsterkenntnis, damit seiner eigenen Aufhebung. Gera'de diese Maßstabsetzung provozierte in der Konfrontation von Antike und Moderne historisches Denken. Seit den Querelles des Anciens et des Modernes - von Vorläufern sehe ich ab - war die Bezugnahme auf die Antike Angelpunkt, den Charakter der eigenen Epoche zu bestimmen. Das gilt zunächst unabhängig davon, ob das augusteische Zeitalter in absolutistisch-höfisch geprägter Sicht oder das klassische Griechenland in bürgerlich-republikanischer und demokratischer Sicht als Ideal und Muster betrachtet wurden. Der Widerspruch zwischen der klassizistischen Wertung und der aufgeklärten Einsicht, daß Geschichte ein Prozeß des Fortschritts, der Höherentwicklung sei, am Aufstieg der Naturwissenschaft abzulesen, wurde - unter Ab- und Umbau nachlebender Kreislaufmodelle der Geschichtsentwicklung - zum Stachel, die Widersprüchlichkeit 39

der geschichtlichen Entwicklung selbst zu entdecken, allgemeiner die Frage nach den Früh- und Jugendzuständen der Völker zu stellen und die Entwicklung der Zivilisation nicht nur unter dem Gesichtspunkt linearer Perfektionierung zu denken. Um so mehr gilt dies, als j a die Bewertung des Zivilisationsfortschritts selbst Gegenstand ideologischer Klassenauseinandersetzung wurde - denken wir an den G e gensatz von Voltaire und Rousseau - , was wiederum in der deutschen Rezeption verarbeitet wurde. In diesem Zusammenhang entwickelte sich immer mehr - bei aller Idealsetzung der Griechen - die Einsicht in die Unwiederholbarkeit ihrer geschichtlichen Lebensgrundlage. Gewiß hatte Winckelmann - in rückwärtsgewandtem Utopismus mit immanent politischer Zukunftsprogrammatik - die Nachahmung der Griechen gefordert. Doch zugleich legte er, wie Friedrich Schlegel erklärte, „durch die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit der Antike und Moderne den ersten Grund zu einer materialen Altertumslehre" 1 . Und als der junge Herder 1765 die Frage stellte: „Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten?", so ward diese Fragestellung, über Winckelmann hinausführend, nicht nur Anstoß, wie die Griechen eine eigene National- und Säkulardichtung zu schaffen, sondern Anstoß zu einer umfassenden nationalen geschichtlichen Selbstbesinnung. So zwang die Konfrontation von Altertum und Moderne zur R e flektion weltgeschichtlicher Epochenzusammenhänge, damit zur B e stimmung der gegenwärtigen und werdenden zukünftigen Epoche im Gegensatz zur Antike wie auch zur christlichen Feudalwelt, und sie führte zur Einsicht in die Problematik künstlerischer Produktion in der anhebenden bürgerlichen Gesellschaft. Wie hier die philosophische Theorie auf die Dialektik geschichtlicher Prozesse stieß, so drängte diese Konfrontation in der poetischen Darstellung auf realistisch-historische Konkretheit mit hoher philosophischer Bewußtheit. Davon will ich noch einiges zeigen. Dieser Komplex von Funktionen und Zusammenhängen bedingt, daß — eingespannt in den Widerspruch von Utopie und historischer Erkenntnis - bloße Nachahmung der Alten, wo sie, wie in der bildenden Kunst, versucht wurde, in eine unfruchtbare Sackgasse führte, daß als nachahmenswert gerade der „Geist der Griechen", ihre Methode der ästhetischen Darstellung ihrer Welt galt - und dies dann zu weiter vertiefter Reflektion führte. Diese Problemstellung war mit ein Anstoß und Moment der Her40

ausbildung der idealistischen Dialektik - denken wir an den Weg von Herder zu Schiller und Hegel. Zum anderen führte sie innerhalb der Poesie mit zum Erfassen, Reflektieren und Gestalten von Epochenzusammenhängen und -inhalten. Diese Vermittlungsfunktion in der ideellen Aneignung epochaler Inhalte wurde allerdings nur möglich, weil die geschichtliche Gegenwart selbst die Epochenkonfrontation in sich trug als Zeit revolutionärer Umwälzung: Sie reicht vom Vorabend der bürgerlichen Revolution bis zur Julirevolution in Frankreich. Ihr Eingangsfanal war der amerikanische Unabhängigkeitskrieg mit seinen europäischen Konsequenzen; die deutschen Zeitgenossen erfuhren ideologische Vorbereitung, Utopie und revolutionäre Praxis der Französischen Revolution, dann deren soziale und politische E r gebnisse und Konsequenzen, zugleich die industrielle Revolution in England als Modelle der bürgerlichen Zukunft auch für Deutschland. Hier ergab sich ein geschichtlicher Erfahrungsreichtum, der von der deutschen Philosophie und Poesie verarbeitet wurde. „Man spricht immer vom Studium der Alten", bemerkt Goethe einmal zu Eckermann, „allein was will das anders sagen als: richte dich auf die wirkliche Welt und suche sie auszusprechen; denn das taten die Alten auch, da sie lebten." 2 In diesem Sinne sind die Griechen ihm methodisch Vorbild. D a ß sie es sein konnten, entsprang ihrer Realität: „Wirft sich der Neuere . . . fast bei jeder Betrachtung ins Unendliche, um zuletzt, wenn es ihm glückt, auf einen beschränkten Punkt wieder zurückzukehren, so fühlten die Alten ohne weiteren Umweg sogleich ihre einzige Behaglichkeit innerhalb der lieblichen Grenzen der schönen Welt. Hieher waren sie gesetzt, hiezu berufen, hier fand ihre Tätigkeit Raum, ihre Leidenschaft Gegenstand und Nahrung. Warum sind ihre Dichter und Geschichtsschreiber die Bewunderung der Einsichtigen, die Verzweiflung des Nacheifernden, als weil jene handelnden Personen, die aufgeführt werden, an ihrem eigenen Selbst, an dem engen Kreise ihres Vaterlandes, an der bezeichneten Bahn des eigenen sowohl als des mitbürgerlichen Lebens einen so tiefen Anteil nahmen, mit allem Sinn, aller Neigung, aller K r a f t auf die Gegenwart wirkten; daher es einem gleichgesinnten Darsteller nicht schwer fallen konnte, eine solche Gegenwart zu verewigen. . . Alle (der Dichter, die Geschichtsschreiber und Forscher - W. H.) hielten sich am Nächsten, Wahren, Wirklichen fest und selbst ihre Phantasiebilder haben Knochen und Mark. Der Mensch und das Menschliche wurden am wertesten geachtet und alle seine inneren; 41

seine äußern Verhältnisse mit so großem Sinn dargestellt als angeschaut. Noch fand sich das Gefühl, die Betrachtung nicht zerstückelt, noch war jene kaum heilbare Trennung in der gesunden Menschenkraft nicht vorgegangen." 3 Die griechische Klassik erscheint als das Normale, Gesund-Kräftige, Natürliche - in ihrer Realität und Selbstdarstellung, nicht im Sinne moralischer Idealisierung, sondern eines unentfremdet-natür-' liehen, lebensvollen, kräftigen Daseins. Sie ist Vorbild nicht im Sinne eines Objekts der Kopie, sondern als Verkörperung eines allgemeingesetzmäßigen natürlichen Wirklichkeitsverhältnisses in sozialer wie erkenntnistheoretischer und ästhetischer Beziehung, sie ist Vorbild somit in methodischer Beziehung. Auf seine Weise sei jeder ein Grieche, indem er lebendig-objektiv die Gegenwart erfaßt, in der das Vergangene beständig und das Künftige voraus lebendig ist. Die philosophischen und ideologischen Implikationen dieses Naturbegriffs, den Goethe verwendet, der das Gesellschaftlich-Historische spinozistisch umfaßt, kann ich hier nicht analysieren. Jedenfalls gibt er die methodische Richtung an, in der die Griechenrezeptioa künstlerisch produktiv wurde. Zugleich wird an dem Angeführten das Heidnische, das Drängen auf unentfremdete Menschenbildung, damit das indirekt Politische dieser Griechenrezeption spürbar, die Opposition gegen eine Welt feudaler, zugleich frühkapitalistischer Unterdrückung und Deformierung, das Bestehen auf der realen Möglichkeit der in den Griechen sichtbar gewordenen Menschlichkeit. Dies soll durch einen Gedanken aus Schillers Sicht ergänzt werden: Angesichts der Mannheimer Antikensammlung schrieb Schiller: „Der Mensch brachte hier etwas zustande, das mehr ist, als er selbst war, das an etwas größeres erinnert, als seine Gattung - beweist das vielleicht, daß er weniger ist, als er sein wird?" 4 Das Griechenbild als Versprechen, daß der Mensch mehr, größer sein wird, als er ist: Damit ist Schillers Beziehung auf die Klassik als ein energisches Verhältnis zu charakterisieren, das diese als frühes Versprechen einer zukünftigen Erfüllung, als Ferment einer gegenwärtigen Bewegung auf die Zukunft hin faßt. Dies als historischen Prozeß zu begreifen und von hier aus die Aufgaben und Möglichkeiten der gegenwärtigen Poesie in der Umwälzungsepoche zu bestimmen: darum kreist Schillers Denken. Dafür sei ein weiteres Dokument herangezogen: Wilhelm von Humboldt gab ihm 1793 seine Schrift

Über das Studium des Altertums und des griechischen 42

insbesondere

zu lesen. Humboldt entwickelte darin das Studium der Griechen als Studium „des Menschen" einer exemplarisch schöpferisch anfangenden Nation. E r erklärte das Ziel, „das einzelne Bestreben zu einem Ganzen und gerade zu der Einheit des edelsten Zwecks, der höchsten proportionierlichsten Ausbildung des Menschen zu vereinen" 5 . Hier haben wir auch jene Reduktion aufs individuelle Bildungsideal, zugleich schon den Verlust des sehr viel realistischer-natürlicheren B i l des, das Goethe entwickelt hatte. Schiller knüpft nun an diesen Satz Humboldts an - auf eine sehr charakteristische Weise, das aufklärerisch-leibnizische Modell des Erkenntnisprozesses historisch und systematisch entwickelnd: „Sollte nicht bei dem Fortschritt der menschlichen Kultur ohngefähr eben das gelten, was wir bei jeder Erfahrung zu bemerken Gelegenheit haben? Hier aber bemerkt man drei Momente: 1. D e r Gegenstand steht ganz vor uns, aber verworren und ineinander fließend. 2. Wir trennen einzelne Merkmale und unterscheiden. Unsere E r kenntnis ist deutlich, aber vereinzelt und borniert. 3. W i r verbinden das Getrennte und das Ganze steht abermals vor uns, aber jetzt nicht mehr verworren, sondern von allen Seiten beleuchtet. In der ersten Periode waren die Griechen. In der zweiten stehen wir. Die dritte ist also noch zu hoffen und dann wird man die Griechen auch nicht mehr zurückwünschen." 6 Schillers Grundtendenz ist nicht, einer schlechten Wirklichkeit die ideale als ruhendes Verhältnis gegenüberzustellen. Sein Denken zielt vielmehr - bei allem Idealismus - auf eine aktive Bewegung zur Zukunft hin, auf deren Vorbereitung - als geschichtliche Einlösung de? Versprechens, dessen naives Bild die Griechen boten: die selbstbewußte, freie, selbst sich bestimmende und die Totalität ihrer Kräfte entfaltende Menschheit. Als deren poetisches Grundmodell erschien ihm Herakles, jene heroische mythologische Gestalt des Weges zu solcher Welt der versöhnten Antagonismen. Schiller drängt auf eine dialektische historische Konzeption, in welcher die Zerstörung der ursprünglich sichtbar gewordenen Harmonie, Totalität und Naivität als notwendiger Gattungsfortschritt über Vereinseitigung, Entfremdung und Antagonismen begriffen wird, um von hier aus die Bestimmung der Kunst seiner Epoche zu gewinnen - als ästhetische E r ziehung für eine Zukunft, deren Bild über die bürgerliche Gesellschaft utopisch hinausweist. Hegel - realistischer und konservativer zugleich - hat diese Perspektive zurückgenommen. 43

Was Schiller als Stufen und Entwicklungsformen der Erkenntnismethode und damit der Beziehung von Bewußtsein und Wirklichkeit skizzierte, ist nur ein Moment seiner historischen Konzeption, die auf die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Kräfte zielt. Dies wird in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen \192>l9A und in Über naive und sentimentalische Dichtung von 1795 aus- und weitergeführt, während dann die Dramen der Reifeperiode, die Erfahrung der revolutionären Kämpfe verarbeitend, über die theoretischen Positionen hinausgehend, das Subjekt, das die Zukunft herbeiführt, zur Sprache zu bringen auf dem Wege sind. Statt einer kritischen Analyse der Leistungen wie der idealistischen und reformistischen Illusionen Schillers sei hier eine zeitgenössische Gegenposition angeführt, Georg Forsters Aufsatz Die Kunst und das Zeitalter, in dem der künftige Jakobiner zu einer ersten Selbstverständigung im Gegensatz zu Schillers Gedicht Der Künstler gelangt. Wo Schiller auf die gesellschaftlich-bildende Rolle der Kunst dringt, ihre ideelle Funktion ins Überschwengliche treibt, dabei der Kunst eine aktive Aufgabe der Vorbereitung und Vermittlung zuweist, sieht Forster schroffe Gegensätze. Hingerissen und hinreißend verabsolutiert er - im Gefolge Winckelmanns - griechische Schönheit. „Unermeßlich ist die Entfernung, in welcher die moderne Kunst hinter der alten zurückbleibt: Unermeßlich, denn wer getraut sich die Kluft zu messen, die das Wahre von dem Falschen trennt?" 7 Forster demonstriert jedoch die Unmöglichkeit griechischer Schönheit in dem Zeitalter, dem die moderne Kunst entstamme: „Die Unfreiheit des Zeitalters war nicht mehr jene rohe Natureinfalt, aus welcher alles werden kann; tief in die Wurzeln hinein waren bereits die Sitten verderbt, und zwar bei dem gänzlichen Mangel des ästhetischen Sinnes, durch feudalische Tyrannei und immerwährende Kriege, zur tierischen Lüsternheit, zur eigennützigsten Selbstsucht... tief hinabgesunken . . . ein Gefühl ist es, aus welchem die Kunst und die Tugend entspringt; aber der kalte Hauch des Despotismus hatte gewelkt. Vaterlandsliebe konnte den nicht begeistern, der kein Vaterland hatte, sondern einen Herrn. Kein befreites Athen winkte dem Künstler . . " s Forster führt dann die christliche Religion als kunsttötend an: „So stieß die alternde Menschheit mit ihrer vernünftelnden Kälte die neugeborene Kunst in die Sphäre der Dienstbarkeit hinab." Aber - und darin wird die revolutionäre Orientierung dieser rousseauistisch gefärbten Verurteilung sichtbar: „Tröste sich der Weise, der im Wechsel der Dinge das Ziel herannahen sieht." 9

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Hier wird die revolutionäre Funktion der klassizistischen Wertung faßbar: Gerade in seiner von revolutionärer Praxis noch unberührten Unbedingtheit demonstriert Georg Forster den Klassizismus als ideale Wertung, der gemäß die feudal geprägte Welt verworfen wird, für deren Verwirklichung aber er auf den Wechsel der Dinge - die anhebende Revolution - orientiert. In den Ansichten vom Niederrhein wird diese Position noch erheblich differenziert und konkretisiert, vor allem hinsichtlich der Bestimmung der ästhetischen Bedürfnisse und Möglichkeiten: Die Grundwertung aber wird beibehalten. Darauf sei noch verwiesen, daß Schillers spätere theoretische Konzeption von Forsters Aufsatz erhebliche Anregung erfuhr. In allen diesen Beispielen - so unterschiedlich die Positionen im einzelnen sind - fungiert der Rückgriff auf die klassische Antike als Maßstab und Medium der Bestimmung der eigenen Epoche, und zwar gerade in Hinsicht auf deren Bewegung und Veränderung. Im Formationswechsel,. wie er in Deutschland zögernd anhob und in Frankreich erschütternd sich vollzog, erscheint das klassische Ideal als Modell und Maßstab des Gesunden, Bejahten, Werdenden und Zukünftigen, bis eben die Prosa der neuen Gesellschaft ihre Unverhältnismäßigkeit gegenüber diesem Maße selbst zeigte. An fünf Beispielen aus dem Schaffen Goethes will ich jetzt in Stichworten typische Formen der poetisch praktizierten Beziehung zur Antike zeigen, deren Spektrum von der Idealisierung zur metaphorischen Nutzung und Konfrontation führt.

1. Brutus In den physiognomischen Fragmenten von 1775/76 entwirft Goethe ein begeisterndes Brutusbild. Brutus ist politisch-moralische Idealgestalt, republikanischer Tyrannenmörder, abstraktes Ideal sehnsüchtiger Identifikation - zu mehr reicht das römische Bild nicht hin, der politische Stoff entzieht sich der Gestaltung. Brutus wird zur idealen Geniegestalt, die mit dem historischen Brutus nichts mehr zu tun hat, Erfüllungsbild des Sturm-und-DrangStrebens aus der sozialen Ohnmacht heraus, mit dem das Bild steigernden Bewußtsein: „Römerpatriotismus! Davor bewahr uns Gott, wie vor einer Riesengestalt! Wir würden keinen Stuhl finden, darauf zu sitzen. . ." 10 45

Im Bilde des Brutus erscheint die moralisch-politische Erfüllung des in der Geniekonzeption des vom Sturm und Drang Ersehnten: „. . . Groß ist der Mensch, in einer Welt von Großen. Er hat nicht die hinlässige Verachtung des Tyrannen, er hat die Anstrengung dessen, der Widerstand findet, dessen, der sich im Widerstande bildet; der nicht dem Schicksal, sondern großen Menschen widerstrebt; der unter großen Menschen geworden ist. Nur ein Jahrhundert von trefflichen konnte den trefflichsten durch Stufen hervorbringen. Er kann keinen Herrn haben, er kann nicht Herr sein. Er hat nie seine Lust an Knechten gehabt. Unter Gesellen mußt' er leben, unter Gleichen und Freien. In einer Welt vollFreiheit edler Geschöpfe würd' er in seiner Fülle sein. Und daß das nun nicht so ist, schlägt im Herzen, drängt zur Stirne, schließt den Mund, bohrt im Blicke! Schaut hier den gordischen Knoten, den der Herr der Welt nicht lösen konnte." 11 _ Doch bleibt dies Schauspiel utopisch erhöhte Gestalt, Einbindung eigener Träume ins antike Gewand, revolutionär-rebellische Gestimmtheit, deren Abstraktheit der tragischen Perspektive korrespondiert, heroisches Zukunftsbild, das gerade wegen seiner direkt politischen Größe poetisch nicht realisierbar, nur geheimes Erkennungszeichen ist. Und doch ist darin in antikem Gewand ein M a ß menschlicher Größe gesetzt, das - noch - unanwendbar erscheint. Zugleich ist darin die bürgerlich-humanistische Utopie ausgesprochen: Im Brutus als heroischer Citoyengestalt ist die Forderung nach einer „Welt voll Freiheit edler Geschöpfe" mitgegeben, des idealisierten Republikaners Tugend impliziert die ideale Republik, das in der historischen Antizipation - befreite Individuum erscheint als Modell und Autor einer aus seinen bewußten Aktionen hervorgehenden Gesellschaft der Freien und Gleichen.

2. Prometheus W a s Goethe mit der politischen Gestalt des Römers nicht gelingen konnte, gelang mit der mythologischen Gestalt des griechischen Titanen: Das direkt Politische ward durch das indirekte ersetzt, der klassenmäßige weltanschaulich-philosophische Gehalt dominiert - die poetische Gestalt vollendeter Einheit von stofflichem Sujet, philosophisch-ideologischer Intention und subjektivem Ausdruck gelingt im lyrisch-dramatischen Gestus der Ode. Die W e l t mythologischer Göt-

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terkämpfe hatte Herder als poetische Verarbeitung irdischer Kämpfe verstehen gelehrt, die menschennahe Vielfalt griechischer Mythologie bot sich als Darstellungsform irdischer Antagonismen an, zu deren direkter Darstellung die unentfalteten Widersprüche der Realität selbst noch keinen hinreichenden Stoff boten. Als Sujet und Medium der Selbstobjektivierung diente die nach dem eigenen Wuchs zugeschnittene Gestalt des mythischen Kulturstifters, Feuerbringers und menschenfreundlichen antityrannischen Rebellen, sie ermöglichte die weltanschauliche Verallgemeinerung und poetische Objektivierung der eigenen individuellen und weltanschaulichen Emanzipation, sie ließ am besonderen Konflikt das Gesellschaftlich-Allgemeine sichtbar werden - gerade durch antikische Verfremdung des aktuell Erfahrenen. So ward die Prometheus-Ode der intensivste, weiteste weltanschauliche Vorstoß in der Sturm-und-Drang-Poesie, spinozistisches Bekenntnis zu menschlicher Diesseitigkeit, Absage an die himmlischen Götter und deren christliche wie irdische Analoga, Autonomieerklärung der Natur wie des Menschen. Prometheus, als poetische Anfangsgestalt menschlicher Geschichte, göttlich gesteigerter Urmensch ist die an-fängliche scheiternde Gestalt als tragischer Held, der den Anspruch des künftigen Sieges als geschichtliche Perspektive kündet: Mußt mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, die du nicht gebaut . . . Produktives Tun, Selbstbehauptung und Rebellion verschmelzen zu einem Akt und gewinnen in der Aktion der ihrem weltanschaulichen Gehalt nach vorgeprägten Gestalt den Charakter ideologischgeschichtsphilosophischer Programmatik. Daher ist der Prometheus als philosophisches Gedicht eine frühe Darstellung der „aktiven Seite"; die anfängliche Abstraktheit des Gedankens gewinnt, da dieser ganz in subjektiven Ausdruck verwandelt wird, als subjektive Aktion erscheint, lyrisch-poetische Konkretheit. Der bürgerlich begrenzte Eigentums- und Selbstbehauptungsanspruch verschwindet unter der durch die mythologische Gestalt ermöglichten Verallgemeinerung, er gewinnt allgemeinmenschlichen Inhalt als geschichtlicher Anspruch produktiver Tätigkeit - was ideologische Utopie, wird lyrisch-realistisch allgemeiner, allgemeine Identifikation provozierender Anspruch. Zugleich - und eben darin - macht der antike Stoff selbst die in der subjektiven Rebellion liegende soziale und politische Implikation bewußt. 47

Was Lenz formulierte, „daß handeln, handeln die Seele der Welt sei" 12 , erscheint hier programmatisch als Ausdruck der Rebellion gegen eine gesellschaftliche Realität, die solch Handeln knechtet und verbietet. Freilich: Der Dramenentwurf scheitert am Widerspruch zwischen Götter- und Menschenhandlung. Die Identifikation ermöglichende, lyrisch gefaßte Geniegestalt der Ode, die Prometheus als Modell des Menschen faßt, erhält im dramatischen Kontext eine andere Funktion und Bedeutung: Halbgottstellung über den Menschen. Die antike Metapher gerät in Widerspruch zur philosophischen Intention. So ist in des Prometheus Rebellion gegen die Götter in der Ode erst der Entfaltungsraum für den menschlichen Geschichtsprozeß und dessen Dialektik proklamiert. Der Prozeß selbst bleibt offen. Seine Fassung bewegt sich im Widerspruch zwischen der Konzeption einer allgemeinen, das Gesellschaftlich-Bürgerliche mit umfassenden, somit ideologisch geprägten „Natur" als Akteur und Zusammenhang - und der Konzeption einer Geschichte schaffenden, ideell gesetzten produktiven Tat des für die Menschen stehenden Individuums. Diese Antinomie, in so vielfältigen Varianten sie auch erscheinen mag, konnte aus hier nicht zu erörternden historischen, erkenntnisgeschichtlichen und ideologischen Gründen erst durch die materialistische Gesellschaftsauffassung, durch die Entdeckung des materiellen gesellschaftlichen Subjekts der Geschichte von Marx und Engels aufgelöst werden. Für unseren Zusammenhang entscheidend ist: Der weit in die Z u j kunft weisende geschichtsphilosophisch-weltanschauliche Gehalt der Ode, in dem spinozistische und rousseauistische Intentionen aufgenommen und weitergeführt werden, konnte seine poetische Gestalt und Objektivität erst durch die Verwandlung der antiken Gestalt in die objektive Sprache subjektiven Ausdrucks gewinnen. Des Lesers Aktivität konfrontiert die Epochen, er erkennt sich im antiken Bilde.

3. Iphigenie aufTauris Iphigenie auf Tauris nimmt nicht einfach die Sturm-und-Drang-Rebellion zurück oder ist deren Beruhigung, sondern führt in einer Weise weiter, daß der Hintergrund der ungeheuren Opposition präsent bleibt. Das Drama ist gleichsam als Modell dargestellte sittliche Utopie, Erfüllungsbild reiner Menschlichkeit, die jedes Gebrechen zu sühnen beansprucht, in traumverlorener Schönheit so gestaltet, daß 48

das Utopische des Traumes am Sehnsuchtsbilde ablesbar bleibt, ohne daß das Notwendige und Zwingende dieses Menschenideals zurückgenommen wird. Dabei vollzieht sich das Geschehen als ideale Realisierung aus inneren sittlichen Entscheidungen, während ihm - in den Voraussetzungen geschichtlicher Art und dem materialen Inhalt dieser Entscheidungen - die Realität kontrapunktiert. Die Stofiwahl verwandelt - bei aller Umformung des antiken Sagengeschehens das humanistische Zukunftsbild in ein historisches Modell der Herstellung humaner Ordnung, das wiederum die bürgerliche Utopie historisiert, den allgemeinen sittlichen Gehalt aber mit der Realität konfrontiert. Das Geschichtlich-Produzierte solcher Ordnung wird sichtbar: Im Gegensatz von Griechen und Barbaren, am Hintergrund zugleich der blutigen Geschichte des Atridengeschlechts, in der unaufgehobenen Schwere vergangener Verbrechen - Orest wird geheilt, nicht entsühnt - , schließlich an der immanenten, als Möglichkeit auch Iphigenie vorschwebenden Opposition gegen die Götter, deren höhere Ordnung das Stigma der Gewalt nicht verliert. So erscheinen die Götter dann im Parzenliede: Sie aber, sie bleiben In ewigen Festen An goldenen Tischen Sie schreiten vom Berge Zu Berge hinüber; Aus den Schlünden der Tiefe Dampft ihnen der Atem Erstickter Titanen, Gleich Opfergerüchen, Ein leichtes Gewölke. Dies ist der weltanschaulich-geschichtliche Hinter- und Untergrund der von Iphigenie gewollten, in ihrem natürlichen Bestreben - das nicht im Sinne der Verwirklichung vorausgesetzter sittlicher Maximen zu verstehen ist - gesuchten menschlichen Ordnung: Der sittliche Charakter jener Götterordnung enthüllt sich als Realisierung ihres natürlich-sittlichen Handelns. Die reale Macht dieser Menschlichkeit wird problematisiert, da sie ohne Unrecht nicht und nicht das versöhnende Ende, das Vermeiden tragischen Scheiterns ohne die Großherzigkeit des von den Griechen tödlich beleidigten und bedrohten Barbaren realisiert werden können. Der schöne Wille moralischer Inte4

Heise, Realistik

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grität und Versöhnung, die Überzeugung, daß alle Konflikte measchlich zu regeln, die in der Schönheit der Sprache ästhetische Erscheinung und fordernde Faszination gewinnen, wird zugleich als Traum, als Utopie sichtbar. Hier ward durch das Einbinden der eigenen sozialen und moralischen Erfahrungen und Bestrebungen in den antiken Stoff, durch das Einkleiden der humanistischen Utopie in das zweckentsprechend umgeformte antike Geschehen gegen die solche Humanität verweigernde Wirklichkeit die eigene Utopie in die Widersprüche des historischen Prozesses gestellt, auch wenn diese sich mehr ankündigen denn realistisch dargestellt werden. Erinnert sei an Goethes Erfahrungen in der Hofwelt, an sein Reflektieren über die Strumpfwirker von Apolda. W a s als subjektiver Bildungsprozeß, als Utopie persönlicher Beziehungen seinen Anstoß erfuhr, gewinnt nun die Weite des historischen Horizonts, die Gestalt der Epochenkonfrontation im antiken Medium. Das wiederum zwingt dazu, das humanistisch-sittliche Bestreben als Antizipieren künftiger Epoche darzustellen wie auf die Realität, die widersprüchlich-widerstrebende, zu verweisen. Damit wird bürgerlicher Humanität das realistische Fragezeichen zugemutet - eine Problemstellung ist dies, die allgemeiner erst nach der Revolution wurde. Charakteristisch ist, daß die bürgerliche Utopie nicht nur das antike Gewand nutzte, sondern d a ß durch ihre Darstellung sie selbst mit der Realität konfrontiert und relativiert wurde - über die unmittelbare Absicht hinaus spätere Erkenntnis vorwegnehmend. Von hier gewinnt das Drama seine eigentliche Tiefe und - theatralisch in der Regel nicht ausgeschöpfte - innere Spannung. Prometheus ist nicht widerlegt. Wohl aber ist dem Humanitätsideal eine erste Diagnose gestellt, ohne daß es zurückgenommen wird.

4. Pandora Nur stichwortartig sei auf das vielfältige Bezugsebenen ineinanderkeilende Fragment von Pandorens Wiederkehr eingegangen. Hier wird das antike Gewand, in sehr frei variierendem Gebrauch, zur allegorisch-symbolischen Form, nachrevolutionäre Erfahrung zu bewältigen. Prometheus repräsentiert hier das unmittelbare Produzieren des gesellschaftlichen Lebens, seine Menschen sind Höhlenbewohner in andeutend proletarischer Existenz. Zugleich umfaßt Prometheus' Tätigkeit nicht nur die materielle Produktion, sondern auch deren

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spezifisch frühkapitalistische Realisierung, Krieg und Gewalt. Die einstige menschliche Emanzipationsgestalt ist zum Repräsentanten der tatsächlichen bürgerlichen Emanzipation geworden, im Gegensatz zu Epimetheus, dem Träumer des Schönen, der Erinnerung an die verlorene Schönheit, dem Visionär der Liebe. Epimetheus aber bleibt nur im Reich des Traumes, der Sehnsucht - er kann nicht handeln, umwälzen, verändern. In dem Fragment stehen unversöhnt beide Bereiche gegeneinander. Das humanistisch-ästhetische Schönheitsideal und die Realität, die es ursprünglich vorwegnehmend idealisierte, treten als antagonistischer Gegensatz auf. Im Medium der ästhetischen Darstellung revolutionärer Illusion wird hier die Ohnmacht des Schönen als Gestalt der Humanität festgestellt, eine Humanität, die frei ist von jener Gewalt und Knechtung, die mit der wirklichen produzierenden und weltverändernden Praxis verbunden sind. Wir kennen Goethes die weitere Handlung skizzierende Notizen. Er hatte eine große, die kapitalistische Realität überspringende Utopie konzipiert in der symbolischen Darstellung der Versöhnung von Schönheit und Praxis, von Humanität und gesellschaftlicher Tätigkeit und Wirksamkeit. Aber zu mehr als dem Material einer allegorisch-symbolischen Sprache reichte hier der antike Stoff nicht, er konnte in der Durchführung nur Spielmaterial sein - ohne die wirkliche Dialektik des historischen Prozesses mehr als im Bezeichnen treffen zu können. Diese Form reichte somit hin zur Problemstellung. Die Durchführung wäre poetische Wunschlandschaft geworden. Das antike Medium konnte die Verschwisterung von Produktiv-Tätigem und Inhumanem, nicht aber mehr die geschichtliche Bewegung ausdrücken. Das antike Gewand war für die neuen Probleme bürgerlicher Entwicklung auf diese Weise nicht mehr verwendbar. Diese Epochenkonfrontation vermochte die kapitalistische Prosa zu denunzieren - aber aus der Epochenkonfrontation selbst wurde der statische Gegensatz von schöner Idealität und Wirklichkeit.

5. Faust II Im 2. und 3. Akt des Faust II - in der Klassischen Walpurgisnacht wie in der eigentlichen Helenatragödie - erscheint das antike Geschehen als künstlerisch beschworene Traumwirklichkeit, als Traum, verfremdet schon durch den Opernstil, der die poetische Illusion demonstriert, als Utopie, die in Euphorion scheitert. Zugleich aber erscheint eben diese Illusion als notwendige Phase auf Fausts Weg aus der 4»

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mittelalterlich-christlichen Welt heraus, als eine Phase, die ihn erst aktionsfähig macht, jenseits der gotischen Welt Gretchens, jenseits auch der Korruptionssphäre des verwesenden Feudalismus am Kaiserhofe. Die Epochenkonfrontation ist äußerst vielschichtig. Die antike Welt erwacht auf dem Todesfeld der römischen Republik. Die objektive Vergangenheit wird in ihrem eigenen Zusammenhang aufgehoben, zugleich als Traumgebilde in dem epochalen Zusammenhang der Faustgeschichte als ästhetisches Medium des Durchbrechens der handlungslosen Welt bürgerlicher Ohnmacht in der Phantasie und Antizipation dargestellt, schließlich aber als notwendig scheiternde Illusion angesichts wirklicher Praxis, als scheiternder Traum von Harmonie und Schönheit gegenüber der neuen gesellschaftlichen Praxis, die jener Traum mit heraufgeführt hat. Faust vermag jetzt erst nachdem er und weil er durch ihn hindurchgegangen - zur großen Wirksamkeit zu gelangen, entdeckt das prometheische Tun neu, vermag es jedoch eben nur in der Widersprüchlichkeit, Einseitigkeit und Härte zu realisieren, die aus der Beziehung zu Mephisto erwächst. Magie von seinem Pfad zu entfernen ist ihm nur in vorwegnehmender Vision möglich, sein produktives Tun bleibt mit kapitalistischer Gewalt verbunden - nur der Gedanke, der Traum vermag ihm ein freies Volk zu zeigen. Wodurch zugleich auch der Widerspruch seines Handelns als historischer, seine magiebestimmte Praxis als historisch-vorübergehende in einem größeren perspektivischen Prozeß erscheint: Mehr noch - eben die Ersfcheinung der Helena hat zur Voraussetzung den Gang zu den Müttern: Hier wird - im phantastischen Medium der historische Bogen bis in mutterrechtliche Zeit geschlagen., Jetzt gewinnt der Zusammenhang der Gretchenwelt mit der Unbedingtheit ihres aufbrechenden Liebesgefühls, der Hexenwelt, der christlichbürgerlich verketzerten, mit der Urwelt der Mütter und der bildendaktionsfähig machenden Sphäre der Schönheit Helenas einen welthistorischen, epochenumgreifenden Gehalt, der die Klassengesellschaft unter dem Aspekt der Geschlechterbeziehung umspannt. Ich brauche in diesem Zusammenhang nicht erst an Engels' Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates zu erinneren - oder an des jungen Marx Ausführungen über die Geschlechterbeziehung. Doch erst dieser Zusammenhang schließt den Inhalt des „Ewig-Weiblichen" auf, klärt den perspektivischen Sinn der Versöhnung in der Schlußpassage. Die Bündelung historisch heterogener Epochen wiederum relativiert Fausts tragisches Scheitern, verwandelt die Tragödie in einen 52

Modus des geschichtlichen Progresses, dessen Fortschreiten mit dem christlichen Instrumentarium als poetischer Sprache weltlichen Inhalts symbolisch angezeigt wird. Geschichte erscheint hier - im Sprengen der deutschgotischen Welt - als Produkt eigener Tat, deren mephistophelische Gestalt erst nur gedanklich, nicht nur historisch und daher auch nicht in der dramatischen Darstellung überwunden werden kann. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist: Im Faust gelingt es Goethe, in der Konfrontation der Epochen als Inhalt und zugleich als Darstellungsform des historischen Prozesses die klassizistische N o r m im dialektischen Sinne aufzuheben. H a t t e Hegel - auf G r u n d seiner Verabsolutierung der klassizistischen N o r m - angesichts des heraufziehenden industriellen Kapitalismus das E n d e der Kunst als Form, die tiefsten Interessen der Menschheit zu Bewußtsein zu bringen, behauptet, so hat Goethe auf eben diese objektive Problematik eine produktiv weiterführende Antwort gefunden. D i e realistisch-dialektische Aufhebung des Klassizismus als Kunstnorm, sowohl im Sinne der welthistorischen Erinnerung wie der zeitgeschichtlichen Bildungsphase, der Abschied vom antiken Kostüm sind Übergang zu einer gerade die Epochenzusammenhänge aussprechenden Realistik, welche die neuen geschichtlichen Widersprüche gestaltet, so symbolischverschlüsselt dies zunächst geschieht. Dieser realistische Gehalt bedurfte zunächst antiker Form, ehe er sie sprengen mußte. Diese Entwicklung erwuchs aus der Verklammerung des historischen Widerspruchs zwischen feudaler und bürgerlicher Formation mit den neuen und stärker werdenden Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft - in jenem geschichtlichen Zugehen auf eine bürgerliche Umwälzung angesichts ihrer alle harmonisierenden Illusionen widerlegenden praktischen Ergebnisse. Ich habe - soweit mir dies in solch skizzenhafter Form möglich nur auf das Moment des Zusammenhangs von Epochenkonfrontation und Epochenverständnis, von Auf- und Abbau der Utopie hingewiesen. Dies schon scheint mir hinreichend, eine präzisere Neubestimmung des Begriffs Klassizismus für notwendig zu halten. Wichtiger ist die Frage, ob und in welchem Sinne die Antikerezeption für unsere eigene literarische Produktion fruchtbar, möglich, ja notwendig ist. Ich will hier nur auf die Funktion der Epochenkonfrontation eingehen. Mir scheint eine produktive Aneignung notwendig zu sein - was aus dem Charakter unserer Epoche wie dem M a ß des historischen

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Selbstverständnisses resultiert, dessen die sozialistische Umwälzung bedarf. D i e sozialistische Umwälzung geht qualitativ tiefer als der Übergang von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft. Sie hat die Aufhebung jener Klassenteilung zum Inhalt, deren klassische Anfangsphase die Antike war. Damit ist ein objektiver historischer Zusammenhang in Kontinuität und Gegensatz gegeben. Wir wären nicht ohne jenen Anfang - aber weder könnten wir die Spartakustragödie verschweigen, wie die klassische Schönheit über sie als die eigene D a seinsvoraussetzung schweigt, noch darf sie Fragment bleiben, wie sie für Lessing Fragment blieb. Vielmehr sind Spartakus' Nachfahren die Akteure unserer Umwälzung. Gewiß, das Proletariat bedarf nicht heroischer Illusionen, um sich über den Inhalt seiner Revolution hinwegzutäuschen. E s bedarf vielmehr des Abbaus aller Illusion, der klaren Bewußtheit seines eigenen Inhalts, um historischer Akteur zu sein. E s muß sich nicht selbst in Gestalt des Prometheus oder Herakles monumentalisieren, gerade weil es deren perspektivische geschichtliche Gehalte realisiert. Deshalb hat die sozialistische Position ein freies Verhältnis zur Vergangenheit, damit zum antiken Erbe, das nicht ein erbaulicher Tempel ist, sondern überkommenes Material, das eigene Haus zu errichten. • Und dies ist notwendig zu nutzen, um den eigenen Epochenzusammenhang poetisch zu gestalten. Dafür ist in der philosophischhistorischen Dichtart, wie sie Goethe praktizierte, ein mögliches Modell gegeben. Denn das historische Selbstverständnis, damit das poetische Fassen der allgemeinen und weltanschaulich relevanten Gehalte unserer Epoche ist eben ohne Epochenkonfrontation nicht vollziehbar. Solche Konfrontierung als Ferment, des eigenen geschichtlichen D a seins tiefer bewußt zu werden, wäre das Kriterium produktiver Verwendung des antiken Erbes in unserer eigenen ästhetischen Kultur. Das läßt zugleich alle Wege offen: ob solche Konfrontation direkt in der Darstellung, durch das Verhältnis des Dargestellten zum Zeitgenossen, durch antikische Gewandung modernen Inhalts oder moderne Gestaltung antiker Stoffe, ob schließlich dies direkt oder indirekt geschieht: Entscheidend ist die Provozierung einer aktiven Leistung des heutigen Lesers und Zuschauers, der im anderen sich selbst und den Unterschied begreift. D a s gilt zugleich für die Rezeption der klassischen griechischen Werke. Unsere Literatur und Theaterpraxis haben, meine ich, nicht nur die Gangbarkeit, auch die Notwendigkeit solcher produktiven Aneignung schon gezeigt.

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.Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer" Zu Lessings Dialektik der geschichtlichen Perspektive 1 Lessing war Freimaurer. Aber er hatte nach seinem Eintritt in die Hamburger Loge „Zu den drei Sonnen" 1771 dem Logenwesen enttäuscht den Rücken gekehrt. Dennoch schrieb er Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer. Die Freimaurerei der deutschen Logen erscheint darin in ironisch-kritischem Lichte: Die Logen, in denen die vorhandene gute Gesellschaft sich versammelt, ihr Ritual, Geheimniskult, historisches Legendenwesen, ihr Reproduzieren der bestehenden Hierarchie und Religion innerhalb des Geheimbundes kommentiert Lessing als einen Weg, „dem ganzen jetzigen Schema der Freimaurerei ein Ende zu machen"1. Was sollten ihm auch die Romantik und feudalisierenden Hochgrade der Strikten Observanz oder der Mystizismus der Zinnendorfischen Großen Landesloge? Lessings Beziehungen zum Freimaurerorden sind von Heinrich Schneider 2 gründlich untersucht und dargestellt worden - darauf sei hier verwiesen. In diesen Gesprächen für Freitnäurer konzipiert Lessing eine andere, die wahre Freimaurerei, die so alt wie die menschliche Gesellschaft sei. „Du wirst doch nicht glauben, daß die Freimäurerei immer Freimaurerei gespielt?" 3 fragt ironisch Falk den Ernst. Diese gespielte, die bestehende Freimaurerei erscheint als vergängliches, ja inadäquates Maskenwesen, Schema, bestenfalls als Vorhof. Die wahre aber entspringe dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft. Lessings Gespräche sind an mögliche wahre Freimaurer adressiert - innerhalb und außerhalb der Logen. Diese werden erkennbar an ihren Taten. Und diese Taten sind Taten gegen die Widersprüche, die Trennungen von Mensch und Mensch, die die bürgerliche Gesellschaft notwendig erzeugt. Sie werden getan, um einen Zustand herbeizuführen, der dieser guten Taten nicht mehr bedarf. Bürgerliche Gesellschaft - das ist hier nicht der Kapitalismus, sondern die Gesamtheit der Klassengesellschaft. Sie umfaßt die Geschichte der Zivilisation - im Sinne Engels'. Mit „bürgerlicher Gesellschaft" ist die Klas55

sengesellschaft gemeint, sofern sie durch Staat, Staatsreligionen, Standeshierarchie und Eigentum, das notwendig Ungleichheit erzeugt, charakterisiert ist. Dies dialektisch lebendigste aller deutschen Aufklärungsgespräche kreist um das Geheimnis der Freimaurer. Das Geheimnis der wahren Freimaurer aber ist das offenbare Geheimnis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte. Und in Lessings Geschichtssicht, die ohne transzendente Erlösungsperspektive einen weltimmanenten Entwicklungsdeterminismus behauptet, ist die Aufhebung dieser bürgerlichen Gesellschaft die notwendige Konsequenz. Die wahren Freimauret sind deren verborgene Beförderer. Lessing programmiert sie, spricht sie an, er sucht sie: als unsichtbare Kirche, als geheime Partei und Aktionsgemeinschaft, deren Ziel nicht durch beste Staatsverfassung, sondern allein durch Aufhebung des Staates, nicht durch Philanthropie, sondern durch Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft nur zu erreichen ist. Hier schreibt der Autor des Spartacus. Er schreibt als politisch ohnmächtiger Einzelner. Was er öffentlich tut, zeigt er zugleich im Aufklärungsgespräch. Und im Wechsel zwischen exoterischem Sprechen und Lüften des esoterischen Geheimnisses, zwischen kühnstem Gedankenvorstoß und beschwichtigender Zurücknahme seiner Konsequenzen ist der Gedanke der Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft das Zentrum, von dem her alle anderen ihren Stellenwert erhalten. E r wird hier nicht direkt ausgesprochen, sondern ist zwingende Konsequenz - ausgesprochen wird er erst in einem Gespräch mit Jacobi, wenig später.4 Wir stehen am Beginn des letzten Jahrzehntes vor der Französischen Revolution. In der Krise ihres Vorabends sucht Lessing nach einem Ausweg, in der deutschen Bewegungslosigkeit nach einer unsichtbaren Bewegung, in seiner erstickenden Ohnmacht, da alle Gewalt auf der anderen Seite, nach Möglichkeiten, Sinn und Perspektive geschichtlichen Handelns, in seiner schauerlichen Einsamkeit nach einer bejahten Gemeinschaft. Die Freimaurergespräche sind Lessings wichtigste geschichtsphilosophische Schrift, ein Schlüsseltext - und ein verschlüsselter Text. Ein Blick auf die Geschichte seiner Rezeption soll ihn aufklären helfen.

2 Innerhalb der deutschen Freimaurerei des 19. und 20. Jahrhunderts finden wir zwei Grundlinien der Rezeption: Einmal wird Lessing als Künder „des philosophischen und sozialethischen Gedankeninhalts

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der Freimaurerei" und als „eigentlicher Begründer der freimaurerischen Humanitätslehre" gefeiert 5 - das ist die liberal resignative, dennoch aufklärerische Traditionen weiterführende Tendenz der „humanitären", nicht konfessionell gebundenen Freimaurerei des politisch passiven bürgerlichen Bildungshumanismus und Philanthropismus. Die konservative, mystisierende Tendenz dagegen, in der sich bürgerliche und adlige konservative, nationalistische und konfessionelle Bindungen reproduzierten, vermag Lessing nicht die These zu verzeihen: „Der rechte Ring vermutlich ging verloren", sie lehnte seine menschheitliche, übernationale Konzeption ab und fand, wie Runkel, ein sie repräsentierender Institutionshistoriker, sagt: „Der Dichter spricht von der Freimaurerei wie der Blinde von der Farbe." 6 Im 20. Jahrhundert spiegelt sich so in der entgegengesetzten Wertung Lessings der Gegensatz innerhalb der bürgerlichen Ideologie zwischen liberalkosmopolitischer und konservativ-chauvinistischer Tendenz. Anders war die Lage in der Revolutionsepoche. Hier ist die Freimaurerei sehr differenziert zu bewerten. In ihr organisierten sich heterogene Klassenkräfte. Deren Spektrum reicht vom Adelsclub über die Bildungsvereinigung des aufgeklärten Absolutismus - aus Reform-1 adel, Hofbeamten usw. - bis hin zur Vereinigung von Avantgardekräften des Bürgertums, vor allem seiner Intelligenz, zum Zwecke der wechselseitigen Solidarität, Geselligkeit, Bildung und Politik. Da keine wirkliche Klassenbewegung vorhanden war, bildete hier der Geheimbund eine Ersatzöffentlichkeit, eine Bildungsstätte der Selbstverständigung und selbst einen Ort politischer Verschwörung - jedoch ohne aktive Basis. Das macht Bedeutung und Grenze des Illuminatenordens aus, der in weltanschaulicher und politischer Hinsicht radikalsten Ordensstiftung. Hier wirkten Lessings Gespräche zündend. Geheimes Ziel der Illuminaten war eine internationale Weltordnung ohne Staaten, Feudalherren und Stände, eine Welt der Freiheit und Gleichheit. Als der Ordensgründer Adam Weishaupt in der Zeit der Illuminatenverfolgung - er fand am Gothaer Hof Asyl - sich rechtfertigte und dabei auch zurücknahm, schrieb er 1787 im Nachtrag zur Rechtfertigung meiner Absichten: „Ich muß noch hinzusetzen, daß ich von dieser kosmopolitischen so wohltätigen Idee, welche durch das Lesen des Lessingschen Gesprächs Ernst und Falk zum erstenmal in mir erweckt worden, in etwas zurückgekommen sei. Ich glaube nun nicht mehr, daß Fürsten und Nationen von der Erde dereinst verschwinden werden, ich glaube nicht mehr, daß aller Unterschied der Stände aufhören werde." 7 Seine Hauptsünde war also auf Lessing

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zurückzuführen. Hingewiesen nur sei hier auf Knigge, den Politiker der Illuminaten, der nicht die Ziele, wohl aber die Illusion, sie mittels Geheimordens erreichen zu können, preisgab. Herder bringt in seinen Humanitätsbriefen Lessings Gespräche und variiert sie: Prinzipiell gegen das Geheimbundwesen fordert er volle Öffentlichkeit. Auch Fichte stützt sich in seinen Freimaurerreden auf Lessings Gespräche. 8 In dem historischen Zwielicht zwischen der Peripetie der Revolution, dem Bewußtsein des unaufhebbaren Bedürfnisses der Weltänderung, des Anderswerden-Müssens, der Heraufkunft einer neuen Epoche und Lebensordnung, und der Ohnmacht des eigenen möglichen Handelns fanden die Tübinger Freunde Hölderlin, Hegel und Schelling ihre Losungsworte bei Lessing vorgeprägt: Vernunft, Freiheit und „Unsichtbare Kirche". Maurerische Termini und Symbole vermittelten - innerhalb wie außerhalb der Logen - die Verständigung und Solidarisierung Gleichgesinnter, hier schon einer breiteren intellektuellen Bewegung. Sie tarnten zugleich, wenn konkretere Ziele vorschwebten. Die Wirkung Lessings verband sich der Solidarisierung mit der Revolution, speziell auch mit dem revolutionären Flügel der französischen Freimaurerei. Jacques d'Hondt hat an überreichem, manchmal überschwenglich interpretiertem Material nachgewiesen, wie intensiv Lessings Gedanken und Fragestellungen vom jungen Hegel aufgenommen worden waren. 9 Und es charakterisiert die Krise der nachrevolutionären bürgerlichen Ideologie, daß zur gleichen Zeit Friedrich Schlegel die Lessingschen Gespräche - seinem Ausgang von der Aufklärung entsprechend - wohl aufnahm, aber diese, seiner weltanschaulichen und politischen Wendung entsprechend, zurücknahm, indem er ihnen eine konservativ-religiöse, antirevolutionäre und nationalistische Weiter* führung gab, die Lessings ideologische Intention ins Gegenteil verkehrte. Am Vorabend der bürgerlichen Revolution entwickelte sich eine erneute Rezeption, zunächst revolutionär-demokratischen Charakters im Übergang zu sozialistischen Positionen, - zur gleichen Zeit, in welcher der Freimaurerorden seine progressiven Potenzen verlor. Dafür seien Heinrich Heine und Moses Hess erwähnt. Am aufschlußreich- 1 sten aber ist: in den beiden letzten Ausgaben des Pariser Vorwärts erschienen Ernst und Falk, gekürzt freilich, zu der Zeit, da M a r x und die ihm folgenden Kommunisten sich vom bürgerlichen Demokratismus Ruges getrennt hatten. W i e von Jacques Grandjonc 10 überzeugend nach-

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gewiesen, war Marx, dessen Einfluß um diese Zeit in der Redaktion dominierte, Initiator dieses Abdrucks. „Wir haben in diesen Blättern", hieß es im Begleittext, „bereits den Ursprung der großen sozialen Bewegung auf die Zeit des großen Bauernkrieges zurückgeführt, wir haben Bruchstücke aus Morelly gegeben . . . wir wollen heute einen deutschen Schriftsteller zitieren, und zwar den ersten, klassischsten von allen: Lessing, den Vater der deutschen Literatur." 11 Der Text und die Überschrift „Lessing als Sozialist" stammen nicht aus Marx' Feder. Aber eine wesentliche Strategie wird deutlich: über das Bewußtsein der historischen Kämpfe der unterdrückten Klassen und deren theoretische wie programmatische Reflexion und Konzeptionen an den wissenschaftlichen Kommunismus heranzukommen und heranzuführen - als dieser selbst sich noch im Geburtsstadium befand. So wurde hier die Geschichte der Klassenkämpfe als Ferment der eigenen historischen Bewußtheit produktiv gemacht. Darin amalgamieren sich Entwicklung des eigenen Selbstverständnisses, propagandistische Methodik und Bündnispolitik. Marx konnte an Ernst und Falk gerade das Freimaurerische nicht interessieren. Fragen wir, welcher Gedanke da am Vorabend der bürgerlichen Revolution des 18. Jahrhunderts so produktiv entworfen werden konnte, daß er in der Perspektive des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Formation noch nicht verbraucht erschien. War im Vormärz das Proletariat als Klasse, als Akteur der Umwälzung der kapitalistischen Gesellschaft erkannt, so war Lessing dieser Akteur unbekannt und unerkennbar, der eigentliche Kapitalismus fremd, die „bürgerliche Gesellschaft", die er vor Augen hatte, dessen unentwickelter Zustand in feudalen Verhältnissen. Die bürgerliche Gesellschaft aber, die er meinte, war eine Abstraktion der Klassengesellschaft überhaupt, seine Perspektive wesentlich deren Negation, im Positiven aber offen, politisch-moralisch, ohne Bewußtsein der ökonomischen Zusammenhänge konturiert. D a ß der werdende wissenschaftliche Kommunismus in Ernst und Falk einen Vorläufer seines Kampfes entdeckte und entdecken konnte, trotz der von Moses Hess so gerügten Vorsicht und Umwege Lessings12, läßt an ihrer historischen Rezeption eine Bedeutungsschicht des Werkes erschließen, die der bürgerlichen, vor allem der reformistischen Interpretation verschlossen geblieben - und die für uns gerade die wichtigste ist.

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3 Einige Bemerkungen nun zum Autor selbst: „Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln geschaffen" 13 - das ist schon des jungen Lessing Überzeugung. Aber das ihm einzig mögliche gesellschaftliche Tun war das Vernünfteln in Gedanke und Wort. Und diese Praxis bezog sich auf eine Öffentlichkeit, die als Aktionsraum des Wortes und Vehikel der Erkenntnis erst zu bilden war, die als Raum selbständiger Ideologienbildung und des Emanzipationskampfes erst gewonnen sein wollte. Lessing, der Schriftsteller, ist dabei, die Schranken der pazifiziert-abgeschlossenen gelehrten Welt niederzureißen: Diese bürgerliche Öffentlichkeit, deren Grundlage der Markt war, entstand erst zaghaft. Sie unterlag noch inhaltlich-ideologisch den Zwängen, die der Herrschaftsmechanismus der deutschen Absolutis-1 men und Reichsstädte übte. Und Lessing hatte zugleich mit der Bewegungslosigkeit, der Dumpfheit, der Angst vor dem Ungewohnten, mit der inneren Untertänigkeit derer zu rechnen, die sein Wort erreichen wollte. Angesichts der versteinert scheinenden deutschen Zustände war die Rebellion gegen sie, sofern sie allgemeiner sich artikulierte, Sache einer zersplitterten, gelehrt gebildeten, ökonomisch unselbständigen Avantgarde. Die siebziger Jahre sind eine Phase der Zuspitzung dieser Rebellion, ihrer Radikalisierung und Verbreiterung. Dies wird literarisch an der Sturm-und-Drang-Bewegung deutlich. Lessing, der in Wolfenbüttel vereinsamte, geht über zu großen weltanschaulichen und geschichtsphilosophischen Entwürfen: Auch er radikalisiert sein philosophisch-theoretisches Denken, sein „Aufklären". Mit in den Mittelpunkt seiner philosophischen Bemühungen tritt der Gedanke des Fortschritts. Längst war dieser erarbeitet und historisch konkretisiert - denken wir an die Geschichtstheorie der französischen Aufklärung und der englischen schottischen Schule, die Lessing kannte. Sein Ansatz bleibt zugleich ideologischer und abstrakter. Er führt den Gedanken des allgemein-geschichtsphilosophischen Fortschritts am Modell der Religionen durch. In der Erziehung des Menschengeschlechts entwirft er historische Notwendigkeit und Überflüssigwerden der Offenbarungsreligionen im Prozeß der Vernunft-^ entwicklung der Menschheit - mit der Perspektive einer vernünftigmoralischen Autonomie als gesetzmäßiges Resultat. Er bekennt sich hier nicht zum Offenbarungsglauben, sondern betrachtet ihn als geschichtlich notwendigen Umweg der Vernunftentwicklung. Konturen einer Einsicht in die Historizität der Vernunft werden sichtbar. Der

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Beschwörung einer künftigen Zeit der Vollendung, des ewigen Evangeliums merkt man die Anstrengung an, diesen Optimismus gegen die erfahrene Welt zu behaupten. Der Griff zur Metempsychose ist eine - dem Mangel realer diesseitiger Bewegung entspringende spekulative Konstruktion, eine Verlegenheit, die dennoch eine immanente Perspektive begründet. Dies zu analysieren sprengt mein Thema. Ergänzt wird dies durch Lessings Bekenntnis zur Unendlichkeit des Wahrheitsstrebens: Der behauptete Besitz der Wahrheit, der ganzen, ist menschliche Illusion, vor allem Herrschaftsmittel der bestehenden Gewalten. Dies aber schlägt um ins direkt Politische. Denn Wahrheitsstreben kann sich voll realisieren nur als kollektiver und öffentlicher Erkenntnisprozeß, und diesen zu sichern, führt Lessing seinen Kampf gegen Goeze. Gerade weil es ihm hier weniger um den besonderen Inhalt als um die gesellschaftliche Möglichkeit des Erkennens geht, schlägt Lessing um sich: „Mein Ungenannter, der, ich weiß nicht wenn schrieb, glaubte, daß sich die Zeiten erst mehr aufklären müßten, ehe sich, was er für Wahrheit hielt, öffentlich predigen lasse; und ich, ich glaube, daß die Zeiten nicht aufgeklärter werden können, um vorläufig zu untersuchen, ob das, was er für Wahrheit gehalten, es auch wirklich ist. Das ist alles wahr, Herr Hauptpastor . . . Wenn nur bei der löblichen Bescheidenheit und Vorsicht des Ungenannten nicht so viel Zuversicht in seinen Erweis, nicht so viel Verachtung des gemeinen Mannes, nicht so viel Mißtrauen auf sein Zeitalter zum Grunde läge! Wenn er nur zufolge dieser Gesinnungen seine Handschrift lieber vernichtet als zum Gebrauch verständiger Freunde hätte liegen bleiben lassen! Oder meinen Sie auch, Herr Hauptpastor, daß es gleichviel ist, was die Verständigen im Verborgenen glauben, wenn nur der Pöbel, der liebe Pöbel fein in dem Geleise bleibt, in welchem allein ihn die Geistlichen zu leiten verstehen? Meinen Sie?" 14 Aber: in eben diesem Streit sagt Lessing nichts über seine Gesinnungen zur christlichen Religion. Er kämpft hier um den Öffentlichkeitsraum, in dem geheim Gewußtes überhaupt erst öffentliche und dadurch überprüfbare Erkenntnis wird. Bekanntlich erhielt er die politische Quittung und änderte dementsprechend die Kampfform. Im Berengarius hatte er programmatisch erklärt: „Aber das, weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz, oder gar nicht, zu lehren . . . der verfeinerte Irrtum kann uns auf ewig von der Wahrheit entfernt halten." 15 Aber wenige Jahre später heißt es in Ernst und Falk-. „Weißt du, Freund, daß du schon ein halber Freimaurer bist? Ernst: Ich? Falk: Du. Denn du erkennst ja schon Wahr61

heiten, die man besser verschweigt. Ernst: Aber doch sagen könnte? F a l k : Der Weise kann nicht sagen, was er besser verschweigt." 16 Lessing aber spricht in diesem Zusammenhang nicht nur das Zu-Verschweigende aus, sondern auch das Verschweigen. Spricht aus, daß da Wahrheit nicht gesagt werden kann, spricht den Zustand aus, den verschweigen läßt, was gewußt wird. E s gehört zu seiner Ironie der Darstellung, das Tabu ebenso zu praktizieren wie darzustellen und dadurch zu durchbrechen, aber auch: Wahrheit im Verschweigen zu sagen, im bloßen Andeuten, im Evozieren des Weiterzudenkenden. D a s betrifft gerade die Belange des Staates, der Religion, der Standes- und Eigentumsordnung. Aber es betrifft auch das Tarnen, das Unangreifbar-Machen, um überhaupt öffentliches Sagen zu ermöglichen. Dazu gehören - für ihn als Schriftsteller - Maske, Rollenspiel, selbst Camouflage. An Moses Mendelsohn, den engsten, wenn auch seine Intentionen kaum verstehenden Freund, schrieb Lessing im Brief vom 9. Januar 1771, als Mendelsohn von Lavater auf eine peinlich proselytenmachende Weise öffentlich herausgefordert worden war: „Noch mehr aber bitte ich Sie, wenn Sie darauf antworten, es mit aller möglicher Freiheit, mit allem nur ecsinnlichen Nachdrucke zu tun. Sie allein können und dürfen in dieser Sache so sprechen und schreiben, und sind daher unendlich glücklicher, als andre ehrliche Leute, die den Umsturz des abscheulichsten Gebäudes von Unsinn nicht anders, als unter dem Vorwande, es neu zu unterbauen, befördern können." 17 Lessing sprach zum ängstlichen Mendelsohn vom Umsturz - welch Widerspruch! Und welche Verzweiflung spricht er mit aus! E r spricht von dem, was Mendelsohn nicht braucht, von Mimikry, Maske, Rolle. Aber auch diese sind ja nicht neutral. D e m bekämpften Unsinn - in diesem Falle der Kirche samt Theologie, Offenbarungsglauben usw., samt ihrer Funktionen - und dem, wofür sie steht, eine neue Grundlage geben zu wollen, ist innerhalb loyaler Anerkennung äußerste Entfernung: Wird doch die geltende Grundlage für überholt - und damit das, was sie begründete, für unbegründet erklärt. Und doch ist diese formale Loyalität das formale Gegenteil des Umsturzverhaltens. Aber - müssen wir fragen - lassen sich denn Eigentliches und äußeres Rollenspiel trennen - wenn die Rolle ja dem Autor sein öffentlich gelebtes Leben, seine öffentliche Wirkungsform ist? Muß nicht dieser Widerspruch im Verhalten zur Gesellschaft und ihrer Öffentlichkeit gerade den kühnsten Gedanken ein Moment des Schillernden und Unentschiedenen aufzwingen? Und werden nicht G e 62

danken, die da neu zur Wirklichkeit drängen, neue Wirklichkeit aussprechen, in ihrer Tragweite dem, der sie denkt,' sich verhüllen, bzw. muß er sie nicht selbst entschärfen, um sie überhaupt denken zu können? Anders wäre diese Lage, wenn die Gesellschaft sich selbst öffentlich polarisiert hätte, in sichtbarer antagonistischer Bewegung sich befände. Zu wem sprach Lessing im 68. § der Erziehung des Menschengeschlechts: „Und was noch jetzt höchst wichtig ist: - Hüte dich, du fähigeres Individuum, der du an dem letzten Blatte dieses Elementarbuches [des Neuen Testaments] stampfest und glühest, hüte dich, es deine schwächeren Mitschüler merken zu lassen, was du witterst, oder schon zu sehen beginnst . . ."1S Will er sich selbst überzeugen? Selbst darstellen? So tun, als ob? Und doch steckt darin historische Erfahrung, die Bitterkeit des Einsamen - aber keine Zurücknahme dessen, was da Neues gesehen und gewittert, aber auch nicht klar ausgesprochen, nur angedeutet wird. Das Bild eines harmonischen Lessing läßt sich nicht zeichnen. Auch Mehrings Ansatz, für diesen ein permanent hohes Klassenbewußtsein vorauszusetzen, reicht nicht hin, zumal die Klasse nicht vorhanden, erst im Werden war. Und es sind nicht gerade die Ziele der bürgerlichen Emanzipation, um die es in den Freimaurergesprächen geht, sondern es geht a u c h um sie - und das recht inkonsequent. Lessing ist der verschlossenste unserer klassischen Dichter. In jedem Werk ist er ganz da - und entzieht sich zugleich. In jedem seiner Kämpfe und Polemiken ist das Ausgesprochene nur ein Vorletztes, Vorläufiges. Es geht um mehr, als gesagt wird. Immer ist ein weiterführender Erkenntnisprozeß, ist die Mündigkeit als innerste Potenz des Lesers anvisiert, werden lieber Probleme offengelassen, als vorschnelle Lösungen geboten, und der Autor selbst weiß um die Relativität seiner exoterischen, aber auch seiner esoterischen G e j danken und Überzeugungen, daher sein Philosophieren fragmentarisch bleibt. Deshalb ist seine Grundüberzeugung die Unendlichkeit des Erkenntnisprozesses. Daraus resultiert seine Arbeit der Kritik und Polemik, dessen Hindernisse zu beseitigen. Dies ist fundiert auf dem Bewußtsein der Relativität des Erkennens gegenüber der gesuchten moralisch-politischen Praxis. Das Bild eines harmonischen Lessing, das die gelebten Qualen verschweigt, dürfte ebenso falsch sein wie ein harmonisiertes Lessingbild, das das praktisch Unlösbare gelebter Widersprüche unterschlägt.

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4 Voraussetzungen des in den Freimaurergesprächen entwickelten Gedankenganges, die ich nur nennen und deren Problematik ich hier nicht untersuchen kann, sind 1. die grundsätzlich pantheistische Gesamtanschauung, die keinen außerweltlichen personalen Gott, sondern allein eine natürliche gesetzmäßige göttliche Welt und Natur anerkennt; 2. der von Spinoza übernommene, leibnizianisch transformierte Determinismus, der zum Entwicklungsgedanken geworden, einschließlich seiner teleologischen Aspekte; 3. die vor allem in der französischen Aufklärung gewonnene Einsicht in den innigen Zusammenhang von Natur- und Sozialmilieu; hier standen besonders Montesquieu und Voltaire Pate; 4. die Grundüberzeugung eines gesetzmäßigen Fortschritts als natürlicher Höherentwicklung des Menschengeschlechts, die sich in notwendigen Stufen vollzieht: In diesem Sinne ist Geschichte Vervollkommnungsprozeß. Der geschichtsphilosophische Kern von Ernst und Falk liegt in der Verbindung einer universalen Kritik an der unter dem Titel „bürgerliche Gesellschaft" erscheinenden antagonistischen Klassengesellschaft mit der Perspektive einer nichtantagonistischen, Staat, Kirche, Standeshierarchie und Eigentum aufhebenden Gemeinschaftsordnung. Dies wiederum konzipiert Lessing als notwendigen historischen Prozeß in einer ansatzweise dialektischen deterministischen Geschichtsauffassung. Sein Grundgedanke ist: Die bürgerliche Gesellschaft „kann die Menschen nicht vereinigen, ohne sie zu trennen, nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hindurchzuziehen."19 Und: „Sie setzt ihre Trennung auch in jedem dieser Teile bis ins Unendliche fort." 20 Folglich steht nicht der Menschdem Menschen, dem bloßen Menschen gegenüber, sondern der Bürger und Untertan des einen Staates vertritt spezifische Interessen gegenüber Bürgern anderer Staaten, der Angehörige einer Religion weiß sich dank seiner besonderen Heilswahrheit dem Andersgläubigen gegenüber überlegen und höher berechtigt, der Angehörige des hohen Standes blickt auf den des ohnmächtigeren niederen Standes herab, der Eigentümer tritt dem anderen Eigentümer, bzw. Nichteigentümer, der Reiche dem Armen entgegen. Dies gilt auch, wenn selbst die beste aller möglichen Verfassungen des Staates erfunden wäre - sie kann das Prinzip staatlicher Trennungen nicht aufheben; das gilt auch, 64

wenn das Eigentum gleichmäßig verteilt würde über kurz oder lang wäre Ungleichheit, wäre der Gegensatz von arm und reich wieder hergestellt. Das sind die Übel, die notwendig aus der bürgerlichen Gesellschaft als Gesamtordnung erwachsen. Aber diese Gesellschaft, dieser Staat sind doch menschliche Mittel, von Menschen gesetzte Institutionen zur Erfüllung ihrer Zwecke. Sie geraten in Widerspruch zum Zweck, zum von der Natur gesetzten Zweck menschlicher Existenz: der Glückseligkeit, und zwar der Glückseligkeit jedes menschlichen Individuums. Lessings Maßstab ist ein radikaler Eudämonismus. „Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sicherer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückseligkeit aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staats. Außer dieser gibt es gar keine. Jede andre Glückseligkeit des Staats, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyranney." 21 In diesen Aspekten faßt sich Lessings Kritik an der „bürgerlichen Gesellschaft" zunächst zusammen: Trennung von Mensch und Mensch, Umkehrung des Verhältnisses von Zweck und Mittel, Raub des Glücks. Was zuerst formal und nur moralisch erscheint, intendiert weiteste soziale Inhalte. Es ist der konkreten Individuen Leiden, dessen Rechnung Lessing aufmacht. Sein theoretisches Mittel ist ein sozialer Nominalismus. Staat, Vaterland usw. sind bloße Abstrakta gegenüber den realen Individuen, die nur als Mittel für deren Glückseligkeit als Zweck fungieren, berechtigt sind und installiert wurden. Deutlich wird, wie hier der historische Idealismus zwingend aus der theoretischen Voraussetzung, dem Denkmodell der Gesellschaft als Integral isolierter Individuen resultiert. Das Gesamt der sozialen Beziehungen, der materiellen wie der ideologischen, wird eingeebnet auf ideologische, durch das menschliche Bewußtsein und seine Zwecksetzung hindurchgegangene Beziehungen; die materiellen Strukturen bestehen dann nicht unabhängig vom menschlichen Bewußtsein. Natürlich mußte Lessing in Begriffsbestimmung und Methodik am vorgefundenen Gedankenmaterial anknüpfen. Das gilt für keinen Begriff mehr als den Leitbegriff der Aufklärungstheorie des späten 18. Jahrhunderts, den Begriff „des" Menschen, des bloßen, natürlichen Menschen im Unterschied zu den wirklichen, in ihren sozialen und historischen Verhältnissen nur existierenden, geschichtlich und national geprägten und individuell differierenden Menschen. Diese Abstraktion „des" Menschen - eine antizipierende Idealisierung des von 5

Heise, Realistik

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feudalen Bindungen befreiten Individuums der bürgerlichen Gesellschaft - wird der sozialen Realität unterlegt und ihr zugleich konfrontiert. Diesem Menschen wird die Gesellschaftlichkeit als Bedürfnis und Moral imputiert, während die Verhältnisse als der Individuen Lebens- und Tätigkeitszusammenhang und -form äußerlich als Mittel und Sache ihm gegenübergestellt erscheinen. So fungiert „der" Mensch einmal als illusionäre Naturgrundlage, das historische Produkt als natürliche Voraussetzung und Subjekt der Historie, zum andern als Alternativideal gegenüber den gegebenen als unnatürlich, die „natürlichen" Potenzen und Bedürfnisse depravierenden Verhältnissen der Ungleichheit und Trennung. So auch für Lessing, insofern bewegt er sich ganz in den Bahnen der bürgerlichen Aufklärungsideologie, in deren Abstraktionen die bürgerliche Gesellschaft ebenso normativ vorausgesetzt, wie verschleiert in ihrer Widersprüchlichkeit und verkehrt gespiegelt wird. Dennoch setzt er an, diesen Begriff über seine metaphysische Fixiertheit und ideologische Bindung hinauszutreiben, in geschichtliche Prozesse hinüberzuführen. E r vermittelt dies, indem er im Menschen nur durch geschichtliche Tätigkeit und Prozesse zu realisierende Bestimmungen annimmt: Perfektibilität und Vereinigungsstreben. Was Kant ungesellige Geselligkeit nennt, ist für Lessing nicht Naturanlage, sondern notwendiges vergängliches Stadium. Perfektibilität und Vereinigungsstreben gerinnen im Spannungsfeld zwischen einer monadologischen, aber offenen Individualität und der Solidarität, die längst in der fundamentalen Bestimmung des „Mitleids" ihre inhaltliche Bestimmung erhielt. Mitleid ist nicht sentimentale Passivität, sondern aktiv solidarisierender Mitvollzug. Darin ist die Gleichheit als moralisch-politischer Anspruch eingeschlossen. Dementsprechend faßt er als moralische Norm sowohl: Entfalte deine individualischen Vollkommenheiten - als auch das grundlegendere Postulat der Solidarität, erinnert sei hier an das Testament Johannis. Erst die Einheit beider erfüllt das menschliche Glück. Sehen wir weiter: „Nun j a " , sagt Ernst, „die Menschen sind nur durch Trennungen zu vereinigen! nur durch unaufhörliche Trennungen in Vereinigung zu erhalten! Das ist nun einmal so. Das kann nun nicht anders sein." 2 2 Kann es nicht anders sein? Was ist - wie es geworden, muß es so, darf es so bleiben? In Lessings spinozistisch-leibnizianischem Entwicklungsdenken ist, was geworden, mit Notwendigkeit geworden - aber nichts ist ewig, unverändert, muß bleiben, wie es ist. D i e T>ürgerliche Gesellschaft ist historisch notwendig - und vergänglich. Sie ist nicht

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einfach moralisch zu verurteilen aus dem Widerspruch zwischen idealem Wesen und Wirklichkeit, ist vielmehr die historisch notwendige Form der Verwirklichung dieses Wesens - und es ist ihre geschichtliche Funktion und Leistung, die Mittel ihrer Aufhebung, ihres Überflüssigwerdens zu produzieren. „Wenn die bürgerliche Gesellschaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die Vernunft angebaut werden kann: ich würde sie auch bei weit größeren Übeln noch segnen", sagt Falk. 23 Und diese Vernunft ist es, die den Menschen fähig macht, sich selbst zu regieren, zu bestimmen, auf jede besondre Gewalt über sich zu verzichten, moralisch-gesellschaftlich mündig zu werden, analog der errungenen Überflüssigkeit der „Offenbarung". Dieser entwicklungsgeschichtlich-dialektische Ansatz wird deutlicher im Kontext der Bestimmung der „wahren Freimaurerei" als einer geschichtlichen Gegenaktion gegen die bürgerliche Gesellschaft und ihre Trennungen. Sie sei so alt wie diese Gesellschaft - nämlich ihr Widerpart als Entgegenarbeiten gegen ihre Trennungsfunktionen. Aber Lessing erwägt zugleich: „wenn nicht gar die bürgerliche Gesellschaft nur ein Sprößling der Freimaurerei" 24 sei. Das besagt doch, daß bürgerliche Gesellschaft und Freimaurerei beide dem menschlichen Wesen entspringen, notwendig einander bedingen, die Gesellschaft als unvermeidlich widersprüchliche Form der Vereinigung entstanden, dennoch Freimaurerei nicht einfache Ergänzung oder Korrektiv ist: Denn die Taten der Freimaurer zielen darauf ab, gute Taten überflüssig zu machen - jene guten Taten, die aus dem Gegenarbeiten gegen die Trennung entspringen, vielmehr dies sind. Wenn die Trennungen aufgehoben, sind sie überflüssig. Wer sind diese wahren Freimaurer, diese die ganze bürgerliche Gesellschaft begleitende Gegenund Bewegungspartei? Lessing bestimmt ihre Funktion: das Entgegenarbeiten gegen die Trennung, ihre guten Taten sind Taten, die gerade die Aufhebung von Staat, Staatskirche, Ständen und Klassen fördern, ihre Moral ist Unabhängigkeit von den Werten solcher Trennungen, ihr Wirk- und Entstehungsraum ist das jenseits der offiziellen Gesellschaft bestehende private Leben, ihre Vereinigung hat das unmittelbare Ziel der Verbindung von Theorie und Praxis, um jene für diese, aus dieser jene zu gewinnen; ihre Wirksamkeit: die Beförderung aller jener Kräfte und Beziehungen, die auf menschliche Mündigkeit hinzielen, die Vereinigung dieser Kräfte, ihr öffentlich faßbares Wirken ist daher wesentlich vereinigend, bildend, erzieherisch. Nicht die Freimaurer als solche stürzen die alte Gesellschaft um, das kann nur die mündig 5*

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gewordene Menschheit, sie sind deren Vorhut, Avantgarde, unsichtbare Kirche: Ihre Verbindung gründet „nicht in äußerlichen Verbindungen, welche so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten; sondern auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister." 25 Zerstreut als „unsichtbare Kirche", als Vereinigung, als Orden - wandelbar entsprechend der jeweiligen Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft - , bilden sie eine Gegengesellschaft, welche die staatlichen, religiösen und sozialen Trennungen in sich und unter sich aufhebt, als solche Gesellschaft aber immer in Gefahr der Anpassung, der Reproduktion der bestehenden Gewalt ist; daher auch die Kritik an der vorhandenen Freimaurerei, die diese Gegengesellschaftsfunktion gerade nicht erfüllt. Der Sache nach ist die so konzipierte Freimaurerei Ausdruck der systemimmanenten und systemsprengenden Widersprüchlichkeit der, bürgerlichen Gesellschaft. D a diese nicht in ihrer sozialökonomischen Objektivität gefaßt und als energisches, zu seiner Auflösung treibendes Verhältnis begriffen wird und werden kann, tritt gegenüber der Gesellschaft als Objekt die subjektive Seite ihres Gegensatzes in den Vordergrund. Der Sache nach ist „wahre Freimaurerei" personalisierter spekulativer Ausdruck der Ausbildung und Entfaltung all jener Kräfte der Vereinigung und des Mündigwerdens, die - als Möglichkeit, als Perfektibilität im menschlichen Wesen naturgesetzlich angelegt - allein in der bürgerlichen Gesellschaft sich ausbilden und entwickeln können und müssen, um jene einmal, wenn sie überflüssig geworden, abzuschütteln. Wahre Freimaurerei ist nicht mit ihnen identisch, sondern deren Avantgarde, bewußter Förderer und Erzieher - als historisch sich wandelnde geheime Bewegungspartei. Der Sache nach ist sie Negation, revolutionärer Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft, der gegenwärtig praktikablen Form nach kann sie nur als ideelles Entgegenarbeiten, als friedliches Mildern ihrer Übel, als ungeheuer weitperspektivisch, fast gärtnerisch-bildendes Wirken entworfen und öffentlich programmiert werden. Die „wahre Freimaurerei" ist eine ideologische Konstruktion, ein Programm zur Überwindung der Trennung von Theorie und Praxis, der es entspringt und deren Stigma es trägt. Und es ward konzipiert in einem Horizont, in dem die geschichtliche Selbsttätigkeit der Massen unvorstellbar war, in dem die Lessing bekannten demokratischen Bewegungen - wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg - eben nicht die Ziele, auf die er hinauswollte, verfolgten. Ein Bewußtsein der Verwandtschaft ver-

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band ihn noch am meisten mit den spätmittelalterlichen Ketzer- und Schwärmerbewegungen - bei aller Distanzierung. Gemessen an den Bedürfnissen der bürgerlichen Revolution, die in Deutschland noch nicht auf der Tagesordnung stand, ist Lessings Konzept reformistisch. Sie ist nicht sein Ziel, auch nicht deren Resultate, am wenigsten die ökonomisch-sozialen. Aber das ist die Form, in der er einen Inhalt anvisiert, der - bei aller Formalität - die bürgerliche Revolution und kapitalistische Gesellschaft transzendiert, der - in der Negation - auf Marx' menschliche Emanzipation hinausläuft, so vorläufig-vage, feuerbachianisch diese Bestimmung auch ist. Mir scheint, d a ß dieser Sachverhalt - die notwendige Korrespondenz dieser beiden Seiten in ihrem Widerspruch - die häufig angewandte Methode, den politisch-ideologischen Beitrag eines Autors zur Vorbereitung und Durchführung der bürgerlichen Revolution zum Hauptkriterium zu machen, problematisiert. Allzu naiv wird dann ein Modell von der Geschichte je gestellter und in ihren Ergebnissen zu erfüllender und zu zensierender eindeutiger Klassenaufgaben vorausgesetzt. Schon die Rezeptionsgeschichte warnt da. So sind Lessings einschränkende, zurücknehmende Aussagen, die hier nicht mehr aufzuführen sind, selbst Ausdruck der Unreife des Inhalts, der Sache ihrer geschichtlichen Objektivität nach, wie ihres Erfassens durch Lessing; ebensosehr Tarnung, Zurückschrecken wie unvermeidliche Schranke in der Vorstellbarkeit von Praxis, Verdecken der Sache durch die Form, Ineinander von sokratischer Ironie, Andeuten, Zurücknehmen, Absichern - vor oben und vor sich selbst. Daher auch die Ablehnung von Gewalt und Blutvergießen, die Beteuerung freimaurerischer Tätigkeit als ohne Schaden für den Staat und deren grundsätzliche Trennung von der Politik. Daraus erwachsen die verschiedenen Rezeptionsmöglichkeiten, die je nach ideologisch-politischem Horizont - unterschiedliche Bedeutungsebenen zu rezipieren zulassen, die dem Text selbst in seiner Widersprüchlichkeit innewohnen. Das hebt nicht die Logik der Sache, den Gedanken von der Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, nicht Lessings innersten Emanzipationsgedanken auf. Aber dieser entzieht sich selbst einer revolutionär-antifeudalen Rezeption - wofür Weishaupt ein Beispiel. Die Aufhebung des Staates konnte ins Liberale umgedeutet werden - bei Ignorierung des Ganzen. An der praktischen Form machten alle reformistischen Konzeptionen fest, zumal diejenigen, die vor revolutionärer Politik zurückschreckten und sich auf Bildungs- und Erziehungspolitik im Bestehenden warfen. Die kommunistische Rezeption war erst möglich, als die heroischen Illusionen der

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bürgerlichen Revolution praktisch demontiert und die Erfahrung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze der nachrevolutionären kapitalistischen Gesellschaft begriffen waren. Wo Lessing in der Vereinigung von Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft und geschichtsdialektischem Ansatz ein geniales Systemaperfu hingeworfen, ward in der Entwicklung des dialektischen Denkens innerhalb der bürgerlichen Philosophie gerade die über die bürgerliche Gesellschaft hinausführende Perspektive amputiert. Wenn Kant den Antagonismus als Mittel der Entwicklung der menschlichen Kräfte präziser faßte, so fundiert er dies in der ungeselligen Geselligkeit als höchst bürgerlich normierter Naturanlage des Menschen. Wenn Herder auch unter Lessings Einfluß den Fortschrittsgedanken aufnimmt, seine bornierte Bückeburger Religiosität sprengt, so gelingt es ihm wohl, den Fortschritt als Höherentwicklung mit innerer Widersprüchlichkeit, über Revolutionen, Katastrophen, revolutionäre kriegerische Gewalt realistischer zu denken, aber ohne über die bürgerliche Gesellschaft hinausführende Sicht. Wenn er eine Erkenntnis ausspricht, die Lessing nicht vollziehen konnte: „Von Anfang der Dinge an . . . hat die vereinte Erfindung des Menschengeschlechts nur zwei Methoden entdeckt, Unterhalt auf der Erde zu verschaffen: die eine ist eigener Hände Arbeit, die zweite, anderer Hände zu gebrauchen . . Z'26 - großartig im Lakonismus, so zog er daraus nur antifeudale Konsequenzen. So viel tiefer und konkreter die Geschichtsdialektik auch von Hegel entwickelt wurde, der Kern der Freimaurergespräche wurde erst bewußt rezipiert, als die reale revolutionäre Perspektive ein Ende der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufscheinen ließ. Daß Lessing dies - sich selbst nur bedingt verstehend - antizipieren konnte, spekulativ, in moralisch-sozialen Bestimmungen allein - aber eben als Denker geschichtlicher Entwicklung, der da Neues sah und w i t t e r t e e r h e l l t wiederum die eminiente Bedeutung jener Krisenjahre des siebenten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts, wo neben ihm Kant zu seiner kritischen Position überging und dadurch die begriffliche Entwicklung der „aktiven Seite" idealistisch einleitete - und die jüngere Generation der Stürmer und Dränger im Prometheus ihr Symbol fand. Zum Schluß: Bohrt nicht in Lessings Gespräch ein Fragen, wird da nicht ein humanistischer Anspruch erhoben, der keineswegs erledigt und ins Museum des historischen Gedächtnisses abzustellen ist, dem wir uns - und auch die nach uns kommen - stellen müssen? Sonst wäre Lessing ein bloßer Träumer gewesen.

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Herders Humanitätskonzept

Herders Begriff der Humanität ist nicht für sich definierbar. Er ist Fazit des in ihm sich konzentrierenden Weltanschauungs- und geschichtsphilosophischen Entwurfs. Er betrifft, was den Menschen vom Tiere scheidet, was die Menschheit als gesellschaftlich-geschichtliche Einheit und Mannigfaltigkeit war und sein wird, was sie wurde und aus sich selbst macht und machen soll. Humanität blickt in entfernte Frühgeschichte und in die Zukunft der Menschheit; was sie ist, zeigt die Geschichte. Sie gewinnt ihren sich wandelnden Inhalt aus der Höherentwicklung der Menschheit als Naturprozeß, aus dem Fortschritt, sie programmiert die Zukunft gegen die vorübergehende Gegenwart. Als subjektive Haltung, als Ideal gestaltet sie sich aus dem Verhältnis zu diesem Gesamtprozeß als Wirken für die Erfüllung des menschlichen Grundbedürfnisses nach Wohlsein und Glück - so sehr diese wiederum historisch bestimmt sind - und als diese Erfüllung selbst. - Deutlich wird aus dem Gesagten: Sprechen wir von Humanität, so von menschlicher Geschichte, von Fortschritt und Höherentwicklung. Im Folgenden versuche ich, einige weltanschaulich-philosophische Grundmotive Herders herauszugreifen.

1 Herders Thesen zum Charakter der Menschheit im 24. Buche der Briefe zur Beförderung der Humanität stehen in einem programmatischen Kontext. Ihnen geht der Zukunftstraum des 23. Kapitels voraus - und ihnen folgt Herders Variation des Lessingschen Gesprächs zwischen Ernst und Falk.1 „Die Gegenwart ist schwanger mit der Zukunft", schreibt Herder in Leibniz' Worten, die neuen geschichtlichen Gehalt gewinnen, den der Revolutionsepoche, „. . . das Schicksal der Nachwelt ist in unsrer Hand." (Bd. 17, S. 110) Und der Traum 71

wird Stimme der Zukunft in der Gegenwart. „Träume", kommentiert Herder, „werden nur aus Erfahrung und das Grundgewebe dieser Hoffnungen sind sehr überdachte Gedanken." (Ebenda) Die künftige Erfüllung des gegenwärtig Erstrebten erscheint visionär als Zeit „ähnlich denen, in denen die edelsten Griechen und Römer schrieben". (Bd. 17, S. 111) Hier klingt die von Herder wieder kritisierte und zugleich - angesichts der Revolution in Frankreich - erneut praktizierte klassische Idealität an, ästhetische Form der heroischen Illusion der bürgerlichen Revolution. Natürlich wußte der Historiker Herder sehr genau, d a ß bloße Wiedergeburt oder Wiederholung des einst vollendet Gewesenen weder möglich noch wünschenswert sei. „Es war Griechenland und war es auch nicht." (Ebenda) Er fühlte sich nicht fremd in diesem Erfüllungslande. Ja, er wunderte sich über Regierung, Gesetze, Zustände - „wie wir das alles gewußt, gekannt und nicht angewandt haben konnten. . ." (Ebenda). Sanft ausgesprochen, die härteste Verurteilung der Gegenwart, einschließlich seiner selbst. Zukunft ist das heute Gewußte, aber nicht Angewendete, das gegen die bestehenden Zustände als richtig Erkannte. In den Tempeln jenes Zukunftslandes wird die Göttin der Humanität verehrt. In ihr aber können die Menschen nur sich selbst ehren, keine jenseitige entfremdete Übergewalt. Fast schwärmerisch klingt es dann: „Meine ganze Seele war wie in den Tagen meiner Jugend" (Ebenda) - und dies sind eben die Tage des Sturm und Drang. Hier wird die Kontinuität im Erstrebten, die er festhält, bekannt. So auch im weiteren Bericht: „Durch Sturm und Drang, durch Felsen und Wüsten kam ich zum Sitze des alten Menschenfreundes, Prometheus." (Bd. 17, S. 112) Prometheus bleibt Symbol- und Identifikationsgestalt: das dialektische Bild des gefesselten Prometheus, das Bild des produktiven Rebellen gegen Zeus - und die Zukunftsmetapher des befreiten. Diesen findet Herder. Prometheus spricht vom Licht, das er den Menschen vom Olymp geholt.Er urteilt: „Träge Geschöpfe, daß sie so lang' in der Dämmerung gingen; endlich haben sie das Mittel gefunden, das in ihnen selbst lag, die Vernunft. Sie gibt das Maß und die Waage, sich selbst zu regieren." (Ebenda) Da kommt kein Erlöser mehr. Befreite Menschen sind Menschen, die sich selbst vernünftig regieren, die mündig sind, und das werden sie nur durch eigene Kraft und Tat. Sie bedürfen keiner feudalen Vormünder mehr. Das also ist die angesichts der konterrevolutionären Kriegszüge ausgesprochene Gegenwartserkenntnis, die nicht angewandte, aber gewußte Zukunft; die gegenwärtigen vormund72

schaftlichen Feudalgewalten sind schon Vergangenheit. Im Prometheusmotiv klingt jene mit Goethe oft diskutierte und von ihm berichtete Metaphorik der drei Dynastien an, deren letzte die mündigen Menschen seien. Herders Humanitätsphilosophie und -publizistik führten, was im Sturm und Drang begonnen, allgemeiner, gedanklich geklärter und entwickelter unter neuen Bedingungen fort.

