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German Pages 320 [318] Year 2020
Carmen Rivero Humanismus, Utopie und Tragödie
Mimesis
Romanische Literaturen der Welt Herausgegeben von Ottmar Ette
Band 73
Carmen Rivero
Humanismus, Utopie und Tragödie
ISBN 978-3-11-060903-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-061037-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060914-1 ISSN 0178-7489 Library of Congress Control Number: 2019954463 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar ©2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für Mario
Inhalt Einleitung 1 Aufgabenstellung und Methode 4 Topoi des Humanismus 10 Homo humanus vs. homo barbarus 10 Humanitas vs. Feritas 11 Humaniora und Realia 12 Vita contemplativa und vita activa 13 Humanismus, Utopie und Tragödie 14
Erster Teil: Humanismus und Utopie 1
1.5.1
Topoi des Humanismus: von den Ursprüngen zur Renaissance 19 Homo humanus vs. homo barbarus 19 Platon: das Ideal des Philosophenkönigs 20 Aristoteles: Klugheit und Weisheit 26 Von Griechenland zum römischen Imperium 28 Humanitas und divinitas 31 Der Weise, der König und die Erziehung des Volkes in der Renaissance 39 Humanitas vs. feritas 43 Sokrates vs. Kallikles 43 Der Humanismus vs. Machiavelli 45 Humaniora und Realia 53 Der erste Humanismus und die spekulative Vernunft 53 Die nützlichen Disziplinen des zweiten Humanismus 56 Vita contemplativa und vita activa 74 Griechenland 74 Rom 77 Vom Mittelalter zur Renaissance 81 Die Utopie der Renaissance und der Wandel zum zweiten Humanismus 84 Topoi des Humanismus in der Utopie der Renaissance 87
2 2.1 2.1.1
Humanismus und Aufklärung 97 Topoi des Humanismus in der Aufklärung Die Kritik der Vernunft 97
1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5
97
VIII
2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.3 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3
Inhalt
Die Demokratisierung des Wissens 101 Die neue Hierarchie der Wissenschaften: vom homo universalis zum homo faber 103 Rousseau und die Kritik der aufklärerischen Vernunft L’An 2440 und der Humanismus der Aufklärung 110 Die Aufklärung und das 20. Jahrhundert 118
107
Topoi des Humanismus im 20. Jahrhundert 123 Die Kritik der humanistischen Tradition im europäischen Kontext 123 Homo humanus vs. homo œconomicus 123 Humanismus und Machiavellismus im 20. Jahrhundert 127 Die «Demokratisierung» der Wissenschaftshierarchie 132 Ortega, Hannah Arendt und der Sieg des homo faber 140 Die Utopie im 20. Jahrhundert 141 Die Utopie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 141 Vernunft und Utopie nach dem Zweiten Weltkrieg 147 Las islas extraordinarias 150
Zweiter Teil: Humanismus und Tragödie 4 4.1
Antike Mythen im 20. Jahrhundert 159 Mythos und intrahistoria 159
5
La Guerre de Troie n’aura pas lieu
6 6.1
Der Mythos von Odysseus und die neue klassische Tragödie Geschichte und Mythos 172
7 7.1
Die Pluralität des Humanismus 179 Heideggers Kritik der traditionellen Ontologie: Zu einer neuen Konzeption des Menschen 181 Der existenzialistische Humanismus 184 Die Dezentralisierung des Menschen und das Auftreten des Anderen 188 Die Zeit im Existenzialismus 189 Die Hoffnung und das Absurde 190 Oreste und Caligula: Held und Antiheld der existenzialistischen Tragödie 193
7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
163 169
Inhalt
7.3 7.3.1 7.3.2 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5
Ortega y Gasset und das Prinzip Hoffnung 201 Ernst Bloch und das Real-Utopische 202 Laín Entralgo und die dialektische Hoffnung 204 Der Humanismus der Hoffnung und die Erneuerung der Tragödie 207 Dionysos und Apoll 207 Zeitlichkeit und Hoffnung bei Ortega y Gasset und Buero Vallejo 214 Die Gegenwart der Vergangenheit 218 Die Gegenwart der Zukunft 243 Buero Vallejos Humanismus 254
Schluss 263 Humanismus und Utopie Humanismus und Tragödie Bibliographie Register
309
277
268 271
IX
Einleitung Comment redonner un sens au mot humanisme? Diese Frage, die Jean Beaufret im Jahre 1946 an Martin Heidegger richtete und deren Antwort Anlass zu einem der Schlüsseltexte des deutschen Philosophen geben sollte, verdeutlicht die Bedeutungskrise des Humanismusbegriffs in der Nachkriegszeit. Heidegger geht bei seiner Antwort auf diese Frage von der Unterscheidung zwischen zwei Definitionen des Humanismus aus. Auf der einen Seite steht jener, der als Ideal der Bildung eines homo humanus durch die institutio in bonas artes verstanden werden kann und eng mit der Antike verbunden ist. Auf der anderen Seite steht ein Humanismus, der wie bei Sartre ohne die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf die Antike die Freiheit des Menschen in seiner conditio humana festmacht und dort seine Würde ansiedelt.1 Damit definierte Heidegger, was man bisher unter Humanismus verstand, um davon ausgehend eine Kritik zu entwickeln, die grundlegend für die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Humanismus in der Nachkriegszeit werden sollte. Einer ähnlichen Struktur wird auch vorliegende Arbeit folgen, indem sie sich zunächst mit der Definition des Humanismus und seiner Entwicklung beschäftigt, um dann seine Ausformungen im 20. Jahrhundert nachvollziehen zu können. Heideggers Frage könnte also in unserem Zusammenhang retrospektiv formuliert werden: Comment l’Après-Guerre a-t-il redonné un sens au mot humanisme? In der Forschung hat man sich immer wieder und aus unterschiedlicher Perspektive mit der problematischen Definition des Begriffs auseinandergesetzt. Auf der einen Seite wird, wie beispielsweise von Buck, ein exklusiver Humanismus-Begriff ausgehend vom Bezug auf die Antike vertreten.2 Dabei stößt die vielfältige Verwendung des Begriffes Humanismus in Bezug auf die Probleme der modernen Gesellschaft auf Ablehnung, da sie seine Bedeutung verschwimmen lasse.3 Marx oder Sartre für Humanisten zu halten, bedeutet aus
1 Martin Heidegger: Über den Humanismus. Frankfurt a. M.: Vitorio Klostermann 2010, S. 7–11. 2 August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg–München: Verlag Karl Alber 1987, S. 446–447. 3 Marie-Madeleine de la Garanderie: Les contradictions de l’humanisme. In: Ders.: Guillaume Budé, philosophe de la culture. Paris: Garnier 2010, S. 555–558, hier S. 555. https://doi.org/10.1515/9783110610376-001
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Einleitung
dieser Sicht eine Verwechslung der Begriffe Humanitarismus und Humanismus.4 García Gibert verdeutlicht: Los humanismos de la modernidad – herederos todos ellos de la Ilustración – basados en el progreso, el humanitarismo, el igualitarismo democrático, el realismo científico, navegan con aquel nombre bajo pabellón falso y conculcan, de hecho, algunos de los principios más arraigados del viejo humanismo.5
Auf der anderen Seite werden Positionen wie z.B. die Heideggers verteidigt, die dem Begriff des Humanismus eine Mehrdeutigkeit zusprechen. Todorov weist ihm aus dieser Perspektive drei verschiedene Bedeutungen zu. Die älteste entwirft einen Humanisten, der sich dem Studium antiker Texte widmet. Die neueste entwirft einen philanthropischen Humanisten, der sich mit «Humanität» anderen gegenüber verhält, und eine dritte Bedeutung definiert den Humanismus als eine Doktrin, in der L’homme est le point de départ et le point d’arrivée des actions humaines; ce sont des doctrines anthropocentriques, comme d’autres sont théocentriques, comme d’autres encore mettent à cette place centrale la nature ou les traditions. [. . .] L’humanisme est, pour commencer, une conception de l’homme, une anthropologie. Le contenu de celle-ci n’est pas riche. Il se limite à trois traits : l’appartenance de tous les hommes à la même espèce biologique; leur sociabilité, c’est à dire non seulement leur dépendance mutuelle pour se nourrir ou se reproduire, mais aussi pour devenir des êtres conscients et parlants; enfin leur relative indétermination, donc la possibilité pour eux de s’engager dans des choix différents, constitutifs de leur histoire collective ou de leur biographie, responsables de leur identité culturelle ou individuelle.6
Angesichts der beiden zuvor beschriebenen Positionen versucht die vorliegende Arbeit, beide Auffassungen zu verbinden und stützt sich daher auf eine Definition des Humanismus, die sowohl seine Verbindung zur Antike als auch seinen philanthropisch-anthropologischen Charakter einbezieht. Obwohl der Begriff der humanitas als Übernahme der griechischen paideia7
4 Oliver Primavesi: Meinten Sie Humanismus oder Humanität? In: Forschung und Lehre 9 (2007), S. 509. 5 Javier García Gibert: Sobre el viejo humanismo. Exposición y defensa de una tradición. Madrid: Marcial Pons 2010, S. 11. 6 Tzvetan Todorov: Le jardin imparfait. La pensée humaniste en France. Paris: Grasset 1998, S. 14, 331. 7 Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Berlin–Leipzig: De Gruyter 1936.
Einleitung
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ausdrücklich von dem der Philanthropie unterschieden worden ist,8 beinhaltet er Tugenden wie Freundschaft, Empathie, Verständnis für menschliche Schwäche oder Hilfe der Bedürftigen, die mit dem Humanitarismus in Verbindung gebracht werden.9 Andererseits wird durch das Argument, den Marxismus oder Existenzialismus nicht als Humanismus zu begreifen, weil der Bezug zur Antike fehle, übersehen, dass beispielsweise Marx in seinem Frühwerk Denkern wie Demokrit oder Epikur hohe Beachtung zukommen lässt.10 Ein weiteres Beispiel zur Widerlegung des Arguments ist im Fall von Sartre in der entscheidenden Rolle zu finden, die im existenzialistischen Humanismus Nietzsche und Heidegger mit ihrer Kritik an der platonischen Philosophie und ihrer Aufforderung zur erneuten Lektüre der Vorsokratiker zukommt. Wenn Sartre in L‘existentialisme est un humanisme die Idee der Transzendenz für die Herausbildung der Moral verwirft und den Menschen als seinen eigenen Gesetzgeber präsentiert, nimmt er tatsächlich einen Gedanken wieder auf, der bereits von Sophisten wie Protagoras vertreten wurde.11 Camus stellt seinerseits explizit den Einfluss des antiken Denkens auf sein Werk heraus.12 Den Bezug zur Antike aus der Definition des Humanismusbegriffs auszuschließen, würde also letztendlich bedeuten, die Rolle, die der nichtplatonischen Philosophie – neben der platonischen und aristotelischen – bei der Weiterentwicklung des Humanismus im 20. Jahrhundert zukommt, zu missachten13 und ein steigendes Interesse an diesen Quellen zu übersehen, das bis in die Gegenwart hinein festzustellen ist.14
8 Aulus Gellius: Noctes atticae. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1824, XIII, 16, S. 199. 9 Erhard Wiersing: Humanismus und Menschenbildung. Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der bildenden Begegnung der Europäer mit der Kultur der Griechen und Römer. In: Erhard Wiersing (Hg.): Humanismus und Menschenbildung, Zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der bildenden Begegnung der Europäer mit der Kultur der Griechen und Römer. Essen: Die blaue Eule 2001, S. 15–95, hier S. 22. 10 Karl Marx: Doktordissertation (Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie). Jena: Selbstverlag der Friedrich-Schiller Universität 1964. 11 Diogenes Laertius: De clarorum philosophorum vitis. Paris: Firmin-Didot 1878, S. 239–240. 12 Albert Camus: Le mythe de Sisyphe. Paris: Gallimard 1942, S. 167. 13 Somit distanzieren wir uns von Jaegers Humanismusdefinition, der dem Humanismus einen im Wesentlichen platonischen Charakter zuschreibt (Werner Jaeger: Paideia; Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge. Berlin: De Gruyter 1960, S. 54) und auf diese Weise eine Illusion der Homogenität im griechischen Denken sowie dessen Rezeption schafft, die in dieser Form nicht haltbar ist (Horst Rüdiger: Der Dritte Humanismus. In: Hans Oppermann (Hg.): Humanismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 206–224, hier S. 217–218; Horst Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1937, S. 279–297). 14 Michel Onfray: Contre-Histoire de la Philosophie. Paris: Grasset 2006–2013.
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Einleitung
Aufgabenstellung und Methode Auf der Grundlage einer Konzeption des Humanismus, die sowohl seine Verbindung zur Antike als auch seinen anthropologischen Charakter beinhaltet, hat die vorliegende Arbeit das Ziel, die Kontinuität des Humanismus im westlichen Denken von seinen Ursprüngen bis zu seiner Krise in der Nachkriegszeit darzulegen. Dafür bedienen wir uns der Methode der historischen Toposforschung, die Curtius verwendete, um die Kontinuität des klassischen Erbes in der europäischen Literatur bis zur Neuzeit anhand des topos-Begriffes aufzuzeigen. Diesen verstand er als Gemeinplatz, dessen Beständigkeit empirisch nachweisbar ist.15 Curtius’ Methode ist zweifelsohne Gegenstand von Kritik gewesen. Laut Mertner verwendet er den Begriff falsch.16 Der topos dient der Erfindung einer Sache, jedoch ist er nicht die Sache selbst, was Dyck zu der Annahme führt, Curtius gehe von einem Konzept aus, das historisch niemals existierte.17 Die Kritik der historischen Toposforschung tendiert im Allgemeinen zu der Forderung, zwischen Curtius’ Verwendung des topos-Begriffs und den Begriffen der antiken Topik, wie dem Argument oder dem Gemeinplatz, zu unterscheiden18 und wirft Curtius mangelnde Klarheit in seiner Definition vor.19 Jedoch ist die Definition des topos-Begriffs auch in der Antike nicht homogen.20 Aristoteles definiert die Topik als Methode, mit deren Hilfe sich jede Problematik von autorisierten Meinungen her deduzieren bzw. ein Argument fehlerfrei vertreten lässt.21 Cicero nimmt Aristoteles’ Begriff auf, lässt jedoch bei seiner Definition in seinen Schriften De inventione und De oratore
15 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern–München: Francke 1948. 16 Edgar Mertner: Topos and Commonplace. In: Strena Anglica (1956), S. 178–224. 17 Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg–Berlin–Zürich: Gehlen 1966, S. 174. 18 Lothar Bornscheuer: Bemerkungen zur Toposforschung. In: Mittellateinisches Jahrbuch, 11 (1976), S. 312–320, hier S. 314. 19 Joaquín Rubio Tovar: Literatura e ideología en Literatura y Edad Media latina de E. R. Curtius (1948–1998). In: Santiago Fortuño/Tomás Martínez Romero (Hg.): Actas del VII Congreso de la Asociación Hispánica de Literatura Medieval. Castellón de la Plana: Universitat Jaume I 1998, S. 319–333. 20 Max L. Baeumer (Hg.): Toposforschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1973, S. X; Joachim Knape: Die zwei Texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik und ihre methodologischen Implikaturen. In: Thomas Schirren/Gert Ueding (Hg.): Topik und Rhetorik: ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 747–749. 21 Aristoteles: Topik. Übersetzt von Eugen Rolfes. Hamburg: Meiner Verlag 1995, 100 a, S. 1.
Aufgabenstellung und Methode
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eine Unterscheidung erkennen. Gegenüber letzterem wird topos in De inventione synonym zum Argument verwendet. Folglich erweist sich Mertners These, dass topoi in der klassischen Rhetorik keine Argumente sein könnten, als nicht haltbar.22 Bereits in der Antike zeugt die Topik von mehrdeutigem Charakter, wie Barthes in Erinnerung ruft, da sie sowohl als Methode als auch als Raster leerer oder semantisch gefüllter Formen verstanden werden kann. Aristoteles definierte die Topik, wie bereits gezeigt, als Methode:23 eine Deutung, die in der Rhetorik auflebte als die Kunst, Argumente zu finden. Dennoch kann die Topik ebenso als ein Netz von Formen definiert werden, die eine bestimmte Materie in Überzeugungsmittel verwandeln. Wenngleich Topoi grundsätzlich leere Formen sind, so tendierten sie stets dazu, auf dieselbe Weise gefüllt zu werden, weshalb sich die Topik in einen Katalog tradierter Themen verwandelte.24 Vor diesem Hintergrund definierte Lausberg den Terminus topos in seinem Rhetorik-Handbuch einerseits als allgemeine Methode für das Auffinden von Argumenten und andererseits als das Argument, das mithilfe dieser Methode gefunden werden kann.25 Topoi können so als Leitfäden für das Finden von Argumenten oder als Argumente selbst verstanden werden.26 Während die rhetorische Topik von der ersten Definition ausgeht, legt die historische Topik,27 die die Methode der vorliegenden Arbeit bestimmt, die zweite Definition zugrunde. Der sich wandelnde Gebrauch, den die topoi in den verschiedenen Epochen erfuhren, verleiht ihnen ihren historischen Charakter.28 Ein topos als Argument
22 Joseph A. R. Kemper: Topik in der antiken rhetorischen Techne. In: Dieter Breuer/Helmut Schanze (Hg.): Topik. München: Fink 1981, S. 17–32, hier S. 27–28. Kemper bezieht sich auf die Arbeiten von Emrich (B. Emrich: Topik und Topoi. In: Der Deutschunterricht, 18 (1966), S. 15–46) und Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt: Suhrkamp 1976. 23 Vgl. Fußnote 21. 24 Roland Barthes: L’ancienne rhétorique. In: Communications, 16 (1970), S. 172–223, hier S. 206–208. 25 Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München: Max Huber Verlag 1960, S. 740. 26 Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 4–10. 27 Pöggeler zeigt auf, dass die antike Topik nicht mit der Topik verwechselt werden darf, die literarische Studien verwenden (Otto Pöggeler: Topik und Philosophie. In: Dieter Breuer/Helmut Schanze (Hg.): Topik. München: Fink 1981, S. 95–123, hier S. 101). 28 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. IX.
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Einleitung
ist eine Prämisse, die dem Rezipienten plausibel erscheint, weshalb sie sich immer in die Perspektive der Gesellschaft oder Kultur einfügt, die sie akzeptiert.29 Wenn die Bedeutung der Argumente nur in ihrem historischen Wandel erklärt werden kann, stellt der Katalog der topoi folglich eine grundlegende Voraussetzung dar, um eine Epoche verstehen zu können.30 Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, aus dieser Perspektive die verschiedenen HumanismusDiskurse im Laufe der Geschichte anhand einer Entwicklungsanalyse seiner topoi zu rekonstruieren, um nicht nur seine Kontinuität über die Jahrhunderte hinweg zu bestimmen, sondern ebenso seine Einzigartigkeit im 20. Jahrhundert hervorzuheben. Zu diesem Zweck orientiert sich die vorliegende Arbeit an Knapes Beschreibung der Methode der historischen Topik. So wird in einem ersten Schritt mit einem umfassenden Analysekorpus begonnen, der europäische Texte von der Antike bis zum 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung französischer und spanischer Literatur umfasst, die als repräsentativ für den Humanismus begriffen werden. In einem zweiten Schritt wird die supratextuelle Wiederholung bestimmter Inhaltskerne (topoi) statistisch erfasst und der anfängliche Textkorpus dementsprechend begrenzt.31 Diese Auswahl ermöglicht eine Rekonstruktion exemplarischer Modelle der Argumentation im humanistischen Diskurs und eine Analyse ihrer Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte, womit sie sich gegen eine Position stellt, die behauptet, dass «la thématique humaniste est en elle-même trop souple, trop diverse, trop inconsistente pour servir d’axe à la réflexion».32 Somit wird schließlich, wie bereits erwähnt, beabsichtigt, die Kontinuität des Humanismus von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, entgegen der Auffassung eines Bruchs, aufzuzeigen.33 Die Ergebnisse der Arbeit sollen daher einen Beitrag zur Ideengeschichte liefern, der nicht nur zeigt, wie bestimmte topoi der Antike im 20. Jahrhundert erneut auftreten, sondern ebenso, wie und warum sie diese oder jene Form annehmen. Die Bindung des Humanismus an die Antike anzunehmen bedeutet aufgrund seiner Heterogenität notwendigerweise, im Konkreten zwischen verschie-
29 Andreas Spira: Wert und Unwert der Topik. In: Dieter Breuer/Helmut Schanze (Hg.): Topik. München: Fink 1981, S. 42–53, hier S. 42. 30 Eric Achermann: Worte und Werte. Geld und Sprache bei Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Georg Hamann und Adam Müller, S. 10. 31 Joachim Knape: Die zwei texttheoretischen Betrachtungsweisen der Topik und ihre methodologischen Implikaturen, S. 747–762. 32 Michel Foucault: Dits et écrits. Paris: Gallimard 1994, S. 1392. 33 Ebda., S. 26, 130.