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Für unseren Zusammenhang ist am nachfolgenden Gespräch zwischen Ernst und Falk besonders wichtig: Herders Variation, sein Diktum gegen das Geheimbundwesen der Freimaurerei: „Alle solche Symbole mögen einst notwendig gewesen sein; sie sind aber . . . nicht mehr für unsere Zeiten. Für unsere Zeit ist gerade das Gegenteil ihrer Methode nötig, reine, helle, offenbare Wahrheit." (Bd. 17, S. 132) D i e Revolution hat den Geheimbund mit seinem Geheimniskult überholt. Herder fordert Öffentlichkeit - und mit der Bildung einer nicht absolutistisch regulierten öffentlichen Meinung ist zugleich auch die Öffentlichkeit solcher Bundbildung gesetzt. Seine Forderung impliziert die politische Öffentlichkeit, die das deutsche Bürgertum, die die antifeudalen Kräfte gerade nicht hatten. Ihr Inhalt ergibt sich aus den vorhergehenden Thesen. Herder fordert hier die Vereinigung der Moral, die den Menschen als Selbstzweck setze, mit der Politik, die ihn nur als Mittel betrachte, somit die Unterordnung der Politik unter die Humanität. Den Menschen als Mittel zu nutzen, ist die Politik des Absolutismus. Verschmelzung der Politik mit der bürgerlichen Gleichheitsmoral erhebt den Anspruch bürgerlicher Politik. Diese Moral ist der Form nach unpolitisch, erscheint privat, sie erwächst aus dem privaten, eben nicht staatlich-absolutistischen Bereich des ohnmächtigen Bürgertums. Indem es seine Moralität allgemein setzt, impliziert der idealisierte Bourgeois als Mensch den Citoyen. Was politisches Geheimnis der progressiven Geheimbundbewegung war, ist öffentlicher Anspruch hier. Während die offenen, kühnen publizistischen Ansätze der neunziger Jahre schnell abgewürgt wurden, versucht Herder im Unterlaufen der offiziellen Zensur für solche Öffentlichkeit zu wirken. Freilich tut er dies in den Briefen . . . angesichts der Revolution in der stagnierenden deutschen kleinabsolutistischen Welt. Seine Botschaft der Humanität ist Botschaft des allgemeinen fortschreitenden Ganges des Menschengeschlechts, für den die Gegenwart vorübergehende Etappe, den zu fördern Tagesaufgabe sei. Unter den Bedingungen politischer Ohnmacht ist dies Botschaft an diejenigen, die unter ihr leiden. D e r Zeitgenosse soll vergessen „den niedrigen Kummer,

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der ihm da und dort das Herz drückte, wenn er den Strom der Zeit stockend und sich in einem stehenden Sumpf gesenkt glaubte. Der Strom der Zeit steht nie still; jetzt rieselt er sanft, jetzt rauscht er gewaltig; allenthalben aber wehet auf ihm Odem des Lebens." (Bd. 17, S. 5) In diesem Widerspruch zwischen dem „stehenden Sumpf" der gelebten gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem „Strom der Zeit" steckt Herders Lebensproblematik. Sein Denken und Wirken sind permanente Anstrengung, sich aus diesem Sumpf zu befreien, sich gegen ihn zu behaupten, den Aufbruch zum Strom zu befördern.

2 Doch diese Anstrengung gegen den Sumpf will bezahlt werden. Denn die Lebens-, die Lern-, die Entfaltungs- und Wirkungsbedingungen fand Herder eben im Sumpfe, nirgend sonst, somit in den Rollenbedingungen seiner Welt. „Bs sollte jeder Mensch", bemerkte er einmal, „bei seinem Tode geschrieben hinterlassen, was er eigentlich fürPossenund Puppenspiel hielt, aber nie aus Furcht Vor den Verhältnissen laut dafür erklären durfte: wir alle haben solche Lügen des Lebens um und an uns, und es müßte uns wohl tun, sie wenigstens dann auszu- , ziehen,wenn wir den Totenkittel anziehen." 2 SolcheLebenslügen haben es in sich: Sie sind zugleich soziale Funktionsbedingungen. Sie können verinnerlicht werden und werden es; das Possenspiel kann, da Existenzbedingung, zur mit schlechtem Gewissen verteidigten Überzeugung werden. Dem Wortmächtigen wird das Wort, seine einzige Wirkungs- und Äußerungsmöglichkeit, zur Fessel; dem Stau des Wortes folgend, verbiegt sich der Gedanke, erschrickt vor seiner Konsequenz. Goethe hatte Herders Kommen nach Weimar begrüßt: als eines Wolfs im Schafpelz. Aber in gelebter Existenz lassen sich Kern und Schale nicht so säuberlich trennen, um so mehr als es ein Leben in höfischkleinstaatlichen Öffentlichkeitsbedingungen war. Herder, der wirken wollte, der schon dachte im Gestus des Mitteilens, war auf seine Weise ein „gefesselter Prometheus". Daraus erwachsen Widersprüche und Pendelausschläge seines Denkens. Sie haben ihren Grund gewiß auch darin, daß hier ein geniales Individuum im Durchbrechen eines alten Welt-und Wertmodells einen kühnen Universalentwurf machte, diesen durch eine seine Kräfte übersteigende Synthese höchst ungleichmäßig entwickelter Wissenschaften 74

empirisch auszuführen suchte, dabei zu leisten unternahm, was von seiner theoretischen Grundlage her nur entworfen, gesehen, aber nicht wissenschaftlich realisiert werden und hinsichtlich der Masse des zu Erkennenden auch nicht von einem Individuum geleistet werden konnte. Das spürt er selbst - als Entdecker von Neuland und Produzent des anregenden Unfertigen. Nein, die Widersprüche seines reifen Werkes resultieren aus dem Widerspruch in seinem Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit: Die leidenschaftliche Lebensbejahung - wie soll sie sich mit der Negation der bestehenden Welt vereinen, wenn keine wirkliche, bejahte Bewegung zu ihrer Veränderung praktisch erfahren wird? Der Rebell und Protestant gegen die vorhandene Welt bedurfte einer religiös-emotionalen Geborgenheitsillusion und einet theoretisch-metaphysischen Vergewisserung der Göttlichkeit der Seinsordnung, einer letzten Harmonie, um dem Widerspruch zwischen bejahter Realität als Welt und Leben, als universellem Geschichtsprozeß und der negierten unmittelbaren erlebten Wirklichkeit drückender Verhältnisse, des „stehenden Sumpfes", der totalen praktischen Ohnmacht standzuhalten.

3 Das Wort „Humanität" wurde zu einem Schlüsselwort Herders erst in den Weimarer Jahren. Die intendierte Sache stand schon vor dem jungen Herder, als er sich um eine menschliche Philosophie mühte und ein Bündnis zwischen Philosoph und Plebejer entwarf. Vor allem im Journal meiner Reise im Jahre 1769, besonders in den Überlegungen zum Jahrbuch der Schriften der Menschheit entwarf sein stürmendes Denken das lebenslang verfolgte Wissenschafts- und Bildungsprogramm. Sein Reformatoren- und Volkserziehertraum wird - bevor er das Wort benutzt - ein Grundmodell der Sache: Denn Humanität zielt auf Einheit von Theorie und Praxis, auf menschheitliche Selbsterkenntnis und gesellschaftliche Selbstveränderung. Und in Weimar hat Herder endgültig die Illusion verloren, daß solche Veränderung durch den aufgeklärten Absolutismus möglich wäre. Erst nach den Bückeburger Jahren - im Rückgriff auf Anfangsgedanken - gewinnt Herder jenen Aufgeklärtheitshorizont, der im Terminus „Humanität" sein weltanschauliches Reifestadium signalisiert. Dazu bedurfte er der neuen sozialen Erfahrungen, einer erneuten, intensiven Auseinandersetzung mit und positiver Rezeption der fran75

zösischen Aufklärung, besonders hinsichtlich Helvetius. Dazu bedurfte es der Aufnahme des Spätwerkes von Lessing und erneuter Aneignung der Philosophie Spinozas. Dazu bedurfte es schließlich der intensiven Zusammenarbeit mit Goethe, der sich der Naturforschung zugewandt hatte, sowie des Rückhalts in seinem weiteren Weimarer Freundeskreis, der manche radikalen Denker - Einsiedel, Knebel einschloß, allgemeiner noch: es bedurfte des lebendigen Einbezogenseins in die Aufklärungskommunikation-besonders über den Gothaer Hof. Die theoretisch-weltanschauliche Grundposition der „Humanität" entwickelte Herder in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Sie schließt ein die Wandlung, die „Saecularisierung" seines theologischen Standpunktes. Bei aller Emotionalität verliert Herder die Bückeburger orthodoxe Neigung; sein Christentum wird entdogmatisiert, „lessingianisiert", pantheistisch aufgelöst. In aller vagen Begrifflichkeit - Religion wird zur Form, deren Inhalt die Humanität. Die Humanitätskonzeption wurzelt-als weltanschaulich-geschichtsperspektivische Konzeption - ganz in der Situation des Vorabends der bürgerlichen Revolution. Die Humanitätsbriefe versuchen diese Position unter den Bedingungen forcierten absolutistischen Drucks öffentlich durchzuhalten. Trotz der Irritation durch den revolutionären Terror behält Herder seine demokratische Grundlinie bei. Deshalb „leiert und laviert" er, wie Forster, der Freund, sagte, gibt aber dennoch „zu denken".3 - In den Ideen gewann die deutsche Aufklärung als Gesamtbewegung eine neue Position und Perspektive. Denn Herder gelingt hier die Verbindung von internationaler bürgerlicher Aufklärungsideologie mit sozialen und politischen Intentionen und Erfahrungen der plebejisch-kleinbürgerlichen Opposition und ihrer ketzerischen Tradition, die seine religiöse Bindung ja mit genährt hatte. Der Abwertung der Ideen gegenüber den früheren Schriften kann ich nicht zustimmen, im Gegenteil. Die Geister scheiden sich an der Frage nach der geschichtlichen Bedeutsamkeit der Aufklärung als Emanzipationsbewegung und nach der Dialektik ihrer Phasen. Herder machte keinen Frieden mit dem Bestehenden. In Weimar hatte er versucht, im Rahmen der gegebenen Ordnung für seine Ziele praktisch wirksam zu werden - an der einzigen Stelle, die ihm die Möglichkeit verändernder Tätigkeit zu versprechen schien. Diese Möglichkeit hat er - wie Goethe - als puren Schein erfahren. Diese Erfahrung fundiert mit die Gemeinsamkeit mit Goethe in der Diskussion, die sich auf die Entwicklung in Natur und Gesellschaft 76

und auf das Entwerfen weitperspektivischer Emanzipationsgedanken bezog. - Was gewann er neu? E r vermochte zum ersten ein universelles entwicklungsgeschicht-* liches, die Natur absolut setzendes Weltbild zu entwerfen, das die Einheit vom Kosmos bis zum Menschen umgreift. Das scheint mir das Entscheidende, trotz der theologisierend-dualistischen Unsterblichkeitsspekulation, die er erst entwickelt - und dann folgenlos beiseite schiebt. E r gewinnt zum zweiten gegenüber der Bückeburger Geschichtsphilosophie den konstruktiven Gedanken eines nicht linearen, widerspruchsvollen, durch notwendige Antagonismen, Revolutionen, Vernichtungen und Untergänge von Kulturen hindurchführenden kulturellen Fortschritts als Höherentwicklung. Was fortschreitet, ist die Humanität. Sie ist - vom Ansatz her - als menschliche Kraftbetätigung und Fähigkeitsentwicklung gefaßt. Herder gewinnt in diesem Zusammenhang eine neue Dialektik dergestalt, daß jede Epoche ihr eigenes spezifisches Maß an Humanität entsprechend ihren natürlichen und geschichtlichen Bedingungen an sich trägt, jeder historische Gleichgewichts- ja Vollendungszustand aber notwendig vergänglich, im Prozeß der Gattungsentwicklung jedoch ein Gesamtzusammenhang als Band der Kultur sich notwendig herstellt. Geschichte verliert die äußerliche Teleologie und theologische Zielsetzung. In diesem Kontext etabliert „Humanität" den irdischen Menschen als Selbstzweck er hat keine Bedeutung, die außerhalb seiner Gattung liegt, keinen Lebenssinn, der ihm von außen oder oben oktroyiert ist. Es macht seine Humanität aus, daß sein geschichtliches Schicksal in seine Hand gegeben ist. Hier sei an des Pico della Mirandola Renaissance-Gedanken in Von der Würde des Menschen erinnert, daß der Mensch sich selbst zu schaffen habe, daß sein Schicksal in seine Hand gegeben sei. Herder steht bewußt in dieser Tradition. Doch welcher Unterschied: Was dort Programmatik, erscheint hier als Resultat und Wesen der Geschichte im Kontext der natürlichen Entwicklung - in einem Prozeß, in dem der Mensch seine „Perfektibilität" bewährt. Was dort auf den einzelnen zugeschnitten in einem historischen Kreislaufmodell, erscheint hier als kollektive Leistung der Völker und Kulturen, als Ergebnis ihres historischen Lebensprozesses. Die Genesis dieses von Herder entworfenen historischen Bewußtseins vereint dreihundert Jahre materieller und ideologischer Klassenkämpfe der werdenden bürgerlichen mit der feudalen Gesellschaft; sie vereint Erfahrungen geschichtlicher Umwälzungen, des Formationswandels, der Formations77

konfrontation und des naturwissenschaftlichen, technischen und produktionsmäßigen Fortschritts mit der Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Konfrontation mit den Völkern Amerikas, Afrikas und Asiens, in der die eigene stadiale Vergangenheit den Europäern entgegentrat - wobei an ihrem Kolonialismus, ihrer praktizierten Kulturzerstörung und dem Sklavenhandel die Fragwürdigkeit und Widersprüchlichkeit ihres europäischen Fortschreitens sichtbar wurde. Herders Humanitätskonzept verbindet den Historismus, das ganze Erbe der Fortschrittsdiskussion der Aufklärung verarbeitend, mit dem Demokratismus, der jedem Volk und jedem Individuum Humanität als dessen je eigene Kraftbetätigung und Entwicklungsmöglichkeit zuspricht - er verbindet diese Momente zu einem großen Bewußtsein des Epochenendes und -wandels, des Endes der feudalen und des notwendigen Anbrechens einer neuen Epoche, welche humaner werden müsse. Übergreifend ist zunächst die natural-pantheistische Gesamtsicht. Humanität gerinnt in der „Kette der Bildung", ist kein ideales Abstraktum, sondern bemißt sich im Gesamtkontext der Menschheitsgeschichte an der wachsenden Macht der Menschen, an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten gegenüber der Natur - und dem Wachstum von Vernunft und Billigkeit bei der Regelung ihrer Beziehungen untereinander. In der besonderen Volksgeschichte aber erfüllt sie sich in Zuständen des Gleichgewichts aller gegenstrebenden Kräfte, in Zuständen der Glückseligkeit, die freilich notwendig vergehen. Was von außen aber so natural erscheint, ist bei Herder Außenseite eines Inneren, das er als Totalität der substantiellen Kräfte faßt - hierkonstruiert sein objektiver Idealismus, der wiederum die Anwesenheit Gottes in allem Konkreten vermittelt als der eigentlichen Urkraft und den Gesamtplan gebärenden Weisheit. Auf diese Weise wird aus äußerlicher Teleologie immanenter Zusammenhang. Freilich - diese substantiellen Kräfte bleiben unbestimmt; Kants Kritik trifft ihren spekulativen Charakter, sie erklären nichts, sie haben einerseits ideelle Funktion, sind in anderen Zusammenhängen ganz naturalistisch interpretierbar, sie vermitteln für Herder die Moralität des Natürlichen und die Natürlichkeit der Moralität. Doch die Inkonsequenzen dieses seines Pantheismus, der ihn ebensosehr vom Theismus befreit wie er ihn von Spinoza zu Shaftesbury führt, dadurch dem Universum ein moralisches Optimum unterlegt, kann ich hier nicht analysieren. Herder gewinnt die Harmonie im Oszillieren zwischen „Plan" und innerem Zusammenhang, deren er bedarf, um die Einheit der so konkret ge78

sehenen Gegensätze und Antagonismen, ihr Auf gehobensein in höherer Ordnung theoretisch zu behaupten. Der Ertrag aber in bezug auf die Humanität ist: diese ist kein, absolut gesetztes, abstraktes Gegenwartsideal, sondern historisch gefaßt; als historische Realität und als Ideal ist sie je national und saecular, immer jedoch bezogen auf den universalen Fortschrittsprozeß. - „Humanismus" wäre dann als gewollte, bewußte Humanität zu verstehen - und diese ist nur real als bewußte Praxis, die aus dem Geschichtsprozeß* seinem Vorwärtsgange, seiner Gesetzlichkeit sich begreift und ihre Handlungsziele gewinnt. Als Bildungsideal aber wäre dies die subjektive Befähigung dazu durch Aneignung der geschichtlich Humanität objektivierenden und tradierenden Geistesgüter.

4 Nicht der Perfektibilitäts- und Fortschrittsgedanke sind originell, sondern deren dialektische Durchführung. Die gedankliche Leistung Herders war, ihn mit dem monadologischen Individualitätsprinzip und mit der Erkenntnis der Widersprüchlichkeit geschichtlicher Bewegung zusammenzudenken, schließlich Fortschreiten nicht als Abstraktion den Realprozessen entgegenzusetzen, sondern - gut pantheistisch - in der Immanenz der konkret geschauten historischen Prozesse Entwicklung, Individualität und Gesamtzusammenhang und dadurch konkrete Humanität aufzusuchen. So hat Herder dem Fortschrittsgedanken seine Linearität genommen - um so mehr, als Humanität primär Verhalten, nicht intellektuelle Macht allein ist, sondern die Totalität menschlicher Kräfte und Beziehungen betrifft. Fortschritt, erkennt Herder, schließt notwendig Umwälzung, Revolution, gewaltsame Umbrüche ein - wie Geburt den Tod voraussetzt. Di^se Einsicht aber hat ihren Ausgangspunkt im Verhältnis zum gegenwärtigen Gesellschaftszustand, der gelebte Widerspruch präformiert den gedachten. Noch bevor er den Gedanken der Höherentwicklung durchführte, verhöhnte er die Illusion sanfter Wandlungen als Wunschdenken - so in der Bückeburger Geschichtsphilosophie: „Warum ist nicht, ruft der sanfte Philosoph, jede solcher Reformationen lieber ohne Revolution geschehen? Man hätte den menschlichen Geist nur sollen seinen stillen Gang gehen lassen . . . Antwort: weil ein so stiller Fortgang des menschlichen Geistes zur Verbesserung der Welt kaum etwas anderes als Phantom unserer Köpfe, 79

nie Gang Gottes in der Natur ist . . . aber nun sollen . . . Neigungen, Sitten, eine Welt von Gewohnheiten geändert, neugeschaffen werden - ist das ohne Revolution, ohne Leidenschaft und Bewegung möglich?" (Bd. 5, S. 532) Und in den Ideen weiß Herder: „Sobald in einer Natur voll veränderlicher Dinge Gang ist, sobald muß auch Untergang sein . . . Nie aber trifft dieser das Innre der Natur, die über allen Ruin erhaben, immer als Phönix aus der Asche steigt und mit jungen Kräften blüht." (Bd. 13, S. 24) Wir sind hier in der Landschaft des Tobler-Fragments, des „Stirb und werde", des Erdgeists. Denn der Mensch als Glied der Natur, die Menschheit selbst, die Völker bewahren diesen Phönixcharakter. Durch einen notwendigen Antagonismus gehe wie in der Maschine unseres Körpers das Werk der Zeiten fort zum Besten des Menschengeschlechts. Und weil der Mensch nicht eine instinktfixierte Natur, weil seine Natur die Kunst sei, weil er das, was er macht, aus sich macht und in wechselnden Natur- und Geschichtsbedingungen machen muß, ist seine Natur geschichtlich, ja sie kann nur werden im Kampf um Selbstbehauptung, im Entgegenstreben: „Nur unter Stürmen konnte die edle Pflanze erwachsen; nur durch Entgegenstreben gegen falsche Anmaßungen mußte die süße Mühe der Menschen Siegerin werden . . . Das Maschinenwerk der Revolutionen irret mich also nicht mehr: es ist unserem Geschlecht so nötig, wie dem Strom seine Wogen, damit er nicht ein stehender Sumpf werde. Immer verjüngt in seinen Gestalten, blüht der Genius der Humanität und ziehet palingenetisch in Völkergenerationen und Geschlechtern weiter." (Bd. 13, S. 353) Herder entwirft hier - wesentlich metaphorisch - eine historische Dialektik, die zwei Aspekte umfaßt: einmal, daß Entwicklung als Begegnung von Entgegenstrebendem sich vollzieht, Humanität nur im Behaupten gegen das, was sie negiert, sich bilden und entwickeln kann, zum anderen, daß innerhalb der Entwicklungsprozesse Revolutionen im Sinne von gewaltsamen Umwälzungen, Stürmen, katastrophischen Untergängen und Neugeburten eine bestimmte Phase und in dieser eine Bewegungs-, weil Umgestaltungsform des Gesamtzu-i standes darstellen und darin notwendig sind. Begrifflich findet keine genauere Differenzierung zwischen strukturellen Widersprüchen innerhalb eines historischen Organismus, Widersprüchen zwischen solchen Einheiten und zwischen durch Revolutionen umgestalteten Gesamtzuständen dieser Gesellschaften statt. Die Metaphorik Herders ist dialektischer als seine entwickelte begriffliche Konzeption. Vergleichen wir mit der theoretisch so viel höheren Begriffsdialektik Hegels, 80

bezogen auf die Geschichte, wird deutlich, daß Herders essayistisches Denken direkt auf Erneuerung, Wiedergeburt, Verjüngung der Völker als Geschichtssubjekt, auf Gestaltung und Selbstgestaltung ihres Lebensprozesses zielt und deren gelebte, gestaltete Lebensweise, die Betätigung, Entfaltung ihrer Kräfte und Gemeinschaftsbeziehungen umkreist. Für ihn gibt es keine geschichtslosen oder geschichtslos gewordenen Völker. In jedem steckt das der Erneuerung und Gestaltung fähige Potential. Sein Demokratismus geht daher nicht in politischen Bestimmungen auf, sondern zielt auf die Totalität des geschichtlichen Lebensprozesses, auf die Bedürfnisse der Völker als historische Gründe ihrer realen Befriedigung. Seine Liebe zu den Griechen ist daher nicht antiquarisch, sondern findet im Vergangenen die methodische Vergewisserung der Zukunft: „Die Völker an den Küsten des Mittelländischen Meeres . . . schüttelten das Joch des Despotismus alter Regierungsformen und Traditionen ab und bewiesen damit das große gütige Gesetz des Schicksals: das, was ein Volk oder ein gesamtes Menschengeschlecht zu seinem eigenen Besten mit Überlegung -v^olle und mit Kraft ausführe, das sei ihm von Natur vergönnet, die weder Despoten noch Traditionen, sondern die beste Form der Humanität ihnen zum Ziele setzte." (Bd. 14, S. 22) Herder spricht hier ein historisches Naturrecht der Völker auf Revolution als gewaltsames Sprengen überlebter Lebensformen, unterdrückender Herrschaftszustände, zur Zwangsjacke gewordener Traditionen aus. Es ist leicht zu sehen, wie hier historisch-soziale Notwendigkeiten den fremden Titel der Natur und damit den Anspruch ihrer Unwiderstehlichkeit und Allgemeinheit annehmen. Es ist ebenso deutlich, wie Herder hier Humanität als das faßt, was im stehenden Sumpfe erstickt und durch Revolution und Umwälzung befreit, freigesetzt wird und neu sich gestaltet.

5 In den Ideen kommt Herders geschichtsphilosophisches Denken zur Reife. Die Masse bisheriger Erkenntnis ward neu organisiert um den Gedanken der Höherentwicklung als eines historischen Gesetzes. Darin ist zugleich die Perspektive der Negation, weil der Wandlung der Gegenwart gesetzt. Dies wiederum gibt der Humanität ihre politischprogrammatische Dimension als Gegensatz zu den bestehenden Verhältnissen. Das soll ein Blick auf die Vorgeschichte der Ideen erhellen. 6

Heise, Realistik

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Denn dieser Gegensatz war als „Entgegenstreben" Herders eigentliches energisches Lebensmoment. Er war das Bewegende, als er fragte, auf welcher Stufe sich die Nation befände und auf welche sie kommen sollte und könnte, wodurch also ihr Geist zum Aufschwingen Freiheit und Begeisterung gewinnen könne - und diese Fragestellung, ihr konkret historisches Beziehen der Literatur auf den sie erzeugenden nationalhistorischen Lebensprozeß macht ihn zum Vater unserer Literaturwissenschaft. D a ß das „Rad der Zeiten sich gewaltsam drehet" und „wie in zerstörendem reißendem Strudel" (Bd. 8, S. 48), wußte Herder früh und damit die Unumkehrbarkeit dieses Zeitenlaufs. Seine Rebellion ist widersprüchlich: Ihr aus der sozialen Tiefe kommender Ausgang läßt ihn lange zur europäischen Aufklärung ein ambivalentes Verhältnis praktizieren. Aufgeklärte Rationalität, versachlichte Weltsicht, mechanistisches Modell der Weltinterpretation schienen ihm - analog der absolutistisch-bürokratischen Staatsmaschine - als Vergewaltigung und Repression des Subjektiven, des Lebens der Individuen und Völker, als Egalisierung des Mannigfaltigen, als lebensferne und tötende Konstruktion, während er andererseits die Ergebnisse dieser Aufklärung rezipierte, ja aufsog - so den Sensualismus und Empirismus seit Bacon, so den Entwicklungsgedanken von Leibniz und Kant her, so die Einsicht in den Zusammenhang der sozialen und politischen Zustände mit dem geistigen Leben eines Volkes von Montesquieu und Winckelmann her. Doch das kleinbürgerlich-plebejische Moment seines Rebellentums fand nicht nur in Rousseau einen ambivalent aufgenommenen Anstoß der Kulturkritik, es hat weit zurückreichende Wurzeln seiner ideellen Vermittlung und Artikulation. In der Gewalt der weltanschaulichen Fragestellung, in der Tiefe des subjektiven Gefühls und auch der religiösen Borniertheit lebt in Herder ein Stück Tradition der Ketzerbewegung. D a hat Hamann mit als Vermittler gewirkt. Es ist unter anderem der gestauten Entwicklung in Deutschland zu danken, daß die ideelle Emanzipationsbewegung im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Rahmen ihrer eigenen Kontinuität zugleich die weltanschaulichen Emanzipationsbewegungen seit dem Spätmittelalter und die philosophische Entwicklung seit der Renaissance mit rekapitulierte, rekapitulieren mußte, um - ohne entwickelte weltliche Interessen und soziale Bewegung - ein weltliches Bewußtsein der Epoche zu gewinnen. Unter diesem Aspekt wollen wir einen Brief Herders an Hamann lesen und die darin sichtbar werdende Wertumkehrung des Theologen 82

beachten (Ende April 1 7 6 8 ) : „In der Reihe unserer Betrachtungen über die sich auseinanderentwickelnden Zustände der Menschen finden wir nirgend so sehr eine Lücke als: wie wurden wir aus einem Geschöpf Gottes das, was wir jetzt sind, ein Geschöpf der Menschen? D a unser Zustand doch wahrhaftig nicht der ursprüngliche sein kann, wie war er? . . ." Und dann: „Ich ärgere mich . . . über die philosophisch dogmatischen Allegorien unserer Zeit: was der Baum der E r kenntnis Gutes oder Böses sei? was er ist? E r ist das Risquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken sich zu erweitern, E r kenntnis zu sammeln, fremde Früchte zu genießen, andern Geschöpfen nachzuahmen, die Vernunft zu erhöhen, um selbst ein Sammelplatz aller Instinkte, aller Fähigkeiten, aller Genußarten sein zu wollen, zusein wie Gott (nicht mehr wie ein Tier) und zu wissen . . ." 4 Zu sein wie Gott - der Ungehorsam gegen Gott als Menschwerdung, Vergöttlichung des Menschen als Integral von Naturkräften und -instinkten zu universalem Erkennen, Genießen, und eben dies als Ausbruch, ja Befreiung aus dem „Paradies"-das ist die Umkehrung der Gläubigkeit, Entmachtung Gottes, eine vital ungestüme Bejahung des Risikos des Menschseins jenseits paradiesischer Idyllik. So spricht kein Untertan der irdischen und himmlischen Monarchen, in der theologischen Metapher zeichnet sich ihr Gegenteil, ungeheurer Anspruch auf das von allen theologischen Instanzen, Institutionen und Lehren Versagte und Verbotene ab, eine überbordende Weltlichkeit. Sie weiß um das Risiko menschlichen Fortschreitens. D e r erste Teil der ersten Frage - wie wir aus dem Geschöpf Gottes zu dem wurden, was wir sind - erledigt sich in dem Maße, wie theoretisch der Gott ins Weltliche zurückgenommen und in der Humanität das Göttliche im Menschen erkannt wurde. Dann stößt da kein Gott mehr von außen. Folglich müssen die Triebkräfte im Wirklichen selbst liegen. Dessen materiell-sinnliches Dasein aber interpretiert Herder als das Äußere des Inneren immaterieller organisch-substantieller Kräfte. Sein Pantheismus ist dualistisch strukturiert, sein Weltmodell orientiert sich am Organismus und am ästhetischen Kunstgebilde. D o c h - H e r d e r ist nun veranlaßt, die Widersprüche des Wirklichen in den lebendigen Kräften selbst aufzusuchen. Als theologisch-philosophischer G e sprächspartner Dalbergs antwortet er auf dessen harmonistischen Weltentwurf: „Die Kontrarietät des Menschen scheint mir in dem ganzen Weltbau verbreitet. Überall zwo Kräfte, die sich einander entgegengesetzt doch zusammenwirken müssen, und wo nur aus der Kombination und gemäßigten Wirkungen beider das höhere Resultat seiner 6*

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weisen Güte und Ordnung, Bildung, Organisation, Leben wird. Alles Leben entspringt auf solche Weise aus Tod, aus dem Tode niedriger Leben, alle Organisation aus Zerstörung und Wandlung geringerer Kräfte, alles Ganze der Ordnung und des Plans aus Licht und Schatten, aus divergenten, sich einander entgegengesetzten Kräften, wo das höhere positive Gesetz, das beide einschränkt und aufhebt, eben allein x°S[i.ov, Welt, Plan, Ganzes, höheres Wohl, gemeinschaftliche Glückseligkeit beginnet und anstimmt." (Bd. 9, S. 537) - Herder kontert hier freundschaftlich den philosophisch-theologischen Harmonismus Dalbergs, der in gefühliger Schau in der Liebe ein Band des Universums und im Universum eine Gesetzlichkeit des Ähnlichwerdens behauptet. Herders Antwort ist eigentümlich doppelgesichtig. Er stimmt formell mit Dalberg im Konzept, im Glauben an eine letztlich harmonischgöttliche Allordnung überein. Aber sein gesamtes konkretes Weltauffassen steht dagegen. Natur und Mensch stehen unterm Gesetz der Kontrarietät, in allem Einheitlichen manifestiert sich Gegensätzliches, Kampf der Gegensätze, entgegenstrebende Kräfte; anstelle planvoll teleologischer Harmonie eine Welt der Gegensätze und Antagonismen, Geburt und Tod alsr Lebensmoment, in allem entgegengesetzte Kräfte, Ordnung selbst ist Aufhebung des Gegensatzes im je Höheren, Positiven. Herders Ausführungen enden: „Eben die Kontrarietät im Menschen ist das Siegel Gottes in unserer Natur, der Baum, der Erkenntnis Gutes und Böses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt." (Bd. 9, S. 540) Wie Herder mit biblischer Metaphorik operiert, Mythos in Metapher verwandelt, im Zusammenziehen von Baum der Erkenntnis und Baum des Lebens weltliche historische Dialektik verschlüsselt, kann hier ebensowenig weiterverfolgt werden wie seine besonders in der früheren ÄltestenUrkunde des Menschengeschlechts darauf bezogene Auffassung des „Spiels", wodurch dann ein Menschheitsdrama vom Typ des Faust vorprogrammiert wird. Der in unserem Text dokumentierte Weltentwurf, seine Welt-Anschauung zeigt, daß sich hier zwei unterschiedliche Wirklichkeitsbeziehungen und Intentionen überlappen. Die eine ist eine elementar dialektische Sicht, die auf der Erfahrung der Kontrarietät gründet und auf deren Aufdeckung, auf deren Spannung und Dramatik zielt, während die andere den Erfüllungswunsch gemeinschaftlicher Glückseligkeit als höhere Ordnung des Ganzen der Welt behauptet, den Kosmos vermenschlicht. Die zweite setzt die erste als Vorläufiges und als Mittel, hebt die erste als Anschauung auf. Die erste tendiert auf 84

die Antagonismen, die konkreten Widersprüche der Wirklichkeit, die zweite faßt deren Prozeß und Aufhebung von einer Interpretation vom höheren Soll her. Der ersten Kampf und Schmerz verspricht der zweiten Frieden und Trost. Die spekulative Dominanz der Harmonie aber wird vermittelt durch den Idealismus der „Kräfte". Die reale Dominanz der ersten ist dort, wo Herder das Wirklichkeitsmaterial durchdringt, empirisch das Reale ausspricht, wo seine Leistungen als Historiker liegen. Philosophisch-weltanschaulich hat Herder diesen Dualismus wohl modifizieren, doch nie aufheben können. Letztlich, weil die positive Weltbejahung, die zugleich die Einlösung eines Glücksversprechens erwartet, sich nicht mit der Konsequenz seiner Verneinung der bestehenden Ordnung vertrug, in der er keine wirkliche Bewegung in Richtung auf dieses Glück zu fassen vermochte: daher die Harmonie als illusionäre Objektivität Bedürfnis und Ziel ist. Was hat Herder nun auf diese Kontrarietät geführt? Geistesgeschichtlich läßt sich gewiß der Weg zu des Nikolaus von Cues Coiticidentia oppositorum, zur Renaissancephilosophie, besonders Brunos, ja bis in die Antike zurückverfolgen-was Dobbek materialreich getan hat. Aber weder diese Tradition, noch die der deutschen Naturphilosophie und Mystik, noch von Kant gelernte Einsichten über Attraktion und Repulsion in der Naturgeschichte des Himmels oder die Realrepugnanz, noch Leibniz' allgemeiner Dynamismus reichen da aus. Nein, daß Herder den Gedanken so allgemein faßte, hat seinen Grund in der eigenen sozialen Erfahrung, in der Vitalität seines eigenen Entgegenstrebens gegen herrschende Kräfte, die ihm als drükkende politische und ökonomische feudaleVerhältnisse, übermächtige Institutionen und Ideologien entgegentraten. Herders Werden ist die Selbsterfahrung solchen Entgegenstrebens, sein geistiges Wachstum dessen inhaltlich-historisches Bewußtwerden, das er gewinnt durch Aufnahme und Verarbeitung der europäischen Aufklärung und Wissenschaft, der Ketzertraditionen sowie der solidarisch übernommenen, eigenes Erleben multiplizierenden Massenerfahrung sozialer und natio-i naler Unterdrückung. Dies Entgegenstreben ist Triebkraft und Richtung seiner ruhelosen Produktivität, die seine Aktion ist, das Wort an Stelle der verändernden Tat - und das Wort als Tat. So sucht die geistige Aktion die lähmende Bindung an die gegebenen Zustände zu zerbrechen, neue Horizonte zu weisen. Das Wort greift aus der Vereinzelung nach dem ersehnten nationalen Publikum, das es doch nur rufen kann. Die Erkenntnis sucht im Gewordensein der gegebenen Zustände die Mög85

lichkeit des Anderswerdensund im geschichtlichen Entwicklungszusammenhang Modelle und Bürgschaften der Zukunft. In dieser Epoche des Formationswandels, der Fäulniskrise des Feudalismus, des kulminierenden - in Deutschland unterentwickelten - Manufakturkapitalismus wird Herder am Vorabend der Revolution zum Sensorium des Unterdrückten, Verschütteten, des nach geschichtlicher Wirklich-' keit Drängenden, das bei seinem eigenen Inhalt freilich noch längst nicht angekommen ist. Er sprengt die Standesborniertheit nur gelehrter Aufklärung, sucht das Volk als Subjekt, Erkenntnisgegenstand und Adressat. Und als Ideologe, als Reformator ohne Handlungsmöglichkeit sucht er die Alternative zum Bestehenden, ein Ziel jenseits feudaler Knechtschaftsbeziehungen, aber auch jenseits der Entfremdungsbeziehungen des frühen Kapitalismus, jenseits absolutistischer Machtapparaturen und ohnmächtiger Untertänigkeit, einen Weg, dessen Ziel nur eine bürgerliche, ja kleinbürgerliche Utopie zeigen kann, in der bürgerliche Aufklärungs- und Persönlichkeitsideale demokratischer Selbsttätigkeit sich amalgamieren. Daher durchdringen sich Historismus und Utopie, Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge und Moralismus im Konzept der Humanität - wie in dem Ensemble von Leitbegriffen, die ihm vorhergehen und in ihm einen universal-geschichtlichen Zusammenhang gewinnen. Das sind Bestimmungen wie „Natur", „Freiheit", „Genie", „Volk", „Vaterland", „Menschheit", die historisch-systematische Ansatzpunkte und Kettenglieder markieren. Auf unterschiedliche Weise durchdringen sich in ihnen sensualistisch-empirischer Wirklichkeitsbezug und Normativität, Wirklichkeit und Möglichkeit, Ist und Soll. Herders Gedanke zielt dabei immer auf die Verjüngung, Erneuerung, Wiedergeburt historischer Individuen, auf Verwirklichung geschichtlicher menschlicher Möglichkeiten der Individuen und Kollektive. Dies verleiht allen diesen Begriffen eine inhärente Dynamik und Spannung zwischen historischer Erkenntnis und perspektivistischer Zielfunktion. Darunter liegt - mehr tendenziell als systematisch artikuliert, in der Formulierung zwischen immer bestehender Naturnotwendigkeit und zu erreichender geschichtlicher Zukunft schillernd - ein Modell utopischen Charakters: Frei tätige, ihre subjektiven Möglichkeiten im Ganzen und für das Ganze ihrer bejahten Gemeinschaft verwirklichende Menschen in demokratischen Beziehungen, worin sie wechselseitig ihre Kräfte fordern und fördern, nicht beherrscht von ihnen gegenüber verselbständigtet Herrschafts- und Zwangsgewalt, nicht einander Herr und Knecht, nicht gespalten in privater und öffentlicher 86

Lebenssphäre, nicht subsumiert unter eine sie vereinseitigende Arbeitsteilung, und ihre Subjektivität selbst ist noch harmonisch, Gefühl, Verstand, Denken und Tun sind eine organisch-lebendige Einheit. Eine analoge Struktur gilt für die Völker und ihr Verhältnis untereinander. Gerechtigkeit, Tätigkeit und Wohlsein vereinen sich in diesem - freilich vagen - Konzept, das seine konkreten Bestimmungen aus dem Bereich persönlich-intimer Beziehungen, relativ enger städtischer Verhältnisse mit Traditionen mittelalterlicher Bürgerfreiheit, vor allem aber aus der literarischen Überlieferung historischer Frühzeit und der klassischen Republiken gewinnt. Dies ist eine kleinbürgerlich-demokratische Konzeption. Herder, den Rousseau tief beeindruckt hatte, übt jedoch nicht dessen Kritik am Eigentum, in der Rousseau sich als historischer Dialektiker erwies. Er versucht auch nicht, sein Ideal in einem vor- oder außergesellschaftlichen Raum anzusiedeln, vielmehr es zu historisieren. Es ist weniger fixes Modell als Wertsystem, das zu seiner Verwirklichung der historischen, der saecularen und nationalen Konkretisierung bedarf, dem am nächsten die notwendig vorübergegangenen und unwiederholbaren Epochen patriarchalisch-gentilistischer Frühzeit und die klassischen Republiken kamen. Herder begreift dies zugleich als „natürliche" Dauersubstanz im Leben des Volkes und der Völker, die nur der entsprechenden Verhältnisse bedarf, um wirklich zu werden: eben das, was der Wiedergeburt fähig sei. Von besondrer Bedeutung aber ist, daß Herder von Rousseau einen Gedanken verwandte, der ihm das Individuelle und Persönliche mit dem Kollektiven der Völker zusammenzudenken gestattete: Rousseau hatte „Natur"- und „Gesellschaftsmensch" dadurch unterschieden, d a ß der erste in sich und aus sich heraus, der zweite aber nur außer sich lebe, nur in der Meinung anderer, und das Gefühl des eigenen Daseins nur aus fremden Urteil zu schöpfen vermöge; der erste sei also selbstbestimmt, der zweite von fremder sozialer Macht bestimmt. Rousseau hat hier eine idealistisch-metaphysisch gefaßte Bestimmung von Entfremdung gefunden, unter der Voraussetzung der Illusion des aus sich heraus lebenden vereinzelten Individuums. Daher fließen Gesellschaftlichkeit, Entfremdung, Fremdbestimmung zusammen. Doch dies prägt schon eine Formel, in der das Leid unterm Feudalismus mit dem Leid unter dem beginnenden Kapitalismus in Rousseaus kleinbürgerlicher Reflexion zusammengefaßt, ausgesprochen, gedacht werden kann, wodurch eben diese Rebellion frühe antikapitalistische, weit in die Zukunft weisende Momente erhält. Herder - in analoger Klassen87

Position, ökonomisch weniger entwickelten Verhältnissen, ohne Rousseaus verabsolutierten Zivilisationsschock, naturalisiert die Geschichte, verwandelt die falsche Alternative von Natur und Kultur in ein historisches Verhältnis. Dadurch gewinnt dies Aus-sich-heraus-Sein einen weiteren Inhalt: Es zielt - allgemein - auf Selbsttätigkeit und -bestimmung der Völker gegenüber nationaler Unterdrückung. Im Hinblick auf die historischen Individuen bezieht sich dieser Widerspruch auf das Verhältnis ihrer historischen Möglichkeit - als Bedürfnis, Kraftpotential, Anspruch auf Selbsttätigkeit in Tun, Denken und Fühlen — zu dessen gesellschaftlicher Verwirklichung, insofern diese jene negiert, deformiert, unterdrückt. Dabei wird freilich das bürgerlich-demokratische Ideal subjektiver Totalität als naturgemäße allgemeine Norm und Möglichkeit vorausgesetzt. Der junge Herder hatte, was da unterdrückt wird, rebelliert, auf Lebenskraft, Betätigung und Erneuerung drängt, unter dem Terminius „Genie" zusammengefaßt. In dieser Idealität verschmilzt das bürgerliche Individuum in Gestalt des bürgerlichen Intellektuellen mit dem Volk als wiewohl unterdrückter, doch lebendig existenter Massengrundlage im Wechselspiel von persönlicher und kollektiver historischer Individualität. Es ist Alternative zu einem Zustand des „Vaterlandes", den Herder poetisch in folgender Weise charakterisiert: Ach, unser freies Vaterland, was Sklaven nur gebiert! wo unter Knechtetiteltand sich Mut und Geist verliert! wo Viehesdummheit, Stolz und Neid und Affenaberglauben und Pöbelniederträchtigkeit. . . 5 Herz, Selbstgefühl, Tat und Lebensmut, eben die „Menschheit" als subjektive Qualität, als Anspruch und Bedürfnis rauben. Fragen wir genauer dem „Genie" nach.

6 Der Geniebegriff des jungen Herder bezeichnet zunächst weder poetisches Genie noch irgendeine Ausnahmeerscheinung. Das Genie vereint individuelle und kollektive Kraft. Es ist die normale, wohlge88

ratene, ihren Möglichkeiten entsprechend entwickelte menschliche Natur. Humanität ist später nichts anderes, nur allgemeiner und historisierter, genauer zusammengedacht mit dem historischen Fortschrittsprozeß. Herder spricht über Genie im Journal meiner Reise im ]ahre 1769 im Zusammenhange seiner pädagogischen Pläne: „ . . . gute Organisation, viele, starke, lebhafte, getreue, eigene Sensationen, auf die dem Menschen eigenste Art sind die Basis zu einer Reihe von vielen starken, lebhaften, getreuen, eigenen Gedanken, und das ist das Original Genie. Dies ist zu allen Zeiten wirksam gewesen, wo die Seele mit einer großen Anzahl starker und eigentümlicher Sensationen hat beschwängert werden können: in den Zeiten der Erziehung fürs Vaterland, in großen Republiken, in Revolutionen, in Zeiten der Freiheit und der Zerrüttung wars wirksam. Diese sind für uns weg: wir sind im Jahrhundert der Erfahrung, der Polizei, der Politik, der Bequemlichkeit, wo wir wie andre denken müssen, weil wir, was sie sehen, wie sie sehen lernen, und man es uns durch Religion, Politik, Gesellschaftston usw. selbst zu denken verbeut, wie wir wollen." (Bd. 4, S. 454/455) Die Sensationen, die eigenen Empfindungen sind schwach in dieser Welt, „einer bequemen, üppigen Welt, wo die Regierung der Staaten und alle großen Handlungen des menschlichen Geschlechts geheim, oder verborgen oder gar verschwunden sind . . . " (Bd. 4, S. 455) Eigene Empfindung und eigene Gedanken, in diesem Sinne individuelle Selbsttätigkeit sind also von der Stärke, der Offenheit der Beziehungen zwischen den Individuen und ihrem gemeinsamen Lebensprozeß als Ganzem einschließlich der Regierung abhängig, Normalität in dieser Beziehung ist somit eine Einheit sozialer Freiheit und Macht. Was psychologisch beginnt, endet bei der Forderung einer demokratischen politischen Struktur. Der gehorsame Untertan als Objekt der Politik seiner Herren ist Denaturierung und Verkümmerungsgestalt, Genie sein Antipode. Es handelt sich also gerade nicht um den Selbstgenuß privater Zufälligkeiten, um individualistischen Kult von Kraftgenialität oder ähnliches. Die Kehrseite dieses Gedankenganges ist Herders Überzeugung von der Untergangsreife des polizierten, von absolutistischen Staatsmaschinen erstickten Europa, beziehungsweise seiner Erneuerungsbedürftigkeit. Wir sahen, daß Herder Genie hier reflektiert im pädagogisch-entwicklungspsychologischen Zusammenhang: daß und wie der Mensch seine Sinne gebrauchen lernen müsse. Sein Sensualismus, der Sensualität mit aktiver Beziehung koppelt, fundiert den Historismus.

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Nun ist Herders Geniekonzept eine Stimme in der zeitgenössischen Geniediskussion. Wir finden wörtlich Anklänge an Diderots Bestimmung des poetischen Genies. 6 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, daß Herder Genie nicht auf die Ausnahmeerscheinung hin spezifiziert, sondern allgemein faßt, daß er es - gemeinsam mit Helvétius - als Übermensch, Ausnahme usw. verneint. Es ist nicht Fundus der Selbstüberhebung, der genialisch Einzelnen im Kraftgenuß. Im Gegenteil: „Der wahre Mensch Gottes fühlt mehr seine Schwächen und Grenzen, als daß er sich im Abgrunde seiner positiven Kraft mit Mond und Sonne bade. Er strebt und muß also noch nicht haben : stößt sich oft wund an der Decke, die ihn umgibt, an der Schale, die ihn verschließt" (Bd. 8, S. 230) - so daß das Bewußtsein dieses Widerspruchs Indikator ist; am Widerspruch wird er sich des Eigenen bewußt. Dabei ist „jeder Mensch von edlen lebendigen Kräften . . . Genie auf seiner Stelle, in seinem Werk, zu seiner Bestimmung" (Bd. 8, S. 235). Genie kommt jedem zu - als Möglichkeit, Anspruch, als seine Individualität: „es schläft im Menschen, wie der Baum im Keime: es ist das einzeln bestimmte Maß der Innigkeit und Ausbreitung aller Erkennungs- und Empfindungsvermögen dieses Menschen . . . seine Lebenskraft und Art." (Bd. 8, S. 324) Herders Geniebegriff zielt auf individuelle Totalität, Einheit von Gefühl, Denken und Tun, also auf Einheit dessen, was er als Auseinanderfallen am gegenwärtigen Dasein attackiert. Die Frage nach dessen Genesis führt uns auf eine Keimzelle historischer Dialektik. In Übers Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele entwirft Herder im genialen Aperçu eine Geschichte der menschlichen Kräfte und somit des Genies : Im Frühzustande stecken „noch alle feineren Fäden wie in einem Knäuel" und „würken in einem starken Seile" (Bd. 8, S. 260). Vernunft sei in der Handlung, Theorie in der Praxis, der Gedanke in der Empfindung versteckt. Die ersten Genies waren allseitig - Pôet und Krieger, Meßkünstler und Gesetzgeber - „aber alles nur im Keime zu ihrer sich neu bildenden Gesellschaft" (Bd. 8, S. 261). Mit der Teilung der menschlichen Gesellschaft, Arbeitsteilung, einseitiger Entwicklung entstanden nun spezialisierte theoretische und praktische Genies in allen Arten - entsprechend der Arbeitsteilung. „Man ward zum größern Nenner ein kleinerer Zähler, je nachdem man selbst kein Ganzes mehr sein konnte . . . " (Ebenda) Dabei gewann die gesamtgesellschaftliche Kraft in differenzierter Entwicklung als Ganze; was der einzelne verlor - und jetzt steht historisch eine Aufhebung eben dieses Zustandes auf der Tagesordnung. Was dem Individuum 90

Qual, nutzte nicht nur der Gesellschaft, sondern war notwendig für die Entwicklung des Ganzen. Doch Herder endet mit dem Gedanken, daß jetzt die höchste Philosophie, die ja gerade dank ihrer Trennung von der Praxis sich entwickeln konnte, gebiete, wieder zur Praxis zurückzukehren, „jede echte Wissenschaft wird so simplifiziert werden, daß sie wieder zur Tat werden muß. Zeiten werden kommen, da wieder Erkenntnis in der geläuterten eigengefühlten Empfindung wohne . . . " (Bd. 8, 261/262). W a s hier als Entwicklungsnotwendigkeit, wird in einem anderen Entwurf mehr unter sozialen und politischen Aspekten beleuchtet: Hier spricht Herder von „Zeiten, da alles noch näher zusammen war . . . da ein Mensch mehr als Eins und jeder alles war, was er sein konnte" (Bd. 8, S. 217) - hier dient ihm der Griechen schönste Zeit als Beispiel - , und dagegen setzt er das „Zeitalter, wo alles getrennt ist, jeder nur mit einer Kraft oder einem Kräftlein seiner Seele dienen soll und übrigens unter einem elenden Mechanismus s e u f z e t . . . mit Ständen, Rang und Lebensart [haben] sich auch . . . die Fähigkeiten geteilt", so daß die einen denken, während andere ohne Kopf handeln und anordnen sollen. „Kein einzelnes Glied nimmt mehr am Ganzen t e i l . . . " (Ebenda) Der Gedankengang führt immer auf die Gegenwart als Epoche einer notwendigen Wende in der Menschheitsgeschichte. Skizziert Herder in elementarer Dialektik einen historischen W e g vom Synkretisch-Unentwickelten zur Auflösung dieser Einheit, zur verselbständigten Entwicklung in der Einseitigkeit, dementsprechender Fähigkeitsentwicklung in dieser Trennung zum Hochtreiben des Spezialisierten auf Kosten der Totalität der Individuen, so ergänzt der andere Gedanke dies durch die Bildung sozialer Antagonismen vor dem Hintergrund einer freilich utopisierten Antike. In der Gegenwart aber meldet sich die Aufhebung des Widerspruchs an, Genie ist nicht nur Mensch der Frühe als verlorene Totalität, Mensch des Durchbrechens versteinerter Ordnungen, ständige Möglichkeit als Potential normaler Menschenentwicklung, er ist histori-' sches Produkt im Kontext notwendig widersprüchlicher Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten über die soziale Arbeitsteilung - Herder hat da vor allem die Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Auge - , somit über soziale Antagonismen. Genie ist zugleich Mensch der Zukunft, Wiederherstellung der Einheit auf erhöhter Stufe, Produkt notwendiger historischer Entwicklung, welche dies Zukünftige erzeugt. In ihm werden und sollen die innere Harmonie von Erkennen und Empfinden mit der Einheit von Theorie und Praxis zusammen-

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fallen in einer Harmonie zwischen den Menschen unter Bedingungen, da jeder alles werden kann, was ihm möglich. Was Herder hier immer erneut entwirft, ist ein Versuch, die Notwendigkeit des Antagonismus im menschheitsgeschichtlichen Prozeß zu fassen - und zwar als Entwicklungsform, die ihre Aufhebung notwendig produziert. Ein Keim dessen, was von Kant und Schiller weitergedacht, von Hegel in der Phänomenologie des Geistes und der Philosophie der Weltgeschichte idealistisch zuende geführt wird. Für Herder ergab sich das aus der philosophischen Bemühung, die leibnizische Monadologie zu historisieren, mit dem Sensualismus zu vereinen und von hier aus die Erfahrung des Antagonismus philosophisch-historisch zu bewältigen. Der darin liegende Ansatz einer historischen Psychologie harrt noch seiner Durchführung. Der Entwurf selbst konnte von Herder nicht systematisch ausgeführt werden, er blieb Aperçu. Der Grund liegt letztlich in seiner Weise, den Widerspruch zu denken, er faßt ihn allgemein nicht als energisches Verhältnis, das zu seiner Auflösung treibt. Herders Geniekonzept ist vieldimensional - birgt auch noch manche widersprüchliche Aussage. Wie fruchtbar es werden konnte, zeigt die poetologische Anwendung. Gerade weil Genie pantheistisch-sensualistisch gebunden an seine wirkliche Welt, ergibt sich daraus Herders These, daß das poetische Originalgenie darin bestünde, bei lebendigen Vorfällen in poetische Wut zu geraten. Darin liegt sowohl die realistische Wirklichkeitsbeziehung in ihrer historischen Konkretheit als auch die Dialektik, die im Besondren und Individuellen eine geschichtliche Welt erschließt. Allerdings: diese Fruchtbarkeit bezieht sich eben auf die Erkenntnis und Programmierung individueller geistiger Leistung. Als Oppositionsbestimmung artikuliert Genie zugleich die Stellvertreter-, Sprecher- und Avantgardefunktion des Intellektuellen in jenem von Herder entworfenen Bündnis von Philosoph und Plebejer. Vor der materiellen Beziehung Mensch - Natur greift das Geniekonzept zu kurz, faßt nur indirekt die Produktivität materieller Arbeit, insofern es die Initiativleistungen der Erfindungskraft, nicht aber den massenhaften Prozeß der Arbeit betrifft. Das ist in einem weiteren Zusammenhang fundiert. Herders Geniebegriff hat an sich die Schranke des pantheistischen ideologischen Naturbegriffs. Diese ist daran erkennbar, daß die Natur als produktives Subjekt in der philosophischen Begrifflichkeit letztlich die menschlich-gesellschaftliche Produktivität aufsaugt, ihre Spezifik in sich aufnimmt. Dadurch entfällt dann die philosophische Möglichkeit,

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das Entstehen und Vergehen, das notwendige Gesprengtwerden jener geschichtlichen Zustände von der Dialektik der sozialen Tätigkeit her zu begreifen, deren geschichtliches Überholtsein die Rebellion des Genies anzeigt. Insofern mußte der Ansatz historischer Dialektik, den Herder in bezug auf die Entwicklung menschlicher Seelenkräfte skizzierte, Aperçu bleiben. Das ist zugleich der Grund, daß für Herder des Genies geistige Potenz, die Totalität seiner Seelenkräfte, die Beziehung zwischen Denken und Tun und somit seine Initiativ- und Sprengfunktion in concreto im Vordergrund stehen. Doch gerade hier ist nicht zu vergessen: das Genie ist das grundsätzlich Normale, Natürliche, nicht das Exzeptionelle, das natürlich Originale. Das scheidet Herders Konzept grundsätzlich von romantischen Modellen. Im Fortgange gehen Herders Bestimmungen des Genies ein in die allgemeineren Merkmale und Entwicklungsbedingungen des Menschen als tätig lernendes gesellschaftliches Wesen, das nur in konkreten Auseinandersetzungen, Widersprüchen, Kämpfen sich entwikkelt. Dies wird manifestiert in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit und ausgeführt im Humanitätskonzept.

7 Im Humanitätskonzept der Ideen und der Briefe zu? Beförderung der Humanität tritt die innere Gegensätzlichkeit Herderschen Denkens um so krasser hervor, je konsequenter er seinen Gedanken der Einheit von Natur und Mensch im Entwicklungsgange durchführt, je gründlicher er seine naturalistisch-sensualistischen Ansätze verfolgt, dem Geschichtsprozeß in seiner Immanenz nachforscht - und dennoch diesem einen idealistischen Sinnzusammenhang unterstellt, der das Natürliche harmonisiert und moralisiert. Es ist der Konflikt in Herders Grundposition, der praktisch gelebte Widerspruch seiner sozialen Optik, der den Rebellen die Harmonie suchen läßt, den Realisten der Widersprüche die utopisch ersehnte Harmonisierung. Seine Zukunftssuche vermag im realen, erfahrenen Widerspruch nicht die Kraft seiner Lösung zu erblicken - auf Grund der historischen und sozialen Erkenntnisbedingungen. Und es ist der Tiefe der Wirklichkeitssicht Herders zu verdanken, daß der philosophische Systementwurf der Versöhnung brüchig bleibt und vage im Begrifflichen. Der als Utopist Harmonie fordert, kündet und behauptet, weiß als Historiker unaufhebbar deren Relativität und Vergänglichkeit: Das kon93

kret Philosophische dieser Einsicht entspricht dem Abstraktum eines Vollendungstraumes - und doch soll nicht vergessen werden, welche latente Verzweiflung ihn festzuhalten und zu behaupten zwang: eben die ohnmächtige und dennoch unaufhebbare Sehnsucht, ja Leidenschaft, ihn zu verwirklichen. Fragen wir nach den sensualistisch-naturalistischen und materialistischen Elementen des Herderschen Entwurfs. Sie liegen zunächst in folgenden Grundgedanken des Humanitätskonzepts: 1. In der Bestimmung des Menschen als der Tiere jüngerer Bruder, als Glied der aufsteigenden Entwicklungsreihe der Lebewesen auf der E r d e als Stern unter Sternen. Herder faßt dies soweit, daß ererklärt, es sei „keine Tugend, kein Trieb im menschlichen Herzen . . . von dem sich nicht hie und da ein Analogon in der Tierwelt fände" (Bd. 13, S. 108). 2. Von hier aus sieht Herder den engsten Zusammenhang von Körperbau, aufrechtem Gang, natürlichen Lebensbedingungen, Lebensweise und -tätigkeiten, Bedürfnissen und Kraftpotential des für die Gattung in Gestalt konkreter kontinuierlicher Sozialkonglomerate geborenen und nur in deren historischem Kontext sich entwickelnden Menschen. 3. Gerade weil der Mensch nun nicht wie das Tier eine instinktfixierte Natur besäße, sei seine Natur die Kunst. Kunst ist das nur im gesellschaftlichen Kontext zu Lernende, zu Erzeugende und zu E n t wickelnde. Auf der Basis der angeborenen, aber unbestimmten Fähigkeiten betrifft Kunst die Gesamtheit der geistigen wie materiellen Fertigkeiten, die von den Werkzeugen bis zu gesellschaftlichen Institutionen und Ordnungen, bis hin zur Vernunft reicht. D e r „künstliche Instinkt, der ihm [dem Menschen] angebildet werden soll, ist Vernunft, Humanität, menschliche Lebensweise" (Bd. 13, S. 144). Und diese werden von den geschichtlichen Individuen entwickelt je nach natürlichen Umweltbedingungen, Bedürfnissen, Lebenserfordernissen und Not, sie werden gegen eine bedrängende, oft bedrohende Natur als eigene Kräfte im Entgegenstreben entwickelt. 4. D a ß des Menschen Natur die Kunst, ermöglicht erst eine Tradition, das Tradieren der geistigen wie materiellen Kräfte, fixiert in Sprache, Werkzeugen, Institutionen, Kenntnissen - die einmal von jedem Individuum in seinem historischen Zusammenhang gelernt und angeeignet werden müssen, zum anderen insgesamt einen akkumulativen E f f e k t bewirken, einen die einzelnen Völker selbst übergreifenden Zusammenhang in der wachsenden Macht über die Natur wie in der

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Fähigkeit, die gesellschaftlichen Beziehungen zu regeln. Das ist die Kette der Bildung. Darin ist zugleich eingeschlossen die stadiale E n t wicklung der Völker wie der Menschheit, für die organologische B e griffe wie Jugend und Alter von Herder als beschreibende Hilfsbestimmungen nur benutzt werden. 5. Daraus - als Ganzem - resultieren einmal die Einsicht in die stadiale Entwicklung der Psyche und Kräfte der Individuen im K o n text der jeweiligen historischen Gesellschaft, zum weiteren die A b lehnung des rationalistischen Apriorismus in bezug auf die Vernunft. Menschliche Vernunft sed „ein Name, der in neueren Schriften so oft als ein angeborenes Automat gebraucht wird . . . Theoretisch und praktisch ist Vernunft nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und Lebensweise gebildet worden . . . " ( B d . 13, S. 144/145) D e m spinozistisch-pantheistischen Ansatz verdankt Herder die Würde einer Empirie, die in den Erscheinungen selbst das Gesetz ihres Zusammenhangs aufsucht, dem variierten monadologischen Modell das Ernstnehmen und Begreifen der individuellen Kulturen als Selbstwert - und erst der Gesamtprozeß enthüllt seinen Progreß- und Stufencharakter. D i e einzelne Phase aber ist nicht Mittel, um zum Höheren zu gelangen. D i e äußerliche Teleologie ist verbannt. D e r Kerngedanke Herders - die Natur des Menschen sei Kunst ist die Kehrseite seines Gedankens der unbegrenzten Perfektibilität des Menschen als Gattung. Kunst nun meint subjektive Fähigkeiten wie auch deren Objektivierung: das, was der Mensch selbst macht und was nicht von Natur gegeben ist. „Menschen sterben, aber die Menschheit perenniert unsterblich. Ihr Hauptgut, der Gebrauch ihrer Kräfte, die Ausbildung ihrer Fähigkeiten ist ein gemeines, bleibendes G u t ; und muß natürlicher Weise im fortgehenden Gebrauch fortwachsen." ( B d . 17, S. 117) Dieser Gedanke begründet den menschheitlichen Fortschritt. Und gerade in diesem Zusammenhang spricht Herder von der Unbegrenztheit des Erfindungsgeistes im Gebrauch der Naturdinge, zugleich vom Kampf gegen die Elemente der Natur, gegen die äußere Not als Provokation, Zwang, Wachstumsbedingung der eigenen Kräfte. D i e Not sei „das Gewicht an der Uhr, das alle Räder derselben treibet" (Bd. 17, S. 119). Doch überlegen wir: D e r Ausgangsgedanke kommt dem Marxschen nahe, daß der Zusammenhang der Geschichte der Menschen dadurch hergestellt werde, daß jede Generation die er-

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worbenen Produktivkräfte der vorhergehenden als Rohmaterial neuer Produktion übernehme. Doch wenn Marx dann feststellt, daß die materiellen Verhältnisse die Basis aller Verhältnisse der Menschen seien - und zwar als die notwendigen Formen, in denen sich die individuelle und materielle Tätigkeit realisiert, so wird uns schon deutlich, wo der Drehpunkt des historischen Idealismus bei Herder liegt. Seinem philosophischen Instrumentarium entzieht sich die Materialität sozialer Verhältnisse - wie sie sich seit des Descartes Alternative von res cogitans und res extensa der bürgerlichen Philosophie in ihren variablen Ausprägungen entzieht. Herders Rückzug auf das objektiv-idealistische Konzept der Kräfte löst da kein Problem: „Im Innern liegt der Grund des Äußeren, weil durch organische Kräfte alles von innen heraus gebildet ist und jedes Geschöpf eine so ganze Form der Natur ist, als ob sie nichts anders geschaffen hätte." (Bd. 13, S. 129) Ergeben sich hier zwar Möglichkeiten, dialektische Zusammenhänge und Strukturen durch Analogie sichtbar zu machen, so ist von hier aus keine Erklärung, noch weniger eine andre denn idealistische Interpretation möglich. D e r Sachverhalt materieller sozialer Verhältnisse reduziert sich für Herder entweder auf allgemeine Naturvoraussetzungen oder auf ideologisch vermittelte Verhältnisse. Sie gerinnen im „Milieu" - das als Naturmilieu durchaus in lebendiger, nicht einseitiger Wechselbeziehung auf die Menschen betrachtet wird, so in seinem bedeutenden Versuch, den geographischen Determinismus auf sein berechtigtes M a ß zu reduzieren; andererseits erscheinen sie als soziales Milieu - und hier treten dann die bekannten Antinomien seiner Erklärung auf, die letztlich idealistisch aufgehoben werden. W i r hatten oben gesehen, daß Herder das Maschinenwerk der R e volutionen, der großen katastrophisch erscheinenden Umwälzungen als notwendige Erneuerungsprozesse im Leben der Völker und in der geschichtlichen Kette ihres menschheitlichen Gesamtzusammenhangs anerkannte und bejahte - und darin liegt mit ein Verdienst seiner Geschichtsauffassung; wir hatten ferner gesehen, daß und wie er ein natürliches Recht, weil eine entsprechende Kraft der Völker auf Selbstbefreiung und -gestaltung anerkannte und bejahte - darin sprach sich sein Demokratismus und Antiabsolutismus aus; jetzt erhebt sich die Frage nach dem Zusammenhang dieser großen Antagonismen und ihrer Lösung, dieses „notwendigen Antagonismus" mit dem eben skizzierten Gesamtprozeß menschheitlichen Fortschritts. So sehr Herder von natürlichen Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsprozesses spricht, kann er die Notwendigkeiten revolutionärer Wandlung aus eben diesem G e -

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schichtsprozeß in seiner Selbstbewegung - also aus dem Umkreis menschlicher Tätigkeit und ihres Zusammenhangs ableiten? Kann er das Bild des Geschichtsprozesses, das er inhaltlich ausspricht, philosophisch-begrifflich fassen? Diese Frage stellen der Sache nach Herders Ausführungen selbst - und er versucht eine Antwort. Eine wirkliche Antwort geben praktisch die Französische Revolution - und die englische industrielle Revolution. Diese Antwort auf den philosophischen Begriff zu bringen, gelang erst mehr als ein halbes Jahrhundert später. Herders Antwort ist das Humanitätskonzept. Einmal ist er derjenige, der w i e keiner vor ihm die Historizität der Humanität, den nationalen, saecularen, selbst sozialen und individuellen Charakter der menschlichen Verhaltensweisen und Tugenden aussprach. U n d zugleich ist Humanität - in aller historischen Variabilität - das, w a s der Mensch sein soll, Vollkommenheit dessen, w a s in ihm liegt. Dies wiederum bezieht sich inhaltlich auf seine „Kräfte", im Kernstück jedoch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen. Humanität ist zugleich moralisches Ideal. Dieser Widerspruch ist reflektiert in der Doppelseitigkeit des Begriffs Humanität, insofern als er einmal alles Menschliche im Gegensatz zum Tiere umgreift, dann aber - zugleich wertend - innerhalb der Menschenwelt das Inhumane, Unmenschliche sich gegenüber hat. Inhuman ist, da jeder Mensch Lebensbedürfnis, somit Recht und Anlagen in sich trägt, jede Ausrottung des Menschen durch den Menschen, jede Einschränkung seiner physischen Existenz, jede Knechtung, Ausbeutung, Unterdrückung; unmenschlich ist ein Zustand der Gesellschaft, welcher die entwicklungsnotwendige E r J Ziehung vernachlässigt, verhindert oder fehlleitet; unmenschlich ist alles, w a s „die wohltätigste Einwirkung eines Menschen auf den anderen . . . [stört, hindert, aufhebt] . . . die Möglichkeit, seine Existenz genießen und das Beste davon anderen mitteilen [zu können]" (Bd. 17, S. 119). Es ist nicht schwer zu sehen, d a ß diese Bestimmungen des Unmenschlichen normative Aussagen sind, in denen Herders antifeudale demokratische Position sich artikuliert. Das sind Ziele humanistischen Verhaltens und Programmierens. Aber sind das historische Aussagen? Die Geschichte wird nicht begriffen, nicht erklärt, nur bewertet. Ist diese Bewertung auf ihre Art großartig - und Herder wendet sie energisch an zur Kritik des frühen Kapitalismus - , so beseitigt diese Alternative doch die Dialektik des Fortschritts in der Klassengesellschaft, sie enthistorisiert. W i e verhält sich diese Wertung zur Entwicklung der menschlichen K r ä f t e ? Herder sieht, d a ß mit der Entwicklung menschlicher K r ä f t e 7

Heise, Realistik

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Differenzen und Gegensätze sich entwickeln, Wettkampf und kriegerische Feindschaft. Denn „alles Innre soll in der Menschheit herausgekehrt, alle ihre Kräfte sollen entwickelt werden." (Ebenda) Doch hier ergäbe sich aus dem Gegeneinander ein Lernprozeß, in dem die zerstörerischen Kräfte den erhaltenden unterliegen, unter die Regel vernünftiger Billigkeit gebracht würden. Und die Regel der Billigkeit bewirkt Herstellen von funktionierender Sozialharmonie. Billigkeit ist „praktische Vernunft . . . das M a ß der Wirkung und Gegenwirkung zum gemeinschaftlichen Bestand gleichartiger Wesen" (Bd. 14, S. 246) - was wiederum besagt: ein Zustand der Gesellschaft, der jedem Individuum Existenzgenuß und Kraftentwicklung dergestalt ermöglicht, daß die wechselseitigen Beziehungen Harmonie und gegenseitige Förderung ergeben. Das Naturgesetz der Moral ist dann: „Was du willst, das andre dir nicht tun sollen, tue auch ihnen nicht . . ." und positiv ausgedrückt, „was jene dir tun sollen, tue auch ihnen". (Bd. 13, S. 160) Das ist Gleichheitsmoral einfacher Warenbesitzer, gründet in darüber hinausgehenden volksmoralischen Traditionen der kleinen Leute, der einfachen Lebenskreise, es gewinnt seine Fixierung im Zirkulationsprozeß kapitalistischer Warenproduktion und erlangt dann für Herder wiederum eine starke Akzentuierung auf die direkte personale Beziehung von Menschen, die unmittelbar im Kontakt zueinander sich verhalten: „Geselligkeit, Freundschaft, wirksame Teilnehmung" (Bd. 13, S. 197) erscheinen als das, worauf Humanität angelegt sei, sie umgrenzen das „Wohlsein", das Glück. Denn „Vater, Mutter, Mann und Weib, Kind und Bruder, Freund und Mensch - das sind Verhältnisse der Natur, durch die wir glücklich werden: was der Staat uns geben kann, sind Kunstwerkzeuge, leider kann er uns etwas weit Wesentlicheres, uns selbst, rauben." (Bd. 13, S. 341) Hier ist ein doppelter Ansatz: Einmal finden wir, daß die aus Divergenz und Konkurrenz der individuellen Kräfte erwachsenden Antagonismen unter eine harmonische Ordnung gebracht werden müssen - und das geht nur über das Einschränken und wechselseitige Anerkennen, wodurch ein Gleichgewicht hergestellt wird, ohne die dies Gleichgewicht tragenden Gegensätze aufzuheben; zum anderen finden wir eine aus dem Modell der unmittelbar personalen Sphäre entwickelte Idealität. So gewiß nun Glück nicht ohne Beziehung auf diese Sphäre gedacht werden kann, so wenig reicht sie als Modell von Großstrukturen aus, auch wenn sie für Herder nicht deren politische Form, wohl aber deren gesollte menschlich-moralische Seite betrifft. Wie sieht Herder nun den notwendigen Antagonismus in der G e -

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schichte? Sein Gegenteil ist Harmonie, Gleichgewicht. Der Antagonismus erscheint ihm als menschheitliche Pendelschwingung, der Gang der Kultur sei ein Gang „mit abgerissenen Ecken, mit seinen aus- und einspringenden Winkeln", gleicht „fast nie einem sanften Strom" (Bd. 14, S. 234). Antagonismen setzen dort ein, wo ein Zustand von Vernunft und Harmonie gestört worden, und gewaltsam in Extremen pendelt sich das Gleichgewicht aus. Nun aber sind Vernunft und Billigkeit als Gleichgewichtszustände, als Gleichgewicht der Kräfte gerade nicht Produzenten der Änderung und Steigerung menschlicher Kräfte, somit der Entwicklung. Herder vermag sie als historische Zustände zu schildern, jedoch die Dialektik des Vergehens, des Gesprengtwerdens solcher Zustände nicht zu erfassen. Dadurch erscheinen Vernunft und Billigkeit als Ausdruck historischer Gleichgewichtsordnungen von relativer Stabilität, sind also historisch zu fassen. Zugleich aber faßt er sie moralisch: Dann wird ihnen eine scheinbar unhistorische Gleichheitsmoral unterstellt die in Wirklichkeit doch nie einen solchen Zustand regulierte. D a Herder nun dieses Gleichgewicht der Billigkeit nicht herleiten kann aus der geschichtlichen produktiven Bewegung der historischen Kräfte, bemüht er ein allgemeines Naturgesetz, das ebenso physikalisch wie moralisch fungiere. Hier liegt also die Antwort auf das Unvermögen des Erfassens sozialer materieller Beziehungen in ihrer Spezifik; physikalische und moralische Harmonie können natürlich nur formell vereint werden. Sie werden spekulativ geeint durch die Metaphysik der organischen Kräfte. So heißt es: Vernunft und Billigkeit „beruhen auf ein- und demselben Naturgesetz, aus welchem auch der Bestand unseres Wesens folget. Die Vernunft mißt und vergleicht den Zusammenhang der Dinge, daß sie solche zum dauernden Ebenmaße ordne. Die Billigkeit ist nichts als ein moralisches Ebenmaß der Vernunft, die Formel des Gleichgewichts entgegenstrebender Kräfte, auf dessen Harmonie der ganze Weltenbau ruhet. Ein und dasselbe Gesetz erstrecket sich also von der Sonne und von allen Sonnen bis zur kleinsten menschlichen Handlung: was alle Wesen und ihre Systeme erhält, ist nur eins: Verhältnis ihrer Kräfte zur periodischen Ruhe und Ordnung." (Bd. 14, S. 234) So geht es der Menschheit in ihren historischen Einheiten und als ganzer wie allen Gebilden der Natur: „denn sie beruhen alle in ihren gewissen Schranken auf dem Gleichgewicht widerstrebender Kräfte durch eine innere Macht, die diese zur Ordnung lenkte." (Bd. 14, S. 250) Das gilt vom Kristall wie von der Menschheit. Was im Physikalischen die Gesetze der Bewegung 99

bei dem Stoß des kleinsten physischen Körpers, bedeutet dann für die Menschen und Völker das Gesetz der Wiedervergeltung, dessen Macht den historischen Zwang zur Herausbildung, zum Herauspendeln des Erspießlichen, einer stabilen Ordnung des Wohlseins unter Vernunft und Billigkeit bewirke: So setzt sich gerade von der Natur des Menschen aus eine harmonisch-göttliche und schöne Ordnung im Werden des Menschengeschlechts durch. Darin gründet theoretisch Herders welthistorischer Optimismus, sein Vertrauen in das künftige Glück „durch die gemeinschaftliche Vernunft ihres ganzen Brudergeschlechts" (Bd. 14, S. 249). Die Formel des Gleichmaßes entgegenstrebender Kräfte gründet im Physischen wie Moralischen im schon immer Bestehenden des Weltbaus. Das Ziel der Menschheit - ihr inneres Telos - ist zugleich die Voraussetzung ihres Daseins, ihrer Geschichte, Antagonismen sind Verletzungen des Gleichmaßes des Entgegenstrebenden, zugleich dessen Korrekturen. Begrifflich findet sich da kein Unterschied mehr zwischen der Entwicklung zum Höheren, dem Fortschreiten - und der Wiederherstellung der harmonischen Ordnung. Was Herder als Historiker sehr genau zu zeigen vermag, negiert die philosophische Formel. Das hat ideologische Gründe: Die Billigkeit als Gleichmaß setzt voraus das natürliche Entgegenstreben der Kräfte, in der Gesellschaft also der Individuen. Nicht nach dessen historisch-ökonomischer Bedingtheit wird gefragt, es wird auch nicht in Frage gestellt, sondern als natürlich unkritisch vorausgesetzt. Der Geschichte wird die bürgerliche „Natur" konkurrierender Individuen unterschoben, Billigkeit ist die Versöhnung des Widersprechenden, die als zur Ordnung lenkende Macht einmal als höhere Macht und Stabilisierungsgesetz, zum anderen als Resultat des verlustreichen Lernprozesses auf dem Wege wechselseitiger Beschränkung und Anerkennung erscheint: Illusion der Kleineigentümergesellschaft, so formell wie die bürgerliche Gleichheit unter Ausschluß des Gegensatzes von Eigentümern und Eigentumslosen. Eine mögliche Bewegung des Kampfes der Gegensätze bei relativ gleicher Mächtigkeit beider Seiten wird verabsolutiert mit dem Ergebnis der Permanenz des Gegensatzverhältnisses. D a ß die Negation der Negation, das Aufheben und Sprengen des Widerspruchs, notwendige Bewegungsform, verschwindet im Harmonieglauben dieser kleinbürgerlichen Utopie, die zum Weltgesetz ontologisiert wird. Folglich schwindet auch alle Differenzierung der Bewegungsformen der differenten Widerspruchsverhältnisse. Dies Modell verträgt sich nicht mit Herders Kampf gegen den 100

stagnierenden Sumpf, der sich von daher vielmehr legitimieren ließe. Herder hat die Dynamik in die entgegenstrebenden Kräfte gelegt, ohne sie vom Entgegenstreben her selbst als Triebkraft entwickeln zu köanen. E r beugt sie unter das statische Harmonieprinzip. D a s dialektische Verhältnis der produktiven Kräfte zu ihren sozialen Entwicklungsformen, den materiellen Verhältnissen, verschwindet von dieser Optik, sofern die sozialen Verhältnisse der physikalischen wie maralischen Formel der Billigkeit als ontologisiertem Ideal subsumiert, diese als ihr immanentes Gesetz in abstrakter Formalität behauptet werden. Sofern Herder die kleinbürgerliche Harmonieillusion zum universalen Naturgesetz erhebt, physikalische Bestimmungen der Stabilität zugleich moralisiert,moralisch juristische Bestimmungen physikalisiert, sperrt er die grandiose Dynamik seines Entwicklungsdenkens, die Rebellion gegen den stagnierenden Sumpf, die Energie dessen, was je als Humanität historisch sich revolutionär und lebensgestaltend durchsetzt, in die erbauliche Statik einer harmonisch-göttlichen Ordnung. Dann wird aus dem historischen Entwicklungszusammenhang Gottes Weisheit und Plan, die verbannte Teleologie des extramundanen Gottes zur immanenten Triebkraft der vergöttlichten, objektiv idealistisch interpretierten Welt, die weltverändernde Rebellion und die Bejahung des Maschinenwerks der Revolution ersticken in der Kontemplation dessen, der das Glückversprechen für den Menschen verkündet als Gottes schon bestehende Ordnung. Herder kann diesen Widerspruch nicht lösen. D e r die große Harmonie kündet, weiß unaufhebbar und spricht es aus: „Wir schwimmen weiter, nie aber kehrt der Strom zu seiner Quelle zurück." (Bd. 14, S. 250) E r weiß um die historische Relativität aller Stabilitäten und spricht sie aus. E r versöhnt sich nicht mit dem Vorhandenen, dem er die Humanität als Zukunftsbild entgegenhält. W i r stoßen damit auf den Grundwiderspruch seines Humanismus. E s ist die kleinbürgerlich-demokratische Idealität, die seine antifeudale Stoßrichtung bestimmt, die Rebellion aus der bürgerlichen Ohnmacht und gegen die depravierenden Zustände dieser Ohnmacht. D e r Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der leidenschaftlich gehaßte, reproduziert sich in diesem Denken. Herder kann sein Ideal nicht als Ziel einer realen politischen Bewegung konkret aussprechen. In seiner abstrakten Idealität aber ist es eben nicht sensualistischempirisch begründbar. Gerade die Unbedingtheit seiner Rebellion greift zur Unbedingtheit einer illusionären Weltgesetzlichkeit und

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Göttlichkeit. Deshalb kann dann sein Humanitätsbegriff - nicht das Gesamtkonzept - in der personalen Moralität sein Zentrum finden. Es sind somit seine Stärken, die seine Schwächen bedingen. Die Rebellion gegen die Ohnmacht führt zur ohnmächtigen Theorie. Und so sehr die Naturalisierung der Geschichte ein Fortschritt ist gegenüber der Theologie: die aktive Seite, der Mensch als geschichtlicher Produzent seiner Welt, wie ihn Herder konkret-historisch zeigt und metaphorisch ausspricht, wird von der philosophischen Begrifflichkeit der universell-göttlichen Natur vereinnahmt - was wiederum der Setzung der kleinen Eigentümer als Naturgrundlage der Gesellschaft durchaus korrespondiert. Deshalb war es für den Fortschritt in der Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Praxis entscheidend, daß diese aktive Seite, die Menschen als Subjekte ihrer Geschichte philosophisch begriffen wurden. Dies wiederum konnte nicht anders geschehen als über das Begreifen der menschlichen Tätigkeit - und dies beginnt mit Kants Erkenntnis der Arbeitsstruktur der menschlichen Erkenntnis. Von hier führt der Weg zu Fichte und Hegel. Für die Erkenntnis dieser Subjektivität war zunächst in der Natur, auch wenn sie als universaler Entwicklungsprozeß, als bewegte Kontrarietät gedacht wurde, kein Raum. Die gesellschaftliche Produktivität ward ihr als Übersubjekt zugeschlagen. Daher führte der Weg über die Vereinseitigung, die idealistische Hypertrophierung bei Fichte, bevor wiederum über Schelling und Hegel das Auseinandergehende zusammengedacht wurde, Substanz und Subjekt zur objektiv-idealistischen Dialektik vereint wurden. Auch darin wirkte Herder mit. Er war es gewesen, dessen Werk einen historisch dynamisierten Pantheismus zum allgemeinen Bildungsferment gemacht hatte. Und Herdersches Gedankengut hatte Hölderlin mit bewegt, als er in seinem bekannten Brief an Hegel diesen auf die Identität von Fichtes Ich und Spinozas Substanz hinwies. Und es war die affektive heftige Polemik Herders gegen Kant und Fichte gewesen, an der die Grenze seines Pantheismus, seines Harmonismus angesichts der Widerspruchserfahrung der Revolutionsepoche mit sichtbar geworden war. Herders Synthese von Pantheismus, Sensualismus und Entwicklungsgedanke stellte - bei aller inneren Widersprüchlichkeit und gerade durch ihre offen bleibenden Widersprüche - mit die Weichen für die Weltanschauungsentwicklung der bürgerlichen Avantgarde, gerade als sie über Kant hinausging und die Erfahrung der Revolutionsepoche zwecks eigenen Epochenverständnisses, eigener Perspektiventwicklung verarbeitete. Herder hatte für den Demokratismus 102

der Revolutionsperiode ein historisch-moralisches Fundament geschaff e n . J a , gerade in seinem Konzept des Wohlseins, des Glücks lagen Momente, die ia der nächsten Welle von Klassenkämpfen fruchtbar wurden. Er war das Genie der Anregung. In jeder Beziehung war es immer seine Anregungskraft mit, die andere über ihn hinauszugehen trieb. Ob es sich um Goethe und Forster, um Schelling und die Frühromantiker, um Humboldt oder Jakob Grimm oder um Feuerbach handelt.

8 Herders Ideen bildeten den Höhepunkt des vorrevolutionären geschichtsphilosophischen Denkens in Deutschland. Sie bildeten dieses freilich nach Iselin erst aus. Bei allen leicht nachzuweisenden Beschränktheiten formierten sie einen großartigen historischen Weltanschauungsentwurf. Der Gedanke der Einheit von Natur und Menschheit im Entwicklungsprozeß, die Durchführung dieses Entwicklungsgedankens, konzentriert auf die Perfektibilität des Menschen, seine Humanität und die Widerspruchsnatur dieses Höherentwicklungsprozesses, insofern er ungleichmäßig ist, gewaltsame Umwälzungen, Fortund Rückschritte einschließt, und schließlich die Entdeckung der Völker als Subjekte der Geschichte: dies alles schloß sich zu einer vorwärtsweisenden demokratisch orientierten Gesamtkonzeption zusammen, die als Organisator und Ordnungsform des geschichtlichen Erfahrungsmaterials rezipiert werden konnte. Dies - und die Gewalt des konkret Historischen - sprengte die harmonistisch-moralistische Gesamtkonstruktion. Die Zeitgenossen der Französischen Revolution mußten dem Maschinenwerk der Revolution tiefer nachdenken - oder sie bedurften handfesteren Trostes, nicht eines religiös ausgelaufenen Glaubensoptimismus als Gewand aufklärerischer Überzeugungen. Zugleich hatte Herders Werk - gerade durch die Evidenz seiner Widersprüche - das Problem der Geschichte als des Zusammenhangs menschlicher Tätigkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf die philosophische Tagesordnung gesetzt und gezeigt, daß und wie es empirisch angegangen, welche Probleme dabei bewältigt werden mußten und welche philosophischen Konstruktionen dafür nicht hinreichend seien. Und das war keine Frage separierter Fachwissenschaft, sondern des eigenen Woher und Wohin. Erst mit der Philosophie Hegels entstand ein philosophisches Konzept, das dem Herder103

sehen gewachsen war, das eine analoge Einheit des Historischen und Systematischen darstellte und jenes in gewissem Sinne aufhob. Es hatte freilich die Realität dessen, was Herder in der Vorabendsituation erspürte, zur Voraussetzung: die historische Erfahrung des größten prozessierenden Widerspruchs in der Geschichte, die Französische Revolution, mehr noch, dessen soziale Resultate in der bürgerlichen Gesellschaft, und damit zugleich die Erfahrung einer weltgeschichtlichen Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit historischer Praxis. Doch Hegels Geschichtsidealismus hat als Gegenstück den Faust Goethes. Dessen weltanschauliche Grundlage ist ganz herderschen Gepräges. Der Erdgeist spricht das Materialistische Herderschen Denkens aus. Dieses poetische Herder-über-Herder-Hinausführen in philosophisch-symbolischer Dichtart, die einen weltanschaulich-geschichtsphilosophischen Epochen- und Menschheitsentwicklungsspiegel schuf, gründet erstens in der Konsequenz des Produktivitätsgedankens, der bei Herder letztlich vom Moralismus verdrängt wird; zweitens in der Konsequenz des Abbaus, der Aufhebung des Religiösen. Es wird zur Spielmetapher. Deshalb wird Fausts Aufstieg zu himmlischen Sphären zur ironischen Metapher der Permanenz der irdischen Kämpfe auf je höhere Stufe. Nicht zufällig - das sei bemerkt - finden wir in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den Schriften Carl Jochmanns geschichtstheoretische Überlegungen, die konsequent die Herderschen Gedanken der Perfektibilität, des Fortschrittsprozesses, der Humanität, der Völkergeschichte fortsetzen und hinführen auf die Erfahrungen der politischen, vor allem der industriellen Revolution, im „Maschinenwesen" Kern und Grundlage der neuen bürgerlichen Gesellschaft erkennen, und - ausgehend von dessen Energie einerseits, der Humanität andererseits im Herderschen historischen Sinne - die Notwendigkeit einer neuen Umwälzung nach Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft prognostizieren. Es ist hier die Erkenntnis der Rolle der produktiven Kräfte, die auf der Grundlage neuer historischer Erfahrungen den demokratischen Gedanken an die Grenze des Sozialismus treiben läßt. Gerade diese wenig bekannte und ausgewertete Entwicklung, die gewiß nicht so isoliert war, wie sie zunächst erscheint, läßt uns die Frage, ob Herders Geschichtsphilosophie in Hegels System aufgehoben ist, als Frage nach dem Widerspruch historischen Erkenntnisfortschritts verstehen. Sie ist nicht mit J a oder Nein zu beantworten. Daß Hegel der ungleich tiefere und schärfere Denker, ist gar nicht 104

bestreitbar, daß er die Dialektik des Widerspruchs entwickelte, daß er das begriffliche Instrumentarium der materialistischen Dialektik vordachte, daß erst von dieser Dialektik her, die den Widerspruch im Wesen der historischen Erscheinungen aufsuchte, der Wandel der Zustände, Staaten, Formationen sich in seiner Gesetzlichkeit erschließen ließ, daß Marx und Engels also hier anknüpften, hier die Hauptlinie des philosophischen Erkennens verlief - das sei vorausgesetzt. D a ß Hegel - ungleich Herder - auf der Höhe der zeitgenössischen ökonomischen Erkenntnis stand, gehört in solchen Kontext, wie auch, daß gegenüber dem essayistischen Denker er der wissenschaftliche theoretisch-begriffliche Systematiker war. Ein weiteres: Herder war moralischer Optimist. Sein Harmonismus gründet in der Überzeugung von der natürlichen Güte der Menschen so sehr der Historismus die Moral auch zu relativieren vermochte. Als Ludwig Feuerbach in den vierziger Jahren den Materialismus als Kampfanschauung der demokratischen antifeudalen Bewegung formulierte, griff er Herdersche Intentionen auf und führte das materialistische Moment der Philosophie Herders weiter, während er seinen Idealismus beiseite schob - und in seiner ahistorischen Moraltheorie ähnelt er Herder, so sehr ihn dieser an historischer Einsicht überragt. Engels nun, in seiner Konfrontation Feuerbachs mit Hegel, hebt gerade angesichts der Behandlung des Gegensatzes von Gut und Böse durch Feuerbach Hegels Überlegenheit hervor: „Bei Hegel ist das Böse die Form, worin die Triebkraft der geschichtlichen Entwicklung sich darstellt. Und zwar liegt hierin der doppelte Sinn, daß einerseits jeder neue Fortschritt notwendig auftritt als Frevel gegen ein Heiliges, als Rebellion gegen die alten, absterbenden, aber durch die Geschichte geheiligten Zustände, und andererseits, daß seit dem Aufkommen der Klassengegensätze es gerade die schlechten Leiden-' schaften der Menschen sind, Habgier und Herrschsucht, die zu Hebeln der geschichtlichen Entwicklung werden, wovon zum Beispiel die Geschichte des Feudalismus und der Bourgeoisie ein einziger fortlaufender Beweis ist. Aber die historische Rolle des moralisch Bösen zu untersuchen, fällt Feuerbach nicht ein." 7 Wir können hinzufügen: Herder hat dazu wesentliche Ansätze gemacht, sein Modell vom Baum der Erkenntnis ist deutlich genug — aber diese Ansätze bleiben im Ganzen seines moralischen Harmonismus stecken, die fatale Konstruktion eines Gesetzes der Wiedervergeltung verhindert, nach historischen Funktionen zu fragen - auch dann, wenn er sie wirklich zu zeigen vermag. Die Fragestellung schon

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setzt freilich die Desillusionierung dessen voraus, was als Utopie und Illusion gerade der tiefste Glaube Herders war. Hegel hatte sie im Ergebnis der Revolution durchgemacht. Und dennoch: Fragen wir dem Unaufgehobenen nach! Die Überlegenheit des Hegeischen Systems ist mit der Konsequenz eines absoluten Idealismus bezahlt, der erst die „aktive" Seite historisch-systematisch entwickeln ließ und das System „umstülpbar" machte gegenüber dem Eklektizismus Herders. Doch enthält dieser des Materialistischen genug, das keiner solchen Umstülpung bedarf. Drückt sich die Realität objektiver Entfremdung bei Herder darin aus, daß die Menschen zu Akteuren der Natur (wenn auch einer personalisierten) als Übersubjekt werden, so bei Hegel, daß sie zu Exekutoren der Idee als weltgeschichtlichem Übersubjekt der Einheit von Substanz und Idee werden. Nur verabsolutiert Hegel eben Geschichtlich-Soziales menschlicher Tätigkeit, das von der Natur bei Herder verschluckt, beziehungsweise mit dem sie nachträglich ausgestattet werden muß. Das zeigt nur an, daß die philosophisch-allgemeinen Reflexionsformen der geschichtlichen menschlichen Tätigkeit niaht beliebig wählbar sind, sondern von der historischen Praxis hervorgebracht, selbst deren Stigma tragen. Diese mußte sich selbst in Struktur und Erscheinungsweise ändern, ehe ein historischer Materialismus entstehen konnte. Nicht aufgehoben in Hegels Philosophie der Weltgeschichte ist Herders tiefer Demokratismus, so sehr die kleinbürgerlichen Harmonieillusionen und Träume dieses Demokratismus historisch-praktisch widerlegt waren, was Hegel wiederum reflektiert. Nicht aufgehoben ist Herders Gedanke von den Völkern als Subjekt ihrer Geschichte, als lebendig-tätigen Kollektiven, denen gegenüber die Staatssphäre sekundär ist. „Auf Regenten und Staaten hat die Natur nicht gerechnet: sondern auf das Wohlsein der Menschen in ihren Reichen" (Bd. 14, S. 248), das drückt seine Klassenposition am Vorabend der Revolution aus. Das ist klassenmäßig eine Gegenposition zu Hegels Etatismus. Im „Wohlsein" meldet sich eine soziale Fragestellung an, die sich dann kritisch gegen die bürgerliche Gesellschaft und die sie repräsentierende staatliche Wirklichkeit der sittlichen Idee wenden muß. Von hier aus ist für Hegel der Staat geschichtlicher Akteur auch der Umwandlung zur bürgerlichen Gesellschaft von oben - aber Herder hatte die Reformillusionen längst aufgeben. Ging es Herder um das Glück, das Wohlsein, so bedeuteten Zeiten des Glücks und der Harmonie für Hegel leere Seiten der Weltgeschichte. Mit Recht und Unrecht. Mit Recht, sofern Glück als idyllische Stagnation, mit Unrecht, 106

sofern Glück selbst historisch gefaßt und Zustandsindikator des materiellen Lebensprozesses ist, mit Unrecht, sofern die Verselbständigung der historischen Staaten und Ideen über den Massen der Individuen diese nur als Material und deren wirklichen Lebensprozeß als bloße Naturgrundlage und Gestaltungsobjekt des Geistes betrachten ließen. Die Identifikation des Sinnes des individuellen Lebens mit der Identifikation des Subjekts mit dem Abstraktum des Staates ist Hegels praktisch nicht geglückte Variante eines historisierten Staatsasketismus, der von der heroischen Tugend zur Beamteneinsicht geworden. Herders Humanitätsideal hatte durch die Vereinigung des Individualitäts- mit dem Glücks- und dem Kollektivitätsaspekt genau die Sprengkraft der Unversöhnlichkeit mit den Verhältnissen, die Hegels Vernunft resignierend als Notwendigkeit der Prosa begreifen lernen mußte und mit denen sich zu versöhnen sie der geistigen Umwege über den Bereich des absoluten Geistes bedurfte, dessen Absolutheit seiner Ohnmacht gegenüber dieser Prosa gleichkommt. Nichts ist Herder ferner als der Hegeische Gedanke, daß man mit Krieg und Blutvergießen fertig sein müsse, wolle man Weltgeschichte philosophisch begreifen. Herder war damit nicht fertig, konnte und wollte damit nicht fertig sein, er vergißt über der Allgemeinheit der Resultate nicht die subjektiven Spesen, die Menschen, die sie gekostet. Begriff er theoretisch so viel weniger von der brutalen Logik historischer Bewegung, so lebt in seinem Gefühl, dem rebellischen, doch eine über Hegel hinausführende nicht und noch nicht artikulierbare Erkenntnis. Denken wir Herders Volksgedanken, seine Orientierung auf Wohlsein, seine Polemik gegen den egoistischen Egoismus wie gegen die Unterordnung unter ein absolutes Tugendmodell zusammen - bedenken wir Herders Kampf gegen den Eurozentrismus (den Hegel philosophisch legitimierte), damit sein Gespür für die alle begriffliche Konstruktion überbordende Mannigfaltigkeit des geschichtlichen Völkerlebens - so zeichnen sich darin Konturen eines auf das massenhafte Menschenleben in ungleich stärkerem Maße orientierten Geschichtsbildes ab: was auch eine grundlegend andere Wertung einschließt. Herder ist demokratischer Denker, Hegel nicht. Herder hielt eine unabschließbare Zukunft offen, die Hegels Reflexionskreis abschloß.Herder entband Impulse und antizipierte, was erst in den dreißiger Jahren von der demokratischen Bewegung erneut auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Auf Feuerbach haben wir hinsichtlich seines Sensualismus und Anthropologismus hingewiesen. Die produktive Herder107

rezeption - bewußt oder auch vermittelt und unbewußt - ging über seinen Eklektizismus, über seine Versöhnungs- und Harmonieträume hinweg, sie entband das Wahrheitspotential im geschichtlichen Prozeß. Aber bedenken wir seinen Humanismus, so war ihm gegenüber erst eine qualitativ neue Stufe erreicht, als Marx den kategorischen Imperativ des kommunistischen Humanismus formulierte. Erst hier begann sich eine Lösung jener theoretischen und praktischen Widersprüche abzuzeichnen, die Herder in seiner kleinbürgerlichen Optik, in seinem vorindustriellen Horizont vergeblich suchte. In diesem Sinne sein Werk aufzuheben, ist auch noch unsere Sache. E r gehört in unsere Geschichte. Ohne sein Werk und Wirken wären wir nicht, wie wir sind.

Zehn Paraphrasen zu „Wandrers Nachtlied" Über Wahrheit im Gedicht

Theodor Adornos

Interpretation

In seiner Rede über Lyrik und Gesellschaft hat Theodor Adorno eine Interpretation dieses Gedichtes gegeben, die weiteren Nachdenkens wert ist. „Das Ich, das in Lyrik laut wird, ist eines, das sich als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetztes bestimmt und ausdrückt; mit der Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, ist es nicht unvermittelt eins. Es hat sie gleichsam verloren und trachtet, sie durch Beseelung, durch Versenkung ins Ich selber, wiederherzustellen. Erst durch Vermenschlichung soll der Natur das Recht abermals zugebracht werden, das menschliche Naturbeherrschung ihr entzog. Selbst lyrische Gebilde, in die kein Rest des konventionellen und gegern ständlichen Daseins, keine krude Stofflichkeit mehr hineinragt, die höchsten, die unsere Sprache kennt, verdanken ihre Würde gerade der Kraft, mit der in ihnen das Ich den Schein der Natur, zurücktretend von der Entfremdung, erweckt. Ihre reine Subjektivität, das, was bruchlos und harmonisch an ihnen dünkt, zeugt vom Gegenteil, vom Leiden am subjektfremden Dasein ebenso wie von der Liebe dazu - ja ihre Harmonie ist eigentlich nichts anderes als das Ineinanderstimmen solchen Leidens und solcher Liebe. Noch das ,Warte nur, balde/ruhest du auch' hat die Gebärde des Trostes: seine abgründige Schönheit ist nicht zu trennen von dem, was sie verschweigt, der Vorstellung einer Welt, die den Frieden verweigert. Einzig indeiji der Ton des Gedichtes mit der Trauer darüber mitfühlt, hält er fest, daß doch Friede sei. Fast möchte man das in dem benachbarten Gedicht gleichen Titels stehende ,Ach, ich bin des Treibens müde' als Interpretation von Wanderers Nachtlied zu Hilfe holen. Freilich, dessen Größe rührt daher, daß es nicht vom Entfremdeten, Störenden redet, daß in ihm selber nicht die Unruhe des Objekts dem Subjekt entgegensteht: vielmehr zittert dessen eigene Unruhe nach. Verheißen wird eine zweite Unmittelbarkeit: das Menschliche, die Sprache selber 109

scheint, als wäre sie noch einmal die Schöpfung, während alles Auswendige im Echo der Seele verklingt. Mehr als Schein aber und zur ganzen Wahrheit wird es, weil, kraft des sprachlichen Ausdrucks der guten Müdigkeit, noch über der Versöhnung der Schatten der Sehnsucht bleibt und selbst der des Todes: dem ,Warte nur balde' wird mit dem rätselhaften Lächeln von Trauer das ganze Leben zum kurzen Augenblick vor dem Einschlafen. Der Ton des Friedens bezeugt, daß Frieden nicht gelang, ohne daß doch der Traum zerbräche. Keine Macht hat der Schatten über das Bild des zu sich selbst zurückgekehrten Lebens, aber er verleiht als letzte Erinnerung an dessen Entstelltsein erst dem Traum die schwere Tiefe unter dem schwerelosen Lied. Im Angesicht der ruhenden Natur, von der die Spur des Menschenähnlichen getilgt ist, wird das Subjekt der eigenen Nichtigkeit inne. Unmerklich, lautlos streift Ironie das Tröstende des Gedichts: die Sekunden vor der Seligkeit des Schlafes sind die gleichen, die das kurze Leben vom Tode trennen. Diese erhabene Ironie ist dann nach Goethe zur hämischen herabgesunken. Stets aber war sie bürgerlich: zur Erhöhung des befreiten Subjekts gehört als Schatten dessen Erniedrigung zum Austauschbaren, zum bloßen Sein für anderes hinzu; zur Persönlichkeit das ,Was bist du schon?' Seine Authentizität jedoch hat das Nachtlied an seinem Augenblick: der Hintergrund jenes Zerstörenden entrückt es dem Spiel, während das Zerstörende noch keine Gewalt hat über die gewaltlose Macht des Trostes. Man pflegt zu sagen, ein vollkommenes lyrisches Gedicht müsse Totalität oder Universalität besitzen, müsse in seiner Begrenzung das Ganze, in seiner Endlichkeit das Unendliche geben. Soll das mehr sein als ein Gemeinplatz aus jener Ästhetik, die da als Allerweltsmittel den Begriff des Symbolischen zur Hand hat, dann zeigt es an, daß in jedem lyrischen Gedicht das geschichtliche Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaft im Medium des subjektiven, auf sich selbst zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag muß gefunden haben. E r wird um so vollkommener sein, je weniger das Gebilde das Verhältnis von Ich und Gesellschaft thematisch macht, je unwillkürlicher es vielmehr im Gebilde von sich aus sich kristallisiert." 1 Dieser Text soll Anlaß sein, an Goethes Gedicht dem Verhältnis der Poesie zur Ökonomie und zur Wissenschaft nachzufragen. Ästhetische Fragen stehen immer in einem umfassenderen philosophischsozialtheoretischen und erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Dies wird deutlich werden, wenn wir in einigen Aspekten der ästhetischen 110

Theorie Theodor Adornos uns zuwenden, um dann in der Auseinandersetzung um das Gedicht Goethes und seine Interpretation auf den Ausgangspunkt zurückzukommen.

Zur Frage nach der Wahrheit der Kunst Die künstlerische Sensibilität, die Intensität der Kunsterfahrung, die ihrerseits das philosophisch-weltanschauliche und ästhetisch-theoretische Denken in Bewegung setzt und kontrolliert, machen Charakter und Rang der Interpretation Adornos aus. Sie interpretiert, will bewußt erfaßbar, hörbar mache«, was das Gedicht sagt. Bringt sie nur die „Sache" zum Sprechen? Ja, insofern alles Gesagte vom Text her begründet werden kann, sofern es sich darauf bezieht. Nein, insofern die „Sache" zugleich zum Sprachrohr Adornos, zur Gestalt seiner Welterfahrung wird, das „im geistigen Spiegel zusammengezogene Bild" in einem Interpretationszusammenhang erfaßt und dargestellt wird, der Adornos Weltinterpretation entspringt. Das Gedicht ist.nicht in Begriffliches einfach auflösbar. Nicht begrifflich restlos auflösbar ist diese Interpretation dank ihres künstlerischen, reproduzierend-deutenden, den Gegenstand aus tiefer subjektiver Betroffenheit ergreifenden Charakters, dank der personalen dialogischen Beziehung zu ihm. Um diesen Interpretationszusammenhang näher zu fassen, wollen wir von einem Grundgedanken der nachgelassenen Ästhetischen Theorie Adornos ausgehen: „Alle ästhetischen Fragen terminieren in solchen des Wahrheitsgehalts der Kunstwerke: ist das, was ein Werk in seiner spezifischen Gestalt objektiv an Geist in sich trägt, wahr?" „Kunst geht auf Wahrheit, sie ist nicht unmittelbar; insofern ist Wahrheit ihr Gehalt. Erkenntnis ist sie durch ihr Verhältnis zur Wahrheit; Kunst selbst erkennt sie, indem sie an ihr hervortritt. Weder jedoch ist sie als Erkenntnis diskursiv noch ihre Wahrheit die eines Objekts."2 Konfrontieren wir diese Position mit einer These Umberto Ecos aus seinem Buch Das o f f e n e Kunstwerk: „Die Wissenschaft ist der autorisierte Bereich der Welterkenntnis, und jedes Streben des Künstlers in dieser Richtung laboriert, so sehr1 es auch poetisch produktiv werden kann, an einem Mißverständnis. Aufgabe der Kunst ist es weniger, die Welt zu erkennen, als Komplemente von ihr hervorzubringen, autonome Formen, die zu den schon existierenden hinzukommen und

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eigene Gesetze und persönliches Leben offenbaren. Gleichwohl kann jede künstlerische Form mit höchstem Recht wenn nicht als Surrogat der wissenschaftlichen Erkenntnis, so doch als epistemologische Metapher angesehen werden: das will heißen, daß in jeder Epoche die Art, in der die Kunstprozesse sich strukturieren - durch Ähnlichkeit, Verwandlung in Metaphern, kurz Umwandlung des Begriffs in Gestalt - , die Art, wie die Wissenschaft oder überhaupt die Kultur dieser Epoche die Realität sieht, widerspiegelt." 3 Eco nimmt eine - als solche richtig gefaßte - Widerspiegelungsfunktion der Künste als einzige und wesentliche. Seine Voraussetzung ist, daß Wahrheit nur in wissenschaftlicher Welterkenntnis ihren Ort finden kann. So sehr er in mancherlei Zusammenhängen - im Rahmen seiner ertragreichen semiologischen Untersuchung der Künste - Dialektik bemüht, an dieser entscheidenden Stelle wird sie suspendiert. Strukturelle Analogie erschöpft nicht das künstlerische Abbildverhältnis, ist dessen Moment, ja Medium, hier gewinnt sie jedoch bloßen Symptomcharakter und verliert den aktiver Aneignung. Adorno, der - wie es scheint - dialektischer denkt und in dieser Beziehung materialistischer, notiert wiederum zur Wahrheit in den Werken der Kunst: „Sie haben den Wahrheitsgehalt, und haben ihn nicht. Positive Wissenschaft, und die von ihr abgezogene Philosophie, reicht an ihn nicht heran. Er ist weder, was an den Werken der Fall ist, noch ihre fragile und von ihnen selbst suspendierbare Logizität . . . Der Gehalt ist nicht in die Idee auflöslich, sondern Extrapolation des Unauflöslichen . . ." „Der Wahrheitsgehalt der Werke ist nicht, was sie bedeuten, sondern was darüber entscheidet, ob das Werk an sich wahr oder falsch ist, und erst diese Wahrheit des Werkes an sich ist der philosophischen Interpretation kommensurabel und koinzidiert, der Idee nach jedenfalls, mit der philosophischen Wahrheit." „Kunstwerke analysieren heißt soviel wie der in ihnen aufgespeicherten immanenten Geschichte innezuwerden." 4 Diese Gedanken kann - nehmen wir sie in der isolierten Weise, wie sie zitiert wurden - ein Marxist unterschreiben (wobei noch offenbleibt, was als „Gehalt", als „Geist" des Werks zu verstehen sei). Die Anerkennung der „Wahrheit" von Kunst setzt deren Beziehung auf eine von ihr unabhängige Wirklichkeit voraus, und diese wird als realer geschichtlicher Gesellschaftsprozeß, als Totalität der gesellschaftlichen Bewegung verstanden. Richtig ist auch, daß die Wahrheit der Kunst nicht die des diskur112

siven Denkens ist. Kunst „ist Begriff sowenig wie Anschauung, und eben dadurch protestiert sie wider die Trennung". D o c h : „Begriffliches ist wie der Sprache so jeglicher Kunst als Eingesprengtes unabdingbar, wird aber darin zu einem qualitativ Anderen als die Begriffe als Merkmaleinheiten empirischer Gegenstände." 5 Auf die Frage der Wahrheit ist noch zurückzukommen. Sie ist die philosophische Kernfrage der marxistischen Ästhetik. Ohne ihre theoretische Klärung bleibt notwendig die Abbildtheorie ein bloßer Anspruch, der nicht eingelöst wird. Diese Wahrheitsproblematik ist unlösbar verbunden mit der Frage nach dem Gegenstand der Kunst bzw. der Künste und der Frage nach der besondren Weise der Abbildung bzw. Aneignung, worin wiederum das Problem der besondren Gegenstandsbeziehung wie des kommunikativ-kollektiven Charakters dieser Abbildung liegt. Ecos bequeme Lösung, die nur ein Beispiel ist für viele, auch von marxistischer Position aus vorgetragene, eliminiert das Problem. Unterstützt wird dies dadurch, daß die im Sinne der in wissenschaftlicher Erkenntnis getätigten Subjekt-Objekt-Beziehungen und ein vom Resultat wissenschaftlicher Erkenntnis her modellierter Wahrheitsbegriff auf Kunst nicht anwendbar sind bzw. in einigen Künsten nur Partielles treffen. Wie kann das Gedicht „wahr" sein, Bezug zur Wahrheit haben? Adorno stellt sich das Problem so: „Die Metaphysik von Kunst heute ordnet sich um die Frage, wie ein Geistiges, das gemacht, nach der Sprache der Philosophie ,bloß gesetzt' ist, wahr sein könne. In Rede steht dabei nicht das vorhandene Kunstwerk unmittelbar sondern sein Gehalt. Die Frage nach der Wahrheit eines Gemachten ist aber keine andere als die nach dem Schein und nach seiner Errettung als des Scheins von Wahrem. Der Wahrheitsgehalt kann kein Gemachtes sein. Alles Machen der Kunst ist eine einzige Anstrengung zu sagen, was nicht das Gemachte selbst wäre und was sie nicht weiß: eben das ist ihr Geist. 6 Geist aber „an den Kunstwerken transzendiert ebenso ihr Dinghaftes wie das sinnliche Phänomen und ist doch nur so weit, als jene Momente sind", er entspringt „aus der Konfiguration ihrer sinnlichen Momente", doch ist kein „Sinnliches an den Werken künstlerisch, das nicht in sich durch Geist vermittelt wäre"; er ist „ohne alle Rücksicht auf eine Philosophie des objektiven oder subjektiven Geistes, objektiv, ihr eigener Gehalt", sein „Ort ist die Konfiguration von Erscheinendem". E r ist „verbunden ihrem Wahrheitsgehalt, ohne damit zu koinzidieren. Der Geist von Werken kann die Unwahrheit sein. Denn der Wahrheitsgehalt postuliert als seine Sub8

Heise, Realistik

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stanz ein Wirkliches, und kein Geist ist ein Wirkliches unmittelbar", er „haftet an ihrer Gestalt, ist aber Geist nur, insofern er darüber hinausweist". 7 Das wahre Moment an diesen Gedanken ist meines Erachtens in folgendem Sachverhalt begründet: Wahrheit ist immer nur Relation von Abbildern zur abgebildeten Realität. Abbilder aber sind nicht identisch mit ihrer materiellen Gestalt, die vielmehr deren unabdingbar notwendiges Moment, sinnliche Fixierung, darin Speicherung und Vermittlung sind. Abbilder sind Bewußtseinsgehalte, die nur im Prozeß ihrer sozialen Produktion und Kommunikation als solche existieren - sonst als deren Möglichkeit in materiellen Zeichen oder zeichenhaften Gebilden gespeichert sind, deren „Sinn" und damit Beziehung auf die objektive Gegenständlichkeit sich erst im kommunikativen Prozeß realisiert. Gesellschaftliche Abbilder sind immer „gemacht" - ob es sich um theoretische Erkenntnis als konstruktive Leistung oder auch deren materielle Zeichengestalt handelt - oder um Kunstwerke, die als Kunst nur sind und fungieren im ästhetischen Kommunikationsprozeß. Künstlerische Aneignung ist eben der Prozeß des Erzeugens und G e brauchens von Kunst, künstlerischen Abbildern, in denen die M e n j sehen im Produzieren und Rezipieren sich ihre geschichtlich-gesell- 1 schaftliche Wirklichkeit „aneignen". Das ist ein komplexer, mehr-» sinniger Prozeß. Sein Inhalt als geistig-sinnlicher Prozeß ist das InsBewußtsein-Heben der eigenen geschichtlich-sozialen Lebensinhalte und -zusammenhänge. Das reduziert sich nicht auf Kenntnisnahme, sondern schließt eben mit verändertem ideellem Verhältnis dessen Betätigen mit ein, was jeweils konkret nur zu bestimmen ist. Das umfaßt auch die Betätigung und Entwicklung der dazu notwendigen subjektiven Fähigkeiten und produktiven Kräfte, denn Aneignung ist zugleich positive Kraftentwicklung. Künstlerische Aneignung umfaßt somit Aneignung von Realität durch Kunst und Aneignung von Kunst als soziales Organ. In beider Hinsicht entstehen darin neue ideelle Beziehungen, ästhetische Sensibilisierung und über das Be-* wußtwerden ein praktisch relevantes Verhältnis. Künstlerische Aneignung reduziert sich also nicht auf die Produktion von Kunstwerken, sie endet nicht im Werk, sondern schließt ein das Verhältnis von dessen produzierter Objektivität - in untrennbarer Einheit von Materialität, sinnhafter Erscheinung, Gestalt und Bedeutung - und rezipierender Subjektivität. Künstlerische Aneignung vielmehr ist über Kunst vermittelte soziale Selbsterkenntnis und -darstellung; Objekt 114

der Aneignung ist die Realität der gesellschaftlichen Subjekte, ihrer Beziehungen, ihrer Praxis, ihrer „Welt". Kunst ist als Kunst nur in diesem informativen Prozeß. Außerhalb dessen wäre auch eine Statue Michelangelos bedeutungslose Materie. Sie ist in gewissem Sinne Sprache, soziale Selbstverständigung, was wiederum voraussetzt, daß ihre „Sprache" verstanden werden muß, soll die kommunikative Funktion erfüllt werden. Es wäre Fetischismus, den Dingcharakter von Kunstwerken, ohne den sie nicht sind, zu verabsolutieren und soziale Tätigkeiten und Beziehungen als Eigenschaften des Dinges, durch das sie vermittelt sind, zu interpretieren. Kunst ist insgesamt keine Summe von Kunstdingen, sondern eben dinglich vermittelter sozialer Vergegenständlichungs-, Verständigungs- und Reflexionsprozeß. Adornos Terminus „Geist" erinnert mit Recht, daß Kunst nur für menschliches Bewußtsein da ist, insofern materiell fixierte Form des gesellschaftlichen Bewußtseins, aber er substantialisiert zu sehr und suggeriert als autonome Qualität, was sozialer Bewußtseinsprozeß und -inhalt ist. Auf ein weiteres Moment macht er aufmerksam. Im Gegensatz zur Wissenschaft ist die künstlerische Gestalt nicht ablösbar von dem, was sie „bedeutet", nicht austauschbar, übersetzbar in andre Sprachund Zeichensysteme. Sie präsentiert den Sinn, repräsentiert ihn nicht nur. Auf vielerlei Weise ließe sich eine Aussage formulieren, daß über den Gipfeln zu bestimmter Zeit kein Wind wehe, sie bleibt identisch bei variabler Gestalt der Aussagesätze. Das Gedicht und damit sein Sinn aber wäre verändert, wollten wir die Worte ändern. W i r können es auch nicht durch eine Prosanacherzählung ersetzen. Aber es ist auch keine Mitteilung über Windstille, bildet diese als Sachverhalt nicht ab. Sie setzt jedoch dessen Existenz und kognitive Abbildung voraus. W a s dies Gedicht sagt, ist auf keine andre Weise sagbar. Da ist nichts im Werk, was nicht in seiner sprachlichen Klanggestalt erscheint. Doch das, was es sagt, ist nicht mit dieser Gestalt identisch, sondern wird erst in der kommunikativen Bewegung realisiert. Zurück zu Adorno. Es fällt auf, daß schon im ersten Satz das „Ich", das in Lyrik laut werde, von ihm dadurch charakterisiert wird, daß es sich „dem Kollektiv, der Objektivität" entgegensetze. Diese Begriffe sind nicht identisch. Einmal müßte es sich um die ideelle Beziehung zur Gesellschaft, zum andren zur Wirklichkeit schlechthin handeln, wobei das Ich sowohl Glied der Gesellschaft und doch auch 8*

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nicht unwirklich, jenseits der Wirklichkeit ist. Wie vermitteln sich für Adorno gnoseologische und soziale Relationen? Auffällig ist, daß er diese Gegensatzbeziehung schlechthin „der" Lyrik zuschreibt. Was sich als unklar anmeldet, klärt sich zum Gegensatz, wenn wir Adornos Gedanken weiter nachgehen. So heißt es dann in der Ästhetischen Theorie: „Kunst ist so wenig Abbild wie Erkenntnis eines Gegenständlichen . . . Vielmehr greift Kunst gestisch nach der Realität, um in der Berührung mit ihr zurückzuzucken. Ihre Lettern sind Male dieser Bewegung. Ihre Konstellation im Kunstwerk ist die Chiffrenschrift des geschichtlichen Wesens der Realität, nicht deren Abbild. Solche Verhaltensweise ist der mimetischen verwandt. Selbst Kunstwerke, die als Abbilder der Realität auftreten, sind es nur peripher; sie werden zur zweiten Realität, indem sie auf die erste reagieren . . ," 8 Ob Homer und Dante „zurückzuckten"? Verstand sich Goethe in seinem „hartnäckigen Realismus" selbst nicht mehr? Es genügt offensichtlich nicht, schlechthin dem „Ob" der Wahrheit in Adornos Kunstauffassung nachzufragen, sondern wir müssen untersuchen, welche Wahrheit er in bezug auf welche wie aufgefaßte Wirklichkeit behauptet. In diesem zitierten Zusammenhang tritt Realität nicht als dialektischer Lebensprozeß auf, sondern als bedrohliche Dinglichkeit; Gegenständlichkeit scheint sich auf dinghafte Gegenstände zu beziehen, das Abbilden wird hier ganz im Sinne eines platonischen Spiegels aufgefaßt, eine wirklichkeitsorientierte, eine realistische Kunst erscheint dann als bloße Verdopplung einer dinglichen entfremdeten „Wirklichkeit", vor der sie platt auf dem Boden liegt, während sie doch zurückzucken sollte. Es ist also notwendig, sich dem Systemzusammenhang zuzuwenden, in dem hier von Wahrheit die Rede ist.

Kritik der philosophisch-ästhetischen Position Adornos Wohl hat Theodor Adornos Philosophie Marxsche Gedanken auf-> genommen, sie jedoch einem theoretisch und ideologisch entgegengesetzten Zusammenhang integriert. Sie ist Protest gegen die Welt des Kapitalismus, verdammt und negiert sie theoretisch - und negiert zugleich jede praktische revolutionäre Aktion zur Abschaffung dieser Gesellschaft. Nicht erst Adornos in der Nachkriegszeit hervortretender affektiver und blinder Antikommunismus integrierte ihn der 116

bürgerlichen Gesellschaft, sondern schon der philosophisch-ideologische Grundansatz: der Subjektivismus einer Selbstreflexion, der den Standpunkt des vereinzelten Ich als kontemplativer Bewußtseinsexistenz zur letzten Instanz erhob. Dieser Standpunkt wird von seinen marxadaptierenden Einsichten nicht aufgehoben. Adorno ist ein charakteristischer Typ bürgerlicher Intelligenz in unserer Epoche: er hat zu viel erkannt und erfahren, als d a ß er den Kapitalismus, geschweige denn den staatmonopolistischen, noch bejahen oder rechtfertigen könnte. Er hat gleichzeitig eine panische Angst vor jeder Bindung an die wirkliche praktische Bewegung zu dessen Umwälzung. Fasziniert verabsolutiert er die Züge des Alten im Neuen. Die Angst objektiviert und legitimiert er im Bilde der in universeller Entfremdung versteinerten Gesellschaft. Zurückgeworfen auf sich selbst, auf seine intellektuelle Existenz, verabsolutiert er die tatsächliche Erfahrung der Ohnmacht, Depraviertheit, der Objektsituation des einzelnen und vereinzelten Individuums gegenüber dem nach seinem Wollen nicht fragenden Gang der gesellschaftlichen Ereignisse, gegenüber der erbarmungslosen Logik kapitalistischer Ökonomie und der Übermacht ihres staatlich-institutionellen Überbaus. Adorno tritt nicht die Flucht in die Vergangenheit an. Er entwickelt eine Extremposition des W i derspruchs zwischen dem Ideologen und seiner Klasse, die durch die Norm der praktischen Alternativelosigkeit und den Subjektivismus ihrer „negativen Dialektik" so entschärft ist, daß in der praktischen Kollision das Zusammenfallen garantiert wird. Darin liegt zugleich die Systemfunktion seines protestierenden Denkens. Darin ist auch begründet, daß an der beginnenden politischen Bewegung der sechziger Jahre, so begrenzt sie in vieler Beziehung auch war, die Frankfurter Schule auseinanderbrach. Ein Marxist wird Adornos Arbeiten kritisch mit Gewinn lesen: denn er findet hier eine Phänomenologie der Entfremdung im Bereich von Kunst, Kultur, Ideologie und Sozialpsychologie der bürgerlichen Gesellschaft, während Adorno charakteristischerweise die Ökonomie ausspart. Der Leser findet kritische Erkenntnisse bzw. Materialien dazu, deren Gehalt nicht von der Ideo-logik dieses Denkens verzehrt wird. Er darf nur nicht erwarten, Erkenntnisse über die Dialektik des Klassenkampfes, über die Logik innerimperialistischer Widersprüche oder gar eine Anleitung zum Handeln zu finden; vielmehr eine bürgerliche Selbstkritik und Selbstnegation. In dieser Grenze findet er einen höchst sensitiven, oft auf künstlerische Weise operierenden und sich artikulierenden Reflexionsprozeß fixiert, dessen

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Erfahren oft über die Theorie, dessen konkrete kritische Einsicht manchmal über die ideologische Position, dessen vorwärtstreibende Unruhe über die Resultate, dessen Analysen über die Schlußfolgerungen hinausgehen oder hinausweisen. Voraussetzung freilich ist, daß man sich der ideologischen Bedingtheit Adornos bewußt bleibt, sein Denken mit der Realität, auf die er sich bezieht, konfrontiert und diese dialektisch-materialistisch analysiert. Das theoretische Zentrum, den ideologisch relevanten und die Beziehung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit vermittelnden Grundansatz der Philosophie Adornos sehe ich darin, daß er die Entfremdungsbeziehung verabsolutiert. Die Entfremdung, die ein geschichtlichsoziales, primär ökonomisch begründetes Verhältnis der Individuen zu den Produkten und Resultaten ihrer Tätigkeit ist, erwachsend aus Arbeitsteilung und Warenproduktion, wird von ihm der historischökonomischen Konkretheit entkleidet, ja entökonomisiert trotz aller Hinweise aufs Ökonomische, und vor allem reduziert auf das Verhältnis des einzelnen „atomisierten" Individuums, des ohnmächtigen und leidenden Individuums als Subjekt zur übermächtigen gesellschaftlichen Gewalt oder Gewalt des Gesellschaftlichen - bis in die W e l t der Kriege und Konzentrationslager - als Objektivität; und dies setzt sich in Adornos Philosophie als Modell der Subjekt-Objekt-Beziehung schlechthin durch. Adornos Bemühen um einen ma^ terialistischen Ansatz der Erkenntnistheorie muß daher in Idealismus sich verkehren, die Dialektik der „aktiven Seite" wird zum Dualismus verselbständigtet entfremdeter gesellschaftlicher Macht und subjektiver leidender Ohnmacht. Dies Subjekt nun, das intellektuell bürgerlich-kleinbürgerliche Subjekt im Malstrom der Gesellschaftsprozesse des entwickelten Kapitalismus, gewinnt in der „negativen Dialektik" (im Sinne Adornos) das Bewußtsein seines Widerspruchs zur Gesellschaft als Wirklichkeit, weil der von ihm erfahrenen sozialen „Welt", und artikuliert diesen Widerspruch in ohnmächtigem Widersprechen. Dies Konzept fand seine Vorläufer im Zerfall der Schule Hegels, bei den Junghegelianern, die auf subjektiven Idealismus rekurrierten oder in Gegnerschaft zu Hegel die theologisch strapazierte individuelle Existenz - das hypostasierte intellektuelle Selbstbewußtsein - wie Kierkegaard als Gegensatz zum „System" und zur Geschichte aussprachen. Die wirkliche Ohnmacht einer wirklichen sozialen Existenz wird hier in idealistischer Verkehrung und Verallgemeinerung spontan als Menschsein schlechthin gesetzt. In diesem

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Grundschema fungiert der adaptierte Marxismus bei Adorno als analytisches Instrument. Bewegt wird diese negative Dialektik vom Nein, vom Protest gegen die als niederdrückender Alltag, als Faschismus und Weltkrieg erfahrene Gesellschaft des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Dieser ist für Adorno Modell auch seines sozialistischen Gegensatzes, so daß er nur eine erstarrte, wenn auch in sich hochdynamische, ihrer Katastrophe zujagende „verwaltete Welt" ohne Alternative sieht. In ihr ist keine revolutionäre Potenz, keine Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, die über alle fixen Verhältnisse hinaustreibt, kein revolutionäres Subjekt, das in Klassenkämpfen sich bildet. Der Zustand ist schlecht, jede Änderung bewegt nur das Immergleiche dieser total entfremdeten Welt. Marx' Entdeckung der Entfremdung als soziales Verhältnis wird hier zum idealistischen Konstruktionsprinzip, wie Marx' Entdeckung des Warenfetischismus Adorno einen universellen Verblendungszusammenhang konstruieren läßt, Vergesellschaftung wird identisch mit Entfremdung und diese - als soziale Objektivität - vermittelt und modelliert Objektivität, Realität überhaupt. Deshalb ist dann Gesellschaft als Zivilisation schlechthin Unterdrückung des Individuums durchs Allgemeine, durch die gesellschaftlichen Zwänge, durch den kollektiven Integrationsmechanismus - und dieses Unterdrückungsverhältnis des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen, Individuellen, seiner und „der" Natur (denn Ausgangspunkt ist für Adorno die Naturbeherrschung) reicht vom diskursiven Denken, das das Einzelne dem Allgemeinen subsumiert, über die ökonomischen Zusammenhänge bis zum Allgemeinsten weltgeschichtlicher Katastrophen. Deshalb hat ihm „Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen" 9 . D a sind Realerfahrungen verarbeitet. Aber sie sind verarbeitet im Schema, daß Geschichte Herrschaft über Natur und Mensch sei, somit Unterdrückung des Individuums in wachsender Potenz. Hinter der „Herrschaft" verschwindet die herrschende Klasse. Adorno sieht nur, daß die Zivilisation der Klassengesellsohaft jenem Gott gleicht, nach einem Worte von Marx, der nur aus den Schädeln Erschlagener Nektar trinkt. Gebannt vom Leid sieht er nur Leid, und zwar das des Individuums. Sein humaner Protest drückt nicht eine neue Produktivkraft aus, die eben sich nicht auf Technik reduziert, sondern basiert auf dem Leid des vereinzelten Individuums. Die Geschichte menschlicher Emanzipationskämpfe, Geschichte als Geschichte produktiver Welt- und Selbstgestaltung, die Geschichte menschlicher Aktivität versinkt in dieser Quersumme des Leids als dem, was das Menschen an119

getan wurde und wird. Und dies Leid selbst erscheint modelliert nach dem Leide der Individuation, das der Erinnerung nicht schal erscheint wie gewesenes Glück, das nicht minder real ist und nicht nur Schein; es wächst zu solcher Totalität, daß seine Passivität der „Katastrophe Weltgeschichte" gebannt konfrontiert erscheint. W a s Adorno theoretisch durchaus zu formulieren weiß, d a ß die Menschen Autoren und Spieler des von ihnen produzierten Dramas unter jeweiligen von Menschen erzeugten geschichtlichen und - selbstverständlich auch - natürlichen Bedingungen sind, schlägt ihm um in die Mythologie der Vergeblichkeit. Der Mensch ist das ewige Opfer seiner selbst. Entsetzen über die Gegenwart interpretiert die Geschichte als Geburt des Entsetzlichen. Adornos Denken geht in solcher Konzeption nicht auf, durchbricht sie oft genug, und dennoch zieht sie wie ein roter Faden sich durch die Werke. Gewiß kritisiert er häufig die bürgerliche Illusion, historisch erzeugte bürgerliche Verhältnisse als ewige Natur zu interpretieren. Doch er selbst erhebt die Gesellschaft, das Resultat der wechselseitigen Aktion der Individuen, die Geschichte als das Resultat ihres Handelns zu einer übermächtigen, geradezu mythischen zweiten Natur. Gefeit gegen veränderndes Handeln, gewinnt die gesellschaftliche Realität die Qualität eines Gorgonenhauptes. Demgegenüber ist die „negative Dialektik" die geistige Selbstrettung und Aktion des isolierten Individuums - des idealisierten bürgerlichen Intellektuellen - , das den Widerspruch von Individuum und Gesellschaft als Widerspruch von Subjektivität und Objektivität schlechthin erfährt, ins Bewußtsein hebt und verzweifelt ausspricht. Dialektik ist dann die „Ontologie des falschen Zustands", an diesen gebunden und mit ihm vergehend, wenn er je vergeht. Sie ist als „der ins Bewußtsein gedrungene Bruch von Subjekt und Objekt" 10 wesentlich Bewußtsein von Nichtidentität im Verhältnis von Allgemeinem und Besondrem, Gesellschaft und Individuum; ihr ist der Widerspruch kein „herakliteisch Wesenhaftes", d. h. objektive Triebkraft und energisches, zu seiner Auflösung treibendes Verhältnis, sondern das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; Widerspruch ist somit bloße Reflexionskategorie, Dialektik die „denkende Konfrontation von Begriff und Sache". „Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruchs willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Widerspruch in der Realität, ist sie W i derspruch gegen diese." Adorno reduziert die objektive idealistische Dialektik Hegels auf subjektive Reflexionsdialektik, die materiali120

stische Dialektik von M a r x auf Bewußtseinsdialektik, die D i a l e k t i k der aktiven Seite, damit ein Bewußtsein von und f ü r Praxis, auf den kontemplativen Protest einer theoretischen Negation des falschen Zu* stands. Dieser Dialektik erscheint die objektive gesellschaftliche R e a lität einer „verwalteten W e l t " ganz undialektisch als stationärer Z u stand, keine reale K r a f t treibt zu seiner Aufhebung - und nur v o m Individuum aus artikuliert sich dessen Widerspruch, d a ß es nicht aufgehe im Identischen und Allgemeinen der sozialen Herrschaft und Kollektivität. U n d nur in und an dieser Negation scheint als Alternative ein Anderes auf, die „Versöhnung", als „Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen", nicht näher sagbar, vager Schein einer erlösend freien utopischen Gemeinschaft. W a s bleibt? „Subjektives Bewußtsein, dem der Widerspruch un-* erträglich ist, gerät in verzweifelte Wahl. E n t w e d e r muß es den ihm konträren Weltlauf harmonistisch stilisieren und ihm, gegen die bessere Einsicht, heteronom gehorchen; oder es muß sich, in verbissener T r e u e zur eigenen Bestimmung, verhalten, als w ä r e kein Weltlauf, und an ihm zugrunde gehen. D e n objektiven Widerspruch und seine E m a n a t i o n e n kann es nicht von sich aus, durch begriffliche Veranstaltung, eliminieren. Wohl aber ihn begreifen; alles andere ist eitle Beteuerung." K o n s e q u e n z : „ D i e Macht des Bestehenden errichtet die F a s s a d e n , auf welche das Bewußtsein aufprallt. Sie muß es zu durchschlagen trachten . . . Worin der G e d a n k e hinaus ist über das, woran er widerstehend sich bindet, ist seine Freiheit. Sie folgt dem Ausdrucksdrang des Subjekts. D a s Bedürfnis, L e i d e n beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. D e n n Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektives erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt." 1 1 Artikuliert so die Dialektik den Schmerz des Widerspruchs von Subjekt und Objektivität, d. h. Realität, so gewinnt der G e d a n k e der „Versöhnung" den A s p e k t der Erlösung, und es ist keine wesentliche Wahrheit denn beredtes Leiden. D i e Dialektik selbst aber bleibt negativ, zerstört den Identitätsanspruch einer falschen Welt totaler E n t f r e m d u n g , ist „Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nicht bereits diesem entronnen", ist „ N e g a t i o n der N e g a tion, welche nioht in Position übergeht". N u r Spuren eines Anderen leuchten auf, an den „Brüchen, welche die Identität L ü g e n strafen". U n d dann kommt die Einsicht zu dem Schluß: „ N u r wenn, w a s ist,sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles." 1 2 A b e r sie versagt sich, in N e g a t i o n aller Wirklichkeit, auch die Bejahung wirklichen Änderns.

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Sie weiß nicht, was das „Andre", ihre Hoffnung sei. Es ist begrifflich nicht faßbar, entzieht sich der negativen Dialektik. Hier tritt nun die Kunst ein: „Nicht für sich, dem Bewußtsein nach, jedoch an sich will, was ist, das Andere, und das Kunstwerk ist die Sprache solchen W i l lens und sein Gehalt so substantiell wie er." Sein Dasein „deutet darauf, daß das Nichtseiende sein könnte" 13 . Adornos Geschichtsphilosophie geht in Kunstphilosophie über, erfüllt sich darin. Vielmehr: dieser Übergang macht das ästhetische Moment seiner Philosophie explizit. Kunst als „authentische Kunst" ist für Adorno nicht nur Gegenstand einer angewandten „negativen Dialektik", sondern er versteht diese als negative Dialektik in Aktion, als Verhalten. Ihre Wahrheit ist die des Leidens, ihr Ausdruck die Negativität des Leidens, ihr Konstruktives der Versuch, „dem Leiden an der Entfremdung standzuhalten". Und was er historisch als Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, Kunst und Gesellschaft im entwickelten Kapitalismus seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, seit Baudelaire faßt, gerät ihm unterderhand zum Modell der Kunst schlechthin, gipfelnd in der Gegenwart: „Die kindisch-blutigen Clownsfratzen, zu denen bei Beckett das Subjekt sich desintegriert, sich die historische Wahrheit über es . . . " W a s inhaltlich als Menschsein heute apodiktisch gesetzt wird, gilt allgemeiner noch: Denn heute sei „das sozialkritische Moment der Kunstwerke zur Opposition gegen die empirische Realität als solche geworden". Dieser Widerspruch, diese Negativität in der Beziehung zwischen Kunst und empirischer Wirklichkeit macht sie zum „Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden" angesichts einer Lage, in der „Kunst heute . . . anders denn als die Reaktionsform kaum mehr zu denken [ist], welche die Apokalypse antezipiert", und als negative, negierende Aktion ist sie Verhalten, darin Ort des Utopischen: „Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter den gegenwärtigen Antinomien ist, d a ß Kunst Utopie sein muß und will und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut; daß sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trost zu verraten, nicht Utopie sein darf." 1 4 Utopie ist die nur gedachte, konstruierte, als objektivierte Hoffnung und erfüllte Sehnsucht vorgestellte Alternative einer schlechten Gegenwart, in deren sozialen Widersprüchen keine produktive Kraft ihrer Aufhebung erkannt und gefunden wird. Sie ist die geträumte und erdachte Aufhebung eines Leides, die den Leidenden keine ma122

terielle Kraft zur Umwälzung der Verhältnisse, zum Sprengen des Widerspruchs zutraut. Historisch unvermeidlich, ist sie seit Entstehung der marxistischen Gesellschaftswissenschaft nicht mehr wissenschaftlich legitim, weil in ihrer sozialen und gnoseologischen Genesis und ihrem Konstruktionscharakter durchschaut. Hier ist nicht Engels' Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zu resümieren, auch nicht die Einschätzung im Kommunistischen Manifest oder Marx' glänzende Charakteristik im Elend der Philosophie. Adornos negative Dialektik sieht sich in der bürgerlichen These von der Integriertheit des Proletariats bestätigt, diese These ist ihre immanente Voraussetzung. In der Verneinung der objektiven sozialen Dialektik kann seine Alternative nur Utopie, von seiner theoretischen Voraussetzung der Konzeption der „atomisierten" Gesellschaft her diese nur „Versöhnung" sein. Von dem Selbstbewußtsein dieser Dialektik als einer an den „falschen Zustand" gebundenen darf die Utopie aber nicht Theorie und Konzept sein, weil sie dann hörig dem wäre, was vorhanden - als dessen religiös-phantastische oder doktrinär-spekulative Umkehrung. Hier verbirgt sich ein ganz wesentlicher Grundzug künstlerischet Widerspiegelung, ohne den diese in ihrer Spezifik und damit in ihrer Wahrheitsrelation nicht begriffen werden kann. Seit der Auflösung urgemeinschaftlicher Familien- und Stammesbindungen, seit dem Entstehen sozialer Antagonismen, mit dem immer erneuerten Zerbrechen als selbstverständlich fungierender Lebensordnungen und den erfahrenen Veränderungen der Ordnung menschlichen Zusammenlebens entstand mit den durch die soziale Struktur ermöglichten Individualisierungs- und Reflexionsmöglichkeiten auch die Möglichkeit und Notwendigkeit eines kritischen ideellen Verhaltens der Individuen zur Ordnung ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Gewiß geschah dies zunächst in der Dämmerungshülle mythischer anthropomorpher Weltvorstellungen und -anschauungen. Dennoch ward vom Baum sozialer Erkenntnis gegessen, als praktisch erfahren wurde, daß Leid, Lebensqual und Unglück nicht nur übermächtiger Natur geschuldet wurde, sondern erzwungene Basis für Glück und Herrschaft anderer Menschen war, mochten diese sich und ihre Lebensbedingungen auch als göttliche Naturgewalt darstellen, ja ihren Opfern auch so erscheinen. Da wurden konfrontierbar und konfrontiert subjektives Ziel menschlichen Handelns und sein Resultat; Glück und Unglück in Lebensbilanz und sozialer Verteilung; Glücksanspruch und dessen gesell123

schaftliche Verweigerung; innere Lebens- und Handlungsintentionen und reale Existenz; Macht und Ohnmacht, Sein und Schein - und was in der Gegenwart gegen deren Zustand rebellierte, artikulierte sich im Verklärungsbilde des Vergangenen und im Hoffnungsbilde der Zukunft, sprach darin unbewußt zunächst deren Geworden- und Gemachtsein, damit ihre Vergänglichkeit aus, selbst noch im Entfremdungsbilde der Ohnmacht, die ihre Lebensqual erst in der Transzendenz des Nicht-von-dieser-Welt, im Jenseits als erstarrtem, stationär gewordenem Zukunftstraum und Erlösungsraum ansprach, in der Ohnmacht den Protest ebenso artikulierte wie resignieren ließ. Hiob stellte seine Fragen, Prometheus, der Menschenfreund, wurde an den Kaukasus geschmiedet - und dennoch, der ohnmächtig an den Fels geschmiedete, der „ältere Gott", hatte die innere Gewißheit, daß ihn einst ein Herkules befreien würde, und in endloser Seefahrt suchte Odysseus die Heimat, von der er wieder aufbrechen wird. Und wenn Ödipus geschlagen von der Bühne abtritt, ist der Götter und ihrer Ordnung Anspruch tödlich angeschlagen. Kunstproduktion wurde - in allen sehr unterschiedlichen Gebrauchsfunktionen und über sie hinaus - Vergegenständlichung, Verarbeitung, Durchreflexion, Medium solcher Erfahrungen, Form des sozialen Bewußtwerdens des Widerspruchs zwischen dem, was ist, und dem, was gewollt, erwartet, gehofft, gesucht, gesollt, zwischen dem; was wirklich ist und dem, was zur Wirklichkeit drängt. Kunst wurde - als produzierende Aktion - Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft, reflektiert am individuellen wie allgemeinen Lebenszusammenhang, am Widerspruch zwischen tradierter Sinngebung, Lebensbild und -deutung und der erfahrenen Wirklichkeit, zwischen Lebensanspruch und dessen sozialantagonistischer Bestätigung oder Negation. Und sie ist dies in historisch sehr unterschiedlicher Dialektik in dem, was sie bewußt thematisch formuliert, und dem, was sie zeigt und tut, in ihrer Vergegenständlichung produktiver K r a f t und subjektiver Intention, in der Entfaltung ihres Spiel- und Scheincharakters, ihrer Emanzipation vom Kult und der Ausprägung ihres Kunstcharakters. Ihr Schönes der erscheindenden sinnlichen G e stalt gewinnt die Ambivalenz, das Bejahte der Wirklichkeit und die Bejahung nichtschöner Realität allgemein zu setzen, es differenziert sich in Apologetik und Versprechen, Kritik und Behauptung, in das „Es soll so sein" und „Es ist so", in Harmonisierung und Verklärung auf der einen, Entdeckung, Protest und Vision auf der anderen Seite, Schließen oder ö f f n e n des geschichtlichen Horizonts, des Aktions-

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raumes, des menschlichen Selbstbildes. Dies kann sich antagonistisch entgegentreten oder in einem Werk durchdringen. D a s ist nicht ein Tun „der Kunst" als Subjekt, sondern kollektiver Aneignungsprozeß in den sozialen und ideologischen Widersprüchen und ihrer Bewegung, darum Einheit von Position und Negation, nicht Lösung der wirklichen Widersprüche, sondern Aktion ihrer gegensätzlichen Seiten, Zudecken und Stabilisieren des zur Auflösung Treibenden oder Aktion der Auflösung, Entwurf der Lösungsmöglichkeit, direkt oder indirekt, Bewußtwerden ihrer Kräfte, Intentionen, Wünsche, ob diese nun dargestellt oder kommunikativ evoziert werden. Dies als „Utopie" oder „utopische Intention" der Kunst zu bezeichnen, dürfte doch inadäquat sein: weil dies Wort die fixierte Utopie als historisch überholte Bewußtseinsform suggeriert. E s ist vielmehr ihr Abbilden der immanenten Dialektik von Möglichkeit und Wirklichkeit selbst, der immanenten Dialektik der menschlichen Wirklichkeit in ihren Intentionen, Widersprüchen und Antizipationen, die da ebenso zur Sprache, zum Sprechen gebracht wie zugleich - als ideelle Aktion - in Bewegung gesetzt werden, nicht praktisch verändernd, sondern impulsgebend, in der Kommunikation kollektive Kraft und Bewußtsein organisierend; nicht „Lösungen" präsentierend, sondern inspirierend. D a s ist jeweils an den historischen Zusammenhang gebunden, und es ist möglich, daß die Zukunftsvision zur Verklärung ihrer prosaischen Verwirklichung wird, wie es heroischen Illusionen ergehen kann und erging. Und im Gegensatz zu den konstruierten, geglaubten, als Aktionsplan und -programm verstandenen Utopien ermöglicht Kunst, so sie nicht im Apologetischen versinkt, Darstellung des Traums als Traum, des Schönen als Schein, der Erfüllung als Sehnsuchtsbild, damit der geschichtlichen Wahrheit in der Dialektik von Negation und Position im „Wahrscheinlichen" oder „Phantastischen" in der ganzen Komplexität ihrer Gebilde. Der historische Prozeß, der ein kritisches Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, damit ein geistiges Emanzipationsverhalten erzeugte, produzierte zugleich das Gegenteil: die Integration von Kunst in den jeweiligen ideologischen Herrschaftszusammenhang, Kunst als Vehikel von Unterwerfung, Trost, Erlösung und schlichter Anpassung. In der Emanzipationsbewegung entsteht der Realismus. Jene ist seine Geschichte. Brecht notierte einmal in seinem Arbeitsjournal: „realistische kunst ist kunst, welche die realität gegen die ideologien führt und realistisches fühlen, denken und handeln ermöglicht." 15 Dies historisch verstanden, wäre ein Leitfaden 125

der Geschichte und Programmatik des Realismus. So wenig er jenseits der Ideologien steht, ist er gegenüber denjenigen, welche soziale Realität verdunkeln, feiern, gegenüber passiver Unterordnung Befreiungs- und Emanzipationsakt. Und zwar nicht im Sinne einer Gesinnungsproklamation, sondern auf Grund seines objektiven Wahrheitsgehalts. Wahrheit der Kunst bezieht sich nicht auf eine Wirklichkeit, die sich auf das, was positivistisch der Fall ist, reduziert. Diese Wirklichkeit ist als Wirklichkeit menschlichen Daseins selbst Produktionsprozeß ihres Lebens, enthält das Fertige, Geronnene, aber auch das unscheinbar Werdende, das noch längst nicht Manifeste, enthält die reale Möglichkeit und die verschiedenen Weisen, diese zu erzeugen und sich ihrer bewußt zu werden, genauer, deren Geburt in menschlicher, physischer und psychischer Aktivität. Es geht dabei nicht nur um ein stationär metaphysisch eingrenzbares Verhältnis von Erscheinung und Wesen, sondern um die ganze Dialektik des menschlichen Lebensprozesses, denn auch das „Wesen" ist kein ruhender IstBestand. Ohne Hinblick auf diesen dialektischen Prozeß in Abbildungsgegenstand, den abbildenden Subjekten und der Abbildung als kommunikativer Vermittlung der über ihre Wirklichkeit reflektierenden, sich über sie verständigenden gesellschaftlichen Subjekte ist das künstlerische Abbild nicht bestimmbar. Es ist ein fetischistischer Schein, wenn die - im Rahmen der Erkenntnistheorie notwendige - Gegenüberstellung von Erkenntnis und Wirklichkeit in dem Sinne verabsolutiert wird, daß Wirklichkeit zum Homogenen nach der Qualität des beobachtbaren Faktischen gerinnt. Und solche metaphysische Wirklichkeitsauffassung manifestiert sich auch in dem der Frage nach der Wahrheit der Kunst unbewußt oft vorausgesetzten toten Modell eines ruhenden Spiegels, der ein ruhendes Objekt widerspiegelt, diesem Verhältnis eines physischen „Dinges" zu einem anderen Dinge, wobei die Bewegung allein in der Licht emittierenden Quelle und den Lichtstrahlen liegt. Die relative Berechtigung dieses Modells im physischoptischen Bereich wird zur Absurdität, wenn es der menschlichen; speziell der künstlerischen oder wissenschaftliahen Widerspiegelung der Wirklichkeit unterstellt wird - eine Absurdität, die sich potenziert, wenn der Gegenstand dieser Widerspiegelung der Menschen eigenes gesellschaftliches Sein, mehr noch die Gesamtheit ihrer materiellen und geistigen Verhaltensprozesse ist, zumal es sich um ideelle, durch materiell-sinnliche Zeichen und durch Gestalten mit Zei126

chencharakter vermittelte Widerspiegelung im sozialen kommunikativen Prozeß handelt. Die Polemik gegen die Abbildtheorie ist billig, da sie am Wort sich festhält, ohne den Begriff zu fassen. Das gilt auch für Adorno, der dabei auf den Aneignungscharakter der Kunst zielt. Nur Elemente dessen scheinen in Adornos Ausführungen immer wieder auf, werden dennoch zurückgenommen und zurückgebogen in einen Konstruktionszusammenhang, der diese energische, den Men-1 sehen als sich und sein soziales Zusammenleben produzierendes Wesen betätigende Seite künstlerischer Produktion negiert. Wird von Adorno das Subjekt auch gesellschaftlich vermittelt begriffen, Objektivität als historisch sozial produziert anerkannt, so ändert das nicht, daß die extreme Entfremdungssituation zum Stigma aller künstlerischen Produktivität wird, des immergleichen Verhältnisses von sinnentleerter Objektivität und kunstproduzierendem Individuum, dessen „verbissene Treue" zur eigenen Bestimmung eben in der bestimmten Negation der Wirklichkeit dem immanenten Gesetz seines Produzierens folge. Daraus resuliert dann als allgemeiner Gehalt der Kunst die Leidensgeschichte der Menschheit. In der ästhetischen Verhaltens-1 weise, „die in der Kunst konserviert wird . . . , versammelt sich, was seit undenklichen Zeiten von Zivilisation gewalttätig weggeschnitten, unterdrückt wurde samt dem Leiden der Menschen unter dem ihnen Abgezwungenen, das wohl schon in den primären Gestalten von Mimesis sich äußert" 16 . Indem Kunst dies als ihre Wahrheit ausspricht, lebt in ihrer Negation des Bestehenden die Utopie, die ihr dennoch „schwarz verhängt ist, bleibt sie durch all ihre Vermittlung hindurch Erinnerung, die an das Mögliche gegen das Wirkliche, das jenes verdrängte, etwas wie die imaginäre Wiedergutmachung der Katastrophe Weltgeschichte, Freiheit, die im Bann der Necessität nicht geworden, und von der ungewiß ist, ob sie wird". „Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird", darin „Wiederherstellung unterdrückter und in die geschichtliche Dynamik verflochtener Natur", die aber „noch gar nicht" ist, mit der armen Gewißheit, „daß das Nichtseiende sein könnte" 17 . Der geheime, gebrochene Rousseauismus Adornos schlägt hier durch, eher Verbalisierung von Emotion denn Begriff. Aus dem genannten theoretischen Ansatz der Entfremdung zwischen Individuum und Objektivität folgt die Negationsbeziehung zwischen Kunstwerk und empirischer Realität, die ihrerseits das Kunstproduzieren als autonome Produktion behaupten läßt, der das Gesellschaftliche wohl immanent, aber nicht Gegenstand sei. In der individuellen Subjek127

tivität äußere sich das Kollektive. Adorno kann in seinem Konzept von der „atomistischen" Struktur der Gesellschaft und dem Entfremdungsschematismus keine direkte, folglich keine Abbildbeziehung akzeptieren: dies würde nur zur Verdopplung des Vorhandenen und dadurch zu dessen Bejahung und Bestätigung führen. Nun ist Adorno kein romantisierender Irrationalist. E r weiß zu gut des Individuums Gesellschaftlichkeit. E r kennt zu genau die theoretische Haltlosigkeit und ideologische Funktion jener Theorien, die aus des Künstlers Seele ein Mysterium machten und machen. E r verlegt den gesellschaftlichen Gehalt ins Bewußtlose des Kunstproduzenten. Das gesellschaftliche Ganze reproduziert sich im Unbewußten, dessen Regungen seien kollektiver Natur. Natürlich weiß Adorno ebensosehr den ideologischen Abstraktionscharakter des „vereinzelten Einzelnen", und da er dennoch am Modell des Sozialatoms in Entfremdungszwängen festhält, ist er genötigt, das Individuum sozial und tiefenpsychologisch dem „Allgemeinen" zu vermitteln. Auf diese Weise wird der Künstler zum bewußtlosen Organ des Subjekts G e sellschaft, objektivierende Vermittlungsinstanz ihrer unterdrückten „Natur". Seine Produktion entsprechend der geschichtlich gewordenen inneren Logik einer autonomen Kunst ist dementsprechend ihre Äußerung, seine Spontaneität ihr Bewußtwerden. Deshalb sei Kunst die „geschichtsphilosophische Wahrheit des an sich unwahren Solipsismus". D a s philosophisch widerlegte Fichtesche Ich wird als Subjekt rehabilitiert. Seine transzendentale Allgemeinheit ist jetzt die gesellschaftliche Vermittlung. Jede Idiosynkrasie des Produzenten „lebt, vermöge ihres mimetisch-vorindividuellen Moments, von ihrer selbst unbewußten kollektiven Kräften" 1 8 . Hier wird das Modell der Monade wirksam: Reproduktion der Totalität, aber auf Grund der eigenen Spontaneität, nicht weil da Fenster geöffnet würden. „Jenes T o tum der ins Kunstwerk hineingetragenen Kräfte, scheinbar ein bloß Subjektives, ist die potentielle Gegenwart des Kollektivs im Werk, nach dem M a ß der verfügbaren Produktivkräfte: fensterlos enthält es die Monade." Dies Konzept vom „kollektiven Unterstrom", der die Sprache der Kunstwerke konstituiere, bedingt das Diktum: „Die spezifisch künstlerische Leistung ist es, ihre übergreifende Verbindlichkeit nicht durch Thematik oder Wirkungszusammenhang zu erschleichen, sondern durch Versenkung in ihre tragenden Erfahrungen, monadologisch, vorzustellen, was jenseits der Monade ist." In solcher Zuspitzung ist der Gedanke gegenüber der Realität der Künste gar nicht durchführbar, auch nicht für „die Moderne", als 128

deren Sprecher und Interpret sich Adorno versteht, indem er deren in der Absage an die empirische Welt und zugleich an den Realismus radikalste Programmatiken verabsolutiert - ohne den Widerspruch zwischen Gesagtem und künstlerisch Produziertem hinreichend zu fassen. Richtig sagt er: „Nichts in der Kunst, auch nicht in der sublimiertesten, was nicht aus der Welt stammte; nichts daraus unverwandelt." D a s ist allgemein unterschreibbar. D e r Bruch liegt in der Konkretisierung: „Alle ästhetischen Kategorien sind ebenso in der Beziehung auf die Welt wie in der Lossage von ihr zu bestimmen." 1 9 Hier kommt eine theologische Lossage von der Welt hinein: Welt als totale E n t fremdung und Unheil schlechthin wird vorausgesetzt. Und ineinander gehen Abbildweisen und Strukturen, die sich aus der Sphäre des Räumlich-Körperlichen und sinnlich Erscheinenden entfernen - Abstraktionsweisen verschiedener Art - , und die inhaltliche Beziehung, elementar gesehen, der Bejahung und Verneinung, die immer nur und allein innerweltlich, innerhalb konkreter Wirklichkeitsverhältnisse statthaben können. So wird aus dem Nein zur bürgerlichen Gesellschaft ein Nein zur Welt, was religiöse Illusion ist. Sichtbar wird immer wieder, daß die immanente Dialektik der Wirklichkeit gesellschaftlicher Praxis im totalen Unheilsbegriff der „Welt" erstarrt ist. Sie ist es für die Kunst solch negativer Dialektik. Und dem Konzept der Immanenz des Gesellschaftlichen im produzierenden Individuum, dem dasselbe gelten soll wie der Kunst, der „ihr eigenes gesellschaftliches Wesen verhüllt und erst von ihrer Interpretation zu ergreifen" sei, entspricht dann das Grundkonzept vom Doppelcharakter der Kunst als „autonom", insofern bewußtlos eigengesetzlich - und als „fait social", gesellschaftlich determiniert als Produkt gesellschaftlicher Arbeit des Geistes. D i e „Autonomie" der Kunst ist eine Illusion, welche deren Eigengesetzlichkeit in Produktion, Aneignungsweise und Abbildungsweise auf Grund sozialer Arbeitsteilung, Marktstruktur, kapitalistischer Produktionsweise und deren Struktur bürgerlich-ideologisch verabsolutiert, die Aspekte der Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus zugleich reflektiert und den historisch-sozialen Widerspruch von Individuum und Gesellschaft ebenso betätigt wie zum metaphysischen Absolutum erhebt. Ist diese „Autonomie" vorausgesetzt, kann die Gesellschaftlichkeit nur noch in der Immanenz auf Seiten der Produktion, im Gesamtverhältnis dieser Produktion, in der immanenten „Bewegung gegen die Gesellschaft" gefunden werden - während insgesamt eine universelle Abwertung 9

Heise, Realistik

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der direkten inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, der Bewußtheit, eine Abwertung der bewußten Wirklichkeitsbeziehung erfolgt. Gegenüber der „immanenten Bewegung" wird die „manifeste Stellungnahme" negiert, „gesellschaftliche Kämpfe, Klassenverhältnisse drücken in der Struktur von Kunstwerken sich a b ; die politischen Positionen . . . sind demgegenüber Epiphänomene, meist zu Lasten der Durchbildung der Kunstwerke und damit am Ende auch ihres gesellschaftlichen Wahrheitsgehalts", die „Parteiischkeit, welche die Tugend von Kunstwerken nicht weniger als von Menschen ist, lebt in der Tiefe, in der gesellschaftliche Antinomien zur Dialektik der Formen werden" 2 0 . Partielle Wahrheit wird - verabsolutiert — zur ganzen Unwahrheit. W a s herauskommt, ist die Programmatik einer Kunst sozialer Bewußtlosigkeit, Hypertrophierung dessen, was Goethe als Subjektivismus von Niedergangsepochen charakterisierte, angesichts einer Epoche, deren Bewegung gerade höchste Bewußtheit fordert. Adorno formuliert drei Aspekte der Beziehung von Kunst und Gesellschaft: 1. „durch den Modus ihrer Hervorbringung, in dem jeweils die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sich konzentriert"; 2. „durch die gesellschaftliche Herkunft ihres Stoffgehalts"; 3. entscheidend „durch ihre Gegenposition zur Gesellschaft, und jene Position bezieht sie erst als autonome". Die stoffliche Vermittlung sei, als „Behandlung offen oder verhüllt gesellschaftlicher Gegenstände, die oberflächlichste und trügerischste" 21 . Dies wollen wir zusammensehen mit der in der Goethe-Interpretation formulierten Behauptung, daß das Verhältnis von Subjektiv^ tät und Objektivität, von einzelnem und Gesellschaft desto vollkommener im lyrischen Gebilde sich präge, je weniger es thematisch gemacht werde. Welch Leichenfeld großer Lyrik - von Walther von der Vogelweide zu Heine, Brecht und Pablo Neruda da apodiktisch geschaffen wird, wollen wir nicht ausmalen. Zunächst betrifft der „monadologische" Aspekt durchaus einen ganz wesentlichen realen Sachverhalt: die Gesamtheit der im produzierenden Individuum gespeicherten gesellschaftlichen Erfahrungen, ideellen Beziehungen, Inhalte - ergriffen und verarbeitet in seiner Weise der sinnlich-geistigen Weltaneignung und Darstellung bis in die unbewußten Regungen des Ausdrucks hinein; Speicherung dessen, worin es Glied historischer Erfahrungstradition und Zeitgenosse ist. W a s für jeden Menschen gilt, die Speicherung historischer Gehalte in seinem Denken, Fühlen und Sprechen, die ihm nicht bewußt ist, ist hier sensibler gefaßt und - allerdings - insgesamt bewußter. Das resultiert nicht 130

aus der Fensteilosigkeit, sondern dem gesellschaftlichen Erzeugtsein und lebendigen Kommunikationsprozeß der „Monade", aus dem durch höchst sensible Erfahrungsorgane vermittelten, Wirklichkeit aufsaugenden, spürenden Innesein im kollektiven Lebensprozeß. Das ermöglicht, daß Kunstwerke Gehalte und Bedeutung vermitteln auch unabhängig von ihrer Thematik, daß sie andre Gehalte aufweisen können, als jeweils bewußt beabsichtigt, tiefere Wahrheit als des Künstlers bewußte „Meinung". Die „niedergeschlagene Geschichte" im Kunstwerk ist bewußt nur zum Teil; ebensosehr ist sie vermittelte, unbewußt gewordene, direkt und sehr viel indirekt erworbene Erfahrung, oft nur Speicherung ihrer Resultate wie künstlerischer Gestalten u. a. Doch Adornos Verabsolutierung dieses Aspekts und die gleichsam normative Setzung sozialer Bewußtlosigkeit ist pure Regression. Wenn Beethoven sich bewußt als Repräsentant der Gesellschaft verstand, ist das kein Epiphänomen seiner Person wie seiner Kompositionen. Was Adorno hier amputiert, ist die in Kunst sich objektivierende aktive, aneignende Auseinandersetzung mit der empirischen Wirklichkeit, mit der menschlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ihr letzter Gegenstand ist, die Bewußtheit dieser Auseinandersetzung eben jene aktive tätige Seite innerhalb der Sphäre des Bewußtseins, die Wirklichkeit ergreifende, umgestaltende, deutende, kritisierende, oft rebellische, revolutionäre, auf Umgestaltung tendierende - , was sich eben nicht reduzieren läßt auf unbewußte Gehalte der Form und Konstruktion und auch nicht auf den Ausdruck des Leidens. Wie die Wirklichkeit, wie das Verhältnis zu dieser Wirklichkeit zum Thema wird, ist eine andre Frage, das ist äußerst unterschiedlich in den unterschiedlichen Epochen und Künsten. Das hängt vom historischen Bewußtseinsstand und dessen Erkenntnismöglichkeiten ab, vom realen Aktions- und Beziehungsfeld der Individuen, von historisch gegebenen Formen des Gewinns und der Kommunikation gesellschaftlicher Erfahrungen, von Bewußtseinsinhalten, Weltanschauung und Struktur der sozial kommunizierten Ideologien. Und hier sind sehr tiefe Widersprüche innerhalb einer Gattung zwischen dem, was bewußt thematisch, und dem, was künstlerisch dann gezeigt wird, historisch immer wieder möglich, ja notwendig. Entscheidend ist nicht diese konkret analysierbare, ja die spezifische Dynamik künstlerischer Weltaneignung charakterisierende Widersprüchlichkeit, sondern daß solche Aneignung und Stellungnahme, die jedes Werk, wie Adorno sagt, ist, nicht auf bewußtlose Äußerung reduzierebar ist: Erst die 9*

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bewußte Auseinandersetzung, das der empirischen Welt Sich-Stellen entbindet auch das Potential des Nichtbewußten. Die direkte Gegenstandsbeziehung mobilisiert die indirekten, oft reicheren und tieferen Beziehungen. Adornos Bestimmung des empirisch-gesellschaftlichen „Stoffes" suggeriert eine falsche Identität von Stoff und Gegenstand, bloße Subjektivität von Bedeutung und Gehalt, hypertrophiert die formende Aktivität und negiert die in die Wirklichkeit dialektisch-kritisch eindringende, sie aufdeckende, entdeckende, beweisende Leistung. Erst hier realisiert sich die „Bewegung" der Kunst gegenüber der Wirklichkeit: in der Dialektik von Form und Gehalt, manifester Tendenz und Darstellung, Gesagtem und Gezeigtem. Adornos Alternative „Affirmation" oder „Negation", bezogen auf die Wirklichkeit als ganze, ist eine konstruierte, nur von idealistischen Voraussetzungen her denkbare, eine die wirkliche Dialektik - die objektive wie die subjektive - verneinende ideologische Programmatik, die gerade auf die Fixierung des Ohnmachtsraums zwischen Leid und Utopie zielt. Diese Position ist nicht zu verteidigen durch Hinweis auf Tendenzpoesie oder Kritik an gewiß genügend banalen und kunstfremden Auffassungen vom Realismus, wenn dieser zur Wiederholung von Bekanntem und auch Gewünschtem depraviert wird. Adornos Polemik dagegen, gerade weil sie manch partiell Wahres enthält, trifft dennoch ganz daneben: weil sie auf die aktive revolutionäre Realitätsbeziehung, den Klassengehalt, auf die Praxisbeziehung und immanente Dialektik der marxistischen Theorie wie realistischen Kunst zielt, auf die Erkenntnis der Befreiungs- und Aneignungsfunktion der Kunst - im Gegensatz zum Konzept ihrer Autonomie und verschlüsselten „Erlösungsfunktion" im ohnmächtigen Schrei des verzweifelten Individuums, worin allein Adorno noch Wahrheit zu finden vermochte.

Gedicht und Interpreten — Johannes R. Becher und Oskar Loerke Nach dem Dargelegten wird deutlich, in welchem Interpretationszusammenhang Adorno das Goethesche Gedicht versteht. Dem Ich dieses Gedichts unterstellt er, entfremdete Subjektivität zu sein, die an „subjektfremdem" Dasein leidet. Noch sieht er in der Harmonie des Gedichts ein Ineinanderstimmen von Leid und Liebe, die er 132

späteren Zeiten versagt. Objektivität, Realität, Natur, Kollektivität fließen in eins. Das Element der Ironie gewinnt durch die Gleichsetzung der Sekunden vor dem Schlafe und vor dem Tode eine ungoethesche Melancholie - denn weder der Tod als „Kunstgriff def Natur, viel Leben zu haben", ist hier mitgedacht noch der Schlaf als Wiedergeburt, Sterben und Wiedergeborenwerden als Lebensakt, wie dies im Faust an entscheidenden Handlungswendungen erscheint. Auch der Gedanke, daß in jedem Gedicht das geschichtliche Verhältnis des Subjekts zur Objektivität, des einzelnen zur Gesellschaft im Medium des subjektiven, auf sich selbst zurückgeworfenen Geistes seinen Niederschlag gefunden habe, verlangt seine Relativierung, denn Gedichte artikulieren diesen, auch wenn sie nicht Medium des „auf sich selbst zurückgeworfenen Geistes" sind; das sind sie nur in bestimmten historischen Entwicklungsphasen wie der Erlebnislyrik der bürgerlichen Epoche. Daß hinter der Subjektvorstellung das Modell der autonom-spontanen Kunst sichtbar wird, zeigt die Behauptung, daß durch „Versenkung in das Ich" die Einheit mit der Natur, die verlorengegangene, wiederhergestellt werden solle. Insgesamt sollte bei „Lyrik" bzw. davon abgeleiteten Eigenschaftswörtern nicht vergessen werden, „daß der Begriff der Lyrik durchaus erst durch spätere Zusammenfassung von ursprünglich disparaten Elementen zustande kam. Was hatte die Ode mit ihrem politisch-mythologischen Gehalt mit der Liebesdichtung gemeinsam?" 22 Daß Adornos Interpretation die Grenzen wissenschaftlicher Beweisbarkeit grundsätzlich überschreitet, ist nicht ihr Mangel. Die tiefe subjektive Betroffenheit, die Sensibilität, mit der er der Sprachgebärde folgt, den über das unmittelbar Benannte hinausweisenden Bedeutungen nachspürt, subjektive Aktivität in Bewegung setzt, um Zeichen und Klang als ästhetisch bedeutungsvolle Gestalt zu erfassen und zum „Sprechen" zu bringen, die vorgegebene Konfiguration als lyrische Rede zu erfassen, ist nicht zu verkennen. Einen anderen Weg gibt es auch nicht, um das Gedicht zu verstehen. Ein andres ist es, den Prozeß dieses Verstehens selbst zu analysieren. Adorno „versteht" es - und daß er nicht willkürlich konstruiert, scheint mir evident. Aber in diesem Verstehen, dessen Ergebnis er sprachlich suggestiv ausdrückt, in dieser Versenkung ins Gedichtete bewegt er sich im Korsett der „negativen Dialektik" - und zwar primär nicht, weil deren Kategorien seine Deutung wesentlich bestimmen, sondern weil sie sein Bewußtseinsverhalten zur menschlich-gesellschaftlichen Realität strukturiert. Das determiniert den Horizont möglicher Be133

deutung und Realitätsbeziehungen, die, am und durch das Gedicht vermittelt, ihm erfaßbar sind. Er versenkt sich ins Gedicht und findet - als dessen tiefsten Gehalt - seine Weltinterpretation, er spiegelt sich in ihm, ist nicht nur dessen Spiegel. Der Hochreflektierte verhält sich spontan „naiv", weil seine Ideologie als Weltinterpretation schon als Schema seine Erfahrung von Kunst organisiert - wie seine gesellschaftliche Erfahrung, denn Kunst ist ja deren Kristallisation und Konzentrat. Er weiß natürlich, daß Goethe geschrieben hatte: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur . . . " Aber die Natur, von der Adorno hier interpretierend spricht, kann niemandem mehr leuchten. Daher kommt auch der sentimentale Zug: daß da eine verlorene Einheit wiederhergestellt würde. Aber - ist das die Natur, von der Goethe spricht? Das geschichtliche Verhältnis der Subjektivität zur Objektivität, das er durchaus mit Recht als dem Gedicht immanent behauptet, wird von ihm zugunsten eines Immergleichen praktisch durchgestrichen. Nun gab Adorno keine wissenschaftliche Analyse des Gedichts, sondern eine aus seiner Erfahrung erwachsende Interpretation. Nicht die „Naivität" dieses Erfahrens ist ihm zum Vorwurf zu machen, denn jeder Kunstgebrauch bezieht sich auf das vorliegende, aus der Vergangenheit oder Gegenwart stammende Werk als ein gegenwärtiges, das unterm Horizont der Gegenwartserfahrungen verstanden wird, auf die eigene soziale Lebenspraxis bezogen, an und in der die zeitgenössische Welt gesucht und gefunden wird. Und selbst extreme Weltflucht verneint ebendiese gegenwärtige Welt und bleibt auf sie bezogen. Die im Kunstwerk, in seiner fixierten Form geronnenen Gehalte und Bedeutungen können immer nur in bestimmter historisch-ideologischer Konstellation, in der besondren Situation des Rezipienten, in seiner Perspektive aufgenommen werden, dadurch dessen Welt- und Selbstverständnis ebenso artikulieren wie vermitteln. Eco hat das sehr gut formuliert: „Einerseits ist ein Kunstwerk . . . ein Objekt, in dem sein Schöpfer ein Gewebe von kommunikativen Wirkungen derart organisiert hat, d a ß jeder mögliche Konsument (über das als Stimulans von Sensibilität und Intellekt empfundene Spiel von Antworten auf die Konfiguration der Wirkungen) das Werk selbst, die ursprünglich vom Künstler imaginierte Form nachverstehen kann. In diesem Sinne produziert der Künstler eine in sich geschlossene Form und möchte, daß diese Form, so wie er sie hervorgebracht hat, verstanden und genossen werde; andererseits bringt jeder Konsument bei der Reaktion auf das Gewebe der Reize und 134

beim Verstehen ihrer Beziehungen eine konkrete existenzielle Situation mit, eine in bestimmter Weise konditionierte Sensibilität, eine bestimmte Bildung, Geschmacksrichtungen, Neigungen, persönliche Vorurteile, dergestalt, daß das Verstehen der ursprünglichen Form gemäß einer bestimmten Perspektive erfolgt." 2 3 Und dieses Verhältnis wäre weiterhin zu präzisieren durch die soziale und ideologische Prägung und Perspektive der Individuen, somit ihre Differenzierung in einer Zeitgenossenschaft, dann durch die geschichtliche Entwicklung selbst, die sowohl den objektiven Zusammenhang, den Gehalt als auch die subjektiven, mit durch die Kunstentwicklung geprägten Sensorien bestimmt. Wir hören Bach und Händel anders als deren Zeitgenossen, weil unser „musikalisches O h r " durch die seit dem 18. Jahrhundert vollzogene Musikentwicklung mitdisponiert ist: und wir hören ihren Gegensatz zu dieser mit. (Die Kritik, die ich an E c o zu üben hätte, bezieht sich nicht auf die Feststellung solcher kommunikativer Zusammenhänge, sondern auf deren gesellschaftlichen G e halt, Zusammenhang und Abbildungsverhältnis.) E i n e Analyse des Gedichtes kann und will ich hier nicht vornehmen. Als ein geschichtlich erzeugter Mikrokosmos setzt seine kaum faßbare, verletzliche Gestalt eine Mannigfaltigkeit von objektiven und subjektiven Systembeziehungen voraus, seine allgemeinen und individuellen geschichtlichen Produktionsbedingungen, die den wirklichen Gesellschaftsprozeß und dessen soziales Reflektieren wie die Sprache als langue und parole einschließen. Das Gedicht setzt die Geschichte seiner poetischen Gestaltbildung und Kommunikationsweisen voraus, was bis zur sehr komplexen Werkstruktur - von der Zeichenstruktur bis zu den allgemeinen sozialen Bedeutungszusammenhängen - reicht. Eine Analyse verlangt zugleich die Untersuchung der subjektiven Rezeptionsbedingungen und -weisen in ihrer Geschichtlichkeit. All das gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit, daß da gesagt werden kann: „Über allen Gipfeln ist Ruh . . . " , wobei der von dem Gedichte Betroffene nicht einmal daran denkt zu fragen, ob und wann über welchen Gipfeln Ruhe sei . . . Und auch die umfassendste Analyse kann nur relativ allgemeine Bedingungen und Zusammenhänge erfassen, nicht das So-und-nichtanders-Sein dieses Gedichts ableiten. Ableitbar ist das Allgemeine seiner Sprachlichkeit, Gestalt, seines Gehalts und seiner Intention. Ableitbar in dem Sinne, daß seine Bedingungen und Möglichkeit angebbar sind. Das individuelle Gedicht ist das zu erfahrende Faktum, das nicht in Allgemeines auflösbar ist, obwohl sein Erfahren-

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werden nur durch ständiges In-Beziehung-Setzen zu Allgemeinerem möglich ist. Seine Ganzheit muß ästhetisch perzipiert werden, ist aber nicht begrifflicher Natur. Sowenig das Individuum Goethe in seiner Individualität „ableitbar" ist, sowenig wäre sein produktiver Zustand und dessen Produkt in bestimmter Situation voraussagbar. In allem ist das Allgemeine, wirkt das Notwendige, aber gerade hier ist die Realität des Individuellen und „Zufälligen" (Zufälligkeit gegenüber jeweils bestimmten Notwendigkeiten) zu fassen. Umgekehrt ist das individuelle Gedicht als fixiertes Gebilde identischer Organisator seiner Rezeptionsprozesse, ein Allgemeines in deren individueller Vielfalt; es reichert sich gleichsam an mit dem in der Rezeption aktivierten Besondren, das wiederum aus vielfältigen Komplexen allgemeinerer Zusammenhänge ihm zugebracht wird. Auf diese Weise vermittelt über seine Individualität das Gedicht zugleich sein Allgemeines den Individuen im Rezeptionsprozeß. Das ist seiner gesellschaftlichen Objektivität geschuldet, der Kunstgestalt, in der das Individuelle als Nur-Individuelles erlischt - objektiviert es sich doch schon im Allgemeinen der Sprache. Das ist ein Aspekt, der die vergesellschaftende Funktion der Poesie, ihre Qualität als Form des gesellschaftlichen Bewußtseins erhellt. Wenden wir uns wieder Wandrers Nachtlied zu. Ohne den Ehrgeiz einer vollständigen Analyse also sollen einige Aspekte betrachtet werden, die für die Fragestellung nach dem Besondren der Poesie im Unterschied zur wissenschaftlichen Welterkenntnis von Belang sind. Hören wir zunächst zwei sehr sich voneinander unterscheidende Poeten, die zum Gedicht Wesentliches zu sagen haben - worin auch die Differenz ihrer Position und Individualität sich ausprägt. Der Lyriker Oskar Loerke schrieb zu Goethes Gedicht in seinem Essay: Das alte Wagnis des Gedichts: „Ich spüre in Ihnen den Einwand: Gedichte früherer Zeiten waren trotz allem selbstverständlicher, leichter, liedhafter. Mag sein; aber läßt sich daraus eine vernünftige Forderung für heute und morgen ableiten? Es zeigt sich nur, wie zeitverbunden das der Zeitfeindschaft beschuldigte Gedicht doch i s t . . . Die Menschheit ist in Gruppen mit Spezialhirnen und Spezialaugen gesondert. Sucht die Dichtung nun auch das ewig Gültige und ewig Einfache aus der Zerstreuung wieder zusammenzufügen, so werden die Spuren des Exils und seiner Not doch daran haften. Und jetzt eine Ketzerei. So überaus einfach, wie behauptet wird, sind auch die schlichtesten Gedichte der Vorzeit nicht. (Nur die 136

schlechten sind simpel.) D a ß die Fülle in der Form nicht analytisch bemerkt und aufgenommen wird, vermindert die Fülle nicht. Der Unterschied zwischen Einst und Nun ist der, daß man am Einstigen die Kunst übersieht und an Jetzigem den Gehalt. Rufen Sie mit mir das kurze Lied Goethes .Über allen Gipfeln ist Ruh' vor Ihr prüfendes Bewußtsein. Sie wissen es auswendig. - Versuchen Sie die geringste Änderung; sie wird sich als unmöglich erweisen. Jeder Feinhörige wird an jeder Stelle, die er zerstören will, einen Schlag empfangen, als schaltete er sich in einen hochgespannten Stromkreis. Schon ,Ruhe' statt ,Ruh' ist undenkbar, das angehängte ,e' bringt nicht nur eine Klangverschiebung, sondern auch eine leichte Bedeutungswandlung hervor. A u f allen Gipfeln statt ü b e r allen Gipfeln - welche Entzauberung! - Über d e n Gipfeln statt über a l l e n Gipfeln wie dürr und teilnahmslos! Dann die Kopula ,ist'! kein Wort def Bewegung, des Geschehens, sondern ein Wort des Zieles, des Schlusses, ein Absolutum, zusammengeschlossen zu kurzem Verse mit dem Worte ,Ruh'. Das ,ist' steht an unbetonter Stelle, nicht im Reim, und dies gegen die betonten Wörter voll Bewegung und Zeit, gegen das Spüren, Schweigen, Warten, Ruhen! - Beachten Sie auch den Abstieg durch die Bereiche des Steins, der Pflanzen, Tiere zum Menschen, Gipfel, Wipfel, Vögel, Du. Beziehung um Beziehung ruft Wort zu Wort, Vers zu Vers, Satz an Satz und beruft das ganze Gebilde, bis das kurze Gedicht das unheimlich Einheitliche in aller Welt durch seine lauschende und schauende Form zur Erscheinung gezwungen hat. Alte Abschriften der Verse verschreiben Gipfel in Gefilde, und sie sagen Vögel statt Vöglein. Nun, Verkleinerungs- und Zärtlichkeitsformen wuchern in Goethes Sprache nicht allzu üppig. Wenn hier an einer Stelle die mächtige sentimentale Rührung durchbricht, so ist sie rasch wieder verschwunden, da, wo von der Heimkehr in das Schicksal die Rede ist, in dem ,Balde ruhst du auch!' - Nein, es ist nicht so überaus einfach." 24 Auch wenn an der „Heimkehr in das Schicksal" und an der Unheimlichkeit des Einheitlichen in aller Welt eine weltanschauliche Deutung aufklingt, die nicht aus Goethes Gedicht sich überzeugend bestätigen könnte - so hat Loerke doch die poetische Notwendigkeit an diesem Gedicht erspürt. Anderes hebt Johannes R. Becher hervor: „Worin besteht der unnachahmliche Reiz dieses Liedes? Inhaltlich wird lediglich mitgeteilt, daß über allen Gipfeln Ruhe ist, was wiederholt wird: ,in allen Wipfeln spürst Du kaum einen Hauch', und 137

eigentlich noch einmal ein drittes Mal wiederholt wird in ,die Vögelein schweigen im Walde', denn wenn über allen Gipfeln Ruhe ist und in allen Wipfeln du kaum einen Hauch spürst, so würde daraus hervorgehen, was bei einem solchen auf acht Zeilen konzentrierten Gedicht nicht so ausdrücklich zu betonen wäre, daß natürlich auch die Vögelein schweigen." (Dies bezweifle ich, „natürlich" ist das nicht - W. H.) „Also besteht dieses Gedicht eigentlich inhaltlich aus vier Zeilen: Über allen Gipfeln Ist Ruh und Warte nur, balde Ruhest du auch. So also läßt sich dieses Gedicht nicht begreifen, und damit müssen wir seinen Wert schon im Schwerbegreifbaren, wenn nicht in einem Unbegreifbaren suchen, inhaltlich jedem verständlich, aber keineswegs allgemeinverständlich, woraus die tiefe poetische Wirkung dieses Gedichtes zu erklären ist. Diese Wirkung scheint mir gerade daraus erklärbar zu sein, daß die Ruhe wiederholt wird, immer ruhiger, die Stille immer stiller wird - in der Wiederkehr der Stille, bis zur Ahnung der Niewiederkehr des Lesenden selber. So oft wieder j holt sich die Ruhe über allen Gipfeln, die Hauchlosigkeit in allen Wipfeln, das Schweigen der Vögelein im Walde - daß aus dieser Wiederkehr der Stille, aus dieser Vertiefung des Stilleseins folgerichtig auch bei dir in deinem Herzen bald Ruhe eintreten muß. Einfach, jedem Kinde verständlich und dennoch mit einem zweiten Sinn behaftet, von dem Goethe bei dem Begreifen eines Gedichts spricht, der sich erst demjenigen eröffnet, der das Gedicht liest und wieder liest und der Erfahrung hat mit Gedichten. . . Also es gibt Gedichte, die verständlich sind auf den ersten Blick, deren eigentliche Wirkung aber nicht in dieser Verständlichkeit auf den ersten Blick liegt, sondern dazwischen und dahinter." 25

Regeneration oder Auflösung? Was ist „Natur" in diesem Gedicht? Wer spricht da, ihre Ruhe beschwörend, und wer bedarf der Ruhe? Das Gedicht pulsiert, bewegt sich im Gegensatz zwischen der unge138

heuren Ruhe der Natur, die als objektive Macht erscheint, und dem Unruhigen, der angeredet wird und sich selbst anredet. Die beschwörend wiederholte, universaler werdende Stille, in der Bewegung und Laut untergehen, kontrastiert dem, der der Ruhe bedarf, dem sie versprochen wird, der sie sich im Sprechen selbst verheißt und erzeugt. Mit der weiten Gebärde des „Über allen Gipfeln . . ." wird ein umgrenzter Naturzusammenhang benannt und auf das Du hin zusammengezogen, das nicht außerhalb dessen steht, sondern in diese Ruhe einstimmen wird, zur Ruhe kommt, ja, als Subjekt des Sagens im Zur-Ruhe-Kommen ist, im Anreden sich zur Ruhe bringt. Da sind nicht zwei Personen, deren eine auf die Natur verweist und den Unruhigen anredet, während der andren Ruhe verheißen wird, sondern es ist ein und dieselbe, das lyrische Ich, mit dem der Leser, der sich als Angesprochener erfährt, sich identifiziert. In diesem Werden der Ruhe bebt die Unruhe, im Überwinden dieses Gegensatzes zugleich seine zerreißende Spannung nach, denn die subjektive Unruhe bedurfte des universellen Naturgeschehens, um Ruhe zu finden. Diese Ruhe erscheint als Einstimmen in den Rhythmus der universellen Natur - doch in der Ruhe ihres Schlafes und Verstummens liegt nicht Vernichtung, sondern Erneuerung, wird das Erwachen zu Bewegung und Wirken geboren. Die Ruhe, die dem Unruhigen versprochen wird und die er sich verspricht, ist nicht sein Erlöschen, sondern der Schlaf als stumme Wiedergeburt. Das Ironische, das Adorno spürt, das im Du mitklingt wie die untergründige Trauer, zielt es auf menschliche Nichtigkeit? Auf seine Nullität angesichts der grenzenlosen Natur? Wird nur bedeutet, daß der Mensch reglos zu werden habe wie der Wald und stumm wie die Vögel? Er sei nur ein Bestandteil, ein Stäubchen im All? Ich meine nicht: sowenig wie der Tod allegorisch versprochen wird, im Sinne des „Ruhe sanft", sowenig träfe und trifft die Ironie ein todessüchtiges sich dem Gesetz des Lebens Entziehenwollen, das Tat und Schlaf, Ruhe als verharrende Bewegung einschließt. Die Ironie trifft, was sich der allgemeinen natürlichen Gesetzlichkeit entzieht oder sich entziehen zu können einbildet. Nicht die Nichtigkeit, sondern Endlichkeit, Vergänglichkeit des individuellen Daseins klingt an, die in dessen eigenem unendlichem produktiven Zusammenhang sich aufhebt. Aus dem gleichen Jahre 1780 stammt das Gedicht Grenzen der Menschheit26, dies mag das Gemeinte erläutern: 139

Was unterscheidet Götter von Menschen? D a ß viele Wellen Vor jenen wandeln, Ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle Verschlingt die Welle, Und wir versinken. Ein kleiner Ring Begrenzt unser Leben, Und viele Geschlechter Reihen sich dauernd An ihres Daseins Unendliche Kette. Goethes Gedicht zielt in der Beschwörung der Ruhe auf die Erneuerung menschlicher - keineswegs außernatürlicher - Aktivität. Der genaue Gegensatz dazu ist das Aufsaugen des Menschen durch die außermenschliche Natur, er ist da nicht mehr ihr selbständiger, aktiver Teil, Element, sondern beseligt genießt er seine Auslöschung im suggestiven Klangrausch:

Unsterblich duften die Linden Was bangst du nur? Du wirst vergehn und deiner Füße Spur Wird bald kein Auge mehr im Staube finden. Doch blau und leuchtend wird der Sommer stehn Und wird mit seinem süßen Atemwehn Gelind die arme Menschenbrust entbinden. Wo kommst du her? Wie lang bist du noch hier? Was liegt an dir? Unsterblich duften die Linden Dies Gedicht Trost von Ina Seidel 27 ist in seiner träumerischraunenden Neuromantik bodenlos-verführerisch: Es entzieht dem Menschen sein Menschliches, macht ihn zum Objekt einer übergewaltigen vegetabilischen Natur, und sein Auslöschen, Vergehen in ihrem Dauern erscheint als eine letzte Sinnerfüllung, als Trost und ent140

rückendes Mysterium. Im Verhüllungsgewande der Naturlyrik e r j scheint hier ein Extrem an Entfremdung als sinnbetörender Genuß, Bewußtlosigkeit als faszinierende religiöse Weihe. In Goethes Gedicht: W e r verspricht die Ruhe? Redet die Natur? E r f a ß t nicht der Unruhige, der Ruhebedürftige in und an dem Ruhigwerden und Stillgewordensein der Natur sein Bedürfnis und Lebens^ gesetz? Suggeriert er sich einen bergenden mütterlichen Schoß? Findet er ihren, der Natur, Schlaf - oder seinen Schlaf? Wäre sein „Trost", daß auch ohne ihn die Sonne auf- und untergeht oder - nehmen wir das andre Nachtlied - daß Friede in der Brust gesucht und gewünscht wird gegen das „Treiben" in der Zerrissenheit von Schmerz und Lust? Das kleine Lied Goethes ist nicht nur sprachartistisch alles andre denn einfach. E s ist auch nicht einfach zu verstehen, das scheint nur so.