Aufgabenstellung und Methode
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denen Erscheinungsformen eines Humanismus unterscheiden zu müssen, die sich sogar je nach Bezugsquelle widersprechen können. Möglicherweise hat gerade die Heterogenität der klassischen Quellen, auf denen der Humanismus beruht, zu der Behauptung geführt, dass der Humanismus nicht über ein allen seinen Ausprägungen gemeinsames Konzept definiert werden kann, sondern nur durch seine Praxis und die Summe seiner Funktionen.34 Die vorliegende Arbeit hingegen geht davon aus, dass sich hinter den Strukturen, die im Humanismus wurzeln, der Leitbegriff der Vernunft verbirgt. Der Humanismus kann vor diesem Hintergrund als ein vernunftbestimmtes Ideal verstanden werden, aus dem ein politisches, pädagogisches, anthropologisches, ethisches und ästhetisches Programm entsteht, das auf der Grundlage des Wissens der Antike die Verwirklichung des Menschen anstrebt.35 Die Geschichte des Humanismus läuft aus dieser Perspektive Hand in Hand mit der Geschichte des Vernunftbegriffs. Laut Schnädelbach ist letztere als Geschichte der Kritik der Vernunft durch die Vernunft zu verstehen.36 Darauf basierend soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass die Kritik der spekulativen Vernunft und die Kritik der instrumentellen Vernunft Wendepunkte in der Periodisierung der Humanismusgeschichte sind. Der Begriff der Periodisierung wird hier mit Cantimori37 als die chronologische Abgrenzung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Humanismus verstanden. Diese allgemeine Konzeption der historischen Entwicklung des Humanismus ermöglicht es, den spezifischen Charakter jeder Phase festzulegen und die Verbindung zwischen seinen verschiedenen Formen auf der Grundlage des sie determinierenden, vernunftbestimmten Ideals zu verdeutlichen.
34 Gerrit Walther: Funktionen des Humanismus. Fragen und Thesen. In: Thomas Maissen/Gerrit Walther (Hg.): Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 9–17, hier S. 11. 35 Darüber hinaus wird er nicht als isoliertes kulturelles Phänomen definiert, das sich auf die nationalen Grenzen beschränkt, sondern bildet, wie Curtius beobachtet, die Grundlage des europäischen Denkens und wird zum maßgebenden Prinzip der abendländischen Kultur (Ernst Robert Curtius: Humanismus als Initiative. In: Ders.: Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart–Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt 1932, S. 73–108). Auf diese Weise nehmen wir eine andere Perspektive ein als Stiewe, der das Phänomen in seiner ausschließlich deutschen Dimension untersucht (Barbara Stiewe: Der Dritte Humanismus. Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus. Berlin–New York: De Gruyter 2011, S. 3). 36 Herbert Schnädelbach: Vernunft. Stuttgart: Reclam 2007. 37 Delio Cantimori: La periodizzazione del Rinascimento. In: Ders.: Studi di storia. Torino: Einaudi 1959, S. 340–365, hier S. 340.
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Einleitung
So entwickelt sich bis zum Trecento38 ein erster Humanismus unter dem Leitbegriff der spekulativen Vernunft.39 Am Ende dieses Jahrhunderts findet der Wandel zu einem zweiten Humanismus der instrumentellen Vernunft statt,40 der
38 Mit Georg Voigt: Die Wiederbelebung des klassischen Altertums oder das erste Jahrhundert des Humanismus. Berlin: De Gruyter [1893] 1960, S. 70–451; Jabob Burkhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Stuttgart: Alfred Kröner 1989, S. 137; Eugenio Garin: Medioevo e Rinascimento: Studi e ricerche. Bari: Laterza 1954, S. 40; Eugenio Garin: L’educazione in Europa (1400– 1600). Problemi e programmi. Bari: Laterza 1957, S. 80, 280; Eugenio Garin: Scienza e vita civile nel Rinascimento italiano. Bari: Laterza 1965, S. 34; Eugenio Garin: Il Rinascimento italiano. Firenze: Casa Editrice il Portolano 1980, S. 23–67 und Marco Pellegrini: Religione e umanesimo nel primo Rinascimento de Petrarca ad Alberti. Firenze: Le Lettere 2012, S. 5–10 geht die vorliegende Arbeit von einer Kontinuität von Mittelalter und Renaissance aus, die von Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 5; Étienne Gilson: Humanisme médiéval et Renaissance. In: Ders.: Les idées et les lettres. Paris: J. Vrin 1932, S. 171–196; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter; Paul Oskar Kristeller: Renaissance Humanism and its significance. In: Studies in Renaissance Thought and Letters. Roma: Edizioni di Storia e Letteratura [1956] 1996, S. 227–244, hier S. 228; Delio Cantimori: Umanesimo e religione nel Rinascimento. Torino: Einaudi 1957, S. 232–233; Konrad Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus: Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963 und Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1966; Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975 infrage gestellt oder abgelehnt wurde, auf die jedoch Johann Huizinga: Herbst des Mittelalters. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 1975, S. 462–479; Charles B. Schmitt: Auctoritates, Repertorium, Dicta, Sententiae, Flores, Thesaurus and Axiomata: Latin Aristotelian Florilegia in the Renaissance. In: Jürgen Wiesner (Hg.): Aristoteles Werk und Wirkung II. Berlin–New York: De Gruyter 1987, S. 515–537; Eckhard Keßler: Die Philosophie der Renaissance. München: Beck 2008 und Ottfried Höffe: Aristoteles. München: Beck 2014, S. 77 bestehen. 39 «Spekulative Vernunft» meint hier die Vernunft, die zu theoretischer Erkenntnis führt und bei nachträglicher praktischer Anwendung als wahr oder falsch erwiesen werden kann (Karl Popper: Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. München–Zürich: Piper 2005, S. 38ff). Unter instrumenteller Vernunft wird hier jene verstanden, die sich auf die Produktion der notwendigen Mittel zum Erreichen eines Ziels beschränkt (Theodor Adorno/ Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt: Fischer [1944] 2012). 40 Der zweite Humanismus fällt mit der etá umanistica zusammen, die Delio Cantimori: La periodizzazione del Rinascimento. In: Ders.: Studi di storia. Torino: Einaudi 1959, S. 361 durch die Anwendung der Kultur auf das aktive Leben unter dem Paradigma der praticità (vgl. Eric Achermann: Die Frühe Neuzeit als Epoche. In: Herbert Jaumann/Gideon Stiening (Hg.): Neue Diskurse der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Band II. Berlin–Boston: De Gruyter 2016, S. 3–96, hier S. 27) charakterisiert sieht. Sie erstreckt sich in der Literatur von Petrarca bis Goethe, in der Kirchengeschichte vom abendländischen Schisma bis zur Säkularisierung, in der ökonomisch-sozialen Geschichte von vorkapitalistischen Formen bis zur industriellen Revolution sowie in der politischen Geschichte vom Tod Karls IV. bis zur französischen Revolution. Obwohl die vita contemplativa weiterhin unabdingbarer Teil der vita activa ist (Paul Oskar Kristeller: The
Aufgabenstellung und Methode
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sich mit der Aufklärung festigt.41 Schließlich erstreckt sich ein dritter Humanismus von der Aufklärung zur Nachkriegszeit. Sein vielschichtiger Charakter ergibt sich aus den verschiedenen Kritiken des Vernunftideals des ersten und zweiten Humanismus und den daraus resultierenden Vorschlägen für einen neuen Humanismus. Die vorliegende Arbeit legt ihren Schwerpunkt auf die Variationen des humanistischen Diskurses angesichts des vernunftorientierten Paradigmenwechsels, der sich zur Zeit der Aufklärung und im Kontext des Zweiten Weltkrieges vollzieht. Sie stellt die Geschichte des Humanismus als einen Prozess dar, durch den eine dynamische Identität konstruiert wird, die sich in Abhängigkeit vom Vernunftbegriff artikuliert und in drei Phasen einteilen lässt: eine frühe Phase (die zum Ende des Trecento beginnt), in der die Krise eines Vernunftideals deutlich wird, eine Phase der Festigung (in der Aufklärung), in der sich das neue System stabilisiert und eine späte Phase, in der die Stabilität der alten Ordnung brüchig wird, um der neuen Ordnung des dritten Humanismus den Weg zu räumen.42 Weder die Ordnung noch ihr Scheitern realisieren sich aber vollständig.
Active and the Contemplative Life in Renaissance Humanism. In: Ders.: Studies in Renaissance Thought and Letters. Roma: Edizioni di Storia e Letteratura [1956] 1996, S. 197–213, hier S. 199–212), ist das Wissen nicht mehr Selbstzweck, wodurch eine Hierarchie entsteht, in der die vita contemplativa sich der activa unterordnen muss. 41 Garin bestätigt die Kontinuität zwischen Renaissance und Aufklärung (Eugenio Garin: Dal Rinascimento all’Illuminismo. Pisa: Nistri Lischi 1970, S. 117), wenn er daran erinnert, dass Bacon, Descartes, Hume oder Rousseau Söhne der neuen humanistischen Orientierung sind, die zum Ende des Trecento aufkam (Eugenio Garin: Medioevo e Rinascimento: Studi e ricerche, S. 40). Garin wendet die Parameter für die Definition der wissenschaftlichen Revolution, die Thomas Kuhn in der Renaissance exemplifiziert sieht (Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S. 100–105), an und zeigt auf, dass die Geburt der neuen Wissenschaft auf einer neuen Sicht auf den Menschen und die Welt, die sie hervorbringt, beruht. In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass diese neue Weltanschauung sich aus jenem neuen vernunftorientierten Paradigma des Humanismus ergibt, weshalb hier Garins Position – im Gegensatz zu Kristeller – geteilt wird, dass der Beitrag des Humanismus zur Philosophie oder Wissenschaft praktisch nichtig ist (Eugenio Garin: Dal Rinascimento all’Illuminismo, S. 2). Außerdem wird hier die These vertreten, dass – entgegen Hazard – der neue Begriff des Menschen und der Politik, der zur Aufklärung und schließlich zur französischen Revolution führt, sich bereits vor Leibniz, Spinoza, Bayle, Locke, Newton oder Fénelon (Paul Hazard: La crise de la conscience européenne. 1680–1715. Paris: Boivin 1935, S. 295–296; Peter Gay: The Enlightenment. An interpretation. New York: Norton 1977, S. 20) in der Renaissance gebildet hat. 42 Zu den Prozessen als Grundlage für das Wissen über Geschichte vgl. Hans Blumenberg: Aspekte der Epochenschwelle. Cusaner und Nolaner. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 17–20 und Reinhart Koselleck: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart: Klett-Cotta 1977, S. 5–7, zitiert nach Eric Achermann: Die Frühe Neuzeit als Epoche, S. 58.
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Einleitung
Es lassen sich eher Wendepunkte ausmachen, in denen sich eine Neustrukturierung des Systems entwickelt.
Topoi des Humanismus Das Vernunftideal des Humanismus entfaltet sich in einem Programm externer sowie interner Hierarchien. Die externe Hierarchie wird auf Grundlage der jeweiligen Verhältnisse zwischen Wissen und Macht konstituiert und gründet somit auf einer internen Hierarchie oder Neuordnung des Wissens, die einem neuen Vernunftideal und einer neuen Konzeption der humanitas folgt. Darauf basierend soll sich die Analyse der Entwicklung des Humanismus im Verlauf der Jahrhunderte an vier paradigmatischen topoi orientieren.
Homo humanus vs. homo barbarus Es wird von der Hypothese ausgegangen, dass sich die Dichotomie, die den homo humanus dem homo barbarus gegenüberstellt, im 20. Jahrhundert in dem Gegensatzpaar von homo humanus und homo œconomicus manifestiert. So sieht Erich Fromm im 20. Jahrhundert die einzige Hoffnung auf Rettung angesichts einer vom homo œconomicus dominierten Welt im Humanismus: [Ich glaube,] dass es heute für den modernen Menschen und für den Menschen auf dieser Erde überhaupt im Wesentlichen nur die Alternative gibt zwischen der Barbarei und einer neuen Renaissance des Humanismus.43
Wie auch Raymond Aron später anmerken sollte, haben die westlichen Gesellschaften ihre Machthierarchien auf einem Irrtum gegründet. Durch ihre Ausrichtung auf Gewinnmaximierung spielt die Ethik in diesen Gesellschaften eine untergeordnete Rolle. Die Macht des homo œconomicus, den Aron aufgrund seiner nutzenorientierten und von Wahrheit oder Moral unabhängigen Haltung als einen modernen Sophisten beschreibt, könne nur zum Verfall Europas führen.44
43 Erich Fromm: Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen. Weinheim: Beltz 1992, S. 34. 44 Raymond Aron: Plaidoyer pour l’Europe décadente. Paris: Laffont 1977, S. 445–447.
Humanitas vs. Feritas
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Humanitas vs. Feritas Darüber hinaus wird diese Arbeit zeigen, dass die Begriffe von homo œconomicus und homo humanus ein Gegensatzpaar darstellen, das mit jenem von sophistischer und platonischer Tugend im antiken Griechenland oder mit der Gegenüberstellung von machiavellistischer und humanistischer Tugend in der Renaissance zu vergleichen ist. Im Gorgias vergleicht Platon die Herrschaft des Weisen mit der Herrschaft des Starken, was er am Beispiel des Sokrates und des Kallikles veranschaulicht. Letzterer empfindet es als ungerecht, dass der Starke weniger Macht hat als der Schwache. Wenn die menschlichen Gesetze lediglich den Schwachen würdigen, stehen sie den Gesetzen der Natur entgegen, in denen aus Kallikles‘ Sicht wahre Gerechtigkeit herrscht. Die platonischen Tugenden der Gerechtigkeit und Mäßigung sind daher keine Eigenschaften, die ein guter Herrscher nach Kallikles besitzen müsse. Der beschriebene Gegensatz kommt in der Renaissance erneut in der Gegenüberstellung der Humanisten mit Machiavelli zum Tragen, dessen Fürst eine ähnliche Position verkörpert wie jene, die Kallikles im platonischen Dialog vertritt. Ethik und Politik werden als voneinander unabhängig aufgefasst. Die ökonomische Tugend wird im Unterschied zur humanistischen nicht aus ethischen Prinzipien abgeleitet, sondern macht den Gewinn für denjenigen, der nach ihr handelt, zum Hauptziel.45 Schließlich tritt der Gegensatz im 20. Jahrhundert wieder in Erscheinung. So zeigt Raymond Aron, dass die Tugend im 20. Jahrhundert machiavellistische Züge annimmt.46 Um Machiavellismus zu vermeiden, schlägt er die «Rehumanisierung» der Politik durch die Wiederherstellung einer fähigen Führungsschicht vor, die zu einem wahren, d.h. moralischen und wissenschaftlichen Fortschritt, führen soll.47 Der Gegensatz von Humanismus und Machiavellismus lebt auf diese Art im 20. Jahrhundert fort.
45 1979 wird dieser Gegensatz durch Pierre Bourdieu relativiert, der darauf hinweist, wie ethisches Wissen sozialen Aufstieg ermöglichen kann. Auf dieser Grundlage betrachtet Bourdieu Kultur als eine Form von Kapital, das für die Interessen des Einzelnen von Nutzen ist; sie kann ihm nämlich eine Macht verleihen, die sich in wirtschaftlichen Größen bemessen lässt (Pierre Bourdieu: La distinction. Paris: Minuit 1979). 46 Raymond Aron: L’homme contre les tyrans. Paris: Gallimard 1946, S. 11–12. 47 Ebda., S. 21.
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Einleitung
Humaniora und Realia Wie bereits erwähnt, spiegeln sich die vernunftorientierten Paradigmenwechsel nicht nur in externen Hierarchien wider, sondern ebenfalls in internen, sodass sich einige Wissenschaften anderen unterordnen. Im Folgenden wird gezeigt, wie der Wechsel des Vernunft-Paradigmas zu einer neuen Ordnung der Wissenschaften gemäß ihrem Nutzen führt. Wenngleich vor diesem Hintergrund im Trecento der Rhetorik im Gegensatz zur scholastischen Dialektik Auftrieb verliehen wird, setzen sich die Realia gegen die Humaniora zunehmend durch,48 sodass sie eine neue Wissenschaftshierarchie bilden, die sich mit der Aufklärung konsolidiert. Auf diese Weise drängt sich eine neue Ordnung auf, welche die Bedeutsamkeit der Naturwissenschaften hervorhebt, angeführt von der Physik sowie der mechanischen Künste, denen nun eine Würde zuteilwird, die ihnen zuvor verwehrt geblieben war. Schließlich wird sich der dritte Humanismus gezwungen sehen, sich gegenüber der Trennung von Geisteswissenschaften und Technik zu positionieren, die sich während des zweiten Humanismus zunehmend aufgebaut hat. Somit weichen wir von der Definition eines neuen Humanismus durch den Physiker Helmut Fink ab, der ihm im Gegensatz zum alten einen naturwissenschaftlichen Charakter zuschreibt.49 Die humanistische Position ist auch im 20. Jahrhundert eine, die für Allgemeinbildung steht.50 In diesem Sinne beklagt José Ortega y Gasset, dass die zeitgenössische Kultur fast ausschließlich aus Naturwissenschaften bestehe. So würden jene Disziplinen beiseitegelassen, die neue Perspektiven auf die Welt und den Menschen eröffnen, da sie nicht dort anhalten müssen, wo die Naturwissenschaften ihre Grenze finden.51 Für Ortega liegt das Problem darin, dass sich die Geisteswissenschaften nicht im gleichen Rhythmus wie die Naturwissenschaften oder die Technik entwickelt haben.52 Dieses Missverhältnis hat auch für Paul Valéry einen Zustand der Verwirrung der modernen Welt geschaffen: 48 Als studia humaniora werden die Studien, deren Ziel die Erlangung der humanitas ist, bezeichnet. Mit Realia sind die Disziplinen gemeint, die sich mit der Welt der Dinge und ihren Gesetzen beschäftigen. Humaniora und Realia, als variable Begriffe verstanden, bilden den Ursprung und die Grundlage der Geistes- und Naturwissenschaften. 49 Helmut Fink: Auf dem Weg zu einem neuen Humanismus? In: Ders. (Hg.): Der neue Humanismus. Wissenschaftliches Menschenbild und sekuläre Ethik. Aschaffenburg: Alibri 2010, S. 9–24, hier S. 11–19. 50 Alan Bullock: The humanist tradition in the West. New York–London: Norton & Company 1985, S. 11. 51 José Ortega y Gasset: Misión de la Universidad. Madrid: Alianza 1992, S. 65. 52 José Ortega y Gasset: Goethe. Dilthey. Madrid: Alianza 1983, S. 213.
Vita contemplativa und vita activa
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Le monde moderne dans toute sa puissance, en possession d’un capital technique prodigieux, entièrement pénétré de méthodes positives, n’a su toutefois se faire ni une politique, ni une morale, ni un idéal, ni des lois civiles ou pénales, qui soient en harmonie avec les modes de vie qu’il a créés, et même avec les modes de pensée que la diffusion universelle et le développement d’un certain esprit scientifique imposent peu à peu à tous les hommes.53
Die Feststellung dieser Tatsache sowie die Warnung vor ihren Konsequenzen werden im humanistischen Diskurs des 20. Jahrhunderts häufig wiederholt. Der Verzicht auf eine Hinwendung zu den Geisteswissenschaften zugunsten einer Pflege der Naturwissenschaften hat Fromm zufolge zu der Konstruktion von Raketen und nuklearer Aufrüstung geführt, ohne in Betracht gezogen zu haben, dass die technologische Entwicklung zu einer vollständigen Zerstörung führen könnte. Damit stellt sich Fromm nicht gegen die technologische Entwicklung, sondern versucht, sie mit den Geisteswissenschaften zu verbinden, sodass sie die Funktion erfüllen kann, die ihr eigentlich zugeteilt war: das Leben des Menschen zu verbessern.54 Es soll daher herausgestellt werden, dass die Bewältigung der Konfrontation beider Disziplinen eine der grundlegendsten Aufgaben ist, mit denen sich der Humanismus des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt.
Vita contemplativa und vita activa Das Ideal der humanistischen Bildung und die Hierarchie der Wissenschaften bestimmen zudem einen Lebensstil oder eine Lebensweise. So verfolgt die vita contemplativa das Ziel, eine Reihe von Kenntnissen zu erwerben, die in der vita activa in die Praxis umgesetzt werden können. Sowohl die platonische Philosophie als auch die aristotelische erfordern beide Lebensweisen in der Ausübung von Politik, die sie als angewandte Ethik begreifen.55 Die Priorität, die beide Philosophen aber der vita contemplativa verleihen, steht im Gegensatz zu der Position von Sophisten wie Kallikles im Gorgias, der ein kontemplatives Leben für nutzlos erachtet und es vorzieht, darauf zu verzichten. Im Gegensatz zu Sokrates sieht er in der Philosophie einen wenig
53 Paul Valéry: La Politique de l’Esprit. In: Ders.: Œuvres. Herausgegeben von Jean Hytier. Band I. Paris: Gallimard 1957, S. 1014–1040, hier S. 1017. 54 Erich Fromm: Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen, S. 42–43. 55 Vgl. Reinhart Maurer: Platons Staat und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik. Berlin: De Gruyter 1970, S. 112.
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Einleitung
ratsamen Zeitvertreib für den erwachsenen Mann.56 Folglich empfiehlt er, die Zeit ausschließlich für das praktische Leben zu verwenden. Die Überlegenheit der vita activa über die vita contemplativa sowie der spätere Bruch zwischen beiden bestimmen die Entwicklung des zweiten Humanismus. Der dritte Humanismus wird wiederholt die Bedeutung der vita contemplativa hervorheben, um einen wirklichen Fortschritt zu erreichen. Obwohl die Hinwendung zur vita activa zu einer quantitativen und nachweislichen Zunahme der Erkenntnisse und der menschlichen Macht führen mag, kann sie den Menschen ohne Bezug auf die vita contemplativa zur Verzweiflung und zum Nihilismus treiben.57
Humanismus, Utopie und Tragödie Wie äußern sich diese Topoi schließlich in der fiktionalen Literatur? Wenn wir den Humanismus als vernunftbestimmtes Ideal definieren, müssen wir den Räumen Aufmerksamkeit schenken, die die Fiktion für imaginäre Gesellschaften konstruiert, in denen sich dieses Ideal entwickeln kann. Eine Analyse der Utopie unter Berücksichtigung der Kategorien von Raum und Zeit wird grundlegende Informationen sowohl über die Entwicklung des Humanismus im Laufe der Jahrhunderte als auch über die literarische Gattung, in der er Ausdruck findet, offenlegen. Hierzu wird keine vollständige Auflistung der humanistischen Utopien angestrebt. Unter besonderer, aber nicht ausschließlicher Berücksichtigung der französischen und der spanischen Literatur werden vielmehr solche ausgewählt, die bestimmte Wandlungen exemplarisch veranschaulichen. Unter den zahlreichen Werken utopischer Literatur im 16. und 17. Jahrhundert hebt Trousson zu Recht in seiner Geschichte der Utopie die Werke von Thomas Morus, Campanella und Bacon als besonders ergiebig hervor.58 Deshalb und weil sie im europäischen Rahmen die Entwicklung des vernunftbestimmten Ideals vom ersten zum zweiten Humanismus paradigmatisch bezeugen, sollen diese Utopien ausführlich vorgestellt werden. Im französischen Bereich soll Louis-Sébastien Merciers L’an 2440 (1770) als erste Uchronie den Wechsel von der räumlichen zur zeitlichen Utopie veranschaulichen und somit exemplarisch den literarischen Ausdruck des vernunftbestimmten Ideals und der Konzeption
56 Platon: Gorgias. Herausgegeben von Otto Apelt. Hamburg: Meiner Verlag 1988, 485, S. 93–94. 57 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 1981, S. 255. 58 Raymond Trousson: Voyages aux pays de nulle part. Histoire littéraire de la pensée utopique. Bruxelles: Editions de l’Université 1979, S. 72.
Humanismus, Utopie und Tragödie
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des Fortschritts des zweiten Humanismus zeigen. Las islas extraordinarias von Gonzalo Torrente Ballester schließlich ist ein Werk, das sich trotz des späten Ercheinungsdatums (1991) ästhetisch und thematisch als ein Werk der Nachkriegszeit einordnen lässt. Durch seine explizite Verbindung sowohl zu Morus’ Utopie als auch zur Utopie der Aufklärung exemplifiziert es die unterschiedlichen Ausprägungen des dritten Humanismus und ihren Bezug zum ersten und zweiten. Der zweite Abschnitt dieser Arbeit bezieht sich auf eine andere Gattung, die aus der Antike stammt und die antiken Mythen bis ins 20. Jahrhundert hineinträgt: die Tragödie. Auf ihrer Grundlage lässt sich, ausgehend von der im ersten Teil der Arbeit erwiesenen Kontinuität des Humanismus, die Pluralität des dritten Humanismus begründen. Die vorliegende Arbeit wird seine verschiedenen Erscheinungsformen in Frankreich und Spanien untersuchen und herausarbeiten, in welchem Maße diese Unterschiede zu verschiedenen Modellen der neuen klassischen Tragödie59 führen. Da das Korpus auch hier nicht erschöpfend, sondern exemplarisch mit Blick auf den dritten Humanismus ausgewählt wird, gilt die Analyse zunächst dem französischen Dramatiker der Zwischenkriegszeit Jean Giraudoux. Sein Umgang mit den antiken Mythen ist nicht nur für das französische Theater, sondern ebenso für das spanische Nachkriegstheater von Bedeutung. Chronologisch folgen Les mouches von Jean Paul Sartre und Caligula von Albert Camus. Die Analyse schließt mit dem dramatischen Werk Buero Vallejos, der die spanische Bühne durch die Überwindung des existenzialistischen Humanismus erneuern will. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund: Wie und warum haben sich die topoi des Humanismus im Lauf der Geschichte gewandelt und wie wird das 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund dieser Evolution bestimmt? Wie spiegeln sich diese Veränderungen in der Utopie und Tragödie wider und auf welche Weise beeinflussen sie die Entwicklung beider Gattungen?
59 Als klassische Tragödie wird hier jede Tragödie verstanden, die sich auf einen antiken Mythos bezieht.
1 Topoi des Humanismus: von den Ursprüngen zur Renaissance Im Folgenden wird zunächst die Entwicklung der vier für den humanistischen Diskurs paradigmatischen topoi von der Antike bis zur Renaissance rekonstruiert, auf denen der hier vertretene Begriff des ersten Humanismus basiert, um dann herauszustellen, wie und wann der Übergang zum zweiten Humanismus stattgefunden hat. Dieser Übergang nimmt seinen Anfang, wie nachfolgend gezeigt wird, in der Krise eines Vernunftideals, die sich im Wesentlichen in vier Aspekten manifestiert. Erstens, im Beginn eines aktiven Prozesses der Demokratisierung von Wissen, der dazu führt, dass Wissen, im Gegensatz zum Mittelalter, nicht mehr ein bloßes Privileg des Klerus und des Adels darstellt, sondern dem dritten Stand zugänglich wird. Dank der Entwicklung der Technik ist diese Verbreitung des Wissens zunehmend umfassender (1.1). Zweitens, in dem fortschreitenden Übergang zu einer Vernunft, die nicht mehr im Wesentlichen kontemplativen Charakters ist, sondern vielmehr zweckgerichtet die notwendigen Mittel zur Erreichung eines Ziels beschaffen soll (1.2). Drittens, in der Neuordnung der Freien Künste nach einem Nützlichkeitskriterium (1.3) und viertens in der hierarchischen Umkehrung der vita activa und vita contemplativa (1.4). Der humanistische Diskurs greift dabei argumentative Schemata der Antike zur Legitimierung von Macht wieder auf oder stellt sie infrage, weshalb diese den Ausgangspunkt der folgenden Analyse bilden.
1.1 Homo humanus vs. homo barbarus Der Humanismus kann als eine Anpassung der griechischen paideia an die römische Kultur unter dem Begriff der humanitas verstanden werden.1 Der homo humanus unterscheidet sich vom homo barbarus also durch die humanitas, wie sie von Gellius definiert wird: Qui verba Latina fecerunt quique iis probe usi sunt, «humanitatem» non id esse voluerunt, quod vulgus existimat, quodque a Graecis philanthropia dicitur et significat dexteritatem quandam benivolentiamque erga omnis homines promiscam; sed «humanitatem» appellaverunt id propemodum, quod Graeci paideia vocant; nos eruditionem institution-
1 Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge, S. 110: «Da nannte der Römer das, was er empfing, nicht griechische Bildung, sondern humanitas, allgemeine Menschenbildung.» https://doi.org/10.1515/9783110610376-002
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1 Topoi des Humanismus: von den Ursprüngen zur Renaissance
emque in bonas artes dicimus: quas qui sinceriter percipiunt appetuntque, ii sunt vel maxime humanissimi. Huius enim scientiae cura et disciplina ex universis animantibus uni homini data est; idcircoque «humanitas» appellata est.2
Die griechische paideia wird als ein Erkenntnis- und Tugendideal definiert, das durch die Ausbildung der areté erworben wird. Regierung und areté sind nicht voneinander zu trennen.3 Auf diese Weise geht der erste Humanismus von der von Platon postulierten Ungleichheit zwischen den durch ihr Wissen unterschiedenen Regierenden und Regierten aus.
1.1.1 Platon: das Ideal des Philosophenkönigs Wie Platon es Sokrates im Menon formulieren lässt, entspringt die Tugend der Erkenntnis, während das Laster aus dem Unwissen entsteht.4 Platon verdeutlicht, wie diese Tugend untrennbar mit der Erkenntnis des Guten verbunden ist.5 Wer im Höhlengleichnis die Idee des Guten geschaut hat, muss zurück in die Dunkelheit der Höhle kehren, um jene zu leiten, die unwissend sind.6 Platon hat auf diese Weise die Notwendigkeit zum Ausdruck gebracht, die Qualifiziertesten als Wächter des Staates auszuwählen, so dass die Regierung nur den Besten vorbehalten bleibt. Die für die platonische Philosophie zentrale Idee des Guten bestimmt dabei sowohl das private als auch das öffentliche Leben.7
2 Aulus Gellius: Noctes atticae, XIII, 16, S. 199. 3 Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, S. 23–37. 4 Platon: Menon oder Über die Tugend. Herausgegeben von Otto Apelt. Hamburg: Meiner Verlag 1998, 88b–e, S. 52–53. 5 Ebda., 78c–e, S. 33–34. 6 Platon: Der Staat. Herausgegeben von Otto Apelt. Hamburg: Meiner Verlag 1998, 517–520, S. 273–277. 7 In Platons Republik werden somit individuelle und politische Ethik miteinander vereint (Otfried Höffe: Zur Analogie von Individuum und Polis. In: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 69–94, hier S. 70), wodurch sich Seele und Polis gegenseitig beeinflussen (Norbert Blößner: Cicero gegen die Philosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 210). Die Gerechtigkeit der Seele ist dann leicht erkennbar, da sie sich in der Polis spiegelt (Julia Annas: Politics and Ethics in Platos Republic. In: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 144) und der ideale platonische Staat stellt somit eine erweiterte Projektion des tugendhaften Menschen dar (Alexander Demandt: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike. Köln–Weimar–Wien: Böhlau 1993, S. 76).
1.1 Homo humanus vs. homo barbarus
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So wie die Seele sich in drei Teile und der Staat in drei Körper teilt, gibt es für Platon auch drei verschiedene Arten von Menschen: den Philosophen, den Ehrgeizigen und den Eigennützigen. Jeder von ihnen hat eine der drei Arten von Vergnügen: Der Eigennützige stellt die Lust am Gewinn über die übrigen und verachtet Wissenschaft und Ehre, solange sie kein Mittel darstellen, um Geld zu beschaffen. Der Ehrgeizige sucht die Lust in der Anhäufung von Vermögen und verachtet das Studium der Wissenschaften, mit Ausnahme derer, die ihm zu Ruhm und Ehre verhelfen. Der Philosoph hingegen strebt nach Erkenntnis der Wahrheit, der er sich vollständig und ausschließlich widmet. Nach Platon ist jede Lust, die nicht der Weisheit verpflichtet ist, keine wahre Lust. So schwanken jene, die weder Weisheit noch Tugend kennen und sich stets den sinnlichen Lüsten hingeben, zwischen dem niederen und mittleren Bereich der Seele, ohne Zugang zu höheren Bereichen zu finden. So wie die Tiere sich ihren unmittelbaren Bedürfnissen hingeben, sind sie stets der Erde zugeneigt und von ihrem unstillbaren Verlangen beherrscht. Somit ist für Platon der Charakter des weisen Königs ein glücklicherer als der des Tyrannen, der Sklave seiner irdischen Lüste ist. Die Mehrheit hat eine falsche Idee von Glück, die der Tyrann vorantreibt, während allein der Weise in der Lage ist, die Menschen zum höchsten und wahren Gemeinwohl zu führen.8 Die Weisheit, durch die Erkenntnis und Tugend untrennbar vereint werden, ist durch Bildung zu erlangen. Sie begründet Platons Unterscheidung zwischen Regierenden und Regierten. Die Menschen, deren Leidenschaften über die Vernunft herrschen, die folglich die Wahrheit verkennen und nicht einmal sich selbst regieren können, sollen sich von einem Weisen führen lassen,9 der die Kardinaltugenden beherrscht: Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit, die alle von der Weisheit geleitet werden. Mit ihnen ist der Weise in der Lage, die Menschen zur Vervollkommnung ihrer Seele zu führen, so dass die Leidenschaften besänftigt werden und die Vernunft deren Ansprüche mäßigt. Zugleich erwirbt der Körper Stärke, Schönheit und Gesundheit. Die Weisheit oder Erkenntnis des Guten soll also das gemeinsame Ziel der Regierenden und Regierten in der idealen Republik sein, da sie das einzige Mittel ist, wahre Glückseligkeit zu erlangen.10
8 Platon: Der Staat, 581–592, S. 369–387. 9 Die platonischen Weisen, derer es in der idealen Republik nur wenige gibt, sind in der Realität kaum zu finden. Die Regierung der Weisen ist demnach in Politikos oder Nomoi als bloßes Ideal vertreten (Michael Erler: Platon. München: Beck 2006, S. 187). 10 In diesem Sinne ist die absolute Vorherrschaft der Idee des Guten in Platons idealer Republik zu verstehen (Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 159; Thomas Alexander Szlezák: Die Idee des Guten in Platons Politeia. Sankt Augustin: Academia Verlag 2003, S. 63).
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1 Topoi des Humanismus: von den Ursprüngen zur Renaissance
Für Platon ist es die Dialektik, die den Menschen zur Schau der Wahrheit in der Ideenwelt und somit zur Erkenntnis des höchsten Guts durch die Vernunft erhebt, während niemand, der dieses höchste Gut nicht seinem Wesen nach kennt, die Spitze des Staates oder eine öffentliche Machtposition erreichen sollte. Nur auf diese Weise ist es möglich, sich nicht von der Idee irreführen zu lassen, die die Menge von der Glückseligkeit hat.11 Jedoch sind nur einige Wenige fähig, die Dialektik zu erlernen. Die Auswahl der begabtesten Männer für die Regierung soll unter jenen erfolgen, die die erforderliche Veranlagung für Bildung und Wissenschaft besitzen.12 Da die Mehrheit geneigt ist, die Schwierigkeiten der abstrakten Wissenschaften eher zu meiden als die der Leibesübung, stellen die Auserwählten eine sehr kleine Gruppe dar. Die Dialektik ist nur für wenige wahre Talente gemacht,13 die einem ganzen Bildungsprogramm folgen sollen. Von frühster Jugend an widmen sie sich dem Studium der Arithmetik, Geometrie und anderen Wissenschaften, die der Vorbereitung auf die Dialektik dienen, sowie außerdem den Waffen- und Leibesübungen. Es sollen diejenigen auserwählt werden, die die meiste Geduld in der Arbeit, den größten Mut im Angesicht der Gefahr und die größte Begeisterung beim Studium der Wissenschaften zeitigen. Erst, wenn sie das dreißigste Lebensjahr vollendet haben, dürfen sie sich der Dialektik widmen. Daraufhin wird erneut eine Auswahl von jenen getroffen, die ohne sinnlichen Beistand und durch die reine Kraft der Vernunft zur Erkenntnis des Seins gelangen. An dieser Stelle führt Platon mit Bezug auf die Sophisten an, es sei weiterhin notwendig, höchste Vorkehrungen zu treffen, da die Schüler in jungem Alter leicht durch jene beeinflussbar sind, die der Wahrheit aus reiner Lust am Vergnügen widersprechen, und letztendlich den Glauben an zuvor Gelerntes verlieren könnten. Der Philosoph soll also ein reifes Alter erreicht haben, ein weiser und besonnener Mann sein und eine Reihe von Prüfungen bestehen, um sich dem Studium der Dialektik widmen zu dürfen. Die Bildung eines Staatsmannes ist lang, bevor er sich weise nennen darf. Sobald er die Erkenntnis des Guten erreicht hat, soll er verschiedenen Arbeiten mit dem Ziel nachgehen, dass ihn niemand an Erfahrung übertreffen könne.
11 Platon: Der Staat, 590–592, S. 384–387. 12 Der ideale Staat entspricht demnach einer rationalen Ordnung der Wissenschaften (Robert Spaemann: Die Philosophenkönige. In: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 161–177, hier S. 161), wobei die wesentliche Disziplin die Dialektik ist (Harold Cherniss: Plato as a Mathematician. In: The Review of Metaphysics, 4/3 (1951), S. 395–425, hier S. 396). 13 Platon: Der Staat, 334–335, S. 300–301.
1.1 Homo humanus vs. homo barbarus
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Diejenigen, die all jene Prüfungen in einer Zeit von fünfzehn Jahren gemeistert haben und sich in den Wissenschaften sowie ihrer Ausübung hervorgetan haben; die die Idee des Guten geschaut haben und sich in sowohl staatlichen als auch persönlichen Belangen von ihr leiten lassen; die das Studium der Philosophie bewältigt haben und sie mit der Verantwortung der Staatsgewalt und Verwaltung von Geschäften, ohne ein anderes Ziel als dem Gemeinwohl, verbinden können, jene sind für Platon zu wahren Philosophen und somit zu vollkommenen Staatsmännern geworden. Die Schau des Guten ist jedoch nur für einige wenige Privilegierte erreichbar, während die Mehrheit, dem platonischen Gleichnis zufolge, in der Dunkelheit der Höhle und fern von der Ideenwelt verweilt. Obwohl diese intellektuelle Elite, die die Idee des Guten geschaut hat, die menschlichen Geschäfte geringschätzt und es anstrebt, in ihrer erhobenen Position zu verweilen, ist es nach Platon nicht zu dulden, dass sich die Männer von privilegierter Natur weigern, zu den unglücklichen Gefangenen hinabzusteigen. Wenngleich sie ein besseres Glück und ihr individuelles Privileg genießen könnten, erfordert das höchste Ziel des Staates, d.i. das Wohl aller und nicht nur einer bestimmten Gruppe, dass sie zurückkehren, um den Staat mit Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit zu führen. Der Weise soll also erneut in die Höhle hinabsteigen und seine Augen an ihre Finsternis gewöhnen. Dort kann er nun über das Schöne, das Gerechte und das Gute urteilen, da er ihr Wesen bereits in der Ideenwelt geschaut hat. Im platonischen Staat regieren die wahrhaft Reichen, die sich nicht eines Reichtums an Gold, sondern an Weisheit und Tugend rühmen. Würden in diesem Sinne arme Männer die Führung anstreben, erzeugten sie nichts als Kämpfe um die Usurpation der Staatsmacht, die jeden Staat zugrunde richteten. Nur der wahre Philosoph, der öffentliche Ämter verschmäht und seine Tätigkeit als Opfer für das Gemeinwohl betreibt, ist für eine gute Regierung geeignet.14 Wenn die Weisheit den vollkommenen Staatsmann ausmacht, erscheint es logisch, dass die Annäherung an Vollkommenheit der verschiedenen Staatsformen von der Weisheit abhängig ist. So ist die vollendete Staatsform jene, die der Weisheit am nächsten kommt, während die schlechteste am weitesten von ihr entfernt ist.15 Platon unterscheidet fünf Staatsformen (Aristokratie, Timokratie,
14 Ebda., 517–521, S. 273–279. 15 Platons Politeia wird somit als Modell eines idealen Staates dargestellt (Alexander Demandt: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, S. 84) und kann als utopisches Manifest seiner politischen Philosophie verstanden werden, das eher zur Reflexion als seiner tatsächlichen Realisierung einlädt (Michael Erler: Platon, S. 184). In diesem Sinne existieren die Herrscher des idealen Staates nicht in der Sinneswelt. Wer hier die Macht innehat, sollte
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1 Topoi des Humanismus: von den Ursprüngen zur Renaissance
Oligarchie, Demokratie und Tyrannis), denen er eine Hierarchie von der vollkommenen, der Aristokratie, bis zur verkommenen, der Tyrannis, zugrunde legt.16 Ausgehend von der Idee, dass eine Regierung nicht ewig währt, beschreibt er den Wandel von einer zur nächsten Staatsform, der stets einem Verfall als Resultat der zunehmenden Distanz zur Weisheit entspricht.17 So vollzieht sich zunächst der Wandel von der Aristokratie als Herrschaft der Besten zur Timokratie. Aufgrund von schlecht gewählten Ehen werden Söhne von schlechtem Charakter geboren. Ihre Väter ernennen die Besten unter ihnen zu ihrem Nachfolger, doch da sie ihres Amtes unwürdig sind, beginnen sie, sobald sie ihr neues Amt innehaben, ihre Vorgänger zu verachten, indem sie beispielsweise das Studium der Musik zugunsten der Leibesübungen verschmähen und so dem platonischen Erziehungsideal nicht mehr entsprechen. Auf diese Weise büßt die Bildung der Jugend bereits ihre Vollkommenheit ein. Eine solche Regierung bildet eine Zwischenform zwischen der Aristokratie und Oligarchie. Die Timokratie ist somit eine Staatsform, die aufgrund ihrer Nähe zur Aristokratie gute Aspekte beinhaltet, während sie gleichsam bereits schlechte Aspekte vereint, die sie in die Nähe der Oligarchie rücken, welche sich durch Unwissen, schlechte Erziehung und Laster auszeichnet. Die Staatsmänner der Timokratie haben mit denen der Oligarchie das Verlangen nach Reichtümern gemein und geben sich ihren Lüsten hin, während sie sich vor dem Gesetz verstecken, wie sich ein zügelloser Sohn vor seinem Vater versteckt. Der Wandel von der Oligarchie zur Demokratie wird wiederum durch das unstillbare Verlangen nach Reichtum in Gang gesetzt, der in der oligarchischen Regierung das höchste Gut darstellt. Während die Staatsmänner sich ausschließlich ihrer Bereicherung widmen, vernachlässigen sie die wahre Tugend. Der Schritt zur Demokratie vollzieht sich, sobald die Armen die Reichen überwältigen, sie köpfen oder verbannen, während die Ämter unter den Übrigen aufgeteilt werden. Eine solche Regierungsform verschmäht die Maximen eines idealen Staates, denen zufolge niemand tugendhaft sein kann, der nicht in besonderer Weise dazu begabt ist und ohne das Studium die wahre Bedeutung
demnach verschiedenen Kontrollinstanzen unterworfen werden, um eine willkürliche Machtausübung zu vermeiden. Aus diesem Grund sollte jenes Staatsmodell gewählt werden, das Platon als zweitbestes auszeichnet: den Gesetzesstaat (Francisco Leonardo Lisi: La clasificación de los Estados en la teoría política platónica. In: Memorias de Historia Antigua, X (1989), S. 23–43). 16 Platon: Der Staat, 544, S. 312–313. 17 Der Verfall des Staates geht demnach mit der Verderbnis der Seele einher (Robert Spaemann: Die Philosophenkönige, S. 161; Wolfgang Kersting: Platons Staat. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 76).