Goethe um 1180 Goethe hat dies Gedicht in der Nacht vom 6. zum 7. September 1780 auf dem Gickelhahn bei Ilmenau gedichtet und an die Wand des Jägerhäuschens geschrieben. Am Abend dieses 6. September schrieb er an Charlotte von Stein: „Auf dem Gickelhahn dem höchsten Berg des Reviers . . . hab ich mich gebettet, um dem Wüste des Städgens, den Klagen, den Verlangen, der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen. Wenn nur meine Gedancken zusammt von heut aufgeschrieben wären es sind gute Sachen drunter. . . . E s ist ein ganz reiner Himmel und ich gehe des Sonnen Untergangs mich zu freuen. D i e Aussicht ist gros aber einfach. D i e Sonne ist unter. E s ist eben die Gegend von der ich Ihnen die aufsteigenden Nebels zeichnete iezt ist sie so rein und ruhig, und so uninteressant als eine grose schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet. Wenn nicht noch hie und da einige Vapeurs von den Meulern aufstiegen wäre die ganze Scene unbeweglich. Nach 8. - Schlafend hab ich Provision von Ilmenau erwartet, sie ist angekommen auch der Wein von Weimar, und kein Brief von Ihnen. Aber ein Brief von der schönen Frau ist gekommen mich hier' oben aus dem Schlafe zu wecken. Sie ist lieblich wie man seyn kan. Ich wollte Sie wären eifersüchtig drauf, und schrieben mir desto fleisiger."28 141

Dieser Brief dokumentiert Anlaß, Gelegenheit des Gedichts, seine Realgrundlage - wir wissen also, was Goethe vor Augen hatte, wann er wo welche Gipfel sah, daß er einen anstrengenden Tag hinter sich gebracht, daß er den Menschen, ihren Klagen und Anliegen ausgewichen. Der herzogliche Geheimrat, verantwortlich für die Bergwerke, für das Wegewesen und die Kriegskommission, war besten Willens und verfügte nur über beschränkte materielle Möglichkeiten. Im März 1776 hatte er an Lavater geschrieben: „Ich bin nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt - voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit aller Ladung in die Lufft zu sprengen." 29 Im März 1780, dem Jahr unseres Gedichtes, schrieb er: „Dass du so geplagt bist mit kleinen Geschäften ist nun einmal Schiksal. In der Jugend traut man sich zu dass man den Menschen Palläste bauen könne und wenn's um und an kömmt so hat man alle Hände voll zu thun um ihren Mist beiseite bringen zu können. Es •gehört immer viel Resignation zu diesem ekeln Geschäft, indessen muss es auch sein." 30 Am 30. Juni bricht's aus ihm heraus in einem Brief an Frau von Stein: „Mir mögten manchmal die Knie zusammenbrechen so schweer wird das Kreuz das man fast ganz allein trägt. Wenn ich nicht wieder den Leichtsinn hätte und die Überzeugung, dass Glaube und harren alles überwindet. Es könnte ia tausendmal bunter gehn und man müsste es doch aushalten . . ." 31 Dem Maler Friedrich Müller riet er: „Ich meine verfallne Hütten, Höfgen, Strohdächer, Gebälke und Schweineställe. Man ist in glücklichen Stunden oft an solchen Gegenständen vorbeigegangen, findet sie zur Nachahmung immer bereit da stehen, und da man gerne von der Welt und den Prachthäusern in das Niedrige flieht, um am Einfachen und Beschränkten sich zu erholen, so knüpft man nach und nach so viel Ideen auf solche Gegenstände, daß sie sogar zaubrischer als das Edle selbst werden." 32 (12. Juni 1780) An Lavater dann um den 20. September erklärte er: „Das Tagewerck das mir aufgetragen ist, das mir täglich leichter und schweerer wird, erfordert wachend und träumend meine Gegenwart diese Pflicht wird mir täglich theurer, und darin wünscht ich's den grössten Menschen gleich zu tun, und in nichts g r ö s s e r m. Diese Begierde, die Pyramide meines Daseyns, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Lufft zu spizzen, überwiegt alles andre und lässt kaum Augenblickliches Vergessen zu. Ich darf mich nicht säumen, ich bin schon weit in Jahren vor, und vielleicht bricht mich das Schicksaal in der Mitte und der Babilonische Turm bleibt stumpf 142

unvollendet." 33 Im März des vorhergehenden Jahres hatte Goethe die erste Prosafassung der Iphigenie abgeschlossen - sie ist ein ge-> schichtsphilosophischer Entwurf. 1780 begann er den Tasso, und als er im gleichen Jahr den Faust vorlas, war dies eben nicht nur Ablesen eines Schubladenmanuskripts. Gleichzeitig bereitete er eine Biographie des Herzogs Bernhard von Weimar vor, betrieb systematische Naturstudien, arbeitete still am Wilhelm Meister - eine Zeit der Konfrontation der prometheischen Rebellionsideale der frühen siebziger Jahre mit den Möglichkeiten und Zwängen der aufgeklärten Praxis eines ohnmächtigen Duodezstaates. Iphigeniens humanes Ordnungsideal steht vor dem „Hintergrund der ungeheuren Opposition" und der praktischen Schranke, humane Ziele auf humane Weise, Gerechtigkeit ohne Verletzung von Gerechtigkeit zu verwirklichen. Dahinter vertiefte sich die Erfahrung, wer da alles zahle: „So steig ich durch alle Stände aufwärts, sehe den Bauersmann der Erde das Nothdürftige abfordern, das doch auch ein behaglich auskommen wäre, wenn er nur für sich schwizte. Du weißt aber wenn die Blattläuse auf den Rosenzweigen sitzen und sich hübsch dick und grün gesogen haben, dann kommen die Ameisen und saugen ihnen den filtrirten Safft aus den Leibern. Und so gehts weiter, und wir habens so weit gebracht, daß oben immer in einem Tage mehr verzehrt wird, als unten in einem beigebracht (organisirt) werden kann."34 So schrieb er 1782 an Knebel. Die Widersprüche zwischen Handeln und Einsicht, Absicht und Resultat, poetischem Produktionsbedürfnis und Amtspflichten, reformistischer Absicht, praktischer Möglichkeit und emanzipatorischem Ideal, führender Funktion in einer Gesellschaft, gegen die er rebellieren mußte - diese Widersprüche waren nicht zu versöhnen und die Flucht nach Italien befreite aus einer Spannung, die ihn zu zerstören drohte.

Der



Wanderer"

Wandrers Nachtlied nannte Goethe Der du von dem Himmel bist und Ein anderes unser Gedicht. Daß beide auf ein Subjekt, den Wanderer, bezogen werden, läßt uns dem Motiv dieses Wanderers nachfragen. Es ist ein Grundmotiv des jungen Goethe. „Wanderer" wurde Goethe genannt, als er aus Straßburg nach Frankfurt 1771 zurückgekehrt war, und sein rastloses Wandern war nicht nur Ausdruck innerer Qual und von Schuldgefühlen gegenüber 143

Friederike Brion; er sucht „Beruhigung für mein Gemüt, die mir nur unter freiem Himmel, in Tälern, auf Höhen, in Gefilden und Wäldern zuteil ward . . . Ich gewöhnte mich, auf der Straße zu leben und wie ein Bote zwischen dem Gebirg und dem flachen Lande hin und her zu wandern." 35 So berichtet er im 12. Buche von Dichtung und Wahrheit. Offensichtlich fand er die Ruhe nicht im normalen Lebenskreise, war dort nicht „zu Hause", ging in eine „Natur", die er im Frankfurter Alltag vermißte. Aus dem Oktober 71 stammt die Rede Zum Schäkespears Tag und hier preist er „das Andenken des größten Wanderers". — „Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt, und macht große Schritte durch dieses Leben, eine Bereitung für den unendlichen Weg drüben. Freilich jeder nach seinem Maß. Macht der eine mit dem stärksten Wandrertrab sich auf, so hat der andre Siebenmeilenstiefel an, überschreitet ihn . . ." Ein eruptives Lebensbedürfnis bringt Goethe zur Sprache: die Überzeugung, „daß jeder Mensch, der geringste wie der höchste, der unfähigste wie der würdigste, eher alles müd wird, als zu leben"; und kontert dies mit dem Bewußtsein, „daß keiner sein Ziel erreicht; womach er so sehnlich ausging . , ." Shakespeare erscheint als „Wanderer" mit Riesenschritten: „Schäkespears Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unsres Ich's, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt... Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespears Menschen . . . Er wetteifert mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur i n k o l o s s a l i s c h e r G r ö ß e ; darin liegt's, daß wir unsre Brüder verkennen; und dann belebte er sie mit dem Hauch s e i n e s Geistes, e r redet aus allen, und man erkennt ihre Verwandschaft. Und was will sich unser Jahrhundert unterstehen, von Natur zu urteilen. Wo sollten wir sie her kennen, die wir von Jugend auf alles geschnürt und geziert an uns fühlen und an andern sehen." 36 In der Rede zum Shakespeare-Tag, die eine Programmrede der Sturm-und-Drang-Bewegung ist, setzt Goethe den „Wanderer" in ein 144

mehrsinniges Verhältnis zur „Natur". Shakespeare erscheint als der größte der „Wanderer", weil er als Poet seine Menschen als „Natur" bildete, was nur eine tätige Natur in ihm vermag. Seine Dramen kreisen um den tragischen Widerspruch des Wanderers in der Kollision der prätendierten Freiheit des Wollens, des Ich mit dem notwendigen Gang des Ganzen, und schließlich kontrastiert diese Natur - in der Identität von universeller und menschlicher Natur - der Unnatur des Jahrhunderts. D e r Wanderer erholt sich nicht einfach in der freien Natur, er sucht in seiner Beziehung zur freien Natur sich, da er sich in unnatürlichen Verhältnissen, erstickenden Schnüren und Zierden nicht finden, nicht seinen Tätigkeitsdrang befriedigen, nicht sein Wollen verwirklichen kann. Und ebendies Wandern, so sehr der „Wanderer" als einzelner erscheint, ist in doppelter Beziehung sozial intendiert: Einmal ist das Wandern Betätigung dessen, was jedes Menschen, der sich fühlt, Tun als Schritt auf dem Wege seines Lebens - und zugleich ist es Suche nach Menschen, nach menschlicher Beziehung. Insofern klingt in der Gestalt des Wanderers ein avantgardistischer Anspruch an, ein repräsentativer Anspruch gegen die Unnatur des Jahrhunderts, als die Rebellion unterdrückter „Natur". Und nicht ganz durchsichtig ist die Kollision zwischen Ich und dem notwendigen Gang des Ganzen gefaßt. Hier verschlingen sich zwei zu unterscheidende Beziehungen: die Kollision des Individuums in seinen sozialen, politischen, kulturellen Aktionsbedürfnissen mit der Übermacht unterdrückender Verhältnisse - und der Widerspruch zwischen der Freiheit, der prätendierten Freiheit des Wollens, und dem notwendigen Gang, der Gesetzmäßigkeit der Natur, die temporäre Ohnmacht gegenüber der Macht der feudalen und patrizischen Welt, in der der intellektuelle bürgerliche Rebell erstickt, und die Ohnmacht der Illusion eines freien Willens, der an objektiv gesetzmäßigen Zusammenhängen scheitert. Die gedankliche Vermittlung liegt darin, daß die „Natur" nicht nur dem Menschen äußerliche Umwelt, sondern seine eigene zugleich ist. Aus dem Jahre 1772 stammt Der Wandrer*1; diese Gesangsszene erinnert an italienische Gemälde. D e r Wanderer bittet eine junge, ihr Kind nährende Frau um einen Ruheplatz. E r bringt keine Waren, gibt ihr keinen Zweck seines Wanderns an, ein Fremdling, der um Wasser bittet. Sie weist ihm den Weg zum Brunnen und zu ihrer Hütte. E r führt über Ruinensteine; die Hütte ist gebaut aus antiken Tempeltrümmern, bewohnt von einem jungen Bauernpaar. Die klassische Ruine und ihre naive Verwendung als Rohmaterial 10

Heise, Realistik

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der Hütte werden hier zum Gleichnis, zum Symbol der Erneuerung des Lebens, der schaffenden Natur, die eben Vergehen und Werden, Wandel, Untergang und Geburt im unvergänglichen Lebensprozeß einschließt. So reflektiert der Wanderer: Natur! Du ewig keimende, Schaffst jeden zum Genuß des Lebens, Hast deine Kinder alle mütterlich Mit Erbteil ausgestattet, einer Hütte. Hoch baut die Schwalb' an das Gesims, Unfühlend, welchen Zierat Sie verklebt. Die Raup' umspinnt den goldnen Zweig Zum Winterhaus für ihre Brut; Und du flickst zwischen der Vergangenheit Erhabne Trümmer Für deine Bedürfniss* Eine Hütte, o Mensch, Genießest über Gräbern! Leb wohl, du glücklich Weib! Und fortschreitend: Leb wohl! O leite meinen Gang, Natur! Den Fremdlings-Reisetritt, Den über Gräber Heiliger Vergangenheit Ich wandle . . . Der Wanderer ist Gast der Hütte, nicht des Palastes. Selbst als Ziel seines Weges träumt er eine Hütte. Neben der Hütte hält er den schlafenden Knaben, der ihm zum Zukunftsbilde wird: ihn umschwebe der Geist der klassischen Vergangenheit, so daß aus verklärter Antike und verklärter Hüttenwelt ihm der Mensch der Zukunft zu erstehen scheint: in „Götterselbstgefühl" werde er jeden Tag genießen. D e r Wanderer flieht die offizielle Gesellschaft des verwesenden Feudalismus. E r findet bejahtes, natürliches Leben in der Hütte. Die poetische Beschwörung ist soziale Solidarisierung. Der Wanderer ist 146

kein Bauer, ist nicht selbst Glied jener zahlreichsten, elendsten und am härtesten ausgebeuteten Klasse des Feudalregimes. Aber in deren Verklärung, einer idyllisierenden freilich, gewinnt die gesuchte „Natur" soziale Züge, Physiognomie des antifeudalen Klassengehalts. So ist der „Wanderer" nicht nur auf dem Wege zu einer Welt, deren Menschen „Götterselbstgefühl" erfüllt, die also nicht erbärmlich, geknechtet, untertänig und elend, nicht dressierte Figurinen, nicht „poliert" sind; er kann als eine poetische Leitgestalt der avantgardistischen bürgerlichen Intelligenz die bäuerlich-plebejischen Nöte mit aufnehmen, sieht hier eine Alternative zur offiziellen Gesellschaft. Die hat er verlassen, und bei den Bauern findet er keine reale Heimat. Er bricht auf aus diesem stationären, versteinerten Gegensatz, aus der feudalen und kleinbürgerlichen Welt, einem erdrückenden Milieu, spontan, unklar suchend, Utopien bildend und verwerfend, stürmisch im Aufbegehren, überschäumend in Lebensbejahung und Titanentrotz - und schließlich auch verzweifelnd in der Einsamkeit des Unsteten und Resonanzlosen, hin- und hergerissen zwischen Götterselbstgefühl und Ahnung des Scheiterns, der Ausweg- und Ergebnislosigkeit seines Ausbrechens und Rebellierens, seines Wanderns. So auch steckt der Wanderer in Faust: Bin ich der Flüchtling nicht? der Unbehauste? Der Unmensch ohne Zweck und Ruh, Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste Begierig wütend nach dem Abgrund zu? 38 „Ihr seid rein", singt Wandrers Sturmlied die Musen an, „wie das Herz der Wasser, / Ihr seid rein wie das Mark der Erde, / Ihr umschwebt mich, und ich schwebe / Über Wasser, über Erde, / Göttergleich"39. Und in An Schwager Kronos steigert sich dies zu unerhörtem Lebensjubel, prometheischem Götterhohn und realistischem Humor. An Schwager Kronos Spute dich, Kronos! Fort den rasselnden Trott! Bergab gleitet der Weg; Ekles Schwindeln zögert Mir vor die Stirne dein Zaudern. 10*

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Frisch, holpert es gleich, Über Stock und Steine den Trott Rasch ins Leben hinein! Nun schon wieder Den eratmenden Schritt Mühsam Berg hinauf! Auf denn, nicht träge denn, Strebend und hoffend hinan! Weit, hoch, herrlich der Blick Rings ins Leben hinein; Vom Gebirg zum Gebirg Schwebet der ewige Geist, Ewigen Lebens ahndevoll. Seitwärts des Überdachs Schatten Zieht dich an Und ein Frischung verheißender Blick Auf der Schwelle des Mädchens da. Labe dich! - Mir auch, Mädchen, Diesen schäumenden Trank, Diesen frischen Gesundheitsblick! Ab denn, rascher hinab! Sieh, die Sonne sinkt! E h ' sie sinkt, eh' mich Greisen Ergreift im Moore Nebelduft, Entzahnte Kiefer schnattern Und das schlotternde Gebein: Trunknen vom letzten Strahl Reiß mich, ein Feuermeer Mir im schäumenden Aug", Mich geblendeten Taumelnden In der Hölle nächtliches Tor. Töne, Schwager, ins Horn, Raßle den schallenden Trab, D a ß der Orkus vernehme: wir kommen, 148

D a ß gleich an der T ü r e D e r Wirt uns freundlich empfange. In der ersten Fassung endet dies G e d i c h t : D a ß der Orkus vernehme: ein Fürst kommt, Drunten von ihren Sitzen Sich die Gewaltigen lüften. 4 0 D e r Wanderer ist Gestalt des Selbstverständnisses der rebellierenden bürgerlich-intellektuellen Avantgarde. E r bleibt unbehaust; in der feudal-höfisch-kleinbürgerlichen Welt nicht heimisch, nur ideell solidarisierender G a s t in bäuerlich-plebejischer Sphäre, drängt er auf ein Neues, das er selbst noch nicht artikuliert, eher im Negativen denn Inhaltlich-Programmatischen faßt. D e r sich den Göttern des Himmels und der E r d e gleichstellt, einzig die eine unendliche lebendige N a t u r und deren Notwendigkeiten anerkennt, als Lebenszusammenhang, Macht über sich und eigene, nach A u s d r u c k und T a t drängende letzte Lebenssubstanz versteht - gegen eine soziale und politische Wirklichkeit, die eben diese „ N a t u r " negiert und erstickt - , diese Gestalt faßt in sich Ausbruch, Opposition, Vorläufertum und Suche nach Handlungsmöglichkeit, Rebellion in A u f s c h w u n g und Verzweiflung zusammen und spiegelt zugleich die Isolierung dieses Wandernden. D e r Wanderer ist eine Gestalt geistigen Aufbruchs. G e r a d e weil er als intellektuelle Gestalt konzipiert ist, ist sein W a n d e r n Erschließen und Eröffnen neuer Erfahrungsquellen. D i e ständische Gesellschaft zerfällt in voneinander sozial und auch lokal abgeschlossene, hierarchisch gestufte Kreise. D e r Wanderer verläßt seinen angestammten Platz, durchbricht die Borniertheit seiner kleinen, jeweils absoluten und wohlgeordneten „ W e l t " , k o m m t mit vielen unterschiedlichen sozialen Schichten, mit wechselnden Verhältnissen zusammen, v e r m a g sie in ihren jeweiligen Verhältnissen zu beurteilen, v e r m a g einen W e g zu bahnen, ein Bewußtsein des Ganzen jenseits der ständisch bornierten Ordnungsmodelle zu gewinnen. E r gewinnt auch von hier aus eine neue „Welt-Anschauung", zugleich einen bewegtenBeziehungsreichtum. D i e s verweist auf ein weiteres, darüber hinausführendes M o m e n t : D i e Gestalt des Wanderers ist ihrer Intention nach so total entworfen, daß sie mehr als den Widerspruch von bürgerlichem Individuum und feudaler Welt spiegelt, sie antizipiert den Widerspruch von Indivi149

duum und bürgerlicher Gesellschaft - gerade weil sie die Utopie der Emanzipation und Realistik gegenüber der Ohnmacht dieser Utopie mit in sich faßt: die Spanne von Prometheus und Werther als „gekreuzigtem Prometheus". Als poetische Gestalt des Sturm und Drang ist der „Wanderer" nur begrenzt entwicklungsfähig: Er fixiert die Aufbruchs- und Außenseiterposition. Seine Haltung kann in bloße Negativität und Flucht umschlagen, Not zur Tugend werden lassen - denn mit dem Übergang zur Praxis muß die Wandererposition aufgegeben werden. Nicht zufällig, sondern seiner historischen Einsicht in die neuen Kämpfe der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft folgend, zeigt Goethe im zweiten Teil des Faust, in der Philemon-und-Baucis-Szene, einen anderen Wanderer: Er fällt bei der Verteidigung der historisch überholten patriarchalischen Idylle, die Fausts Umgestaltungs-1 plänen und seinem - durch Mephisto vermittelten - produktiv-gewalttätigen Handeln im Wege stand. Dieser Wanderer betete romantisch zum alten Gott, war rückwärtsgewandter Träumer einer überlebten Welt und ihrer Illusion geworden. Der Sturm-und-Drang-Wanderer hatte Gott und Götter hinter sich gelassen. In ihm steckte Faust als Möglichkeit. Anderen Charakters ist der Wanderer in Schuberts Winterreise nach den Gedichten Wilhelm Müllers. Die Reise wird zum Lebensweg des Aufbegehrenden, Verzweifelten, dessen, der sich nicht integriert in die Gesellschaft der Restaurationszeit, in ihre gefroren-erstarrte Welt. „Als noch die Stürme tobten,/war ich so elend nicht . . ." - das sind die Schlüsselverse. Das Thema sei abgebrochen, nicht einmal für Goethe ist das Motiv des Wandernden erschöpft - denken wir nur an Wilhelm Meisters Wanderjahre. Der Wanderer unseres Nachtliedes ist nicht mehr der Stürmer und Dränger, der in ihm „aufgehoben" ist. Der Hintergrund der ungeheuren Opposition bleibt hier wie in Iphigenie anwesend. Sein Wandern ist praktische Tätigkeit, in der er sich zerreibt für eine bestehende Ordnung, der gegenüber er weder die Ausgangsintentionen preisgegeben hat noch den Reformwillen; in der er zu deren Bedingungen, Mitteln und Möglichkeiten verdammt ist, die Demontage der Reformillusionen selbst praktizieren, die Beschränktheit der Wirklichkeit anerkennen muß. Er ist etabliert und nicht integriert, nicht ohne Macht und zutiefst machtlos, gebunden, ohne wirklich heimisch zu werden, tätig, ohne seine Emanzipationsideale verwirklichen zu 150

können - so hat sich Goethes Wandererdasein in die Stellung am Weimarer Hof und im Regierungsapparat verwandelt: Bei allen Anpassungen und Repräsentationsmasken blieb er Fremdling.

Der Naturbegriff des jungen Goethe. Theoretische Form, sozialer Gebalt und Funktion Ehe die Natur Objekt seiner wissenschaftlichen Beobachtung und Forschung wurde, stand sie schon im Zentrum seiner Weltanschauung, beschwor ihr Name für Goethe das Sein schlechthin, war Formel seiner Wirklichkeitsauffassung und -beziehung. „Natur" - das ist die pantheistisch verstandene poetisch-weltanschauliche Grundformel der Sturm-und-Drang-Bewegung, Kampfparole, in der der Menschen Einheit mit der Natur, diese als lebendig-organisch bewegtes Universum, als unendliches Werden, das in sich objektiv gesetzmäßig verläuft, verstanden wird. Das ist nicht mehr die mathematisch vernünftige Natur des französischen Klassizismus, nicht mehr die mechanische Natur rationalistischer Konstruktion, auch nicht einer verabsolutierten Newtonschen Physik und schon gar nicht die teleologisch vom höchsten Weltschöpfer weise auf den Menschen hin geschaffene Weltmaschine wolffianischer Schultheorie, noch weniger der verschiedenen Physicotheologien, die Gottes Größe, Weisheit und Allmacht am Produkt Natur bis hin zu den Tulpen, in der Tulpotheologie, bewiesen. Und wie keiner seiner Mitstrebenden hat Goethe Natur in so dezidiert nichtchristlicher, antitheologischer und antiteleologischer Weise, in einem rein weltimmanenten autonomen, also materialistischen Sinne verstanden, keiner ihr Sein so tief als Werden, Dynamik, Kraftbewegung und -äußerung in der Einheit von Ordnung und unendlicher Mannigfaltigkeit, Gesetzlichkeit und überquellendem Werden gesehen und sich selbst so intensiv als ihr Teil ver j standen. Natur ist für ihn unendliche Wirksamkeit, des Menschen Natürlichkeit ist sein Wirken, seine Tätigkeit, sein Tätigkeitsbedürfnis, der „Erdgeist" webt in Lebensfluten und Tatensturm, und das „Im Anfang war die T a t " entspricht genau dieser Naturauffassung. Deshalb sieht Goethe den Menschen nicht als passives Produkt, sondern als produktiv Mitwirkenden der Natur. „Die Natur bildet den Menschen, er bildet sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natürlich; er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäumt, ummauert sich eine kleine drein, und staffiert sie aus nach sei151

nem Bilde." D a s steht im Zusammenhange aktiver Wechselbeziehung: „Was den Menschen umgiebt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch wieder zurück auf selbiges.. ." 41 Hellsichtig visiert hier der junge Goethe in den Physiognomischen Fragmenten die „aktive Seite" im aphoristischen Entwurf an. Mensch und N a t u r hängen also zu-» sammen, weil N a t u r mit sich selber zusammenhängt, alles in allem ist, universelle lebendige Einheit. D e r Mensch ist ihr Glied, ihr Produkt und „Meisterstück". Und dieser bewährt seine Natürlichkeit und Bindung an Naturgesetzlichkeit als tätiges, produktives Wesen. N a t u r ist sein allgemeiner äußerer und zugleich innerer Lebenszusammenhang. D a h e r erscheint des Menschen - vor allem künstlerische - Produktivität als ihr Wirken. Im erkenntnistheoretischen Sinne ist N a t u r objektive Realität. Als umfassendes einziges Sein ist sie Subjekt ihrer Widerspiegelung, ist nicht nur deren Objekt, sondern Produzent zugleich. Als Spinozas Einheit von natura naturans (schaffender Natur) und natura naturata (realer geschaffener Natur) wird sie gedacht, als causa sui, Ursache ihrer selbst - ohne transzendente Person Gottes, dessen Schöpferwille Himmel und E r d e schuf. Im Unterschied zu Spinozas mathematisch-physikalischem Konzept aber wird diese N a t u r - im Gefolge deutscher Naturphilosophie und Leibniz' - organisch-lebendig gedacht. Und auch das ist schon zuviel gesagt; denn es handelt sich hier nicht um systematisches Denken und fachphilosophische Deduktion, sondern um eine große Anschauung. D i e Einheit „Mensch - N a t u r " ist hier primär anschaulich-gefühlsmäßig bewußt, artikuliert das Selbstverständnis im Verhältnis zur Welt. D a s ist poetische Weltanschauung und poetisch angeschaute Welt, aber nicht naturwissenschaftliche Theorie und philosophische Systematik, ein großer Entwurf, in dem Gedankliches und Anschauung noch nicht getrennt, ja ihre Einheit bewahrt bleibt in Opposition gegen eine arbeitsteilige Hierarchie der Geister, die da Höheres und Niederes trennt, den christlichen Geist-Fleisch-Dualismus reproduziert. D i e Ahnung, die vorwegnehmende Einsicht aber in das dialektische Verhältnis von Mensch und N a t u r in der Vermittlung der Arbeit wird nicht systembestimmend, wird in Goethes späterer wissenschaftlich begründeter Naturanschauung nach der objektiven Seite nur theoretisch entwickelt, während die aktive Seite poetisch zum Tragen kommt (Prometheus - Faust). Auf philosophischmaterialistische Weise kann erst in Marx' Überwindung des nur anschauenden Feuerbachschen Materialismus dies weiter, auf die Stufe begrifflicher Bewußtheit und Verallgemeinerung geführt werden. 152

Das Absolutsetzen der Natur, des „Daseins" in seiner Göttlichkeit bedingt die weltanschaulich-ideologische Sprengkraft dieser pantheistischen Natur- und Weltanschauung. Sie negiert die Gesamtheit der ideologischen Weltanschauungsnormen des Feudalismus, Feudalabsolutismus und auch des in religiöser, somit davon abhängiger Befangenheit erst untertänig revoltierenden Bürgertums. Ebendies Absolutsetzen aber bedingt die Grenze dieser Anschauung im Begreifen der geschichtlich-gesellschaftlichen Praxis der Menschen. Sie verabsolutiert die Einheit und verschlingt den Widerspruch im Verhältnis von Mensch und Natur. Die Bestimmung der „Natur" wird für Goethe Form, gesellschaftliche Erfahrungen und Intentionen begrifflich zu fassen. Wohl am konzentriertesten finden wir im Aufsatz von Tobler von 1781 Goethes aphoristisch formulierte Gesamtauffassung der Natur in ihrer Objektivität; er charakterisiert sie noch nicht in ihrer Entwicklung - diese faßt Goethe erst später unter den Kategorien „Polarität" und „Steigerung". Die gesellschaftlichen Aspekte werden deutlicher, wenn wir in den Rezensionen der Frankfurter Gelehrten Anzeigen auf den polemischen Kontext achten. Zwei Beispiele will ich anführen: Zuerst die Kritik an Sulzers Theorie der Schönen Künste, die für die Ästhetik der Illusionen des aufgeklärten Absolutismus repräsentativ ist. Goethes Polemik trägt ästhetischprogrammatischen und weltanschaulich-ideologischen Charakter. Er zielt gegen die ästhetische Theorie einer harmonisierenden, auf Staatspädagogik - und zwar des feudalabsolutistischen Staates - hinauslaufenden Kunst, gegen das Konzept der höfisch-bürokratisch gebundenen offiziellen Aufklärung schulphilosophischen Gepräges, das auf einer idealistisch-harmonisierenden Welt- und Naturauffassung illusorischer Friedsamkeit, auf Verdecken der wirklichen Widersprüche und teleologischer Denkweise theoretisch gründet. „Er (Sulzer - W. H.) will das unbestimmte Principium: N a c h a h m u n g d e r N a t u r , verdrängen und gibt uns ein gleich unbedeutendes dafür: D i e V e r s c h ö n e r u n g d e r D i n g e . Er will nach hergebrachter Weise von Natur auf Kunst herüberschließen: ,In der ganzen Schöpfung stimmt alles darin überein, daß das Aug und die andern Sinnen von allen Seiten her durch angenehme Eindrücke gerührt werden.' Gehört denn, was unangenehme Eindrücke auf uns macht, nicht so gut in den Plan der Natur als ihr Lieblichstes? Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen, unterirdische Glut und Tod in allen Elementen nicht ebenso wahre Zeugen ihres ewigen Lebens als die herrlich aufgehende Sonne über volle 153

Weinberge und duftende Orangenhaine? Was würde Herr S u l z e r zu der liebreichen Mutter Natur sagen, wenn sie ihm eine Metro j polis, die er mit allen schönen Künsten, Handlangerinnen, erbaut und bevölkert hätte, in ihren Bauch hinunter schlänge . . . Wäre es nun also auch wahr, daß die Künste zu Verschönerung der Dinge um uns würken, so ist's doch falsch, daß sie es nach dem Beispiele der Natur tun. Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die K r a f t verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Recht nebeneinander existierend. Und die K u n s t ist gerade das Wider-spiel; sie entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörerische K r a f t des Ganzen zu erhalten. Schon das Tier durch seine Kunsttriebe s c h e i d e t , v e r w a h r t sich; der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen die Natur, ihre tausendfachen Übel zu vermeiden und nur das Maß von Gutem zu genießen . . Z'42 In dieser Sicht des Verhältnisses von Individuum und der Kraft des „Ganzen" verschlingen sich zwei sehr unterschiedliche Sachverhalte. Die zerstörende K r a f t ist einmal die außermenschliche Natur, sie bedroht das Individuum als Gattungswesen, und die sich da produktiv wehren, sind nicht einsame Wanderer, sondern die Menschen, die ihre Produktion entwickeln, und in diesem Zusammenhange nicht die „schöne" Kunst. D a s Ganze, das dem Individuum gegenübersteht, ihm Gewalt antut als Individuum, als Individualität, seinem besondren subjektiven, an den einzelnen gebundenen Interesse - das ist nicht die Gewalt von Sonne und Gebirg, sondern die Gesellschaft in ihrer gegebenen, das Individuum unterdrückenden, seine Entfaltung verhindernden Ordnung. Nur in ihr als bürgerlicher Gesellschaft kann das Individuum sich vereinzeln, die feudalen persönlichen Bindungen hinter sich lassend. Hier verbindet sich der Gegensatz des rebellischen bürgerlichen Intellektuellen zur feudalständisch-geprägten Sozialordnung mit dem - eher antizipierten als durchlittenen Gegensatz des Künstlers der bürgerlichen Gesellschaft zum Bürgertum und dessen Ordnung, zumal in den siebziger Jahren die intellektuelle Avantgarde unter der Unentwickeltheit der bürgerlichen Gesellschaft vor allem litt, weniger an dieser selbst, dennoch dies Moment rousseauistisch spürte. Goethes Erfahrung sozialer Widersprüche bestätigt sich in seinem Bilde der Natur, wie Sulzers Naturkonzept - Natur als sanfte Gartenkomposition mit dem Zweck, angenehme

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Empfindungen und mil-de Harmonie zu erzeugen - dessen politischsoziale Illusionen bestätigte. Der Gegensatz ist vor allem der Gegensatz beider im Verhältnis zur wirklichen Gesellschaft, nicht zur Natur als Objekt der Arbeit. Sulzer spricht im Sinne der bürgerlich geprägten Illusion des aufgeklärten Absolutismus. Goethe höhnt, daß da Sulzer „träumt mit andern, eine weise Gesetzgebung würde zugleich Genies beleben und auf den wahren Zweck zu arbeiten anweisen können"43, wobei der „wahre Zweck" in der moralischen Besserung liegt - eben im Sinne dieser harmonisierenden Regulierungsund Befriedigungsideologie von oben. Goethe attackiert hier die Selbsttäuschung, Herrschaftsillusion und Demagogie des Absolutismus, der bürgerlich aufgeklärten wie aller feudal-staatlichen Obrigkeit. Wie die soziale und politische Harmonie als Resultat weiser Regierung und Gesetzgebung, wie die sanfte Harmonie der Natur als Resultat von Gottes weiser Planung ihr erscheint, so auch die Kunst als Objekt weiser Lenkung zu staatspädagogischem Zwecke. Die Autonomie der Natur wie die Selbsttätigkeit der Gesellschaft sind hier negiert. Negiert wird dadurch die Kunst als gegen-* über der Regulierung von oben autonom sich proklamierende Selbsttätigkeit, als Schöpfertum der Selbsterhaltung des Individuums gegen diese zerstörerische, das Individuum einebnende Gewalt eines Ganzen, in dem die herrschende Macht gewalttätig ist. Dagegen setzt Goethe die Kunst als prometheische Selbstbehauptung, und ihr produktives Tun steht für menschliche Produktivität überhaupt. Erinnert sei an das „Vorläufertum" des „Wanderers". Gegen die Herrschaftsideologie und -illusion von oben setzt er die Realität als „Natur", setzt er produktive Spontaneität als „Natur". Das ist noch kein praktikabel politisches Programm. Die Klassenpolitik ist hier immanent und der Spontaneität dieser Rebellion keineswegs in den Konsequenzen klar. Es ist das Zerstören von Illusionen des aufgeklärten Absolutismus, die Goethe bald darauf, weil keine bürgerliche reale Bewegung und Basis vorhanden, dennoch zu praktizieren sucht. Doch hier geht es zunächst um den grundlegenden, epochalen Gegensatz, der als unversöhnlicher Antagonismus aufgerissen wird und auch im Bewußtsein Goethes - trotz aller „Kompromisse" - historisch nicht mehr von der Tagesordnung abtritt. E r faßt in direkter sozialer Adressierung ihn im Gegensatz von „polierter" und „charakteristischer" Nation. Da heißt es in der Rezension von Charakteristik der vornehmsten europäischen Nationen: „Charakter p o l i e r t e r Nationen! Werft die Münze in den Tie155

gel, wenn ihr ihren Gehalt wissen wollt; unter dem Gepräge findet ihr ihn in Ewigkeit nicht." D a s Umschmelzen einer Nation kann nicht anders denn als Revolutionsprozeß gedacht werden. „Sobald eine Nation poliert ist, sobald hat sie konventionelle Wege, zu denken, zu handien, zu empfinden, sobald hört sie auf, Charakter zu haben. Die Masse individueller Empfindungen, ihre Gewalt, die Art der Vorstellung, die Wirksamkeit, die sich alle auf diese eigenen Empfindungen beziehen, das sind die Züge der Charakteristik lebender Wesen. Und wieviel von alledem ist uns polierten Nationen noch eigen? Die Verhältnisse der Religion, die mit ihnen auf das engste verbundenen bürgerlichen Beziehungen, der Druck der Ge-* setze, der noch größere Druck gesellschaftlicher Verbindungen und tausend andere Dinge lassen den polierten Menschen und die polierte Nation nie ein eigenes Geschöpf sein, betäuben den Wink der Natur und verwischen jeden Zug, aus dem ein charakteristisches Bild gemacht werden könnte. Was heißt also nun Charakter einer polierten Nation? Was kann's anders heißen als Gemälde von Religion und bürgerlicher Verfassung, in die eine Nation gestellt worden ist, Draperie, wovon man höchstens sagen kann, wie sie der Nation ansteht. Und hätte uns der Verfasser dieses Werkchens nur soviel gesagt, nur gezeigt, wie die polierte Nation denn unter allen diesen Lasten und Feßlen lebt; ob sie sie gedultig erträgt, wie Isaschar, oder ob sie dagegen anstrebt, sie bisweilen abwirft, bisweilen ihnen ausweicht oder gar andere Auswege sucht, wo sie noch freiere Schritte tun kann; ob noch hier und da unter der Politur der Naturstoff hervorblickt, ob der Stoff immer so biegsam war, daß er die Politur annehmen konnte, ob die Nation wenigstens eigene, ihrem Stoff gemäße Politur hat oder nicht und dergleichen." Der Verfasser habe nur mit schönen Damen und Herren konversiert, und nichts sei schiefer als die schönen Damen und Herren, es sei alles „aus g u t e n Gesellschaften abstrahiert . . . Wie so gar anders würden oft seine Urteile ausgefallen sein, wenn er sich herunter gelassen hätte, den Mann in seiner Familie, den Bauern auf seinem Hof, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den ehrlichen Burger bei seiner Kanne Wein und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffeehaus zu sehen . . . Ihm war ganz Europa feines französisches Drama oder . . . Marionettenspiel." 44 Diese Rezension ist ein Geniestreich. Sie konzentriert auf ein paar Seiten, was die zeitgenössischen Historiker in der Regel nicht sahen. 156

Ich will hier nicht auf ihre Bedeutung als Programm einer bürgerlichen Nation gegen feudalabsolutistische Politur eingehen, zu der auch die Sulzersche Ästhetik der Harmonisierung gehört, nicht auf des jungen, durch Herders Schule gegangenen Goethe historischen Tiefblick, nicht auf die inhaltlich-soziale Neubestimmung der Termini des „Polierten" und „Charakteristischen". Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß „Natur", Naturstoff eben das ist, was von Politur, von der vorhandenen herrschenden Sozialordnung, ihrem Überbau, von der absolutistischen und ständischen Herrschaft negiert, unterdrückt, dem eigenen entfremdet wird. Politur ist fremde Form sozialen Inhalts, der im Gegensatz zu ihr steht, nur im Umschmelzprozeß seine Form gewinnen könnte, und doch schon real ist jenseits der Welt der Höfe, ständischen Hierarchie, der staatlichen Bürokratien, der Kirchen und guten Gesellschaft, die die falschen Töne angibt. Die „Nation" jenseits der Politur ist kein Ideal, sondern lebt in Arbeitssphäre, Familie und bürgerlichen Gesellungsformen, das „Kränzchen" ist notwendige Lebens-, Kommunikations-, ja selbst eine elementare Organisationsform dort, wo die politische Öffentlichkeit absolutistisch reguliert und manipuliert ist. Natur erscheint als Alternative zur Gesellschaft - nicht schlechthin, sondern als bürgerliche Alternative zur gegebenen Gesellschaft gewesener Stände und werdender Klassen im Versteinerungszustande, sie lebt dort, wo diese Politur abzuwerfen gestrebt wird, unter ihrer Kruste Leben sich regt. Politur als Staatsmaschine, offizielle Gesellschaft, Marionettendasein steht im Gegensatz zu einem menschlichen Dasein, das aus Eigenem ist, nicht entfremdet, nicht in vergewaltigenden Normen und Regulierungen denkt und fühlt; das zu sich, zum andern ein dementsprechend „unmittelbares" Verhältnis hat. Natur birgt, als soziale Substanz ihrer Idee, die Emanzipationsbestrebungen der feudaläbsolutistisch und ständisch unterdrückten Klassen, Schichten und Individuen gegen diese „Politur". Sie ist Formel bürgerlichen Utopismus, insofern hier bürgerliche Gesellschaft zur Geburt drängt, bürgerliche Individuen sich durchsetzen wollen. Sie enthält schon Momente darüber hinausgehender Utopie, insofern die bürgerliche Gesellschaft selbst ihre Politur erzeugt und auch schon zu erzeugen beginnt. Dem besondren Interesse verleiht der Titel der „Natur" die Würde des Allgemeinen, sieghaft Notwendigen, des geschichtlich Dauernden und zugleich Neuen gegenüber vergänglicher Unnatur. So steckt in Goethes Konzept der Natur zugleich der Gehalt der Rousseauschen Natur, und was als natürliche Alternative zur Gesell-

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schaft erscheint, ist die gesellschaftliche selbst - in entfremdeter Bewußtseinsform. Das zeigt an, wie diesem, dem Kern nach materialistischen Naturkonzept, sofern es die Objektivität der Natur, die Universalität ihres Zusammenhangs, der natürlich auch die Gesellschaft umgreift, betrifft, zugleich ein idealistisches Moment immanent ist. Dies gilt, insofern das Spezifische der Gesellschaft, der innere Zusammenhang ihrer materiellen Praxis, damit die Triebkräfte ihrer Entwicklung intendiert werden. Sofern sie der allgemeinen Natur subsumiert werden, kann nur eine außergesellschaftliche oder dem Menschen inhärente, innerlich-geistige vitale Triebkraft angenommen werden. Umgekehrt resultiert daraus wiederum, daß das Ideelle nicht als Produkt und Eigenschaft der menschlichen Gesellschaft, sondern als Attribut der Gesamtnatur gedacht werden muß. Was im Keim als Dialektik Mensch - Natur konzipiert ist, kann unter dieser Bedingung theoretisch nicht entfaltet werden. Darin spiegelt sich - im. Kontext der historischen Erkenntnismöglichkeiten - das durch die bürgerliche Ideologie vermittelte Verhältnis zu den Bewegungsprozessen und Zusammenhängen des gesellschaftlichen Seins: Was historisches Produkt, gesetzmäßiges Resultat gesellschaftlicher Praxis,, erscheint als „Natur". Auf philosophisch begrifflicher Ebene wird hier die Grenze sichtbar, die allgemein erst der Marxismus durchbrach. Diese Naturkonzeption des Goethe der Sturm-und-Drang-Zeit ist emanzipatorisch gegen Christentum und rationalistischen Idealismusgerichtet. Sie statuiert die Autonomie der Natur, ein Universum lebendig-selbsttätiger Physis eigenen Gesetzes, des Daseins „Göttlichkeit". Sie rehabilitiert Sinnlichkeit, Bedürfnis, physische Realität diesseitsorientierend und -bejahend. Sie negiert nicht nur die Ideologien und Theorien, die der Natur und des Menschen Physis, Eigenrecht, Selbständigkeit, Realität zum Derivat übernatürlicher und spiritueller Kraft und Wesens machten, also das Abbild und Produkt des Denkens zum Produzenten des Wirklichen. Sie negiert zugleich die Verhältnisse, deren Ideologien sie sind, in denen die Individuen als bloße Objekte der Staatsmaschine und ständischen Hierarchie, als deren Marionetten, in ihrer Sinnlichkeit, ihrer Erkenntnisfähigkeit und ihrem produktiven Aktionsdrang gehemmt, verkümmert, verbogen und unterdrückt werden. Es ist die Gesamtheit jener Basis- und Überbaubeziehungen, die Goethe unter „Politur" zusammenfaßte. Als Alternative dazu erscheint das in sich gegründete selbsttätige Dasein, erscheint die Selbsttätigkeit des Gefühls, des Erkennens und Handelns — 158

aus innerer, uneingeschränkter Notwendigkeit heraus, beschränkt allein durch den „notwendigen Gang des Ganzen". Aber das, was da selbsttätig gesellschaftlich sich produziert, äußert, vergegenständlicht, verkehrt durch die Bestimmung der „Natur" seine menschliche Subjektivität und wird zur Betätigung eines anderen, d^s Subjekts „Natur". Deshalb kann die gesellschaftliche Immanenz, der innere Gegensatz der Gesellschaft als Gegensatz von Natur und Unnatur erscheinen. So sehr Goethe aphoristisch herankommt an die Erkenntnis der geschichtlichen Dialektik von Mensch und Natur, hier verhindert sein pantheistischer Naturbegriff diese Erkenntnis, insofern er die „aktive Seite" zur Eigenschaft der Natur erhebt. Dieser Pantheismus ist geschichtlich gesehen - eine revolutionäre antifeudale Weltanschauung, ein religiös-poetisch umhüllter Materialismus; er fordert und fördert das empirische naturwissenschaftliche Forschen. Sein Konzept substantieller Gleichheit und Göttlichkeit der Menschen negiert feudale Ungleichheit, ist aktualisierbar als Waffe gegen politische Ungleichheit, gegen das Herr-Knecht-Verhältnis und reicht dank seines Sensualismus bis zur Artikulation der Klassengegensätze der bürgerlichen Gesellschaft, damit der Ansprüche der Massen gegenüber dem Reichtum. Ebendies Konzept der Gleichheit, der „Gottesrechte des Menschen" läßt seine politischen Funktionen von der Emanzipationsforderung des bürgerlichen Individuums zur Emanzipationsforderung der „Nation", des dritten Standes, bis hin zur weltanschaulichen Motivation des utopischen Sozialismus saint-simonistischer Richtung sich entfalten. E s ist - alles in allem gesehen - eine weltanschauliche Illusion der „schönen Revolution". Diese Illusion zerbricht an der Entfaltung der Klassengegensätze des Kapitalismus. Der, der die äußersten sozialen Konsequenzen aus dem Pantheismus zu ziehen suchte - und dennoch desillusioniert ihn dann preisgab und preisgeben mußte - war Heinrich Heine. Blicken wir zurück auf den Goethe der siebziger und beginnenden achtziger Jahre! Die pantheistische Weltanschauung in ihrer Gedanken, Anschauung, Gefühl umgreifenden Einheit, die sein Selbstverständnis und Weltverhältnis ideell vermittelt und ausdrückt, war die weltanschauliche Form seines Ausbruchs aus den moralisch-politischen, religiösen und ästhetischen Normen und Regulierungen der „polierten" Gesellschaft. Wir haben die gnoseologisch-ideologische Schranke betont, historisch zu Unrecht gegenüber dem großartigen Beginn angesichts der gegebenen Erkenntnismöglichkeiten, zu Recht, insofern wir eben nicht anders können, als vom Standpunkt materia159

listischer Gesellschaftswissenschaft Goethes Erkenntnisleistung zu bewerten, wollten wir nicht in gedankenloser Deskription verweilen. Und wir können nicht nur das illusionäre Element feststellen, sondern auch daß und warum hier entfremdete Verhältnisse konkret sehr tief und dennoch mit Allgemeinbegriffen, die selbst den Stempel dieser Entfremdung tragen, widergespiegelt werden, daß und wie die Macht der objektiven realen Verhältnisse über ihre Widerspiegelung triumphiert. Und wir wissen heute, daß erst bei entsprechendem Entwicklungsgrad der in der bürgerlichen Gesellschaft hervorgebrachten Produktivkräfte, bei einem ebensolchen G r a d der Entwicklung des proletarischen Klassenkampfes - nach der industriellen Umwälzung und politischen Umgestaltung - dieser ideologische Bann durchbrochen, Gesellschaft theoretisch-materialistisch begriffen werden konnte. Aber das gilt nicht auf gleiche Weise für Poesie und bildende Kunst; hier stoßen wir auf einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen Poesie und theoretisch-wissenschaftlicher Erkenntnis. Was unvermeidlich pedantisch - als Erkenntnisgrenze in bezug auf die theoretisch-wissenschaftliche Welterkenntnis festgestellt wurde, hat in der poetischen Aneignung und Erkenntnis andre Funktion. E s wird - als Komplex der unter dem Titel „Natur" zusammenschießenden Beziehungen - zum Hebel, Goethes poetische Weltaneignung zu entgrenzen, zu befreien, und zwar auf eine - im Verhältnis zur theoretischen Erkenntnis - nicht überholbare Weise. Was in der Theorie ideologischer Ausdruck der Bürgerlichkeit war, in dessen rebellischer Formulierung schon der spätere bourgeoise Konservatismus sich verbirgt, der die eigene soziale Vergänglichkeit mit der Illusion unvergänglicher Natur verteidigt und gegen die sozialistische Entwicklung zu behaupten sucht, was zugleich theoretisch inadäquates Selbstverständnis der rebellierenden Avantgarde ist - das führt in der Poesie zur befreiten Selbstaussage und -darstellung, vermittelt die Entfaltung eines reichen konkreten Gehalts jenseits regulierender und regulierter abstrakter Allgemeinäussagen. Was in der Theorie das Menschliche unter der Form „Natur" entfremdet, als deren Erscheinung abwertet, entfaltet sich in der Poesie als Entdeckung gerade ihres menschlichen Wesens. In dieser Theorie versinkt menschliche Aktion letztlich in der Selbsttätigkeit der Natur. In der Poesie, die an die wirklichen Erfahrungen und Erscheinungen gebunden ist und diese ausspricht, gelangt die dadurch legitimierte menschliche Subjektivität in ihrem Anspruch auf Selbsttätigkeit zur Sprache und tritt mit der Objekti160

vität der Natur in ein wechselseitiges Bestätigungsverhältnis, das die Objektivität des Menschlichen konstituiert - so wie in der PrometheusOde. die objektive Natur, Zeit und Schicksal, und die Faktizität, Objektivität und Macht eigener Tat, eigener Produktion, eigener „Hütte" einander entsprechen. Die Illusion von der „Subjektivität" der Natur als Individuum wird in der Poesie zur Darstellung der natürlichen Weltzusammenhänge, Prozesse in ihrer Objektivität und Eigengesetzlichkeit - und zum Hebel, das Universum der Natur der Sprache des Menschlichen, als dessen Widerschein und Spiegel, zu erobern. „Wie herrlich leuchtet mir die Natur" kann Goethe singen im Überschwang seines Mailiedes und eine unerhörte Bestätigung seiner Subjektivität erfahren - und zugleich erkennen „Denn unfühlend ist die Natur", unabhängig, objektiv existierend, wirkend nach eigener Gewalt und Notwendigkeit jenseits menschlicher Moralität und Wünsche. In beiden Beziehungen werden nicht Informationen über die Natur gegeben, sondern im ersten aus aktiver Beziehung zu ihr ein Bestätigungsverhältnis erfahren, im zweiten ihre Objektivität gefaßt, ihre Unabhängigkeit vom Menschen ausgesprochen. Sie wird auch nicht durch Beseelung „versubjektiviert". Wenn es heißt „Schon stand im Nebelkleid die Eiche, / Ein aufgetürmter Riese, da, / Wo Finsternis aus dem Gesträuche / Mit hundert schwarzen Augen saih"45 - so ist das Emphatisch-Phantastische Erfahrung des Objektiven, keine „Aussage" über Augen der Finsternis, sondern Bilderfahrung des Objektiven. In dieser wechselseitigen Bestätigung, in der Natur als freie und selbständige Welt der Selbständigkeit und Aktivität des Individuums korrespondieren, ist der dichterische Produktionsakt selbst Akt der Emanzipation von Politur, darin Selbstfinden in Ausdruck und Entdecken der Wirklichkeit jenseits von Illusion und Repression, jenseits der äußeren und inneren Politur. E r schließt das Sprengen der Bindung einer das Individuum depravierenden, fesselnden gesellschaftlichen Praxis ein. In seinen menschlichen Beziehungen - so in der Liebesbeziehung - erfüllt sich eine wechselseitige totale Menschlichkeit der Partner. Darin liegt ein Moment utopischer Erfüllung, der Verwirklichung gestauter Möglichkeit. Dieser Prozeß ist im lyrischen Gebilde objektiviert. Es trägt deshalb in sich Negation und Position, reproduziert die Dialektik des Gesellschaftsprozesses. Versuchen wir diesen Zusammenhang an einem Beispiel zu verdeutlichen.

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Heise, Realistik

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Zur Wahrheit des Gedichts Auf dem See Und frische Nahrung, neues Blut Saug ich aus freier Welt; Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hält! Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf, Und Berge, wolkig himmelan, Begegnen unserm Lauf. Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? Goldne Träume, kommt ihr wieder? Weg, du Traum! so gold du bist; Hier auch Lieb und Leben ist. Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne, Weiche Nebel trinken Rings die türmende Ferne; Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht. 46 Ganz durchsichtig erscheint dies Gedicht: Herrliche Ruderbewegung des Anfangs, Unterbrechung durch schmerzliche Erinnerung, diese wird abgeschüttelt - und große bewegte Naturbilder sprechen die neu gewonnene innere Ruhe, die Harmonie mit der Natur aus, versprechen neue glückliche Lebensfahrt. Äußerer Vorgang ist die Ruderfahrt auf dem See in sehr real gesehener Umgebung, innerer Vorgang ist das Überwinden der Erinnerung und Hinwenden zum Gegenwärtigen. Betrachten wir die letzten acht Zeilen: Welch eigentümliche Zeitbewegung sich da abzeichnet! Nur zur Nacht spiegeln sich die Sterne im Wasser, dann steigen die Nebel, Morgenwind erwacht, und das Spiegeln der reifenden Frucht verlangt helleres Licht. Lakonisch zusammengezogen ist es der Weg von Nacht zum Morgen. 162

Erinnert sei hier an ein Beispiel, in dem Goethe dies Motiv des Wandels von Nacht zu Morgen ausführt: In der ersten Szene des zweiten Teils des Faust begegnen wir dem Chorgesang der Elfen, der Naturgeister. Vier Strophen führen von Dämmerung zu Schlaf und Nacht, da die Sterne „Glitzern nah und glänzen fern; / Glitzern hier im See sich spiegelnd, / Glänzen droben klarer Nacht . . ." Die dritte Strophe verspricht Faust Gesundung am Erfüllungsbilde „Und in schwanken Silberwellen / Wogt die Saat der Ernte zu". Die vierte Strophe fordert angesichts der Dämmerung Faust auf zu Erwachen und neuer Tat. Faust, vorher vernichtet in der Tragödie Gretchens, fand im Schlafe - jenseits moralischer Läuterungsvorstellungen - Heilung, ward erquickt, erneuert durch der Naturgeister - der Natur Wirken, das ihn in Schlaf versenkte, sein Innres vom erlebten Graus reinigte, denn - „Ob er heilig, ob er böse, / Jammert sie der Unglücksmann"! Faust erwacht angesichts der heraufziehenden Sonne: „Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig . . ." 47 Der Wandel von Dämmerung zu Nacht und Morgen umschließt Fausts Heilschlaf. Natürlicher Kreislauf, tägliche Lebenserneuerung verweisen in der Elfen Gesang auf weitere Zusammenhänge: auf des Universums Einheit und auf den Verjüngungscharakter des Lebens selbst. In der Schicksalskrise der Gretchenkatastrophe ist dies Fausts „Stirb und Werde": E r zerbricht nicht, obwohl er moralisch vernichtet scheint. In des Dramas Geschichtsprozeß ist dies Aufhebung der Endgültigkeit des Tragischen, das freilich auf höherer Stufe wiederkehrt, selbst Moment der Geschichtsbewegung ist, ihrer Vorwärtsbewegung. Es wird weder abgemildert noch „versöhnt", sondern „aufgehoben" im Zusammenhang geschichtlichen Fortschreitens. Was kosmischer Kreislauf, ist geschichtliche, lebens- und gattungsgeschichtliche Entwicklung, deren Medium wohl, aber nicht Inhalt die Wiederholung des Kreislaufs ist. Diese Bewegung wird von Goethe nicht als moralische Läuterung verstanden. Auch Orest in Iphigenie wird nicht entsühnt, sondern geheilt. Diese von pantheistischer Weltauffassung her entworfene Geschichtsperspektive findet eine charakteristische Parallele bei Hegel so gegensätzlich beide auch in bezug auf Natur und Geschichtsperspektive dachten: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und in der Verwüstung rein bewahrt, sondern ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerissenheit sich selbst findet; Diese Macht ist er nicht als das Positive, das von dem Negativen 11»

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wegsieht. . ., sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt." 46 Adorno verspielt diese Macht, weil er - hegelisch gesprochen - die einfache Negation verabsolutiert, die Negation der Negation aber verneint, die Position preisgibt und damit die Dialektik - als Methode und Theorie. Das kleine Gedicht Auf dem See ist - wenn auch auf milderer und begrenzter Stufe - Darstellung solcher Lebenskrise und -erneuerung. Seine Kraft liegt mit darin, daß es schweigend und gestenlos, unausdrücklich auf die allgemeine lebensgeschichtliche Dialektik deutet, verweist. Befreit aufatmend ist der Anfang, das Ich - nicht die empirische Person, sondern das lyrische Ich - saugt Kraft und Nahrung aus freier Welt, eine unfreie hat es verlassen, inbrünstig klammert es sich an die Natur, dankbar, und in großem Rhythmus treibt die Ruderbewegung. Dann, da Erinnerung ihn übermannt, der goldene Traum verführerisch und verlockend erscheint, weil da noch Verführbares blieb, das Losreißen vom Vergangenen schmerzlich war, die unfreie Welt zwar Ketten, doch goldene immerhin barg, geschieht die innere Entscheidung: Die Erinnerung trägt in sich die Krise, die Entscheidung löst sie, ruckhaft, schmerzhaft, endgültig, als Zuwendung zum Gegenwärtigen. Kraft, aus der freien Welt gesogen, befähigt dazu. Das Ankommen, Hineinstürzen, Anklammern an Natur als freie Welt in der ersten Strophe wird abgelöst von der Selbstauseinandersetzung, dem Selbstgespräch der zweiten - in der dritten erscheint nur noch objektive Natur. Jede Doppelzeile entwirft ein Bild, Etappen einer gesetzmäßigen Bewegung: Das All der Sterne spiegelt sich im See, deutet auf den physischen Zusammenhang von Universum und Irdischem, nicht als Stillstand und ruhendes Altarbild, sondern als Ruhe der großen Ordnung; Nebelsteigen, Morgenwind sind die nächsten Etappen des Übergangs von Nacht zum Tage - und das Bild der reifenden Frucht verspricht Erfüllung, Ernte. Ein ruhig schwebender Wellenrhythmus umfängt das Ich im großen Einklang gelassener Bewegung. Der in der ersten Strophe atemlos unruhig erscheint, ist von dieser ruhigen Bewegung erfüllt. Der in der ersten Strophe ankam, ist jetzt zu erneuertem Aufbruch, zu frischem Tun bereit und fähig. Die äußere Natur bleibt ein Gegenüber dem Ich und spricht es als objektive, von ihm unabhängige Realität zugleich an und aus. Sie schert sich nicht um den inneren Vorgang, und dennoch erscheint er in ihrem Spiegel. Sie erscheint, wie sie der Erfahrung erscheint, in knappsten lakonischen 164

Bildern - jeweils aber in der Erscheinung für den Menschen, in diesem Sinne beobachtbar: Welle, Berge wolkig himmelan, Sternenschein; Nebelsteigen, Morgenwind, umschattete Bucht, im See sich spiegelnde, reifende Frucht: jedes Bild nennt nur Notwendigstes, um die Erscheinung, die erfahrene Wirklichkeit hervorzurufen. Sie fragt nicht hierbei nach inneren, nur wissenschaftlich-begrifflich bestimmbaren Zusammenhängen. Was sich ändert, ist das Erscheinen in wechselnder Optik, die Beziehung des Ichs zur Natur. Erst in der dritten Strophe ist die vollkommene Freiheit in der Beziehung beider hergestellt. Gerade weil Natur in ihrer stummen Objektivität hier erscheint im großen Werdevorgang, spiegelt dies des Ichs neu gewonnene Selbständigkeit, die in der heftigen Bewegtheit der ersten Strophe fehlte. Im ruhig-bewegten Bilde spricht die Selbständigkeit der Natur - und des Ichs. Diese Freiheit wird im Gedicht hergestellt. Auf ihr basiert die Handlungsbereitschaft und -fähigkeit: Erst das ruhig in sich gegründete Subjekt ist handlungs- und wirkungsfähig. Die Kraft, die es aus der Natur sog, ist seine eigene. In der freien Welt erneuerte es sich. In der reifenden Frucht erfaßt es ein stummes Versprechen seiner Zukunft. Was ist der „Gegenstand" dieses Gedichts? Eine bestimmte Fahrt auf dem See, auf der eine Entscheidung fällt. Dies als Erfahrung, innere Aktion und Wechsel der Zustände. Das ist nicht die „Sache" und doch die Sache. Zunächst: Wir erfahren weder den realen Anlaß, das Motiv, noch, wovon das Ich sich befreite, was der Inhalt des goldenen Traumes ist oder welcher See da befahren wird, nur daß es ein See im Gebirge sei. Und wenn wir nun feststellen, daß es sich um die Entfernung von Lili Schönemann handelt, der Frankfurter Bankierstochter, daß die Fahrt auf dem Züricher See geschah - Goethe erzählt davon im 18. Buch von Dichtung und Wahrheit49 so hilft das wenig zum Verständnis dessen, was da gedichtet ist. Gewiß ist der Ausgangspunkt die reale Gelegenheit, die bestimmte Erfahrung, innerer und äußerer Zustand, die ausgesprochen werden. Da ist kein Strich, können wir ein Wort Goethes zu den Wahlverwandschaften anwenden, der nicht erlebt, und keiner so, wie er erlebt wurde. Doch welch Abstraktionsvorgang wird sichtbar! Der spezielle, biographisch faßbare Inhalt des inneren Vorgangs ist verschwunden, die Lokalisierbarkeit des Ortes - irgendein Gebirgssee - bleibt. Was auf Goethe als empirische Person in positiven und negativen Beziehungen zu anderen nennbaren Personen Bezug hat, versinkt. Der bestimmte einzelne Inhalt des inneren Vorgangs und dieser Erfahrung sind aufge165

hoben. Was bleibt? D a s Allgemeine des psychischen Vorgangs. W a s als individueller Prozeß in anschaulicher Situation und Umgebung da lyrisch dargestellt wird, in höchster poetischer Konkretheit, hat einen ganz allgemeinen Gehalt, der f a ß b a r wird in den drei Strophen: und das ist der eigentliche Gegenstand: der Befreiungs- und Erneuerungsprozeß. E r liegt nicht jenseits des lakonisch Gesagten. D a s „im geistigen Spiegel zusammengezogene Bild" - das, was aus dem W i r k lichen, Erfahrenen gemacht wurde - deutet genau auf diesen Prozeß, dies Allgemeine - auf den Befreiungs- und Aneignungsakt des Subjekts; genauer gesagt: läßt ihn im Sprachwerden, im Sagen erscheinen und vollziehen. Und das ist das „Gesetzliche", das zur Erscheinung kommt in dem Bilde, in dem der Dichter „ganz äußerlich" den Vorgang erzählt. Dies „Gesetzliche", wie es Goethe nennt, manifestiert sich in der Befreiungsbewegung aus der polierten Welt, in dem Gewinn von innerer Freiheit und Selbständigkeit, im Entdecken eigener K r a f t und der Objektivität der N a t u r . Und solch begriffliches Fixieren ist schon Vergröberung, Auflösen der Bewegung in Stadien, komplexer Beziehungen in einseitige und eindeutige, des Widersprüchlichen ins Logisch-Einsichtige. Jedes dieser Glieder ist Knotenpunkt von Aktions-, Erfahrungs- und Gefühlsbeziehungen, von Weltbeziehungen, die über das Bild hinausführen, in jeder Intonation angeschlagen werden in der subjektiven Bewegtheit der Dialektik von Weltaneignung und Erneuerung. Wie gierig ist jene und zugleich Schritt, sich selbst zu finden, in neue Aktion zu bringen: „Ich saug an meiner N a b e l s c h n u r / N u n Nahrung aus der Welt. / U n d herrlich rings ist die Natur, / D i e mich am Busen hält . . Z'50 So beginnt die erste Fassung, eher glücklich auftrumpfend denn Bewegung, zugleich kindhaft-inferiorer als in der endgültigen. Die Abstraktion, die gezeigt wurde, ist Kehrseite der Verallgemeinerung: des Allgemein-Setzens des Resultats. Vielmehr: das ist E n t decken, Hervorheben, Aussprechen eines Allgemeinen, das im Besondren da e r f a ß t wurde, und das Besondre ist nur so weit sagenswert, als es im Bilde zum Aussprechen des Allgemeinen zusammenschießt, den Kunstschein des Konkreten gewinnt. Und gerade dadurch verweist es auf weiteste weltanschauliche Beziehungen und Zusammenhänge. D e r Gegenstand unseres Gedichts ist nicht faßbar, stellen wir ihn uns dinglich vor oder als vorgegebenen Tatbestand, der einfach abgebildet wird. E r ist auch nicht identisch mit dem, was unmittelbar gesagt und gezeigt wird. D a n n wäre das Gedicht Information über

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stattgefundene Seefahrt und als solche äußerst unvollständig. Er ist also nicht identisch mit dem Gegenständlichen und ohne dieses wiederum auch nicht. Er wird poetisch erfaßt im Gesagten und im Sagen selbst, in der Einheit zugleich von Objektivierung des Subjektiven und Erfassen äußerer oder vorgegebener Realität. E r schließt das Allgemeine ein, auf das das Besondre hindeutet. Und das ist eben die Struktur des geistigen Emanzipationsprozesses, eines Verhaltens, das Gedanke und Gefühl, vor allem Aktion, Beziehungsbewegung zur gesellschaftlichen und allgemeinen Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Subjekts umfaßt. Und ebendiese Aktionsstruktur objektiviert sich in der Bewegung des Gedichts. Was da in fixer Form geronnen, wird in der Rezeption flüssig. Die Struktur umfaßt die Relation von Befreiung und Aneignung, die Dialektik von Negativität und Positivität, bezogen auf den wirklichen gesellschaftlich-geschichtlichen Lebenszusammenhang. Was da im Gedicht in individueller Wiedergeburtsakt in diesem Sinne ist - und das Gedicht ist der objektivierte Akt, seine Produktion ist dessen ideeller Vollzug im Komplex der Beziehungen, der hier im Besondren und am Besondren als ein individueller sich vollzieht - , ist seinem Gehalt nach ein kollektiver, seiner Bedeutung nach ein gesellschaftlich objektiver, insofern im geschichtlichen Lebensprozeß selbst zu vollziehender und vollzogener, in dieser Kollektivität und Objektivität jedoch unendlich variabel unter der Voraussetzung, daß da Menschen aus entfremdenden Bindungen zu neuen Ufern aufbrechen und aufbrechen müssen, in der Befreiung ihre Selbsttätigkeit und -erfüllung suchen und im Suchen betätigen. In der poetischen Abbreviatur einer individuellen Lebensentscheidung und -wende ist somit ein kollektives und geschichtlich Allgemeines eingeschlossen, die Einheit von Befreiung und Aneignung als Aktstruktur objektiviert, damit ein permanentes Bedürfnis, permanente Möglichkeit menschlichen Verhaltens. Diese Permanenz ist selbst geschichtlich. Doch diese Struktur ist so allgemein, daß sie als Utopie bürgerlichen Aufbruchs entworfen - weit genug ist, die Forderung, daß die freie Entwicklung des Einzelnen Bedingung der freien Entwicklung aller sei, aufzunehmen. Das bedingt ihre Allgemeinheit, die eine Form darstellt, die im fortschreitenden Geschichtsprozeß neue Inhalte aufzunehmen fähig ist. Und die undefinierbare Schönheit dieses Gedichts beruht mit darauf, daß es - in der Spannung von bestimmtem sinnlichem Dasein in bestimmter Umwelt zu allgemeinsten geschichtlichen Zusammenhängen - in seiner Wende 167

eine Zukunftsbewegung, das Aufbrechen zu neuen Ufern bewahrt, daß es nicht ein statisches Vollenden, sondern eine Perspektive der Tätigkeit entwirft, genauer sie im Bilde der sich vollendenden Natur evoziert. In welchem Sinne können wir von der Wahrheit dieses Gedichts sprechen? Nicht im Sinne einer Aussage, in die es sich zusammenpressen ließe - was seine Überflüssigkeit beweisen würde. Nicht im Sinne einer gegenständlichen Information über ein bestimmtes Erlebnis, wenn sie auch nicht ohne bedingungslose Wahrhaftigkeit und ohne das Gegenständliche des Gesagten wäre. Sie liegt in dem kommunizierbaren Zur-Erscheinung-Bringen dieses Strukturell-Allgemeinen emanzipatorischen Handelns des individuellen Subjekts. D a s ist allgemein genug, für jeden besondren Rezeptionsakt mit besondren Inhalten erfüllt, Selbst- und Weltaneignung im geistigen Akt zu ermöglichen. Und diese Struktur hat Goethe nicht erfunden. Sie ist sozial-historische Realität. Sie ist real nur im sozialen Emanzipationsund Aneignungsprozeß. E r hat sie Sprache werden lassen. Wenn wir das Aktiv-Tätige daran übersehen, aus der „Wahrheit" ausklammern, diese den ruhenden Abbildern in Relation zu ruhenden Sachverhalten nur zuschlagen, würden wir die Wirklichkeit dieses Tätigen negieren. D i e Ebene, auf der von Wahrheit die Rede nur sein kann in diesem Zusammenhang, sehe ich also fundiert in dieser Allgemeinheit der Emanzipationsstruktur. Als allgemeine ist sie Möglichkeit, bezogen auf die gesellschaftlichen, praktisch sich verhaltenden Menschen in ihrem historischen Prozeß. Eine andre Wahrheit als die über menschliches Sein und menschliche Möglichkeit leistet Poesie nicht. Wahres über außermenschliche Wirklichkeit ist ihr Mittel. Auf ihre Weise vergegenständlicht sie die Menschenwelt, Welt nur in bezug auf den Menschen, aber hier formiert sie mit Bedingungen, unter denen Wahrheit unserer Gedanken und Vorstellungen möglich wird. Ist da nicht zu viel hineingelesen in das Gedicht? E s ist doch so harmlos, natürlich, menschlich, so schön - wozu die schweren Umwege über Wiedergeburt und allgemeine Strukturen? Die Frage, die ich mir stelle, ist nicht, was Goethe sich alles gedacht haben mag, sondern was diesem Gedicht, in seinem individuellen Sosein, eine solche Dauerwirkung, eine solche unvergängliche, bislang nicht vergangene Frische verleiht. Und dies kann nicht die längst erledigte Liebesgeschichte, nicht sein Dokumentarisches, nicht eine Landschaftsschilderung usw. sein, nicht ein einmaliges „Erlebnis", sondern dies sprachliche Gebilde muß so beschaffen sein, daß es ein Dauerndes, im A u 168

genblick Erfülltes und diesen eben dennoch Überdauerndes zur Sprache, daß es, wenn wir es rezipieren, uns zur Sprache, zum Sprechen bringt - auch dann, wenn es uns nicht um Flucht aus Liebesbindung und „guter" Gesellschaft geht. Es muß eine allgemeinere, nicht außerhistorische, doch Epochen überdauernde, historisch entstandene und nicht ausgedachte, sondern reale Möglichkeit solcher Erfahrung, solchen Verhaltens geben, die uns tiefer angeht als der völlig gleichgültige Liebeshandel eines gut bürgerlichen Rechtsanwalts, der aus seiner Haut schlüpfen will. Und die Totalität einer Weltbeziehung, die dies Gedicht vermittelt, verweist sie nicht auf Grundbeziehungen, die wir in bezug auf uns selbst, auf die Wirklichkeit eingehen, auf allgemeinste Zusammenhänge, die wir „weltanschauliche" nennen? Liegt nicht in der Befreiung des Gefühls, das da zu so bildlichem Ausdruck gelangt, und im Inhalt dieses Gefühls eine Weltbeziehung, ein Entwurf, der immer neu auszufüllen ist? Und eben in dieser Allgemeinheit eine „Wahrheit", die nur indirekt, auf Umwegen theoretisch explizierbar ist? Von der „Natur" gingen wir aus - und landeten beim Menschen. Von einer historischen Parole der „Natur", einer Emanzipationsideologie, die theoretisch inadäquat, ja „falsch" war, gingen wir aus. Und wir sahen, wie sie im poetischen Prozeß Geburtshelfer, Vermittler von Wahrheit ist: nicht in dem, was theoretisch gesagt, sondern poetisch gezeigt und vollzogen wird. Gezeigt wird nicht nur ihr Wahres - das voll bejahte, reale Diesseits ohne Transzendenz - , sondern gerade ihr Ideologisches, worin die Rebellion gegen die deutschen Zustände sich artikulierte, worin bürgerlicher Protest, individuelle Rebellion und Emanzipationsaktion sich verstanden, setzte das realistische Zur-Sprache-Bringen der Subjektivität, der menschlichen Realität und Möglichkeit frei. Das charakterisiert Goethes Poesie besonders den Ansturm der frühen Epoche - als historische VorabendPoesie, ideelle und individuelle Vorwegnahme der Umwälzung der Zustände, gegen die er rebellierte. Und die Größe dieser Rebellion ist zu messen an der Emanzipationsstruktur dieser seiner „intimen" Lyrik. D a scheinen mir Bestimmungen wie Erlebnisdichtung, Ausdruckssprache usw. doch den wesentlichen Gehalt zu verfehlen, wie auch, diesen Gehalt auf die expliziten ideologischen, kritischen, direkt rebellischen Momente zu reduzieren und das „Persönliche" als E r gänzung zu betrachten.