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des Schönen und Guten verkennt. Die Missachtung dieser Maximen findet jedoch ohne Berücksichtigung der Notwendigkeit einer alternativen Erziehung der neuen Vertreter öffentlicher Belange statt. Stattdessen werden sie aufgenommen und geehrt, solange sie nur geloben, den Interessen des Volkes zu dienen.18 Die Demokratie schließlich stellt für Platon eine Regierungsform dar, aus der die schlechteste unter ihnen hervorgeht: die Tyrannis. Der Wandel von der Demokratie zur Tyrannis vollzieht sich unter denselben Bedingungen wie der von der Oligarchie zur Demokratie. Das höchste Gut der Oligarchie, der Reichtum, ist gleichsam sein Ruin, da es die Verachtung der wahren Tugend impliziert. Der Zusammenbruch der Demokratie wird laut Platon ebenfalls durch ihr höchstes Gut bedingt: in diesem Fall durch ein Übermaß an Freiheit. In einem solchen Staat verspotten die Schüler ihre Meister, während die Jugend versucht, sich den Alten gleichzustellen. Die Tyrannis findet ihren Ursprung also in einer Regierung durch das Volk. Um seine Macht zu sichern, ist der Tyrann darum bemüht, die Sorgen seiner durch die vom Krieg geforderten Steuern verarmten Bürger auf ihre alltäglichen Bedürfnisse zu beschränken, damit sie nicht in der Lage sind, gegen ihn aufzubegehren. Somit zeichnet sich der Tyrann dadurch aus, stets einen Kriegsplan zu hegen. Er muss sehr scharfsinnig sein, um jene erkennen zu können, die Mut, eine reiche Seele, Stolz oder Reichtum besitzen, und sie aus dem Staat zu verbannen. Dadurch steht sein Handeln im Gegensatz zu dem der Ärzte, die den Körper reinigen, indem sie ihn von Schlechtem befreien, sodass nur das Gute übrig bleibt. Aus diesem Grund ist diese Staatsform das Gegenteil der besten. Wie Platon im Gorgias ausführt, ist die beste die Form derer, die die Regierung wie Ärzte führen, d.h. wie Philosophen, die ihre Bürger stets zum Guten führen wollen. Letztere hingegen, die Tyrannis, vernichtet die besten Bürger, ist Sklavin der Leidenschaften des Volkes und widmet sich ausschließlich der Rhetorik anstelle der Weisheit. Nach Platon ist der Charakter des Tyrannen höchst bedauernswert, da er dazu verpflichtet ist, die besten Bürger zu vernichten und die schlechtesten zu seinen Freunden und Vertrauten zu machen. Solche neuen Bürger bewundern ihn und leben mit ihm in höchster Vertrautheit, während ihn die guten Männer verabscheuen und vor ihm fliehen. Die Natur, die Erziehung oder beides zugleich machen den Tyrannen zu einem Mann, der der Gewalt seiner Leidenschaften, die seine Seele beherrschen, den Lüsten jeglicher Art, den Festen und Spielen ausgeliefert ist. Letztendlich ist er Sklave seiner Leidenschaften. Des-
18 Platon: Der Staat, 546–556, S. 314–332.
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halb tyrannisiert er nicht nur die anderen, sondern ebenso sich selbst.19 Aus all diesen Gründen stellt er den deutlichen Gegensatz zum gerechten und tugendhaften Mann dar; seine Regierung bedeutet Verderben.
1.1.2 Aristoteles: Klugheit und Weisheit Aristoteles’ Kritik an der platonischen Ideenlehre zeigt sich insbesondere an der praktischen Orientierung seiner politischen Theorie.20 Während Platon Weisheit und Macht untrennbar miteinander verbunden sieht, versteht sie Aristoteles als voneinander unabhängige Kategorien. Im Gegensatz zu Platon macht er nicht drei, sondern zwei Seelenteile aus: den vernunftbegabten und den vernunftlosen. Der vernunftbegabte Seelenteil besteht wiederum aus einem theoriebezogenen und einem praxisbezogenen Teil. Während sich der erste auf unveränderliche Seinsformen bezieht, ist der zweite Teil auf kontingente Objekte gerichtet. Während der wissenschaftliche Teil regiert, gehorcht der praktische. Gemäß dieser Unterteilung begründet Aristoteles eine Unterscheidung zwischen Weisheit und Klugheit.21 So zeichnet sich der kluge Mann dadurch aus, richtig über Gut und Schlecht urteilen zu können. Da er nicht über Unveränderliches, sondern über Kontingentes nachdenkt, gehört die Tugend der Klugheit zum praktischen Seelenteil. Sie kann somit weder als Wissenschaft begriffen werden, deren Gegenstand sich durch seine Unveränderlichkeit auszeichnet, noch als – auf Produktion gerichtete – Kunst, da die gute Handlung im Gegensatz zur Kunst ein Zweck an sich ist. Die Klugheit stellt also eine Seinsart der Vernunft dar, wenngleich sie praktisch hinsichtlich dessen ist, was gut oder schlecht für den Menschen ist. Somit erweist sie sich als wünschenswerte Eigenschaft eines Verwalters oder Politikers.22 Die
19 Ebda., 563–580, S. 340–368. 20 Kraut merkt an, dass die Aufgabe, die Aristoteles im VII. und VIII. Buch seiner Politik durchführt, die Darstellung des bestmöglichen Staates ist. Demnach träume er nicht von einem unrealisierbaren Staat, sondern beschränkt sich darauf, zu beschreiben, was tatsächlich erreicht werden kann. Selbst, wenn es in der Gegenwart nicht umsetzbar ist, kann eine Änderung der Umstände eine Annäherung an das Ideal ermöglichen. Die Politik darf demnach als Leitfaden für eine Reform verstanden werden, die der Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation entspringt. Aristoteles steht in diesem Sinne und was das utopische Denken anbelangt in der Tradition Platons (Richard Kraut: Aristotle. Political Philosophy. New York: Oxford University Press 2002, S. 192–194). 21 Aristoteles: Eudemische Ethik. Herausgegeben von Franz Dirlmeier. Darmstadt: Akademie Verlag 1984, 1219b, S. 20. 22 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Herausgegeben von Günther Bien. Hamburg: Meiner Verlag 1985, 1140a–b, S. 135.
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Weisheit hingegen wird von Aristoteles als die exakteste aller Wissensformen aufgefasst, die, im Gegensatz zur Klugheit, sichere und unveränderbare Erkenntnis bringt. Obwohl sie eine notwendige Bedingung für die Klugheit darstellt, begleitet sie diese nur, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein. Aus diesen beiden Definitionen geht ebenfalls hervor, dass theoretische Wissenschaft und Politik für Aristoteles nicht dasselbe sind. Dies wird bereits daran deutlich, dass Anaxagoras oder Thales weise, jedoch nicht klug genannt werden, da sie große, bewundernswerte, schwierige und sogar göttliche, jedoch unnütze Dinge wissen, indem sie nicht das Gute für den Menschen suchen. Aus diesem Grund braucht eine gute Regierung keine weisen, sondern kluge Männer, die sich den menschlichen Belangen widmen und mit Beratung für die Erlangung von praktischen Gütern,23 d.h. das Beste für den Menschen, zur Seite stehen. So kann sich ein Mann ohne Weisheit, jedoch ausgezeichnet durch seine Erfahrung oder Klugheit, in praktischen Belangen als geschickter erweisen.24 Darüber hinaus ist die Klugheit nicht von moralischer Tugend zu trennen. Die Tugend wacht darüber, dass das gesetzte Ziel dem Gemeinwohl dient, während die Klugheit die Mittel bereitstellt, um dieses Ziel zu erreichen.25 In der Klugheit kommen also die dianoetischen Tugenden, die dem vernunftbegabten Seelenteil angehören, und die ethischen, die aus dem vernunftlosen Seelenteil hervorgehen und durch den klugen Menschen rationalisiert werden, zusammen. Letztere gehen aus der Mitte zwischen zwei Gegensätzen hervor: Die Tugend der Entschlossenheit ist beispielsweise zwischen Tollkühnheit und Feigheit anzusiedeln, die Freundlichkeit zwischen Schmeichelei und Grobheit, die Mäßigung zwischen Maßlosigkeit und Stumpfsinn. Wie vor ihm Platon, vertritt Aristoteles die These, dass Tugend durch Erziehung erworben wird. Durch die Tugend verwandelt der Mensch seine Vorstellung von Lust als Befriedigung von individuellen Leidenschaften in eine Lust, die aus guten Handlungen und einem gemäßigten Leben hervorgeht. Darüber hinaus sind Gesetze notwendig, da viele Menschen eher ihren Bedürfnissen als der Vernunft gehorchen. Wie Platon stützt sich Aristoteles auf einen Tugendbegriff, der dem der Sophisten kritisch gegenübersteht, die Politik zu lehren vorgeben, während sie eigentlich Rhetorik lehren.26
23 Der aristotelischen Klugheit liegt also eine praktische Vernunft von eudaimonischem und nicht instrumentellem Charakter zugrunde, der in der Unterscheidung deutlich wird, die Aristoteles zwischen phronesis und deinotes vornimmt (Ottfried Höffe: Aristoteles, S. 204–205). 24 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1141b–1143b, S. 138–145. 25 Ebda., 1144a, S. 147–148. 26 Aristoteles: Eudemische Ethik, 1214a–1228a, S. 5–44.
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Trotz der hohen Bedeutung der Klugheit in seiner politischen Philosophie, ordnet Aristoteles die Klugheit der Weisheit unter, da sich die Klugheit nach den Anordnungen der Weisheit richtet. So erteilt die Klugheit Befehle, die sie von der Weisheit erhält, jedoch nicht umgekehrt.27 Darüber hinaus ist die Klugheit keine exklusive Eigenschaft des Menschen, sondern ebenso bei Tieren zu finden, die der Voraussicht fähig sind. Die Weisheit hingegen ist ausschließlich dem Menschen vorbehalten.28 Schließlich führt sie eher zur Glückseligkeit als die Klugheit.29 Alles teilt sich in Krieg und Frieden, in Arbeit und Muße, doch letztere stellen das Ziel der ersten dar, die gleichsam Mittel zur Erlangung der Glückseligkeit sind. Um diese zu erreichen, ist eine richtige Ausübung der Muße, die der Philosophie zu widmen ist, unabdingbar.30 Sowohl für Aristoteles als auch für Platon besitzt sie die Fähigkeit, die nobelste und höchste Lust hervorzubringen: die der Erkenntnis.
1.1.3 Von Griechenland zum römischen Imperium Ciceros Definition einer guten Regierung steht in griechischer Tradition, indem er sie durch Klugheit, Gerechtigkeit, Stärke, Besonnenheit, Freundlichkeit und Sittsamkeit charakterisiert.31 Darüber hinaus sind die Unterordnung des Willens unter die Vernunft, die Vorherrschaft des Gemeinwohls vor dem Eigennutz sowie die Abwesenheit von Ehrgeiz und Ruhmsucht Merkmale einer guten Regierung, die das griechische Erbe in Ciceros Werken auszeichnen.32 Nach Cicero sind die Menschen nicht gleich und sie als solche zu betrachten wäre ungerecht.33 Nur demjenigen, der aufrichtig für das Wohl der Schwachen sorgen kann, wird Gehorsam zuteil.34 Nur jene mit einer Begabung, zum Gemeinwohl beizutragen, sollen Anspruch auf die besten Ämter der Republik haben, um die
27 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1145a, S. 149. 28 Ebda., 1141a, S. 137. 29 Ebda., 1144a, S. 146. 30 Aristoteles: Politik. Übersetzt von Eugen Rolfes. Hamburg: Meiner Verlag 1995, 1334a, S. 271–272. 31 Cicero: De officiis. Madrid: Austral 1980, S. 79–86. 32 Ebda., S. 92–109. 33 Ebda., S. 79. 34 Auf diesen Aspekt kommt Cicero zurück, wenn er die Abscheu und das Misstrauen des Volkes gegenüber der Philosophie beschreibt. Demnach findet jede Kritik an der Philosophie die Unterstützung des Volkes, weshalb sie der Philosoph dezidiert meidet. (Cicero: Hortensius. Düsseldorf–Zürich: Artemis & Winkler 1997, S. 10).
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Mehrheit richtig führen zu können.35 Keine Herrschaft stößt auf mehr Ablehnung, als die der Reichen,36 denn weder Reichtum noch Abstammung, sondern Klugheit und Tugend sind der Macht in einer guten Regierung würdig.37 Vor diesem Hintergrund darf auch der Weise das Staatswissen nicht verachten.38 Beispielhaft für das Ideal einer guten Regierung, die Klugheit und Tugend vereint,39 ist der Imperator Mark Aurel, auch «der Weise» genannt, der seine Staatspflicht in stoischer Tradition ausübt. So soll das menschliche Leben, durch die Prinzipien der Vernunft und Tugend geleitet, zu Ataraxie führen, die nur durch Weisheit zu erlangen ist. Politik und Weisheit werden bei Mark Aurel also in einem Staatsbegriff vereint, der Wahrheit und Recht verteidigt, Gesetze bildet, die die Freiheit der Bürger schützen, und der Philosophie huldigt.40 Dabei stellt die Philosophie die einzig sichere Führung des Menschen und der Republik dar.41 Im biographischen Genre nehmen die weisen Regierenden einen bedeutenden Platz ein. Beispielsweise stellt Diogenes Laertios den Weisen in Leben und Meinungen berühmter Philosophen über den Politiker, da ersterer sich an einem höheren Ziel orientiert als letzterer: an einer reichen Seele und somit der wahren Glückseligkeit. Aus dieser Perspektive stellt er den Dialog zwischen dem Stoiker Zenon von Kition und dem König Antigonos dar, in dem der König erkennt, dass er den Philosophen zwar in Ruhm und Vermögen übertrifft, ihm jedoch intellektuell sowie hinsichtlich der Erlangung von Glückseligkeit unterlegen ist. So ruft er den Philosophen zu sich, damit er nicht nur ihn unterweise, sondern auch das gesamte mazedonische Volk. Denn wer dem Regierenden den Weg der Tugend weist, der führt ebenso seine Untertanen.42 In diesem Sinne widmet sich die philosophische Arbeit laut Seneca nicht der Machtausübung, sondern einem richtigen Tugendbegriff der Regierenden.43 Ebenso zeichnet für Zenon das Streben nach wahrer Bildung auf der Grundlage der Phi-
35 Cicero: De officiis, S. 77–78. 36 Cicero: De re publica. Vom Gemeinwesen. Stuttgart: Reclam 2009, S. 79. 37 Ebda., S. 107. 38 Ebda., S. 99. 39 Trotz des Einflusses der Politeia auf De re publica (Alexander Demandt: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, S. 237–244) zeigt die Bestätigung der Überlegenheit des Staatsmannes über den Philosophen (Norbert Blößner: Cicero gegen die Philosophie, S. 202–258), dass Cicero eine wesentliche Umkehrung der Hierarchie zwischen vita activa und vita contemplativa hinsichtlich des platonischen Modells vornimmt. 40 Mark Aurel: Ad se ipsum. Leipzig: Teubner 1987, S. 4. 41 Ebda., S. 24. 42 Diogenes Laertius: De clarorum philosophorum vitis, S. 160. 43 Seneca: Epistulæ morales ad Lucilium. Liber II. Stuttgart: Reclam 2006, S. 20.
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losophie, im Gegensatz zu gemeiner Bildung auf der Grundlage von moralischem Verfall, den unverwechselbaren Charakter eines edlen Mannes aus, der nicht einfach naturgegeben ist, sondern ebenso durch philosophische Schulung gebildet wird, die ihn zur Erlangung der vollkommenen Tugend führt.44 Auch in Suetonius’ Bewertung der römischen Imperatoren in Leben der Caesaren nimmt die Weisheit eine vorrangige Stellung ein. So wird Augustus für sein Studium der Freien Künste gelobt, das er seit seiner Kindheit mit viel Aufwand und Begeisterung betreibt. Sogar während des Krieges liest er, schreibt und hält Reden. In seinem Prosawerk tritt die Schrift Ermahnungen zur Philosophie besonders hervor. Die Lektüre der weisen Griechen und Römer charakterisiert seinen Regierungsstil. In ihnen findet er nützliche Maximen und Beispiele für den Staat oder das Individuum. So sendet er laut Suetonius viele vervielfältigte Passagen an Verwandte, Heeresführer oder Beamte der Stadt, je nach gewünschtem oder notwendigem Rat.45 Folglich begünstigt er auf jede erdenkliche Weise die Intellektuellen seiner Epoche. Mit mehr Hingabe noch widmet sich Tiberius den Freien Künsten und schreibt Poesie nach dem Vorbild griechischer Dichter wie Euphorion, Rhianus und Parthenius. Seine Bewunderung für diese Dichter förderte die Freien Künste, da sie Anstoß für viele Studien über diese Dichter gab. Gleichzeitig umgibt er sich gern mit Grammatikern.46 Caligula hingegen wird für seine fehlende Ausbildung in den Freien Künsten kritisiert. Der Gelehrsamkeit widmet er geringe Aufmerksamkeit, zugunsten der Redekunst, wobei er von besonderer Gewandtheit im Umgang mit Worten und Begabung in der Improvisation zeugt, vor allem in der Streitrede.47 Auf diese Weise repräsentiert Caligula eine negative Form der rhetorischen Fähigkeit, ohne Wissen, Wahrheit oder Tugend. Claudius hingegen bekräftigt die Überlegenheit der griechischen Studien, weshalb es laut Suetonius nicht verwundert, dass er sogar vor Gericht homerische Verse zitiert.48 Bei Nero wird hervorgehoben, dass seine Mutter ihn mit der Warnung von der Philosophie fernhielt, sie sei schädlich für einen Herrscher.49 Als größenwahnsinniger50 und grausamer Imperator verübt er willkürliche Ver-
44 Diogenes Laertius: De clarorum philosophorum vitis, S. 161. 45 Suetonius: Vitae XII. Imperatorum. Herausgegeben von G. H. Lünemann. Hannover 1824, S. 73. 46 Ebda., S. 110–111. 47 Ebda., S. 136–137. 48 Ebda., S. 161. 49 Ebda., S. 189. 50 Von seinem Größenwahn zeugt beispielsweise sein Wunsch, Rom in «Neropolis» umzutaufen (Suetonius: Vitae XII. Imperatorum, S. 198–190).