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Wandrers Nachtlied Goethes Brief an. Frau von Stein vom 6. September 1780 verlangt nähere Betrachtung. Wir kennen jetzt Umstände, Situation, Umgebung, Landschaft. Ein resignativer Zug gegenüber den praktisch-gesellschaftlichen Aufgaben wird deutlich: Ermüdet weicht Goethe aus: dem Wust des Städtchens, der „unverbesserlichen Verworrenheit" der Menschen, ihren Klagen und Wünschen. Die außermenschlich-landschaftliche Natur erscheint als Alternative: Der Himmel ist rein, die Aussicht groß, aber einfach, die Gegend rein und ruhig so rein, so ruhig, uninteressant wie die große schöne Seele, wenn sie sich am wohlsten fühlt. Natur erstarrt in Bewegungslosigkeit, wenn nicht der Rauch der Meiler langsam aufstiege . . . Winckelmanns Konzept der großen Seele, die stoisch ruhig bleibt in Schicksalsstürmen, klingt an, die Landschaft wird zum Erfüllungsbilde ihrer Ruhe. Der Brief wurde in Etappen geschrieben; die erste enthält den Tagesbericht: Ausweichen aus der Verworrenheit des Städtchens auf den Gickelhahn, Resümee („Wenn nur meine Gedanken . . ."), der Tag war ermüdend, nicht befriedigend, aber auch nicht fruchtlos gewesen - und Aufbruch zur Betrachtung des Sonnenuntergangs; in der zweiten Etappe wird die Landschaft nach Sonnenuntergang beschrieben; und nach der Schlafpause, dem Warten auf Briefe und Wein schließt Goethe den Brief ab. Offensichtlich ist das Resignieren nicht absolut, mischt sich mit Zufriedenheit; die Müdigkeit ist keine tödliche Erschöpfung, denn angefangene Gedanken werden weiter bewegt; die Einsamkeit nach der Zerstreuung des Tages öffnet den Raum der schriftlichen Zwiesprache mit der Geliebten und Vertrauten. Die in Nacht versinkende Landschaft bietet ein Bild der Ruhe, des Ruhigwerdens, dessen er bedarf, das er wünscht und sucht, das zugleich Sammlung, Ordnung, Klarheit bringen soll: Die Landschaft erscheint klar, ruhig, rein, groß; Kontrast zur verlassenen Unruhe des Tages, zu dem, was ihn selbst rastlos und verworren machte. Mir scheint es am wahrscheinlichsten, daß Wandrers Nachtlied nach dem Briefe in der Nacht geschrieben wurde. Nicht nur, weil es unerwähnt bleibt, auch weil die Stille, das Akustische dominiert, nicht das Optische, nicht der Übergang von Dämmerung zum Dunkel genannt wird - der Tag ist schon versunken. Der Brief zeigt - auf vielfältige Weise - das Faktische, das Goethe umgab, das er vor Augen hatte, 170

das er selbst war in Sein und Tun. Das Gedicht zeigt, was er daraus machte. Der Brief selbst ist schon eine Aktion, Distanz zur Tagesverworrenheit und Anstrengung zu gewinnen, in der Aussprache sich zu entladen, zu klären, und er berichtet im Naturbilde vom Selbstberuhigungs- und Klärungsprozeß, wie er zugleich die nachwirkende Unrast dokumentiert. Diese geht das Gedicht an, nachdem die letzte Tätigkeit erledigt ist. Die äußere Distanzierung von der Stadt entfernt von der eigenen amtlichen Geschäftigkeit, vom Tun des im Getriebe Umhergetriebenen, sie geht über in den Prozeß der inneren Distanzierung von der inneren Geschäftigkeit, in der jene nachklingt, weiterwirkt, sich selbst fortsetzt, den, der sie betreibt, zugleich als Macht beschäftigt - Resultat der Eindrücke, Bestätigungen und Verwundungen des Tages; inneres Weitertreiben der Tätigkeit, Gespräche, ungelöste Widersprüche in der fiebernden Unruhe zwischen Wollen und Können, Absicht und Resultat, Erwartung und Erfahrung, Erfolg und Scheitern. Doch darin geht das Subjekt nicht auf. Was es treibt, bedrängt, in Unrast quält, ist wesentlich sein Verflochtensein in Zusammenhänge, die es nicht beherrscht, durchschaut, nicht ordnen kann, das sich nun als innerer Widerspruch wiederholt. Das Gedicht ist gerade das Zur-Ruhe-Bringen dieser Unruhe, ist Aktion, von den weitesten weltanschaulichen Zusammenhängen her Distanz zu sich zu gewinnen, sich zu ordnen, sich von der Unruhe zu befreien. So könnte es sein - und Goethe hat oft genug auf diese innere Befreiungsfunktion hingewiesen, die sein Dichten für ihn gehabt. Ist das Gedicht nun „Abbildung" der Natur, aus deren Zusammenhang heraus die eigene Unruhe klein erscheint? Hat Goethe ein „Erlebnis" der Natur und seiner selbst dargestellt? Seine Sehnsucht nach Ruhe ausgedrückt? Wir sehen, daß ohne die objektive Natur und deren Erfahren, daß ohne die Tageserfahrung und deren Gehalt, daß ohne den widersprüchlichen inneren Zustand das Gedicht nicht wäre. Aber versuchten wir, nüchtern den durch die Worte prosaisch vermittelten Informationsgehalt in bezug auf die Natur zu bestimmen, so wäre es sehr dürftig. Suchten wir aus des Gedichts Wortlaut prosaisch den bezeichneten inneren Zustand festzustellen, ebenfalls. Und jeder empirische Kritiker könnte mit höchstem Recht mitteilen, was da Goethe alles übersehen, verschwiegen, subjektivistisch verzerrt habe, daß in der Natur ja keine solche Ruhe wäre, daß die allgemeinen Behauptungen unberechtigte Verallgemeinerungen, unbe171

weisbar und unbewiesen seien - wenn das kein Gedicht, sondern eine prosaische Mitteilung, eine Aussage, die Sachverhalte abbildete, wäre. Und doch hat Goethe Natur in dem, was er sagt und nicht sagt, worauf er deutet und was unser Vorstellen, Erinnern, Assoziieren mobilisiert, „abgebildet". Und doch hat er sich, seinen Zustand, seine Sehnsucht „abgebildet". Da haben wir nun auf der einen Seite das kleine Gedicht - auf der anderen kennen wir, gestützt auf das Briefdokument, mehr oder weniger genau die Realität, auf die das Gedicht sich direkt-indirekt bezieht, aus der es hervorgegangen ist; wir können die allgemeinen Naturbedingungen angeben, die sozialen Verhältnisse, innerhalb deren sich Goethe abmühte, seine subjektiven Zielsetzungen, deren Vorgeschichte, könnten bei genauerer Kenntnis sagen, was er warum so und nicht anders erfahren, mit diesen oder jenen subjektiven Wertungen auffassen mußte. Wenn Sehnsucht nach Ruhe aus dem Gedicht spricht, so können wir - freilich mit einiger Phantasie und doch gewisser Wahrscheinlichkeit - uns vorstellen, wie solch Tag beschaffen, aus dem diese Sehnsucht resultierte. Fragen wir nun nach der Beziehung dieses Gedichts zu dieser Wirklichkeit - so fällt auf, daß alle konkreten Gegenstände, alle Realerfahrung, die Beziehungsfülle der Praxis in ihm verschwunden sind. Mochte Goethe bestimmte Gipfel und Wälder vor Augen gehabt haben und auf sie sein „alle" bezogen haben: dem Gedicht ist nicht zu entnehmen, welche es waren. Der ganze Reichtum innerer und äußerer Gegenstände, Tätigkeiten, Erfahrungen ist reflektiert und summiert in der subjektiven Unruhe und Müdigkeit. Alle Mannigfaltigkeit ist zusammengezogen im Kontrast zwischen Naturruhe und der Unruhe dessen, der mit Du angesprochen, zugleich das die Ruhe beschwörende lyrische Ich ist. Welch ungeheure Abstraktion fand hier statt, in der das einzelne, adressierbar Wirkliche unterging - und wclche Konzentration, die im Moment vor dem Einschlafen die Summe des gelebten Tages in der Unruhe nur gestisch, in dem sehnsüchtigen Verlangen nach Ruhe, das im Tröstenden des Versprechens aufklingt, andeutet! „Was von meinen Arbeiten durchaus und so auch von den kleineren Gedichten gilt, ist, daß sie alle, durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmittelbaren Anschauen irgendeines Gegenstandes verfaßt worden, deshalb sie sich nicht gleichen, darin jedoch übereinkommen, daß bei besonderen äußeren, oft gewöhnlichen 172

Umständen ein Allgemeines, Inneres, Höheres dem Dichter vorschwebte." 51 Suchten wir eine Abbild- und damit Wahrheitsbeziehung nur in der Relation zwischen Gedicht und vorgegebener benennbarer gegenständlich-anschaulicher Realität, so können wir nur einige Momente angeben, die in äußerster Abstraktheit und Verkürzung bewahrt sind. Sie betreffen die äußeren und die inneren „Sachverhalte". Sie sind aufgehoben, verwandelt in Momente der Gegenständlichkeit des Gedichts, seines Bildes. Die Gipfel sind nicht mehr die Thüringer Berge, und die empirische Person Goethes ist nicht mehr das lyrische Ich. So deutlich ist, daß ohne diese Momente die neue Bildgegenständlichkeit nicht hätte entstehen können, so deutlich ist, daß es unmöglich ist, aus dem verbal Bezeichneten einen eindeutig zu begrenzenden Gegenstand anzugeben. Versuchen wir die Bewegung des Gedichteten, den poetischen Vorgang zu fassen: Über Gipfel, Wald, Tierwelt wandert die Ruhe auf den Wanderer zu, sie „kommt über ihn", ein großer objektiver Zusammenhang erscheint, ein ungeheures Ruhen, Stille des Universums und aus deren Objektivität und Gewalt erwächst die Gewißheit: Balde ruhest du auch. Und umgekehrt zugleich: Es ist der Unruhige, der auf die große Stille lauschend weist, sie ist ihm Argument, sich selbst das Zur-Ruhe-Kommen zu versprechen. Keine fremde, seine eigene Kraft ist es, die Ruhe bringt. Es ist seine eigene „natürliche" Kraft - und doch geht es um viel mehr denn um bloßen Schlaf als biologische Regeneration. Goethe spricht allgemeiner von „Ruhe" die den Gegensatz zu äußerer und innerer Unruhe an sich hat. Die Ruhe der Natur gewinnt - ohne daß es ausgesprochen, aber im Gegensatz zur Unruhe des Wanderers unübersehbar angedeutet wird den Charakter der Alternative zu menschlicher Unruhe. Es ist nicht eine Identität von Mensch und Unruhe, sonst wäre das menschliche Zur-Ruhe-Kommen nicht möglich. Die Ruhe der Natur gewinnt den Charakter des Gegensatzes zu menschlicher Friedlosigkeit, ihre Einheit zu einer menschlichen Disparatheit, und zugleich - was außen ist, ist innen - wird sie Kraft und Zustand, der dem Wanderer Frieden bringt - und er selbst ist es, der ihn herstellt. Das Objektive der Natur verweist auf das Subjektive - die kommende, die herzustellende, die im Gedicht werdende Eintracht und den Einklang des Subjekts mit sich und seiner „Natur": Dies ist das Umgreifende einer gestischen Bewegung, die zu den Gipfeln beschwörend weist und zum Du führt. Und doch behauptet das Gedicht den Einklang nicht 173

als Faktum. E s offenbart nicht, was eh und je, nur verborgen, schon da sei. D e r Einklang ist, vom unruhigen lyrischen Ich ausgesprochen, Ziel der inneren Aktion, der Sehnsucht, des Bedürfnisses - und zugleich Bewußtsein eines dem Menschen Notwendigen und Natürlichen, Gewißheit und Aufruf seiner Kraft, ihn herzustellen. Das entspricht der Utopie in Goethes Naturbegriff. Poetisch wird hierdurch Natur zu Spiegel, Widerschein und Korrespondenz des Menschlichen, ohne ihre Objektivität aufzugeben. Das Allgemeinere und Höhere, das dem Dichter vorschwebte, scheint mir die Idee solchen Friedens, solchen Einklangs zu sein, gewonnen aus dem G e fühl universeller Einheit der Natur, die das Menschliche umschließt. W i r könnten diesen Gedanken heute nicht mehr mitvollziehen. Aber Goethe treibt hier nicht ein Gemisch aus Natur- und Sozialphilosophie. E r bringt die Sache im Anschauen zum Sprechen. E r gewinnt von seiner Naturkonzeption her die Möglichkeit, im individuellen, subjektiven Gefühl den allgemeinsten weltanschaulichen Gehalt zu finden, im erfüllten Augenblick und seinem Zufälligen ein Allgemeines zu fassen, in der Naturgestalt produktiv erneuernde K r a f t des Menschen und im Menschen allgemein Notwendiges zu erspüren, und dies ohne die Ebene des Gefühlten und Angeschauten, des Bildhaften zu verlassen. Und das gelingt, weil Goethe eben nicht vorgegebene „Gegenstände" einfach abschildert. Das Gegenständliche des Gedichts liegt in der Einheit von Welt und realem Subjekt, das kein außerweltliches ist. Das Gedicht ist Lebensvollzug des Subjekts selbst, Entäußerung und Objektivierung des Inneren im und am Äußeren, Objektivierung in der Kollektivität der Sprache, dem kommunikativen Gestus des Sprechens und der Gegenständlichkeit des Bildvorgangs. Als Lebensakt ist das Gedicht selbst Aktion und Ausdruck, als Gestaltung im Wortgebilde, als Selbstbefreiung eine Selbstgestaltung. Dadurch werden zugleich die inneren Beziehungen, die innerlich gespeicherte individuelle und kollektive Geschichte in diesen Prozeß' eingebracht, in ihm in Aktion gesetzt, damit Weltanschauung - nicht als fixes Resultat, sondern als Prozeß praktiziert. Was erfaßt wird als Dialektik von Mensch und Welt, als „Menschenwelt", wird aktiv zugleich betätigt und ausgedrückt. Das Subjektive ist kein Nurinneres, sondern über die Innerlichkeit vermittelte gesellschaftliche Objektivität in ihrer Allgemeinheit und ihrem praktischen Prozeßcharakter. Diese Dialektik des Subjektiven kreist nicht in sich, sie ist nur, weil sie übergeht in die Dialektik des Objektiven, das Gegen174

ständlich-Besondre des Gedichts trägt in sich und organisiert die B e ziehung auf weiteste welt-anschauende Zusammenhänge der Realität, freilich in bezug auf den Menschen, so sie nicht selbst menschliche Realität ist. Dadurch entsteht ein kaum ausdeutbarer Beziehungszusammenhang des unmittelbar Gesagten, das in Gestus, Intonation, Bildlichkeit über sich hinausdeutet, ganz „äußerlich", ganz Vordergrund ist und dennoch immer weitere, erst im Nachvollzuge sich erschließende Verweisungszusammenhänge eröffnet. Und diese Bewegung vom Vordergrund zum „Allgemeinen" organisiert sich über, die Form, die sich hier wieder als geronnener Inhalt erweist, über die „Herstellungsstruktur" dieses dichterischen Sagens, die dadurch grundsätzlich über das Nur-Individuelle, über jede bloße Beruhigung des Ich hinausgreift ins Gesellschaftliche, in deren Struktur der Widerspruch von Individuum und Gesellschaft durchscheint und die Intention seiner Lösung - und eben dies in zartestem, nicht begrifflich fixierbarem Andeuten, Verweisen, InAktion-Versetzen, ein Perspektivisches beschwörend, das aus subjektiver Aktivität seinen Horizont erst gewinnt. Fragen wir nach dem Gegenstand dieses Gedichtes, so kann man sicher den Vordergrund fixieren. D i e Frage ist, in welchem M a ß e falschen Antworterwartungen dabei gefolgt wird. Ist doch der Vordergrund ebenso Erscheinung wie Wesen, die Sache und nicht die Sache, Gesagtes und Gezeigtes. D i e Gegenständlichkeit erschließt sich erst der Bewegung des Bedeutens und Bedeuteten im schon durch das Sozial-Allgemeine der Sprache vermittelten Allgemeineren dieses Besonderen. Und Gegenstand wäre nicht das, was der Poet als Allgemeineres selbst faßte, sondern das, was er dadurch an Objektivem sichtbar macht, genauer, erfaßbar macht. Gegenstand wäre in diesem Sinne das menschlich-gesellschaftliche Objektive, das hier im G e dicht und durch das Gedicht zur Sprache kommt - mindestens seine objektive Gegenständlichkeit, die seinen Wahrheitsbezug im letzten bestimmt. Und die Gegenständlichkeit dieses Gedichts ist eben nicht dingfest zu machen, jedoch darum nicht weniger real. I m individuellen Gedicht als Einheit von Sagen und Gesagtem erscheint als - nicht ausgesprochener, und wenn begrifflich fixiert, schon vereinseitigter objektiver Gehalt die menschliche Erneuerungskraft in der Dialektik ihres Kampfes, zugleich Sehnsucht nach „Einklang", Bedürfnis, den Menschen einengende, zerstreuende, übermächtigende, zerstörende Widersprüche zu überwinden im Einklang miteinander und sich 175

selbst, dies als Intention jener Kraft. Es wäre'meines Erachtens schon falsch, hier begrifflich eindeutig zu werden, gerade weil das Gedicht Ahnung und Tendenz vermittelt, nicht die Sache darstellt, die dennoch objektive reale Handlungstendenz ist, geschichtlich erzeugt, reproduziert in ständiger Erneuerung. Goethe hat sie nicht erfunden, sondern empfunden und ausgesprochen. Aber ebendiese Vielschichtigkeit und der Verweisungscharakter des Gedichts bedingen, daß es rezipiert wird in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen. Können wir auch aus Goethes poetisch-philosophischer Bildlichkeit allgemein nachweisen, daß ihm Ruhe nicht Todesruhe und -starre, so wird der, dessen Beziehung zum gesellschaftlichen Leben in der Erfahrung und Haltung von Lebensqual und -Überdruß sich fixiert, das aktive Moment übersehen, er wird blind dafür sein, weil es sich erst in der eigenen, vom Gedicht organisierten Aktivität erfassen läßt. Und wie ist dies Gedicht mißverstanden worden als nur individuelle Ruhe, Flucht ins Private in romantischer Illumination! Gerade weil das Gedicht keine Anweisung zum Handeln, ist seine Rezeption von der subjektiven Aktionstendenz her - damit ideologisch-sozial und sozialpsychologisch - determiniert. Sein Wörtliches ist um so vieldeutiger, je weniger seine individuelle Form und damit Aktionsstruktur begriffen wird. Es macht gerade seine bildhafte Allgemeinheit, daß es lebendig rezipierbar bleibt, solange gesellschaftliche Praxis selbst Sehnsucht nach Ruhe und Einklang produziert, solange sie Natur als Bild befreiender Ruhe gegenüber ihrer Unruhe erfahren läßt, solange ihre Unruhe, Widersprüchlichkeit, ihr Angestrengtsein und tägliches Wundenschlagen in der Sehnsucht nach Einklang und Ruhe zugleich einen Indikator, ein Vehikel der Kraft, diese zu erkämpfen, findet. Ist Wandrers Nacbtlied ein Naturgedicht? Nein, ein Gedicht menschlicher Selbstdarstellung, für die Natur Spiegel, Sprache und objektives Sein ist. Goethe hat darin ein Grundprogramm bewährt, das er in einem Brief an Johanna Fahimer vom März 1775 formuliert hatte: „Ich bin müde über das Schicksal u n s e r e s G e s c h l e c h t s von Menschen zu klagen, aber ich will sie darstellen, sie sollen sich erkennen, wo möglich wie ich sie erkannt habe, und sollen wo nicht beruhigter, doch stärcker in der Unruhe seyn."52

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Zur Krise des Klassizismus

1 Wolltest Herrlichstes gewinnen, Aber es gelang dir nicht. Wem gelingt e?? - Trübe Frage, Der das Schicksal sich vermummt, Wenn am unglückseligsten Tage Blutend alles Volk verstummt. Doch erfrischet neue Lieder, Steht nicht länger tief gebeugt: 1 Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt. So endet des Chores Trauergesang zum Tode Euphorions - gegen Ende des dritten, des Helena-Aktes im zweiten Teil des Fattst. Die Verheißung reißt den Horizont der Tragödie auf, sie läßt den naturund geschichtsphilosophischen Gesamtzusammenhang des Faust aufleuchten, die Aufhebung - nicht Abschwächung - des Tragischen im universellen geschichtlichen Prozeß natürlicher und menschlicher Produktivität. Euphorion entsprang der Ehe von Faust und Helena - dieser E h e zwischen der geschichtsvergangenen, zum Idol, zum fortwirkenden Urbild der Schönheit gewordenen Helena, der zu erneuter, traumhafter Wirklichkeit, deren Scheincharakter ihr bewußt ist, gebrachten, und Faust, der ganz gegenwärtigen Abbreviatur der Emanzipationsgeschichte von der Renaissance zur Aufklärung bis an die Schwelle des kapitalistischen Zeitalters. Euphorion ist Kind des glückhaften Augenblicks ihrer Vereinigung, eines Augenblicks, der aus dem Ablauf der Zeit heraustritt, in dem die Zeit als Geschichte still zu stehen scheint, der im utopischen Arkadien sich erfüllt, wirklich-unwirklich: „Es ist ein Traum, verschwunden Zeit und Ort". E r umschließt die Vereinigung von Griechenland und dem Norden, An12

Heise, Realistik

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tike und Moderne - „Vergangenheit sei hinter uns getan" im Augenblick geschichtsgeborener und geschichtsenthobener Schönheit. Dieser erfüllte Augenblick muß vergehen, das Kind der Vereinigung, Lebenskonzentrat und lebensunfähig in einem, zerbrechen. Euphorion, die ebenso mythologisch-antike wie moderne Gestalt, Bild der Poesie und menschlicher Naturgewalt von romantisch-heroischer Unbedingtheit, er sprengt Sitte und Gesetz, erhebt sich, des Lichts begierig, zum tödlichen Absturz. „Ein schöner Jüngling stürzt zu der Eltern Füßen, man glaubt in dem Toten eine bekannte Gestalt zu erblicken; doch das Körperliche schwindet sogleich, die Aureole steigt wie ein Komet zum Himmel auf, Kleid, Mantel, Lyra bleiben liegen." Mit dem Chorlied verstummt die Musik, die große Oper, in deren moderner Gestalt hier Antike beschworen und angeeignet ward, klingt aus. Euphorions Tod besiegelt, „daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint". Helena entschwindet wie ein Traum aus Fausts Armen, nur Kleid und Schleier behält er zurück. Der Schleier gehört zu Goethes Symbolen für die Kunst, er zeigt Schein und Wahrheit in einem, das Bild der Sache und ihre Verhüllung und darin ihr Wesen. 1 Doch der Schleier ist nicht nur Schein fürs Auge; Phorkyas-Mephisto weiß um seine Kraft: . . . Halte fest! Die Göttin ist's nicht mehr, die du verlorst, Doch göttlich ist's! Bediene dich der hohen, Unschätzbarn Gunst und hebe dich empor: Es trägt dich über alles Gemeine rasch Am Äther hin, solange du dauern kannst. Als schwebende Wolke trägt Helenas Schleier Faust in neue Landschaft zu neuer Produktivität und neuem Tatengenuß, bringt ihn ins Hochgebirge, entschwebt dann zum Horizont. Noch einmal gestaltbildend und sich verwandelnd erscheint in phantasmagorischem Schein das antikische, göttergleiche Frauenbild, „spiegelt blendend flüchtger Tage großen Sinn". Tragisch ist die Begegnung von Faust und Helena, als sie zu dauern, als Kunstschein Lebenswirklichkeit, als Antike Gegenwart zu sein beanspruchten. Tragisch ist Euphorions Tod. Doch scheitert diese Begegnung nicht schlechthin, als sie produktiv ist. Ihr entspringen die neue Poesie, die Musik, sie entbindet Fausts Aktionsfähigkeit. Von der Dumpfheit der Leidenschaft befreit, wird er tatfähig. 178

Was ihn befreite, war die Schönheit als Lebensmacht, war die Kunst, die als scheinbare Lebenswirklichkeit zerrinnender Traum ist, als Lebensprodukt und formende Kraft aber den großen Sinn der flüchtigen Tage bedingt. Während Helena zu den Schatten zurückkehrt, gehen ihre Mägde, der Chor, ein in den lebendig-schöpferischen Prozeß natürlichen Werdens, verwandeln sich in Elemente von Baum, Quelle und Rebstock - und in bacchantischer Lebensbejahung verklingt der HelenaAkt: „Denn um neuen Most zu bergen, leert man rasch den alten Schlauch!" Die Zäsur zwischen den Akten ist Zäsur nicht nur in Fausts Entwicklung. Die Schönheit als Traum, die Wiedergeburt antiker Schönheit in der Kunst und Geburt der neuen Kunst, die Griechenwelt als verschwindendes Kunstgebilde, dessen Verschwisterung mit dem Leben zerbricht, erscheinen einer neuen Welt konfrontiert, die nun Fausts Aktionsraum wird. Die neuen Taten, Entscheidungen, Lebenskonflikte, denen Faust sich jetzt stellt, entspringen - historisch gesehen - dem Werden der bürgerlichen Gesellschaft, des Kapitalismus als neuer weltgeschichtlicher Gestalt. Das, was da erscheint, ist zu Beginn des vierten Aktes für Faust jetzt Vergangenheit flüchtiger Tage. Reuelos-verjüngt nimmt er den Kampf gegen die Elemente, mit der Wirklichkeit auf - „Die Tat ist alles, nichts der Ruhm" - , und jetzt hebt der neue Kampf, die Dialektik von Besitz und Gewalt als Bedingung neuer Produktivität an. Die Welten der Klassischen Walpurgisnacht und des Helena-Aktes sind Vergangenheit in vielfacher, sich durchdringender Beziehung: zunächst als Epoche in Fausts Leben, in der er der griechischen Vergangenheit begegnete - als zauberisch beschworener phantastischer Gegenwart. Diese Begegnung selbst ist Vergangenheit, weil geraffte Geschichte der Griechenbegegnung von den ersten mörderischen Barbarenstürmen bis zu Byrons Tod vor Missolunghi. Beide Zusammenhänge zeigen das endgültige Vergangensein der antiken Welt gegenüber der modernen, wobei die Antike selbst geschichtlich-prozeßhaft gesehen wird: Der Schönheit Helenas ist die grandios-häßliche Frühwelt nicht nur in der mythologischen Gestalt der Phorkyas konfrontiert. Das menschengeschichtliche Werden erscheint im umfassenderen Zusammenhang des natürlich-geschichtlichen universellen Werdens. In der klassischen Walpurgisnacht wird die Schönheit selbst Ergebnis solcher Naturgeschichte, die das gesetzliche Werden zum Men12*

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sehen einschließt. Die Darstellung der Geburt der modernen Poesie und Musik, die eben nicht nur für sich selbst stehen, stellt diese nicht nur dar, sondern hebt sich als Spiel, als poetisch-phantasmagorisches Gebilde ins Bewußtsein, das selbst geschichtlich bestimmt und vergehend ist. In kaum andeutbarer Vielbödigkeit durchdringen sich natur-, geschichts- und kunstphilosophische Zusammenhänge, ineinandergearbeitet am Gedanken der Produktivität und des universellen schöpferischen und geschichtlichen Werdens. Sie bestimmen Medium und Gehalt der Begegnung Faust-Helena als Spiel, in dem die Realität der Epoche aufgehoben und das gerade dadurch geschichtlich relativiert, auf die Epoche deutend bezogen erscheint. Im Spiel des Ganzen verläßt Faust eine geschichtliche Welt der Erinnerung, des Spiels, des schönen Scheins - und wendet sich praktischen Zielen zu. Die Erneuerung griechischer Schönheit war Illusion, nur Faust schuf sie. Sie war Kunstschönheit, erfüllter, vergehender Augenblick, als Lebensersatz aber Illusion, und sie war eben nicht Wiederholung, sondern Begegnung, Neubildung, als solche notwendig. Als Phorkyas dem Chor Euphorions Geburt verkündet, als „Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen Melodien / Durch die Glieder sich bewegen . . . " sieht dieser darin nur Wiederholung: „Alles, was je geschieht / Heutigen Tages, / Trauriger Nachklang ist's / Herrlicher Ahnherrntage!" - In der Replik heißt es: „Euer Götter alt Gemenge, / Lasst es hin, es ist vorbei. / Niemand will euch mehr verstehen . . ." Und dies als Übergang zur Musik, zu einer herzergreifenden Melodik, die zur Oper sich entwickelt, zu dem, was modern-romantisch. Unauflösbar ineinander verwoben vollzieht sich im symbolischen Spiel als traumhafte Kunstwirklichkeit die Verabschiedung der klassizistischen Utopie, die im vergangenen Griechenland Modelle bürgerlich-künftiger Menschlichkeit und Lebensformen gesucht hatte, und die Verabschiedung der Illusion der Kunstepoche, der Illusion einer hypertrophen Gegenüberstellung von Kunst und Wirklichkeit - als historisch-philosophische Relativierung des Griechisch-Klassischen und des Klassizismus. D a s vollzieht sich als Rechtfertigung der Kunst in der Notwendigkeit ihres Entstehens, ihrer geschichtlichen Gestalt, der nur ihr eigenen Leistung und Funktion - bei voll bewußter Zäsierung eines Epochenwandels: Die neue Epoche läßt das Leben in der Kunst als Illusion erscheinen, die ganze Periode

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klassizistischer Norm aber als eine Phase geistiger Formung zur Tatfähigkeit, die abgeschlossen ist. Goethe reflektiert im Faust seine geschichtlichen Erfahrungen der Epoche zwischen Französischer Revolution und 1830, verarbeitet diese unter dem Aspekt der Kunstproduktion im Widerspruch zwischen vorrevolutionärer klassizistischer Utopie der bürgerlichen Umwälzung und deren faktischem Prozeß und Resultat. Es ist nicht zufällig, sondern entspricht dieser Problemstellung, d a ß die Neuzuwendung zum Faust, dessen Ausweitung zum eigentlichen philosophischen Menschheitsbefreiungsdrama und poetischen Epochenentwurf in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, mit dem beginnenden Begreifen der bürgerlichen Revolution in langwährendem Verarbeitungsprozeß einsetzt. Die Entwicklung der Konzeption Goethes für den zweiten Teil ist nicht unser Thema. Ihre Analyse würde die historische Logik der Phantasie Goethes, den epochalen Aneignungsprozeß und die Einbildung seiner Resultate in den Stoff beziehungsweise dessen Artikulation als poetische Sprache erhellen - und dabei auch den Prozeß der Distanzierung, wie er sichtbar wird an Momenten des Komischen, Ironischen, Parodistischen. Im Ergebnis ist eine Position geschichtlichen Selbstverständnisses erreicht, die im Medium des Poetischen nicht nur das klassische Griechenland, auch die Tradition und geschichtliche Beziehung zu ihm bis hin zur eigenen Bildungsepoche historisch begreift und begrenzt. Doch soll nicht behauptet werden, der „Sinn" dieses Aktes gehe darin auf.

2 Goethe hat im zweiten Teil des Faust in einem epocheumspannenden Verarbeitungsprozeß geschichtlicher Erfahrungen den Klassizismus zu seinem äußersten Ende bringen, überwinden und realistischdialektisch wie geschichtsphilosophisch aufheben können. Darin verwirklichte er seine produktiv-methodische Rezeption der Antike, er richtete sich auf die reale Welt und suchte sie auszusprechen. In der Perspektive einer Menschengeschichte als Geschichte fortschreitender Produktivität und des Kampfes um deren Existenz- und Entfaltungsbedingungen erscheint in poetisch symbolischer und allegorischer Darstellung als nächste, aber eben vorübergehende Etappe die stürmisch revolutionär und kriegerisch anhebende neue bürger-

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liehe Gesellschaft mit ihren neuen Widersprüchen. Die Antike als Medium des schönen Scheins und Erinnerung gehört zur Entbindung ihrer Kräfte - wie der Kräfte ihrer geistigen Bewältigung. Hatte Goethe in Pandora noch versucht, die revolutionäre kriegerische Gegenwart im Medium des Spiels mit antiken Figuren poetisch zu gestalten und in der Vereinigung von Produktivität und Schönheit die utopische Vision einer humanistisch ersehnten und geforderten Zukunft zu entwerfen, so hatte er diesen Versuch aufgeben müssen. Die Widersprüche und Gewalt der neuen Gesellschaft als Gegenstand sprengten den ästhetischen Schein des antiken Kostüms als Kunstsprache. In der inkommensurablen Produktion des Faust verabschiedete Goethe mit dem Klassizismus seine ästhetische Utopie und stellte sich auf neue poetische Weise, einer weder hinreichend ausgeschöpften noch „überwundenen", der neuen Wirklichkeit. Blicken wir auf die Revolutionsjahre zurück! 1789 schrieb Johann Heinrich Campe, der Aufklärer, Pädagoge, Philologe und Jugendschriftsteller, aus dem revolutionären Paris hingerissen vom Erlebten: „Ob es wirklich wahr ist. .., daß ich in Paris bin? Daß die neuen Griechen und Römer, die ich hier um und neben mir sehe, wirklich vor einigen Wochen noch - Franzosen waren? Daß die großen wunderbaren Schauspiele, die in diesen Tagen hier aufgeführt worden sind und noch täglich aufgeführt werden, keine Geschöpfe meiner Phantasie, kein Traum, sondern Tatsachen sind?" 2 Und Campe beschreibt die Nation in dem Zustande ihrer noch fortdauernden Wiedergeburt zu einem „neuen, kraftvolleren, edleren und glücklicheren Dasein.. ."3, „. . . das große Schauspiel eines ganzen der Sklaverei entronnenen Volkes in den Momenten seiner politischen und moralischen Wiedergeburt.. ,"4 Nicht ohne nationale Selbstkritik analysiert er die Ursachen des Sieges „der Menschenrechte über die unnatürlichen Anmaßungen des Despotismus" und führt hier zuerst die „Aufklärung" an. „Denn wir merkten nicht, daß die Tätigkeit des Geistes in diesem Lande eine ganz andere Richtung genommen. Sie hatte sich von der Poesie zur politischen Beredsamkeit, von der Bearbeitung der schönen Wissenschaften überhaupt zum Nachdenken über die Rechte der Könige und ihrer Untertanen, von den theatralischen Belustigungen zur Erörterung wichtiger Fragen aus der Staatswissenschaft g e w a n d t . . . Das Volk wurde über seine menschlichen und bürgerlichen Rechte aufgeklärt; es lernte sein eigenes großes Interesse kennen." 5 182

Campes begeisterte Darstellung zeigt, was ihm beim Anblick der revolutionären Menge als erstes einfiel: daß diese verwirklichte, was die Griechen und Römer vorgelebt, republikanische Bürgertugend und freie politische Selbstbestimmung. Die klassische republikanische Antike war ihm selbstverständliches, parates Ideal, Maßstab und Norm - als idealisierte griechische Polis und römische Republik. Die Revolution erscheint ihm im Modell einer Wiedergeburt, die verwirklicht wiederbringt, was als Ideal ein Vergangenes, was ideale Vergangenheit gewesen. D i e Wiedergeburt - sei es der Tugend, die vom Despotismus zerstört wurde, sei es einer menschlichen Natur, die das despotische politisch-soziale Feudalsystem unterdrückt und verkümmert hatte, diese Wiedergeburt gewinnt die K r a f t ihres Sieges aus vorhergehender Aufklärung des Volkes über sein großes Interesse, über seine - gleichsam von Natur und Vernunft aus bestehenden - bürgerlichen und menschlichen Rechte. Campe spricht aus, daß Intention der Aufklärung solche „Wiedergeburt" war, daß im Ideal antiker Tugend und Schönheit der bürgerliche revolutionäre Citoyen sich verbarg. Der Anblick der Revolution zeigt, was gesucht und versucht worden. D i e Wirklichkeit scheint zu zeigen, was in den klassizistischen Formeln, ihren Akteuren und Träumern in den Konsequenzen oft nicht bewußt, enthalten war. Schon als Winckelmann Jahrzehnte vorher die Nachahmung der Alten als Weg, selbst unnachahmlich zu werden, gefordert hatte, lag in seiner Sicht des klassischen Griechentums dessen Voraussetzung — die „edle Freiheit", und in der Nachahmung diese wiederum als Konsequenz. Campe glaubte der Verwirklichung seines Ideals zu begegnen und fand sich im Selbstverständnis der Revolutionäre bestätigt. Dennoch war dies eine Illusion. E s gehört heute keine besondere historische Einsicht dazu festzustellen, daß nicht die Polis oder römische Republik wiedergeboren, sondern die moderne bürgerliche Gesellschaft politisch geboren wurde, als sie die sozialen Herrschaftsverhältnisse und die politische Form der vorhergehenden feudalen Formation abschüttelte. Die schöne und stolze Form des griechischen Tempels verbarg das wirkliche Heiligtum dieser neuen Gesellschaft: die Börse. Campes Briefe sollen hier nur als Beispiel dienen, wie geschichtliche Erfahrung nach Modellen antikisierender Idealbildung organisiert und interpretiert wurde. Zahlreiche andere Belege ließen sich aus den Äußerungen der deutschen Parteigänger der Revolution beibringen. Wesentlicher ist, daß deren Akteure selbst ihr Handeln

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nach dem Modell der antiken Stadtrepublik, ihrer Gesetzlichkeit, Freiheit und Tugend verstanden, motivierten, regulierten und sich so ihrer selbst in einem fremden Medium bewußt wurden. Auf die Gründe, die geschichtliche Notwendigkeit solcher aus der idealisierten antiken Vergangenheit bezogenen Ideale, auf deren praktische Bedeutung, den Widerspruch zur wirklichen Praxis wie darauf, daß sie gerade durch ihren illusionären Charakter den Bedürfnissen dieser Praxis der geschichtlichen Umwälzung entsprachen, hat Marx hingewiesen. In seiner Polemik gegen Bruno Bauer schrieb er in der Heiligen Familie zur heroisch-illusionären Ideologie der Jakobiner zur Zeit des Höhepunkts der Revolution: „Robespierre und Saint Just sprechen ausdrücklich von der antiken, nur dem .Volkswesen' angehörigen Freiheit, Gerechtigkeit, Tugend. Spartaner, Athener, Römer zur Zeit ihrer Größe sind freie gerechte tugendhafte Völker . . . Robespierre, Saint Just und ihre Partei gingen unter, weil sie das antike, realistisch-demokratische Gemeinwesen, welches auf der Grundlage des antiken Sklaventums ruhte, mit dem modernen spiritualistisch-demokratischen Repräsentativstaat, welcher auf dem emanzipierten Sklaventum, der bürgerlichen Gesellschaft, beruht, verwechselten. Welch kolossale Täuschung, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der Industrie, der allgemeinen Konkurrenz, der frei ihre Zwecke verfolgenden Privatinteressen, der Anarchie, der sich selbst entfremdeten natürlichen und geistigen Individualität - in den Menschenrechten anerkennen und sanktionieren zu müssen, und zugleich die Lebensäußerungen dieser Gesellschaft hinterher an einzelnen Individuen annullieren und zugleich den politischen Kopf dieser Gesellschaft in antiker Weise bilden zu wollen." 6 Und die Notwendigkeit dieser Illusion - im Sinne einer Bedingung, die gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen des Kapitalismus herzustellen - und damit der Tragik ihres und ihrer Akteure Scheiterns hat Karl Marx in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte dargelegt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf den Gehirnen der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, ent184

lehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen . . . Camille Desmoulins, Danton, Robespierre, St. Just, Napoleon, die Heroen, wie die Parteien und Masse der alten französischen Revolution vollbrachten in dem römischen Kostüme und mit römischen Phrasen die Aufgabe ihrer Zeit, die Entfesselung und Herstellung der modernen bürgerlichen G e sellschaft." D e r Grund: „Aber unheroisch, wie die bürgerliche Gesellschaft ist, hatte es des Heroismus bedurft, der Aufopferung, des Schreckens, des Bürgerkriegs und der Völkerschlachten, um sie auf die Welt zu setzen. Und ihre Gladiatoren fanden in den klassisch strengen Überlieferungen der römischen Republik die Ideale und die Kunstformen, die Selbsttäuschungen, deren sie bedurften, um den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen und ihre Leidenschaft auf der Höhe der großen geschichtlichen Tragödie zu halten . . . " D o c h : „Die neue Gesellschaftsformation einmal hergestellt, verschwanden die vorsündflutlichen Kolosse und mit ihnen das auferstandene Römertum - die Brutusse, Gracchusse, Publicolas, die Tribunen, Senatoren und Caesar selbst." 7 Marx' Bemerkungen verweisen darauf, daß der Zusammenhang zwischen dem illusionären Charakter der weltgeschichtlichen Totenbeschwörung und den praktischen Bedürfnissen der bürgerlichen Umwälzung gesetzmäßig ist. E r erwächst aus der Spontaneität des Geschichtsprozesses im allgemeinen, im besonderen aus den notwendigen Aktionsbedürfnissen der bürgerlichen Umwälzung, welche die allgemeine politische Herrschaft einer besonderen, beschränkten, ausbeutenden Klasse nur im Namen der Allgemeinheit, nur durch die Unterstützung des Volkes herstellen konnte - und schließlich aus den aus der ökonomischen Struktur erwachsenden Bedingungen der Bildung des gesellschaftlichen Bewußtseins, vor allem der politischen Ideologie und der durch diese vermittelten Organisationsbeziehungen in der werdenden bürgerlichen Gesellschaft. Voraussetzung der Wahl gerade der römischen Republik als idealisiertes Vorbild ist die ganze Tradition der Antikerezeption seit der Renaissance, in der auf eine den bürgerlichen Emanzipations- und Entwicklungsbedürfnissen entsprechende Weise weltgeschichtliche Kontinuität ideologisch bewußt hergestellt, aufgegriffen und weitergeführt wurde. Und blicken wir auf die Entwicklung in Deutschland, 185

wo die politische Revolution auf Grund der Unreife der Verhältnisse noch nicht auf der Tagesordnung stand, der Dritte Stand sich politisch nicht formiert hatte, vielmehr die kulturell-ideologische Emanzipation sich vollzog, so dominierte hier, wenn auch nicht ausschließlich, Griechenland als klassisches Modell, hier erfüllte das Bild der griechischen Polis die Funktion, wenn auch vermittelter, eher moralisch denn politisch, die für die unmittelbare revolutionäre Praxis in Frankreich das Ideal der römischen Republik erfüllte. Der Griechenlandtraum seit Winckelmann formuliert in Gestalt der weltgeschichtlichen Totenbeschwörung ein Zukunftsbild, antizipiert auf historisch-ästhetische Weise künftige Praxis, artikuliert das idealisierte Eigene im Vergangenen, Fremden. Seit der Wiederentdeckung der römisch-griechischen Antike im Gegensatz zu mittelalterlich-kirchlich vermittelten Traditionen hat sich ein sehr breites Spektrum unterschiedlicher Traditionsbeziehungen und -wählen ausgebildet. Die Unterschiede ergeben sich vor allem daraus, daß Traditionswahl ein aktiver Akt, Selbstartikulation und -bestätigung in einem ist, wenn auch oft genug illusionäre. Die Differenzierung entstand je nach Entwicklungsphase aus unterschiedlichen sozialen und nationalen Interessen und kulturideologischen Konstellationen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, wodurch dann verschiedene Aspekte und Phasen der Antike als vorbildlich gewertet wurden. Unterschiede ergaben sich ferner aus den variablen Bedingungen ideologischer Emanzipation und Formierung im Bereich der politischen und juristischen Ideenbildung, der Philosophie und Naturwissenschaft, der Poesie und bildenden Kunst. Unterschiede ergaben sich aus dem Gang der tatsächlichen Erschließung des antiken Erbes, das historisch differenzierter zu verstehen einen über Jahrhunderte sich hinziehenden Erkenntnis- und Entdeckungsprozeß erforderte. Schließlich mußte die je gewonnene autoritative Tradition, entsprechend je neuer sozialer und ideologischer Entwicklung, selbst wieder in Frage gestellt, zerbrochen, je die eigene Wahl neu errungen werden - trotz aller Kontinuität gelehrter Materialerschließung, da sie jeweils in einen klassenmäßig bestimmten Kulturzusammenhang integriert wurde. Am Rande erinnert sei an die anfänglich normative Rolle der römischen Kaiserzeit, die Erhebung der Vermittlung der Künste zum Original, an deren absolutistische ästhetisch-ideologische Rezeption und deren Abschüttlung, an die Fixierung klassizistischer Formen als akademisch-aristokratische Norm im Widerspruch zu realistischen Bestrebungen - Caravaggio in Italien und Rembrandt in Holland - in 186

unterschiedlicher sozialer und nationaler Frontbildung; an die Neuentdeckung der griechischen Originalität in der Phase der Herausbildung einer breiten bürgerlichen weltlichen Kultur seit der Wende zum 18. Jahrhundert, verbunden mit der Entdeckung der Originalität Homers und seiner Überlegenheit gegenüber Vergil und dergleichen. Die klassische Bildung hatte als weltlich-kulturelle eine bürgerlich emanzipatorische Funktion, versteinerte jedoch immer wieder als bildungsaristokratische Norm, besonders in den Aristokratisierungstendenzen des 16. und 17. Jahrhunderts, konnte zu esoterischer Gelehrsamkeit und aristokratischem Beharren auf zu absoluter Norm erhobener Klassizität führen, dadurch in Widerspruch sich setzen zur vorwärtstreibenden ideologisch-künstlerischen Entwicklung; hier sei an den Widerspruch von klassisch-humanistischer Poetik und der Dialektik des Tragischen und Komischen seit dem spanischen Drama erinnert, an den Widerspruch auch zwischen höfisch-absolutistischem und bürgerlichem Klassizismus. Antikerezeption seit der Renaissance ist kein harmonischer Strom, sondern ideologisches Kampffeld. Wodurch wurde es möglich, daß die griechisch-römische Antike in einem derart umfassenden Maße ideelles Reservoir der Emanzipationsphase der bürgerlichen Gesellschaft werden konnte? Wie ist zu erklären, aus inneren Beziehungen zu verstehen, daß die ideellen Protagonisten des Bürgertums im fremden Medium einer sozial so ganz anders gearteten Welt das Eigene der neuen Epoche und ihrer Sozialund Nationalinteressen aussprachen? Diese Frage zielt nicht darauf zu erklären, daß überhaupt ein Vergangenheitsmodell Artikulation für Gegenwarts- und Zukunftsbestrebungen wurde, sondern daß eben die griechisch-römische Kultur und Staatswelt diese Formen lieferte, produktiv angeeignet wurde von der Renaissance bis zur industriellen Revolution. Die Antwort ist weder hinreichend in den allgemeinen Voraussetzungen der Bedürfnisse eines historischen Kostüms zu finden noch im Nachweis der konkreten Vermittlungen - wie dem Wirkungsraum des Römischen Reiches, seines Rechts und seiner Kultur, im Weiterbestehen bestimmter Leistungen, im nationalen Traditionsbezug angesichts bestehender, benutzter Reste in Italien. Auch der Hinweis, daß es sich um den Rückgriff auf Originale einer das Mittelalter hindurch kirchlich vermittelten, also kontinuierlich bewahrten, wenn auch reduzierten Tradition handelt, beschreibt nur, erklärt nicht. Das zeitgenössische Bewußtsein des Bruchs mit dieser Tradition, einer neuen Entwicklung, die ihrerseits wiederum eine längst vergangene Kultur187

blüte erweckt, die von Barbarei überwältigt worden, wie wir es in der Renaissance finden, beleuchtet zwar den sozialen und ideologischen Bruch mit der feudalen Ordnung und Ideologie, verbirgt aber noch das Problem, warum gerade hier - in der zunächst undifferenziert aufgenommenen Antike - das Bild des Eigenen ergriffen wurde. Auch der Hinweis auf die Entwicklung von Technik und Wissenschaft betrifft einen wesentlichen, jedoch nicht hinreichenden Grund. Die junge kapitalistische Ordnung forcierte die Herausbildung der experimentellen Naturwissenschaft, diese fungierte als ein Moment der Produktivkraftentwicklung, das sich schnell zu einem gesellschaftlichen Tätigkeitssystem eigener Art verselbständigte. In diesem Bereich wurde antike Wissenschaft neu rezipiert und entdeckt, so in Mathematik und Astronomie (Archimedes, Aristarch von Samos), antike Autoritäten zur Entthronung kirchlich tradierter genutzt (Abbau der naturwissenschaftlichen Autorität des Aristoteles) und wichtige philosophische Denkanstöße neu aufgenommen (Demokrit). Doch diese Rezeption im Bereich der Naturwissenschaft ging ein in deren schnellen Fortschritt, wurde bald überholt im Verein mit der Technik, die antike Autorität mußte sich bewähren gegenüber Beobachtung, Experiment, quantitativer mathematischer Analyse und Formulierung. Im Bereich naturwissenschaftlicher Erkenntnis und Technik brachte das 17. Jahrhundert die Leistung und das Bewußtsein der Überlegenheit über die Alten und als Reflexion dessen erste rationale Konzeption eines gesellschaftlichen Fortschritts. So entscheidend der Rückgriff auf die Antike als Modell, Quelle, Anfangsautorität moderner Naturwissenschaft, so kann diese Funktion nur ein Moment, nicht Grundlage ihrer Dauerwirkung gewesen sein. Diese bestand im Bereich der gesellschaftlichen Widerspiegelung, der politischen, moralischen, ästhetischen und weltanschaulichen Ideenbildung. Auch die unmittelbare politische Vorbildlichkeit - römische Republik und italienische Stadtrepubliken, Kaisertum und Absolutismus reicht nicht hin, die Breite der Rezeption zu erklären, ist jedoch wesentlich für die Differenzierung in aristokratisch-absolutistische und republikanische, liberale wie demokratische Bestrebungen, obwohl auch hier viele Übergänge, Funktionswandlungen stattfinden, bürgerliche Rezeption und deren absolutistische Adaption zu unterscheiden sind. Durch die Antikerezeption fanden die bürgerlichen Ideologen für ihr Emanzipations- und Bestätigungsstreben am Bilde der Vergangenheit den Schein der Erfüllung. Aber das ist das Sichfinden der wer188

denden bürgerlichen Gesellschaft, die noch von feudalen Macht- und Eigentumsverhältnissen bedrängt wird, in der auf Sklavenarbeit basierenden alten Welt. Die der freien Arbeit bedarf, findet Ideale in einer Welt unfreier, versklavter Arbeit. So kann sich das Vorbildund Bestätigungsverhältnis nicht auf die Sphäre der unmittelbaren Produktion und ihrer Beziehungen erstrecken. Aber ohne diese kann wiederum nichts entstehen, worauf überhaupt solch positives Verhältnis sich bezieht. Die positive Beziehung auf die Antike findet ihre ökonomische Grundlage in der Gemeinsamkeit des Privateigentums und der Warenproduktion. Sie findet Analogie, Vorbild und bestätigende Autorität in den Leistungen der Griechen, die gerade Ergebnis ihrer Emanzipation, der Auflösung der blutsverwandtschaftlichen und Stammesbindungen, der Etablierung des freien Privateigentümers als freien Polisbürgers und der Selbstbehauptung gegenüber dem orientalischen Despotismus sind: Resultat der durch die Warenproduktion aufgelösten Gentilgesellschaft und neuen organisierten sozialen Beziehungen, die ihrerseits eine explosionsartige Entfesselung der schöpferischen geistigen und politischen Kräfte ermöglichten und erforderten. Hier entstand die Polisdemokratie als höchste Gestalt antiker politischer Freiheit und rationaler Organisation, entwanden sich Philosophie und Wissenschaft mythologischer Anschauung und orientierten auf Erfahrung und Denken, schließlich erschien in den Künsten das Bild des schönen, weil freien, sich in körperlich-geistiger Einheit selbstbejahenden, aus sich heraus bewegten und frei stehenden Menschen, der nicht mehr in den Block eingebunden oder architektonisches Glied ist. Das Moment der Neuentdeckung dessen, was der Mensch als freier, sich in seiner diesseitigen Natürlichkeit bejahender ist, in seiner Behauptung gegenüber knechtenden, verkümmernden, einschränkenden, seinen Betätigungsdrang in praktischer wie ideeller Hinsicht unterdrückenden Bedingungen - dies machte das antike Vorbild zum Ferment bürgerlicher Emanzipation, und dies wirkte auch durch die römische und spätantike Vermittlung hindurch maßstabsetzend und Erfüllung dem eigenen Bestreben versprechend. Freilich, auf die Vermittlungen, die Ergebnis des Untergangs der Polis und Republik waren, beriefen sich gerade die Tendenzen des aristokratisierenden Humanismus und des Absolutismus: Das Augusteische Zeitalter war die Folie für den Glanz von Versailles. Als im 18. Jahrhundert eine breitere, von höfischem Einfluß sich 189

befreiende bürgerliche Kultur und Ideologie sich entwickelten, d i e sich zugleich emanzipierten von den eigenen religiösen Traditionen, dementsprechend die heroischen Illusionen aus dem Religiösen ins Weltliche sich wandelten, wurde die schöpferische Originalität der Griechen neu und tiefer begriffen und die römische Republik Vorbild republikanischer Tugend, der Identität des Staatsbürgers mit einem Vaterland, dessen Untertan er nicht, sondern dessen Glied und Mitakteur er ist. Doch diese Vorbilder waren Idealisierungen, ästhetisiert im schönen Menschenbilde, politisch-moralisiert in der Bürgertugend des .Republikaners. Die ideologisch-politischen konzeptiven Ideologen, die Vorkämpfer der Gleichheit waren, fanden - welch Kontrast! - ihr Ideal in einer Gesellschaft härtester Ungleichheit. Sie formulierten ihre Ideale und Ziele am Bilde der politischen Formen und Beziehungen wie der geistig-kulturellen, besonders ästhetischen Gestaltungen einer Epoche, die auf Grund des Entwicklungsstandes ihrer produktiven Kräfte nicht zu den Leistungen der kommenden bürgerlichen Gesellschaft befähigt war, ja diese Kräfte gerade auf Grund ihrer sozialen und politischen Ordnung gar nicht entwickeln konnte, wie dies f ü r eine Gesellschaft des Kapitals und der freien Arbeit notwendig war. Der Kontrast ist merkwürdig genug, um hier etwas weiter auszuholen. Die Anknüpfung konnte nur durch Illusionen vermittelt gelingen - und dennoch mußten diesen Illusionen ökonomische Analogien letztlich zugrunde liegen, so partiell und widersprüchlich dies auch geschehen konnte. Das ökonomisch Gemeinsame lag in der - historisch unvermeidlich relativen - Emanzipation des Privateigentums, damit der Eigentümer und - ebenfalls sehr relativ - der Entwicklung von Funktionsbedingungen von Warenproduktion und -tausch. Dies aber w u r d e rezipiert über das Bild der ideologischen, politischen wie kulturellen Selbstdarstellung und -repräsentation der freien Grundeigentümer und Sklavenhalter in der Idealisierung ihrer sozial und politisch exklusiven politischen Beziehungen in der hellenischen Polis oder römischen Republik. Die bürgerlichen Ideologen verallgemeinerten ins Gesamtgesellschaftliche und Allgemeinmenschliche das ideale, formulierte *

und ästhetisch repräsentierte Selbstverständnis der antiken Gesellschaft, das sich realistisch nur auf die freien Polisbürger bezog - um so mehr, als gerade dies in der Krise der Polis in Loslösung von einer verhaßt werdenden Wirklichkeit von großartigem Abendleuchten illuminiert wurde. 190

So sehr der Ausgangspunkt der Gemeinsamkeit aber in Privateigentum und Warenproduktion zu suchen ist, so liegt in deren Entfaltungsgrad gerade der Gegensatz beschlossen zwischen antiker und bürgerlicher Gleichheit und Freiheit. Eben deshalb bedurfte es der illusionären Verallgemeinerung, die ihrerseits von der ökonomischen Praxis der bürgerlichen Gesellschaft selbst vollzogen wurde. In den Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie hat Marx auf diesen Zusammenhang hingewiesen: „Wenn also die ökonomische Form, der Austausch, nach allen Seiten hin die Gleichheit der Subjekte setzt, so der Inhalt, der Stoff individueller wie sachlicher, der zum Austausch treibt, die Freiheit... der Austausch von Tauschwerten ist die produktive reale Basis- aller Gleichheit und Freiheit. Als reine Ideen sind sie bloß idealisierte Ausdrücke desselben; als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in einer anderen Potenz. Dies hat sich denn auch historisch bestätigt. Die Gleichheit und Freiheit in dieser Ausdehnung (im bürgerlichen Sinne - W. H.) sind gerade das Gegenteil der antiken Freiheit und Gleichheit, die eben den entwickelten Tauschwert nicht zur Grundlage haben, vielmehr an seiner Entwicklung kaputtgehen. Wie gestalten sich nun - unter dieser Voraussetzung - die politischen Verhältnisse der Polis dergestalt, daß sie für so ganz andre Ver-* hältnisse zum Modell politischer Idealität werden konnten? Die Polis war in ihrer Entstehung eine Gemeinschaft der Politen gewesen, eine verwandtschaftlich-exklusive Gemeinschaft der Privatgrundeigentümer. Auch noch bei späten Kolonisationsakten, bis in das 5. Jahrhundert, erfolgte bei der Landnahme die Aufteilung des Bodens in gleichen Stücken. Der hellenische polttes und der civis Romanus hielten stets an der Vorstellung der Bürgergleichheit im formellen Sinne fest, und die sozialen Kämpfe unter den Freien hatten sich an dieser Ideologie orientiert. Sie hatten dazu geführt, daß Bürger der Polis Athen seit den drohenden Bauernaufständen zur Zeit Solons, Bürger der römischen Republik nach den Kampfaktionen der Plebejer im 5. und 4. Jahrhundert nicht mehr im eigenen Gemeinwesen versklavt werden durften und als Gesamtheit weder Monarch, noch Despot, noch Tyrann über sich dulden wollten. Die faktische Ungleichheit der Gleichen, die zuerst durch die Herrschaft der Grundaristokratie herbeigeführt worden war, wurde in Athen in schweren Auseinandersetzungen unter der Parole der isonomia, des gleichen Rechts für alle Bürger, bekämpft, das mittlere und kleine Grundeigentum wurden durch Solon und durch die frühe 191

tyrannis, eine Führungsform demokratischer Kräfte, wiederhergestellt, die an Land Armen genossen zumindest politische Rechte und das Recht auf trophe, auf Nahrung durch die Polis. Mit dem Bewußtsein, ihre Freiheit, ihre formelle Gleichheit, ihren Besitz, ihre N a h rung zu verteidigen, trat die Bürgergemeinschaft zum erfolgreichen Kampf gegen das mächtige Perserreich an. Als die Zahl der Armen sich wiederum vermehrte, wurde die Forderung auf Wiederherstellung der Gleichheit, auf Schuldenerlaß und Landaufteilung von neuem erhoben, in erbitterten Bürgerzwisten umkämpft, und zugleich wurde an der Gleichheit ideologisch und politisch mit den merkwürdigsten Verrenkungen festgehalten, auch auf die Möglichkeit hin, die verarmten Landlosen einfach aus dem Bürgerrecht auszuschließen. D i e Sklaven gehörten nicht zur Polis, sie waren keine Politen, wenn sie auch für die Polis unentbehrlich blieben. Die Polisrealität wäre als Leitbild f ü r das aufkommende Bürgertum unbrauchbar gewesen, da es diese Realität war, die den weiteren Fortschritt, der nun geleistet werden sollte, verhindert hatte. Aber in dem politischen A u f b a u steckte ein Moment, das magnetisch anziehen mußte, das war die Idee der freien Gemeinschaft von Privateigentümern, von Republikanern, von Tyrannen- und Despotenhassern. Nicht die von den Sophisten Antiphon und Alkidamas utopisch propagierte Gleichheit von Hellenen und Barbaren, von Freien und Sklaven wurde rezipiert - diese Fragmente waren nicht oder kaum bekannt, da die Schriften der Sophisten dank den Gerichtsurteilen der Athener und dem E i n f l u ß Piatons nicht überliefert worden waren - , es war vielmehr der Vollbürger, der Vollfreie, dessen illusionär gewordenes Bild wirkte. N u n hatte die antike Gemeinschaft der Freien und formell Gleichen dem Beginn des Ware-Geldwesens freien Start gegeben, man hatte sich am Handel enorm bereichert, insbesondere in den Poleis, wo Geschäfte nicht anrüchig und Zinsen nicht begrenzt waren. Aber die Politengemeinschaft blieb auf räumlich schmaler, politisch auf exklusiver Basis lebend, abgeschlossen nicht nur gegen Sklaven, sondern auch gegen Bundesgenossen und gegen die wirtschaftlich besonders aktiven Metoiken, die sich, vom Grundbesitz ausgeschlossen oder nahezu ausgeschlossen, dem Handel und dem Gewerbe widmeten. D i e Vollbürger näherten sich einer Rentnermentalität und Versorgungspsychose. D i e Zentren der Zirkulationssphäre, ursprünglich in der Sphäre der freien Bürger, verschoben sich von den Bürgern auf die Nichtbürger, denen zwar Zugeständnisse gemacht und Ausnahmegenehmigungen erteilt wurden, 192

deren minderberechtigten Status man aber nicht generell aufhob. Die Tauschwertverhältnisse, anfänglich ein enormes Stimulans, blieben in ihrer weiteren Entwicklung beschränkt, und es wagte auch niemand, die Armen in die Werkstätten zu pressen, wie das später in der Blutgesetzgebung der englischen Königin Elisabeth geschah. Übrigens handelte es sich bei diesen Armen in der Polis Athen zu einem Hauptteil nicht um Nichtstuer - wie sie später im römischen Lumpenproletariat zu finden waren - , sondern um hart arbeitende, aber schlecht entlohnte selbständige Handwerker. Diese Entwicklung hat sich in ihren wesentlichen Zügen in den Territorialstaaten wiederholt; die produktiven Kräfte erhielten weiteren Raum, aber keine veränderten Verhältnisse, in denen sie wirken konnten. Die Antike ging an ihren besonderen Formen des Privateigentums zugrunde, an seiner Ausdehnung über die Produktionsmittel hinaus unmittelbar auf die Produktivkraft des Menschen - damit unvermeidlich auf seinen Körper - und an der Beschränkung des Privateigentums am Boden auf den Kreis des ethnischen Bürger-Verwandtschaftskreises. Als diese letzte Form mit der Ausdehnung des Bürgerrechts im Römischen Reich durchbrochen wurde, war es zu spät. Die Massen und selbst der Großgrundbesitz hatten das Interesse an dem bedrückend gewordenen Staat der Gesellschaft der Sklaverei verloren. Eben diese Ausdehnung und diese Begrenzung wurden in der Illusion aufgehoben, und diese konnte so dem Fortschritt des freien Privateigentums und der bürgerlichen Gesellschaft dienen. Ebenso, wie es Aristoteles einst getan hatte, schnitt man in Gedanken das de facto einschließlich der Sklaven und der ruhelos arbeitenden armen Freien bestehende, wirtschaftlich von der Tätigkeit der Metoiken und den Tributen der Bundesgenossen ergänzte Gemeinwesen längs und quer durch, behielt das attraktive Stück der besitzenden, kultivierten, freiheitsstolzen Sklavenhalter in der Hand, ließ das, was Aristoteles nie geleugnet und als die nicht ehrwürdige Aufgabe des Sklavenhalters bezeichnet hatte, aus dem eigenen B e j wußtsein schwinden und konstruierte auf diese Weise die makellose, umfassende republikanische Bürgerfreiheit, die, als Illusion von ihrer einstigen realen Basis gelöst, auf die gesamte Bevölkerung angewandt, ein Ideal der von keiner Institution beherrschten, nur auf der Selbstverantwortung der Bürger beruhenden Gesellschaft ergab. Es war die historische Errungenschaft der republikanischen Antike, daß sie zu einem solchen Ideal den Anknüpfungspunkt und damit eine wesentliche ideologische Waffe zur Befreiung der späteren Gesellschaft von 13

Heise, Realistik

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feudalen Fesseln geschaffen hatte, nachdem der Glanz der monarchistischen Spätantike und ihr Einfluß im Feudalismus verblichen waren. In der bürgerlichen emanzipatorischen Ideologie blieb das Bild der Antike ideologischer und ästhetischer Schein, gemessen am Ganzen der antiken Gesellschaft. Doch dieser war praktikabel rezipierbar, als er die politische Realforderung der werdenden bürgerlichen Gesellschaft zu erfüllen schien - in den Augen ihrer politischen Ideologen. Und solange die kapitalistischen Verhältnisse nicht allgemein durchgesetzt, die große Industrie erst punktual entwickelt waren und ihre soziale Konsequenz als überwindbares Mißverhältnis erscheinen konnte, solange die Herrschaft des bürgerlichen Privateigentums an feudalem Eigentum und Privilegien ihre Grenze fand, solange die persönlichen Abhängigkeiten nicht aufgehoben und der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie noch unentwickelt - so lange blieb die Durchsetzung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit, damit die Aufhebung der Ständeherrschaft politisches Hauptbedürfnis der Entwicklung des Kapitalismus. Freilich, was so einseitig politisch reales K a m p f programm, fand seine soziale Ergänzung in den Kämpfen der Bauern. D i e Zerschlagung des feudalen Eigentums wird mit der politischen Gleichheitsformel nicht mehr gedeckt. Sie bleibt allgemeinformelles Citoyenideal. Sowie der soziale Antagonismus in der Produktionssphäre politisch sich auszuprägen beginnt, ist die historische Stunde der antikisierenden republikanischen Utopie gekommen. Sie erlebte in den Jakobinern ihre Tragödie, in der Verschwörung der Gleichen, deren Führer Babeuf sich Gracchus nannte, ihre inhaltliehe Widerlegung im alten Gewände, in Napoleons Caesarismus ihre formelle Widerlegung mit den ersten Zügen des Grotesken: ein bürgerlicher Caesar mit Requisiten des Barockherrschers, der seinerseits sich augusteisch ausstaffierte. Fassen wir dies thesenhaft und erweiternd zusammen: 1. Die produktive und progressive bürgerliche Antikerezeption, die zu Wirklichkeit ergreifender und verändernder Idealbildung und Gestaltung führte, fand die Bedingung ihrer historischen Möglichkeit in der Analogie der Befreiung der individuellen und gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kräfte in der Phase der Entstehung und ersten Blüte der Zivilisation der Gemeinschaft der Privatgrundeigentümer und Sklavenhalter, im Gegensatz zu der persönlichen Gebundenheit der Gentilgesellschaft und der orientalischen Despotie. 194

2. D i e ökonomische Grundlage, die überhaupt die Rezeption ermöglichte, war - bei aller Unterschiedlichkeit der Formation - im Privateigentum und der Warenproduktion gegeben. Doch wurde die Ökonomie, wurden die Klassenverhältnisse der Produktionssphäre durch die Beschränkung der Rezeption auf den Bereich der ideologisch vermittelten Beziehungen, die Formen und Ideale der freien Vollbürger, deren Gleichheit und Freiheit, sowie auf die darauf gründende geistige Emanzipationsleistung und ästhetische Selbstdarstellung verdeckt. Und erst die illusionäre Verallgemeinerung dessen durch die bürgerlichen Ideologen - durchaus im Gegensatz zum antiken „Realismus" - ermöglichte eine produktive Rezeption, die ihrerseits ideell die künftige bürgerliche Gesellschaft vorwegnahm - idealisiert in bezug auf die formelle Freiheit und Gleichheit der politischen Verhältnisse und in bezug auf das bürgerliche Individuum. D i e enthusiasmierende Funktion erfüllte sich darin, daß in der Konfrontation mit der Realität feudaler Verhältnisse und Abhängigkeiten, mit der absolutistischen Herrschaft und Staatsmaschinerie und schließlich der christlichen Kirche und Weltanschauung die bürgerliche Alternative in idealisierter, erfüllender, den ganzen Menschen als intellektuelle Person in moralischer, politischer, weltanschaulicher und ästhetischer Beziehung beanspruchender und bildender Weise artikulierbar und erfahrbar wurde; freilich zugleich in der ebenso illusionären wie utopischen Allgemeinheit, welche die Beschränktheit bürgerlichen Interesses verbarg. 3. Doch was die produktive Aufnahme des Antikeideals in die bürgerliche Emanzipationsideologie bedingte und ermöglichte, diktierte zugleich dessen Grenze. Seine produktiven und praktikablen Möglichkeiten reichten so weit, als die Warenzirkulation, nach einem Wort von Marx das Reich von Gleichheit und Freiheit, in den politischen und ideologischen Beziehungen reflektiert wurde. Diese Möglichkeiten beschränkten sich auf den politisch-ideologischen E m a n zipationsprozeß - sie verdeckten den Produktionsprozeß, damit die mit dem Kapitalismus sich entwickelnden Antagonismen. D i e produktiv-emanzipatorische Funktion der Antikerezeption, die in den heroischen Illusionen der bürgerlichen Revolution und in ästhetischer Hinsicht im bürgerlich-emanzipatorischen Klassizismus ihren Höhepunkt erfuhr, erlosch in dem Maße, in dem die sozialen Ergebnisse der bürgerlichen Umwälzung, im besondren der industriellen Umwälzung in den neuen Klassenantagonismen zutage traten. 4. Dies sei durch folgenden, die Idealfähigkeit des Bildes der 13*

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Polis und römischen Republik charakterisierenden Aspekt ergänzt: Die allgemeine politische Verhältnisse und individuelle Tugend, ästhetische Form und weltanschauliche Haltung umfassende Universalität ist durch einen spezifischen Kontrast zwischen Vergangenheit und bürgerlicher Gegenwart bedingt. Im Bilde der idealen Vergangenheit schien der Gegensatz von Privat und Öffentlich aufgehoben, in dem als Widerspruch zwischen bürgerlicher Privatheit und feudalabsolutistischer Staatlichkeit der Klassenantagonismus und Formationsgegensatz sich zusammenfaßte. Er erschien überwindbar im ästhetischen Schein der Identität von Bourgeois und Citoyen einer künftigen neuen bürgerlichen Ordnung, als Identität von privater und öffentlicher Tugend, als Einheit von Menschlichkeit und staatsbürgerlicher Freiheit. Sowohl der Emanzipationsanspruch bürgerlicher Tugend als auch die Idealität republikanischer Verhältnisse ließ sich von hier aus einheitlich begründen und anschaulich machen und dem Menschenbilde nicht nur allgemeine Geltung, sondern auch politischen Anspruch zumessen. Gerade der für die bürgerliche Gesellschaft charakteristische Widerspruch ward von dieser Idealität verdeckt - und sein Aufbrechen mußte sie zur Lüge machen: zum staatlichen Ornament und zu politisch unverbindlicher Bildungsinnerlichkeit oder zum bewußten modischen Spiel. Ein eigentümlicher Widerspruch liegt nun im Verhältnis von Polisideal und geschichtlicher Wirklichkeit, sei es der aktuellen wie der Traditionskette. Denn zum idealen Bilde verklärter Vergangenheit wurde die griechiche Polis schon, als sie unterging und untergegangen war als bestimmende politische Organisationsform der Sklavenhaltergesellschaft. Ihr Bild ward gezeichnet und überliefert in den geistigen Produktionen, Spiegelungen, Idealisierungen aus der Phase ihrer Krise. Der Norm des klassischen Stiles des Parthenon folgten die antiken Klassizismen. In der Erhebung seiner Schönheit zur Norm wurde eine Erfüllung menschlicher Vervollkommnung als Gehalt mitgesehen, den die spätere Phase im Auseinanderfallen von staatlicher und privater Ebene aufgelöst hatte. Wodurch die klassische Idealisierung für die soziale und politische Wirklichkeit stand, die sie selbst idealisierte. Von den sozialpolitisch sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Wertungen, die in der Polisidealisierung zum Ausdruck kamen, sei hier abgesehen. Das Schönheitsbild dieser Vergangenheit - ob als vergangene oder in potenzierter Idealisierung als ewig-ideale, nur unverwirklichte, dennoch normative Ordnung 196

forderte ohnmächtig seine Wiederherstellung in der neuen Welt des hellenistischen und dann des römischen Reiches. Doch war die veränderte Welt Resultat eben jener sozialökonomischen Kräfte, deren frühe Entfaltungsform gerade die Polis gewesen im griechischen Raum, bis sie von ihnen gesprengt wurde. Das Ideal der Polis hatte folglich keine politische Zukunft innerhalb der Sklavenhaltergesellschaft. Es verklärte die Vergangenheit der in dem hellenistisch-römischen großstaatlichen Bereich machtlos gewordenen Stadtrepubliken, deren Reste mit denen ihrer politischen Überwinder dann mit der Formation untergingen. Doch hatten diese Großstaaten keine höhere Freiheit gebracht und keine qualitativ andere Lebensorganisation, sie zerbrachen letzlich an den gleichen Gründen, die das Ende der Polis besiegelten. Die Erinnerung an diese konnte daher, fixiert an ihre klassischen Leistungen, zum Dauerbestand einer Bildung werden, die ihre Ohnmacht resigniert gegenüber dem vergangenen Vorbilde einerseits, angesichts der verselbständigten Staatsgewalt andererseits eingestand. Als das Bürgertum der feudalen Welt sich entrang, war es diese Bildungstradition, die in sich schon die idealisierte Vergangenheit trug, die ihm ein Reservoir seiner Entwurfsmodelle und Äußerungsformen darstellte. Die Rückwendung diente der Formierung der Zukunftswünsche, Ideale und Werte. Was vorher Wiederherstellungstraum, wurde erneuert als Zukunftsentwurf in einem fremden Medium und historischem Kostüm. Fand die Sklavenhaltergesellschaft ihre historische Grenze am Widerspruch von Warenproduktion und Sklaverei, so entfesselte die bürgerliche Gesellschaft die Warenproduktion auf der Basis freier Arbeit und setzte sie als allgemeine gesellschaftliche, hier aber als kapitalistische durch. Am ästhetischen Ideal- und Scheinbild der antiken Produktion fand sie die Formen der Idealisierung ihrer Zirkulationssphäre, welche zugleich die Produktionsbeziehungen verdeckt. Trotz der außerordentlichen Breite der Antikerezeption dominiert die ästhetische Gestalt als potenzierter Schein, der eine eigene Kunstwelt und Sprache konstituiert. Das bedingt, daß nur in wenigen Augenblicken realistische Wahrheit und klassische Schönheit sich vereinen konnten, und dies auf durchaus ungriechische Weise; daß notwendig gegen den Klassizismus ein plebejischer und volkstümlicher orientierter Realismus immer wieder neu sich erhob. Dies bedingt, daß der klassische Traum an der bürgerlichen Gegenwart, 197

die er antizipiert hatte, daß das Ideal der harmonia an ihren sozialen und politischen Antagonismen zerbrechen, das Ideal der klassischen Schönheit im Stampfen der Maschine und der Prosa der Geschäfte seinen Scheincharakter offenbaren und die kalokagathia gegenüber Arbeitsteilung und Klassenkampf auf ein illusionäres und elitäres, nicht zu verwirklichendes Bildungsideal resignieren mußten.

3 Das 18. Jahrhundert, in dem die utopische Antikerezeption ihren zweiten Höhepunkt seit der Renaissance erreicht, war zugleich das Jahrhundert der Entstehung des historischen, entwicklungsgeschichtlichen Denkens, eines philosophisch den geschichtlichen Fortschritt reflektierenden, beginnend mit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Aufklärung war zugleich und wesentlich Selbstaufklärung des Bürgertums über seine Geschichtlichkeit, seine Vergangenheit und Zukunft. Die geschichtsphilosophische Ideologie bewegte sich im Widerspruch, einmal die bürgerlichen Bedürfnisse und Normen als natürlich und vernünftig zu behaupten, als gesetzlich-ewig aus „Natur" und „Vernunft" abzuleiten und zu ideologisieren, zum anderen den historischen Fortschritt zu sehen, anzuerkennen, erklären zu müssen, wobei allmählich die im Humanismus wiederaufgenommenen Kreislauftheorien überwunden werden mußten, um Perspektive und Fortschritt in die Zukunft hinein denken zu können. Zukunft als Erfüllung und Norm aber konnte widersprüchlicherweise ihren Maßstab wiederum nur in ahistorisch gedachter normativer „Natur" und „Vernunft" finden. Die Antike-Utopie aber fand im schönen Bilde des Klassischen die Verwirklichung des Gesollten, Normativen, des Natürlichen und Allgemein-Menschlichen, während die Einsicht in den Fortschritt der gesellschaftlichen Entwicklung, eindeutig bestimmbar an Erkenntnissen und Techniken, problematisch in sozialpolitischer, moralischer und kultureller Hinsicht, das Vergangensein, die Unwiederbringlichkeit der antiken Welt zur zwingenden Einsicht machte. Seit den Querelles des Anciens et des Modernes war in den sich anschließenden wie analogen Auseinandersetzungen der Bezug auf die Antike zu einem Angelpunkt des historischen Selbstverständnisses geworden, es waren sowohl die historischen Besonderheiten der Griechen wie der Römer tiefer erkannt als auch die Ungleich198

mäßigkeit des geschichtlichen Fortschreitens, die Tatsache, d a ß die Künste nicht mit der Technik marschieren, tiefer begriffen, ja erste Einsicht in die Widersprüchlichkeit des Geschichtsprozesses gewonnen worden; um so mehr, als gegenüber der Antike eine Traditionsdankbarkeit unter den Gebildeten bestand, wie sie Herder dann am Ende des Jahrhunderts plastisch formulierte: „Ohne Wiedererweckung der Alten wäre keine neue Philosophie und Beredsamkeit, keine Kritik, Kunst und Dichtkunst entstanden; Europa säße noch in der Dämmerung und labte sich an abenteuerlichen Ritterromanen. Das Licht der Alten ist's, das die Schatten verjagt und die Dämmerung aufgeklärt hat, mit ihnen haben wir empfangen, was allein den Geschmack sichert, Verhältnis, Regel, Richtmaß, Form der Gestalten im weiten Reich der Natur und Kunst, ja der gesamten Menschheit." 9 Und diese Traditionsdankbarkeit war aufklärerisches Allgemeingut. Sie wurde auch nicht durch das nur anfänglich analoge Verhältnis in den Naturwissenschaften eingeschränkt. Winckelmanns Forderung der Nachahmung der Alten fand ihre Begründung in einem gedanklichen Zusammenhang, der die Utopie der ästhetischen Wertung und Nachahmungsforderung mit dem Historismus in bezug auf die Geschichte der politischen Verhältnisse Griechenlands und auf die Kunst als Geschichte verband. Im neu erlebten Kunstwerk erfaßte Winckelmann die politische Freiheit als dessen Existenzboden und Botschaft, in der klassischen Gestalt fand er ein diesseitsbejahendes körperfrohes, unchristliches schönes Menschenbild, dessen Form Audruck der „großen Seele" war, und in der Nachahmung sah er dann den Weg, selbst groß und unnachahmlich zu werden. Dadurch wurde von ihm in der ästhetischen Form der große politische wie weltanschauliche aufgeklärt-emanzipatorische Gehalt der deutschen Gegenwart des Feudalabsolutismus als Ideal konfrontiert, als kritischer Maßstab wie als unbedingtes Vorbild. Fruchtbar wurde dies nicht für die bildende Kunst, sondern als Bildungselement der allgemein literarisch sich artikulierenden Aufklärungsbewegung in Deutschland. Lessings Kritik an Winckelmann geht über das direkt polemisch Entwickelte hinaus - so hinsichtlich der stoischen Kontemplativität der „großen Seele" für das Ideal des menschlichen Helden - , abgesehen von Kunstgesetzlichkeiten. Lessing hat ein anderes, kritisch aktives Verhältnis zur antiken Vergangenheit und zur Gegenwart - als Objekt seines Wirkens wie der poetischen Darstellung. Er bejahte voll 199

die Autorität der Griechen in bezug auf ihre Prinzipien, im Sinne einer Methode, die nun auf die zeitgenössischen Bedingungen anzuwenden sei. Vor der Illusion einer Wiedergeburt aber bewahrte ihn seine soziale Einsicht, die Radikalität seiner politischen Position und auch seine historisch fundierte, in ihren Zielen über die bürgerliche Gesellschaft hinausweisende Utopie, für deren Realisierung er einen langen welthistorischen Atem forderte. Im Spartak.us-Ftafgne.nt wird die entscheidende Argumentation gegen alle Wiedergeburtsträume ausgesprochen und ein Vorhang weggerissen: „Sollte sich der Mensch nicht einer Freiheit schämen, die es verlangt, daß er Menschen zu Sklaven habe?" Und von dieser Sicht eines ernstgenommenen, nicht nur politisch, auch sozial konzipierten Gleichheitsgedankens entwarf er seinen Helden: „Ich hoffe, aus dem Spartakus einen Helden zu machen, der aus anderen Augen sieht, als der beste römische."10 Dieser Ansatz führte ihn über die begrenzte Alternative von Monarchie und Republik und somit über die Idealisierung der antiken politischen Form hinaus. Herder hatte früh Winckelmanns Sicht verallgemeinert auf ge j schichtliche Frühepochen hin und versucht, die griechische wie die römische Kultur als individuelle Kulturen im weltgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen, er hatte darin den säkularen und nationalen Charakter jeder Kultur wie Literatur erkannt, daraus die programmatischen Folgerungen gezogen, die Nachahmung als Illusion und die historisch-gegenwärtige Realität als Objekt und Betätigungsfeld der Literatur verstanden. Und dennoch wirkte die spontane Gewalt der Idealbildung, die Tendenz, das Neue im Gewände der Alten zu erblicken, gerade auf ihn angesichts der Französischen Revolution - bei aller Bewußtheit dessen, daß eine bloße Wiedergeburt unmöglich sei. In der ersten Niederschrift seiner Briefe, die Fortschritte der Humanität betreffend von 1792 finden wir im 19. Briefe folgende, das Verhältnis von Antike und Gegenwart betreffende Gedanken: „Und dennoch finden wir's unverhohlen, daß jene Welt nicht mehr die unsere sei, daß zur nutzbarsten Anwendung des Geistes der Alten uns eine Welt fehle, oder wenigstens die Gelegenheit um uns her oft sich versage. Mörderische Hände haben sogar die Alten, Griechen und Römer, unseren Schulen entreißen wollen, weil in ihnen die Jünglinge mit republikanischen, mit Freiheitsideen genährt würden, die, wie sie sagten, in unsere Staaten nicht gehörten. Wie nun, wenn auch hierin die Zeiten 200

der Griechen und Römer uns näher kämen? Wenn nahe Völker unseres Europas Zeiten erlebten, die den Zeiten Miltiades, Themistokles, mithin auch Äschylus, Sophokles, Pindars glichen, wenn neue Perikles, ohne dessen Fehler, uns die Zeiten Sokrates, Xenophons und Thukydides, Euripides und Plato zurückführten, und wie es selten der Fall war, der Feldherr als Bürger reden, als Redner schreiben könnte? Notwendig müßte aus dieser Vereinigung von Geschäften und Talenten ein Licht hervorgehen, eine Flamme sich entzünden, die jene Alten nicht nur heller beleuchtete, sondern ihr Licht, ihr Feuer, aus der Asche gleichsam wieder auflebend, unseren Zeiten selbst mitteilte . . . Lebten die Zeiten irgendwo wieder auf, in welchen man, wie die Griechen nach der Niederlage der Perser, den ganzen Stolz und Mut der Freiheit fühlte; so wäre auch die alte, wahre Tragödie, die ernste Tyrannenfeindin, vielleicht der Chor selbst wieder erstanden, falls dieser, als ein Theaterbild der allgemeinen Teilnehmung, je wieder erstehen kann." 1 1 Dies schrieb Herder, als er sich noch in voller Übereinstimmung mit der bürgerlichen Revolution in Frankreich fühlte, von einer Begeisterung erfüllt, die hier Ersehntes dort verwirklicht glaubte, und der Sache nach hat er dies nicht mehr zurückgenommen. Die republikanisch-demokratische Freiheit, das durch sie konstituierte „Vaterland" und die darin sich betätigende und verwirklichende Humanität erschienen ihm über alle historische Unterschiedlichkeit als das Gemeinsame, so daß die alte heroische Zeit wieder aufzuleben schien, wenn auch unter neuen Bedingungen. D a s war ein revolutionäres Bekenntnis, ein direktes Bekenntnis zur Revolution - das nicht veröffentlicht wurde. Und charakteristisch ist, daß Herder hier global die Griechen als Vorbild behauptet, ihre „Zeit" von Aischylos bis Piaton. So hatte die Konfrontation mit der Revolution in Frankreich Herder seine Position neu akzentuieren lassen. Einst hatte er geschrieben: „Wo bist du hin, Kindheit der alten Welt, geliebte, süße Einfalt in Bildern, Werken und Worten? Wo bist du, geliebtes Griechenland, voll schöner Götter- und Jugendgestalten, voll Wahrheit im Truge und Trug voll süßer Wahrheit? Deine Zeit ist dahin und der Traum unseres Angedenkens, unsere Geschichten, Untersuchungen und guten Wünsche werden dich nicht wieder erwecken . . . D a s R a d der Zeiten, auf das wir alle geflochten sind, drehet sich gewaltsam und wie in zerstörendem reißenden Strudel."« Was vorher elegisch-fern gesehen wurde, gewinnt angesichts der 201

Revolution neue Vorbildfunktion. Herders Begeisterung artikuliert sieh über die Modelle der „Kindheit der alten Welt". Doch angesichts der Diktatur der Jakobiner, angesichts der Verschärfung des Terrors und der inneren Klassenkämpfe, deren Zusammenhänge er nicht begriff, kühlte sich die Begeisterung ab und•wich der Ratlosigkeit. Dennoch ging er nicht ins Lager der Revolutionsfeinde über und behielt die auf eine demokratische Erneuerung zielende Grundorientierung bei, auch wenn die Formulierung angesichts seiner politischen Irritiertheit und der wachsenden Reaktion vorsichtiger wurde, er reflektierte um so intensiver die nationalen Möglichkeiten und Bedingungen im Kontext seiner umfassenden Geschichtskonzeption des Fortschritts der Humanität. Herder vereinte in seiner Sicht Griechenlands ein Doppeltes: E r wußte genau, daß „in die Zeiten Griechenlands oder Roms sich zurückzuwünschen . . . töricht" wäre; „diese Jugend der Welt sowie auch das eiserne Alter der Zeiten unter Roms Herrschaft ist vorüber; schwerlich dürften wir, wenn auch ein Tausch möglich wäre, in dem, was wir eigentlich begehren, bei dem Tausche gewinnen." 13 Herder hatte den Gedanken des historischen Fortschritts aufgenommen, weitergedacht, das Vaterland der Alten ist nicht als Rückkehr mehr möglich - aber, und das ist der zweite Gesichtspunkt: Die griechische Polis, ihre demokratia, ihre Öffentlichkeit bleiben Modell und Vorbild, von den eigenen Grundlagen her ein freies, in Richtung einer bürgerlich-demokratischen Ordnung seine Verfassung organisierendes „Vaterland" zu schaffen, das zugleich mit seiner inneren neuen Ordnung den feindlichen Gegensatz zu anderen Völkern und Staaten verliert - das also Glied einer Friedensordnung der Vaterländer wird: Das ist für ihn angesichts der aggressiven Interventionspolitik der deutschen Feudalität Modell der Zukunft. Und der Griechen Kunst gilt ihm als Modell zukünftiger Menschlichkeit. Denn „Die griechische Kunst kannte, ehrte und liebte die Menschheit im Menschen . . ." Die Griechen bildeten sie „durch ein Mittel: durch Menschengefühl, durch Einfalt der Gedanken und durch ein lebhaftes Studium des wahresten, völligsten Genusses, kurz, durch Kultur der Menschheit. Hierin müssen wir alle Griechen werden, oder wir bleiben Barbaren." Herder hielt an der Überzeugung von der Unaufhebbarkeit der Leistungen der Revolution, damit von der Perfektibilität des Menschen als Mittel der Entfaltung seiner Humanität, vom gesellschaftlichen Fortschritt fest, doch wußte er: „Nur stelle man sich die Linie 202

dieses Fortganges nicht gerade, noch einförmig, sondern nach allen Richtungen, in allen möglichen Wendungen und Winkeln vor . . ."14, und was er hier als Zeitgenosse der Revolution sagt, formuliert er um die Jahrhundertwende durchdachter, er wird sich der Gegensätze der Entwicklung bewußt; „durch Gegensätze zweier und mehrerer Seiten wird eine Gestalt . . ." 15 So sehr Herder auch die Rolle der Tätigkeit, der werktätigen Arbeit, die prometheische aktive Seite sah - sie auf den Begriff dialektischer Widersprüche zu bringen, hinderte ihn das Harmoniemodell seiner Weltanschauung, hinderte ihn eine Position, die keine praktische Vermittlung zum wirklichen Prozeß, vielmehr nur den Kontrast des Ideals gestattete. Der Traum vom befreiten Prometheus bleibt utopische Metapher. So hat der Widerspruch zwischen der Einsicht in das Vergangensein, in die geschichtliche Bedingtheit der klassischen Antike und der normativen Funktion, dem Zukunftsanspruch, die sie als Bildungserfahrung leistete, angesichts der Revolution in Frankreich für das bürgerlich-gebildete geschichtsphilosophische Epochenverständnis eine neue, extreme Zuspitzung erfahren - um so mehr, als eben diese Revolution als Sieg und Beweis des historischen Fortschritts, als Schritt in der Vervollkommnung des Menschengeschlechts, als Befreiung, Mündigwerden verstanden wurde, somit als Bestätigung gerade des im historischen Bewußtsein des 18. Jahrhunderts errungenen aufklärerischen Geschichtsbewußtseins, und andererseits eben dieser Fortschritt seinen Akteuren unter der ideologischen Fahne des antikischen Kostüms als Wiederherstellung, Erneuerung dessen, was eins vollendet schon bestanden hatte, erscheinen konnte. Diesen Widerspruch löste die geschichtliche Praxis. Die kapitalistische Gesellschaft ging über ihre Protagonisten und deren Illusionen hinweg zur Tagesordnung über. Die revolutionären Träume der Kunst von gestern wurden Dekor für Hof und Boudoir, Börse und Mode, formalistische Fassade. Formalistisch, weil statt des emanzipatorischen Gehalts die etablierte bürgerliche Gesellschaft apologetisiert, die humanistischen Gehalte ihrer Vorbereitung aber unerfüllt blieben, Schein und Behauptung einer barmonia, die der Gesellschaft mangelte. Und die klassische Idealität mußte in Inhalt und Form problematisch werden angesichts der Realität und Resultate der bürgerlichen Umwälzung in Frankreich, der industriellen Revolution in England und der politischen Stagnation in Deutschland, das in Frankreich und England seine politische und ökonomische Zukunft erblicken konnte. 203

Die Desillusionierung in bezug auf die bürgerliche Gesellschaft hatte für die oppositionelle progressive Intelligenz auch eine Desillu-* sionierung in bezug auf den Klassizismus als schönen Schein und in bezug auf dessen Realgrundlage, das klassische Griechenland und Rom, im Gefolge. Realistik hinsichtlich der nachrevolutionären Gegenwart enthüllte nicht nur deren Widerspruch zum Ideal, nicht nur die Wirklichkeitsfremdheit klassizistischer Idealbildung, sie zwang zur Konfrontation von klassizistischer Idealität, griechischer und römischer Selbstidealisierung und deren materieller geschichtlicher Wirklichkeit. Über alle früheren Ansätze hinaus erhielt die Frage nach dem Stellenwert der klassischen Polis und ihrer Kultur in der Menschheitsgeschichte, nach den Gründen ihrer Entstehung, Blüte und ihres Untergehens neue Bedeutung. Diese Fragestellung umschloß das eigene Epochenverständnis, damit das Verhältnis zur Revolution und deren Ergebnis. Im deutschen geschichtsphilosophischen und ästhetischen Denken führte der Weg von Herders Ansätzen und Entwürfen zu Goethe, Forster, Schiller und Humboldt, zu Friedrich Schlegel, zu Schelling, zu den Hymnen und geschichtsphilosophisch-ästhetischen Reflexionen des späten Hölderlin, schließlich zu Hegels Geschichtsphilosophie und Ästhetik. Der Fortschritt der deutschen Philosophie gründet hier - gerade angesichts der relativen Stagnation und Rückständigkeit der deutschen Verhältnisse - auf der Auseinandersetzung mit und Verarbeitung zugleich der internationalen historischen Erfahrung - sowohl in Kommunikation mit den historischen Prozessen als auch ihrer theoretisch-ideologischen Reflexionen.