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brechen, sogar gegen seinen eigenen Lehrer Seneca, den er auf ungerechte und niederträchtige Weise ermordet.51
1.1.4 Humanitas und divinitas Im Mittelalter wird die antike Verbindung von Wissen und Macht an den christlichen Kontext angepasst. Der Weise soll nach Augustinus die Wahrheit, «in divinis [. . .] nam virtus etiam in homine, sine dubitatione, divina est»52 suchen. Durch das Studium wird man weise und durch Weisheit wird man glücklich. Nicht, indem man sich von den Leidenschaften erweichen lässt, sondern mit ruhigem Gemüt soll man sich dem Studium seiner selbst und Gottes widmen, «ut et hic, quod beatum esse supra inter nos convenit, ratione perfruatur».53 Durch seine Weisheit fühlt der Mensch sich Gott also näher. Um sie zu erreichen, muss er sich ausschließlich ihr widmen und alles Irdische verschmähen. Die eigene Suche nach Wahrheit und nicht ihr Besitz charakterisiert den Weisen, denn das Wissen liegt bei Gott, während seine Suche dem Menschen zukommt.54 Abgesehen vom stoischen Gehalt in Augustinus’ Begriff der Weisheit,55 distanziert sich dieser ausdrücklich von Ciceros Skeptizismus, der von der Erkenntnis Christi entferne. Laut Augustinus soll man nicht glauben, dass die Wahrheit nicht durch die Philosophie erkannt werden könne, denn dies widerspräche Christus, der sagte: «Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden».56 Damit wendet er sich jenem zu, der zu Gott führe: Platon.57 Dieselben Disziplinen, die das Oberhaupt der platonischen Republik beherrschen soll, werden von Augustinus verteidigt, da sie zu sicherer Erkenntnis führen, während der Philosophie die höchste Stellung zukommt.58 Mit dem Eingang des antiken Wissens in die christliche Lehre findet also ein Paradigmenwechsel statt. Bei Platon kennt nur der Philosoph das höchste
51 Ebda., S. 180–181. 52 Augustinus: Contra Academicos. Madrid: Editorial Católica 1957, I, 8, 22, S. 104. 53 Ebda., I, 8, 23, S. 106. 54 Ebda., III, 3, 5, S. 160. 55 Kurt Flasch: Augustin. Stuttgart: Reclam 1994, S. 19. 56 Die Bibel. Übersetzt von Franz Eugen Schlachter nach dem hebräischen und griechischen Grundtext. Genf: Genfer Bibelgesellschaft 2016, Matthäus 7:7, S. 998; Augustinus: Contra Academicos, II, 3, 9, S. 122. 57 Augustinus: Contra Academicos, III, 20, 43, S. 220. 58 Augustinus: De civitate Dei. Madrid: Editorial Católica 1958, II, 14, 2, S. 156–157; Contra Academicos, III, 14, 30, S. 198.
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Gute und ist somit als Einziger für die Regierung geeignet. Augustinus setzt die höchste Wahrheit nun mit Gott gleich, wodurch diese Wahrheit nur noch dem Theologen zugänglich ist. Die Wissenschaft schlechthin ist demzufolge nicht mehr die Philosophie, sondern die Theologie, der sich erstere unterordnet, während der wahre Weise letztendlich nur sein kann, wer Gott kennt. Seine Erkenntnis der Wahrheit zeichnet ihn unter jenen aus, die nur weise erscheinen, es aber nicht sind, da sie nicht das Himmelreich Gottes suchen, sondern das der Menschen.59 Die Wissenschaft ist auch von Übel, wenn sie nicht Gottes Gebot der Demut befolgt, das durch Christus als Diener verkörpert wird. Wenn die Wissenschaft also nicht von der Demut begleitet ist, führt sie zu Hochmut, wodurch sie gegen Gottes Gesetz verstößt.60 Das Wohlergehen einer Republik hängt schließlich von ihren Weisen ab, wofür Augustinus das Beispiel Roms anführt: es sei zügellos durch Luxus und habe die schlechte Gewohnheit gehabt, Göttern zu huldigen, die sie ständig Kriegen aussetzten. Durch die Missachtung der christlichen Gebote sei die Republik gefallen,61 denn «si verus Deus colatur, eique sacris veracibus et bonis moribus serviatur, utile est ut boni longe lateque diu regnent».62 So gibt es für Augustinus keinen besseren Wächter des Staates als den weisen Christen,63 der die Wahrheit und mit ihr Gott liebt,64 denn von Gott selbst empfängt er für seine Gerechtigkeit Weisheit. Wie auch bei Platon und Aristoteles wird die Ungleichheit unter den Menschen weiterhin durch die Weisheit bestimmt. Diese Idee prägt gleichfalls die politische Philosophie des Thomas von Aquins, der folglich die Figur des weisen Christen als die geeignetste für die Regierung erachtet. Thomas von Aquin stützt seine Theorie auf Aristoteles‘ teleologischen Begriff der Wirklichkeit und seine Auffassung des Menschen als zoon politikon. Da die Menschen in einer Gesellschaft leben, bedürfen sie eines Herrschers, der sie zum richtigen Ziel führen kann. Ein einzelner Mensch braucht die anderen und kann nicht alleine zurechtkommen. Aus diesem Grund muss er seine Gesellschaft nach dem Merkmal, das ihn von den Tieren unterscheidet, organisieren:
59 Augustinus: Contra Academicos, I, 8, 22, S. 104. 60 Augustinus: De civitate Dei, IX, 20, 24, S. 619. 61 Ebda., II, 19, 31, S. 166–167. 62 Ebda., IV, 3, 2, S. 273. 63 Augustinus’ Konzept der Weisheit beinhaltet zwar grundsätzlich die Vereinigung von Theorie und Praxis, doch die Erkenntnis soll letztendlich Ziel und Zweck des Lebens darstellen (Christoph Horn: Augustinus. München: Beck, 2014, S. 45). 64 Augustinus: De Civitate Dei, VIII, 1, 1, S. 515.
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der Vernunft. So soll ein jeder die Funktion in der Gesellschaft einnehmen, zu der ihn seine Vernunft befähigt.65 Die Gesellschaft wird also gut regiert, wenn sie zu dem Ziel geführt wird, das für sie am besten ist, indem eine gerechte und am Gemeinwohl orientierte Regierung in Form einer Monarchie errichtet wird. Tyrannis, Oligarchie oder Demokratie sind demnach allesamt ungerecht.66 Die Begründung der Monarchie als vollkommene Regierungsform stützt sich laut Thomas von Aquin nicht nur auf Aristoteles, sondern auch auf die Autorität der Bibel. Denn im Buch Hesekiels liest man: «Mein Knecht David soll ihr König sein, und sie sollen alle einen einzigen Hirten haben».67 Die christliche Weisheit ist das Unterscheidungsmerkmal des guten Königs im Vergleich zum Tyrannen. Nur durch sie kann der gute Monarch die Menschen zu ihrem Ziel führen. Der Tyrann hingegen wird durch das Fehlen von Tugend und einer vernunftgeleiteten Regierung charakterisiert und bringt das Verschwinden der guten Untertanen mit sich. Wenn der Tyrann seine gesamte Würde verliert und mithin «sich in nichts von einem wilden Tier»68 unterscheidet, nimmt Gott ihm seine Macht. Einen Beweis findet Thomas von Aquin in dem Beispiel des babylonischen Königs Nebukadnezar. Im Buch der Weisheit wird gezeigt, wie Gott den Thron der übermütigen Herrscher zerstört und der Milde den Vorzug gibt.69 Der gute König soll dementsprechend Ruhm und andere temporäre Güter verachten, denn wer den Ruhm sucht, muss allen anderen gefallen und wird so zu ihrem Sklaven.70 Stattdessen soll er nach dem Ruhm Gottes streben, denn so erlangt er – wie im Falle Salomons, Paradigma des weisen Königs – auch den Ruhm der Menschen, selbst wenn er nicht danach verlangt.71 Wenn der König also, ebenso wie Salomon, Gerechtigkeit sucht, wird Gott ihm große Reichtümer verleihen.72 Vor diesem Hintergrund muss der gute König die Glückseligkeit der Menschen anstreben, in dem Bewusstsein, dass es nichts Irdisches gibt, was sie wahrhaft glücklich machen kann, denn diese Glückseligkeit liegt nur in Gott:
65 Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten. Übersetzt von Friedrich Schreyvogl. Stuttgart: Reclam 1994, S. 5–7. 66 Ebda., S. 8–9. 67 Bibel: Hesekiel, 37:24, S. 895; Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, S. 9. 68 Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, S. 17. 69 Ebda., S. 26. 70 Ebda., S. 28–29. 71 Ebda., S. 35. 72 Ebda., S. 44–45.
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Denn, so sagt Augustinus, nicht deshalb nennen wir christliche Fürsten glücklich, weil sie länger regiert haben oder weil sie nach einem sanften Tod ihren Sohn als Herrscher zurückließen, weil sie die Feinde des Staates bezwungen haben oder imstande waren, sich vor dem Aufruhr der Bürger zu hüten oder ihrer Herr zu werden. Sondern dann nennen wir sie glücklich, wenn sie gerecht regieren, wenn sie lieber ihre Leidenschaften als irgendwelche Völker beherrschen wollen, wenn sie alles nicht entbrannt für eitlen Ruhm, sondern aus Liebe zur wahren und ewigen Seligkeit tun. Solche christlichen Fürsten nennen wir glücklich, zunächst um dessentwillen, was sie zu hoffen haben, später aber wirklich sein werden, wenn das gekommen sein wird, was wir erwarten.73
Während die Weisheit ihren Ursprung in Gott findet, geht die Torheit mit allem Irdischen und fehlender Spiritualität einher. Deshalb urteilt der Weise differenziert, während der Tor nur über abgestumpftes Urteilsvermögen verfügt.74 Für Thomas von Aquin ist der Weise, der Gott und folglich die Wahrheit erkennt, fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und somit das Beste für sich und die anderen zu wählen. Die göttliche Wissenschaft besitzt auf diese Weise einen höheren Rang als die Ethik oder Politik, die als praktische Wissenschaften Kontingentes studieren und demnach niemals zu sicheren Erkenntnissen gelangen können.75 Die Klugheit des Politikers, als Kombination von Vernunft und Tugend, wurzelt nur in praktischem Verständnis76 und ermöglicht die Unterscheidung zwischen richtig und falsch, was den Umständen entsprechend variiert. Der Weise hingegen besitzt die Erkenntnis Gottes und mit ihr das universale und stabile Prinzip, die absolute – nicht kontingente – Sicherheit, was gut für alle Lebenden ist. Darüber hinaus sind die Politik und Ethik als praktische Wissenschaften ihrem Nutzen unterworfen, während die göttliche Wissenschaft selbstgenügsam und unabhängig von ihrem Nutzen ist.77 Die Monarchie räumt demnach dem Spekulativen Vorrang ein, das «per extensionem» praktisch wird, indem es das Wahre und zugleich das Gute ist.78
73 Ebda., S. 33–34. 74 Thomas von Aquin: Summa theologiae. Roma: Editiones Paulinae 1962, Secunda Secundae, Qu. 45–46. 75 Sowohl Augustinus als auch Thomas von Aquin glauben, dass der höchste Grad des Wissens in der Erkenntnis Gottes liegt. Damit bleibt das Mittelalter dem griechischen Ideal der vita contemplativa treu (Otfried Höffe: Moral als Preis der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993, S. 65). 76 Thomas von Aquin: Summa theologiae, Secunda Secundae, Qu. 47. 77 Thomas von Aquin: Sententia Libri Ethicorum. Herausgegeben von Leonina. Roma: Sancta Sabina 1969, 1141a, 19–20, S. 352. 78 Jorge Martínez Barrera: La política en Aristóteles y Tomás de Aquino. In: Cuadernos de Anuario Filosófico, 122 (2001), S. 7–203, hier S. 86.
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Vor diesem Hintergrund und vorausgesetzt, dass die Klugheit die Erkenntnis des Guten für einen selbst und die Politik die des Guten der Anderen ist, gibt es drei Arten der Klugheit: die falsche, die die Mittel für ein schlechtes Ziel anbietet, die wahre, die die Mittel für ein gutes Ziel bereitstellt, und die vollkommene, die zum letzten Ziel der Menschheit führt und über die nur die Besten verfügen,79 d.h. die Weisen, die die göttliche Wissenschaft kennen. So ist derjenige, der über die vollkommene Klugheit verfügt, in der Lage, die Wahrheit zu lehren, und hat einen höheren Status als jene, die sie lernen. So wie der Architekt dem Maurer, der die Pläne und Anweisungen des ersten ausführt, überlegen ist oder der Scharfsinn des Generals im Krieg den höchsten Ruhm mit dem Mut des Soldaten erlangt, so wird dem guten König eine höhere Belohnung zuteil, als jedwedem Untertanen, der sich unter der Leitung des Königs richtig verhalten hat.80 Laut Thomas von Aquin ist der gute König Gott näher als jeder seiner Untertanen. Indem er ihn nachahmt, tut er dasselbe in seinem Königreich wie Gott in der Welt,81 was die Unterscheidung zwischen Regierendem und Regierten rechtfertigt.82 Die erste Klugheit ist demnach gesetzgebend, während die zweite politisch ist. Da die Glückseligkeit des Menschen nicht weltlich sein kann, steht der Geistliche als der einzige, der zu ihr führen kann, über dem König. In diesem Sinne ist, wer für das letzte Ziel sorgt, jenem an Bedeutung überlegen, der über die Mittel und untergeordneten Elemente für dieses Ziel wacht: über die Reichtümer, Erträge, Gesundheit, Gelehrtheit, etc. Deshalb soll sich der König der Regierung der Priester unterwerfen, dessen Aufgabe höher steht als die menschlichen Aufgaben.83 Thomas von Aquin betont, dass die Regierung von jenem verwirklicht werden soll, der die Gesellschaft zum besten Ziel führt. Wäre dieses Ziel das des Körpers, so sollte es von einem Arzt verwirklicht werden, wäre es der Überfluss an Reichtum, so sollte der Verwalter regieren. Das letzte Ziel der Gesellschaft ist es jedoch, in der Tradition von Aristoteles’ Politik, tugendhaft zu leben, da nur ein tugendhaftes Leben zu göttlicher Anschauung und wahrer Glückseligkeit führt.84 Eine solche Regierung ist gleichwohl nur unter der Herrschaft Christi möglich, die die Menschen zum Himmelreich führt, sowie unter der Herrschaft der Kirche, die ihm folgt:
79 Thomas von Aquin: Summa theologiae, Secunda Secundae, Qu. 47., A. 13. 80 Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, S. 36–37. 81 Ebda., S. 37–38. 82 Thomas von Aquin: Summa theologiae, Secunda Secundae, Qu. 47., A. 12. 83 Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, S. 57. 84 Ebda., S. 54–55.
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Das Amt dieses Königtums ist, damit das Reich des Geistes vom Irdischen geschieden sei, nicht den Königen der Erde, sondern den Priestern überantwortet worden und vor allem dem höchsten Priester, dem Nachfolger Petri, dem irdischen Stellvertreter Christi, dem Papst zu Rom, dem alle Könige des christlichen Volkes untergeben sein müssen wie Jesus Christus dem Herrn. Denn so müssen dem, der das letzte Ziel zu besorgen hat, alle diejenigen unterworfen sein, denen die Sorge um die Vorteile obliegt, und sie müssen sich durch sein Gebot lenken lassen.85
Unter Berufung auf Valerius Maximus betont Thomas von Aquin, dass alles der Religion untergeordnet werden soll – sogar die Macht des Königs, der sich einer höheren Instanz von göttlichem Charakter unterwerfen soll. Da das letzte Ziel die himmlische Glückseligkeit ist, kann nur der Priester diese Führung übernehmen, da er das göttliche Gesetz kennt.86 Der gute König wiederum soll alle erreichbaren Mittel zur Erlangung der letzten Glückseligkeit beschaffen, indem er dafür sorgt, dass die Gesellschaft ehrenhaft lebt und sie so erreichen kann. Durch das göttliche Gesetz angeleitet, soll er all seine Kraft auf die Frage konzentrieren, wie die Menschen unter seiner Führung tugendhaft leben können. Dafür soll der gute König jegliches überflüssiges Vergnügen meiden, das von der richtigen Mitte entfernt, in der Aristoteles die Tugend ansiedelte. Die Lüste machen die Menschen faul und schwach, indem sie die Pflichten ihrer Geschäfte vernachlässigen, bis sie sich in Sklaven ihres eigenen Verlangens verwandeln.87 Alfons X. repräsentiert die Einheit des christlichen Wissens und der Macht im Mittelalter.88 Für den spanischen Monarchen, wie auch für Thomas von Aquin, stammt die Weisheit von Gott; die Nachkommenschaft von Set erbt sie von ihrem Vater und dieser wiederum von Adam, der sie in der Form weitergibt, in der er sie von Gott erhalten hat. Auf diese Weise «hallaron el saber del cielo y de las estrellas y de los siete saberes liberales y de la física, que enseña la naturaleza de las cosas y de la metafísica, la ciencia de Dios.»89 Der Weg des Monarchen zum Wissen ist somit auf die Erkenntnis Gottes gerichtet. Wissenschaft und Kultur, die der König in höchster Form vereinen soll, erleben während seiner Regentschaft einen außerordentlichen Aufschwung. Diese Idee formuliert der weise König in der General Estoria anhand der wiederholten Kennzeichnung der Monarchen (und seiner selbst) durch ein herausra85 Ebda., S. 55. 86 Ebda., S. 56–58. 87 Ebda., S. 70–71. 88 Vgl. hierzu Francisco Rico: Alfonso el Sabio y la General Estoria. Barcelona: Ariel 1984, S. 139: «En la Edad Media hay pocas muestras de valoración positiva de la gloria intelectual tan elocuentes como la proclamación de Alfonso en la General Estoria.» 89 Alfonso X: General Estoria. Primera parte. Madrid: Biblioteca Castro 2009, S. 37–38.
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gendes Wissen.90 In diesem Sinne stellt er in der General Estoria das Wissen seiner Vorgänger zusammen, die die Mühe auf sich genommen haben, Ereignisse niederzuschreiben um deren Zeugnis zu bewahren: e fizieron d’esto muchos libros que son llamados estorias e gestas en que contaron de los fechos de Dios e de los profetas e de los santos, e otrossí de los reyes, e de los altos omnes e de las cavallerías e de los pueblos. E dixeron la verdat de todas las cosas, e non quisieron nada encobrir tan bien de los que fueron buenos como de los que fueron malos. E esto fizieron porque de los fechos de los buenos tomassen los omnes exemplo pora fazer bien e de los fechos de los malos que recibiesen castigo por se saber guardar de lo non fazer.91
König Salomon stellt ein Vorbild dar, dessen Weisheit – die Erkenntnis von und der Respekt vor Gottes Gesetz – ihn vierzig glückliche Jahre in seiner Regentschaft hält.92 Der ägyptische König Darcón hingegen, so beklagt sich Alfons X., hat sich in Zeiten des Friedens von den guten Sitten entfernt, die Belange des Königtums vernachlässigt und seinen Reichtum im Spiel verloren, indem er sich Geschichten der Eitelkeit hingegeben hat. Die gute Regierung wird mit der Vernunft des ersten Humanismus verbunden, wobei Wissen und christliche Tugend nicht voneinander zu trennen sind.93 Im Gegensatz zu Thomas von Aquin betraut Alfons X. die Figur des Monarchen mit der Funktion, sein Volk mit seiner Weisheit zu zwei Arten der Glückseligkeit zu führen: der irdischen und der göttlichen. In diesem Fall ist es also der Monarch, dem Gott die Regierung der irdischen Belange überlässt, indem die Ausübung seiner Macht der göttlichen nachkommen soll. Der höchste Priester soll den König ehren, empfangen und an seine Seite setzen. Der König seinerseits ehrt die Weisen und sucht ihre Nähe, wenngleich er seine Überlegenheit bekräftigt.94 Die Erkenntnis Gottes wird im Laufe der General Estoria bestätigt, wie auch die Weisheit, die jedem, der sich ihrer annimmt, das Himmelreich öffnet. Der Begriff des weisen Königs verweist abermals auf das platonische Schema des weisen Herrschers, jedoch angepasst an den Kontext und die Ethik des Christentums. Die aristotelische Unterscheidung zwischen dem Weisen und dem Klugen wird von Dante durch die Trennung der Mächte wiederaufgenommen. Er stellt
90 Francisco Rico: Alfonso el Sabio y la General Estoria, S. 133. 91 Alfonso X: General Estoria. Primera parte, S. 5. 92 Alfonso X: General Estoria. Segunda parte. Madrid: CSIC 1961, S. 396. 93 Alfonso X: General Estoria. Primera parte, S. 954. 94 Alfonso X: General Estoria. Segunda parte, S. 250.