4 Für den jungen Hegel waren die klassische Polis und die römische Republik Ideale, in denen Rousseaus Traum verwirklicht schien. Ideale, in denen er in abstrakt-allgemeiner Weise die Alternative zur leidenschaftlich bekämpften und empört kritisierten feudalabsolutistischen deutschen Gegenwart sah. Die Revolution in Frankreich schien ihm wie seinem Freund Hölderlin als Prozeß und Versprechen einer Wiedergeburt jener demokratia und Selbstbestimmung des Volkes, die er im alten Athen verwirklicht glaubte: „Die griechische und römische Religion war nur eine Religion für freie Völker, und mit dem Verlust der Freiheit mußte auch der Sinn und die Kraft derselben, ihre Angemessenheit für die Menschen ver204

lorengehn . . . Als freie Menschen gehorchten sie Gesetzen, die sie sich selbst gegeben, gehorchten sie Menschen, die sie selbst zu ihren Oberen gesetzt, führten sie Kriege, die sie selbst beschlossen, gaben ihr Eigentum, ihre Leidenschaft hin, opferten sie tausend Leben für eine Sache, welche die ihrige war . . ., im öffentlichen wie im Privatund häuslichen Leben war jeder ein freier Mann, jeder lebte nach eigenen Gesetzen. Die Idee seines Vaterlandes, seines Staats war das Unsichtbare, das Höhere, wofür er arbeitete, das ihn trieb, dies war sein Endzweck der Welt oder der Endzweck seiner Welt." 16 So schrieb Hegel in Die Positivität der christlichen Religion, die 1795 abgeschlossen wurde. Schärfer noch tritt das hier - im Sinne von Kant und Rousseau - als Subjektivität, Selbstbestimmung und Selbstbetätigung Gemeinte bei einer Formulierung in Der Geist des Christentums und sein Schicksal hervor: „Der Mensch steht für sich, sein Charakter und seine Tat wird er selbst." Hegels historisches Fragen in bezug auf die Polis zielte auf die Gründe des Verfalls der frühen Freiheit - im Zusammenhang mit der Frage nach der Verwandlung der Botschaft Jesu in die Positivität der christlichen Religion. Hegel fand diese Gründe im Zerfall der Einheit von Privat und Öffentlich durch zunehmende Ungleichheit des Besitzes, Aristokratiebildung, Ausbildung einer selbständigen staatlichen Machtapparatur mit Gewaltmonopol und Privatisierung der entmächtigten Individuen: „Alle Tätigkeit, alle Zwecke bezogen sich jetzt aufs Individuelle; keine Tätigkeit mehr für ein Ganzes, für eine Idee - entweder arbeitete jeder für sich, oder gezwungen für einen anderen Einzelnen". So entstand der Boden fürs Christentum in einem Zustand „ohne Glauben an etwas Haltbares, an etwas Absolutes, in dieser Gewohnheit, einem fremden Willen, einer fremden Gesetzgebung zu gehorchen, ohne Vaterland, in einem Staate, an dem keine Freude haften konnte, dessen Druck der Bürger allein fühlte . . . In dem Schöße dieser verdorbenen Menschheit . . . mußte die Lehre von der Verdorbenheit der menschlichen Natur erzeugt und gern angenommen werden . . ." „So hatte der Despotismus der römischen Fürsten den Geist der Menschen von dem Erdboden verjagt, der Raub der Freiheit hatte ihn gezwungen, sein Ewiges, Absolutes in die Gottheit zu flüchten - das Elend, das er verbreitete, Glückseligkeit im Himmel zu suchen und zu erwarten. Die Objektivität der Gottheit ist mit der Verdorbenheit und Sklaverei der Menschen in gleichem Schritt gegangen, und jene ist nur eine Offenbarung, nur eine Erscheinung dieses Geistes der Zeiten . . ." 205

Die Revolution hatte ihren Höhepunkt schon überschritten, als Hegel, der mit der Gironde sympathisierte, dies schrieb und feststellte: „Außer früheren Versuchen blieb es unseren Tagen vorzüglich aufbehalten, die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum des Menschen, wenigstens in der Theorie zu vindizieren, aber welches Zeitalter wird die Kraft haben, dieses Recht geltend zu machen und sich in den Besitz zu setzen? 17 Härter und offener heißt es im gleichen Jahre 1795 in einem Brief an Schelling: „Ich glaube, es ist kein besseres Zeichen der Zeit als dieses, daß die Menschheit an sich selbst so achtenswert dargestellt wird; es ist ein Beweis, daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde schwindet. . ,"18 Abstrakt gewiß formulierte Hegel den Anspruch auf eine demokratische Lebensordnung nach dem Modell einer idealisierten Polis, deren Gemeinschaft eine nicht entfremdete Lebenstätigkeit zu versprechen schien, in der dem Volk die Macht, sein Leben als seine Tat zu gestalten, zukommt - ohne fremde, knechtende, irdische und himmlische Götter über ihm. Doch Hegels Begeisterung für die Französische Revolution entzündete sich an deren Ideen, begriff nicht die revolutionäre Massenpraxis, der Glanz girondistischer Rhetorik ließ ihn die Notwendigkeiten des jakobinischen Terrors nicht verstehen. Abstrakt konfrontierte er Ideal und Wirklichkeit, und auch die Intention auf praktische Veränderung mußte abstrakt bleiben, weil sie innerhalb der deutschen Verhältnisse keine veränderungsfähige sozialpolitische Kraft fand. Die süddeutschen revolutionären Kräfte, denen Hegel nahestand, hatten ihre Aktivität erst nach dem Sturz der Jakobiner entwickelt - und ihre durch Schwäche und Isolierung gesteigerte Erwartung, als Hebel einer republikanischen Umwälzung sich auf die Heere der Revolution stützen zu können, wurde durch die Politik des Directoire enttäuscht. Die französische Großbourgoisie war auf Sicherung, auf ihre Etablierung bedacht, nicht auf Vorantreiben des revolutionären Prozesses. Die Frankfurter Krise führt zu entscheidender Wendung: Hegel gibt die direkte Rebellion, vermittelt durch Kontrastierung von abstraktem Ideal und schlechter Wirklichkeit, damit auch den aktiven Handlungsimpuls auf. E r wendet sich zu positivem Verhältnis zur Wirklichkeit, worin sowohl das positive Verhältnis zu ihr als Objekt des historisch-philosophischen Studiums als auch die Positivität im Verhältnis zu den in ihr sich durchsetzenden Mächten liegt. Darin 206

liegt die Wendung zum geschichtsphilosophischen Begreifen der Gegenwart - und auch zum Oszillieren zwischen Erkenntnis des Notwendigen in der Wirklichkeit und des Vorhandenen, Bestehenden als notwendig: Brutal heißt es dann schon 1802 in der Einleitung zur Verfassung Deutschlands-. „Denn nicht das, was ist, macht uns ungestüm und leidend, sondern daß es nicht ist, wie es sein soll; erkennen wir aber, daß es ist, wie es sein muß, d. h. nicht nach Willkür und Zufall, so erkennen wir auch, daß es so sein soll." 19 Doch so ^ unkritisch, wie dies klingt, ist Hegels Position wiederum nicht, sie bejaht nicht blind das Vorhandene. Hegel wird zum Realisten der Macht. Doch das Erkennen dessen, was ist, hat zum Inhalt und Gegenstand den Epochengehalt der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die vergehende feudale - und die Französische Revolution bleibt ihm deren erster Akt. Das geschichtliche Begreifen führt ihn selbst zur Rechtfertigung des jakobinischen Terrors 1805 als „reine entsetzliche Tyrannei, aber sie ist notwendig und gerecht, insofern sie den Staat als dieses Individuum konstituiert und erhält." 20 Und das bonapartistische Ende der Revolution gibt ihm die politische Norm der notwendigen Umwälzungen für Deutschland ab. Als Ideologe der nachrevolutionären bürgerlichen Gesellschaft mußte Hegel den Widerspruch zwischen den utopischen Illusionen ihrer Herstellung und ihrer widersprüchlich-prosaischen Realität überwinden, ohne die Sphäre der bürgerlichen Illusion in der Verabsolutierung der Gesellschaft des Privateigentums, ja selbst der Illusion ihrer Staatlichkeit sprengen zu können. War ihm anfangs bürgerliche Privatheit und Einzelheit als bloßer Verfall der Polisöffentlichkeit erschienen, mußte er jetzt in ihnen das bestimmende Prinzip der neuen Gesellschaft anerkennen. Diese Wendung zum philosophischen realistischen Begreifen der Gegenwart als geschichtlich-notwendig geworden in ihrem umwälzenden Gehalt ist die Geburtsstätte der Philosophie der Weltgeschichte. Und hier wird die Beziehung auf die Antike, das Begreifen der Entstehung, Leistung, Grenze, Auflösung und Untergang der Polis wie des römischen Reiches zum Angelpunkt, zum Modell notwendigen Vergangenseins, was wiederum die Auseinandersetzung mit den und Beziehung auf die heroischen Illusionen der Revolution und eigenen Ideale einschließt. Von hier aus gewinnt die Philosophie der Weltgeschichte ihre Struktur. Freilich, vermittelt ist dies durch den objektiven Idealismus, die Bestimmung der Substanz als Subjekt, 207

die Entwicklung der Arbeitsdialektik des Geistes in seiner geschichtlichen Selbstproduktion und -erkenntnis. Nun sollen weder die Dramatik dieses Erkenntnis- und Konzeptionsbildungsprozesses hier untersucht noch die Dialektik von gesellschaftlich-geschichtlichem Erkennen und der darin sich vollziehenden weltanschaulich-philosophischen System- und Begriffsbildung analysiert noch die Etappen dieses Prozesses näher bestimmt werden. In bezug auf unsere Fragestellung wenden wir uns dem Resultat zu und zielen auf den Widerspruch von geschichtsideologischer Bestimmung und ästhetischer Wertung. In der frühen Utopie war die Geschichte seit dem Untergange der Polisfreiheit Verfallsgeschichte gewesen. Diese lineare These wird jetzt in der dialektisch-idealistischen Geschichtskonzeption überwunden. In den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte heißt es: „Man findet in neuerer Zeit große tiefe Männer, wie z. B. Rousseau, die das Bessere rückwärts suchen. Das ist aber ein Irrtum. Wir werden uns ewig von Griechenland angezogen fühlen; aber die höchste Befriedigung finden wir da nicht, denn es fehlt dieser Schönheit die Wahrheit. Das höhere Prinzip erscheint für das frühere, niedere immer als Verderben, als solches, wodurch die Gesetze der bestehenden Welt verneint, nicht anerkannt werden." 21 Griechenland erscheint jetzt als relative, bewunderte, aber in ihrer notwendigen Vergänglichkeit einsichtige Etappe der Weltgeschichte, als „Jünglingsalter des Geistes", dem das römische Mannesalter folge, als Stufe des Fortschreitens im Bewußtsein der Freiheit, als Überwindung der orientalischen Welt. Die Utopie des Vorbilds erliegt dem historischen Realismus, Wiedergeburt Griechenlands ist bloße Illusion: „Aber Mumien, unter das Lebendige gebracht, können unter diesem nicht aushalten." 22 Und dennoch: Wie ein Keim der späteren Dialektik in der frühen Fragestellung liegt, wie denn geschichtlich der Menschen Tun die eigenen Götter, die eigene staatliche Gemeinschaft, ihre Subjektivität in eine „positive" fremde Objektivität, in eine Macht über sie verwandle, so ist im Gedanken, daß Griechenland die Stufe des Geistes als Schönheit verwirklicht habe, zugleich der Gedanke vom Verfall der Kunst nach der Norm klassischer Vollendung nach dem notwendigen Untergange Griechenlands eingeschlossen: Was vorher der Freiheit, wird jetzt der klassischen Schönheit historisch zugesprochen. 208

Der Abschied von der klassischen Schönheit ist zugleich Abschied von der Polisdemokratie. In diesem gedoppelten Verhältnis bewahrt Hegel seinen eigenen Widerspruch. Dieser bedingt die Mehrbödigkeit seiner Sätze. „Es kann als wunderbares Schicksal des Menschen erscheinen, daß sein höherer Standpunkt der subjektiven Freiheit ihm die Möglichkeit dessen nimmt, was man oft vorzugsweise die Freiheit eines Volkes nennt."2,3 Ein schillernder Satz von abgründigem Sarkasmus, Distanz zu denen, die ein „wunderbares Schicksal" unbegriffen hinnehmen, Distanz zu dem, was vergeht und was an dessen Stelle tritt, aussprechend; in ihm schwingt der Hohn des Desillusionierten auf den Illusionsgläubigen mit und wird der Schmerz der Desillusionierung in der Selbstironie, bezogen auf den Menschen höheren Standpunktes, vergraben. Was als „wunderbares Schicksal" erscheint, ist es nicht, sondern zu begreifende „Notwendigkeit", die subjektive Freiheit muß bezahlt werden. Nach - ja mitten in der leidenschaftlich sympathisierenden Schilderung der „schönen" Freiheit der Polisdemokratie fixiert dieser Satz, daß eben das Fortschreiten die Möglichkeit dessen nimmt, was „man vorzugsweise .Freiheit des Volkes' nennt", die dadurch schon relativiert, ja abgewertet wird, während das Nehmen der Möglichkeit wiederum kein Schicksal, sondern der Menschen eigenes Tun ist, in dem allein der Weltgeist sich betätigt. Die Sachlichkeit der Betrachtung, ihre Objektivität, mit der des Geistes Gestaltwandel begriffen wird, ist bezahlt mit dem Hinwegschreiten über die eigenen Wertungen und Bindungen, die ja geschichtlichen Beziehungen entspringen : Das selbst Überwundene als Illusion des anderen laßt" den eigenen Schmerz in Ungeduld und Sarkasmus sich äußern. Hegel berichtet ja nicht über die Polis, ihr Wesen, ihr Vergehen als gleichgültigen historischen Fakt, sondern in seinem Begreifen dieses Prozesses nimmt er Stellung, verhält sich zur eigenen Ausgangsutopie, wie zum jakobinischen Demokratismus und zu den Protagonisten der „Freiheit des Volkes" in der nachrevolutionären, doch neuen Umwälzungen zustrebenden Restäurationsperiode. Hegel charakterisiert die Polisdemokratie als Realität einer Citoyenutopie, die eine ideale Identität des Individuums mit seiner politischen Gemeinschaft erscheinen läßt. „Das natürliche Subjekt, das von dem Allgemeinen zu unterscheiden bleibt, ist in dem Prinzip der Schönheit identisch gesetzt mit 14

Heise, Realistik

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dem Innern, Geistigen, so daß es nur dessen Ausdruck ist; das erscheinende Instrument, Organ für den Geist, sich zu verwirklichen, sind die Individuen. Diese Identität ist die demokratische Verfassung." 24 So schreibt er der Polis eine soziale Identität und harmonia zu, die in die Sphäre eher kleinerer Stammesgemeinschaften in der Phase der militärischen Demokratie gehört. Unreflektiert und selbstverständlich gälte den Individuen das Recht der Gemeinschaft, die gemeinsame Staatsangelegenheit, das Allgemeininteresse als ihr We-1 sentlichstes, Persönlichstes im Sinne von Sitte und Gewohnheit; kein besonderer, dem Allgemeinen entgegengesetzter Wille und kein besonderes Interesse haben sich hier konstituiert; allgemeiner Inhalt und individuelles Wollen seien eine ungetrennte Einheit, es gebe noch kein abstrakt-allgemeines Gesetz, noch keine Regierung als besondere Organisation, auch sei „die Moralität im eigentlichen Sinne, die Innerlichkeit der Überzeugung und Absicht noch nicht vorhanden 25 . . . , die Gesetze gelten, weil sie da sind als Gesetze des Vaterlandes. Ich gehorche ihnen nicht, weil ich mich davon überzeuge, daß sie gut sind; sondern es ist einfache Sitte, nach der ich lebe, die keinen anderen Grund zuläßt und die ich . . . als gut hinnehme." „Daher kann das Interesse der ganzen Gemeinde in den Beschluß der Individuen gelegt werden . . . Für einen solchen Charakter ist die Demokratie das einzig Mögliche und Notwendige." Soweit Hegels Charakterisierung der Polisdemokratie. Doch diese „schönste Verfassung, die reinste Freiheit, die jemals existiert hat", wird von ihm sogleich auf eine Weise eingeschränkt, die den wertenden Superlativen kontrastiert. Zunächst: Die Demokratie sei beschränkt in räumlicher Hinsicht, realisierbar nur für kleine Staaten, vor allem Stadtstaaten mit beschränkter Bevölkerung und wechselseitiger Bekanntschaft, gleicher Bildung und mündlicher Kommunikation. Zum anderen legt er dar, daß „mit der demokratischen Verfassung und der schönen Weise ihrer Freiheit die Sklaverei verbunden ist und sein muß". Die Sklaven seien Bedingung der Gleichheit und Freiheit der Bürger, ihnen obliegen die besonderen Beschäftigungen; Sklavenarbeit setze die Bürger frei für die politische Betätigung, enthebe sie der alltäglichen Arbeit - und unter der Bedingung relativ geringer Vermögensunterschiede sichere sie deren unspezialisierte Gleichheit als politische Bürger jenseits der Sphäre der Handwerksarbeit im öffentlichen Leben der Polis. Diese Gleichheit „brachte das Ausgeschlossensein der Sklaven mit sich" 26 . 210

Daraus erwächst die grundsätzliche Grenze der griechischen Freiheit: D a ß „der Mensch" frei sei, dies „wußten Plato und Aristoteles nicht, darum haben die Griechen nicht nur Sklaven gehabt und ist ihr Leben und der Bestand ihrer schönen Freiheit daran gebunden gewesen, sondern auch ihre Freiheit war selbst teils nur eine zu* fällige, unausgearbeitete, vergängliche und beschränkte Blume, teils zugleich eine harte Knechtschaft des Menschlichen, des Humanen." 27 Schon von dieser Einsicht in die Rolle und Funktion der Sklaverei her - die der Sache nach nicht neu war - erweist sich der illusionäre Charakter einer Wiedergeburt der Polis als bürgerliche Zielsetzung. Doch zugleich argumentiert Hegel von dieser Sicht der Polis aus gegen die Demokratie, die er nur ihr zugesteht. Der Demokratismus der Französischen Revolution, allgemeiner noch in modernen Staaten sei unberechtigt und illusionär, weil eben die Einzelinteressen vereinzelt, die harmonische Identität der Interessen der Freien aufgehoben, die unmittelbare Kommunikation der kleinen Stadtstaaten in den Großterritorien durch Papier ersetzt und der Staat gegenüber den Bürgern zu selbständiger Macht konstituiert seien. Was für den jungen Hegel in seiner idealisierenden Sicht Argument gegen die politischen Zustände, wendet der reife umgekehrt an für die bestehenden Staaten gegen die Demokratie als Form politischer Willensbildung. Er kehrt nicht den Gedanken des Demokratismus gegen die Grenzen seiner Verwirklichung in den modernen bürgerlichen Staaten, sondern glaubt mit den - konservativ scharf gesehenen - Grenzen den Gedanken, die politische Forderung widerlegen, als unberechtigt nachweisen zu können. Das politische Ergebnis der Revolution, die Napoleonische Diktatur, war sein bejahter Ausgangspunkt und von oben gesteuerte Verbürgerlichung der Verhältnisse sein illusionäres Programm, dessen Erwartungen schon 1830 widerlegt wurden. Gegenüber politischer Aktivität, der Selbstbetätigung der Massen verhielt er «ich als politischer Vertreter des Ancien régime. Notwendig geht diese schöne Polisfreiheit Athens unter, wenn die Reflexion einsetzt, das Prinzip einer anderen Zeit, die subjektive Freiheit geboren wird. Denn: „Die innere absolute Bedingung dep Demokratie ist Einheit der Besonderheit mit dem allgemeinen Interesse des Staates." 28 Indem die Besonderheit des besonderen Interesses in der Reflexion zu Bewußtsein gebracht wird, setzen Auflösung und Untergang ein, 14*

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Athen und Griechenland zerbrechen an Individualismus und Partikularismus : „Indem Athen das Bewußtsein seiner selbst, seiner Idealität erlangte, hat es sich selbst überlebt; denn eben diese Idealität war auch das Prinzip des Verderbens der Sittlichkeit. Dies Verderben besteht nämlich darin, daß sich der Mensch aus der allgemeinen Sitte zurückzieht. Das Zurückgehen des Individuums in sein Selbst bringt einerseits in Kunst und Wissenschaft das wahre Wesen zum Anschauen, zur äußeren Gegenständlichkeit; andererseits findet das Individuum in sich seine Partikularität und will diese gegen den allgemeinen Zweck geltend machen. Dadurch entsteht das Verderben des allgemeinen Gesetzes, der allgemeinen Sitte . . ."29 Näher ausgeführt wird dies an der Unfähigkeit, einen gemeinsamen griechischen Staat zu bilden, für die notwendig begrenzten Stadtstaaten, dargelegt am Kampf zwischen Athen und Sparta. Als tiefere, gründende Form des Verderbens versteht Hegel, daß „das Prinzip des freien Gedankens, der Innerlichkeit den Bruch hervorgebracht" habe: Weil eben der Geist „zu dem Gedanken, zu der Idealität eines innerlich Allgemeinen" fortgeschritten Sei. Auch „die Ausbildung der Kunst steht in dem Prinzip, daß die Individualität sich innerlich wird, daß es sich nicht mehr um ein Interesse an der Wirklichkeit handelt, daß die Individuen nicht mehr ihr Interesse am Staat haben, sondern sich in sich zu verlieren anfangen, daß sich die Wirklichkeit in Idealität verwandelt. Die Kunst bringt selbst den Untergang der schönen Religion herbei, indem sie alles Sinnliche offenbar macht. .." So habe „das Prinzip der griechischen Schönheit... in sich . . . das Prinzip der individuellen Subjektivität" 30 enthalten. In der idealistischen Verkehrung des Primären und Sekundären entwickelt Hegel die Krise der Polis aus der Dialektik von An-sich und Für-sich, ein Konstruktionsprinzip, das dennoch formell wesentliche Seiten des Geschichtsprozesses spiegelt, zugleich den Rahmen liefert für die Fülle historisch-politischer und -ökonomischer Erkenntnisse. Entscheidend für diesen Zusammenhang ist, daß die Krise der Polis notwendige Stufe in der Herausbildung dessen ist, was die moderne Welt als Prinzip konstituiert. Nur aus Griechenland habe die „besondere Individualität", die selbstbewußte Persönlichkeit hervorgehen können, die das griechische Leben nicht ertragen konnte: Es zersplitterte an dem, was es notwendig freisetzte, mußte dem aussichtslos verstrickten Kampfe seiner 212

Partikularitäten erliegen. Aber damit der in dieser selbstbewußten Persönlichkeit liegende „Keim, das Prinzip für den Geist der höheren Freiheit" sich entfalten konnte, waren die Befreiung von dem N a t u r elemente, der Partikularität der Individualität, die Bildung der abstrakt allgemeinen Persönlichkeit notwendige Bedingung. Diese ihrerseits realisierte sich unter der Bedingung der brutal allgemeinen und abstrakten Herrschaft des römischen Staates, dessen Zweck war, „daß ihm die Individuen in ihrem sittlichen Leben aufgeopfert wurden". „Das Konkrete in dieser Allgemeinheit ist nur die prosaische praktische Herrschaft." D e n n : „Erst muß das Herz der Welt brechen, ehe ihr höheres Leben vollkommen offenbar wird." 3 1 Hegels Bestimmung des griechischen Geistes charakterisiert diesen philosophisch als ästhetisch, und sie wertet ihn darin ästhetisch. Hier wird der eigentümliche Widerspruch manifest. Denn theoretisch stimmig ist dies nur unter der Voraussetzung des Systems und seines Konstruktionsprinzips, da das Sein als Subjekt in der Weise eines Erkenntnisprozesses idealistisch gedacht wird. D a s Schöne erscheint als vorbegrifflich-vortheoretische Stufe und Gestalt eines Prozesses, der im Theoretisch-Begrifflichen Wesen und Zielpunkt findet. So ist vom System her das E n d e der Kunst gefordert. Stimmig ist Hegels Konzept unter der weiteren Voraussetzung seiner klassizistischen Wertung, die in griechischer Klassik den absoluten Höhepunkt von Kunst und Schönheit sieht. D a r a u s resultiert die Bestimmung des griechischen Geistes als Stufe der Schönheit, deren identische Struktur als sinnlich-geistige, an die Erscheinung gebundene Erkenntnisstufe in der Harmonie der idealisierten Polis als Harmonie von Einzelnem und Allgemeinem, Individuum und staatlicher Gemeinschaft, in griechischer Menschenbildung und der Kunst, vor allem der plastischen erscheint. W i r d die Kunst derart als Stufe eines auf Begrifflichkeit zielenden Erkenntnisprozesses gefaßt, ist sie vorübergehende Phase, „niedere Erkenntnis" wie in der frühen rationalistisch-idealistischen Aufklärungskonzeption. Wird Schönheit schlechthin auf das Modell klassischer Idealität vereidigt, ist sie vergangen. Aber die Gleichung ist nicht stimmig, wenn wir die nur vom System behauptete Identität von ästhetischem und theoretischem Verhalten nicht mitvollziehen. D e r ästhetische Urteilsakt spricht anderes aus als die theoretische Behauptung seines Inhalts. D i e Wertung griechischer Klassik als höchster Schönheit verrät nicht die Beruhigung des höheren Standpunktes, nicht die Bedürfnislosigkeit in theo213

retischer Selbstgenügsamkeit verharrender Kontemplativität. Die im ästhetischen Urteil artikulierte Beziehung, die darin offenbare Erfahrung des Schönen als gegenwärtig wirkende, fordernde und erfüllende Schönheit widerlegt das theoretische Diktum ihres Vergangenseins und ihre Aufhebung. In der ästhetischen Wertung äußert sich das in der Theorie nicht Aufgehobene als Protest gegen ein Denken, dessen Ziel das systematische Auf-den-Begriff-Bringen der Epoche ist, es widerlegt deren Abschluß- und Vollendungsillusion - wie die Systemillusion. Folgen wir jetzt Hegels Bestimmung des griechischen Geistes: „ D i e Stufe des griechischen Bewußtseins ist Stufe der Schönheit. Denn Schönheit ist das Ideal, der Gedanke aus dem Geist entsprungen; aber so, daß die geistige Individualität noch nicht für sich ist, als abstrakte Subjektivität, die sich dann in ihr selbst ihr Dasein zur Gedankenwelt auszubilden hat. Sondern diese Subjektivität hat die natürliche sinnliche Weise noch an ihr; so daß aber diese natürliche Weise nicht im gleichen Range, in der gleichen Würde steht noch das Überwiegende ist, wie im Orient. Jetzt hat das Prinzip des Geistigen den ersten Rang, und das Naturwesen gilt nicht mehr für sich in seinen existierenden Gestaltungen; sondern ist vielmehr nur Ausdruck des durchscheinenden Geistes und zum Mittel und Weise des Geistes herabgesetzt. Der Geist hat aber noch nicht sich selbst als Medium, sich in sich selbst vorzustellen und darauf seine Welt zu gründen". 3 2 D a s sinnliche Scheinen der Idee, die Einheit des Sinnlichen mit dem an und für sich Geistigen macht das Schöne aus. E s ist Bewußtwerden und Ausdrücken des „Göttlichen" im Sinnlichen, Identität des Substantiellen mit dem Subjektiven - und nach diesem Prinzip der Schönheit als der Einheit und Mitte von Sinn und Geist, Begriff und Empfindung, Allgemeinem und Einzelnem, so, daß keines sich gegen das andere verselbständigt - , nach diesem Prinzip bestimmt Hegel „den griechischen Geist" als „freie, schöne Individualität", als den „plastischen Künstler, der das Natürliche zum Ausdruck des Geistigen umkehrt . . ., dem Steine den Geist einhaucht und den Geist im Steine darstellt" und erklärt, daß „die Freiheit, wie sie in Griechenland war, die schönste, die je auf Erden irgendwo existierte", daß die griechische Religion Religion der Kunst sei, „die Bewegung der ausgearbeiteten Menschlichkeit, ihre Werke und Handlungen machen ihren Inhalt aus. Der Charakter der Gottheit bei den Griechen ist das rein Schöne"; „Gegenstand der Verehrung" sei „die ideali-

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sierte Menschheit", so daß das menschlich und außermenschlich Natürliche umgebildet werde durch die produktive Tätigkeit des Geistes zu dessen reinem, geschlossenem Ausdruck. Vom griechischen Geist wie vom Künstler gilt: „Seine Konzeption kann ihm noch nicht im Geiste werden als Gegenstand des reinen Gedankens, sondern das Organ, sich seiner bewußt zu werden, ist das sinnliche Element" 33 . „Den Mittelpunkt der Kunst macht die zu freier Totalität in sich abgeschlossene Einigung des Inhalts und der ihm schlechthin angemessenen Gestalt aus. Diese mit dem Begriff des Schönen zusammenfallende Realität, welche die symbolische Kunstform vergebens anstrebte, bringt erst die klassische Kunst zur Erscheinung." „Die klassische Schönheit mit ihrem unendlichen Umfange des Gehalts, Stoffes und der Form ist das dem griechischen Volk zugeteilte Geschenk gewesen." Und in der Ästhetik begründet dies Hegel wiederum aus der schönen Mitte, in welcher die Lebenswirklichkeit der Griechen sich bewegt habe - bis hin zum Gedanken: „die Substanz des Staatslebens war ebenso in die Individuen versenkt, als diese ihre eigene Freiheit nur in den allgemeinen Zwecken des Ganzen suchten". So durchzieht und bestimmt Schönheit alle „Produktionen, in welchen die griechische Freiheit sich bewußt geworden ist und ihr Wesen sich vorgestellt hat". Hier erreicht die Schönheit ihren Gipfelpunkt. Doch als reine Vollendung dieser Schönheit erscheint die klassische Skulptur: „Die Skulptur ist die eigentliche Kunst des klassischen Ideals als solchem". Deshalb sei „in seinen Dichtern und Rednern, Geschichtsschreibern und Philosophen . . . Griechenland noch nicht in seinem Mittelpunkt gefaßt, wenn man nicht als Schlüssel zum Verständnis die Einsicht in die Ideale der Skulptur mitbringt und von diesem Standpunkt der Plastik aus sowohl die Gestalten der epischen und dramatischen Helden als auch der wirklichen Staatsmänner betrachtet. . ." Den Gipfelpunkt erreicht diese Plastik in der Entfaltung der künstlerischen Freiheit nach archaischer Gebundenheit. „Dieser Freiheit allein gelingt es, auf der einen Seite die Allgemeinheit der Bedeutung in die Individualität der Gestalt ganz hineinzuarbeiten, andererseits die sinnlichen Formen zur Höhe des echten Ausdrucks ihrer geistigen Bedeutung zu erheben". Historisch und systematisch gesehen drängen für Hegel die romantischen Künste über die Kunstform hinaus schon zu einer höheren Bewußtseinsform durch das „in den Inhalt und die künstlerische Darstellungsweise hineinbrechende Prinzip der Subjektivität" 34 . Das gilt 215

für Malerei, Musik, Poesie - das gilt für die christliche und bürgerliche Kunst. So hat eben in der griechischen Skulptur das klassische Ideal seine Erfüllung, in der Verwirklichung des klassischen Ideals in Griechenland die Kunst ihre Erfüllung und ihren Höhepunkt, und in der Geschichte des menschlichen Geistes hier - im historischen Raum Griechenlands - die Schönheit ihren geschichtlichen Ort gefunden: „Ich glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, daß, wer die Werke der Alten nicht gekannt hat, gelebt hat, ohne die Schönheit zu kennen." 35 Wie Hegel einst sein Polisideal der zeitgenössischen Wirklichkeit entgegenstellte, so steht jetzt die Schönheit vollkommener griechischer Kunst im Gegensatz zu ihr. Diese Schönheit ist vergangen, unwiederholbar und dennoch gegenwärtig, Angedenken und im Angedenken anwesend - als Objekt der Sehnsucht, als Erfüllung am schönen Bilde. Sie wurde vom fortschreitenden G a n g des Geistes zu höherer Stufe der Erkenntnis nicht aufgehoben. D a s ästhetische Werten Hegels widerlegt seinen Begriff und zeigt die Bedürftigkeit an. In seiner Wertung wird die Beziehung zum schönen Gegenstand - hier der klassischen Kunst - artikuliert, Harmonie zwischen Subjekt und Objekt, das als Bild für seine Gegenständlichkeit steht und eine Welt bedeutet; im Verhältnis der Bejahung erfährt das Subjekt sich in erfüllter, im Scheinen verwirklichter Möglichkeit, erfährt sich bestätigt. Hegel hat wie keiner vor ihm den geschichtlichen menschlichen Gehalt des Schönen, das für eine geschichtliche Welt Bedeutende, Weltanschauliche des Kunstwerks sichtbar gemacht, das Sichobjektivieren, Vergegenständlichen, Ausarbeiten einer historischen Stufe menschlichen Werdens. Und als Gehalt des vollkommen Schönen faßte er jene unentfremdete freie Menschlichkeit, die er der antiken Polis, ihrer Welt der Freien zusprach. Sie bleibt im schönen Bilde Gegenstand der Bejahung und Sehnsucht, gerade weil sie im gegenwärtig Wirklichen vermißt wird, die im Bilde verwirklichte Möglichkeit, die die Wirklichkeit versagt. D i e im klassisch schönen Bilde erscheinende verwirklichte Schönheit als Objekt ästhetischer Wertung, als Norm des Schönen und der Kunst schlechthin ist somit Indikator dafür, was in der nachrevolutionären bürgerlichen und restaurativen Gesellschaft nicht erfüllt, unverwirklichte Intention, Erwartung, Bedürfnis ist: denn ohne Bedürfnis keine Mangelerfahrung. Eben dieser Mangel wird erfahren, und das Bedürfnis findet ästhetisch Erfüllung im Bilde freier Menschenschönheit. Diese Wertung ist Anzeichen, ja Äußerung dessen, was die Notwendigkeit des ge-

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schichtlichen Zustandes und Machtbestandes, der Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee unterdrückt, ausschließt, nicht verwirklicht, dessen, was eben nicht im Höheren aufgehoben ist. Was die Utopie einst suchte, fehlt immer noch. - Das Begreifen dessen, was ist, als das, was sein soll, kann dies Suchen nicht aufheben. Es artikuliert sich im ästhetischen Urteil. Die Versöhnung gelang also nicht. Das ästhetische Werten protestiert, wo die Theorie schweigt. Die Unterwerfung unter die begriffene und somit interpretierte Notwendigkeit wird von ihrem Subjekt desavouiert. Der Aufstand der unaufgehobenen, unterdrückten, widerlegten, besiegten Utopie auf dem Umwege der ästhetischen Wertung gegen die Totalität des Systems, den Zwang seiner Logik, gegen seine Positivität zeigt den Widerspruch in Hegel. Hier meldet sich - gewiß ohne Bewußtsein und Wollen - das Unterdrückte, Aufständige seiner Epoche, seiner bejahten und als notwendig verklärten und verabsolutierten Gesellschaft an, meldet sich an als Bedürfnis. Mehr freilich nicht. Hegel verabschiedet den Klassizismus - mit Recht, insofern die Norm klassischer Schönheit unrealisierbar geworden. Im festgehal j tenen Widerspruch dieser Schönheit zu seiner Epoche aber spricht er kritisch deren Defekt aus, deren Widerspruch. Die Rückwendung seines Blicks, die Fixierung aufs Vergangene entspringen nicht nur der Entfremdung der Theorie von der Praxis, sie verdecken, daß das im ästhetischen Urteil sich äußernde Bedürfnis auf zukünftige Erfüllung zielt. Es meldet die Negation seiner Position und damit die Relativität seiner verabsolutierten Prinzipien an. So - auf diesem Umwege kündigt sich in seinem Philosophieren selbst jene Dialektik der Zukunft an, die den falschen Positivismus und Idealismus zerbricht und materialistische Dialektik freisetzt, aber nur als sich selbst nicht verstehendes Bedürfnis. Es macht die Illusion im Realismus der Macht und die Entfremdung in der Utopie des in der Philosophie sich begreifend-vollendenden Weltgeistes sichtbar. Doch so blind Hegel war für die produktiv-revolutionären Potenzen, die die bürgerliche Gesellschaft erzeugt, so blind blieb er auch für die Möglichkeit anderer, neuer Schönheit. Hegel blieb also - bei aller Wandlung und Entwicklung - auf das utopisierende Griechenlandbild als bürgerlichen Erfüllungstraum fixiert: Wo er es desillusioniert historisch-realistisch und theoretischkonstruktiv widerlegt und verdrängt, kehrt es als ästhetisches Ideal und Bedürfnis wieder, bewahrt in der Ohnmacht der Bildungsinner217

lichkeit. Das bedingt mit die konstruktive Unfruchtbarkeit der Ästhetik als System. Hier - wie im ganzen seines Philosophierens - bewährt sich die ideologische Funktion des Idealismus im Verdecken gerade der materiellen, über die bürgerliche Gesellschaft hinaustreibenden produktiven Kräfte im allgemeinen, der daraus resultierende und politisch potenzierte „falsche Positivismus" in der Beziehung zur bestehenden Ordnung im besonderen. Erst mußte ideell das System, dieser Idealismus, das an diese Ordnung Fixierte zerbrochen werden, um die in ihm liegende revolutionäre Dialektik zu entfalten: was im theoretischen Begreifen eben der idealistisch negierten produktiven sozialen Kräfte erst durch Marx und Engels gelang. Es soll nun, um den in Hegel sichtbar werdenden Widerspruch in seiner Zeitgenossenschaft zu bestätigen und auf schon weiterführende Fragestellungen in der oppositionellen Intelligenz innerhalb des restaurativen Deutschland hinzuweisen, die über ihn hinausführen, wie die poetisch-philosophische Praxis und Leistung Goethes im Faust ihn produktiv widerlegte, die Position eines jüngeren Autors skizziert werden, die sich schon auf dem Boden der Resultate der Revolution gebildet hat. Für ihn war die Revolution fortwirkende Vergangenheit einer weitertragenden gegenwärtigen Entwicklung.

5 Der früh vergessene und seinerzeit anonym publizierende Carl Jochmann, der von Werner Kraft und Walter Benjamin neu entdeckt worden ist, veröffentlichte 1828 ein Buch: Über die Sprache, das aller Restauration Hohn sprach, in der Analyse der Sprache die geschichtlichen Zustände und politischen Verhältnisse erhellte, grundsätzliche nationale Selbstkritik übte und auf neue Weise die Frage nach dem geschichtlichen Fortschritt stellte. E r arbeitete zusammen mit dem Grafen Schlabrendorff, dem deutschen Emigranten im revolutionären Paris, dem kritischen Parteigänger der Revolution, deren Akteure er wie wenige persönlich kannte. Der 1789 geborene und schon 1830 gestorbene Jochmann steht nicht nur in der deutschen Tradition der radikalen Aufklärung - der Herder, Forster, Seume - , er steht in der direkten Kontinuität der deutschen Parteigängerschaft der Französischen Revolution und vermag deren Erfahrung zu verwerten. E r teilt weder die Illusionen des philosophischen spekulativen Idealismus noch einer „ästhetischen Erziehung" und ist bewußter Gegner der restaurativen Romantik. Ausschließlich in der Alter218

native zum Ancien régime denkend, hat er doch nicht die heroischen Illusionen der Französischen Revolution geteilt, vielmehr waren deren ökonomische und politische Resultate für ihn bewußtseinsprägend: Als weiterwirkende Vergangenheit war die Revolution ihm Ausgangspunkt einer nicht abgeschlossenen Umwälzung, die sich trotz aller Restauration unaufhaltsam vollzog. Er gab nicht ihren emanzipatorischen Anspruch preis, weder gegenüber der aristokratischen Reaktion, noch gegenüber der Praxis der bürgerlichen Gesellschaft, über die er hinreichend Erfahrungen in Frankreich und England gesammelt hatte. E r begann, ernster als die politische Form den sozialen Inhalt zu nehmen: Dadurch unterscheidet er sich ebenso von Hegels Staatsfetischismus wie von den Illusionen des deutschen Republikanismus. Nicht zufällig unter dem Titel Stylübungen notiert Jochmänn im letzten Kapitel seines Buches Aphorismen. Hier heißt es zum Thema Die erwachsene Revolution-, „Die Revolution ist zur Besinnung gekommen und hat sich von metapolitischen Schwärmereien zu den Geschäften des Lebens gewandt wie der Mann, nach einer durchtobten und verträumten Jugend, zum nüchternen aber wohltätigen Erwerb. Dieses Geschlecht wendet seine Blicke nicht länger nach Athen oder Sparta, sondern nach Manchester und Birmingham. Es will die Freiheit, aber nicht als Zweck, sondern als Mittel seines Wohlseins, und nicht dieser oder jener politischer Glaube, das Glück ist hinfüro die Bedingung des politischen Friedens." 36 In der Formel vom Glück meldet sich der neue Horizont der sozialen Frage an, in ihr verschmilzt das bürgerliche Wohlsein geschäftlichen Aufblühens mit Jochmanns Utopie einer „wahrhaft menschlichen Gesellschaft", deren soziale Freiheit herbeizuführen die Macht der Technik materielle Voraussetzung sei. Für Jochmann ist die klassische Polis ferne, fremde Vergangenheit. Seine Beziehung zu ihr ist historisch nüchtern. In einem nachgelassenen Aufsatz ist sein Hauptvorwurf gegenüber Robespierre - und Jochmann verteidigt das Recht, die welthistorische Bedeutung, die geschichtliche Unaufschiebbarkeit und Notwendigkeit der Französischen Revolution - , daß dieser die antike Tugend, die aus Plutarch bezogenen Ideale staatsbürgerlicher Tugend zum absoluten Modell der neuen Gesellschaft erhoben habe - ein „Bestreben, eine längst entseelte Form der Gesellschaft wieder zu beleben, das Unternehmen, unser Geschlecht auf eine Bildungsstufe zurückzuführen, die es seit Jahrtausenden verlassen h a t . . . 219

Neben dem Volke Lykurgs stand ein Volk von Sklaven, das planmäßig unterdrückt und entwürdigt werden mußte, um jenes zu erheben; und der Boden der römischen Republik war mit Arbeitshäusern bedeckt, die mit nichts zu vergleichen sind als den SklavenBagnios der heutigen Räuberstaaten . . . Alle Tugend der alten Welt - die erste und roheste Form der bürgerlichen Freiheit - war ein rauher herzloser Civismus, die Größe und das Recht weniger Tausende auf Kosten unterdrückter Millionen . . . " , welche „Tugend mit der Humanität unverträglich" sei. Dennoch: „Den sie fälschlich Freiheit nennen, der Civismus der alten Zeit, bleibt ewig erhaben über dem Egoismus der unsrigen, und eins steht nur höher als er - Humanität." So mußte Robespierre scheitern: „Diese hohen Gestalten einer grauen Vorzeit gleichen den Schatten der Unterwelt, welche der Magie heraufzurufen gelungen sein soll, die aber nur dem Meister gehorchten, der noch Höheres kannte als sie. Der Zauberlehrling unterlag den mächtigen Erscheinungen und büßte im Wahnsinne die allzukühne Beschwörung." 37 Doch eben dies sei Produkt europäischer Bildung, ihres Antagonismus von Leben und Lehre, Praxis und Geist, der in ohnmächtiger Idealität sich verzehrt. Dennoch bildet die „Lehre" die erlebten, gesuchten und geglaubten Ideale, auch die revolutionären Robespierres; „das Gewissen unserer frühen Jugendjahre lebt in ihnen, und aus der Tätigkeit eines reifen Alters, deren Beweggründe unser Innerstes beschämen, sehen wir mit Wehmut zurück auf eine Zeit, in der, war auch jede ihrer Hoffnungen eine Lüge, doch jedes unserer Gefühle der Wahrheit angehörte."136 Diese Wehmut bezieht sich nicht auf persönliche Jugendillusion, so sehr Jochmann gezahlt haben mag. Er begreift hier einen größeren historischen Zusammenhang. Das Erbe der Antike sei seltsam geteilt worden - Leistungen, Ideale, Normen der Blütezeit seien der Schule als Traditionsgut zugeschlagen worden, Herrschaftstechniken, Hofetikette bis zum Mystizismus aber der „Welt", das Arsenal der Verfallserscheinungen der spätantiken Monarchien. Hier reißt er erneut die Front zwischen dem Ancien régime, der feudalaristokratischen Welt und den bürgerlich-revolutionären Zielen auf. Zunächst laufe ohnmächtige Bildung neben antagonistischer Lebenswirklichkeit einher. Wie dauernde Natur erscheinen der abgestumpften Gewohnheit „die Mißverhältnisse des bürgerlichen Lebens . . . die Wehrlo j sigkeit der Völker, die Entfremdung ihrer Verteidiger, das Geheimnis der Verwaltung, ja der Gerechtigkeit.. .' revolutionäre Koalition, sie ernüchterte und vereiste, als der revolutionäre Verteidigungskrieg in den napoleonischen Eroberungskrieg umschlug und das bürgerliche Ausbeutungsprinzip bewaffnet auf das Verhältnis zwischen Völkern und Staaten übertragen wurde. Wie sollte dies eine junge Generation verarbeiten, die unter einem wachsenden gegenrevolutionären Druck aufwuchs, für die der Ausbruch der Revolution in die bildsamsten und begeisterungsfähigsten Jahre fiel, die aber keine echten Aktionsmöglichkeiten, bestenfalls Forderungen der Eingliederung, des Gehorsams, der inneren und äußeren Spesen der sozialen Sicherung und Etablierung vorfand? Die aufwuchs und reifte in einer Welt, die Hegel 1802 wie folgt charakterisierte: „Deutschland ist kein Staat mehr."11 So beginnt seine Untersuchung Die Verfassung Deutschlands in der Einleitung zur letzten Fassung von 1802. Später heißt es: „Die alten Formen sind geblieben, aber die Zeiten haben sich verändert und in ihnen Sitten, Religion, Reichtum, das Verhältnis aller politischen und bürgerlichen Stände und der ganze Zustand der Welt und Deutschlands. Jene Formen sprechen diesen wirklichen Zustand nicht aus: beide sind getrennt und einander widersprechend, und haben keine gegenseitige Wahrheit." 12 In einem älteren Einleitungsentwurf heißt es: „Das Gefühl des Widerspruchs der Natur mit dem bestehenden Leben ist das Bedürfnis, daß er gehoben werde, und dies wird er, wenn das bestehende Leben seine Macht und all seine Würde verloren hat, wenn es ein rein Negatives geworden ist. Alle Erscheinungen dieser Zeit zeigen, daß die Befriedigung im alten Leben sich nicht mehr findet." 13 Dies alte Leben „war eine Beschränkung auf eine ordnungsvolle Herrschaft über sein Eigentum, ein Beschauen und Genuß seiner völlig untertänigen kleinen Welt, und dann auch eine diese Beschränkung versöhnende Selbstvernichtung und Erhebung im Gedanken an den Himmel . . . ein besseres Leben hat diese Zeit angehaucht. Sein Drang nährt sich an dem Tun großer Charaktere einzelner Menschen, an den Bewegungen ganzer Völker, an der Darstellung der Natur und des Schicksals durch Dichter. . , " u Dies Zitierte steht bei aller Zurückhaltung, bei allem Bemühen, nicht mehr nur Ideal und Wirklichkeit verzweifelt zu konfrontieren, sondern das Vernünftige im Wirklichen und hier die geschichtliche Bewegung aufzusuchen, weltanschaulich auf dem Boden der Emanzipationsideologie, es führt weiter, was Lessing, Kant und Schiller repräsentierten. Freilich - Hegels Sicht ist charakteristische intellek233

tuelle Ideologensicht, beachten wir die Quellen, aus denen der .Drang zum Neuen sich nährt. In politischer Hinsicht hoffte er auf äußere Gewalt - er war kein Demokrat - in einer Situation, da Frankreichs Heere nicht mehr die Fahne der Revolution und damit antifeudale Freiheit brachten. Er gehörte zu jener Generation, der Friedrich Schlegel, Novalis und Tieck entstammten, doch auch Hölderlin. Und der „Drang" lebte zunächst auch in denen, welche die Avantgarde der frühen Romantik wurden. Im Januar 1793 schrieb Tieck an Wackenroder: „Du sprichst ja gar nichts von den Franzosen? Ich will nicht hoffen, daß sie dir gleichgültig geworden sind . . . O wenn ich itzt ein Franzose wäre! Dann wollt ich nicht hier sitzen, dann — Doch leider, ich bin in einer. Monarchie geboren, die gegen die Freiheit kämpfte . . . es muß doch ein groß Gefühl sein, unter Dumouriez zu fechten und Sklaven in die Flucht zu schlagen und auch zu fallen . . . Ich begrüße den Genius Griechenlands mit Entzücken, den ich über Gallien schweben sehe . . . ist Frankreich unglücklich, so verachte ich die ganze W e l t . . . Dann ist für unser Jahrhundert der Traum zu schön, . . . dann ist Europa bestimmt, ein Kerker zu sein."15 Am 5. März schrieb Wackenroder an Tieck: „Die Hinrichtung des Königs hat ganz Berlin von der Sache der Franzosen zurückgeschreckt: aber mich gerade nicht. Über ihre Sache denke ich wie sonst."16 Erinnert sei an Friedrich Schlegels Republikanismus, an seinen kühnen Forster-Aufsatz, als alle anderen schwiegen, an des Novalis - vorübergehende - Sympathie mit der Revolution, erinnert sei an Schellings Anfänge, als er 1795 publizierte: „Je süßer ein Volk von der übersinnlichen Welt träumt, desto verächtlicher, unnatürlicher ist es selbst . . . Derselbe Mensch, der in der übernatürlichen Welt seine Existenz erbettelt, wird in dieser Welt zum Plagegeist der Menschheit, der gegen sich selbst und andere wütet. Indem er aus den Seligkeiten jener erwacht, kehrt er in diese zurück, um sie zur Hölle zu machen."17 Erinnert sei an den jungen Gentz, an den jungen Görres. Doch bald darauf haben wir Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), Wackenroders.und Tiecks Phantasien über die Kunst - und sie enthielten die Botschaft von der Kunst als Erlösung und der Religion als Boden der Kunst sowie die erste romantische Feier altdeutscher Kunst, wenn auch noch nicht in nationalistischem Sinne. 1798 folgt des Novalis Glauben und Liebe und sein Bekenntnis zur Monarchie, 1799 ist seine geschichtsphilosophische Programmschrift unter dem späteren Redaktionstite! Die 234

Christenheit oder Europa fertig, die zwar nicht publiziert wurde, dennoch allgemein vorzeichnet, was dann der Weg Friedrich Schlegels zeitigte - jedoch einseitiger noch, brutaler, zelotischer. Schellings polemisches Gedicht Hans Widerborst, in dem dessen aufrichtiger Jugendgedanke zum epikureischen Materialismus satirisch-aggressiv sich zuspitzte, blieb ebenfalls unpubliziert. Das Athenaeum, programmatisch für romantische Poesie in seiner Forderung „transzendentaler Universalpoesie" und einer neuen Mythologie, dokumentiert den weltanschaulichen Übergang, als Friedrich Schlegel seinen Geschmack an der Religion fand. Novalis drückt noch das Bewußtsein einer Zeitwende aus, entwirft die Perspektive einer Umwälzung, als deren Ergebnis er die Aufnahme auch der neuen bürgerlichen Welt in Versöhnung mit dem Alten sieht in der verklärenden Sicht eines den Katholizismus mit dem Protestantismus versöhnenden, von der Kirche beherrschten und geeinten Europa. Dagegen verkündet Friedrich Schlegel, der einstige Herold des Republikanismus, in seiner LessihgAuswahl, in der Erfindung eines dritten Gesprächs zwischen Ernst und Falk, das 1804 erschien, grob und eindeutig, Lessings Intention geradezu auf den Kopf stellend: „Es kann und darf laut gesagt werden, daß der Zweck der neueren Philosophie sei, die herrschende Denkart des Zeitalters ganz zu vernichten, und sich eine ganz neue Literatur und ein ganz neues Gebäude höherer Kunst und Wissenschaft zu gründen und aufzuführen. Es kann und darf gesagt werden, daß es ihr bestimmter Zweck sei, die christliche Religion wiederherzustellen. . . Es kann und darf gesagt werden, daß es der ausdrückliche Zweck der neuen Philosophie sei, die altdeutsche Verfassung, das heißt das Reich der Ehre, der Freiheit und treuen Sitte wieder hervorzurufen, indem man die Gesinnung bilde, worauf die wahre freie Monarchie beruht, und die notwendig den gebesserten Menschen zurückführen muß zu dieser ursprünglichen und allein sittlichen und geheiligten Form des nationalen Lebens." 16 Fünf Jahre später zog Friedrichs Bruder August Wilhelm in einem Brief an Schelling das Fazit, daß in der „Ausbildung des neueren Idealismus in Deutschland . . . eine wahrhafte Rückkehr zu längst aufgegebenen Ansichten und Gesinnungen unverkennbar" sei. Diese sei nicht der Philosophie als einem bloßen Medium zuzuschreiben, sie vielmehr „liegt in einer Reaktion gegen unsere bisherige Bildung, über deren Nichtigkeit uns die Weltbegebenheiten die furchtbarsten Aufschlüsse gegeben haben, und so ist es die Vorsehung selbst, die uns dabei leitet . . ," 19 Er beruft sich auf Novalis als einen der ersten 235

Doch war dies nicht schlechthin dessen Intention, sondern die ideologische Logik dessen, was Novalis' Programm zeitigen mußte in den Klassenkämpfen der Epoche. D a s erste Stichwort hatten Wackenroder und Tieck gegeben. Novalis vollzog paradigmatisch die Entwicklung von Fichte über einen mystischen Pantheismus und magischen Idealismus zum positiven Christentum, das bei ihm allerdings theosophisch-mystisch und pantheistisch schillert. Novalis aber hatte programmatisch die Negation der Aufklärung formuliert: daß nämlich der religiös bergenden Einheitskultur des Mittelalters die Spaltung gefolgt sei, und diese dann wertbetont als Zerstörungsprozeß geschildert: „Der anfängliche Personalhaß gegen den katholischen Glauben ging allmählig in Haß gegen die Bibel, gegen den christlichen Glauben und endlich gar gegen die Religion über. Noch mehr der Religions-Haß dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Phantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit, setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom des Zerfalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei." 2 0 An den Alternativen des Novalis zeigt sich der Gegensatz zwischen dem Adressaten seiner Kritik - und ihrem wirklichen, wesentlich unbegriffenen Gegenstand: ein Widerspruch, der durch die ideologischtheologische Illusion vermittelt und zugleich verdeckt wird. Seine Argumentation können wir bis in die Gegenwart theologisch-klerikaler Ableitungen des dialektischen Materialismus verfolgen, sie findet zugleich eine charakteristische Variante bei Nietzsche und seinen Nachfolgern. Doch ist dies ein Sonderthema. Novalis selbst träumte noch von einer Synthese, von einem dritten Weg der Aufhebung der Gegensätze seiner Epoche, die in seiner schwärmerischen Sicht so aussah: „Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinette, des gemeinen Bewußtseins ist keine Vereinigung denkbar. Beide Teile haben große nothwendige Ansprüche und müssen sie machen, getrieben vom Geist der Welt und der Menschheit. Beide sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust; hier die Andacht zum Alterthum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten 236

glorreichen Staatsfamilie und die Freude des Gehorsams; dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen, der Stolz auf menschliche Allgemeingültigkeit, die zwanglose Berührung mit allen Staatsgenossen, die Freude am persönlichen Recht und am Eigentum des Ganzen, und das kraftvolle Bürgergefühl. Keine hoffe die Andre zu vernichten, alle Eroberungen wollen hier nichts sagen. . ." 21 Novalis sucht einen Ausgleich, Versöhnung der von ihm ganz ideologisiert gesehenen Antagonisten. Weder will er, wofür er an der Revolution Sympathie empfunden, preisgeben, noch die althergegebrachte Machtstruktur; ihm wollen sich die Freude am Gehorsam und die Freude am persönlichen Recht verschmelzen. Positionen bürgerlich aufgeklärter Beamtenschaft, verbürgerlichten Adels und eines ständisch geprägten, selbstbewußter werdenden Kleinbürgertums kommen hier zu Wort, das Interesse an Sicherheit des bürgerlichen Eigentums und angeforderter Aufstiegs- und Wirkungsmöglichkeit im auf feudaler Grundlage beruhenden absolutistischen Staat. In Novalis lebte die schwärmerische Illusion eines großen Aufbruchs, einer Weltwende, eines Neuansatzes aus dem Jenenser Kreis heraus, zu dessen Hintergrunderfahrungen gehörte, daß die Französische Revolution ihre - utopisierten - Ziele nicht erreicht hatte. Und die hochgestimmten Ideologen suchten nun, angesichts einer Konstellation, da die französischen Heere nicht mehr unter kosmopolitischer Freiheitsund Befreiungsfahne erschienen, eine neue Perspektive.Novalis drückt dies überschwenglich genug aus, nicht weniger selbstbewußt projektiert sich Friedrich Schlegel als Religionsstifter - und analoge Töne, eben nur mit erheblich andrer, die revolutionäre Zielsetzung festhaltender Orientierung finden wir bei Hölderlin. Das Schisma, das zwischen 1797 und 1803 sich herausbildet in der jungen Generation der um 1770 Geborenen, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Friedrich Schlegel, anfänglich Klassizist klarster Programmatik und republikanisch gesinnt, ließ schon im ersten Heft der Europa (1803) ein neues politisches Programm sichtbar werden. Er besingt dort die Wartburg. „Man fühlt es recht und glaubt es zu verstehen, beim Anblick solcher Felsenschlösser, wie die Wartburg, warum die Alten auf den Höhen des Landes in ihren Burgen lebten und welche Lebensfreude damit verbunden war. Seitdem nun die Menschen herabgezogen sind zueinander und sich alles um die Landstraßen versammelt hat, gierig nach fremden Sitten wie nach fremdem Gelde, stehen die Höhen und Burgen verlassen und die Kunst 237

scheint verloren, dieses herrliche Land auf die edelste und angemessenste Art zu bewohnen und zu beherrschen . . . Diese Poesie ist nun verschwunden und auch die Tugend, die mit derselben verschwistert war. Statt des Furor Tedesco . . . ist nun die Geduld unsere erste Nationaltugend geworden und nebst dieser die Demuth zum Gegensatz jener ehedem herrschenden Gesinnung. . . Vielleicht wird der schlummernde Löwe noch einmal erwachen und vielleicht wird, wenn wir es auch nicht erleben sollten, die künftige Weltgeschichte voll seyn von den Thaten der Deutschen." 2 2 Das führte dann 1809 zu folgendem Kampfgesang Friedrich Schlegels, das inzwischen österreichische Vaterland zu retten: „Der deutsche Stamm ist alt und stark/Voll Hochgefühl und Glauben./Die Treue ist der Ehre Mark,/ Wankt nicht, wann Stürme schnauben." 2 3 Ludwig Hülsen, der Freund der Jenenser Zeit, schrieb 1803 an August Wilhelm Schlegel. E s heißt dort, nachdem Hülsen die D i f ferenz in bezug aufs Christentum, das er ablehnte dargelegt: „Soviel hoffe ich indes mit Zuversicht, es naht eine bessere Zeit des Lebens,, die an Wahrheit und innerer Fülle die uns bekannte Vergangenheit verdunkeln wird. Nur behüte uns der Himmel, daß die alten Burgep nicht wieder aufgebaut werden. Sagt mir, lieben Freunde, wie soll ich. euch darin begreifen? Ich weiß es nicht. . . Ihr mögt die glänzendste Seite des Ritterwesens hervorsuchen, sie wird so vielfach wieder verdunkelt, wenn wir es im Ganzen nur betrachten wollen. Friedrich, möge in die Schweiz reisen . . . die Kinder erzählen ihm noch von den ehemaligen Zwingherren . . . und das Angedenken dieser Tyrannen scheint in den Trümmern unverwüstlich. . . Viel lieber möchte man wünschen, daß der große Haufe, den wir Volk nennen, uns G e lehrte und Ritter sämtlich auf den Kopf schlüge, weil wir unsere Größe und Vorzüge allein auf sein Elend gründen können. Armenhäuser, Zuchthäuser, Zeughäuser und Waisenhäuser stehen neben den Tempeln, in welchen wir die Gottheit verehren wollen. . . Man m u ß den Menschen erst vergessen, wenn man in Rittern und Herren noch eine Größe finden will." 2 4 Hülsen war ein selbständiger Kopf. E r war von Fichte, dessen Schüler er gewesen, in Richtung auf einen religiös gefärbten objektiven Idealismus fortgeschritten. Hier kommt eine Schlegel entgegengesetzte Klassenwertung zum Ausdruck, ein Humanismus demokratischer Grundhaltung und aufklärerischer Gesinnung von seltener Radikalität: „. . . das Leben eines einzigen in seinen Anforderungen an die Gesellschaft - möge er der elendste auch seyn - ist bei weitem

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mehr als der höchste Ruhm, den wir als Gelehrte und Ritter erklingein und verfechten mögen . . . Für eine beobachtende Intelligenz würde in der ungebildetsten Gesellschaft noch immer mehr Göttliches sichtbar werden als wir durch Künste und Wissenschaften in ihrer höchsten Verfeinerung je darstellen können, wenn irgend ein Sohn der Freiheit ihr Opfer geworden. . ."25 Dies mag in seiner vehementen Kritik ein Beispiel sein jenes Schismas, jener Scheidung der ideologischen Fronten. Ein anderes sei der Gegensatz, der sichtbar wird, als Hölderlin den Hyperion, Novalis die Hymnen an die 'Nacht schrieb. Hülsens philosophische Position fand dort ihre Grenze, wo er über die elementare Humanität hinausgehen wollte: Er resignierte auif ein subjektives Lebensgefühl und Lebensreformertum, vermochte auch gedanklich nicht den Widerspruch in der historischen Bewegung selbst zu begreifen, was Kant und Hegel auf unterschiedlicher Stufe unternahmen. Jedenfalls bedarf Hülsen einer eingehenden Untersuchung. Versuchen wir nun den Punkt dieser Wendung der Novalis, Schlegel und anderer zu finden, von dem her die Logik ihrer Entwicklung begreiflich wird. Ich will dazu auf den ersten romantischen Dichter und Programmatiker zurückgehen, auf Wackenroder, den schon 1798 verstorbenen, der nun nicht die philosophische Schule Fichtes durchlief. In den Phantasien über die Kunst steht das Wunderbare morgenländische Märchen von einem nackten Heiligen. Der orientalische Geist, erzählt Wackenroder - durchaus in der Tradition im Morgenland spielender Aufklärermärchen - , betrachte die „nackten Heiligen als die wunderlichen Behältnisse eines höhern Genius, der sich aus dem Reiche des Firmaments in eine menschliche Gestalt verirrt hat, und sich nun nicht nach Menschenweise zu gebärden weiß."2® Unser Heiliger war ein gequältes Geschöpf. Er fand Tag und Nacht keine Ruhe. „Ihm dünkte immer, er höre unaufhörlich in seinen Ohren das Rad der Zeit seinen sausenden Umschwung nehmen. Er konnte vor dem Getöse nichts tun, nichts vornehmen, die gewaltige Angst, die ihn in immerwährender Arbeit anstrengte, verhinderte ihn irgend etwas zu sehen und zu hören, als wie sich mit . . . gewaltigem Sturmwindbrausen das fürchterliche Rad drehte und wieder drehte, das bis an die Sterne und hinüber reichte . . . seine arbeitende Angst war immer mehr in den Strudel der wilden Verwirrung ergriffen und hineingerissen . . . man sah ihn Tag und Nacht in der angestrengtesten heftigsten Bewegung, wie eines Menschen, der heftig bemüht ist, ein ungeheures Rad umzudrehen. . . Wenn man ihn fragte, was er tue, 239

so schrie er wie in einem Krampf die Worte heraus: Ihr Unglückseligen! Hört ihr denn nicht das rauschende R a d der Z e i t ? " (Bd. 1, S. 157) E r verfluchte, und er erschlug, wenn er es konnte, Menschen, die Nützliches arbeiteten, empört, daß man angesichts des Zeitrades solch „taktloses Geschäft" (Bd. 1, S. 159) betreiben könne. Doch manchmal, in schönen Mondnächten, lag er weinend und winselnd am Boden, verzweifelnd, „daß das Sausen des mächtigen Zeitrades ihm nicht Ruhe lasse, irgend etwas auf Erden zu tun, zu wirken und zu schaffen. . . E r suchte etwas Bestimmtes, Unbekanntes, was er ergreifen und woran er sich hängen wollte, er wollte sich außerhalb oder in sich vor sich selber retten, aber vergeblich . . . mit lautem Brüllen sprang er von der E r d e auf und drehte wieder an dem gewaltig sausenden Rad der Zeit." (Bd. 1, S. 189) Doch in einer zauberhaften Mondnacht, da die E r d e im Mondlicht sich badete, alles verwandelt schien, fuhren zwei Liebende in einem Kahn auf dem Flusse. D e r Mondstrahl hatte ihnen „die innersten dunkelsten Tiefen ihrer Seele erhellt und aufgelöst, ihre leisesten Gefühle zerflossen.. . Aus dem Nachen wallte eine aetherische Musik in den Raum des Himmels empor . . ., zauberische Instrumente zögen eine schimmernde Welt von Tönen hervor, und in den auf- und niederwallenden Tönen vernahm man Gesang . . ., die ersten Töne, die in diese Einöde fielen." (Bd. 1, S. 160 f.) Das Wunder geschah unserem Heiligen. „Die unbekannte Sehnsucht war gestillt, der Zauber gelöst, der verirrte Genius aus seiner irdischen Hülle befreit . . ., eine engelschöne Geisterbildung, aus leichtem Dufte gewebt, schwebte aus der Höhle, streckte die schlanken Arme sehnsuchtsvoll zum Himmel empor, hob sich nach den Tönen der Musik in tanzender Bewegung vom Boden in die Höhe . . . tanzte . . . hier und dort, hin und wieder auf den weißen Gewölken . . . schwang . . . sich mit tanzenden Füßen zum Himmel hinauf . . . da klangen alle Sterne und dröhnten einen hellstrahlenden himmlischen Ton durch die Lüfte, bis der Genius sich in das unendliche Firmament verlor . . . die Liebenden wähnten den Genius der Liebe und der Musik zu erblicken." (Bd. 1, S. 160 f.) Soweit das Märchen. Dazu in Kürze: Dies Rad der Zeit ist nicht Goethes „sausender Webstuhl der Zeit", nichts lebendig Produktives, sondern eine mechanische Mühle, eine unmenschliche fremde Gewalt über den Menschen, und es bleibt offen, ob wahnsinnig sei, wer es spürt und hört - oder wer blind ihm gehorcht; es steht für ein entfremdet mechanisches Gesamtsystem, das dem Individuum nur das

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Mitdrehen oder Gedreht-Werden gestattet, keine selbsttätige Bewegung, ist eine Sozialmaschine ohne erfahrbaren Sinn, phantastisch verallgemeinert zur Weltmaschine - hier sind wir bei des Novalis Mühlenmetapher, konkreter, soziologisch und politisch tiefer wird dies von Herder und Schiller ausgesprochen und analysiert als moderne Existenz der Individuen in bürgerlicher Arbeitsteilung und Abhängigkeit von der absolutistischen Staatsmaschine. Wackenroder selbst beschrieb die preußische Justizmaschine mit Entsetzen - und er wurde verzweifelt-gehorsam deren menschliches Rädchen. In der Metapher erscheint zusammengefaßt, was unbegriffen vom werden 1 den Kapitalismus und der absolutistischen Staatsmaschine den Individuen als menschlichen Objekten, die zu funktionieren haben, aufgezwungen ward. Der Heilige ist ein moderner Kranker, die W a h n ' sinnsbeschreibungen jener Zeit sind ihm näher als alle Heiligenlegenden. Wackenroder jedoch bleibt beim Bilde stehen, er analysiert nicht, es faßt ihm die tödliche Sinnleere einer fremden Welt zusammen, die er nicht weiter befragt; ihm geht es vor allem um eins: um die Erlösung von dem, dem gegenüber er in unmittelbarer Betroffenheit verharrt. Negation innerhalb solcher Ohnmachtssphäre schlägt in Erlösungsbedürftigkeit um. Wer erlöst hier? Musik, die von Menschen für Menschen gemacht ist. Das Wunder bewirkt kein Gott. Mystifiziert Wackenroder den historischen sozialen Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft zum Widerspruch zwischen aus dem Unendlichen kommender Seele, dem „Genius", und dieser dem Rad der Zeit unterworfenen Wirklichkeit, so wird der Widerspruch hier durch den Zauber der Töne gelöst - oder durch sie wird die Verzauberung gelöst. D e r Genius wird nicht befreit zu dem, wonach er weinte: zum Wirken in der Menschheit. E r entschwebt frei in die Sternenwelt. Das Leben der Menschen bleibt davon unberührt. Die Macht der Musik, die doch Menschenmacht ist, entbindet - sie ist Kunstspiel, punktuäle Erlösung, Traum. Ist das Rad der Zeit nur Schein, Verzauberung des Genius? Ein eigentümliches Irrlichtern liegt über dieser kleinen E r zählung, deren Märchenton schon den Gegensatz zur Prosa des Alltagslebens evoziert. Und es ist dies ihr Grundgegensatz: das ohnmächtige Eingebundensein in das übergewaltige Radgetriebe, die sinnentleerte Arbeit, die Scheinarbeit des Drehens ist, wo in Wirklichkeit man gedreht wird - und der Genius, die Seele, die da fremd ist in dieser Welt, von ihr durch Musik erlöst wird beziehungsweise sich erlöst. • • ' 16

Heise, Realistik

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In Die Wunder der Tonkunst schreibt Wackenroder: „ . . . so schließ' ich mein Auge zu vor all dem Kriege in der Welt - und ziehe mich still in das Land der Musik als in das Land des Glaubens zurück, wo alle unsere Zweifel und unsere Leiden sich in ein tönendes Meer verlieren - wo wir alles Gekrächze der Menschen vergessen, wo kein Wort- und Sprachgeschnatter, kein Gewirr von Buchstaben und mysteriöser Hieroglyphenschrift uns schwindlich macht, sondern alle Angst unseres Herzens durch leise Berührung auf einmal geheilt w i r d . . . " (Bd. 1, S. 164) Diese Erhebung zu einem schönen Glauben verleiht der Musik erlösende Wirkung. Worte dagegen ziehen das „Unsichtbare, das über uns schwebt" (Bd. 1, S. 164: Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller Kraft) nicht in unser Gemüt herab, nur die Töne und Bilder, es sei denn, Natur spreche unmittelbar zu unserer Empfindung; Musik aber erlöst nicht nur, sie versöhnt, sie verklärt auch, was uns vorher so schmerzte, sie ist es, „die uns die echte Heiterkeit der Seele e i n f l ö ß t . . . da alles in der Welt uns natürlich, wahr und gut erscheint, da wir im wildesten Gewühle der Menschen einen schönen Zusammenhang finden, . . . alle Wesen uns verwandt und nahe fühlen, und gleich den Kindern die Welt wie durch die Dämmerung eines lieblichen Traumes erblicken." (Bd. 1, S. 168) Musik wird zur bewußten Illusion und Illusionierung, unerträgliches Leben erträglich zu machen. Aber die Dämmerung des lieblichen Traumes setzt das Wissen um den Illusions- und Traumcharakter voraus. Wird Musik zum Opiat der Anpassung ans N e j gierte? Soweit dargestellt, erscheint Wackenroders Konzept als Mystifikation, Musik als Elfenbeinturm der Innerlichkeit, als ästhetische Selbsterlösung und illusionäre Verklärung der Welt aus Ohnmacht gegenüber deren versteinerter Unveränderlichkeit. Seine Andacht zur Kunst sucht in der Kunst - und auch in der Natur - inbrünstig, was ihm nicht nur die gesellschaftliche Welt, auch deren religiöse Institution, die Kirche, nicht gibt. Sein Preisen italienischer und altdeutscher Malerei setzt diese in Gegensatz zu einer nur zum Vergnügen großer Herren auf malerischen Effekt hin erzeugten Kunst. E r wirft der späteren Malerei vor, den Menschen nicht mehr ernst zu nehmen, und findet in der altdeutschen und italienischen Renaissancemalerei - gipfelnd in Raffael - , in deren Ernst, Gegenständlichkeit und Gesinnung, eine Sprache des „Unsichtbaren", das er sucht, das Geborgenheit, Sinn und Erhebung dem Unbehausten in kalter Welt verspricht. Doch so einfach liegt die Sache denn doch nicht. Während die 242

Malerei für Wackenroder wesentlich vergangen ist, wendet er sich leidenschaftlich der Musik als Gegenwartskunst zu, und zwar besonders der „reinen", der instrumentalen Musik, der Symphonik. Und während er allgemein Musik als Erlösung feiert, als Erhebung ins Reich des Glaubens, entdeckt er in der Analyse der Symphonie etwas ganz anderes: das Schicksal der Seele in einer fremden, bedrängenden Welt. Hier erlöst Musik nicht, sondern spricht Unerlöstheit aus, das was ist. Wackenroder formuliert theoretisch die weltanschauliche Universalität von Musik. E r findet das Schicksal der Seele in der Symphonie dargestellt - vor allem durch verzweifelten Kampf und dessen Scheitern, und die Darstellung selbst ist es, als tönende Klangwelt, die ins Nichts verhallt. E i n Schein, Traum, Gemachtes, A k tion - doch keine Versöhnung, kein Sich-hinweg-Illusionieren über die Lebensantagonismen. Selbst der Erlösungsgedanke wird ihm auch theoretisch ausdrücklich fragwürdig: „Jeden Augenblick schwankt unser Herz bei denselben Tönen, ob die tönende Seele kühn alle Eitelkeiten der W e l t verachtet und mit edlem Stolz zum Himmel hinaufstrebt - oder ob sie alle Himmel und Götter verachtet und mit frechem Streben nur einer einzigen irdischen Seligkeit entgegendringt. Und eben diese frevelhafte Unschuld, diese furchtbare orakelmäßigzweideutige Dunkelheit macht die Tonkunst recht eigentlich zu einer Gottheit für menschliche Herzen." (Bd. 1, S. 193 f.) So dringt ihm aus der musikalischen Gestalt die Erfahrung, die Qual und Unruhe der unerlösten Welt entgegen. Das Land des Glaubens ist offenkundig kein Land sicherer Gewißheiten. Wackenroder hat auch die Widersprüche in seiner Position nicht auflösen können. Aber sein Ansatz - und das ist eine geschichtliche Leistung - bezog intensiver, als es j e geschehen, angesichts der zeitgenössischen S y m j phonik, besonders Mozarts, diese in den Umkreis der entscheiden-* den geistig-weltanschaulichen Anliegen der Epoche ein. Diesem blutjungen Poeten erschloß sich die Welt musikalischer Erfahrung und Gestalt, wie innerhalb der Romantik nur noch Hoffmann und Brentano. Im sinnlichen Klang wird ästhetische Sensualität zum Versprechen irdischen Glücks - dies ist ein Gegenpol des himmlischen E n t schwebens in dem kunstvoll erzeugten Traum frevelhafter Unschuld. Wackenroder geht aus von rezeptiver Musikerfahrung. D a s sensibel verzweifelte Gemüt in einer ihm fremden, ihn abstoßenden Welt und wie sensibel, zeigt seine Schilderung der bürokratischen Justizmaschinerie Preußens - , das in der Kunst seine Befreiung, sein E i gentliches sucht und findet, entdeckt im Verhältnis der Kunst zu 16*

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seiner Welt, zur prosaischen Wirklichkeit ein Analogon: Kunst ist Aktion und Darstellung eben dieses Leids des vereinzelten, sensitiven Individuums. Entfremdung wird in ihr nicht überwunden, sondern schmerzhaft bewußt, ja notwendig vertieft reproduziert. Am Ende der Herzensergießungen steht Das merkwürdige Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger, ein genialer Entwurf, ein Vorentwurf des Dr. Faustus. Es ist die Geschichte vom musikbesessenen Knaben, der dem prosaischen Vaterhause entläuft und den Gipfel des ihm möglichen künstlerischen Aufstiegs und sozialen Ansehens erklimmt. Das war sein Ausgang: „Er dachte: du mußt zeitlebens, ohne Aufhören, in diesem schönen poetischen Taumel bleiben, und dein ganzes Leben muß eine Musik sein . . . dann war er unzufrieden, daß er so bald wieder ins prosaische Leben herabgezogen war und sein Rausch sich wie eine glänzende Wolke verzogen hatte. Diese bittre Mißhelligkeit zwischen seinem angeborenen ätherischen Enthusiasmus und dem irdischen Anteil an dem Leben eines jeden Menschen, der jeden täglich mit Gewalt aus seinen Schwärmereien herabzieht, quälte ihn sein ganzes Leben hindurch." (Bd. 1, S. 131) Als er „auf der höchsten Stufe des Glückes, das er je nur hätte wünschen können", angelangt war, schrieb Berglinger, inzwischen Kapellmeister und Komponist der Residenz: „Die prächtige Zukunft ist eine jämmerliche Gegenwart geworden . . . diese in Gold und Seide stolzierende Zuhörerschaft" (Bd. 1, S. 141 f.) ohne echte Empfindung und Empfindungsbereitschaft, der Konkurrenzkampf der Künstler selbst, die Subordination der Kunst unter den Willen des Hofes - das alles ist entwürdigend und erniedrigend. „Ist es nicht die unglückseligste Idee, diese Kunst zu seinem ganzen Zweck und Hauptgeschäft zu machen . . . die im wirklichen irdischen Leben keine andere Rolle spielt als Kartenspiel und jeder andere Zeitvertreib?" (Bd. 1, S. 146) Die Folge ist: „Er geriet auf die Idee, ein Künstler müsse nur für sich allein, zu seiner eigenen Herzenserhebung und für einen oder ein paar Menschen, die ihn verstehen, Künstler sein." (Bd. 1, S. 147) Nach der erschütternden Erfahrung des Verkommens seiner von ihm verlassenen Familie reißt sich der verzweifelte Berglinger zusammen, schreibt eine hinreißende Passionsmusik, „die mit ihren durchdringenden und alle Schmerzen des Leidens in sich fassenden Melodien ewig ein Meisterstück bleiben wird" (Bd. 1, S. 149) und stirbt entkräftet. Und die nachdenkliche Frage wird gestellt: „Und muß der Immerbegeisterte seine hohen Phantasien doch auch vielleicht als einen festen Einschlag kühn und stark in dieses irdische 244

Leben einweben, wenn er ein echter Künstler sein w i l l ? - J a , ist diese unbegreifliche Schöpferkraft nicht e t w a überhaupt etwas ganz anderes und . . . noch Wundervolleres, Göttlicheres als die K r a f t der Phantasie?" (Bd. 1, S. 190 f.) Eine Frage, so schmerzvoll gestellt, w i e Leverkühns Sehnsucht nach einer Kunst mit der Menschheit auf D u und Du, die zu schaffen er nicht in der L a g e w a r - auch ihm gelang nur eine Passionsmusik. Wackenroder entwarf die Tragödie eines emanzipierten Künstlers, dessen Kunst, aus unmittelbaren Unterhaltungs-, Repräsentations- und Kulturzusammenhängen gelöst, eine W e l t zu beschwören und ein Schicksal auszusprechen vermag, jedoch für einen M a r k t bestimmt ist, der wesentlich nur der Unterhaltung nachfragt. Er macht hier zugleich ein Geheimnis der ästhetisch-sakralisierten Kunst offenbar. W a s in bezug auf die Religion deren privatisierende Ästhetisierung, bedeutet in bezug auf die Kunst deren Produktion um ihrer selbst willen - bis zur esoterischen Kennerschaft und T e i l h a b e als Selbstzweck. Statt eines „Göttlichen" aber spricht in dieser nur die leidende künstlerische Subjektivität sich aus, die an und in ihr sich verbrennt. D e r Widerspruch zwischen Prosa und Poesie erscheint w i e d e r im Widerspruch zwischen isoliertem Künstler und allgemeiner gesellschaftlicher Lebenspraxis - und beide drücken den allgemeinen gesellschaftlichen Widerspruch aus zwischen einer Subjektivität, die da leidet, sich nicht verwirklichen kann, ausbrechen w i l l , und den ihr gegenüber verselbständigten entfremdeten objektiven Verhältnissen, die ebenso ihre eigenen Lebensverhältnisse, -bedingungen und - f o r j men sind. Die V e r w i r k l i c h u n g dieser ohnmächtigen, entfremdeten Subjektivität im Reich der Kunst als Alternative gewinnt nicht die Produktivität des Einschlagens ins Lebensgewebe, bleibt bloßer Schein, Traum, steigert vielmehr diese Entfremdung zur T r a g ö d i e der isolierten künstlerischen Individualität und zur Tragödie einer ins Nichts verhallenden Kunst, in der sie ihren Schmerz esoterisch Gestalt werden läßt. W a c k e n r o d e r ging den W e g der A n d a c h t der Kunst und entdeckte dabei, d a ß die gesuchte Erhebung und Erlösung als ihr Gegenteil, als tragische Einsamkeit und Scheitern sich realisieren. W o er Gott suchte, fand er sich als vereinsamten Menschen. Er hat keinen W e g gefunden, dies mit seiner traditionsgeformten Gläubigkeit zu vereinen. Hier liegt auch eine seine weltanschaulichen Bindungen sprengende Realistik. Er ließ die W i d e r sprüche offen. Mehr noch, ihm wurde - bezeichnungsweise seinem gleichorientierten Freunde Tieck - die innere G e f ä h r d u n g des Kunst-

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produzierens bewußt: W a s als Protest der Menschlichkeit gegen eine entseelte, maschinenhafte, äußere Daseinswelt anhebt, kann umschlagen in ästhetizistische Unmenschlichkeit. In einem Brief Berglingers, der sicher von Tieck stammt, wird mit hoher Klarheit zwischen Verzweiflung und Spott, Selbstironie und Koketterie diese innere Gefährdung ausgesprochen - wobei ein geschichtlich bestimmtes Künstlertum dem Künstlertum schlechthin gleichgesetzt w i r d : „Und wenn mir nun der Anblick des Jammers in den Weg tritt und Hilfe fordert, wenn leidende Menschen, Väter, Mütter und Kinder, dicht vor mir stehen, die zusammen weinen und die Hände ringen und heftiglich schreien vor Schmerz - das sind freilich keine lüsternen schönen Akkorde, das ist nicht der schöne wohllüstige Schmerz der Musik, das sind herzzerreißende Töne, und das verweichlichte Künstler* gemüt gerät in Angst, weiß nicht zu antworten, schämt sich zu fliehen und hat zu retten keine Kraft. Er quält sich mit Mitleid - und betrachtet unwillkürlich die ganze Gruppe als ein lebendig gewordenes Werk seiner Phantasie, und kann's nicht lassen, wenn er sich auch in demselben Moment vor sich selber schämt, aus dem elenden Jammer irgend etwas Schönes und kunstartigen Stoff herauszuziehen. Das ist das tödliche Gift, das im unschädlichen Keime des Kunstgefühls innerlich verborgen liegt. Das ist's, daß die Kunst die menschlichen Gefühle, die fest auf der Seele gewachsen sind, verwegen aus den heiligsten Tiefen dem mütterlichen Boden entreißt, und mit den entrissenen kynstlich zugerichteten Gefühlen frevelhaft Handel und Gewerbe treibt und die ursprüngliche Natur des Menschen frevelhaft verscherzt. Das ist's, daß der Künstler ein Schauspieler wird, der jedes Leben als Rolle betrachtet, der seine Bühne für die echte Muster- und Normalwelt, für den dichten Kern der Welt, und das gemeine wirkliche Leben nur für eine elende zusammengeflickte Nachahmung, für die schlechte umschließende Schale a n s i e h t . . . So spott ich über mich selbst - und auch dies Spotten ist nur elendes Spielwerk." (Bd. 1, S. 277 ff.) Der ideologische Umschlag von Kritik in Affirmation erfolgt durch Verallgemeinerung: Die Wissenschaft erkenne die Wirklichkeit, der Künstler aber betrachte sie nur „wie ein Gemälde oder Tonstück, er kennt keine festen Überzeugungen und findet alles schön, was am gehörigen Ort steht. . . jeder sieht alles aus seinem Kerker." (Bd. 1, S. 279) Klosterbruder wie Berglinger sind artistische Masken, beide sind konstitutiv für die romantische Bewegung: der Traum einer religiösen Sinn gebenden, bergenden Welt - und eine Arti-*

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stik, die aus der Verzweiflung ihres Fehlens erwächst - wie auch der Traum und das Bewußtsein der Relativität beider. Wackenroders Bejahung der Französischen Revolution wurde schon gezeigt. Was ist für ihn wirklich verbindlich? Das zeigt seine Antwort auf den leicht begeisterten Tieck, als dieser ihn nach seiner Stellung zu den Franzosen fragte, denen er selbst zujubelte: „Ich denke ganz gleich jnit Dir von ihnen . . . " , doch dann kommt eine aufschlußreiche Passage: „Endlich würd ich, wenn ich ein Franzose wäre, so stolz ich auf mein Vaterland und meine Nation sein würde, doch gewiß nicht Soldat werden und den Säbel oder das Gewehr in die Hand nehmen, weil ich mein Leben und meine Gesundheit zu sehr liebe und zu wenig körperlichen Mut besitze. Ich weiß, daß Du Dich über meine Dreistigkeit, Dir meine krassesten Grundsätze so nackt darzustellen, wundern w i r s t . . . Allein bedenke nur: kannst D u von irgend einem Menschen Heldenmut und Tapferkeit verlangen, die er nicht hat? Ich bin sehr davon zurückgekommen, dieise körperlichen Tugenden gering zu achten - ich habe sie n i c h t . . . ich tue Verzicht auf diese Größe. Auch bin ich einmal so eingerichtet; daß die idealische Kunstschönheit der Lieblingsgegenstand meines Geistes ist; ich kann mich unmöglich von lebhaftem Interesse hin-* gerissen fühlen, wenn ich in den Zeitungen lese, daß die Preußen itzt diesen, die Franzosen itzt jenen Ort eingenommen und was dergl. Particularia mehr sind; alles ist mir etwas zu fern - zu wenig sichtbar, geht mir zu langsam, stimmt nicht mit dem idealischen Gange meiner Phantasie, macht mich unruhig, befriedigt mich n i c h t . . . " (Bd. 2, S. 169 f.) Doch die Hinrichtung des Königs wiederum, wie wir sahen, irritierte ihn auch nicht. Wackenroder ist kein Gegner der Revolution - und nicht aus solcher Gegnerschaft entsprang Romantik, so sehr sie später damit verschmolz beziehungsweise verschmelzen konnte. Wichtig ist ihm allein der ideale Schwung seiner Phantasie, sein inneres Leben, alles andere stört ihn, bleibt banale Prosa, geht ihn eigentlich nichts an, berührt sein Persönlichstes nicht. - Der Brief ist wahrhaftig, e h r j lieh, gerade in den Zügen, die für uns nicht der Peinlichkeit und des Grotesken entbehren und die doch aus dieser Kunstperiode nicht wegzudenken sind. Hier hat das soziale und politische Objekt-Dasein die Subjektivität zur nur-passiven Außenweltbeziehung deformiert, der Untertan hat seine Ohnmacht verinnerlicht, in der er seine Misere ins Überschwengliche erlöst. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend: hier ist grundsätzlich der Citoyenanspruch preisgege247

ben, aufgegeben ist die prometheische Rebellion, das Individuum reflektiert sich reduziert auf den privaten Bourgeois in der Kümmerform des bürgerlichen Beamten und intellektuellen Kleinbürgers, auf ein emotionales Reflexionssubjekt, identifiziert sich nicht mit seiner realen, nur mit seiner idealen Existenz - während sein wirkliches Dasein die verhaßte, widerwillig-protestierend, aber gehorsam übernommene Rolle dos Justizbeamten in diesem Falle ist. D a fehlte jede reale Identifikation, die Verneinung der wirklichen Prosa, der wirklichen gehaßten Gesellschaft Preußens verbindet sich mit absoluter Passivität. Der Aufbruch des Sturm-und-Drang, für Wackenrodcr ein wichtiges Bildungselement, ist zurückgenommen ins Nur-Ästhetische. Gewiß ein Produkt dieser Verhältnisse, deren Macht sich über die indirekte, aber in die Innerlichkeit verkapselte Negation durchsetzt. Sie werden indirekt bestätigt. Ich behaupte nun, daß sich darin eine typische ideologische Grundform und Verhaltensstruktur der Subjektivität ausprägt, somit der ideellen Regulierung des materiellen wie ideellen Verhaltens; daß zum zweiten es diese Grundform ist, die - fundamentaler als die wechselnden politischen Meinungen - den Grundansatz der Jenenser Romantik begreifen läßt. Der Kernpunkt ist die Hypertrophierung des privaten, intellektuellen Ich, der intellektuellen Individualität als privater Existenz. Diese ideologische Struktur der Subjektivität ist ebenso Produkt der Entwicklung wie der Unterentwicklung des Bürgertums. W a s als allgemeine Bildung den subjektiven Anspruch, die ästhetisch-kulturelle und moralisch-politische Sensibilität formte, hochgetrieben durch intellektuelle Züchtung, mußte notwendig mit der nach wie vor ständisch geordneten, stagnierenden Lebenspraxis kollidieren. Die Aktionsimpulse fanden nur das Spiel der inneren Möglichkeit, wurden zurückgedrängt in die Innerlichkeit von Phantasie und Gedanke, alle Tätigkeit hatte ihre institutionalisierte und entsprechend reglementierte Bahn. Daher ist es unvermeidlich, daß gerade die romantische Generation die Erfahrung des Auf-sich-selbstZurückgeworfenseins sammelte, die Individualität im Mangel aktiver Realitätsbeziehungen erfuhr, im Gegensatz zu einer scheinbar fertigen Welt, die jede innere Legitimität verloren; daß sie sich in eine Epoche hineingestellt erfuhr, deren Vergangenheit gespenstische, aber mächtige Gegenwart, deren Zukunft als eine schon in prosaischer Nüchternheit verfestigte bürgerliche Lebenspraxis anwesend war. Die einst erkämpften, jetzt gelernten Emanzipationsideen der Aufklärung aber erschienen als bloßes Bildungsgut, als Versprechen ohne 248

Einlösung, das von Etablierten schulmäßig verabreicht wurde ohne praktische Verbindlichkeit. Daher konnten sie intellektuell angenommen, selbst radikalisiert, aber ebenso schnell wieder abgelegt werden, sie betrafen das Eigentliche der Subjektivität nicht. Von dieser Konstellation her wird begreiflich, warum zum Maßstab gesellschaftlicher Wirklichkeit vor allem die intime persönliche Beziehung wird, der personale Zusammenhalt von Ich und Ich im bergenden Wir. Da dies eben nicht in der politischen Sphäre liegt, wird normatives Modell die selbst erlebte Geborgenheit in der Kindheit, beziehungsweise der Traum kindlicher Geborgenheit. In w e l t j anschaulicher Beziehung wird der personale Lebensanspruch d e m j entsprechend zur emotionalen Ohnmachtsbeziehung zu den Mächten, die das Leben beherrschen - in Flucht und Bejahung - , nicht aber als rationale Alternative oder emotionale Rebellion: Das AbstraktAllgemeine der Rationalität transzendiert schon das Individuelle des Ich. So wird die Weltanschauungsbildung zur Konstruktion einer Wunscherfüllung personaler Art: der großen Geborgenheit. Ich behaupte hier nun nicht, daß solche Grundstruktur jede „Romantik" erklärt, auch nicht den poetischen Reichtum der deutschen Romantik, sie ist auch nicht bei jedem als Romantiker bezeichneten Poeten aufweisbar - wohl aber, daß sie für die Entstehung der Romantik in Deutschland, speziell für die Frühromantik des Jcnenser Typs gilt. Ich behaupte ferner, daß von hier aus Romantik schon aus der Reaktion auf die wiewohl nur kümmerlich entwickelten bürgerlichen Verhältnisse mit entsprechender Fixierung der Sozialstruktur, entwickelter Arbeitsteilung, Verselbständigung der künstlerischen Tätigkeit innerhalb der gesellschaftlichen Tätigkeiten - aber ohne bürgerliche politische Aktionsmöglichkeit und Öffentlichkeit zu begreifen ist. Denn daraus ergibt sich erstens, d a ß die weltanschauliche Beziehung charakterisiert wird durch die Polarisierung von emotionaler, individualitätsbewußter Subjektivität und einer gesucht ten Objektivität, Sinngebung und Universalität, die Antwort auf das subjektive Sehnen ist, somit personalistischen Charakter trägt. Daher die Rekonstruktion der Religiosität als emotionaler Beziehung, aber einer durch die Aufklärung angeschlagenen, der Ästhetisierung und/oder des Credo quia absurdum bedürfenden und institutionell entleerten Religiosität; zweitens die ideelle hypertrophe Verabsolutierung der ideologisch-arbeitsteiligen künstlerischen Tätigkeit - in deren Aktion dann selbst das erlösende Moment liegt; drittens, daß, da die Gegenwart abstoßende Prosa, der Zugang zu den produk249

tiven Zukunftstendenzen von diesem Ausgangspunkt her verschlossen, für das Lebensmodell Vorbilder und Wunscherfüllung in der Vergangenheit als scheinbar bergend-geschlossener Kultur personaler Bindungen gesucht werden. In der politischen Anwendung und Aktivierung führt dies zum Festhalten des Alten in den Stürmen der Gegenwart. Viertens: Die Suche nach der Aufhebung der vom vereinzelten Ich erfahrenen Einsamkeit in neuer Bindung findet Erfüllung in einer illusorischen ideellen Gemeinschaft, die, am Vergangenen modelliert, dessen Verklärungsillusion ist, die am Vergangenen in der Gegenwart nur festmachen kann. Darin liegt sowohl die Möglichkeit der Tendenz zur katholischen Konversion als auch zur Entwicklung eines alle progressiven Gehalte über Bord w e r j fenden chauvinistischen Nationalbewußtseins, aber auch die schlichte Identifikation mit der bestehenden Macht der Restauration: Um so eher gilt dies, als es sich in der subjektivien Entscheidung nicht um die wirklichen Mächte, sondern um die ideell hergestellten, durch subjektive Erfüllungen, Erwartungen, Scheinerfüllungen vermittelten und in der Regel mit Enttäuschung bezahlten ideellen Beziehungen handelt. So wird erklärbar - genauer: auf einer tieferen und allgemeineren Ebene beschreib- und von ihr ableitbar - , warum in der Schüler* schaft des revolutionären Denkers Fichte, aus der dia führenden philosophisch-konzeptionellen Ideologen der Frühromantik hervorgingen, eine derart entgegengesetzte Position sich ausbildete. Fichtes himmelstürmender subjektiver Idealismus faßte das transzendentale Ich allgemein und citoyenhaft, als Einheit dessen, was bei Kant als theoretische und praktische Vernunft, in der ja Rousseaus volonté generale steckte, auseinanderging. Wird dieses Ich privatisiert, dominant als Individualität gefaßt, verliert es die allgemeinen ideologisch emanzipativen Gehalte, wird abstrakte Einzelheit, so sehr diese als Individualität sich erfaßt. Es nimmt - unter Verlust der Allgemeinheit - notwendig die Momente des Zufälligen, Spielerischen, Beliebigen bis zur Selbsthypertrophierung als Genie in sich auf. Von hier aus ist auch ableitbar, warum die Rezeption des Pantheismus und dessen Synthese mit dem Idealismus Fichtes so völlig entgegengesetzte Resultate bringen mußte, wenn diese eben nicht auf die Natur als gesetzliches Universum, sondern ein personal bestimmtes und strukturiertes All mit mystischer Tendenz zielt. Ist der Pantheismus historisch eine Form des Übergangs von Idealismus und Religion zum Materialismus, so kann er auch in umgekehrter Richtung 250

fungieren - wenn der Leitfaden seiner Aneignung und Entwicklung nicht die rationale Gesetzlichkeit, sondern das emotionale Erlösungsund Geborgenheitsbedürfnis ist. In den Jenensör Jahren finden wir nebeneinander die junge Generation der Schlegel, Novalis, Schelling, Hölderlin und Sinclair. Die Bewegung von Fichtes subjektivem Idealismus weg zu einer Objektivität des Wirklichein differiert nicht primär in den theoretischen Quellen und Anstößen, auch nicht allein gemäß den gnoseologischen Motiven, sondern zutiefst darin, ob der rationale und citoyenhafte Anspruch aufrechterhalten oder preisgegeben wird. Daraus ergibt sich die formell oft ähnliche, dem Gehalt nach entgegengesetzte Tendenz in Ideologie und Weltanschau-> ungsbildung zum Beispiel in der Entwicklung von Hölderlin und Novalis. Daraus ergeben sich die alternativen Tendenzen der Fortführung oder Zurücknahme der Aufklärung. Dieser Gedankengang ist als Vorschlag gemeint hinsichtlich des Begriffsinstrumentariums der Analyse der romantischen Bewegung, genauer, der Frühromantik als ideologisch-weltanschaulicher Bewegung. Er reicht nicht hin, die poetische Leistung zu erfassen, gibt aber doch Anhaltspunkte, deren Raum mit abzustecken. Das betrifft einmal den Raum individueller Subjektivität in ihrer Differenziertheit, Privatheit und Intimität, ihrer historischen Wirklichkeitsbeziehung, das subjektiv erlebte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft - und es betrifft die Unerlöstheit ihrer Sehnsucht, aus der Vereinzelung auszubrechen; es betrifft die Kritik der objektiven Verhältnisse in ihrer Verkehrtheit, ihrer Entfremdungsstruktur, sofern sie erlebt, erfahren, erfaßt werden - sei es im Spott über die verkehrte Welt oder in der Zeichnung ihres gespenstischen Charakters; das betrifft die Natur als Spiegelungs- und Erfüllungsraum der Subjektivität; schließlich die Zusammenfassung all dieser Beziehungen in der Problemsphäre der Beziehung des Künstlers zur Welt, der Kunst zur Wirklichkeit. All dies konzentriert sich in der Grunderfahrung: der Selbsterfahrung des Produzenten einer von unmittelbaren Gebrauchszwecken emanzipierten Kunst angesichts eines bürgerlichen, seine Gebrauchsbedürfnisse diktierenden Marktes und angesichts der prosaischen Gesellschaftspraxis. Über Erlösungsversuche in der Kunst und den entfesselten Spott über das Bestehende, schließlich über die Proklamation des subjektiven Rechtes der genialen Individualität vermittelt sich die tiefere Entfremdung, die im Ästhetizismus sich abzeichnet, die Kunst verselbständigt zur Artistik werden läßt. War die „Autonomie 251

der Kunst" zunächst Proklamation und auch Eroberung einer bürgerlichen kulturellen Öffentlichkeit eigener Gesetzlichkeit als E m a n zipationsraum, so wird sie hier zur Passion der einsam verletzlichen künstlerischen Individualität einerseits, tendiert zur Artistik, in der die Wirklichkeit des Menschen Rohmaterial des schönen Gebildes wird, tendiert auf ein stationäres Gegenüber einer verachteten W e l t mit konservativer und wirklichkeitsentfremdender Funktion. Der Ansatz dazu ist gegeben, wenn auch früh durchschaut und verzweifelt empfunden. - Ein weiterer Aspekt ist die Rolle des Romantischen in der Bildung des Nationalbewußtseins. D a s große Verdienst von Romantikern um die Erschließung der deutschen Sprach-, Literaturund Kulturgeschichte ist unbestreitbar und wird hier vorausgesetzt. D i e historische Konstellation aber bedingte, d a ß ihre Konzeption der Nation nicht die sozialen und politischen Gehalte des Nationalkonzepts der Sturm-und-Drang-Bewegung weiterführte, sondern in der Kontrastellung zur Französischen Revolution, in der nationalen Selbstbehauptung gegenüber Napoleon den progressiven Inhalt des bürgerlich-demokratischen nationalen Einheitskonzepts zugunsten des gegebenen Bestandes im blendenden Glanz einer verklärten Vergan* genheit verspielte. Doch all diese Momente veränderten sich wieder in Funktion und Gehalt, als unter der Restauration das Schisma innerhalb der romantischen Literatur aufbrach und als der Abbau des Citoyenideals in der nachrevolutionären Phase Voraussetzung der künstlerischen E n t deckung der sozialen Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft wurde.