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die Einheit von Kult und Politik in Frage. Diese Diskussion geht auf eine Passage der Genesis zurück, in der die Schöpfung der Sonne und des Mondes sowie ihre Interpretation als Symbole der spirituellen und der vergänglichen Macht beschrieben werden. So wie der Mond kein eigenes Licht ausstrahlt hat auch die vergängliche Macht keine Autorität, sofern sie sie nicht von der spirituellen Ordnung empfängt. Dagegen argumentiert der Autor der Divina Commedia, dass der Mond sich nicht der Sonne unterordnet. Sowohl die Sonne (der Papst) als auch der Mond (der Herrscher) sind Gottes Werk, so dass die Macht des Monarchen direkt von Gott und nicht vom Papst kommt.95 Der Herrscher muss sich also nicht dem Heiligen Vater unterwerfen.96 Obwohl der Mond sein Licht von der Sonne empfängt, ist seine Bewegung von ihr unabhängig.97 Ebenso empfängt die vergängliche Macht von der spirituellen nicht ihre Autorität, sondern ihre Gnade, die ihr hilft, erfolgreicher zu regieren.98 Das zweite der Argumente für die Unabhängigkeit der vergänglichen Macht bezieht sich auf eine Passage des Neuen Testaments, in der Jesus Petrus zeigt, dass «was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein; und was du auf Erden lösen wirst, das wird im Himmel gelöst sein.»99 Dabei wird argumentiert, dass der Nachfolger von Petrus durch die Erlaubnis Gottes auf der Erde alles fest- und losbinden und somit die Gesetze und Verordnungen des vergänglichen Reichs aufheben kann. Dante hält jedoch einerseits dagegen, dass das Oberhaupt der Kirche und die Erben Petri nicht die göttliche Autorität haben, sondern sie lediglich auf der Erde vertreten. Andererseits lehne Christus selbst die vergängliche Macht mit den Wor-
95 Laureano Robles Carcedo/Luis Frayle Delgado: Estudio preliminar. In: Dante: Monarquía. Madrid: Tecnos 1992, S. 11. 96 Dies ist eine Legitimation der königlichen Macht, die in der Divina Commedia wieder vorzufinden ist (Karlheinz Stierle: Petrarca-Studien. Heidelberg: Winter 2012, S. 272). 97 Fast alle Seiten von Monarchia zitieren auf direkte oder indirekte Weise Aristoteles’ Schriften, die Dante wahrscheinlich durch Thomas von Aquin zugänglich waren, ohne dass dies eine gedankliche Übereinstimmung zur Folge hat. Dante lehnt die Abhängigkeit des Herrschers von der Macht des Papstes ab (Gert Sørensen: The reception of the Political Aristotle in the Late Middle Ages (from Brunetto Latini to Dante Alighieri). Hypotheses and Suggestions. In: Marianne Pade (Hg.): Renaissance Readings of the Corpus Aristotelicum. Copenhagen: Museum Tusculanum Press 2001, S. 9–26, hier S. 20–24) und modifiziert das geläufige Bild von Sonne und Mond, das bis dahin die Unterwerfung der irdischen unter die spirituelle Macht bedeutete. 98 Alfonso X: General Estoria. Segunda parte, S. 91–95. 99 Bibel: Matthäus, 16:19, S. 1013.
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ten «Mein Reich ist nicht von dieser Welt»100 ab. Religiöse und vergängliche Macht sind, so schließt Dante, voneinander unabhängig. Dante zufolge gibt Gott den Menschen vor, zwei Ziele zu verfolgen. Das erste – die irdische Glückseligkeit – lässt sich durch das Studium der Philosophie erreichen, indem man gemäß den moralischen und Verstandestugenden handelt. Die zweite – die Glückseligkeit des ewigen Lebens – besteht in dem Genuss, Gott zu sehen und ist durch Gottes Gebote erreichbar, die die menschliche Vernunft übersteigen sowie durch ein Handeln gemäß den theologischen Tugenden: Glaube, Hoffnung, Nächstenliebe. Durch die Existenz dieser zwei verschiedenen Arten der Glückseligkeit braucht der Mensch auch zwei verschiedene Führungen: den Papst, der die Menschheit zum ewigen Leben gemäß der erkannten Wahrheit führt und den Herrscher, der die Menschheit zur vergänglichen Glückseligkeit führt.101 Während die göttliche Glückseligkeit im politischen Diskurs des Mittelalters der irdischen überlegen ist, konzentriert sich der humanistische Diskurs im Wesentlichen auf die zweite.
1.1.5 Der Weise, der König und die Erziehung des Volkes in der Renaissance Der Florentiner Humanismus führt zunächst die Allianz zwischen Wissen und Macht des ersten Humanismus weiter.102 Auch im Spanien und Frankreich der Renaissance übernimmt der Humanist politische Ämter oder gibt sein Wissen dem Fürsten im Tausch gegen seinen Schutz weiter. Dem Chronisten vom Hof Karls V., Antonio de Guevara zufolge können die Weisen den Fürsten durch ihre Schriften unsterblich machen: ¿Qué fuera del Magno Alejandro si no escribiera del Quinto Curcio? ¿Qué fuera de Ulises si no naciera Homero? ¿Qué fuera de Alcibíades si no lo engrandeciera Jenofonte? [. . .] ¿Qué fuera del gran Escipión Africano si no fuera por las Décadas de Tito Livio? ¿Qué fuera de Trajano si no le fuera tan buen amigo el famoso Plutarco?103
100 Bibel: Johannes, 18:36, S. 1129; Dante: Monarchia. Milano: Mondadori 2004, S. 127–155. 101 Dante: Monarchia, S. 158–159. 102 Eugenio Garin: La cultura filosofica del Rinascimento italiano. Firenze: Sansoni 1961, S. 18. 103 Antonio de Guevara: Relox de príncipes. Madrid: CONFRES 1994, S. 72.: Noch im 17. Jahrhundert erinnert Gracián daran, dass die Tinte Homers Achilles unsterblich machte, die Vergils Augustus, die Feder Giovios Gonzalo Fernández de Córdoba oder die Pedro Mateos Heinrich IV. von Frankreich (Baltasar Gracián: El Criticón. Barcelona: Galaxia Gutenberg 2001, S. 104).
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Die Weisen verlangen eine Gegenleistung von den Herrschern und Mäzenen, die Ehre und Ruhm durch ihre Schriften erlangen.104 Deshalb, so bemerkt Budé, kommt es der politischen Macht nicht zugute, die Kultur nicht zu unterstützen: Veoit on aujourdhuy souvent que par faulte de Mecenates, il n’est plus des Virgiles, ne de Horaces, aussi n’est de Tulles, de Quintilians par faulte d’entretenement et advancement en estats honorables et prouffitables des gens, qui ont consommé leur temps en l’imitation et émulation desdicts aucteurs de la langue romaine et latine: aussi Auguste estoit molt libéral mesmement aux gens, qu’il pensoit être vertueux et scavans.105
Die Bedeutung der Wissenschaft für den Staat hatte Budé bereits in seiner Schrift Commentaires de la Langue Grecque verteidigt. Demnach erhält der König die größte Belohnung für seine Großzügigkeit, wenn er in die Freien Künste investiert.106 Auf Budés Bitte hin gründet Franz I. 1530 das Collège de lecteurs royaux, Ursprung des heutigen Collège de France. Die humanistische Institution festigt das Studium der Freien Künste, die laut Budé unabdingbar für die gute Regierung sind. Durch die Schulung der Vernunft, die Lektüre und das Studium werden Weisheit und Tugend erreicht, die dem Menschen die geeigneten Regierungsformen für sich und die anderen eröffnen: tout ainsi que le corps amende et s’accroit par exercice tempéré à sa qualité, aussi l’âme et l’entendement de l’homme preignent accroissement, vigueur et soy augmente par lire escriptures, ou escouter et noter parolles qui tendent à vertu recommender, ou qui mostrent et enseignent sapience, toute la philosophie moralle, en laquelle tant de grands esprits ont esté jadis occupez pour donner ordre et forme de régime à l’homme, tant envers Dieu que envers soymesmes, que envers les prochaines et estrangiers, qui n’est aultre chose que investigation de remède, lumière de congnoissance et advertissements salutaires contre les ténèbres d’ignorance, d’abusion et elusion du monde, qui pervertissent l’ordre de les créatures et la raison.107
So ist es notwendig, dass alle Fürsten das Wissen sowohl der griechischen als auch römischen Autoren beherrschen, wenn sie ihr Königreich gut regieren und ihre Untertanen richtig führen wollen,108 und es sind die Humanisten, die
104 Guillaume Budé: Le livre de l’Institution du Prince. Frankfurt a. M. 1983, S. 82. 105 Ebda., S. 84. 106 Luigi-Alberto Sanchi: Les Commentaires de la Langue Grecque de Guillaume Budé. L’oeuvre, ses sources, sa preparation. Genève: Droz 2006, S. 37. 107 Guillaume Budé: Le livre de l’Institution du Prince, S. 11. 108 Ebda., S. 36.
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ihnen dieses Wissen näherbringen.109 Diesbezüglich sehen Budé und Montaigne gleichermaßen in Alexander dem Großen eine paradigmatische Figur.110 Laut Budé hatte der Herrscher Alexander dank der aristotelischen Anleitungen für Literatur und Philosophie unter seinem Kissen stets ein Schwert und die Ilias, die er aufgrund ihrer ermutigenden Wirkung als ein Lehrbuch für Kriegsführung betrachtete.111 Ebenso nimmt Boscán in seiner Übersetzung von Il cortigiano von Castiglione Bezug auf die aristotelischen Arbeiten zur Bildung des Herrschers in den Naturwissenschaften und Tugenden der Seele. Diese aristotelische Bildung soll den Monarchen nicht nur theoretisch zu einem Weisen und wahren Moralphilosophen machen, sondern ebenso in seinem praktischen Handeln,112 sodass sie ihn dazu bewegen, aus der ganzen Welt eine universale Heimat zu machen, in der alle Menschen als ein einziges Volk und unter einer Regierung in Freundschaft und Harmonie leben. Die Tugend ist also eine conditio sine qua non des politischen Handelns. Wenn das einzige Medium, die Tugend zu erreichen, die die Unterscheidung zwischen Gut und Böse durch Weisheit ermöglicht, das Studium ist, hängt die größte Hoffnung, einen guten König zu bekommen, von einer angemessenen Erziehung ab, die gewissenhafter als die geläufige ist. Die Humanisten der Renaissance raten also, bei der Wahl des Lehrers mit höchster Sorgfalt vorzugehen. Bei Erasmus leistet der Weise dem Staat die besten Dienste: «Omnia debet patria bono Principi. At hunc ipsum debet ei qui rectis rationibus talem effecerit».113 Sittenverfall ist der Hauptgrund für den Untergang von Fürsten und Staaten, während der tugendhafte Fürst einen robusten Staat gewährleistet.114 Suárez de Figueroa verdeutlicht in El pasajero, dass ohne Verdienste und das Studium alles dem Verderben geweiht ist. Denn so wie der weise König für die Unerschütterlichkeit und Beständigkeit des Reiches sorgt, kommt dem Staat nichts so sehr zugute wie der Dienst der Weisen, die theoretisches und praktisches Wissen vermitteln.115
109 Guillaume Budé: L’étude des lettres. Paris: Les Belles Lettres 1988, S. 138. Zum antiken Erbe bei Budé und Montaigne vgl. Gerald Sandy (Hg.): The classical heritage in France. Leiden–Boston–Köln: Brill 2002. 110 Michel de Montaigne: Des plus excellents hommes. In: Ders.: Essais. Band II. Paris: Imprimerie nationale 2003, S. 660–670, hier S. 662. 111 Guillaume Budé : Le livre de l’Institution du Prince, S. 71. 112 Juan Boscán (Üb.): Baltasar Castiglione. El cortesano. México: Universidad Nacional Autónoma de México 1997, S. 504. 113 Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 114–116. 114 Ebda., S. 340–342. 115 Cristóbal Suárez de Figueroa: El pasajero. Barcelona: Promociones y Publicaciones Universitarias 1988, S. 123.
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Die durch humanistische Bildung erlangte Weisheit bildet ein Unterscheidungsmerkmal des Fürsten gegenüber den anderen Menschen. Im Gegensatz zum gemeinen Volk ist er in der Lage, zwischen den wahren Übeln und dem wahren Wohl zu unterscheiden.116 Vives betont, dass eben darin die Weisheit und folglich auch die Tugend liegt: über jede Sache ihrem Wesen entsprechend richtig zu urteilen, ohne die schlechten für wertvoll noch die guten für schlecht zu halten sowie ohne die lobenswerten zu schmähen noch jene zu loben, die Tadel verdienen.117 Dies ist auch nach Montaigne das Unterscheidungsmerkmal unter den Menschen, und nicht die äußerlichen Auszeichnungen, die die Menschen nur dem Anschein nach unterscheiden.118 Auf diese Weise stellt der Humanismus den platonischen Gegensatz zwischen dem Weisen und einer unwissenden Mehrheit wieder her, die laut Erasmus in der platonischen Höhle festsitzt und die belanglosen Schatten der Dinge als Wirklichkeit bewundert. In derselben Tradition definiert Vives das gemeine Volk als den großen Meister des Irrtums.119 Pérez de Oliva lobt die Figur des Weisen mit derselben Vehemenz, mit der Juan de Pineda das Unwissen der großen Mehrheit verurteilt.120 Der gute Fürst muss sich durch sein Misstrauen gegenüber allem, was die Mehrheit gutheißt, hervortun, solange es nicht durch die Tugend geprüft wurde.121 Auch laut Bodin muss er herausragen, um nicht den Neigungen und Leidenschaften des törichten Volkes zu folgen.122 Letztlich kommt es dem Fürsten zugute, sich vom gemeinen Volk fern zu halten,123 um die Erkenntnis der wahren Tugend, vom Schein unverdorben, zu erlangen.
116 Erasmus: Institutio Principis Christiani, S. 130. 117 Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría. Madrid: Atlas 1944, S. 23. 118 Michel de Montaigne: De l’inéqualité qui est en nous. In: Ders.: Essais. Band I. Paris: Imprimerie nationale 2003, S. 415–428, hier S. 418–419. 119 Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría, S. 23. 120 Christoph Strosetzki: La literatura como profesión. En torno a la autoconcepción de la existencia erudita en el Siglo de Oro español. Kassel: Reichenberger 1997, S. 141. 121 Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría, S. 24. Montaigne verdeutlicht trotz allem in seinen Essais, dass die Weisen seiner Zeit nichts mehr mit jenen platonischen Weisen zu tun haben. Die platonischen Weisen wurden dafür beneidet, über dem gewöhnlichen Volk zu stehen, öffentliche Handlungen zu verachten und, von edlen Ideen geleitet, ein besonderes und unnachahmliches Leben zu führen. Die Weisen seiner Zeit hingegen haben niedere und schlechtere Tugenden als das gemeine Volk, weshalb sie unfähig für öffentliche Ämter sind (Michel de Montaigne: Du pédantisme. In: Ders.: Essais. Band I. Paris: Imprimerie Nationale 1998, S. 236–252, hier S. 238). 122 Jean Bodin: Les six livres de la République. Faksimileausgabe Paris 1583. Darmstadt: Scientia Aalen 1961, S. 662. 123 Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani, S. 120; Michel de Montaigne: De la solitude. In: Ders.: Essais. Band I. Paris: Imprimerie nationale 2003, S. 387–402, hier S. 387; Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría, S. 24.
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Jedoch muss der gute Fürst ebenso wie der Philosoph, der das Licht der Ideen geschaut hat, erneut in die Dunkelheit der platonischen Höhle hinabsteigen, um zu führen. Der Fürst soll das höchste Gut der Tugend nicht genießen, sondern dem Volk vermitteln. Denn auch das Volk kann nach Bodin durch die Kontemplation zur Erkenntnis von Gut und Böse, von wahr und falsch, von Frömmigkeit und Gottlosigkeit gelangen, und damit zur wahren Weisheit und dem höchsten Grad an Glückseligkeit.124 Mit dem Humanismus der Renaissance beginnt ein Prozess der Demokratisierung des Wissens, der mit der Aufklärung und der französischen Revolution zu seinem Höhepunkt kommen sollte. Neben der Erziehung des Fürsten wird die Erziehung der Jugend zu einer der wesentlichen Aufgaben der Republik. Der gute Fürst soll den Aufstieg all jener erleichtern, die sich im Staat besonders hervortun, ohne die Mittelmäßigen zu entmutigen.125 Nur auf diese Weise kann er alle Untertanen untereinander und mit sich vereinen und ist in der Lage, eine vollkommene und harmonische Republik zu errichten.126 Das platonische Bildungsprojekt kehrt somit in der Renaissance als Traum einer nicht nur – wie im Mittelalter – gläubigen, sondern gleichsam gebildeten Gesellschaft wieder.
1.2 Humanitas vs. feritas 1.2.1 Sokrates vs. Kallikles Im Gorgias stellt Platon die Regierung der Weisen jener Regierung der Starken gegenüber, indem die gegensätzlichen Positionen jeweils durch Sokrates und Kallikles repräsentiert werden. Letzterer stützt seine Argumentation auf das Naturgesetz, um die Ungerechtigkeit aufzuzeigen, dass der Starke weniger als der Schwache besitzt. Aus dieser Perspektive haben die Gesetze und Verträge unter den Menschen keine andere Funktion, als den Schwachen zu schützen, wodurch sie gegen die Gesetze der Natur verstoßen, in der Kallikles die wahre Ge-
124 Bodin: Les six livres de la République, S. 5. Auch das moralische Ideal der Essais von Montaigne ist nicht Intellektuellen und Philosophen vorbehalten, sondern dazu bestimmt, allgemein verständlich und dem gemeinen Bürger in Theorie und Praxis zugänglich zu sein (Biancamaria Fontana: Montaigne’s Politics. Authority and Governance in the Essais. Princeton: Princeton University Press 2008, S. 63). 125 Bruno Méniel: Le roi, fontaine de justice dans La république de Jean Bodin. In: Silvère Menegaldo/Bernard Ribémont (Hg.): Le roi fontaine de justice. Pouvoir justicier et pouvoir royal au Moyen Âge et à la Renaissance. Paris: Klincksieck 2012, S. 279–296, hier S. 296. 126 Bodin: Les six livres de la République, S. 847, 1059–1060.
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rechtigkeit ansiedelt. Dementsprechend stellt die Philosophie für den Sophisten127 bloße Unterhaltung dar und ist dem Erwachsenen somit nicht anzuraten, der seine Zeit besser einteilen und im praktischen Leben ausgebildet werden soll. Die Besten sind für Kallikles Experten in öffentlichen Belangen und einer guten Verwaltung der Regierung. Das Schöne und Gerechte liegt nicht in der Unterdrückung der Leidenschaften, da Glückseligkeit auf unmittelbarer Wunschbefriedigung beruht.128 Dass die meisten Menschen dieses Ziel nicht erreichen, ist demnach der Grund, warum sie jene verurteilen, die es erreichen, wodurch sie beschämt ihre eigene Machtlosigkeit verbergen. Das einzige Motiv, die Mäßigung oder Gerechtigkeit zu loben, ist aus dieser Sichtweise die Feigheit. Denn für einen Herrscher ist nichts beschämender als Enthaltsamkeit, da er eigentlich alle Güter des Lebens ungehindert genießen kann.129 Die Gegenargumentation durch Sokrates, der die Figur des starken Staatsmannes zugunsten der des Weisen ablehnt, beruht auf einer Unterscheidung zwischen dem Angenehmen und dem Guten. Während die Kochkunst beispielsweise die Lustbefriedigung des Körpers zum Zweck hat, verfolgt die Medizin das Ziel seines Wohlbefindens. Dieser Unterscheidung entsprechend können zwei mögliche Arten ausgemacht werden, für Körper und Seele zu sorgen: eine dienende, die dem Körper auf alle möglichen Weisen Nahrung beschafft, wenn er Hunger und Durst hat, oder Kleidung für Tag und Nacht, wenn er friert. Köche, Bäcker, Geschäftsleute, Weber oder Schuster sind bereit, diese Bedürfnisse des Körpers zu befriedigen. Diese Art der Sorge um das Angenehme missachtet jedoch, dass es über diese Künste hinaus andere gibt, denen die Sorge um den Körper tatsächlich zukommt, wie die Medizin und die Leibesübung. Diese erheben sich über alle anderen Künste, derer sie sich bedienen, da nur sie wissen, was schädlich und was gesund für den Körper ist, was den anderen Künsten hingegen entgeht. Aus diesem Grund sind der Handel oder die Kochkunst dienende Künste und die Medizin und Leibesübung ihnen hierarchisch überlegen. Denn während Erstere nur um Bedürfnisbefriedigung bemüht sind, kennen Letztere das Gute dessen, was sie beschaffen.130 127 Platon definiert den Sophisten im Dialog Sophistes als Jäger nach dem Lohn wohlhabender Jugendlicher. Im Gorgias sucht Platon u. a. herauszufinden, ob die Rhetorik sich ausschließlich auf die des Sophisten beschränkt oder ob sie auch als eine philosophische Methode erachtet werden kann, mit der Wahrheit statt mit dem bloßen Schein zu überzeugen (Silvia L.Tonti: La crítica del Gorgias a la retórica sofística y su relación con la primera definición de sofista en el diálogo homónimo. In: Synthesis, 6 (1999), S. 115–135, hier S. 115–117). 128 Damit repräsentiert Kallikles, im Gegensatz zu Sokrates, die Machtausübung abseits der Moral und Vernunft (Michael Erler: Platon, S. 176–177). 129 Platon: Gorgias, 492, S. 104–105. 130 Platon: Gorgias, 488–519, S. 98–152.
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Diese Unterscheidung zwischen dem Angenehmen und Guten führt zu zwei verschiedenen Arten der Regierung: die der Medizin und die der dienenden Künste. Erstere bekämpft die Neigungen des Volkes, um aus ihnen gute Bürger zu machen; letztere wird zur Dienerin der Leidenschaften des Volkes und ist nur darum bemüht, es zu erfreuen. Beide Regierungsformen erfordern die Pflege verschiedener Disziplinen: die erste die der Philosophie, da nur der Philosoph die wahre Tugend kennt und die Bürger zu einem tugendhaften Leben führen kann, die zweite die der Rhetorik, um öffentliche Belange zu verwalten, den Bürgern zu gefallen und das Eigeninteresse über das Gemeinwohl zu stellen.131
1.2.2 Der Humanismus vs. Machiavelli In der Renaissance findet sich die Gegenüberstellung des platonischen und sophistischen Ideals eines guten Herrschers aus dem Gorgias wieder. Während der Humanismus nämlich den weisen König verteidigt, präsentiert Machiavelli in seinem Principe132 ein politisches Modell, das sich auf einen listigen und starken Fürsten stützt. 131 Ebda., 521, S. 155. 132 Auch wenn sich vorliegende Arbeit ausschließlich mit dem Principe beschäftigt, da er sich wie kein anderer gegen Grundprinzipien des europäischen Humanismus stellt, soll nicht vergessen werden, dass Machiavelli nicht nur Autor des Principe, sondern auch der Discorsi ist. Die Frage, wie beide Werke denselben Autor haben können, ist noch nicht abschließend geklärt (Quentin Skinner: Machiavelli. Oxford: Oxford University Press 1981, S. 101; Claudia Hilb: El republicanismo de Maquiavelo. In: Tomás Várnagy (Hg.): Fortuna y Virtud en al República Democrática. Ensayos sobre Maquiavelo. Buenos Aires: Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales 2000, S. 127–147). Es gibt dazu im Wesentlichen zwei Positionen: auf der einen Seite die derer, die beide Werke als ein harmonisches Ganzes darstellen wollen, und auf der anderen Seite die jener, die den unterschiedlichen Charakter beider Werke nicht leugnen, ihn aber der intellektuellen Entwicklung des Autors zuschreiben. Ersterer Standpunkt zwingt zu einer positiven Neubewertung des Principe, etwa als verschleierte Kritik der Ausschreitungen der Borgia (vgl. Aufklärung) oder als Versuch der Einigung des Landes und der Abwehr von ausländischen Invasionen (vgl. Romantik). Im 20. Jahrhundert schließlich werden diese Deutungen weitgehend verworfen. Stattdessen werden beide Werke als radikal unterschiedlich eingeschätzt. So stellt Cassirer Machiavelli als Theoretiker einer als Technik verstandenen Politik dar (Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates. Hamburg: Meiner Verlag 2016, S. 201), der die Herrschaft eines einzelnen und die mehrerer Personen in zwei unterschiedlichen Traktaten analysiert habe (Augustin Renaudet: Machiavel. Paris: Gallimard 1955, S. 117–289). Auch Baron lehnt das Verständnis beider Werke als harmonisches Ganzes oder als eine einzige politische Theorie unter unterschiedlichen Umständen ab und schreibt ausgehend von einer neuen Datierung die Verschiedenheit beider Werke einer intellektuellen Entwicklung des Au-
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Die Verehrung der Antike hingegen teilen das humanistische und das machiavellistische Modell.133 Auf sie greifen ebenso Machiavelli wie seine Zeitgenossen zurück, um die Bedeutung der Fortuna im menschlichen Leben vorzuführen. Gegenüber dem Mittelalter, in dem die Fortuna blind ist und ihre Wohltaten ohne Vorauswahl verteilt, ist sie nach Ansicht Machiavellis und der Humanisten denjenigen gewogen, die im Besitz der Tugend sind.134 Die Kenntnis der Geschichte, z. B. von Augustus, Titus, Trajan, Alexander sowie von anderen vorbildlichen Königen und Herrschern, ist daher – laut einem Humanisten wie Budé – für den Staat von großem Nutzen.135 Einerseits bewegen die geschichtsträchtigen Taten und Ereignisse zur Übung in tugendhaftem Handeln. Andererseits ermöglicht ein Studium der Geschichte nicht nur eine richtige Beurteilung der aktuellen Situation, sondern ebenso die Erstellung von Prognosen.136 Während das Studium antiker Denker für die Humanisten aber einen Nutzen von qualitativem Charakter zeitigt, ist ihre Lektüre nach Machiavelli eher in quantitativer Hinsicht von Vorteil. Der Mensch nutzt die Wege, die herausragende Denker vorgezeichnet haben, und ahmt ihre Handlungen nach – um mehr Macht zu erlangen oder bereits bestehende Macht zu erhalten. Zwar sind die Sitten der Antike für Machiavelli weiterhin des Lobes würdig. Da sich aber die Zeiten gewandelt haben, hat man sich ihnen wirksam anzupassen.137 Dies impliziert also, den Tugendbegriff neu zu definieren. So ist nicht mehr, wie bei Platon und Aris-
tors vom Principe zu den Discorsi zu (Hans Baron: In Search of Florentine Civic Humanism: Essays on the Transition from Medieval to Modern Thought. Band II. New Jersey: Princeton University Press 1988, S. 101–151). 133 Die Bedeutung der antiken Quellen für Il principe ist ausführlich von Ruggiero analysiert worden (Raffaele Ruggiero: I Greci e la Grecia classica nel Principe. In: Alessandro Nicosia (Hg.): Il Principe di Niccolò Machiavelli e il suo tempo: 1513–2013. Roma: Treccani 2013, S. 132–140). 134 Quentin Skinner: Machiavelli, S. 25–35. 135 Guillaume Budé: Livre de l’Institution du Prince, S. 60–64. 136 Bezüglich der Spezifika des topos der Geschichte als magistra vitae, vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 38–66 und, im Gegensatz dazu, Marie-Dominique Couzinet: Magistra Vitae. Histoire et exemplarité au XVIe siècle. In: Jean Dagen/Anne-Sophie Barrovecchio (Hg.): Le Rire ou le modèle? Le dilemme du moraliste. París: Honoré Champion 2010, S. 57–88. 137 Der neue Fürst bei Machiavelli zeugt laut Buck von einem historischen Bezug zu Cesare Borgia, der sich aller möglichen Mittel – gerecht oder ungerecht – bedient, um Stabilität und Wohlergehen im Königreich zu erreichen, denn nur auf diese Weise kann Verfall vermieden werden (August Buck: Machiavelli und die Geschichte seiner Zeit. In: August Buck (Hg.): Humanismus und Historiographie. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft, Acta Humaniora 1991, S. 51–60, hier S. 59).
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toteles, das Gute leitend, sondern der Nutzen.138 Die Tugend oder areté bedeutete in der Tat, bevor Platon ihr einen neuen semantischen Wert gab, Effizienz in einer bestimmten Handlung, wobei die moralische Dimension ausgeklammert werden konnte. Areté bedeutete also die Geschicklichkeit des Schusters, des Generals oder des Staatsmannes bei der Erfüllung seines Auftrags.139 Vor diesem Hintergrund ist Gewalt für Machiavelli ein legitimes Mittel, wenn es der Notwendigkeit, die Macht zu stützen, der guten Organisation des Fürstentums und damit dem Gemeinwohl der Untertanen dient, die einig und treu bleiben.140 Der Humanismus hingegen schreibt der Tyrannis eine schlechte Behandlung jener Bürger zu, die sich durch ihre Tugend, Klugheit oder Autorität hervortun, während der gute König die Weisen stets höchst willkommen heißt und ihren Rat sucht; je besser der König ist, desto mehr schätzt er sie.141 Für Machiavelli dagegen soll der Fürst sich vor klügeren oder weiseren Männern hüten, da sie ihm den Staat entreißen können. Obwohl Machiavelli die moralische Integrität des Fürsten für lobenswert hält, betont er wiederholt die Idee, dass seine Gegenwart es nur niederträchtigen Männern erlaubt, Großes zu erreichen; jenen, die den Weisen listig täuschen und diejenigen übertreffen, die sich auf Loyalität gestützt haben und gescheitert sind. Ein Fürst, der um den Erhalt seines Staates bemüht ist, sieht sich oftmals gezwungen, die Tugend zu vernachlässigen. Um seine Macht zu erhalten, bedarf es einer Gemeinschaft und wenn diese korrupt ist, gereichen die guten Werke dem Fürsten zum Nachteil.142 Im Gegensatz dazu verteidigt der Humanismus die notwendige Verbindung zwischen Politik und einer Moral, die durch Erziehung erworben wird.143 Der Humanismus begründet die dignitas hominis in der menschlichen Vernunft und der Fürst, der der Beste unter den Menschen sein soll, muss sie im höchsten Grad besitzen. Machiavelli unterstreicht dagegen, dass der Fürst jederzeit bereit sein soll, als Bestie zu handeln, da eine vernunftgeleitete Regierung nicht immer erfolgreich ist. Für die Rechtfertigung seines Arguments stützt er sich auf die
138 Niccolò Machiavelli: Il Principe (1532). Mailand: Rizzoli 2002, S. 197–198. 139 William K. C. Guthrie: Los filósofos griegos. México: Fondo de Cultura Económica 2005, S. 15. 140 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 109–158. 141 Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani, S. 162–164. 142 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 154–212. 143 Dies ist beispielsweise bei Montaigne zu beobachten. Die Moral muss sowohl umsetzbar als auch lehrbar sein, und das politische Handeln soll ihr stets verpflichtet sein (Dominik A. Eberl: Michel de Montaigne und das Politische in den Essais. Würzburg: Ergon 2009, S. 73).
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antichi scrittori, li quali scrivono come Achille e molti altri di quelli principi antichi furono dati a nutrire a Chirone centauro, che sotto la sua disciplina li custodissi. Il che non vuole dire altro, avere per precettore uno mezzo bestia e mezzo uomo, se non che bisogna a uno principe sapere usare l’una e l’altra natura; e l’una senza l’altra non è durabile.144
Wenn der Fürst also gezwungen ist, sich zeitweilig wie eine Bestie zu verhalten, muss er den Fuchs wählen, um die Fallen zu kennen, und den Löwen, um die Wölfe zu ängstigen. Dabei ist es wichtig, eine solche Natur verkleiden zu können und ein geschickter Schauspieler zu sein. Für Machiavelli muss der Fürst also keine großen Qualitäten haben, sondern lediglich vorgeben können, sie zu besitzen: Mitfühlend, treu, menschlich, integer, religiös und ernst muss er erscheinen. Falls es aber notwendig ist, auf diese Eigenschaften zu verzichten, muss er stets bereit sein, ins Gegenteil umzuschlagen. Ein Fürst – vor allem ein neuer – kann nicht immer im Sinne des Guten der Menschen handeln, da er sich oft gezwungen sieht, gegen den Glauben, die Nächstenliebe, die Menschlichkeit und die Religion zu handeln, um den Staat zu erhalten. Deshalb muss sein Gemüt derart veranlagt sein, sich den Winden des Schicksals und der Veränderung der Umstände anpassen zu können und sich nach Möglichkeit nicht vom Guten zu entfernen, das Schlechte jedoch auch nicht zu scheuen, wenn es erforderlich ist.145 Für Humanisten wie Petrarca, Bracciolini oder Leon Battista Alberti überwindet die Tugend das Schicksal, indem sie die nötigen Mittel bereithält, ihm standzuhalten oder es zu wandeln. Machiavelli ordnet die Tugend jedoch der Staatsräson unter und begreift sie als Geschick, das auf List (anstelle von Vernunft) und Stärke (anstelle von Moral) basiert.146 Machiavellis Fürst gewinnt und erhält den Staat mit dieser virtù. Um ihn zu erhalten, braucht er die Unterstützung der Mehrheit. Seine Mittel werden stets von allen gelobt und für ehrwürdig befunden, da das gemeine Volk sich von Schein und Erfolg blenden lässt. Gegen jene, die seinen guten Ruf anzweifeln, wird konspiriert. Machiavelli veranschaulicht das anhand des Beispiels von römischen Herrschern, die beliebt und tugendhaft lebten, ihr Reich jedoch verlo144 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 164. 145 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 167–168. 146 Für Gracián, «[Machiavelli] quiere dar a beber sus falsos aforismos a los ignorantes. ¿No ves cómo ellos se los tragan, pareciéndoles plausibles y verdaderos? Y bien examinados, no son otro que una confitada inmundicia de vicios y de pecados: razones, no de Estado, sino de establo. Parece que tiene candidez en sus labios, pureza en su lengua y arroja fuego infernal que abrasa las costumbres y quema las repúblicas. Aquellas que parecen cintas de seda son las políticas leyes con las que ata las manos a la virtud y las suelta al vicio; este es el papel del libro que publica y el que masca, todo falsedad y apariencia, con que tiene embelesados a tantos y tontos. Créeme que aquí todo es engaño; mejor sería desenredarnos presto de él» (Baltasar Gracián: El Criticón, S. 65).
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ren oder sogar von ihren Untertanen ermordet wurden und anhand von Fürsten seiner Zeit, die Frieden und Loyalität predigen und gleichzeitig selbst nicht einhalten, da sie ansonsten ihre Staaten verlören.147 Machiavelli kehrt die humanistische Hierarchie zwischen Schein und Realität um. Beide teilen die Idee, dass sich das gemeine Volk oder die Mehrheit, im Gegensatz zu einer kleinen intellektuellen Elite, von falschen Meinungen und Schein leiten lässt; doch für Machiavellis Principe hat Pragmatik Vorrang vor Moral. Abgesehen von besonderen Fällen, in denen ihm die Unterstützung anderer Gemeinschaften zugutekommt, braucht der Fürst die Gunst des gemeinen Volkes. Dieses lässt sich jedoch von Scheinhaftigkeit leiten, weshalb der Fürst sich ihrer bedienen muss, wenn er vom Volk geehrt werden will. In diesem Sinne schreibt Gracián später, wer die Politik wahrhaft verstehen will, dem wird die Abkürzung zu Erfolg und Wertschätzung in der Welt gezeigt, der lernt die Kunst, Zuneigung und Freunde zu gewinnen und allem voran die Fähigkeit, den Schein zu wahren, was die Kunst aller Künste sei.148 Für Machiavelli ist das Wissen des Fürsten um den Wankelmut der Völker von großer Bedeutung. Denn es ist leicht, sie von etwas zu überzeugen, schwer hingegen, ihre Überzeugung aufrecht zu erhalten. Deshalb ist es angebracht, vorbereitet zu sein, um sie, wenn sie das Vertrauen verlieren, mit Gewalt zurückzuholen.149 Das Eigeninteresse des machiavellischen Fürsten wird somit zum Gemeinwohl. Er vereint also alle Eigenschaften, mit denen der Humanismus den Tyrannen charakterisiert: Er zieht das Eigeninteresse dem Gemeinwohl vor und herrscht durch Angst und Täuschung, während der gute König der Humanisten durch Weisheit, Integrität und Güte herrscht.150 Zwei fundamental gegensätzliche Konzeptionen der Machtausübung151 erzeugen eine Darstellung, die jenen Disziplinen, die das Wissen des guten Fürsten bilden sollen, radikal entgegengesetzt ist. Gemäß dem humanistischen Bildungsideal muss der Fürst sich Disziplinen widmen, die zur Erlangung der Tugend führen, da sie unabdingbar für eine gute Regierung ist. Für Machiavelli 147 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 167–177. 148 Baltasar Gracián: El Criticón, S. 60–61. 149 Niccolò Machiavelli, Il Principe, S. 82–83. 150 Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani, S. 158–164. 151 Zwierlein betont die Asymmetrie des Binoms Machiavellismus-Antimachiavellismus: Niemand bezeichnet sich wirklich als Machiavellist, da dies ein Synonym für das Ausüben von politischer Unmoral ist (Cornel Zwierlein: Machiavellismus/Antimachiavellismus. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Berlin–New York: De Gruyter 2011, S. 903–951, hier S. 904–907). Aus diesem Grund verstecken sich der Machiavellismus und seine Staatsräson, die der römischen Kirche entgegenstehen, häufig hinter Bezugnahmen auf Tacitus (Giuseppe Toffanin: Machiavelli e il tacitismo. Padova: A. Draghi 1921).
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hingegen soll der Fürst kein anderes Ziel als den Krieg und seine Organisation verfolgen, da dies eine Kunst ist, die ausschließlich der Führung vorbehalten ist. Wenn die Fürsten hingegen mehr um Tugend als um Waffen bemüht sind, verlieren sie ihren Staat.152 Den Krieg für unvernünftig und unmenschlich zu halten und ihn in den Gegensatz zu Vernunft und Dialog zu stellen, ist nach Machiavelli eine gefährliche Utopie.153 Der Fürst darf seine Aufmerksamkeit niemals von Kriegsübungen abbringen lassen, die in Zeiten des Friedens gar mit mehr Eifer betrieben werden sollen, als während des Krieges, was auf zwei Arten geschehen kann: durch körperliche oder geistige Übung. Für die körperliche Übung soll er stets auf Jagd gehen, um den Körper an die Unannehmlichkeiten zu gewöhnen. Für die Geistesübungen soll der Fürst Geschichtsbücher lesen, um das Handeln der herausragendsten Männer zu untersuchen; er soll ihr Verhalten im Krieg und die Gründe für ihre Siege und Niederlagen studieren, um diese zu vermeiden oder jene nachzuahmen. Insbesondere aber soll er tun, was vor ihm bereits viele große Männer getan haben: Jemanden zum Beispiel nehmen, der gelobt und gerühmt wurde und seinen Gesten und Taten folgen, wie es von Alexander dem Großen berichtet wird, der Achilles nachahmte, von Caesar bezüglich Alexander oder von Scipio bezüglich Kyros.154 Hierzu steht der humanistische Ansatz in absolutem Gegensatz: Der Fürst darf keinen anderen Zweck als den Frieden verfolgen.155 Distinktives Merkmal des Menschen zum Tier ist seine Vernunft und diese bildet er durch das Studium aus, das die Seele weiser und klüger werden lässt und von den Unruhen der Leidenschaften befreit.156 Der Krieg hingegen ruft Gewalt und Verachtung
152 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 126. 153 Claudio Finzi: Il pensiero político-militare di Machiavelli. In: Alessandro Nicosia (Hg.): Il Principe di Niccolò Machiavelli e il suo tempo: 1513–2013. Roma: Treccani 2013, S. 141–149, hier S. 149. 154 Niccolò Machiavelli, Il Principe, S. 147, 149. 155 Klaus Garber definiert den Humanismus als eine Utopie des Friedens, bei Dante angefangen über Cola di Rienzo, Petrarca und Erasmus bis zum 17. Jahrhundert (Klaus Garber: Die Friedensutopie im europäischen Humanismus. Versuch einer geschichtlichen Rekonstruktion. In: Modern Language Notes, 101 (1986), S. 516–552; Klaus Garber (Hg.): Literatur und Kultur im Europa der frühen Neuzeit. München: Fink 2009, S. 525–556). Vgl. auch, insbesondere bezüglich Erasmus, Klaus Garber: Der Frieden im Diskurs des europäischen Humanismus. In: Ders./ Jutta Held u.a. (Hg.): Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur – Kultur. München: Fink 2001, S. 113–144 sowie Friedhelm Krüger: Politischer Realismus und Friedensvision im Werk des Erasmus von Rotterdam. In: Klaus Garber/Jutta Held u.a. (Hg.): Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur – Kultur.München: Fink 200, S. 145–156. 156 Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría, S. 108.