3 Wir können heute Romantik nicht ohne ihre ambivalente und auch verhängnisvolle Rolle innerhalb der deutschen Geschichte sehen. E r innerungsfeiern sind keine Feste der Kritiklosigkeit. Aber wir müssen dennoch ihre Sehnsucht begreifen, die Sehnsucht, aus der Ohnmacht, individuellen Vereinzelung, aus der Verwirrung der Gefühle und insgesamt der Unbehaustheit einer sie erdrückenden Wirklichkeit auszubrechen, die einst jene junge Generation erfuhr - und die Modell wurde für immer wieder erneut aufkommende romantische Wellen. Wir wollen jenen Traum ernst nehmen, in dem eine menschliche, eine versöhnte Welt beschworen wird, die zu glauben ihre Illusion,

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die als Traum und Sehnsucht zu beschwören ihre dichterische G r ö ß e ausmacht. Clemens Brentano, dieser lyrisch begabteste, verworrenste, innerlich zerrissenste aller romantischen Dichter singt in einer lyrischen Sprache, in der Sinn Klang, in der das Musikalische W o r t geworden ist, der schwebende Ton den Traumcharakter festhält, der die grammatische Behauptung widerlegt in seinem Gedicht Sprich aus der Ferne, heimliche Welt: Alles ist freundlich, wohlwollend verbunden, Bietet sich tröstend und trauernd die H a n d , Sind durch die Nächte die Lichter gewunden, Alles ist ewig im Innern verwandt. Sprich aus der Ferne, Heimliche Welt, D i e sich so gerne Zu mir gesellt. Sehnsuchts- und Erfüllungsbild dessen, was nicht ist, geträumte Welt jenseits des Wirklichen, Verzauberung und E r w a r t u n g dort, wo - wie Heine es ausdrückte - ein N a r r auf Antwort wartet. In der Kunst gewordenen Sehnsucht, in der Kritik an dem, was Menschen niederzieht, quält, einengt, verwundet, liegt die G r ö ß e der Romantik in Deutschland, ihre Grenze, Banalisierung und G e f a h r und ihr künstlerisches Scheitern dort, wo sie Flucht und Verkündigung wird, wo sie ihre N o t zur Tugend erhebt.

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Heine und Hegel

1 Am Verhalten zur Julirevolution von 1830 wird der Gegensatz zwischen Heine und Hegel sichtbar. Hegel resignierte. Er, der die konstitutionelle Monarchie als notwendige Staatsreform für die bürgerliche Gesellschaft vorgedacht hatte, erlebte nun, daß sie durch revolutionäre Gewalt errungen wurde, nicht auf dem Wege einer Selbstreformierung des absolutistischen Staates als der Wirklichkeit der sittlichen Idee. Heines Begeisterung für die Julirevolution ist bekannt: „Diesmal haben die armen Leute den Sieg erfochten . . . " E r stellte sofort die Frage: „Und Deutschland? . . . Werden wir endlich von unseren Eichenwäldern den rechten Gebrauch machen, nämlich zu Barrikaden für die Befreiung der Welt?" Doch „die Lichteffekte der Begeisterung in der Ferne" 1 erloschen, als Heine in Paris erkannte, daß nicht die armen Leute gesiegt hatten, sondern die Finanzbourgeoisie. „Nicht für sich, seit undenklicher Zeit, nicht für sich hat das Volk geblutet und gelitten. Im Juli 1830 erfocht es den Sieg für jene Bourgeoisie, die ebensowenig taugt wie jene Noblesse, an deren Stelle sie trat, mit dem selben Egoismus . . . Aber seid überzeugt, wenn wieder die Sturmglocke geläutet wird und das Volk zur Flinte greift, diesmal kämpft es für sich selber . . ," 2 Hegel dagegen schrieb irritiert im Dezember 1830 von der „Krise, in der alles, was sonst gegolten, problematisch gemacht zu werden scheint. Sowenig sich die Philosophie der Unwissenheit, der Gewalttätigkeit und den bösen Leidenschaften dieses lauten Lärms entgegenstellen kann, so glaube ich kaum, daß sie in jene Kreise, die sich so bequem gebettet, eindringen könne. Sie darf es sich - auch zum Behufe der Beruhigung - bewußt werden, daß sie nur für wenige sei." 3 Die zerbrochene Utopie seines Staatsideals in den Händen, resignierte er zwischen den revolutionären Kräften auf der einen, der bequem gebetteten Noblesse auf der anderen Seite. 254

Der Gegensatz zwischen dem bürgerlichen Reformisten des Ancien régime und dem revolutionären Demokraten scheint absolut. Dennoch stehen beide in einem Entwicklungszusammenhang emanzipatorischen Gesellschaftsdenkens, das die deutsche Entwicklung unter dem Aspekt der internationalen Erfahrung reflektierte als Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft.4 Engels hat darauf hingewiesen, daß „die deutsche Philosophie, dieses komplizierteste, gleichzeitig aber zuverlässigste Thermometer der Entwicklung des deutschen Geistes, [sich] auf die Seite der Bourgeoisie gestellt [hatte], als nämlich Hegel in seiner Philosophie der Geschichte die konstitutionelle Monarchie als die höchste, vollkommenste Regierungsform bezeichnete . . . er kündigte den bevorstehenden Aufstieg der deutschen Bourgeoisie zur politischen Macht an." 5 Doch für Hegel war die konstitutionelle Monarchie auf dem Wege des Klassenkompromisses erreichte Staatsgewalt der bürgerlichen Gesellschaft, und diese selbst absolut, für Heine war sie relativ zweckmäßige Herrschaftsform der Bourgeoisie als relative Etappe der Sozialentwicklung. Reflektiert Hegel das Ancien régime unter der Bedingung seiner (reformistischen) Überwindung, so ist für Heine solche Überwindung als Ergebnis schon mit dem Keim des Untergangs behaftet, historisch vergehend angesichts der modernen Entwicklung, besonders in Frankreich. Das führt zugleich auf die Frage nach dem Subjekt der geschichtlichen Umwälzung. Die Julirevolution hatte Hegel erschreckt, weil das Volk revolutionär gehandelt hatte - und eben deshalb hatte Heine sie begrüßt. Der von Hegel idealisierte absolutistische Staat, dem er idealistisch den Primat vor der Gesellschaft gegeben, dem er die Funktion des Versöhners der sozialen Widersprüche zugesprochen, hatte sich als unfähig zur Selbstreformierung erwiesen und damit als historisches Subjekt negiert. Inhalt und Resultat der Julirevolution widerlegten ebenso Heines anfängliche Illusion, wie Hegels philosophisch-politisches Konzept des Klassenkompromisses und Staatsfetischismus. Sie bestätigte dennoch beider Grundüberzeugung von der unvermeidlichen Ablösung der feudalen durch die bürgerliche Gesellschaft, wenn auch mit historisch unterschiedlicher Perspektive. So manifestiert sich der Gegensatz beider in der Stellung zur Julirevolution in politischer Haltung und geschichtsperspektivischem Konzept, in der Beziehung zur politischen Praxis, zur revolutionären Klassenbewegung selbst, damit in Ideologie, Weltanschauung und Wirklichkeitsverhältnis. 255

Doch hat Heine, der in Berlin Hegel gehört hatte, mit dessen Schülern befreundet und bekannt, durch mannigfache Kanäle mit ihm verbunden war, mehr von seiner Philosophie aufgenommen und verarbeitet, als von ihm deutlich ausgesprochen wurde. Freilich wurden Hegels Intentionen verbunden mit der großen Aufklärungstradition, die Heine gebildet, mit Herders und Lessings Ideen, mit der französischen Aufklärung seiner rheinischen Bildung. E r übernahm von Hegel Grundzüge seines Geschichts- und Gegenwartsverständnisses, so sehr - und in steigendem Maße - er sich von ihm in politisch-ideologischer Hinsicht unterschied. Im Polenaufsatz und den Berliner Briefen finden wir erste Anzeichen. Mochten sich beide auch in der Verehrung der Revolution von 1789 und Napoleons treffen - so war doch für Hegel diese Revolution abgeschlossene Vergangenheit, wclche die bürgerliche Gesellschaft in Gang gebracht hatte und für Deutschland auf dem illusionären staatsreformistischen Wege vermeidbar erschien. Für Heine war diese Revolution ein Anfang, eine nicht abgeschlossene, sondern gewaltsam unterbrochene Zukunft. Wie hätte sich Heine mit dem Gedanken von der im kontemplativen Sichselbstbegreifen der Idee zur Ruhe kommenden Geschichte befreunden können? Mit der Begriffsdialektik Hegels, mit den „abstrakt Hegeischen Chiffern", die „uns so grau, so kalt, so tot anstarren" 0 wußte der Poet nicht viel anzufangen. Doch war es der monistisch-pantheistische Zug dieses objektiven Idealis j mus, den er mit aufnahm, die darin liegende Aufhebung des transzendenten Gottes und das Verständnis des Individuums als Instru^ ment des Weltgeistes, als Organ der Idee, als Zeitgeist. Dies M o j ment wurde dann mit der saint-simonistischen Anschauung verbunden, in dieser Verbindung aktiviert und in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland zum weltanschaulichen Konstruktionsprinzip. Heine ward gebildet und durchdrungen vom Historismus Hegels, insofern er die Aufklärungsideen weiterführte, Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, von hier aus die Gegenwart epochengeschichtlich und die bürgerliche Gesellschaft als System der Bedürfnisse, der Arbeitsteilung und der Antagonismen verstand. Auch von hier aus erschien das Ancien régime als überlebende Vergangenheit - wenn auch für Heine die konstitutionelle Monar-> chie keine metaphysische Würde besaß. So nahm er Hegels universelles Entwicklungsdenken auf - ohne den Konservatismus der Systemkonstruktion - , jedoch von einer allmählich sich radikalisierenden Gegenposition her, die auf Veränderung, Umwälzung, Zukunft 256

drängte und früh verschwistert war der „Idee des Mittagessens" 7 als Keim der sozialen Fragestellung und Ausdruck eines Sensualismus, der auf französischen Materialismus und Goethe verweist. Dieser soziale Sensualismus ermöglichte Heine, seiner philosophischen Konzeption die sozialgeschichtliche Dimension zu verleihen, besonders nachdem er den Saint-Simonismus gedanklich verarbeitet, ökonomische Ausbeutung gründlicher durchdacht und die produktiven Möglichkeiten der Industrie begriffen hatte. Wie hätte Heines Konzeption menschlichen Glücks, des individuellen wie aller, sich mit Hegels Rigorismus vereinen können? In der Zeit des Verblassens der heroischen Illusionen der bürgerlichen Revolution angesichts ihrer sozialen und politischen Ergebnisse, angesichts der sozialen Widersprüche und anhebenden neuen Klassenkämpfe fundierte dieser Sensualismus als philosophische Grundlage die inhaltlich-sozialen Ansprüche, die Emanzipation vom bürgerlichen Citoyenideal und die Desillusionierung abstrakter Staatsbürgertugend, die zu bürgerlichen Herrschafts- und Untertanenillusionen wurden. Hegelsches Gepräge tragen Heines geschichtskonzeptionelle Gedanken - so die Einschätzung der Reformation, wenn er auch durch die revolutionäre Charakteristik des Bauernkrieges Hegel korrigiert; so die Einschätzung der romantischen Kunst als Ablösung der klassisch-antiken, wenn er auch Hegels Konzept durch seine Darstellung des in Aberglauben und Volkspoesie weiterlebenden Heidentums, somit durch ein - zwar ideologisiertes - Konzept des historischen Klassenkampfes korrigiert. Sein Konzept vom Ende der Kunstperiode antwortet auf Fragen, die in Hegels These vom Ende der Kunst aufgeworfen waren. Wo Hegel philosophisch die Kontemplation begreifenden Denkens verabsolutiert, drängt Heine auf Aktion im politisch-sozialen Entwicklungsprozeß und öffnet alle Sinne zum poetischen und gedanklichen Erfassen des gegenwärtigen Lebens als Bewegung in die Zukunft hinein. Als Poet versteht er sich als Akteur, als „Gladiator der Idee", als „Trommler" der revolutionären Zeitbewegung - und, wenn auch vorübergehend, als praktisierten Sinn der Hegeischen Philosophie. Wo Hegel allein dem Staat Handlungsrecht zusprach, entwickelt Heine den Gedanken einer Volkssouveränität und Tatfähigkeit Fichteschen Anspruchs. Wo Hegel die Kunst vor dem begrifflichen Denken abdanken läßt, beharrt Heine auf deren Anspruch und Fähigkeit, höchste Menschheitsinteressen bewußt zu machen und - über Hegels Kunstkonzept hinaus - ihrer Realisierung zu dienen. 17

Heist, Realistik

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Als Heine Hegel hörte, war er und wußte er sich schon als Dichter, „aus dem der Hammer der Zeit böse wilde Funken schlägt", bekannte seinem Schwager: „Obschon ich aber in England ein Radikaler und in Italien ein Carbonari bin, so gehöre ich doch nicht zu den Demagogen in Deutschland; aus dem ganz zufälligen und geringfügigen Grunde, daß bei einem Siege dieser letzteren einige tausend jüdische Hälse, und just die besten, abgeschnitten werden". Und dem philosophischen Blick über die Jahrhunderte begegnete ein Poet, der aus Berlin von einer Hamburgreise über sich berichtet: die Stimmung, die mich beherrschte, . . . war nicht dazu geeignet, mich zu einem unbefangenen Beurteiler zu machen; mein inneres Leben war ein brütendes Versinken in den düstern, nur von phantastischen Lichtern durchblitzten Schacht der Traumwelt; mein äußeres Leben war toll, wüst, zynisch, abstoßend, mit einem Worte, ich machte es zum schneidenden Gegensatz meines inneren Lebens, damit mich dieses nicht durch sein Übergewicht zerstöre. Ja, amice, es war ein großes Glück für mich, daß ich just aus dem Philosophie-Auditorium kam, als ich in den Zirkus des Welttreibens trat, mein eigenes Leben philosophisch konstruieren konnte und objektiv anschauen - wenn mir auch jene höhere Ruhe und Besonnenheit fehlte, die zur klaren Anschauung eines großen Lebensschauplatzes nötig ist." 6 Sollte ihm der Blick des Weltgeistes, der im Denken Hegels da sich begriff, nicht gelegentlich zum irren Phantom und Bild lebensferner Abstraktionen werden? Im zweiten Teil der Nordsee finden wir Im Hafen: Du braver Ratskellermeister von Bremen! Siehst du, auf den Dächern der Häuser sitzen Die Engel und sind betrunken und singen; Die glühende Sonne dort oben Ist nur die rote, betrunkene Nase, Die Nase des Weltgeistes; Und um die rote Weltgeistnase Dreht sich die ganze betrunkene Welt. 9 Heine lernte nicht nur das Vernünftige, Notwendige im Wirklichen sehen, er sah zugleich dessen Gegenteil.

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2 Heines poetisch-sensitive Subjektivität ließ sich nicht in denkender theoretischer Betrachtung aufheben und auslöschen. Sie bestimmte seine Weise der Realitätsbeziehung und integrierte die Theorie, war Grundlage und Organ seines Begreifen« der Gegenwart, der gegenwärtigen Gesellschaft als eines antagonistischen Prozesses. Dies läßt ihn theoretisch die besondere Weise poetischer Welterkenntnis formulieren - und es ist nicht schwer, das monadologische Modell, die pantheistische Makrokosmos-Mikrokosmos-Dialektik, angewandt auf das Verhältnis von Individuum und Menschheit, darin zu erkennen. Hier greift Heine auf ältere Traditionen zurück: „Und wie der Mathematiker, wenn man ihm nur das kleinste Fragment eines Kreises gibt, unverzüglich den ganzen Kreis und den Mittelpunkt desselben angeben kann, so auch der Dichter, wenn seiner Anschauung nur das kleinste Bruchstück der Erscheinungswelt von außen geboten wird, offenbart sich ihm gleich der ganze universelle Zusammenhang dieses Bruchstücks; er kennt gleichsam Zirkulatur und Zentrum aller Dinge ; er begreift die Dinge in ihrem weitesten Umfange und tiefsten Mittelpunkt." 10 Der universelle Zusammenhang, auf den Heine hier verweist, ist für ihn der Gesell^ schafts- und Geschichtsprozeß als Emanzipationsprozeß. Diesen Zusammenhang in der verwirrend erscheinenden Oberfläche, in dem Neben- und Ineinander von stagnierender Welt des Ancien régime und der Hektik der kapitalistischen Metropolen, im In- und Nebeneinander heterogener Epochen zu entschlüsseln, dient die Dialektik von Subjektivität und dokumentarischer Authentizität seiner Prosa, dient deren innere Komposition als Organisation gesellschaftlicher Erfahrung. Darin liegt angeeignetes Hegelsches Erbe, immanente Philosophie. Philosophiehistorisch gesehen ist Heinrich Heine ein vonAufklärungstraditionen bestimmter Linkshegelianer. E r entdeckte, freilich im Gefolge der Hegeischen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, die revolutionäre Potenz der deutschen philosophischen Re-* volution - als Traum der französischen Revolution und Vorweg^ nähme und Vorbereitung einer praktisch-politischen und sozialen Umwälzung in Deutschland. Darin führte er Momente der Hegeischen Philosophie wie der klassischen Poesie über sich hinaus, trieb sie zu demokratischen und sozialistischen Konsequenzen. Auf Grund seiner sozialen Perspektive überholte er früh die philosophisch-„schulischen" 17*

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Linkshegelianer von links - sehen wir von Marx und Engels ab. Kriterium und Vehikel dessen ist sein Verhältnis zu den widersprüchlichen Seiten der Philosophie Hegels, zum Widerspruch von Dialektik und Idealismus, Methode und System, welthistorischer Fortschrittskonzeption und konservativer politischer Konsequenz, revolutionärer Epochenintention und Verinnerlichung sozialer und politische« Ohnmacht. Heine sah sehr wohl, daß in Hegels Philosophie gegensätzliche Verhältnisse zur Wirklichkeit der Gesellschaft sich verbargen, daß ihr exoterischer Sinn einen esoterischen versteckte. „Wenn Hegel die Grundsätze seiner Philosophie aufstellt, so glaubt man jene hübschen Figuren zu sehen, die ein geschickter Schulmeister durch eine künstliche Zusammenstellung von allerlei Zahlen zu bilden weiß, dergestalt, daß ein gewöhnlicher Beschauer nur das Oberflächliche, nur das Häuschen oder Schiffchen oder absolute Soldätchen sieht, das aus jenen Zahlen formiert ist, während ein denkender Schulknabe in der Figur selbst vielmehr die Auflösung eines tiefen Rechenexempels erkennen kann." Die „absoluten Soldätchen" sind jedoch nicht minder real, und in ihnen sah Heine gerade Hegels politische Funktion innerhalb des Ancien régime. Im 17. Kapitel der Stadt Lucca explodiert er geradezu: Ihm erscheint - vor dem Hintergrund seiner Freiheitshelden, der Gracchen, des Jesus von Jerusalem, des Robespierre und Saint-Just, - die Gegenwart kalt, die älteren Leute selbstsüchtig und kleinsinnig und die Hegeische Philosophie als deren grämliche Repräsentation, eine Lehre derer, die „mehr an die Interessen ihrer Kapitalien als an die Interessen der Menschheit" denken: „sie lassen ihr Schiff lein ruhig fortschwimmen im Rinnstein des Lebens und kümmern sich wenig um den Seemann, der auf hohem Meere gegen die Wellen kämpft; 'oder sie erkriechen mit klebriger Beharrlichkeit die Höhe des Bürgermeistertums oder der Präsidentschaft ihres Clubs und zucken die Achseln über die Heroenbilder, die der Sturm hinabwarf von der Säule des Ruhmes, und dabei erzählen sie vielleicht: daß sie selbst in ihrer Jugend ebenfalls mit dem Kopf gegen die Wand gerennt seien, daß sie sich aber nachher mit der Wand wieder versöhnt hätten, denn die Wand sei das Absolute, das Gesetzte, das an und für sich Seiende, das, weil es ist, auch vernünftig ist, weshalb auch derjenige unvernünftig ist, welcher einen allerhöchst vernünftigen, unwidersprechbar seienden, festgesetzten Absolutismus nicht ertragen will." Hegel gehört somit zu den Verwerflichen, „die uns in eine gelinde Knechtschaft hineinphilosophieren 260

wollen", die Sklaverei selbst sei geschwätzig gemacht worden, daß „deutsche Philosophen und Historiker ihr Hirn abmartern, um jeden Despotismus als vernünftig oder als rechtsgültig zu verteidigen." Heines Alternative im Aufruf zu kühner „Teilnahme an Bekenntnis und Tat" 11 , deren Gehalt an den Helden sichtbar wird, trifft sehr genau Hegels philosophische Kontemplativität, wie auch die Tendenz des Umschlagens von Begreifen der Notwendigkeit des Geschichtsprozesses in eine Apologetik bestehender Macht. Ja, Heine könnte dabei Hegels Schilderung des bürgerlichen Romans als des Epos der bürgerlichen Welt vor Augen gehabt haben, sowenig diese der Kritik und des Sarkasmus entbehrt. Während Heine sich auf Don Quixote beruft, sieht Hegel im bürgerlichen Roman den transformierten Ritterroman in veränderter prosaisch gewordener Welt. „Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte . .., die Helden . . . stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbes* serung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermeßliche in die Höhe . . . Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen . . . Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit . . . Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abstreift, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet.. ."12 Soweit Hegels Bild bürgerlicher Prosawelt und des Schicksals ihrer Rebellionen. In der Romantischen Schule übt Heine - schon mit saint-simonistischer Perspektive - ähnliche Kritik, weist zugleich darauf hin; daß A. W. Schlegels Erfolglosigkeit in Berlin 1827 ihren Grund mit darin gefunden, daß er ein Publikum vorfand, „welches von Hegel eine Philosophie der Kunst, eine Wissenschaft der Ästhetik erhalten hatte". Er kritisiert dennoch Hegel mit Schelling als „Justifikatoren dessen, was da ist", als „Staatsphilosophen", „nämlich sie ersannen philosophische Rechtfertigungen aller Interessen des Staates, worin 261

sie sich angestellt befanden" - das war um die Wende 1832/33. Doch wenig später, in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland grenzt er Hegel nicht nur von Schelling als den progressiveren ab, ja, er feiert ihn auch als „der größte Philosoph, den Deutschland seit Leibniz erzeugt hat" 1;i und als Mann von Charakter. Hegel habe den großen Kreis der philosophischen Revolution abgeschlossen - die ihrerseits, nachdem die Wahrheit des Jenseits abgebaut, in die praktisch-politische Etablierung und soziale Umgestaltung des Diesseits mündet. Eine nähere Charakteristik der Hegelschen Philosophie gibt Heine nicht, er hat sie später unternommen, doch seine religiöse Wandlung führte ihn dazu, dies Werk zu verbrennen, weil „allen diesen Gottlosigkeiten die Hegeische Philosophie den furchtbarsten Vorschub geleistet", eben der Vereinigung von Kommunismus und Atheismus, aber auch hier mußte Heine berichten: „die brennenden Blätter flogen hinaus in den Schlot mit einem sonderbaren kichernden Geknister." 14 Wer lachte da über wen? Doch ich greife vor. Gegenüber der Andeutung in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland findet Heine dann ein neues Verhältnis zu Hegel - im Zusammenhang mit der politischen Radikalisierung nach 1842. Erinnert sei daran, daß er die Rheinische Zeitung an Laube als Verbündeten empfahl. Von besonderer Bedeutung dürfte hier doch die Freundschaft mit Marx gewesen sein. Denn 1844 veröffentlichte Heine im Vorwärts: Trommle die Leute aus dem Schlaf, Trommle Reveille mit Jugendkraft, Marschiere trommelnd immer voran, Das ist die ganze Wissenschaft. 15 Programmatisch ist diese Strophe des. Gedichts Doktrin-, Wissenschaft, eben die Doktrin, geht über in Tat, realisiert sich im Voranmarschieren des Poeten als revolutionärer Avantgardist, der die Nachfolgenden mobilisiert. Wie Trommeln Welt und Geschichte beschwört und Massen zielstrebig und mißreißend in Bewegung setzt, ist seit dem Buch Le Grand poetisches Grundmotiv Heines, und hinter dem Trommler steht die Armee der großen Revolution. „Das ist die Hegeische Philosophie, / Das ist der Bücher tiefster Sinn . . ." Tiefster Sinn der Bücher, der Hegeischen Philosophie - das ist revolutionäre Praxis, dies trommelnde Voranmarschieren, das dem 262

Trommler wiederum seinen Platz im geschichtlichen praktischen Massenkampf anweist. Später wird Heine sich als „verlorenen Posten in dem Freiheitskriege" verstehen, resignierter, dennoch wissend, daß andre nachrücken. Die Hegeische Philosophie und die leidenschaftliche Lebensbejahung, sensualistisches Programm des Genusses im Kuß der Marketenderin verbinden sich im Jubelklang dieses trommelnden Voranmarschierens. Das ist ebenso Fanal wie Aufforderung an sich selbst und Darstellung seiner selbst. Das Gedicht entstammt der Phase der entschiedensten, revolutionärsten Position Heines, seiner äußersten Annäherung an die kommunistische Bewegung, in sie fällt seine Freundschaft mit Marx. 1842 hatte Heine die künftige Weltrevolution als „Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes"16 verkündet, 1844 erreichte er mit Deutschland. Ein Wintermärchen den Höhepunkt seiner politisch-satirischen Poesie und sang das neue, bessere Lied der sozialistischen Verheißung einer Welt ohne Ausbeutung, dem folgte der dreifache Fluch der schlesischen Weber auf Altdeutschland. Aus dem gleichen Jahre stammen die angefangenen Briefe über Deutschland, in denen Heine noch einmal auf seine These aus der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland hinweist, auf sie sich beruft, seine Emanzipationsformel identifiziert mit dem Ziel der kommunistischen Bewegung, wie sie ihm in Marx entgegentrat, in dem jungen, zum wissenschaftlichen Kommunismus sich entwickelnden Marx. Er fand sich darin bestätigt, daß „die Proletarier in ihrem Ankampf gegen das Bestehende die fortgeschrittensten Geister, die Philosophen der großen Schule als Führer besitzen; d i e s e gehen über von der D o k t r i n zur T a t , dem l e t z t e n Z w e c k a l l e s D e n k e n s" 1 '. Die große Schule aber war die Hegels. Und Heine hatte dies den Ubergang zur Tat - vorher gewußt und gesagt. Engels bestätigte ihm dies später: „Wie in Frankreich im 18. Jahrhundert, so leitete auch in Deutschland im 19. Jahrhundert die philosophische Revolution den politischen Zusammenbruch ein . . . Was aber weder die Regierungen noch die Liberalen sahen, d a s s a h b e r e i t s 1 833 w e n i g s t e n s Ein M a n n , und der hieß a l l e r d i n g s H e i n r i c h H e i n e."18 Und Engels exemplifiziert den revolutionären, in allem Bestehenden den künftigen Untergang nachweisenden Charakter der Dialektik gerade an dem zunächst abgründig konservativ und apologetisch er263

scheinenden Satz Hegels, an dem dies auch Heine in jenem Manuskript tat: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig." So Heines Darstellung: „Als ich einst unmutig war über das Wort: Alles, was ist, ist vernünftig, lächelte er sonderbar und bemerkte: ,Es könnte auch heißen: Alles, was vernünftig ist, muß sein.' E r sah sich hastig um, beruhigte sich aber bald . . . Später erst verstand ich solche Redensarten. So verstand ich auch erst spät, warum er in der Geschichte der Philosophie behauptet hatte: das Christentum sei schon deshalb ein Fortschritt, weil es einen Gott lehre, der gestorben, während die heidnischen Götter von keinem Tod etwas wußten. Welch ein Fortschritt ist es also, wenn der Gott gar nicht existiert hat?" 1 9

3 Vergleichen wir Engels' und Heines Darstellung aber, so zeigt sich ein wesentlicher Unterschied. Engels zeigt die philosophischen Momente, die Dialektik von Notwendigkeit und Wirklichkeit, die jenen Satz ins Gegenteil umschlagen läßt. Heine dagegen sieht nicht die D i a lektik, sondern daß die exoterische Form den entgegengesetzten politischen Inhalt verbirgt. D a s Vernünftige, das sein muß, ist eben die politische und soziale Emanzipation, die Hegel offen zu nennen nicht wagte - was den inneren Widerspruch Hegels auf das Verhältnis zwischen Hülle, Tarnung und politisch-weltanschaulichem Gehalt reduziert. Dies Neuverstehen Hegels erwächst aus jener Konzeptionsbildung historisch-philosophischen Charakters, die ihren Knotenpunkt in der These von der künftigen Weltrevolution findet, die für das Glück auf Erden und die Verbrüderung der Völker gemacht werde. Was Heine hier in Hegel liest, ist keine philosophische Aufhebung, sondern eine politische Umkehrung. E r bezieht die philosophisch-weltanschaulichen Fragen immer nur auf den allgemeinen Zusammenhang von Entwertung der wirklichen Welt und des Menschenlebens durch Religion und Spiritualismus und die Rehabilitierung der Welt, der irdischen Bedürfnisse, der Aufwertung des Menschen und Rehabilitierung seiner Sinnlichkeit durch den Tod des außerweltlich-spirituellen Gottes, seine Aufhebung, Widerlegung und Hereinnahme ins Wirkliche, in die Welt, und dadurch die Vergöttlichung des Menschen. Und Heines Weg, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren, die

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Kritik des Himmels in Kritik der Politik zu verwandeln, hatte ihn die Unversöhnlichkeit des Gegensatzes von Bourgeoisie und Proletariat einsehen, ihn also die bürgerlich-liberalen und demokratischen Illusionen einer in der bürgerlichen Gesellschaft zu realisierenden Harmonie der Klassen bzw. der Befriedigung der Massenbedürfnisse zerbrechen lassen. Heines Etablierung der Wahrheit des Diesseits ist wesentlich Forderung und Verheißung des Glücks als Himmelreich auf Erden, das sich aus der Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ergeben werde. Er verkündet hier kein „System", sondern Bedürfnis und allgemeine Möglichkeit: Erfüllung des bislang sozial Versagten als Glück für alle Menschenkinder. Sein philosophisch-weltanschauliches Denken ist gerichtet gegen die Erlösungsreligion. Wenn er Sensualismus und Spiritualismus einander gegenüberstellt, so integriert und subsumiert er diesem Gegensatz das Grundverhältnis von Materialismus und Idealismus, verabsolutiert vom Ansatz her also einen allerdings wesentlichen Teilaspekt der Grundfrage der Philosophie und gewinnt von der sozialen und moralischen Grundbeziehung her den Gehalt der theoretischen Fragen. Deshalb fällt der positiv-wissenschaftliche Gehalt der Erkenntnis der Welt aus diesem Zusammenhang heraus: Sensualismus und Spiritualismus faßt er als „zwei soziale Systeme, die sich in allen Manifestationen des Lebens geltend machen . . . Den Namen Spiritualismus überlassen wir . . . jener frevelhaften Anmaßung des Geistes, der, nach alleiniger Verherrlichung strebend, die Materie zu zertreten, wenigstens zu fletrieren sucht; und den Namen Sensualismus überlassen wir jener Opposition, die, dagegen eifernd, ein Rehabilitieren der Materie bezweckt und den Sinnen ihre Rechte vindiziert, ohne die Rechte des Geistes, ja nicht einmal ohne die Suprematie des Geistes zu leugnen." 20 Diese letzte Formulierung verweist darauf, daß der Sensualismus aus dem Gegensatz zum religiösen Spiritualismus heraus definiert und begriffen wird, als dessen Negation, somit ihm gegenüber nicht als bestimmender und selbständiger Inhalt. Heines zunächst saint-simonistisch bestimmtes philosophisches Konzept sucht den Weg einer Synthese von Materialismus und Idealismus, einer Versöhnung, weil ihm ein materialistisches Begreifen der gesellschaftlichen Selbstbewegung in philosophischer Verallgemeinerung nicht möglich war. Sein Pantheismus enthält verhüllt Materialismus und Atheismus, zugleich historischen Idealismus und eine Wertumkehrung des christlichen Spiritualismus, insofern der Höchstwert dem 265

menschlich-irdischen Leben ohne Transzendenz zugesprochen wird. Dieser Höchstwert wird aus des Lebens immanenter Göttlichkeit abgeleitet. Solche Negation ist selbst vom Negierten noch abhängig und religiös gefärbt. Dennoch gewinnt Heine hier eine theoretisch-weltanschauliche Formel, den Inhalt der wirklichen Welt poetisch und gedanklich zu ergreifen und seinem Emanzipationsgedanken die Spannweite von der „Göttlichkeit des Menschen" bis zur „Idee des Mittagessens" zu verleihen, dadurch ihm die Stoßrichtung gegen die materiellen wie geistigen Unterdrückungsmechanismen der verwesenden feudalen wie der werdenden bürgerlichen Gesellschaft zu geben. Der Pantheismus Heines liegt philosophisch auf der weltanschaulichen Linie, die vom späten Lessing und Herder zu Goethe führt, er steht dem „aufrichtigen Jugendgedanken" Schellings nahe, ohne dessen Transzendentalismus zu teilen. E r unterscheidet sich aber grundsätzlich vom Pantheismus des Novalis und des jungen Friedrich Schlegel, die eine Synthese von Spinoza und Fichte suchten und zu einem spiritualistisch-theosophischen, das Universum irrationalistisch versubjektivierenden Konzept kamen. War der Weg des Pantheismus für Goethe ein Weg aus religiöser Bindung heraus zum Materialismus hin, so - im Gegensatz dazu - für die Jenenser Romantik die Form für die philosophische Konstruktion einer religiös bestimmten naturmystischen Welt. Ebensowenig vermochte Heine die hypertrophe Kunstreligion der Jenenser zu teilen. Philosophischer Pantheismus als Antithese zur institutionalisierten Kirche und Religiosität ist eben eine historisch sehr unterschiedlich zu bestimmende Erscheinung. Sie sucht zwar allgemein eine Versöhnung materialistischer und idealistischer Intentionen, dies jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung und Entwicklungstendenz, vor allem in unterschiedlicher Beziehung zum allgemeinen gesellschaftlichen wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß und zu den ideologischen Fronten. Daher ist Pantheismus entweder eine geschichtliche Gestalt des Materialismus und dessen Übergangsform (Bruno-Spinoza-Goethe), vor allem unter Bedingungen eines mechanistisch-metaphysisch beschränkten Materialismus, - oder aber eine Gestalt des Idealismus (Hegel). Ebenso ist nur historisch zu bestimmen, welche sozialen Gehalte und Zusammenhänge jeweils unter dem Aspekt des Religiösen, des „Heils" und transzendenter Macht, über traditionelle Denkformen im Positiven wie Negativen vermittelt, jeweils erscheinen, erfahren bzw. perspektivisch entworfen werden. Für Heine konnte die gedanklich-theoretische Vermittlung zwischen 266

Kommunismus und Atheismus nicht gelingen. Beide verstand er vom Negativen her: den Atheismus als sensualistische Negation der Religion - in seinem Pantheismus immer noch innerhalb religiös bestimmten Denkens. Den Kommunismus verstand er als egalitär-sensualistische Negation der kapitalistischen Ungleichheit, Ausbeutung und Not. Marx hat Notwendigkeit und Grenzen dieser beiden Negationen in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten analysiert. Methodisch wird diese Grenze zugleich an Heines Rezeption Hegels sichtbar. Marx hatte als entscheidenden rationalen Kern der Hegeischen Philosophie die revolutionäre Dialektik, die Dialektik der Negätivität erkannt, in Hegels idealistischer Konstruktion die Einsicht in die Weltgeschichte als Selbsterzeugung des Menschen durch die Arbeit. Heine dagegen knüpfte nicht an diese Erkenntnis der „aktiven Seite" an, sondern an die Momente, die allgemein pantheistisch-monistischen und aufklärerisch-emanzipatorischen Charakter trugen, das Esoterische Hegels war ihm nicht die Dialektik in der revolutionären Potenz, sondern der Pantheismus und politische Emanzipationsgedanke. Heine berief sich mit Recht auf Goethe hinsichtlich dessen Spinozismus, verstand aber nicht dessen theoretisch und poetisch entwickelten Gedanken der menschlichen geschichtlichen Produktivität. So konnte -er die Arbeiterklasse nicht als revolutionäre Produktivkraft und die Arbeiterbewegung nur als Praxis ihrer gegenwärtigen republikanisch-egalitaristischen Ideen sehen. Deshalb blieb sein sozialistischer Gedanke - auch in der Phase der intimsten Solidarisierung utopisch, und eine Vermittlung zwischen poetischem Zukunftsbild und der Gegenwart des Arbeiterkommunismus mußte ihm fehlen. Heine hat philosophisch-weltanschaulich und politisch-revolutionär den Weg über Hegel hinaus eröffnet und dadurch die Möglichkeit einer revolutionären Rezeption der klassischen deutschen Philosophie erwiesen. Auf dem Wege solcher Rezeption konnte die gedankliche Leistung Hegels zur theoretischen Quelle des Wissenschaftlichen Sozialismus werden - über die kritische Verarbeitung im Kontext der internationalen ökonomischen, sozialen und politischen Erkenritnis. Es wäre historischer Unsinn, ihm vorzuwerfen, daß er kein Marx wurde. Das lag historisch und sachlich außerhalb der Möglichkeiten seines Daseins als Poet, dem Philosophie Mittel war. Als Heine 1848 den Pantheismus über Bord warf, als Konzept der Göttlichkeit des Menschen, bewog ihn dazu nicht die Ohnmacht der Kreatur, die er an sich erfuhr, allein. Er wandte sich desillüsioniert ab von der letzten philosophischen Gestalt und Konzeption eines 267

anthropomorphen, im Universum verankerten Lebenssinns, von der letzten Gestalt einer philosophischen Illusion, die eine universelle Harmonie in Natur und Gesellschaft, deshalb deren Schönheit versprach. An der Unversöhnlichkeit der Widersprüche der sozialen Wirklichkeit und zwischen seinen Idealen und dieser erfahrenen Wirklichkeit zerbrach sein Pantheismus. Damit scheiterte nicht nur Heines Pantheismus, zugleich sein epikureischer sensualistischer Materialismus, der ihn vom Konsumtiven aus nicht den Weg zum Produktiven finden ließ. E s blieb ihm der Gedanke historischer Notwendigkeit in einer durch kein Heil, keine Versöhnung gemilderten Welt, in einer häßlichen Welt ohne moralischen Sinn und Garantie. Dennooh hielt Heine fest am Historismus, hielt auch fest an der Überzeugung vom Kommen der proletarischen Revolution - gegen seine Ängste und Schönheitsträume, ja verschärfte noch seine Verneinung der bürgerlichen Gesellschaft. E r brachte - bei aller blasphemischen Religiosität - nicht das sacrificium intellectus. Und die ungeheure Spannung seiner späten Poesie ergibt sich im wesentlichen daraus, daß er beharrte auf seinem emanzipatorischen Schönheits- und Gerechtigkeitsideal gegen eine Welt, der er sich nicht anbequemte, die er nicht verschönte, ihr dadurch nicht den Schein des Akzeptierbaren verlieh, dabei nicht in nihilistischen Verzweiflungsgenuß und Ästhetizismus verfiel: enfant perdu im Befreiungskriege der Menschheit. Dieser Heroismus seiner Poesie und Humanität verweist wiederum auf Heines Rezeption, Kritik, Fortführung und Überwindung der klassischen Ästhetik, weshalb ich mich einigen Aspekten seiner Beziehung zur Hegeischen Ästhetik zuwenden will.

4 Ausgangspunkt dessen mag eine Erkenntnis sein, die wir in der Darstellung der Lehre Saint Simons von Enfantin und Bazard von 1828 finden. In diesem Lehrgange des Saint-Simonismus wird festgestellt, „daß heute die wirklichen Künstler, die stark inspirierten Männer, nur die der bürgerlichen Gesellschaft feindlichen Gefühle wiedergeben, denn die einzigen dichterischen Formen, in.denen sich Beseelung findet, sind die Satire und die Elegie. Das ist heute wahrhaftig die Sprache der empfindlichen Seelen . . ," 2 1 Dies wiederum entspreche der gegenwärtigen kritischen Epoche.

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Interessant ist nicht nur, daß hier in der Berufung auf Satire und Elegie Schillers Ideen auftauchen und sicher die zitierte These nicht ohne Bezug auf sie gefunden wurde, um den Widerspruch von Künstler und bürgerlicher Gesellschaft, von Ideal und Wirklichkeit ästhetisch zu artikulieren. Ebenso der bewußte Epochenbezug in der Charakterisierung der Poesie. Auch die reizvolle Frage, wie die Schillerschen Bestimmungen auf Heine anzuwenden wären und welche Dichtweise er dort entwickelt, wo Schiller die nie geglückte heroische Idylle sieht, kann hier als möglicher Leitfaden, das Besondre der Poesie Heines zu bestimmen, nicht verfolgt werden. Wichtig ist für unseren Zusammenhang die Konstatierung, daß Poesie nur der bürgerlichen Gesellschaft feindliche Gefühle poetisch sagen könne. Sie verschärft die Hegeische These von der Prosa bürgerlicher Lebenswirklichkeit und charakterisiert einen Grundzug der Position Heines - in der Einheit von Politik und Poesie.. Der Widerspruch von moderner bürgerlich-gesellschaftlicher Wirklichkeit und Kunst ist eine Feststellung der Ästhetik Hegels zugleich. Deshalb ist die Konfrontation mit Heines Konzept und Methode besonders aufschlußreich. Die Ästhetik Hegels, die Heine wahrscheinlich nicht gelesen hat, deren Gedanken er jedoch kommunikativ kennenlernen konnte, vermochte ihm eine Fülle von Ansatzpunkten zu bieten. Aus ihr konnte er den Zusammenhang von Kunst und Geschichtsprozeß, Kunst und historischer Weltanschauung ersehen, die Unumkehrbarkeit der Geschichts- wie der Kunstentwicklung, weshalb die Nachahmung der Antike so illusionär sich erwies wie die romantische Flucht ins katholische Mittelalter. In Hegels Ästhetik konnte Heine die Historizität der ästhetischen Kategorien und das Bezogensein der Kunst auf die tiefsten Epochenprobleme dargestellt finden. Hegels Konzept vom „Ende der Kunst" resultiert einmal aus der Systemkonstruktion der Stufen des absoluten Geistes: Wahrheit in Form sinnlicher Anschauung und Gestaltung muß - in dieser Verabsolutierung des Erkenntnisprozesses - im Begrifflich-Philosophischen aufgehoben werden. „Ist der vollkommne Inhalt vollkommen in Kunstgestalten hervorgetreten" 22 , als höchste Weise, in der geschichtliche Wahrheit ihre Existenz schafft, so geht der Geist in höhere Bewußtseinsform über, sprengt die Bindung an die Gestalt des sinnlichen Erscheinens. Mit dieser die Kunst dem Erkenntnisprozeß unterordnenden Konstruktionsform, die ihr zugleich die höchsten Gehalte zuzusprechen gestattet, verbindet sich ein historisch-kritisches 269

Moment, in dem Wertbeziehungen sich manifestieren. D a ß Kunst in Griechenland, in griechischer Plastik ihre Erfüllung, ihre historisch einmalige Vollkommenheit gefunden, in idealer Einheit von Idee u n d Erscheinung, Bedeutung und Gestalt, ist eine Wertung, in der Hegels einstige revolutionäre Utopie antiker Freiheit als ästhetisches Ideal bewahrt und im historischen Konzept seines notwendigen Vergangenund Überwundenseins aufgehoben ist. Kunst und ideale Schönheit gewinnen so den Gehalt der Utopie einer schönen, unentfremdeten, harmonisch freien politischen Gemeinschaft und von Arbeitsteilung und Knechtschaft unverstümmelten Menschlichkeit. So realistisch der reife Hegel die sozialen Bedingungen griechischer Schönheit auch zu analysieren weiß in der Philosophie der Weltgeschichte, so gewinnt er von diesem Ideal her den Maßstab, den Widerspruch zwischen klassischer Idealität und Schönheit zur Prosa seiner nachrevolutionären bürgerlichen Gegenwart, zur Auflösung der Identität von Allgemeinem und Einzelnem, Privat und ö f f e n t l i c h , von Individuum u n d seiner Tat zu fixieren. G e w i ß : „Man kann wohl hoffen, d a ß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein." 23 E n d e der Kunst ist also kein Verenden, sie verliert Stellenwert, Gehalt und Notwendigkeit, gewinnt zugleich die Freiheit von inhaltlich-weltanschaulichen, besonders religiösen und feudalstaatlichen Bindungen - aber in dieser Freiheit liegen G e f ä h r d u n g und Auflösung, gemessen am klassizistischen Ideale. D i e mit dem Christentum und modernen Staat sich entwickelnde romantische Kunst ist für Hegel schon Hinausgehen der Kunst über sich selbst, weil die Idee, der Gehalt die sinnliche Gestalt und äußere Erscheinung transzendiert, weil „die in sich unendliche Subjektivität f ü r sich selber unvereinbar mit dem äußerlichen Stoffe ist und unvereinigt bleiben soll", daher zur Auflösung treiben m u ß im Auseinandergehen von Innerem und Äußerem, Subjekt und Objekt. Dazu kommt es nach dem Durchschreiten der Kreise christlich-kirchlicher wie ritterlich-feudaler Stoffe und Bindungen in einer weltlich gewordenen, auf die Realität gerichteten Kunst, was Freiwerden und -setzen des weltlichen Gehalts ist: „Der Mensch will in seiner Gegenwart das Gegenwärtige selber wenn auch mit Aufopferung der Schönheit und Idealität des Inhalts und der Erscheinung - von der Kunst wiedergeschaffen als sein eigenes geistiges menschliches W e r k vor sich sehen." In der Darstellung Hegels entfaltet die Entwicklungsgeschichte der

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Künste seit der Renaissance eine Widersprüchlichkeit, in der die E n t fremdungsstruktur des werdenden Kapitalismus und die sozialökonomischen Bedingungen der Kunstproduktion aufscheinen. Die künstlerische Eroberung der Wirklichkeit geschieht im Widerspruch von Realität und Schönheitsideal; Kunst als humanistische Potenz - gemessen am klassizistischen Ideal - gerät in Widerspruch zur gesellschaftlichen Realität, die ihr Gegenstand, Existenzboden und W i r kungsraum ist; dies geschieht, weil diese Wirklichkeit selbst widersprüchlich ist. Am konkretesten wird Hegel in der Diskussion der „gegenwärtigen prosaischen Zustände" als Boden und Gegenstand dramatischer und epischer Menschengestaltung. Sie sind dafür besonders ungünstig, denn „jeder Einzelne gehört doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer bestehenden Ordnung der Gesellschaft an und erscheint nicht als die selbständige, totale und zugleich individuell lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber, sondern nur als ein beschränktes Glied derselben." Weil eben das gesellschaftlich Allgegemeine, d. h. die objektiven sozialen Verhältnisse wie die sozialen Institutionen sich gegenüber den Individuen verselbständigen, diese ihnen subsumiert sind. Dennoch: „das Bedürfnis nach solch einer wirklichen individuellen Totalität und lebendigen Selbständigkeit wird und kann uns nie verlassen" - hier protestiert im Ästhetischen gegen die Realität, was Hegel der Einsicht ins Vernünftige des Weltlaufs geopfert hat. Aus dieser Konstellation heraus ergibt sich die widersprüchliche Tendenz der Kunstentwicklung selbst, denn hier „zeigt sich das Zerfallen der Seiten, deren vollständige Identität den eigentlichen Begriff der Kunst abgibt, und dadurch die Zerfallenheit und Auflösung der Kunst selbst. Auf der einen Seite geht die Kunst zur Darstellung der gemeinen Wirklichkeit als solcher . . . über; auf der anderen schlägt sie im Gegenteil zur vollkommenen subjektiven Zufälligkeit der Auffassung und Darstellung um, zum Humor, als dem Verkehren und Verrücken aller Gegenständlichkeit durch den Witz und das Spiel der subjektiven Ansicht, und endet mit der produktiven Macht der künstlerischen Subjektivität über jeden Inhalt und jede Form." Anschaulich werden diese Extreme am Beispiel der als Naturalismus verstandenen holländischen Genremalerei als Nachahmung des Äußerlichen und der romantischen Ironie als „allseitiger Vernichtungskunst" aus subjektiver Willkür und Haltungslosigkeit. Hegel schreibt in einer gewissen Einschränkung seiner These dennnoch der Kunst eine Chance und Aufgabe im „objektiven Humor" 271

zu, in einer Synthese der Extreme, die „zu einem Vertiefen des Gemüts in den Gegenstand" führt, wobei es „dem Humor auch auf das Objekt und dessen Gestaltung innerhalb seines subjektiven Reflexes ankommt, so erhalten wir dadurch eine Verinnigung in dem Gegenstande", jedoch keine totale, nur eine partielle in Gestalt eines Liedes oder Teiles eines Ganzen. Modell dafür ist Goethes Westöstlicher Divan, „der durch die Heiterkeit des Gestaltens die Seele hoch über alle peinliche Verflechtung in die Beschränkung der Wirklichkeit" hebe. Aber damit ist zugleich - in solcher Befreiung und Auflösung der Kunst ein neuer Gegenstand gegeben: Denn das Über-sich-Hinausgehen der Kunst im Humor sei zugleich „ein Zurückgehen des Menschen in sich selbst, ein Hinabsteigen in die eigene Brust, wodurch die Kunst alle feste Beschränkung auf einen bestimmten Kreis des Inhalts und der Auffassung von sich abstreift und zu ihrem neuen Heiligen den Humanus macht: die Tiefen und Höhen des menschlichen Gemüts als solchem, das allgemein Menschliche in seinen Freuden und Leiden, Bestrebungen, Taten und Schicksalen." 24 Dies Konzept des neuen Heiligen, des Humanus, damit des allgemein Menschlichen als Gehalt der Kunst ist Resultat gewiß des Verarbeitens der Leistung der Weimarer Klassik. Dennoch wird Hegels Konzept der modern-gesellschaftskritischen und vor allem geschichtsperspektivisch-philosophischen Leistung des späten Goethe nicht gerecht, ja, diese wäre als kunstpraktische Widerlegung seiner Theorie anzuführen. Und keinen Raum bietet sie für direkte und aggressive künstlerische Kritik, wie sie Goya übte. Eben überall dort zieht er die Grenze, wo die inneren sozialen Widersprüche der neuen Gesellschaft und ihre neuen Produktivkräfte künstlerisch in Aktion treten. So vereint Hegels Konzept kritische Momente gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft mit dem falschen Positivismus seiner idealistischen Philosophie durch deren Verabsolutierung. Zugrunde liegt dem ein Begriff der Kunst, der - ungeachtet seines human-utopischen Gehalts - jene Momente in sich birgt, die Heine an der Kunstperiode kritisierte, verneinte, und den er in seiner auf die sozialen und politischen Widersprüche sich einlassenden, gegen die Gesellschaftszustände kritisch operierenden und operativen Lyrik und poetischen Prosa sprengt. Das Kunstwerk im Sinne Hegels ist das schöne Werk der Idee in der sinnlichen Erscheinung: „Den Mittelpunkt der Kunst macht die zu freier Totalität in sich abgeschlossene Einigung des Inhalts und 272

der ihm schlechthin angemessenen Gestalt aus." Ein Modell, geprägt von der Idealsetzung griechischer Plastik, die ihrerseits Heine als Metapher künstlerischer Selbstgenügsamkeit diente. Dies Kunstideal, bezogen auf die Poesie, bestimmt: „jedes wahrhaft poetische Kunstwerk (sei) ein in sich unendlicher Organismus: gehaltreich und diesen Inhalt in entsprechender Erscheinung entfaltend; einheitsvoll, doch nicht in Form und Zweckmäßigkeit, die das Besondre abstrakt unterwirft, sondern im Einzelnen von derselben lebendigen Selbständigkeit, in welcher sich das Ganze ohne scheinbare Absicht zu vollendeter Rundung in sich zusammenschließt; mit dem Stoffe der Wirklichkeit erfüllt, doch weder zu diesem Inhalt und dessen Dasein noch zu irgendeinem Lebensgebiete im Verhältnis der Abhängigkeit, sondern frei aus sich schaffend, um den Begriff der Dinge zu seiner echten Erscheinung herauszugestalten und das äußerlich Existierende mit seinem innersten Wesen in versöhnenden Einklang zu bringen." Dies Ideal eines Werks in vollendeter Objektivität, das sich „vor jedem außerhalb der Kunst und des reinen Kunstgenusses liegenden Zwecke" bewahrt, dennoch „in der konkreten Wirklichkeit keine absolut isolierte Stellung" behauptet, sondern „selbst lebendig, mitten ins 'Leben hineintreten" will, ist selbst widersprüchlich: Der im Bilde als Mikrokosmos sich präsentierende Welt- und Menschheitsgehalt zielt selbst auf eine utopisch-stimmige Welttotalität, die im philosophischen Idealismus Hegels begründet und vorausgesetzt ist. Doch die idealistisch als Idee in ihrer produktiv-geschichtlichen Entfaltung interpretierte Welt erzeugt notwendig das Auseinanderfallen von Wesen und äußerlich Existierendem, Begriff und Ding. Der „Zweck aller Kunst" kann auf Grund der Entwicklung des Geistes nicht mehr erfüllt werden als die „durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird". 23 D a ß Hegel die Versöhnung dann im spekulativen Erkenntnisakt herstellt, erweist seinen Idealismus als bloßen Interpretationsmodus, der eben der Entfremdung als deren Produkt unterliegt, die im Enden der Kunst sich betätigt. Diese endet, wenn im Komischen diese Einheit nur noch in ihrer Selbstzerstörung sich herstellt, weil das „Absolute" nicht in der lebendigen Totalität der Individuen erscheinen kann - was spekulativer Ausdruck der Entfremdung ist, der das Phantasma einer sinnerfüllt anthropomorphen Welt im ganzen einschließt. Der Begriff des wahrhaften Kunstwerks setzt mit den formalen 18

Heise, Realistik

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Bedingungen, die eine menschlich geordnete Welt intendieren, die inhaltliche der Utopie des Schönen, die resignieren muß. D a s gleiche ästhetische Ideal, das den Widerspruch zwischen Kunstideal und K a pitalismus sichtbar macht, schließt eine Kunst aus, die diesen Widerspruch als energisches Verhältnis realisiert, als Widerspruch von Realität und menschlichen Potenzen, Möglichkeiten. Für Hegel dominiert die resignative Ruhe des nicht mehr erfüllbaren Ideals, weil die gesellschaftliche Wirklichkeit - im Widerspruch zum dialektischen Prinzip - nicht als über sich hinaustreibender Prozeß der Veränderung gefaßt wird.

5 Hegels Ästhetik war die umfassendste und tiefste ästhetische Systematik der Kunstperiode, sie gipfelt in der Analyse der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn ihr Produktives bewahrt werden sollte, mußte ihr ideologisch-philosophisches Koordinatensystem aufgesprengt, die falsche Positivität eines Resümees der Vergangenheit in Programmatik verwandelt werden durch In-Bewegung-Setzen ihrer kritisch-dialektischen Möglichkeiten. D a s ist eine geistige Umwendung, deren Hauptgegenstand nicht begrenzt ästhetischer Natur, sondern die geschichtliche Epoche selbst ist; und aus dem bewußten Verhältnis zu ihren Kämpfen und Perspektiven erwächst das Neubestimmen des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit, des Werkmodells in Relation zum Gegenstand, in den gesellschaftlichen Kommunikationsbedingungen wie dem besondren Verhältnis der Kommunikation zwischen Poet und Gesellschaft. Dies schließt ein den Wandel des Schönheitsideals in Form und Gehalt, die Neubestimmung der Dialektik von Schön und Häßlich in einer Kunst, die angesichts der kapitalistischen Welt nicht ästhetisch und sozial resigniert, sondern den Kampf aufnimmt, dadurch das Anliegen der Klassik fortführt, eine Poesie zu schaffen, die dem Gehalt der Epoche gemäß ist und diesen gestaltet, trotz höchst ungünstiger Bedingungen. Eben dies unternimmt Heine unter den erheblich entwickelteren Bedingungen zwischen den beiden Revolutionen, im Horizont der vergehenden feudalen Welt und der - schon vor Beginn der Entfaltung des modernen Kapitalismus - in den ersten großen Klassenkämpfen aufdämmernden sozialistischen Welt. Die industrielle Umwälzung 274

veränderte Gegenstand und Produktionsbedingungen der Künste. Bitter notierte er einmal (das Fragment stammt aus dem Nachlaß): „Die höchsten Blüten des deutschen Geistes sind die Philosophie und das Lied. Die Zeit ist vorbei, es gehört dazu die idyllische Ruhe; Deutschland ist fortgerissen in die Bewegung - der Gedanke ist nicht mehr uneigennüt2ig, in seine abstrakte Welt stürzt die rohe Tatsache Der Dampfwagen der Eisenbahn gibt uns eine zittrige Gemütserschütterung, wobei kein Lied aufgehen kann, der Kohlendampf verscheucht die Sangesvögel und der Gasbeleuchtungsgestank verdirbt die duftige Mondnacht."26 Welche Schönheit muß hier ersticken? Welche Lieder verstummen? Heine kennt neue Lieder, er lernte sie kennen bei den Ouvriers, „dem kräftigsten Teil der untern Klasse", und er fand hier nicht nur die Lektüre der Schriften Robespierres, Marats, Buonarottis, Babeufs und Cabets - er hörte „Lieder . . . singen, die in der Hölle gedichtet zu sein schienen, und deren Refrains von der wildesten Aufregung zeugten. Von den dämonischen Tönen, die in jenen Liedern walten, kann man sich in unserer zarten Sphäre gar keinen Begriff machen; man muß dergleichen mit eigenen Ohren angehört haben, z. B. in jenen ungeheuren Werkstätten, wo Metalle verarbeitet werden und die halbnackten, trotzigen Gestalten während des Singens mit dem großen eisernen Hammer den Takt schlagen auf dem dröhnenden Amboß. Solches Akkompagnement ist von größtem Effekt sowie auch die Beleuchtung, wenn die zornigen Funken aus der Esse hervorsprühen. Nichts als Leidenschaft und Flamme. Eine Frucht dieser Saat droht aus Frankreichs Boden früh oder spät die Republik hervorzubrechen."27 So berichtete Heine 1840 - und wenige Jahre später schrieb er das Weberlied. Sowenig Heine hier den ästhetischen Blick verleugnet, so sieht er diese Lieder als Äußerung der Klassenlage und -bewegung, bezieht sie auf den sozialen und politischen Gesamtzustand, sucht im Vorhandenen die Signatur der Zukunft. Im Liedersingen äußerten die Arbeiter ihr soziales Sein, ihre revolutionäre Kraft, ihr politisches Wollen. Heine entwickelt - und das macht mit den Reiz seiner Prosa aus - die Methode, in der ästhetischen Betätigung als kollektiver den Vollzug und Spiegel sozialer Prozesse im Kontext der sozialen Gesamtbewegung zu erfassen und dies als Erfahrung für den Leser darzustellen, der nun im eigenen Erfahrungsammeln das Wesentliche gesellschaftlich-geschichtlicher Signaturen faßt. Dazu ein weiteres, freilich extremes Beispiel. In Lutetia finden wir - unter dem Datum vom 7. Februar 1842 18*

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eine auf wenige Seiten beschränkte Darstellung des Tanzes in Paris. „ ,Wir tanzen hier auf einem Vulkan' - aber wir tanzen . . . " Vorangegangen ist die kritische soziale und politische Gesellschaftsanalyse jetzt erscheint im Medium des Tanzes die gegenwärtige Gesellschaft, aber als historischer Durchgangspunkt, reflektiert in der Praxis ihres Tanzes. Zunächst die erfolgreiche Kunst des Balletts wird benannt, die versteinerte Academie royale de musique ironisch charakterisiert, die Tänzerin Carlotta Grisi bewundert: man schwebt mit ihr empor in die hängenden Zaubergärten jenes Geisterreichs, worin sie als Königin waltet. J a , sie hat ganz den Charakter jener Elementargeister, die wir uns immer tanzend denken und von deren gewaltigen Tanzweisen das Volk so viel Wunderliches fabelt." Dann wirft Heine einen historischen Blick auf die Tanzkunst als heidnische Kunst, die der Kirche fremd geblieben, nicht integriert worden, die im französischen Ballett zu christianisieren und höfisch zu etikettieren versucht worden sei: Tanz oben und unten sind hier als Thema angeschnitten. Die Gesellschaftsbälle werden kurz als langweilig abgefertigt, sie entsprechen der Mentalität der reichen Bourgeoisie. „Was die Bälle der vornehmen Welt noch langweiliger macht, als sie von Gott und Rechts wegen sein dürften, ist die dort herrschende Mode, d a ß man nur zum Scheine tanzt . . . Keiner will mehr den andern amüsieren, und dieser Egoismus bekundet sich auch im Tanze der heutigen Gesellschaft." Dagegen stellt Heine fest: Die untern Klassen „haben sich dennoch nicht zu solchem selbstsüchtigen Scheintanz verstehen können: ihr Tanzen hat noch Realität, aber leider eine sehr bedauernswürdige." Dann werden der Cancan bzw. Varianten geschildert. Wiederum in bezug auf die Gesellschaft: einmal hinsichtlich der Polizeikontrolle und -Schikanen, unter denen getanzt wird. Er kommentiert: „Diese Bewachung der Volkslust charakterisiert übrigens den hiesigen Zustand der Dinge und zeigt, wie weit es die Franzosen in der Freiheit gebracht haben." D a ß die Polizei der Julimonarchie nicht ohne Klassengrund hier spitzelt und unterdrückt, wird im folgenden sichtbar: Dieser entfesselte Tanz sei eine blasphemische Gegenwelt gegen die offizielle Gesellschaft: „eine getanzte Persiflage, die nicht bloß die geschlechtlichen Beziehungen verspottet, sondern auch die bürgerlichen, sondern auch alles, was gut und schön ist, sondern auch jede Art von Begeisterung, die Vaterlandsliebe, die Treue, den Glauben, die Familiengefühle, den Heroismus, die Gottheit." 28 Heines ironisches Entsetzen kontrastiert zu der vorhergehenden Begründung, war276

um das Volk die offiziellen Werte nicht mehr glauben kann, wenn diese von den herrschenden Klassen selbst widerlegt und desavouiert werden. Und dann steigert sich seine Darstellung zur Beschreibung des Tanzes als schwarzer Messe, als Walpurgisnacht . . . Plötzlich wird im Tanze anschaulich die reale Negation der Gesellschaft, der verborgene Vulkan; der gegebene Zustand bürgerlicher Ordnung, der steril-langweiliger Formen sich befleißigt, erscheint bedroht, ja schon widerlegt durch das teuflische Toben, in dem zusammenkommen heidnische unterdrückte Sinnlichkeit und soziales Aufbegehren. Stand am Anfang das Traumbild romantischer Tanzkunst, sublimierte schöne Blume in der Prosa des Lebens, so korrespondiert ihm das „satanische Spektakel", weltanschauliche und soziale Zusammenhänge fallen hier zusammen. Und nicht „schön" ist, was da unten empordrängt, während zugleich das Träumerisch-Unreale getanzter Schönheit - und die egoistische Leerheit bourgeoiser Tanzkonvention ein unheimliches Bild vom Zustand einer Gesellschaft entwerfen, deren Zwänge nur mühsam das Unterdrückte - und dies auf die Dauer vergeblich - binden. Am Tanzen wird deutlich, d a ß da eine Revolution heranreift. Hier ist die Ästhetik ganz ins Soziale gewendet. Was da getanzt wird, korrespondiert mit dem, was „im Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft, in jenen Katakomben . . . an neuem Leben keimt und knospet: Kommunismus ist der geheime Name des furchtbaren Antagonisten, der die Proletarierherrschaft mit allen ihren Konsequenzen dem heutigen Bourgeoisregime entgegensetzt." Die Einsicht, daß „die Furcht . . . hier die Stütze aller Dinge" 29 der bürgerlichen Gesellschaft sei, läßt im Tanz der unteren Klasse die Signatur der Rebellion spürbar werden. Heine identifiziert nicht einfach Tanz und Politik, auch nicht die sozialen Kräfte, die in ihnen gegensätzlich sich betätigen - er umreißt in aller Knappheit einen Geschichtszusammenhang, der in ästhetisch-gesellschaftlicher Betätigung sozial, politisch und weltanschauungs-geschichtlich transparent wird. Vom Standpunkt der Ästhetik Hegels wäre eine solche Charakterisierung und Darstellung unmöglich gewesen: die Koordinaten sind grundsätzlich geändert. Kunst ist integriert in einen Geschichtszusammenhang, dessen Akteure die sozialen Klassen sind. So sehr Heine an einem traumhaften Schönheitsbilde festhält, so realistisch-kritisch, soziologisch und prognostisch sucht er den Puls des entfesselten frühen Kapitalismus zu messen und Standort und Funktion der Künste zu bestimmen. Gegenüber Hegel ist der historische Epochenunter277

schied greifbar. Zugleich aber zeichnet sich eine Gegenposition zu dessen Ästhetik an dieser „angewandten" Sphäre ab. Diese Gegenposition Heines zur Hegeischen Ästhetik, die den ideologischen und weltanschaulichen Gegensatz einschließt, schließt Verneinung und Fortführung, Widerlegung und partiale Bestätigung Hegels ein. Sie durchbricht die ästhetischen Konsequenzen der Hegelschen Analyse der Prosa der bürgerlichen Wirklichkeit, die - für sich genommen-Heine wesentlich teilt. Durchgehalten wird von ihm der Widerspruch des Poetischen zur bürgerlichen Welt, sei es der absolutistisch-feudal-kleinbürgerlichen wie der entwickelt kapitalistischen. Was für Hegel Gegenstand philosophischer Betrachtung, ist für Heine subjektives Anliegen, Sache der Produktion und Entscheidung. Sosehr er Hegels Analyse des Widerspruchs von Subjekt und gesellschaftlicher Objektivität teilt, so versteht er eben diesen Gesellschaftszusammenhang in revolutionär-demokratischer Sicht als geschichtlichen Bewegungszusammenhang, dessen Subjekt die Völker sind. Dadurch ergibt sich das inhaltliche Sich-Stellen der Poesie angesichts dieser Realität, zum zweiten ihr Engagiertsein, dadurch deren Ausbruch aus dem „Reich der Kunst" als Bildungssphäre utopischen Charakters, sie wird selbst Moment der Emanzipationsbewegung, der Poet vom Träumer der Freiheit zu deren Trommler und Tribun, demjenigen, der den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorsingt, um sie zum Tanzen zu bringen - soweit seine Kraft reicht. Darin liegt wiederum der Neuansatz einer betont von plebejisch-sensualistischen, volkstümlichen Momenten ausgehenden Sangesweise einerseits, entsprechend der sozialen Intention Heines. Darin liegt ferner, daß er Poesie bewußt integriert in die modernen publizistischen Kommunikationsmittel massenwirkenden Charakters und aus der „Prosa" der publizistischen Medien die Möglichkeiten gewinnt einer neuen, eben diese Wirklichkeit ergreifenden, ihre Erkenntnis in anschaulicher wie gedanklicher Form organisierenden poetischen Prosa und prosaischen Poesie. Darin liegt eine von Heines großen schöpferischen Leistungen. In der These vom Ende der Kunstperiode artikuliert Heine sein Bewußtsein dessen, daß mit der neuen Epoche ein neues Verhältnis von Kunst und sozialer Wirklichkeit notwendig sei. In der MenzelRezension von 1828 stellt er fest: Das Prinzip der Goetheschen Zeit, die Kunstidee, verliere ihre Herrschaft, und die Geister der neuen Zeit und neuer Ideen zielen darauf, „das zivilisierte Goethetum über den Haufen zu rennen und an dessen Stelle das Reich der wildesten Subjektivität zu begründen" 30 ; das wird im Salon weitergeführt, in 278

der Romantischen Schule für die Poesie konkretisiert: Die Goetheaner betrachteten „die Kunst als eine unabhängige zweite Welt, die sie so hoch stellen, daß alles Treiben der Menschen . . . wechselnd und wandelbar unter ihr hin sich bewegt . . . ließen sich dadurch verleiten, die Kunst selbst als das Höchste zu proklamieren und von den Ansprüchen jener ersten wirklichen Welt, welcher doch der Vorrang gebührt, sich abzuwenden." Diese Kritik, die mehr an das Epigonentum denn an Goethe adressiert ist, hat als positive Gegenposition das Konzept vom Vorrang der ersten Welt. Mehr noch, diese stellt nicht äußerliche Anforderung, sondern bewegt selbst den Dichter, äußert sich in seinem Dichten: Heine zeigt dies, wenn er Racine und Corneille so unterscheidet: In Corneille und der Fronde „röchelt noch das alte Rittertum. In Racine aber ist die Denkweise des Mittelalters erloschen; in ihm erwachen lauter neue Gefühle; er ist das Organ einer neuen Gesellschaft." Diese Beziehung zwischen Poet und Gesellschaft wiederum ergibt: „In der Brust des Schriftstellers eines Volkes liegt schon das Abbild von dessen Zukunft." Von hier aus hebt Heine an den Schriftstellern des Jungen Deutschland hervor, daß sie „keinen Unterschied machen wollen zwischen Lesen und Schreiben, . . . nimmermehr die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribüne und Apostel sind." 31 Heines Alternative zur Hegeischen Ästhetik zeichnet sich also zunächst ab in der Umkehrung, die - grob gesprochen - die Gesellschaft zum geschichtlichen Subjekt, den Dichter zu dessen Organ macht. Charakterisiert dies die theoretische Entmystifizierung, so sind Inhalt und Ziele der Poesie bedingt durch die geänderte Sicht auf die geschichtlich gegebene Gesellschaft, deren Entwicklungszustand und Entwicklungsperspektive, vermittelt durch die Hegel entgegengesetzte ideologische Beziehung. Daran knüpft sich perspektivisch die Aufhebung der wechselseitigen Entfremdung von Poesie und Politik, die selbst politisch wirksam, das Konzept des Poeten als Tribun und Apostel des revolutionären Emanzipationsprozesses. Das sind drei Aspekte eines Zusammenhangs. Diese Gegenposition erwächst nicht aus einer systematischen theoretischen Auseinandersetzung mit Hegel, führt dementsprechend nicht zu einer pointierten Entgegensetzung zu ästhetischen Anschauungen Hegels. Sie ist vielmehr Konsequenz des gesamten ideologisch-weltanschaulichen Entwicklungsprozesses. Daher kann Heine durchaus hegelianisch formulieren und dennoch anderes meinen. 279

So heißt es im Bericht über die Pariser Gemäldeausstellung von 1831: „Töne und Worte, Farben und Formen, das Erscheinende überhaupt, sind jedoch nur Symbole der Idee, Symbole, die in dem Gemüt des Künstlers aufsteigen, wenn es der heilige Weltgeist bewegt, seine Kunstwerke sind nur Symbole, wodurch er andern Gemütern seine eigenen Ideen mitteilt. Wer mit den wenigsten und einfachsten Symbolen das Meiste und Bedeutendste ausspricht, ist der größte Künstler." 32 Und mit Hegel lehnt Heine in diesem Zusammenhange Rumohrs Konzept der Kunst als Nachahmung der Natur ab. Aber: Der „Weltgeist" hat für Heine seine metaphysische Universalität verloren und wird zum Geist der geschichtlichen Gesellschaft; die „Idee" ist nicht mehr selbständiger Akteur, sondern Idee geschichtlicher Bewegungen, die im Künstler ihr Organ finden. Heines These vom Ende der Kunstperiode ist sachlich eine Antwort auf Hegels These vom Ende der Kunst. Sie fordert Auskunft darüber, wie Kunst unter den neuen Bedingungen zu leisten sei, welchen Charakter sie habe. Dies um so mehr, als Heine zwar die Intention des jungen Deutschland in dem von ihm charakterisierten Sinne bejahte und - von allem Politischideologischen einmal abgesehen - dennoch die Tendenzpoesie als blanke Unterordnung der Poesie unter politische Gesinnung und dadurch die Preisgabe des Poetischen - mit den ihm immanenten Gehalten - schärfstens ablehnen mußte. Der Dichter als Organ einer antagonistisch bewegten Gesellschaft, als Objekt und Akteur ihrer Widersprüche soll sich als Poet behaupten: in welcher Perspektive, da doch keine Garantie besteht, daß Poesie und Gesellschaftsbewegung harmonieren, daß das Kommende das Schöne empfängt oder bringt? Im oben genannten Bericht stellt sich Heine die Frage nach Ende oder Perspektive der Kunst - und zeigt zugleich, wie politische Ereignisse und öffentliche Not das Schöne der Werke in makabrem Widerspruch zwischen Kunstgenuß und Lebensqual erscheinen lassen. Dennnoch: „Die neue Zeit wird auch eine neue Kunst gebären, die mit ihr in begeistertem Einklang sein wird, die nicht mehr aus der verblichenen Vergangenheit ihre Symbolik zu borgen braucht und die sogar eine neue Technik . . . hervorbringen muß." 33 Die neue Zeit - das ist revolutionäre demokratische Perspektive hier. Sie braucht nicht ihre Symbolik aus verblichener Vergangenheit zu borgen - wie die altertümelnde christliche Romantik oder auch der Klassizismus, dessen revolutionäre Phase bei David Heine schätzt 280

und dennoch in ihrer linearen Farbaskese kritisiert, und er weiß dann auch den Weg zu Ingres als dem Maler des Juste milieu zu zeichnen. Eine neue Zeit muß ihre Symbolik aus der eigenen gegenwärtigen Realität gewinnen.

6 Aber die neue Zeit ist noch nicht da, ist Zukunft, Erwartung, Verheißung, nicht Gegenwart. Mit der wirklichen Gegenwart - sei es der bürgerlichen Welt des Julikönigtums oder der lebenden Vergangenheit deutscher Zustände - ist nicht im Einklang zu leben, im Gegenteil. Andererseits will Heine nicht blanken Widerspruch zur Epoche im Sinne eines „egoistisch abgekapselten Kunstlebens, die müßig dichtende Seele hermetisch verschlossen gegen die großen Freuden und Schmerzen der Zeit." D i e Zeitbewegung selbst in ihren Antagonismen müsse der Kunst gedeihlich sein, Phidias und Michelangelo hätten nicht ihre Kunst von der Politik des Tages getrennt, im alten Athen und Florenz habe „eben in den wildesten Kriegs- und Parteistürmen die Kunst ihre herrlichsten Blüten entfaltet". Und „Dante schrieb seine Komödie nicht als stehender Kommissionsdichter, sondern als flüchtiger Guelfe, und in Verbannung und Kriegsnot klagte er nicht über den Untergang seines Talents, sondern über den Untergang der Freiheit." Engagement, Einheit von politischer und künstlerischer Leidenschaft bringen wohl die Schmerzen und Freuden der Zeit, damit Epochengehalt in des Dichters Seele, sind jedoch kein Ausdruck schlechthin der Harmonie zwischen Dichter und seiner geschichtlichen W e l t : D i e Zukunft begeisterten Einklangs steht noch aus. Bis zu jener Zeit, deren Konturen in utopischem Glänze verschwimmen, gelte: „Bis dahin möge, mit Farben und Klängen, die trunkenste Subjektivität, die gottfreie Persönlichkeit mit all ihrer Lebenslust sich geltend machen, was immer noch ersprießlicher ist, als das tote Scheinwesen der alten Kunst." 3 4 Kunst der Subjektivität ist somit bewußt vorläufig, ja Vorläuferkunst, Übergangsform, da jene Zeit noch nicht da, die alte im Verenden liegt. Die Kunst - seine Poesie und damit seine poetische Subjektivität - sieht Heine bewußt historisch-relativ, und ihre Selbstdarstellung ist Darstellung der Epoche. „Die Poesie ist nicht mehr objektiv, episch, naiv, sondern subjektiv, lyrisch, re281

flektierend." 3 5 Das Werk als „träumendes Spiegelbild der Zeit" 36 , die Künste als „Spiegel des Lebens" 37 vermitteln ihre „Spiegel"-funktion über die Subjektivität des Dichters. Die „trunkenste Lebenslust" ist dabei nicht Zustandsformel, sondern Anspruch, Programm, Bedürfnis des Subjekts und Sehnsucht, als Anspruch und Programm Formulierung des Mangels, Ausdruck des Widerspruchs zwischen Poet und seiner Gesellschaft. Der Dichter als Organ der Gesellschaft dient als Tribun ihrer Bewegung, als Akteur ihrer bewegenden Widersprüche - er ist ihrem Lebensprozeß zugleich auf andre Weise verbunden, identisch mit ihm, da die epochalen Widersprüche zugleich seine eigenen sind. „Denn da das Herz des Dichters der Mittelpunkt der Welt ist", heißt es emphatisch, „so mußte es wohl in jetziger Zeit jämmerlich zerrissen werden . . . Durch das meinige ging aber der große Weltriß . . . " Dichtersein ist „Dichtermärtyrtum", und ihm gegenüber jede behauptete Ganzheit, die in früheren Epochen, Mittelalter wie Altertum, möglich gewesen, in der Gegenwart eine Illusion, Lüge, illusionäre Selbstbespiegelung in einer Natur „wie gemalt". 38 Doch der Weltriß selbst ist kein metaphysisches Datum, sondern historisches Produkt, und deshalb ebenso intensiv erfahren wie als geschichtlich relativ erkannt. Heines Konzept der poetischen Subjektivität geht vom Primat der objektiven geschichtlich-gesellschaftlichen Welt aus. Sie bedingt auch das Subjekt, dessen „Subjektivität" die des einzelnen Individuums ist, das der Gesellschaft, so sehr es deren Glied ist, gegenübersteht. Des Dichters Subjektivität spannt sich zwischen den Polen politisch emanzipatorischen Wirkens und Wirkenwollens und der sensitiven Organisation, die Freude und Schmerz der Zeit als eigene erlebt, die Signatur aller Dinge aus solcher Beziehung zum Ganzen kennt, spürt, erfaßt - Tribun und Lazarus in den extremen Gestalten. Und das Besondre der Konzeption Heines liegt darin, daß er - ohne die Tiefe, die Intensität dieser Subjektivität, die Unbedingtheit ihres Erfahrens und Fühlens abzubauen - sie dennoch historisiert, auf die Gesellschaft, ihre Ordnung und Bewegung bezieht, sie selbst als sozialhistorisch bedingt versteht und dadurch ebenso objektiviert wie relativiert - ohne die Vergewisserung und bergende Illusion einer „Natur", eines zeitenthobenen Geistes oder eines Göttlichen, das da im Dichter Wort wird. Der Poet ist radikal entmythologisiert, begrenztes, bedingtes Individuum der Zeit und Gesellschaft, das sich als 282

solches weiß und darstellt. D e t Widerspruch von Poesie und Wirklichkeit erscheint von hier aus als historischer Widerspruch der Poesie zum bestimmten Gesellschaftsprozeß, also nicht als eine hypertrophe Negation der Wirklichkeit schlechthin - und ohne metaphysische Hilfskonstruktionen, die, wenn Heine ihrer bedarf, sogleich ironisch relativiert werden. Durch die Dialektik von Geltendmachen der Subjektivität und deren radikaler historisch-sozialer Relativierung gewinnt Heine das poetische Medium und Verfahren, in der Vielfalt aktiver Beziehungen über die Subjektivität doch das „Spiegelbild der Zeit", den sozialen geschichtlichen Gesamtprozeß in seiner Objektivität zur Anschauung zu bringen: somit gerade durch die Extremisierung des Gegensatzes von Subjektivität und Objektivität. „Ist aber dieses ständige Konstatieren meiner Persönlichkeit das geeigneteste Mittel, ein Selbsturteil des Lesers zu fördern" 3 9 , so wird dadurch die Subjektivität als solche in Kontrast und Gegensatz zur Objektivität dargestellt und selbst objektiviert in ihrer Bedingtheit, Relativität - und, vom Poeten her, geistig frei sich selbst gegenüber. Sie wird gerade durch das „Konstatieren meiner Persönlichkeit" objektiviert im Kontext der Bedingungen, Zustände, Verhältnisse, dargestellt im vollziehbaren und subjektiven Erfahrungs- und Urteilsprozeß. Besonders in der Prosa erscheint das Erfahrene in scheinbarer Zufälligkeit, die in Wirklichkeit wohl komponiert ist und den Leser selbst urteilend Erfahrung sammeln läßt. Das schließt den kommunikativen Bezug auf den als mündig Urteilenden ein, dem Erfahrung mitgeteilt wird, mit dem der Autor sich verständigt über das gemeinsam Interessierende: Zusammenhang, Entwicklung und Veränderungsbedürftigkeit der Welt, das Gemeinsame an Freunden und Feinden. So entsteht eine neue, aus dem Kommunikationsprozeß erwachsende, auf ihn bezogene Totalität, die im kollektiven Austausch- und dadurch vermittelten Erfahrungsprozeß sich herstellt und ihre G e meinsamkeit im Epochenbilde gewinnt. Das besagt, daß hier eine spezifische Kommunikativität der Poesie und Prosa immanent ist. Wenn Engagement nicht bloße Meinung, sondern verbindlich ist, muß es sich auf die geschichtlichen Wirkungsbedingungen einlassen. Und das sind in dieser Phase des werdenden Kapitalismus die jungen publizistischen Medien, die von ihnen erzeugte Öffentlichkeit als eine künstlerisch-politische, ihre Behandlung des Poeten als öffentlicher Gestalt - und das ist eben der kapitalistische Meinungs- und Kunstmarkt. Dazu gehören neben der Zen-

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sur die Lesererwartungen, -gewohnheiten usw. Daraus ergibt sich wiederum ein spezifisches Rollenverhalten, das nicht fremde Maske des sich gegen seine Überzeugung Verkaufenden ist, wohl aber Verhalten dessen, der das Eigene immer mit dem Beeinflussungsziel, unter Berücksichtigung des Adressaten, gleichsam mit verinnerlichten Wirkungsbedingungen schafft, der Erfolg haben will und sich zugleich gegen seinen Erfolg wehren muß. Sosehr diese Medien Form und Bedingung waren, die neue Wirklichkeit zu erobern, sosehr problematisierten sie Heine die poetische Subjektivität als Öffentlichkeitsgestalt, somit das darin liegende Moment des Artifiziell-Schauspielerischen. Im Hintergrund dessen mag hier die allgemeinere Fragestellung des Verhältnisses von Wahrheit und Kunst in Heines Sicht bleiben, wie er sie anhand der Bibel und Shakespeares entwickelt. Hier geht es um das poetische Verhalten: Und der Vers „Ach Gott, im Scherz und unbewußt / Sprach ich, was ich gefühlet; / Ich hab mit dem Tod in der eigenen Brust / den sterbenden Fechter gespielet."40 - verrät die innere Problematik des „Komödianten", der eben im hochromantischen Stile gespielt, aber eben nicht nur gespielt hat. - Dies wäre zu konfrontieren mit dem Gedicht aus dem Romanzero: Sie erlischt.41 Die poetische und wirkliche Subjektivität geht nicht in der Öffentlichkeitsrolle auf, und da sind manche Stufen dessen, der in keiner Rolle aufging, sosehr er Schwert, Flamme, Liebender und Lazarus war. Auf diese Weise bedingen sich kontrastierend realistische soziale Erkenntnis, Darstellung und poetischer Traum, wird Schönheit zum historischen Kriterium einer Zeit, da der Einklang fehlt, fixiert sich freilich im romantisch-utopischen Bilde, verliert nicht den Traumund Verheißungscharakter und erscheint nur in besondren Erfüllungssituationen - die selbst Erinnerungs- und Abschiedscharakter tragen, als Bejahungsbeziehung zu einer gegebenen Wirklichkeit. Umgekehrt: der schöne Schein idyllischer Natur wird zur Illusion und Lüge, wo er als Menschenwelt sich präsentieren will - analog dem Anfang von Im Oktober 1849.1,2 Angesichts der häßlichen Welt wird mit Lachen gesprochen, um das Weinen zu bezwingen, - und eben dadurch, durch solche wertende Distanzierung, sind innere Freiheit, Handlungs- wie Urteilsfähigkeit bewahrt und organisiert. Denn „das Leben ist im Grunde so fatal ernsthaft, daß es nicht zu ertragen wäre ohne solche Verbindung des Pathetischen mit dem Komischen'"13. Von hier aus gewinnt die Subjektivität - des Dichters wie des Angesprochenen - ihre Freiheit des Bewußtseins gegenüber der Objektivität wie sich selbst gegenüber - und im Kunstprodukti284

ven wie in der Ironie wird sie hergestellt. „Was ist in der Kunst das Höchste? Das, was auch in allen anderen Manifestationen des Lebens das Höchste ist: die selbstbewußte Freiheit des Geistes", die „Selbstbewußtsein der Freiheit in der Kunst" ist. 44 Dieser 1843 geschriebene Satz bezieht sich unmittelbar auf das spezifisch Kunstproduktive, Artifizielle. Er steht aber im Horizont der Emanzipationskonzeption Heines und drückt die Selbstbehauptung, die geistige Freiheit als Bedingung der Aktionsfähigkeit, als Funktion von Kunst - im Produktiven und Rezeptiven - aus, einer Behauptung gegen den Druck und die Antagonismen der Prosawelt. Kunst schafft und bedingt den Raum der Schönheit als Alternative, bewahrt sie darin, relativiert von hier aus das Vorhandene. Hier hat Heine Hegels Gedanken weitergeführt: den Gedanken von der Befreiung der künstlerischen Subjektivität in einer Welt entfremdeter Objektivität und den Gedanken von der Freiheit als letztem Inhalt der Kunst. — Doch diese Gedanken erhalten jetzt konkreten Gehalt und konkrete Funktion in bezug auf Kunstentwicklung, -Produktion und -wirken in der bestimmten historischen Situation, als im Jugendstadium des modernen Kapitalismus schon dessen Historizität aufscheint. Gerade Heines Betonung der Form gegenüber dem Stoff setzt in diesen Zusammenhängen den humanen Gehalt des Kunstschönen voraus. Heine sprengte somit nicht nur das Geschichtskonzept Hegels zur Zukunft hin auf. Die gleiche veränderte Beziehung zum gesellschaftlichen Lebensprozeß ließ ihn die klassizistischen Schranken seines Kunstbegriffs aufbrechen und realistische Einsichten freisetzen, wesentlich aus dem objektiven Idealismus der Weltanschauung hinausführen, Kunst als Organ der Gesellschaftsbewegung und Emanzipation begreifen, ohne ihren spezifischen Charakter und damit seine Utopie und Schönheit preiszugeben. Er entdeckte zugleich ästhetische Möglichkeiten der vom industriellen Kapitalismus entwickelten neuen Kommunikationsmedien und nutzte sie als Organe seiner künstlerisch-politischen Kommunikation, weil zugleich Erkenntnis. Dafür war Hegel blind'gewesen. Hegels Ästhetik war kontemplative Bildungsästhetik der Betrachtung vergangener Kunst und der Kunst als vergangen. Für Heine war Ästhetik Bewußtsein poetischer Praxis, programmatisch - und die poetische Praxis war selbst im sozialen Emanzipationsprozeß angesiedelt. Er fand gerade in dem Moment, das für Hegel als Widerspruch zwischen Kunst und gesellschaftlicher Realität das Ende 285

der Kunst bedingt, die Basis seiner Poesie: als poetischen Widerspruch gegen die reale geschichtliche Gesellschaftswirklichkeit. Widerspruch ist kein ruhendes, sondern ein energisches, zur Auflösung drängendes Verhältnis. Heine begnügte sich eben nicht mit dem, was da ist. Er setzte die Dialektik gerade dort in Bewegung, wo sie bei Hegel aufhört: sowohl in bezug auf den Gegenstand der Poesie, die Gegenwart, als auch in bezug auf die Poesie als geistige Aktion und Produktion, in bezug auf die im Lyrischen wie der Prosa aufgehobene „Prosa" der Wirklichkeit und die dadurch gewonnene poetische Sprechweise, schließlich in bezug auf den geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem und für den er dichtete. Er gewann und betätigte geschichtliche Dialektik in der Poesie. Doch was Heine von der Freiheit des Selbstbewußtseins durch Kunst allgemein entwickelt, realisiert und konkretisiert er methodisch: durch die Ironie. Sie ist wesentlich die Weise, die historische Relativierung von Subjekt und Objekt, Ich und Weltzustand über die Dialektik der Kontraste, Beziehungen, Desillusionierungen zu organisieren. Sie ist somit die Weise, im poetischen Akt die geistige Freiheit der Subjektivität als Bedingung selbständigen Urteils und möglicher Handlungen herzustellen, zu bewahren und zu erobern, ja kollektiv zu organisieren. Sie ist zugleich das Moment, in dem seine Subjektivität Freiheit gegenüber ihren eigenen Zuständen und Äußerungen gewinnt. Sie erweist sich als notwendige Verhaltensform in dieser Epoche des Übergangs. Diese Heinesche Ironie unterscheidet sich qualitativ von der romantischen Ironie, wie sein realistisches Konzept der Subjektivität vom romantischen Subjektivismus sich unterscheidet. Doch ist dies nicht mein Thema, auch nicht die Analyse der Selbstaussage, Letzter der Romantiker und Erster der Modernen zu sein. Was grenzt Heine von der Ästhetik Hegels ab? Worin unterscheidet sich sein praktisch-poetisches Verhalten von Hegels resignativer Prognose? Von der Subjektivität her - durch das Sicheinlassen auf die prosaische Bürgerwelt und ihre Kämpfe, durch Engagement, philosophisch-historische Reflektion, durch das Tribunat im menschheitlich konzipierten Emanzipationsprozeß auf seiner relativen Etappe als der Dichter, der den Epochenriß in sich trägt und als Organ der Gesellschaft diese zur Selbstdarstellung und Bewegung bringt - , von hier aus gewann Heine eine neue dynamische, das Kunstreich bloßer Kon286

templation sprengende Totalität, die in der Kollektivität und Kommunikation sich herstellt, als sozialer ästhetischer Erfahrungsprozeß. Gewiß: in den verschiedenen Phasen seiner und der geschichtlichpolitischen Entwicklung sah Heine auf unterschiedliche Weise das Verhältnis von Poesie und Politik, von Poesie und Prosa, Schönheit und den Möglichkeiten der sozialen Bewegung, die ihm sich darstellte. (Hier sei auf die Analyse Hans Kaufmanns hingewiesen.45) Er beharrte jedoch auf dem Konzept der poetischen Subjektivität in ihrer geschichtlichen Relativität und auf der Unversöhntheit gegenüber der Welt des Ancien régime wie der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft. Von ihm als Poeten gilt, was Hegel schrieb in seiner Ästhetik: „Denn der Mensch ist dies: den Widerspruch des Vielen nicht nur in sich zu tragen, sondern zu ertragen und darin sich gleich und treu zu bleiben." 46

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Zur ästhetischen Kultur des Vormärz

1 In der Geschichte des deutschen Volkes bilden die Jahre um 1830 eine Zäsur, die ihren Grund hat im einsetzenden Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die industrielle Revolution und der durch sie sich vollziehenden Herausbildung der Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft - der industriellen Bourgeoisie und des industriellen Proletariats. Dem widerspricht nicht, daß die neue Qualität zuerst verstreut, als Zusatz zum Vorhandenen in Erscheinung tritt, Jahreszahlen kein Fetisch sind und kein universeller Gleichschritt aller geschichtlichen Lebensbereiche behauptet wird. In dieser Vormärzzeit beginnt ein neues Sozialsystem sich herauszubilden, der Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat wirksam zu werden, dies jedoch, bevor die Bourgeoisie über die Feudalklasse gesiegt hat - als Tiefenprozeß einer Entwicklung, die mit den revolutionären Kämpfen im Gefolge der Julirevolution anhebt, die auch in der Reaktionsphase bis 1840 ökonomisch vorantreibt und in der zunehmenden Politisierung und Radikalisierung seit 1840 zu einer Akkumulation aller Widersprüche führt, die nur der Krise von 1847 und der Februarrevolution bedarf, um die revolutionäre Explosion zu zeitigen. Bei relativ konstanten politischen Machtverhältnissen verändern sich allmählich die gesellschaftliche Wirklichkeit, ihr Sozialgefüge und ihre Produktionspraxis. Der Blick auf den ökonomischen Fundamentalprozeß, auf den mit ihm anhebenden Systemwandel läßt auch das unerhörte Tempo der geistig-ideologischen Entwicklung zwischen 1830 und 1848 erkennen: Vor dem Sieg der bürgerlichen Verhältnisse in Deutschland entsteht das Kommunistische Manifest am Vorabend der dann scheiternden bürgerlich-demokratischen Revolution. Theoretischer Ausdruck des Proletariats als revolutionärer Klasse und wichtigster Produktivkraft der neuen Gesellschaft, stellt es in Ideologie und Gesellschaftswissenschaft eine Revolution dar, die ihrerseits die proletarische Revolution ideell antizipiert. 288

Hier geschah ein qualitativer Sprung in der geistigen Entwicklung, auch wenn er nur von einer winzigen Avantgarde vollzogen und begriffen wurde. Doch er charakterisiert die Spannweite der ideologischen Prozesse dieser knappen zwei Jahrzehnte. Stand am Anfang die Bourgeoisie dem Absolutismus gegenüber, war ihr Kompromißlertum Ausdruck von Schwäche und ökonomischer Abhängigkeit, so war sie am Ende unseres Abschnitts eine Klasse, die - obwohl der Druck der absolutistischen Klein- und Großstaaten nicht aufgehoben - das Proletariat hinter sich wußte. Mit der neuen Qualität entsteht ein neues ideologisches Systemgefüge, das zugleich alten Elementen neue Funktion und neuen Stellenwert verleiht, während die neue Widerspruchsstruktur diese wiederum inhaltlich verwandelt, auch wenn dieser Prozeß noch lange keinen Abschluß findet.

2 Die Entstehung des wissenschaftlichen Sozialismus verweist auf einen weiteren Zusammenhang. Entstand er auch im Traditionszusammenhang der philosophisch-theoretischen Verallgemeinerung deutscher Philosophie, so waren seine Erfahrungsbasis, seine theoretischen Quellen sowenig wie sein Gegenstand auf Deutschland beschränkt. Die beginnende Systemumwandlung in deutschen Landen war seine notwendige, aber keineswegs hinreichende Grundlage, seine ökonomische Basis ist die internationale schnelle Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung - vor allem Englands und Frankreichs, von wo aus erst die Prozesse in zurückgebliebenen Ländern wie Deutschland als Anfänge einer allgemeinen Entwicklung in ihrer Notwendigkeit und Perspektive erkennbar wurden. In dieser Epoche ist offenkundig die konkret-sinnliche Erfahrung fortgeschrittener Zustände der Industrie und des Klassenkampfes eine notwendige Bedingung, um in der gestauten Entwicklung Deutschlands das Perspektivische, in seiner lokalen Zurückgebliebenheit das Allgemeine zu erkennen und einen Weg aus den abstrakt-idealen Alternativen zu konkreteren, realen Alternativen zu finden. Erst vom englisch-französischen Auslande her ließ sich - mit der freieren Artikulationsmöglichkeit - eine allgemeinere, sachliche, von Ortsborniertheiten befreite Anschauung gewinnen. Erinnert sei an Engels' Erfahrung in Manchester, an Marx' Begegnung mit der kämpfenden französischen Arbeiterbewegung. Erinnert sei zugleich an Börne und Heine, an 19

Heise, R e a l i s t i k

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Freiligrath, Weerth und Weitling, an Büchner und Sealsfield. Im Prinzip ist diese Rolle internationaler Erfahrungen nicht neu - ob wir an die Aufklärungsbewegung, an die Revolutionsperiode denken, an die Besiegelung eines universalen gemeinsamen Unterdrückungssystems durch die Heilige Allianz, das wiederum Voraussetzung der weiteren Resonanz der Julirevolution in Europa war. Diese Wechselbeziehung gründet in dem mit Kapitalismus, internationalem Warenhandel und Arbeitsteilung entwickelten, die lokalen und nationalen Schranken durchbrechenden materiellen und ideellen Kommunikationszusammenhang. Neu daran ist in unserer Periode - auf der Grundlage seiner allgemeinen Intensivierung - , daß die internationale Erfahrung und Kommunikation die großen Klassenkämpfe zwischen Bourgeoisie und Proletariat transferierte von den französischen Arbeiteraufständen zu den Chartistenkämpfen bis hin zur Juni-Insurrektion, daß diese Kommunikation im Zeichen zunehmender Politisierung und Organisiertheit sich vollzog, daß diese intensive Wechselbeziehung zwischen Innen und Außen, vermittelt durch die Emigration, mit dem Erfahrungsschatz eine daraus erwachsende Konzeptionsbildung transportierte, wodurch Modelle der Verarbeitung und Interpretation der gesellschaftlichen Information in die einheimische Bewußtseinsbildung eingingen, daß offenkundig theoretische Erkenntnis und künstlerisch-realistische Aneignung der zeitgenössischen Realität in Deutschland in ihrer inneren Dialektik nur mittels eines solchen internationalen Horizonts zu gewinnen waren; daß dieser Bedingung für das Durchbrechen der ans nächste Milieu gebundenen Spontaneität und Unmittelbarkeit war und daß für die Bildung historisch-politischer und sozialer Konzeptionen, die dieser Realität gerecht wurden, eine nur literarische Ideenkommunikation nicht mehr ausreichte. Es ist eine erstrangige Aufgabe künftiger Kulturgeschichtsforschung, die konkrete Struktur und Vermittlung von lokaler, nationaler und internationaler Klassenerfahrung zu erhellen. Dadurch wäre ein Bild der klassenmäßig differenzierten, alltäglich praktizierten Synthese von direkter und indirekter Erfahrung - einschließlich ihrer ideologischen Interpretationsraster - zu gewinnen, somit von der Form, in der die je besondren sozialen Interessen ihrer selbst und damit ihrer „Allgemeinheit" bewußt wurden und sich artikulierten. Dieser Prozeß impliziert den Gebrauchszusammenhang der jeweils gedruckten, zeichenhaft fixierten, gesellschaftlich objektivierten geistigen Produk290

tion mit dem alltäglichen, im jeweiligen Lebensmilieu gewonnenen Bewußtsein. Zu den Besonderheiten dieser Epoche gehören zudem das - trotz aller Unterdrückungsmaßnahmen - zunehmende Tempo und die Ausweitung der Informationsbewegung - so ungleichmäßig dies auch geschah. Infolge der Akkumulation der gesellschaftlichen Widersprüche und ihrer Bewegung ist das geistige Leben durch tiefe Unruhe, gesteigerte Produktivität, Politisierung und in dieser durch Klärung und Differenzierung der politischen und weltanschaulichen Fronten gekennzeichnet. D a s zeigt sich an der Entwicklung und Herausbildung der verschiedenen Klassenlinien in ideologischer und strategischer Hinsicht: vom junkerlichen und bürokratischen Konservatismus über den bürgerlichen Liberalismus und Konstitutionalismus zur kleinbürgerlichen Demokratie. Mit der Ausbildung des bürgerlich-kapitalistischen Klassengegensatzes gehen die avanciertesten K ö p f e der revolutionären Demokratie auf die Positionen des Proletariats über. Trotz der lähmenden Reaktionsphase ist damit ein tiefgreifender Wechsel des geistigen Klimas verbunden, der sich zugleich in der Aktivierung und organisierten Propagierung der konservativen Staatsideologien auswirkte. Vermittelt und getragen wird diese ideelle Aktivierung durch die fortschreitende Kapitalisierung der literarisch-kulturellen Produktion, durch die schnelle Ausdehnung ihres Marktes, zunehmende Breite der Käufer- und Leserschichten, deren Bildungs- und Unterhaltungsbedürfnis wächst. D e m entspricht das häufigere Auftreten des „freien Schriftstellers" als spezialisierter Berufsgruppe.

3 Beispiel der ideologischen Wechselbeziehungen zwischen Ländern unterschiedlicher Entwicklungsphasen und auch Illustration der Unreife der Verhältnisse ist die Funktion des Utopischen Sozialismus. Seit Ende der zwanziger Jahre rezipiert, wird er zum Ferment unterschiedlicher Klassenideologien - vom Jungen Deutschland bis zum Wahren Sozialismus. Seine geschichtliche Grenze, die Unfähigkeit, die geschichtliche Selbsttätigkeit des Proletariats zu begreifen, wird zum positiven Anknüpfungspunkt bürgerlicher und kleinbürgerlicher illusionistischer Konzeptionen. - Worin liegt das Typische in der Gesamtheit der vorwärtsdrängenden emanzipatorischen geistigen Prozesse dieser Epoche, das Gemeinsame der weltanschaulich-philosophi19»

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sehen, sozialtheoretischen, künstlerischen Produktivitäten? D i e Haupttendenz dürfte die bewußte Zuwendung zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit als Objekt der Darstellung, Erkenntnis und Veränderung sein - bei gleichzeitiger wachsender Relevanz der empirischen, nichtspekulativen Naturwissenschaft in weltanschaulicher und allgemeinbildender Beziehung. In weltanschaulich-philosophischer Hinsicht rückt die Befreiung von Religion und Idealismus in den Mittelpunkt - und die positive Erkenntnis der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in ihrer Objektivität und Eigenbewegung; in sozialtheoretischer Hinsicht die Befreiung von den Illusionen der Apologetik des Ancien régime, seiner direkten und indirekten Apologetik, und in wachsendem Maße die Befreiung von den heroischen Aufstiegsillusionen der bürgerlichen Gesellschaft. Dies führte zur ernüchterten Erkenntnis der prosaischen Praxis des Kapitalismus, seiner Herrschaft und des ihm inhärenten Klassenantagonismus. Darin liegt zugleich ein Ansatz zum Begreifen der produktiven gesellschaftlichen Möglichkeiten der neuen entfesselten Produktivkräfte und der Widersprüchlichkeit ihres Wirkens unter den antagonistischen Bedingungen des Kapitalismus. Zu Beginn der dreißiger Jahre hatten die revolutionären Demokraten die „soziale Frage" als Zentralproblematik der neuen Epoche aufgegriffen und als Krieg zwischen arm und reich verstanden. In den vierziger Jahren wurde dieser G e gensatz allmählich in seiner energischen Dialektik als Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie begriffen. In den Künsten finden wir als analogen Prozeß die Tendenz der Befreiung von klassizistischen und romantischen Idealen der Kunstperiode, die Hinwendung zur Darstellung und Kritik der empirischgegenwärtigen Welt, zur sinnlich beobachteten Natur und zur alltäglichen empirischen sozialen Welt, bei Entwicklung von Formen der bildenden Kunst und Poesie, welche den öffentlichen Kommunikationsmedien entsprechen - von der politischen Karikatur bis hin zu Heines Prosa und zur politisch-operativen Lyrik. D i e Proletarier werden zum ersten Male Objekt künstlerischer Darstellung - vom Sentimentalismus des Mitleids führt hier der Weg zur Identifikation mit ihrem Kampfe, und sie selbst beginnen, sich poetisch zu äußern. Dies Ankommen der bürgerlichen Gesellschaft bei ihrem eigenen Inhalt, bevor dieser politisch und ökonomisch sich hatte voll entfalten können, während er schon die künftigen Klassenkämpfe mit der drohenden Perspektive einer Revolution sichtbar werden ließ, hatte zur Konsequenz, daß die bürgerliche Ideologie keineswegs mit der

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sieghaften Naivität der Aufklärung auftrat und auftreten konnte. Vielmehr durchlief sie schon in dieser ihrer Durchsetzungsphase eine Krise, welche ihre Emanzipationsideale erfaßte. In dieser Krise bereits wurden sowohl die Kompromißformen mit der Junkerkaste als auch die pseudosozialistische Sozialdemagogie entwickelt - letzteres von der Spontaneität der kleinbürgerlichen Bewegung her. Die ideologische Aktivierung betrifft zugleich die alten Kräfte, forciert deren im ganzen gesehen - gegenüber der Bourgeoisie viel zielstrebigere Organisierung. Das zeichnet sich sowohl in der „Historischen Schule" als Spezialideologie der preußischen Monarchie wie in den Wendungen der katholischen und evangelischen Kirche zu massenwirksamen Formen und der Verstärkung ihres Systems organisatorischer Bindungen ab. In der Philosophie vollzieht sich - am sichtbarsten an der Hegelschen Schule - eine Krise der bürgerlichen Emanzipationsphilosophie. Treibt sie einerseits von ihren Voraussetzungen her aus der Spekulation heraus, über die Auflösung der einzelnen Momente der Systembildungen hin zur Religionskritik und zum Materialismus Feuerbachs, so werden in diesem Prozeß zugleich alle wesentlichen Spielarten der spätbürgerlichen Philosophie prinzipiell disponiert: Das reicht von der Theologisierung bis zum pseudorevolutionären Subjektivismus, neben Feuerbach entwickelt sich die Selbstbeschränkung auf das wissenschaftlich Beobachtbare als den Positivismus antizipierender resignativer Empirismus. Die absolute Erkenntnisgrenze der bürgerlichen Philosophie ist in Feuerbachs Haltmachen vor der Ausdehnung des Materialismus auf die Betrachtung der Gesellschaft erreicht. Die Spannweite reicht also vom späten Schelling und Kiekegaard bis zum naturwissenschaftlichen Materialismus und Agnostizismus, während die Hochschulphilosophie in der Regel in eklektischen idealistischen Systemen ihre Wirklichkeitsentfremdung konservierte. In hektischem Durchprobieren wird der Umkreis des weltanschaulich innerhalb der bürgerlichen Ideologie Möglichen hinsichtlich der Grundpositionen abgeschritten, während die entscheidenden Leistungen der vorhergehenden Periode - so Hegels Dialektik - erst jenseits dieser Ideologie mit dem Materialismus weitergeführt und vereint werden konnten. Progressive Weltanschauungsformen der Aufklärungs- und Klassikperiode wie der Pantheismus gelangen an ihre äußersten Möglichkeiten und zerbrechen - wie am Denken Heines demonstrierbar. Die Desillusionierung der überkommenen Überzeugung eines Welt und Mensch umgreifenden Sinnes wird von Büchner am härtesten aus293

gesprochen. Das Geheimnis dieser geistigen Gesamtbewegung liegt in Marx' Wort von der Verwandlung der Kritik der Religion in die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, der Verwandlung der revolutionären Theorie in Praxis beschlossen. Die bürgerlich-kleinbürgerliche Kritik blieb jedoch an bestimmten ideologischen und gnoseologischen Grenzen stehen, wurde inkonsequent, schlug um in Fetischisierung sowohl der Grundlagen bürgerlicher Praxis wie der eigenen unkritisch hingenommenen Voraussetzungen - wozu auch die Form der Philosophie als selbständiger Spekulation gehört. Nicht zufällig ist, daß die epigonale Hochschulphilosophie zwar keinen neuen Gedanken, dafür den ersten Philosophenkongreß gebar. Heines These vom Ende der Kunstperiode wird gewiß der Leistung der Klassik nur bedingt gerecht, tiefer greift seine Einschätzung der Philosophie von Kant bis Hegel. Dennoch markiert es die geschichtliche Wende, mehr noch, das Bewußtsein dieser Wende zur Realistik, zu demokratischem Engagement und öffentlich politischer Wirkung. Das betrifft die programmatische Erkenntnis vom Primat des wirklichen Lebens gegenüber der Kunst - in Gegenstand und Funktion - , die Orientierung auf die zeitgenössische soziale Realität, deren Chronist, deren bewußter Akteur der Dichter sein soll und deren Zukunft in seinem Herzen keime. Das Bewußtsein eines Zeitwandels, des Anbrechens einer Epoche, der gegenüber das Ancien régime überlebende Vergangenheit sei, der gegenüber auch die heroischen Illusionen der bürgerlichen Revolution sich überlebt haben, gewinnt sein Zentrum im Bewußtwerden eines Neuen, das in der „sozialen Frage" sich abzeichnet. Analog sind Büchners programmatische Bemerkungen zu sehen, seine Kritik am Idealismus, seine Forderung der Naturtreue und seine Massenorientierung. Die revolutionären Momente faßt Marx wenig später zusammen in seinem Programm des literarischen Kampfes gegen die deutschen Zustände: diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. Auf die zahlreichen Kritiken an Goethe und Schiller, auf die Autoritätsstürmer seit den zwanziger Jahren soll hier nicht weiter eingegangen werden - zumal dies eine ausführliche Analyse unterschiedlicher Standpunkte verlangt sowie die nähere Untersuchung der liberalen Revolte und deren Verlaufen, Zurückfallen im Davonrennen usw. Dennoch ist die Wende unverkennbar, die Zäsur tief. Ergebnisse sind Heines poetische Prosa als Erkundung der geschicht-

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lichen Landschaft der Gegenwart und seine politische Satire, Büchners revolutionäre Dramatik, die historische Dokumentation, Satire und Expressivität verbindet und einen neuen Helden sichtbar werden läßt, die satirische und rhetorische Lyrik der vierziger Jahre, Weerths Satire, die Welle der Gegenwartsromane von Immermanns Epigonen (1836) zu Gutzkow bis hin zur direkten Thematisierung des Klassengegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Selbst bei mehr konservativ gestimmten resignativen Dichtern, die vor der kapitalistischen Entwicklung zurückschrecken, finden wir ein neues Realitätsklima im begrenzten Ausschnitt, eine neue Intensität sinnlicher Naturdarstellung in ihrer genau beobachteten Objektivität - so bei der Droste, dem frühen Stifter, bei Mörike. Künstlerisch am unergiebigsten ist der zwischen die Fronten des Klassenkampfes geratene Liberalismus, der nach dem Scheitern der Revolution zum „poetischen Realismus" und Nationalliberalismus wird. Zunächst ist dies Sich-Absetzen von der klassischen Periode, das zugleich intensive Romantikkritik einschließt, subjektiver Ausdruck des Sichbefreiens von der Autorität der klassischen Literatur, zum großen Teil spontan, sachlich kaum adäquat, dennoch Symptom und zum Teil Bewußtsein des gesellschaftlich erzeugten geschichtlichen Wandlungsprozesses, der mit dem Gegenstand - dem sozialen Lebensprozeß - das Bezugssystem, die Bedingungen und Formen künstlerischer Produktion verändert. Deutlicher mag dies werden, wenn wir einen Blick auf die philosophische Bestimmung des klassischen Kunstideals werfen: Hegel fixiert in seiner Ästhetik ein Ideal klassischer Kunst, das die klassizistische Norm philosophisch aussprach und Kunst als Form des absoluten Geistes im Gegensatz zur endlichen Wirklichkeit im allgemeinen, zur Prosa der bürgerlichen Gesellschaft im besondren setzte. Das universelle Abhängigkeitssystem sozialer Beziehungen verhindere die freie individuelle Totalität und zerreiße den Zusammenhang von Allgemeinem und Einzelnem. Ideale Kunst als geschlossene Werktotalität, als organisch vollendete Gestalt ist damit kritisch gegen die gesellschaftliche Praxis gesetzt, gewinnt zugleich die Ruhe des In-sich-Vollendeten, gegen diese Praxis Abgedichteten, wird Bild und Versprechen einer höheren Ordnung, einer von den Antagonismen der Zeit nur verdeckten und diese relativierenden höheren Harmonie als eigentlicher Wahrheit, die eben mit diesem Bestehenden letztlich versöhnt. Dies deckt sich gewiß nicht mit der künstlerischen Praxis Goethes, eher mit den Illusionen eines epigonalen Goetheanertums, und ver295

birgt uns die hier nicht zu untersuchenden kritischen und darüber hinausweisenden Momente der Hegeischen Ästhetik, ihre Dialektik und ihren Historismus. Dennoch macht der entwickelte Kunstbegriff die Front deutlicher. Ausgeschlossen ist von ihm Kunst im direkten politischen Handgemenge, die operativen Typs, die Kunst, die die Prosa der Gesellschaft zu bewältigen sucht, für die diese Gesellschaft nicht das letztlich Vernünftige, mit dem zu versöhnen sei, bedeutet; eine Kunst auch, für die das sinnvoll Ganze der Welt nicht letzte Voraussetzung ist, sondern in Frage steht, „ein Narr wartet auf Antwort", und für welche die Schönheit der griechischen Statuen die Normativität verliert und die Züge des Lebens, des Alltags, der Arbeit, der Kämpfe vermissen läßt . . . Kunst auch, die mehr Fragen stellt als Antworten gibt, die auf Dialog und genaue Beobachtung aus ist, subjektivistischer und wirklichkeitsnäher zugleich, ferne der Würde des absoluten Geistes, dafür politisch aktivierend. Die historische Basis für Hegels Konzept ist das Bürgertum vor der Entfaltung des offenen politischen Klassenkampfes in Deutschland, bevor es antritt, seine Öffentlichkeit als politische zu formieren. Und die höchste poetische Leistung dieser Periode dürfte Goethes philosophisch-poetische Dichtart gewesen sein, die im poetischen Gebilde, im Faust, den Epochenprozeß gestaltet, im Begriff des Symbolischen sich zusammenfaßt und - in der Konkretheit des poetischen Ganzen - das unmittelbar Politische dennoch nur indirekt berührt in einer historisch weit gefaßten Entwicklungs- und Emanzipationskonzeption. In unserem Zusammenhang kann weder die Heterogenität dieses Abstoßens noch die Kontinuität im Produktiven - mit den Eckpfeilern: der Beziehung Heines zu Goethe, Büchners zum Sturm und Drang und Marx' zu Hegel und Goethe - untersucht werden. Jedenfalls waren die großen weiterführenden Entwicklungslinien nicht ohne produktive Aneignung der poetischen wie philosophischen Klassik möglich, und hier soll auch nicht die Borniertheit der jungdeutschen Rebellion untersucht oder die „Entdeckung" Goethes als poetisierter Hegel oder als „Sozialist" behandelt werden. Diese Abgrenzung, so sehr sie vom epigonalen Kulte gekontert wurde, besitzt ihre eigene, zunächst bewußtlose Wahrheit, ist Ausdruck einer geschichtlichen Stunde, mit der in Deutschland eine neue Entwicklung einsetzte. Diese war Teil eines europäischen Prozesses, als mit der Julirevolution das absolutistische Regime in Frankreich weggefegt wurde, als mittels 296

der Parlamentsreform in England die industrielle Bourgeoisie direkt die staatliche Macht (wenn auch im Klassenkompromiß) ergriff. Das alte politische System Europas war zerbrochen, eine stürmische Entwicklung des Kapitalismus trieb die Umwälzung der gesellschaftlichen Zustände voran. Dabei konnte die kapitalistische Entwicklung in Deutschland an der Fortgeschrittenheit der anderen partizipieren, in technischer und organisatorischer Hinsicht auf höherer Stufe einsetzen und dadurch ein schnelles Tempo gewinnen. So begann - von den industriellen Zentren in den Rheinlanden, Sachsen, Berlin, Hamburg und anderen ausgehend - ein Systemwandel, der tief die Gesamtheit geistiger Produktions- und Kommunikationsbedingungen ergriff. Es ist mit das Bedeutendste in Hegels und Goethes Einsicht, diesen Prozeß von seinen ersten Ansätzen her in wesentlichen Aspekten erfaßt zu haben - zum Teil klarer als ihre nächsten Kritiker. Mit der industriellen Entwicklung forcierten sich die Industrie- und Großstadtentwicklung, Siedlungs- und Kommunikationsdichte; die Schläfrigkeit der Klein-, Ackerbürger- und Residenzstädte wird aufgestört, das Gefüge traditionell geregelten Verhaltens gerät in Krise. Meister Anton versteht die Welt nicht mehr. Die technisch-zivilisatorischen Aspekte des Alltagsmilieus gewinnen an Gewicht - erinnert sei an die schnelle Entwicklung der Eisenbahn. Für unseren Zusammenhang wäre die Konfrontation von Hegels Kunstideal mit dem seiner Kritiker weniger ergiebig als die Frage nach der möglichen Funktion im fortschreitenden Geschichtsprozeß. Zwischen seiner normativen harmonischen Schönheit und der sozialen Realität wird der Widerspruch extremisiert, Kunst zum Refugium resignativer Bildungsinnerlichkeit - oder ins Äußerliche gewendete apologetische Idealisierung in klassisch veredelter Form. 1842 wurde die von Klenze entworfene „Walhalla" fertig, edler griechischer Tempel nationaler Repräsentation in fremdem, von niemandem geglaubtem Kostüm, Vereinigung von Romantik und Klassizismus zu illusionärer steinerner Traumbeschwörung. Unsere mehr kulturhistorische Fragestellung zielt auf die Kunst in ihrer System- und Lebensfunktion und sucht, aus ihren Werken die Epochenphysiognomie als historisches Dokument menschlicher Wirklichkeit im Sagen wie im Verschweigen zu erfassen. Sie fragt danach, wer an ihnen warum seine Freude hatte und in welchem Verhältnis ihr Genuß zu anderen Genüssen stand - oder zu deren Fehlen und Versagtsein. Daher wollen wir keinen anderen Begriff „der" Kunst entwickeln, vielmehr Wege suchen, wie für diese Periode von 1830 297

bis 1848 von ihrer ästhetisch relevanten Produktion deren Physiognomie konkretisierbar, der Lebenshorizont ihrer Individuen entzifferbar wird. Zunächst ist dabei nach dem Wandel der Systembedingungen künstlerischer Produktion und Rezeption zu fragen, nach jenen Prozessen, in denen wir direkte und indirekte Konsequenzen der industriellen Umwälzung erkennen können und die - wiewohl hier am Anfang - in ihrer Konsequenz das Gesamtensemble der Künste in Struktur und Funktion umwandelten. Diese Periode ist die Geburtsstunde des „modernen" Lebens einschließlich seiner ästhetischen Aspekte. Sie ist Anfangsstadium, dessen Akteure in seinem uns gravitätisch-geruhsam erscheinenden Lebenstempo, das den Zeitgenossen den Atem benahm, eine Entwicklung einleiteten, deren Resultate und späte Folgen die kühnsten Visionen in technischer und sozialer Beziehung übertrafen. Die in diesem Prozeß sich herauskristallisierenden Leitideen dagegen bestimmen noch die ideologische Landschaft unserer Gegenwart. Gewiß haben wir heute den Vorteil, als rückwärtsgewandte Propheten das Folgenreiche vom Folgenlosen unterscheiden zu können, aber wir haben größte Mühe, trotz der Flut von Dokumenten, den konkreten Massenprozeß und die ihm inhärenten subjektiven Widerspiegelungsprozesse, somit das subjektive Erfahren der Epoche konkret zu fassen, hinter dem geronnenen Resultat den Prozeß einschließlich der in ihm untergegangenen unverwirklichten Möglichkeiten zur Erfahrung zu bringen und den fließenden Charakter eines Epochenbewußtseins zu bestimmen, in dem je Neues dem Althergebrachten, Gewohnheiten, Zur-Gewohnheit-Gewordenen, dem Selbstverständlichen konfrontiert wird, den Kontext dieses Bewußtseins zu entziffern oder uns auch nur hinreichend klar zu machen, welches uns heute selbstverständliche Wissen nicht vorhanden war, welche Konsequenzen dies in der alltäglich praktizierten Welt-Anschauung nach sich zog. 1844 war Hübners Bild Die schlesischen Weber eine Sensation, bewegte tief die Gemüter in Bejahung, Erschütterung - und empörender Ablehnung. Erinnert sei an Engels' Bericht. Wir können die Aufregung wohl historisch rekonstruieren - aber hier berührt uns nicht der Schmerzenslaut und die Empörung des schlesischen Weberliedes. Die Glätte der Inszenierung, der sentimental-anekdotische Gestus im Stile diese Genremalerei läßt erst der historischen Rekonstruktion und Wirkungsanalyse bewußt werden, daß da ein Tabu durchbrochen wurde, daß, wovon in guter Gesellschaft, der einzigen, die Bilder kaufte, geschwiegen werden mußte, hier anklagend zur Sprache ge298

bracht wurde, eher von Mitleid bewegt denn die Empörung von unten aussprechend, daß hier veröffentlicht wurde, was der guten Gesellschaft das gute Gewissen rauben sollte - und im Stile des „Wahren Sozialismus" auch raubte. Es ist dem Darstellungsstile abzulesen, daß er entwickelt wurde im Verschweigen der sozialen Antagonismen, im Zudecken jener Schmerzen, deren Abwesenheit als melancholisch-resignativer Hauch die biedermeierliche Gemütlichkeit so angstunterfüttert erscheinen läßt - von der /ingst vor der Obrigkeit abgesehen. Es ist die Zeit der Meisterschaft Daumiers. Auch Heine reagierte anders in seinem Weber-Lied, sein Ich verschwand im kollektiven Wir, aber er lebte in Frankreich. In den Wandel der sozialen und ideologischen Beziehungen ist das Gesamtgefüge der ästhetischen Beziehungen, Wrerte und Kategorien einbezogen, die tradiierten Wertungen werden fragwürdig, verkehren sich, gewinnen andren Stellenwert, verändern ihr Verhältnis zueinander; die ihnen entsprechenden Formen geraten - gegenüber der Prosa des Wirklichen und im Aufnehmen dieser Prosa - in Bewegung, in die Krise und zielen auf neue kommunikative Struktur. Die Historizität der Konflikte, das Einanderdurchdringen der geschichtlichen Widersprüche und das zwiespältige Verhältnis zur Wirklichkeit bringen das Tragische und das Komische in neue, innigere Beziehung, forcieren tragikomische und grotesk-satirische Formstrukturen. Daher auch die Tendenz zur unfreiwilligen Komik in reiner Tragödie und zur Banalität in reiner Komödie. Die Idealität harmonischer Schönheit, in welcher die Utopie der „schönen Revolution" ihr Resultat träumte, gerät in Konflikt mit der Prosa dieses Resultats und zerbricht vor der „häßlichen Revolution", der sozialen Revolution. Die alte Schönheit wird zur Vergoldung häßlicher Praxis. Neue Schönheit aber - in der Entdeckung der menschlichen Möglichkeiten befreiter Arbeit unter der Hülle ihrer Häßlichkeit, ihrer Entfremdung - ist nur als Traum, als das, was durch und im Kampf als Vorwegnahme aufscheint, sagbar - aber nicht sinnlich erfaßbar, wird gestaltbar nur in der Dialektik von Form und Inhalt in einem komplexen Beziehungssystem. Darin verbinden sich Protest, Negation der vorhandenen Wirklichkeit, Negation von Scheinschönheit als Lüge und Position im Aussprechen selbst, Schönheit als evozierte Intention. Dominant wird daher Flucht der Schönheit in Protest, in den Traum, in retrograde vorkapitalistische Zustände, in die Natur, in eine körperlich schöne menschliche Gestalt, in eine harmonische Totalität des jugendlich Schönen, dem in der Unberührtheit von Praxis, Arbeit, 299

Arbeitsteilung der Traum arkadischer Naivität oder die wehmütige Alternative dessen, was ist, anzusehen ist. Zugleich aber verstärkt sich die Tendenz zum Pseudoschönen als idyllisierendes Lebenssurrogat oder dekorative Monumentalität in historischen Formen. Poesie, die das Lied der Freiheit und schöneren Welt sang und singt, findet sich zunehmend in einer W e l t der häßlichen Praxis, der Ohnmacht gegenüber der Macht der Verhältnisse und gerät in die Krise ihres Maßstabs des Schönen, das einst Sehnsuchtsideal der freien Entfaltung dessen, was jetzt als sein Gegenteil erscheint. Dessen Vergangenheit ist unwiederholbar, dessen Zukunft nicht erfahrbar, und für die Gegenwart erscheint Schönheit als Illusion, als apologetische Ergänzung dessen, was sie negiert. Diese Krise begann gewiß früher, als unsere Zäsur fixiert, sie gewinnt jedoch in dieser Periode ihre Zuspitzung und formiert hier Grundkonturen, die die Künste im 19. und 20. Jahrhundert dann wesentlich bestimmen. D a die gescheiterte Revolution kein Problem löst, zugleich die kapitalistische Entwicklung nach der Revolution erst ihre Potenzen voll entfaltet, die industrielle Umwälzung erst Jahrzehnte später in ein höheres Stadium übergeht, trägt die Epoche um 1830 bis 1848 einen dominant antizipatorischen Übergangscharakter. Daher wir ihre Zukunft, die für uns Vergangenheit und auch Gegenwart ist, in statu nascendi studieren können.

4 Zum Abschluß will ich versuchen, einige Themenkomplexe zu benennen, deren Untersuchung ein konkreteres Bild des ästhetischen Widerspiegelungs- und Gestaltungsprozesses in ihrer Sozialfunktion und inneren Systematik gewinnen ließe. Freilich kann das Ergebnis nur aus der Kollektivität einzelwissenschaftlichen Erkennens erwachsen. D i e Themen betreffen einmal direkt die ästhetischen Prozesse somit das Ensemble der Künste und die ästhetischen Momente jenseits der spezialisierten Kunstbereiche, bis in die Alltäglichkeit hinein. Sie zielen zugleich auf die Physiognomie der Epoche, die in ihren spezifischen Erscheinungsweisen zu entziffern wäre. Sie zielen auf die Erscheinungsformen und Bildungsgesetzmäßigkeiten eines sozial differenzierten Epochenbewußtseins, das sich nicht nur in den theoretischen Konzeptionen artikuliert, sondern diese aus einem massenhaften Erfahrungsprozeß hervorgehen und wieder in ihn eingehen

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läßt und damit zugleich - direkt oder indirekt - die ästhetischen Manifestationen durchdringt und bedingt. l a ) Die Entdeckung des neuen Gegenstandes in den Künsten. Thematisierung von moderner Technik, Industrie, Produktionsprozeß, Großstadt, Klassenverhältnissen und Klassenkampf sowie der Veränderung der Lebensweise der verschiedenen Klassen in der kapitalistischen Gesellschaft. Unterschiedlicher Anteil und unterschiedliche Funktion der verschiedenen Künste und Genres in diesem Prozeß. l b ) Das thematische Gesamtsystem derjenigen Künste, die menschliches Verhalten darstellen - in der Vielfalt seiner Arten und Genres. Dessen Verhältnis zu herrschender Ideologie. Das System entsprechender Grundstereotype und ästhetischer Normen. Tendenzen, konventionelle Farmen neu zu funktionieren beziehungsweise mit neuem Gehalt zu verbinden beziehungsweise auf neue Wirklichkeit anzuwenden. l c ) Das Individuum in den Zeitverhältnissen im Spiegel seiner subjektiven Befindlichkeit, der Artikulation seines Wirklichkeitsverhältnisses unter dem Aspekt seiner Glücksvorstellungen und -erwartungen, der Reaktion auf den Wandel der Verhältnisse, Leistungsanforderungen und Handlungszwänge. Das Erfahren und Verarbeiten erlebter Formationskonfrontation. (Vom persönlichen Dokument, von vor- und halbkünstlerischer Artikulation zur künstlerischen Form.) Hierbei Differenzierung nach Klassen und Schichten, nach Graden der Reflexionsmöglichkeiten, der Artikulationsbedürfnisse und -fähigkeiten. l d ) Reflex des in der gesellschaftlichen Entwicklung praktizierten Wirklichkeitsverhaltens in künstlerischen Methoden und Darstellungsweisen (indirekter Ausdruck und Verallgemeinerung oder Antizipation eines neuen Weltverhaltens). 2a) Das System der sozialen und ideellen Kommunikationen und die Rolle der ästhetischen Formung und der Künste in den Kommunikationsprozessen (Systeme in vertikaler und horizontaler Beziehung, Institutionen, Medien). 2b) Entwicklung der Kommunikation zur Sphäre der Kapitalverwertung. Entwicklung des Informations-, Meinungs- und Kunstmarktes als einer ökonomischen Transmission und als Akteur der ideologischen Bewegung, 2c) Das System des sozialen Gebrauchs von Kunst (Repräsentation, Schmuck, Unterhaltung, Bildung etc.) in klassenmäßiger Differenziertheit, entsprechend den unterschiedlichen Künsten.

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2d) Industrialisierungstendenzen der Befriedigung eines ästhetischen Massenbedarfs. 3a) Konsequenzen der kapitalistischen Industrialisierung für städtebauliche Raumgestaltung. Strukturanalyse - Verhältnis von Industriebau und Wohnbereich der Arbeiter zum tradiierten Stadtbild. 3b) Formgestaltung des industriell Produzierten. Verhältnis von ästhetischer Form - Konstruktion - Material - Funktion. 3c) Die architektonische Formgebung und Fassadengestaltung im Verhältnis zum gesellschaftlichen und klassenmäßigen Inhalt, zu Zweck und technischer Konstruktion. D e r architektonische Historismus - differenziert nach staatlichen Repräsentations-, kirchlichen, privaten Wohn- und Nutzbauten - unter dem Aspekt des Verhältnisses von Produktivkräften - Produktionsverhältnissen - Ideologie in privater und öffentlicher Sphäre. 4. Die Analyse der Änderung der Lebensweise, der Bewegung des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit entsprechend den verschiedenen Gruppen der werktätigen Massen vorausgesetzt: 4a) die nachweisbaren Verhaltensstrukturen und -änderungen im Freizeitverhalten unter Beachtung der Tendenz zu seiner Liquidation durch Ausdehnung des Arbeitstages - Änderungen entsprechend unterschiedlicher Klassen- und lokaler Herkunft der Arbeiterklasse. 4b) Verhältnis der volkskünstlerischen Formen von Selbstbetätigung zum Industrialisierungsprozeß. 4c) Ansätze einer kapitalistischen Freizeit- und Unterhaltungsindustrie. Wirken und W a n d l u n g volkstheatralischer Tradition. 4d) Wandel in gesellschaftlichen Spielformen. Kontinuität und Veränderung in Gestalt, Inhalt und Funktion volkstümlicher und unter Massenbeteiligung begangener Feste - speziell der karnevalistischen Tradition. 5a) Ästhetische kulturelle Tendenzen der werdenden Klasse der Industriearbeiter - in spontaner Äußerung, Beschreibung und Artikulation in ihren Organisationen. 5b) Untersuchung, in welcher Weise die Stellung im Produktionsprozeß die ästhetische Bedürfnis- und Artikulationsstruktur beeinflußt im Unterschied zur handwerklichen Tätigkeit. 6a) Veränderung in Poesie und bildender Kunst durch neue Funktionen in den Medien, durch die Einbeziehung in demokratische K ä m p f e . Dialektik von Form und Funktion in der Entwicklung operativer Genres. Neufunktionierung des Rhetorischen, operative u n d informative Funktion der Formen bildender Kunst. 302

6b) Ästhetische Momente in publizistischer Prosa - als Momente der Aneignung von Wirklichkeit und der Erkenntnis- und Wertvermittlung (von Börne und Heine bis zum Kommunistischen Manifest). 6c) Die einsetzende kapitalistische Werbung als neues Moment der ästhetischen Kultur. 7. Zur Entwicklung der ästhetischen Theorie. Bei Beachtung der Sterilität der akademisch-philosophischen Ästhetik sind Reflexionen der Künstler, Wissenschaftler usw. zu analysieren. 7a) Auflösung des Begriffs einer Kunst als „zweiter Welt", Bewußterwerden ihrer kommunikativen Struktur mit entsprechender Relativierung ihrer „Vollendung" - Funktionswandel der Ideale der Kunstperiode vom „weltlichen Evangelium" zur Erbauung und „Erhebung". 7b) Krise des Schönheitsbegriffs und -ideáis. Widerspruch zwischen Schönheitsideal als demokratischem Leitbild und der Prosa kapitalistischer Wirklichkeit. Doppelter Widerspruch zwischen „alter" und „neuer" Schönheit und beider zur Prosa. Die Suche nach dem anschaulichen und darstellbar Schönen im Wirklichen und ihre Problematik. 7c) Dialektik von Zustand und Perspektive, Ideal und Wirklichkeit in der ästhetischen Reflexion. Entwicklung von ästhetischen Kategorien des Widerspruchs, des Negativen und deren wachsende Bedeutung. 7d) Ästhetische Reflexion der neuen Produktivkräfte, Materialien, technischen Möglichkeiten in bezug auf deren ästhetische Möglichkeiten beziehungsweise deren Nichtbegreifen und NichtbegreifenKönnen. 7e) Reflexion ästhetischer Qualitäten und Effekte der spezifisch auf Massenwirkung hin fungierenden Gattungen und Genres wie Druckgrafik, Pressegrafik, Fotografie, Politische Lyrik, Lied, Volkstheater; Alltagssprache und Dialekt in der Poesie. 7f) Ambivalenz von ästhetischem Konservatismus und Modernismus, zwischen Abkehr von Gegenwart und kapitalistischer, regulierter Öffentlichkeit. Krise des Menschenbildes, der Werte und Herausbildung einer proletarisch-revolutionären Konzeption. 8. Untersuchung des zeitgenössischen Materials unter dem Aspekt, ob und in welchem Maße durch die genannten Änderungen in der Produktionsweise und in dem Verkehr in dieser Periode Änderungen in der subjektiven Aufnahme, Selektion und Verarbeitung von Information nachweisbar sind, ob und in welchem Maße künstlerische Sen303

sitivität hier vorprägend wirkt oder blind ist, aus welchem spezifischen arbeitsteiligen Tätigkeitsbereichen entstandene spezialisierte Perzeptionsweisen modellgebend wirken. So einleuchtend die allgemeine Einsicht ist, daß in der gesellschaftlichen Praxis und Produktion die Subjekte sich ändern, so schwer ist sie empirisch nachzuweisen, wenn es sich nicht nur um allgemeinste ideelle Inhalte, Anschauungen usw. handelt. Diese Themen betreffen verschiedene Seiten eines Zusammenhangs und setzen die allgemeine marxistische Analyse der Epoche voraus, zielen auf den spezifischen kulturell-ästhetischen Aspekt, nicht allein auf das Erbe großer Werke, sondern auf Veränderungen der massenhaften Individuen, ohne die wir heute nicht wären. Eine solche, von verschiedenen Seiten unternommene kollektive Untersuchung könnte einen gewissen Modellcharakter tragen, der zum Verständnis gegenwärtiger Kulturprozesse beiträgt.

304

Anmerkungen Zum Zwecke dieser Publikation wurden die Aufsätze vom Verfasser überarbeitet.

Abkürzungen BA

Goethe: Poetische Werke. Bd. 1-16. Berlin-Weimar 1960-1968 ( = Berliner Ausgabe). Heines Werke Heinrich Heine: Werke und Briefe. Hg. v. Hans Kaufmann. Bd. 1 - 1 0 . Berlin 1961-1964. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden. Hg. JA v. Eduard von der Hellen. Bd. 1-40. Stuttgart-Berlin 1902-1907. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 (u. 2 Erg.Bde., MEW 2 Verz.Bde.) Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956-1971. Novalis Novalis: Schriften. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Bd. 1 - 3 . 2. Aufl. Stuttgart 1960-1968. Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von WA Sachsen. Bd. 1-133. Weimar 1887-1919 ( = Weimarer Ausgabe).

,Der Tag ist angebrochen Veröffentlicht in: Sinn und Form Heft 2/1980.

Zur Antikerezeption

in der klassischen deutschen

Literatur

Diskussionsbeitrag auf der Arbeitskonferenz „Das klassische Altertum in der sozialistischen Kultur" an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 23. bis 25. Januar 1969. Veröffentlicht in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Jena Heft 4/1969. 1 2 3 4

Friedrich Schlegel: Kritische Schriften. Hg. v. W. Rasch. München o. J., S. 42. Goethes Gespräche. Berlin 1955, S. 224. Winckelmann und sein Jahrhundert. In: BA, Bd. 19, S. 482/83. Schillers Werke - Nationalausgabe. 20. Bd.: Philosophische Schriften. Hg. v. Benno v. Wiese(u.Mitwirkungv. HelmutKoopmann).Weimar 1962,S. 105. 5 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften. Hg. v. Albert Leitzmann. 1. Abt. Bd. 1. Berlin 1903, S. 261 f.

20

Heise, Realistik

305

6 Ebenda. 7 Georg Forster: Werke. Bd. 7 : Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Bearb. v. Gerhard Steiner. Berlin 1963, S. 15 f. 8 Ebenda. 9 Ebenda. 10 BA, Bd. 17, S. 201. 11 Ebenda, Bd. 19, S. 53. 12 Jakob Michael Reinhold Lenz: Gesammelte Schriften. Hg. v. F. Blei. Bd. 4. München-Leipzig 1910, S. 223. Vgl. Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Berlin (West)-Frankfurt am Main 1958.

„Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer" Beitrag auf der Lessing-Konferenz der Martin-Luther-Universität, tenberg, 15. bis 18. Mai 1979. Veröffentlicht in: Weimarer

Beiträge

Halle-WitHeft 11/

1979. 1 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. v. Paul Rilla. Berlin 1 9 5 4 - 1 9 5 8 . Bd 8, S. 279. 2 Heinrich Schneider: Lessing. Zwölf biographische Studien. Berlin 1950. 3 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. v. Paul Rilla. Berlin 1 9 5 4 - 1 9 5 8 . Bd. 8, S. 579. 4 Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen (Brief von Friedrich Heinrich Jacobi an Elise Reimarus v. 1 5 . 3 . 1 7 8 1 ) . München 1971, S. 519. 5 Eugen Lennhoff/Oskar Posner: Internationales Freimaurerlexikori. ZürichLeipzig-Wien 1932, S. 919. 6 Ferdinand Runkel: Geschichte der Freimaurerei in Deutschland. Bd. 2. Berlin 1932, S. 164. Vgl. insgesamt: Bibliographie in Ernst und Falk. Hg. u. mit einem Nachwort v. Ion Contiades, Frankfurt/M. 1968; vgl. auch Erhard Bahr: Lessing: Ein konservativer Revolutionär?. In: Lessing in heutiger Sicht. Internationale Lessing-Konferenz in Cincinnati/Ohio 1976. Bremen-Wolf enbüttel 1977. 7 Adam Weishaupt: Nachtrag zur Rechtfertigung meiner Absichten. Frankfurt-Leipzig 1787, zit. nach: Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Stuttgart-Bad Cannstadt 1975, S. 113. 8 Vgl. Paul Müller: Untersuchungen zum Problem der Freimaurerei bei Lessing, Herder und Fichte. Phil.-Diss. Bern 1 9 6 5 ; Klaus Werner: Die französische und deutsche Freimaurerei und ihr Verhältnis zur Aufklärung. Phil.Diss. Berlin 1966. 9 Jacques d'Hondt: Verborgene Quellen des Hegeischen Denkens. Berlin 1972.

306

10 Jacques Grandjonc: Vorwärts 1844. Marx und die deutschen Kommunisten in Paris. 2. Aufl. Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 68 ff. 11 In: Vorwärts, Nr. 103 v. 25. Dezember 1844. 12 Moses Hess: Philosophische und sozialistische Schriften 1837-50. Berlin 1961, S. 153. 13 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hg. v. Paul Rilla. Berlin 1954-1958. Bd. 7, S. 186. 14 Ebenda, Bd. 8, S. 253. 15 Ebenda, Bd. 7, S. 323. 16 Ebenda, Bd. 8, S. 556. 17 Ebenda, Bd. 9, S. 408. 18 Ebenda, Bd. 8, S. 608. 19 Ebenda, S. 560. 20 Ebenda. 21 Ebenda, S. 556. 22 Ebenda, S. 561. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 581. 25 Ebenda, S. 481. 26 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan (Carl Redlich und Reinhold Steig). 33 Bde. (in 25 Bdn.). Berlin 1877-1913. Bd. 23, S. 414.

Herders

Humanitätskonzept

Diskussionsbeitrag auf dem Herder-Kolloquium in Weimar, 18. bis 20. Dezember 1978. Veröffentlicht in: Weimarer Beiträge Heft 5/1979. 1 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan (Carl Redlich und Reinhold Steig). 33 Bde. (in 25 Bdn.). Berlin 1877-1913 (Zitate werden im Text mit Band und Seitenangabe nachgewiesen). 2 Aus einem Gespräch Herders mit Böttiger am 8. 1. 1797. In: Literarische Zustände und Zeitgenossen. In Schilderungen aus Karl August Böttiger's handschriftlichem Nachlasse. Hg. v. K. W. Böttiger. Bd. 1. Leipzig 1828, S. 201. 3 Georg Forster: Brief an Huber vom 11. 11. 1793. In: Forster: Werke. Hg. v. Gerhard Steiner. Bd. 4. Leipzig o. J. 4 Johann Gottfried Herder: Briefe. Bearb. v. W. Dobbek u. A. Arnold. Bd. 1. Weimar 1977, S. 98. 5 Ebenda, Bd. 2, S. 67. 6 Denis Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst. In: Ästhetische Schriften I. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1967, S. 311. 7 MEW, Bd. 21, S. 287. 20*

307

Zehn Paraphrasen zu „Wandrers

Nachtlied"

Veröffentlicht in: Wolfgang Heise/Jürgen Kuczinsky: Bild und Begriff. Berlin 1974. 1 Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur. Berlin (West-) Frankfurt am Main 1958, S. 8 0 - 8 3 . 2 Theodor W . Adorno: Ästhetische Theorie. I n : Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt am Main 1970, S. 4 9 8 , 4 1 9 . 3 Umberto E c o : Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1973, S. 46. 4 Theodor W . Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt am Main 1970, S. 194, 197, 132. 5 Ebenda, S. 148. 6 Ebenda, S. 198. 7 Ebenda, S. 135, 136, 137. 8 Ebenda, S. 425. 9 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966, S. 357. 10 Ebenda, S. 16. 11 Ebenda, S. 146, 16, 153 f., 27. 12 Ebenda, S. 396, 394, 389. 13 Theodor W . Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt am Main 1970, S. 199 f. 14 Ebenda, S. 370, 379, 131, 55. 15 Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. 1 9 4 2 - 1 9 5 5 . Frankfurt am Main 1973, S. 6 3 7 . 16 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Frankfurt am Main 1970, S. 4 8 7 . 17 Ebenda, S. 204, 205, 1 9 8 - 2 0 0 . 18 Ebenda, S. 69. 19 Ebenda, S. 71, 133, 209. 20 Ebenda, S. 345, 336, 344, 345. 21 Ebenda, S. 335, 341. 22 Werner Krauss: Essays zur französischen Literatur. Berlin-Weimar

1968,

S. 12. 2 3 Umberto E c o : Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1973, S. 2 9 f. 24 Oskar Loerke: Das alte Wagnis des Gedichts. I n : Oskar Loerke: Essays über Lyrik. Frankfurt am Main 1965, S. 70 f. 25 Johannes R . Becher: Poetische Konfession. Berlin 1954, S. 4 1 - 4 3 . 26 Johann Wolfgang Goethe: Grenzen der Menschheit. I n : BA, Bd. 1, S. 330 f. 27 Ina Seidel: Gedichte. München 1941, S. 19. 28 Goethe an Charlotte von Stein (6. September 1780) I n : W A , Abt. I V , Bd. 4, S. 281 f. 29 Goethe an Johann Kaspar Lavater (6. März 1776). I n : Ebenda, Bd. 3, S. 37. 30 Goethe an Johann Kaspar Lavater (6. März 1780). I n : Ebenda, Bd. 4, 5. 192.

308

31 Goethe an Charlotte von Stein (30. Juni 1780). In: Ebenda, S. 145. 32 Goethe an Friedrich Müller (12. Juni 1780). In: Ebenda, S. 234. 33 Goethe an Johann Kaspar Lavater (etwa 20. September 1780). I n : Ebenda, S. 299. 34 Goethe an Carl Ludwig von Knebel (17. April 1782). In: Ebenda, Bd. 5, S. 311 f. 35 Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: BA, Bd. 13, S. 560 f. 36 Johann Wolfgang Goethe: Zum Schäkespears Tag. In: Ebenda, Bd. 17, S. 185-188. 37 Johann Wolfgang Goethe: Der Wandrer. In: Ebenda, Bd. 1, S. 395 f. 38 Johann Wolfgang Goethe: Faust I. In: Ebenda, Bd. 8, S. 257. 39 Johann Wolfgang Goethe: Wandrers Sturmlied. I n : Ebenda, Bd. 1, S. 321. 40 Johann Wolfgang Goethe: An Schwager Kronos. In: Ebenda, S. 319 f. Die erste Fassung ist zu finden in: Ebenda, Bd. 2, S. 581 f. 41 Johann Wolfgang Goethe: Beiträge zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten. In: JA, Bd. 33, S. 20. 42 Johann Wolfgang Goethe: Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung. In: BA, Bd. 19, S. 2 3 - 2 5 . 43 Ebenda, S. 26. 44 Johann Wolfgang Goethe: Charakteristik der vornehmsten europäischen Nationen. In: Ebenda, Bd. 17, S. 244-246. 45 Johann Wolfgang Goethe: Willkomm und Abschied. In: Ebenda, Bd. 1, S. 48. 46 Johann Wolfgang Goethe: Auf dem See. In: Ebenda, S. 55. 47 Johann Wolfgang Goethe: Faust II. I n : Ebenda, Bd. 8, S. 301-303. 48 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Hg. v. Georg Lasson. Leipzig 1928, S. 29 f. 49 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. In: BA, Bd. 13, S. 779-789 u. ebenda, Bd. 1, S. 791 f. 50 Johann Wolfgang Goethe: Varianten. In: Ebenda, Bd. 2, S. 568. 51 Johann Wolfgang Goethe: Über Goethes „Harzreise im Winter". In: Ebenda, Bd. 17, S. 595 f. 52 Goethe an Johanna Fahimer (März 1775). In: WA, Abt. IV, Bd. 2, S. 244.

Zur Krise des

Klassizismus

Dieser Beitrag erschien in dem Sammelwerk: Hellenische Poleis. Krise - Wandlung - Wirkung. Hg. v. Elisabeth Charlotte Welskopf. Bd. 3. Berlin 1974. Die Ausführungen über die griechische Poleis stützen sich auf die in diesen Sammelbänden publizierten Untersuchungen. 1 Vgl. Wilhelm Emmrich: Die Symbolik von Faust II. 2. Aufl. Frankfurt am Main-Bonn 1964.

309

2 Joachim Heinrich C a m p e : Briefe aus Paris. Während der Französischen Revolution geschrieben. H g . v. Helmut König. Berlin 1961, S. 113. 3 E b e n d a , S. 115. 4 E b e n d a , S. 146. 5 E b e n d a , S. 208/9. 6 M E W , B d . 2, S. 128 f. 7 E b e n d a , B d . 8, S. 115 f. 8 K a r l M a r x : Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 156. 9 Johann Gottfried H e r d e r : Briefe zur Beförderung der Humanität. H g . v. Heinz Stolpe u. a. B d . 2. Berlin 1971, S. 76. 10 Zit. nach Lessing: Briefe. H g . v. Julius Petersen. Leipzig 1950, S. 140 f. (Brief vom 1 6 . 1 2 . 1770 an Ramler). 11 Johann Gottfried H e r d e r : Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. v. Heinz Stolpe u. a. B d . 2. Berlin 1971, S. 345 f. 12 Johann Gottfried H e r d e r : Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan (Carl Redlich und Reinhold Steig). 33 Bde. (in 25 Bdn.). Berlin 1 8 7 7 - 1 9 1 3 . Bd. 8, S. 48. 13 Johann Gottfried H e r d e r : Briefe zur Beförderung der Humanität. Hg. v. Heinz Stolpe u. a. B d . 1, S. 322. 14 E b e n d a , S. 360, 362, 119. 15 Johann Gottfried H e r d e r : Sämtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan (Carl Redlich und Reinhold Steig). 33 Bde. (in 25 Bdn.) Berlin 1 8 7 7 - 1 9 1 3 . Bd. 23, S. 8. 16 Hegels

theologische

Jugendschriften. Hg.

v. H . Nohl. Tübingen

1907,

S. 221 f. 17 E b e n d a , S. 277, 223, 224, 225, 227, 225. 18 Briefe von und an Hegel. H g . v. Johannes Hoffmeister. Berlin 1970, S. 24 (Hegel an Schelling v. 1 6 . 4 . 1795). 19 Georg Wilhelm Friedrich H e g e l : Politische Schriften. Hg. v. G e r d Irrlitz. Berlin 1970, S. 5. 20 Georg Wilhelm Friedrich H e g e l : Jenenser Realphilosophie. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Leipzig 1931, S. 246. 21 Georg Wilhelm Friedrich H e g e l : Philosophie der Weltgeschichte. H g v. Georg Lasson. Bd. 3. Leipzig 1930, S. 640. 22 G e o r g Wilhelm Friedrich H e g e l : Vorlesungen

über die Geschichte

der

Philosophie. Hg. v. G e r d Irrlitz. Bd. 1. Leipzig 1971, S. 140. 23 Georg Wilhelm Friedrich H e g e l : Philosophie der Weltgeschichte. Hg. v. Georg Lasson. B d . 3, Leipzig 1930, S. 602. 24 E b e n d a , S. 603. 25 E b e n d a , S. 601, 602, 608, 610, 611. 26 E b e n d a , S. 611. 27 E b e n d a , Bd. 1, S. 39. 28 E b e n d a , B d . 3, S. 604.

310

29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

Ebenda, S. 634. Ebenda, S. 638, 639. Ebenda, S. 656, 661, 662, 647. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hg. v. Gerd Irrlitz. Bd. 1. Leipzig 1971, S. 267 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Hg v. Georg Lasson. Bd. 3. Leipzig 1930, S. 570, 571, 602, 575 f., 572. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1955, S. 418, 426, 428, 427, 655, 664, 720, 724. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Nürnberger Schriften. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Leipzig 1938, S. 309. Carl Gustav Jochmann: Die Rückschritte der Poesie und andere Schriften. Hg. v. W. Kraft. Frankfurt am Main 1967, S. 191. Carl Gustav Jochmanns Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren gesammelt von H. Zschokke. Bd. 1. Hechingen 1836, S. 286, 287, 291, 288. Ebenda. Ebenda, S. 290. Ebenda, S. 291. Ebenda, Bd. 2, Hechingen 1837, S. 79. Ebenda, S. 78. Ebenda, S. 93. Carl Gustav Jochmann: Die Rückschritte der Poesie und andere Schriften. Hg. v. W. Kraft. Frankfurt am Main 1967, S. 174, 175, 177. Ebenda, S. 178. MEW, Bd. 8, S. 117.

Weltanschauliche

Aspekte

der

Frühromantik

Referat zur Romantik-Konferenz in Frankfurt/Oder, 19. bis 20 Oktober 1977. Veröffentlicht in: Weimarer Beiträge Heft 4/1978. 1 Novalis, Bd. 3, S. 434. 2 Ebenda, Bd. 2, S. 418. 3 Zit. nach: Athenaeum. Berlin 1798 f., Photomechanischer Nachdruck Berlin 1960. Bd. 3 (Berlin 1800), S. 6 (Ideen 14). 4 Novalis, Bd. 3, S. 263. 5 Schlegel im Brief an Novalis vom 2. Dezember 1798. In: Ebenda, Bd. 4, S. 509. 6 Athenaeum. Berlin 1798 f., photomechanischer Nachdruck Berlin 1960, Bd. 3 (Berlin 1800), S. 24-25 (Ideen 117). 7 Novalis, Bd. 2, S. 157. 8 Ebenda, Bd. 1, S. 198-199. 9 Ebenda, S. 360. 311

10 Ebenda, S. 364-365. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Politische Schriften. Hg. v. Gerd Irrlitz. Berlin 1970, S. 3. 12 Ebenda, S. 67. 13 Ebenda, S. 117. 14 Ebenda, S. 117-118. 15 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Werke und Briefe. Hg. v. Friedrich v. d. Leyen. Bd. 1. Jena 1910, S. 161. 16 Ebenda, S. 198. 17 Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus. 10. Brief. In: Friedrich Wilhelm Joseph v. Schelling: Frühschriften. Hg. v. Helmut Seidel u. Lothar Kleine. Berlin 1971, S. 154-155. 18 Zit. nach: Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk, mit den Fortsetzungen Johann Gottlieb Herders und Friedrich Schlegels. Hg. v. Ion Contriades. Frankfurt/M. 1968, S. 87-88. 19 Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. Hg. v. Josef Körner. Bd. 2. Brünn-Wien-Leipzig 1936, S. 67-68 (Brief v. 19. August 1809). 20 Novalis, Bd. 3, S. 515. 21. Ebenda, S. 522-523. 22 Europa. Frankfurt 1803, 1/1, S. 8 f. 23 Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. Hg. v. Josef Körner. Bd. 2. Brünn-Wien-Leipzig 1936, S. 24. (Brief an August Wilhelm Schlegel v. 29. 3. 1809). 24 Ebenda, Bd. 1, S. 56 (Brief an August Wilhelm Schlegel v. 18. Dezember 1803). 25 Ebenda. 26 Wilhelm Heinrich Wackenroder: Werke und Briefe. Hg. v. Friedrich v. d. Leyen. Bd. 1. Jena 1910, S. 156. (Nachfolgend werden Zitate im Text nach dieser Ausgabe mit Band- und Seitenzahl angegeben.)

Heine und

Hegel

Referat zur Heine-Konferenz in Weimar, Dezember 1972. Veröffentlicht in Weimarer Beiträge Helft 5/1973. 1 Heines Werke, Bd. 6, S. 133, 138, 139. 2 Ebenda, S. 140. 3 Briefe von und an Hegel. Hg. v. Johannes Hoffmeister. Bd. 3. Berlin 1970, S. 323. 4 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Politische Schriften. Berlin 1970 (Einleitung von Gerd Irrlitz).

312

5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

MEW, Bd. 7, S. 15. Heines Werke, Bd. 3, S. 362. Ebenda, S. 506. Ebenda, Bd. 8, S. 54, 63, 66. Ebenda, Bd. 1, S. 211. Ebenda, Bd. 5, S. 469. Ebenda, Bd. 3, S. 362, 410, 411, 410. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1955, S. 557-558. Heines Werke, Bd. 5, S. 75, 94 f., 300. Ebenda, Bd. 7, S. 127, 130. Ebenda, Bd. 1, S. 319. Ebenda, Bd. 6, S. 433. Ebenda, Bd. 7, S. 307. MEW, Bd. 21, S. 265. Heines Werke, Bd. 7, S. 306-307. Ebenda, Bd. 5, S. 219. Die Lehre Saint-Simons. Eingel. u. hg. v. G. Salomon-Delatour Neuwied 1962, S. 47 f. Ebenda, S. 139. Ebenda, S. 139. Ebenda, S. 542, 541 f., 216, 543, 186, 571, 573, 570. Ebenda, S. 418, 899, 898 f., 1105. Heines Werke, Bd. 7, S. 408. Ebenda, Bd. 6, S. 268. Ebenda, S. 415 f., 418, 419, 420. Ebenda, S. 432, 441. Ebenda, Bd. 4, S. 247. Ebenda, Bd. 5, S. 48, 70, 125, 126. Ebenda, Bd. 4, S. 314. Ebenda, S. 344. Ebenda, S. 343, 344. Ebenda, Bd. 5, S. 215. Ebenda, Bd. 4, S. 343. Ebenda, Bd. 5, S. 23. Ebenda, Bd. 2, S. 286, 285. Ebenda, Bd. 6, S. 213. Ebenda, Bd. 1, S. 128. Ebenda, Bd. 2, S. 122. Ebenda, S 120 f. Ebenda, Bd. 2, S. 161. Ebenda, Bd. 6, S. 466.

313

45 Vgl. Haas Kaufmann: Heinrich Heine. Geistige Entwicklung und künstlerisches Werk. Berlin 1967. 46 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1955, S. 255.

TUT ästhetischen

Kultur

des

Veröffentlicht in: Weimarer Beiträge Heft 6/1977.

314

Vormärz

Personenregister

Caravaggio, Michelangelo da 186 Corneille, Pierre 279 Cues, Nicolaus von (Cusanus) 85

Adorno, Theodor W. 109-132 133 bis 134 139 164 Alkidamas 192 Antiphon 192 Archimedes 188 Aristarch von Samos 188 Aristoteles 188 193 211 223 Aischylos 201 Babeuf, François-Noël 194 275 Bacon, Francis 82 Bach, Johann Sebastian 135 Bauer, Bruno 184 Baudelaire, Charles 122 Bazard, Saint Amand 268 Becher, Johannes R. 132-138 Beckett, Samuel 122 Beethoven, Ludwig van 131 Benjamin, Waltet 218 Bernhard von Weimar, Herzog 143 Börne, Ludwig 289 303 Brecht, Bertolt 125 130 Brentano, Clemens 243 253 Brion, Friederike 144 Bruno, Giordano 85 266 Brutus, Marcus Iunius 45-46 Büchner, Georg 31 224 290 293 294 295

Dalberg, Karl Theodor 83 84 Dante Alighieri 116 281 Danton, Georges Jacques 185 Daumier, Honoré 299 David, Jacques Louis 280 Demokrit 188 Descartes, René 96 Desmoulins, Camille 185 Diderot, Denis 26 90 Dobbek, Wilhelm 85 Droste-Hiilshoff, Annette 295 Dumouriez, Charles François 234 Eckermann, Johann Peter 41 Eco, Umberto 111-112 113 134 bis 135 Einsiedel, August von 76 Enfantin, Barthélémy Prosper 268 Engels, Friedrich 11 20 32 48 52 55 105 123 218 224 255 263 bi: 264 289 298 Euripides 201

Buonarroti, Michelangelo 115 275 281 Byron, George Gordon Noë 179

Fahlmer, Johanna 176 Feuerbach, Ludwig 31 103 105 107 152 293

Cabet, Etienne 275 Campe, Johann Heinrich

Fichte, Johannn Gottlieb 20 58 102 128 227 228 229 236 238 239 250-251 266

182-183

315

Forster, Georg 44 45 76 103 204 218 Freiligrath, Ferdinand 290 Gentz, Friedrich von 234 Goethe, Johann Wolfgang 20 22 24 27 28 29 3 0 - 3 1 35 41 42 43 45 46 53 54 74 76 103 109-176 178 181 204 218 223-224 228 232 240 257 266 267 272 279 294 295 bis 297 Goeze, Johann Melchior 61 Görres, Joseph von 234 Goya, Francisco José de 272 Grandjonc, Jacques 58 Grimm, Jakob 103 Grisi, Carlotta 276 Gutzkow, Karl 295

Iffland, August Wilhelm 12 Immermann, Karl 295 Ingres, Jean Auguste Dominique Iselin, Isaac 103

281

Jacobi, Friedrich Heinrich 56 Jean Paul 30 Jochmann, Carl 104 218-226 Kant, Immanuel 20 66 70 78 82 85 92 102 205 233 239 250 294 Kaufmann, Hans 287 Kierkegaard, Saren Aabye 118 293 Kleist, Heinrich von 30 Klenze, Leo von 297 Knebel, Karl Ludwig von 76 143 Knigge, Adolph Freiherr von 58 Kraft, Werner 218

Hamann, Johann Georg 82 Händel, Georg Friedrich 135 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 21 29 34 41 43 53 58 70 8 0 - 8 1 92 102 103-106 118 120 163 204 bis 218 219 228 232 239 254-287 293 294 295-297 Heine, Heinrich 31 58 130 159 253 254-287 289 293 294 296 299 303 Helvetius, Claude-Adrien 76 90 Herder, Johann Gottfried 27 37 40 41 58 70 71-108 157 199 200 bis 204 218 241 256 266 Hess, Moses 58 59 Hoffmann, E.[nrst], T. [heodor] A. [madeus] 30 243 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 28 29 30 58 102 204 234 237 239 251 Homer 116 187 Humboldt, Wilhelm von 42-43 103 204 Hondt, Jacques d' 58 Hülsen, Ludwig 238-239

316

Laube, Heinrich 262 Lavater, Johann Kaspar 63 142 Leibniz, Georg Wilhelm 71 82 85 152 262 Lenz, Jakob Michael Reinhold 29 30 48 224 Lessing, Gotthold Ephraim 37 54 55 bis 70 76 199-200 233 235 256 266 Loerke, Oskar 132-138 Marat, Jean-Paul 275 Marx, Karl 11 32 38 48 52 58 bis 59 69 9 5 - 9 6 105 108 119 121 123 152 184 185 191 195 218 224 226 262 263 267 289 294 296 Mehring, Franz 63 Mendelsohn, Moses 62 Menzel, Adolph von 278 Miltiades 201 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat Baron de la Brede et de 64 82 Morelly 59

Mörike, Eduard Mozart, Wolfgang Müller, Friedrich Müller, Wilhelm

295 Amadeus 142 150

Schleiermacher, Friedrich Ernst Daniel 227 Schneider, Heinrich 55 Schönemann, Lili 165 Schubert, Franz 150 Sealsfield, Charles 290 Seidel, Ina 140 Seume, Johann Gottfried 218 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Earl of 78 Shakespeare, William 26 144-145 284 Shelley, Percy Bysshe 223 Sinclair, Upton Beali 251 Sokrates 201 Solon 191 Sophokles 201 Spartacus 54

243

Napoleon I. Bonaparte 185 194 232 252 256 Neruda, Pablo 130 Nietzsche, Friedrich 37 236 Novalis 2 2 7 - 2 3 1 234-241 251 266 Perikles 201 Phidias 281 Pico della Mirandola, Giovanni Pindar 201 Platon 201 211

77

Racine, Jean 279 Raffael 242 Rembrandt 186 Robespierre, Maximilien de 184 185 219 220 260 275 Rousseau, Jean-Jacques 40 82 8 7 - 8 8 157 204 205 208 250 Ruge, Arnold 58 Rumohr, Karl Friedrich von 280 Runkel, Ferdinand 57

Spinoza, Benedikt 64 76 78 102 152 228 266 Stein, Charlotte von 141 142 170 Stifter, Adalbert 295 Sulzer, Johann Georg 153-155 157 Themistokles 201 Thermidor 232 Thukydides 201 Tieck, Johann Ludwig 246 247 Tobler, G. Ch. 153

Saint Just, Louis Antoine de 184 185 260 Saint Simon, Claude-Henri Comte de

Vico, Giambattista 12 Vogelweide, Walther von der Voltaire 40 64

268 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 58 102 103 204 206 228 234 235 251 2 6 1 - 2 6 2 266 293 Schiller, Friedrich 20 29 30 33 41 42 43 44 92 204 233 241 269 294 Schlabrendorff, Graf von Schlegel, August Wilhelm 261 Schlegel, Friedrich 40 58 bis 231 2 3 4 - 2 3 6 237-238 266

218 235 238 104 227 239 251

234 236 245

130

Wackenroder, Wilhelm Heinrich 234 236 239 2 4 1 - 2 4 8 Weerth, Georg 290 295 Weishaupt, Adam 57 69 Weitling, Wilhelm 290 Winckelmann, Johann Joachim 37 40 44 82 170 183 186 199 200 Xenophon

317

201

In der gleichen Schriftenreihe sind u.a. erschienen: Rainer

Rosenberg

Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik Literaturgeschichtsschreibung 1981 • 275 Seiten • 10,- M Gottfried.

Fiscbborn

Stückeschreiben Claus Hammel,'Heiner Müller, Armin Stolper 1981 • 238 Seiten • 7,50 M Wolf gang Wicht

Virginia Woolf, James Joyce, T. S. Eliot Kunstkonzeptionen und Künstlergestalten 1981 • 311 Seiten • 9,50 M Miklös Szabolcsi

Attila Jözsef Leben und Werk 1981 • 200 Seiten • 6,50 M Lionel Richard.

Deutscher Faschismus und Kultur Aus der Sicht eines Franzosen 1982 • 353 Seiten • 12,50 M Autorenkollektiv

unter Leitung von Peter

Weber

Kunstperiode Studien zur deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts 1982 • 255 Seiten • 9,- M