1.2 Humanitas vs. feritas
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hervor, entsteht durch Dummheit oder fehlende Erfahrung und behindert die Bildung.157 Vor diesem Hintergrund beklagt Gracián im 17. Jahrhundert, dass sich Platons Republik für Zeiten der Missgunst wenig eignet, in denen der machiavellische Fürst, entgegen der Vernunft, ein deutliches Zeichen für die Niedertracht und Verdorbenheit seiner Zeit ist.158 Die wahre Staatsräson findet Gracián bei Botero. Obwohl dieser ein deutliches Interesse für ökonomische und politische Belange zeigt, ordnet er sie, im Gegensatz zu Machiavelli, ethischen und religiösen Werten unter, ohne die weder eine gerechte Regierung noch ein glückliches Leben möglich sind. Damit reiht sich Gracián in eine humanistische Tradition ein, die Machiavelli zwar kritisch entgegensteht, letztlich jedoch, wie bei Ribadeneira oder Bodin, eine Politik der guten Staatsräson entwickelt und folglich das Ziel verfolgt, die Kenntnis der nötigen Mittel zu erlangen, einen Staat zu gründen, zu bewahren oder zu erweitern.159 Der politische Diskurs kreist so um die realen Bedingungen, unter denen der Fürst seine Macht ausübt.160 Nichtsdestotrotz verfolgt der Humanismus dabei einen konträren Ansatz, demgemäß Il principe von Machiavelli als Manifest gegen den Traum des Humanismus gelesen werden kann161 und der das Vernunftideal vom platonischen Erbe umkehrt. Während Machiavellis Fürst die Tugend am Nutzen orientiert, wird sie für die Humanisten vom Guten geleitet. Der machiavellistische Fürst zeugt somit von einem sophistischen Begriff der Moral, der dem des platonischen Kallikles im Gorgias ähnlich ist. Der Humanismus aber verficht einen platonischen Tugendbegriff als unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung von Politik. Es
157 Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani, S. 344. 158 Baltasar Gracián: Criticón, S. 142. 159 Giovanni Botero: Della ragion di Stato. Herausgegeben von Chiara Continisio. Roma: Donzelli 1997, S. 231. 160 Tomasello, Giovanna: Il Principe di Machiavelli e i cinque secoli della sua storia. Venezia: Marsilio 2013, S. 79–83. Cantarino betont vor diesem Hintergrund die technische, strategische und pragmatische Dimension von Graciáns politisch-moralischem Denken (Elena Cantarino Suñer: De la razón de Estado a la razón de Estado del individuo. Tratados político-morales de Baltasar Gracián (1637–1647). Universidad de Valencia: Servicio de Publicaciones 1996, S. 527), das Egido mit einem bürgerlichen Humanismus in Verbindung bringt (Aurora Egido: Humanidades y dignidad del hombre en Baltasar Gracián. Salamanca: Universidad de Salamanca 2011, S. 61). 161 Davide Canfora: Educazione umanistica e consigli politici. Machiavelli e l’Institutio principis di Erasmo. In: Alessandro Nicosia (Hg.): Il Principe di Niccolò Machiavelli e il suo tempo: 1513–2013. Roma: Treccani 2013, S. 90–96.
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vollzieht sich also ein Wandel von einem idealistischen zu einem utilitaristischen Politikbegriff. Machiavelli begreift Politik als selbständige Wissenschaft, womit sie unabhängig von Moral funktionieren soll. Für die Humanisten hingegen bleibt die Politik, wie schon bei Platon und Aristoteles,162 weiterhin eine praktische Ethik.163 Die unterschiedlichen Tugendbegriffe bringen in der Folge entgegengesetzte Figuren des guten Fürsten zum Ausdruck. Während der machiavellistische listig und stark sein soll, vertreten die Humanisten das Bild eines weisen und guten Fürsten. Bei Machiavelli vereint er alle Eigenschaften, mit denen die Humanisten den Tyrannen beschreiben. Machiavelli betrachtet die Tyrannis und Unterdrückung des Volkes im Falle ihrer Notwendigkeit als legitim, während für die Humanisten nur die Moral zur Glückseligkeit aller Bürger der Republik führen kann und die Unterdrückung der Mehrheit illegitim ist. Die Einmischung des Weisen in staatliche Belange wird von Machiavelli verurteilt. Der Fürst, der um seinen Machterhalt bemüht ist, muss sich fern von jenen halten, die weiser oder mächtiger sind als er, damit sie ihm sein Reich nicht streitig machen können. Für die Humanisten hingegen ist der Rat des Weisen fundamentaler Bestandteil der Regierung. So soll er dem Fürsten mit Rat zur Seite stehen, wovon auch das Wohlergehen der Republik abhängt. Das Wissen des Weisen ermöglicht ihm die Unterscheidung zwischen Schein und Sein sowie die Erkenntnis des wahren Guten. Für Machiavelli dagegen ist diese Unterscheidung nicht wirksam. Das Volk bringt beide Ebenen durcheinander und damit der Herrscher seine Gunst erlangt, muss er ihm geben, was es verlangt. Es vollzieht sich also eine Umkehrung der Hierarchie, sodass dem Schein mehr Bedeutung zukommt, als der Wirklichkeit. Die machiavellistische Tugend ist scheinhaft. Der Fürst soll nur vorgeben, tugendhaft zu handeln, da die wahre Ausübung der Tugend nur zum Untergang des Staates führen kann. Für die Humanisten jedoch kann nur die Unterscheidung zwischen Schein und Sein sowie die Ausübung der wahren Tugend zum Erblühen des Staates führen. Das Wissen des machiavellistischen Fürsten ist das der Kriegskunst. Das Wissen des humanistischen Herrschers wird hingegen durch das Studium der humanistischen Disziplinen gebildet, was nur zu Zeiten des Friedens möglich ist.
162 Michael Erler: Platon, S. 172; Ottfried Höffe: Aristoteles, S. 189. 163 Aus diesem Grund ist es unangemessen, die Entwicklung von einer idealen zur realen Politik mit der von Platon zu Aristoteles zu vergleichen, wie es bei Giovanna Tomasello: Il Principe di Machiavelli e i cinque secoli della sua storia, S. 77 zu beobachten ist.
1.3 Humaniora und Realia
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Für Machiavelli fordert die Politik den Gebrauch der Vernunft, aber auch der feritas, die Gewalt der Leidenschaften, die zum Krieg führt. Der Humanist hingegen strebt die Beherrschung der Leidenschaften und der Vernunft an, was die notwendige Gemütsruhe für Frieden mit sich bringt, der als eines der höchsten Güter des Staates gilt. Schließlich ist die Macht aus machiavellistischer Perspektive ein erstrebenswertes Gut, während sie für den Humanisten eine schwere Bürde darstellt. Die praktische Ethik, die politisches Handeln leitet, ist vom machiavellistischen Tugendbegriff aus nicht mehr ein Opfer der besten Männer für die Mehrheit der Republik, sondern die Herrschaft der listigsten und stärksten Männer, um Macht und Reichtum anzuhäufen. Machiavellismus und Humanismus stellen somit zwei gegensätzliche Denkrichtungen dar, die, wie im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit deutlich wird, ein breites Echo bekommen sollten. Nichtsdestotrotz sind beide Ausdrücke eines neuen Vernunftparadigmas, das am Nutzen orientiert ist. Der politische Diskurs der Renaissance, der im Gegensatz zum Mittelalter im Wesentlichen auf Immanenz anstelle von Transzendenz gerichtet ist, kreist um die Frage nach den notwendigen Mitteln für das Wohlergehen des Staates. Die Humanisten sprechen der Moral den höchsten Wert zu und erachten sie als einziges legitimes und gültiges Mittel, dieses Ziel zu erreichen, sowie als Grundlage für eine Staatsräson, die der machiavellischen entgegensteht. Die Erkenntnis der Tugend wird nicht mehr als Selbstzweck präsentiert, sondern als Mittel instrumentalisiert. Wenngleich die Tugend weiterhin unverzichtbar ist, so liegt ihre wesentliche Funktion in ihrer politischen Anwendbarkeit.
1.3 Humaniora und Realia Das neue Vernunftparadigma zeigt sich nicht nur in einer neuen Machthierarchie, sondern auch in einer neuen Hierarchisierung der Wissenschaften, die den Zugang zu dieser Machtelite ermöglichen. Im Folgenden wird dargelegt, wie das Nützlichkeitskriterium in der Renaissance die Ordnung der verschiedenen Wissensbereiche des ersten Humanismus verändert.
1.3.1 Der erste Humanismus und die spekulative Vernunft Platon etabliert die Hierarchie der Wissenschaften gemäß ihrem jeweiligen Beitrag zur Vervollkommnung der Seele. Diesem Kriterium entsprechend besetzen die nachahmenden Künste einer schon an sich täuschenden Wirklichkeit den
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1 Topoi des Humanismus: von den Ursprüngen zur Renaissance
niedersten Rang, da sie die Seele noch eine weitere Stufe von der Ideenwelt entfernen. Die Arbeit eines herausragenden Malers trägt demnach bloß zur Verwirrung des unwissenden gemeinen Volkes bei, das unfähig ist, wahres Wissen von Unwissen zu unterscheiden und die Nachahmung für Wirklichkeit hält. Dieselbe Wirkung erzielen laut Platon die tragischen Dichter. Homer, drei Stufen von der Wahrheit entfernt, ist unfähig, etwas anderes als Scheintugend zu erschaffen, da er weder das Gute kennt, noch die Weisheit des Gesetzgebers besitzt, der aufzeigt, wie sich die Staaten verbessern oder verschlechtern können. Letztendlich befand sich Homer nicht in der Lage, die Menschen anzuweisen und sie besser zu machen, denn wenn er die vollkommene Kenntnis der Dinge gehabt hätte, die er nur nachzuahmen wusste, so hätte er die Liebe und Verehrung einiger Menschen gewonnen. Nur der Weise ist in der Lage, die Dinge von ihrer scheinhaften Hülle zu lösen und ihr Wesen zu betrachten. Der Imitator hat weder sichere Prinzipien, noch eine feste Meinung; dennoch ahmt er unablässig nach, ohne sich nach dem Guten und Schlechten der Dinge richten zu können, und imitiert, was der unwissenden Menge schön erscheint. Hingegen ist ein weiser, ruhiger und ausgeglichener Charakter, der sich stets treu bleibt, nur schwerlich nachzuahmen. Sein Bildnis wäre nur wenig geeignet, das gemeine Theaterpublikum zu rühren, da es einen Zustand darstellt, der ihm gänzlich fremd ist. Der nachahmende Dichter zieht es folglich vor, nicht diesen Teil der Seele zu imitieren, sondern neigt vielmehr dazu, leidenschaftliche Charaktere darzustellen, da sie aufgrund ihrer Vielfalt leichter und wirksamer zu repräsentieren sind. Der Dichter gehört demnach derselben Kategorie wie der Maler an und beide sind verwerflich, da sie arbeiten, um dem schwachen Seelenteil statt dem lobenswertesten zu gefallen. In der Folge verweigert Platon ihnen den Eintritt in die ideale Republik, weil sie durch die Stärkung des schwachen Seelenteils die Herrschaft der Vernunft zerstören. Auf dieselbe Weise, auf die eine schlechte Regierung Unordnung in den Staat bringt, stiftet der nachahmende Dichter Unordnung in der inneren Regierung eines jeden Menschen durch die exzessive Befriedigung des leidenschaftlichen Seelenteils. Tragische Dichter wie Homer verderben auf diese Weise den Geist besonnener Personen, indem sie sie durch die Stärkung der Leidenschaften sündhaft und unglücklich machen. Letztendlich ist die Malerei und jede Kunst im Allgemeinen, die die sinnliche Welt nachahmt, in allem, was sie tut, weit von der Wahrheit entfernt; die Kunst der Nachahmung befindet sich weit abgelegen von der Weisheit und strebt weder Wahres noch Wirkliches an.164
164 Platon: Der Staat, 598–605, S. 393–405.
1.3 Humaniora und Realia
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Während Platon die nachahmenden Künste verschmäht, sollen jene Künste, die durch die Vernunft zur Idee des Guten führen, geschätzt und gefördert werden. Damit bezieht er sich auf die Mathematik, Geometrie, Astronomie und Musik als propädeutische Disziplinen der Dialektik: der Königin der Wissenschaften, denen er alle anderen unterordnet. Wer sich der Dialektik widmet, verzichtet vollständig auf den Gebrauch der Sinne und ist im Begriff, sich allein durch die Vernunft zur wahren Erkenntnis der Dinge zu erheben. Wer seine Studien bis zum Wesen des Guten fortführt, der erreicht den Zustand der geistigen Erkenntnis, so wie jener, der die Sonne sieht, die Erkenntnis der sinnlich wahrnehmbaren Dinge erreicht.165 Mithilfe der dialektischen Methode wird die Hypothese überwunden und zu einem universalen Gesetz als Resultat sicherer Erkenntnis erhoben. Somit ist die Dialektik die einzige Wissenschaft, die als wahre Wissenschaft erachtet werden kann. Entsprechend ihrem Medium wird die Erkenntnis laut Platon in unterschiedlichem Grad der Vollkommenheit erlangt: die wahre, sichere und feste Erkenntnis ist nur durch die wahre Wissenschaft, die Dialektik, erreichbar; die vernünftige Erkenntnis, zu der man durch die Mathematik, Geometrie, Astronomie und Musik gelangt, bereitet in diesem Sinne auf die wahre Wissenschaft vor. Während diese beiden Formen der Erkenntnis der Intelligenz entsprechen und die Ideen oder Unvergängliches zum Ziel haben, ordnet Platon den Glauben oder die Mutmaßung der Meinung zu, deren Gegenstand Vergängliches ist. Letzten Endes führt die Wissenschaft zu unveränderlichen Prinzipien und ewigen Wahrheiten, während die täuschende Welt der Sinne von Unbeständigkeit und Vergänglichkeit geprägt ist. Der Zweck der Wissenschaft ist also die Begründung beständiger Prinzipien, die Wahrheit ausdrücken. Ihr Hauptziel ist die Erkenntnis an sich, wohingegen ihre praktische Anwendbarkeit nachrangig ist. Im Mittelalter wird dieser Wissenschaftsbegriff in das christliche Denken aufgenommen. Die Wissenschaft Gottes, eher spekulativ als praktisch,166 ist vollkommen, da sie das höchste Ziel verfolgt und als einzige zur Erkenntnis der Wahrheit führt, die die Grenzen der menschlichen Vernunft übersteigt. Dabei ordnet sich die Philosophie der Theologie unter, die die Erkenntnis des Göttlichen und somit die höchste Weisheit mit sich bringt. Diese Weisheit impliziert zwei Dimensionen: eine natürliche in der Offenbarung des Heiligen Geistes und eine rationale im Gebrauch der Vernunft, die folglich erlernbar ist. Noch vor dem Studium der Hauptdisziplin sieht Thomas von Aquin die Ausbildung der Jugend in der Logik vor, die das Handwerk der Philosophie lehrt; es
165 Ebda., 521–523, S. 280–282. 166 Thomas von Aquin: Summa theologiae, Secunda Secundae, Qu. 45, A. 3.
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schließt sich die Mathematik an, die weder der Erfahrung bedarf noch über der Vernunft steht, gefolgt von der Lehre der Naturwissenschaften, die die Vernunft ebensowenig übersteigen, jedoch der Erfahrung bedürfen; schließlich leitet die Ethik, die ebenfalls Erfahrung voraussetzt sowie ein von Leidenschaften befreites Gemüt, zur göttlichen und weisen Wissenschaft über, die ein umfassendes Wissen erfordert.167 Wie Étienne Gilson aufzeigt, wird das sokratische nosce te ipsum im Mittelalter auf die Erkenntnis Gottes übertragen, indem der Mensch, wie die Genesis bekundet, als Ebenbild Gottes geschaffen wurde. Auf diese Weise wird die Erkenntnis des Menschen an die Erkenntnis Gottes gebunden.168 Alfons X. stellt somit die Metaphysik an die Spitze der sieben Freien Künste, durch die himmlische Belange erkannt werden, gefolgt vom relativen Wissen der Natur und der Ethik.169 Das christliche Weltbild als Schöpfung Gottes verleiht dem Studium des Quadriviums im Mittelalter Würde, im Gegensatz zu Disziplinen des Triviums, die sich auf das Studium des unvollkommenen Werkes des Menschen beschränken.
1.3.2 Die nützlichen Disziplinen des zweiten Humanismus Die anthropologischen und naturphilosophischen Debatten orientieren sich in der Renaissance weiterhin an Aristoteles.170 Diese Kontinuität wird insbesondere in der Verbreitung des aristotelischen Wissens durch die Sammlungen der excerpta und die philosophischen florilegia evident. Sententiae, Dicta, Repertorium, Thesaurus, Flores, Axiomata und Auctoritates Aristotelis erfuhren eine weitaus größere Verbreitung als allgemein angenommen.171 So sprechen Frank und Speer von einem ununterbrochenen Aristotelismus seit dem 12. Jahrhundert,172 wenn-
167 Thomas von Aquin, Sententia Sexti Libri Ethicorum, 1142a, 16–19, S. 358–359. 168 Étienne Gilson: L’esprit de la philosophie médiévale. Paris: Librairie Philosophique [1932] 1978, S. 220–223. 169 Alfonso X: General Estoria. Primera parte, S. 384. 170 Günter Frank, Andreas Speer: Der Aristotelismus in der frühen Neuzeit. In: Günter Frank/ Andreas Speer (Hg.): Der Aristotelismus in der Frühen Neuzeit — Kontinuität oder Wiederaneignung? Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2007, S. 9–16. 171 Charles B. Schmitt: Auctoritates, Repertorium, Dicta, Sententiae, Flores, Thesaurus and Axiomata: Latin Aristotelian Florilegia in the Renaissance, S. 515–522. Im 16. Jahrhundert wurden vier neue Sammlungen aristotelischer Zeugnisse publiziert, die bis zum Ende des Jahrhunderts kontinuierlich neue Auflagen erfuhren: Dicta notabilia, Sententiae omnes undiquaque selectissimae (1541), Flores illustriores Aristotelis ex universa eius philosophia collecti (1560) sowie Thesaurus Aristotelis Stagiritae (1562). 172 Günter Frank, Andreas Speer: Der Aristotelismus in der frühen Neuzeit, S. 13–15.
1.3 Humaniora und Realia
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gleich sie die Existenz verschiedener Aristotelismen,173 wie beispielsweise dem scholastischen und dem der Renaissance, annehmen, wobei insbesondere letzterer die aristotelische Tradition transformiert hat. Kessler veranschaulicht diese Idee mit der Dialektik Vallas, einem Wandel des aristotelischen Organons auf Grundlage einer kritischen Analyse der spätscholastischen Logik.174 Die Kontinuität des Aristotelismus manifestiert sich auch im politischen Bereich durch Übersetzungen, Kommentare, Neuordnungen und Paraphrasen der Politik.175 Der Humanismus und seine philologische Methode haben einen Kanon aristotelischer Texte in lateinischer Sprache geschaffen, dessen Einfluss bis zum 19. Jahrhundert reicht.176 Dennoch überlässt die griechische Antike ihre Hegemonie der römischen: Die Vorrangstellung,177 die Aristoteles im Mittelalter hat, kommt Cicero dort zu,178 wo Humanisten wie Petrarca179 oder Salutati180 von ihm inspiriert wer173 Charles B. Schmitt: Aristotle and the Renaissance. Cambridge: Cambridge University Press 1983. 174 Eckhard Keßler: Die Transformation des aristotelischen Organon durch Lorenzo Valla. In: Eckhard Keßler/Charles H. Lohr u.a. (Hg.): Aristotelismus und Renaissance. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1988, S. 53–74, hier S. 73. Für weitere Beispiele, die die These der Kontinuität zwischen beiden Epochen hervorheben, vgl.: Eckhard Keßler: Introducing Aristotle to the Sixteenth Century: The Lefèvre Enterprise. In: Constance Blackwell/Sachiko Kusukawa (Hg.): Philosophy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries: Conversations with Aristotle. Aldershot: Ashgate 1999, S. 1–21; Eckhard Keßler: Die Philosophie der Renaissance, S. 77. 175 Günter Frank: Politica Aristotelis. Zur Überlieferungsgeschichte der aristotelischen Politica im Humanismus und in der frühen Neuzeit. In: Günter Frank/Andreas Speer (Hg.): Der Aristotelismus in der Frühen Neuzeit — Kontinuität oder Wiederaneignung? Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2007, S. S. 325–352. 176 Manfred Riedel: Aristotelismus und Humanismus. Zur frühneuzeitlichen Rezeption der Aristotelischen Politik. In: Ders.: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1975, S. 109–128. 177 Walter Rüegg: Cicero und der Humanismus. Formale Untersuchungen über Petrarca und Erasmus. Zürich: Rhein Verlag 1946. 178 Eckhard Keßler: Die Philosophie der Renaissance, S. 21. 179 Walter Rüegg: Cicero und der Humanismus. Petrarca. In: Karl Büchner (Hg.): Das neue Cicerobild. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 65–128; August Buck: Petrarcas Humanismus. In: Ders.: Petrarca. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 5. Abgesehen von der Erwähnung des Sokrates in Petrarcas Schriften als der weiseste der griechischen Philosophen (Paul Gerhard Schmidt: Petrarca und Sokrates. In: Ulrike Auhagen/ Stefan Faller u.a. (Hg.): Petrarca und die römische Literatur. Tübingen: Günter Narr Verlag 2005, S. 11–16, hier S. 14), fand sich in der Bibliothek Petrarcas kein einziges griechisches Manuskript (Rudolf Pfeiffer: Die klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München: Beck 1982, S. 44). 180 August Buck: Die Ethik im humanistischen Studienprogramm. In: Walter Rüegg/Dieter Wuttke (Hg.): Ethik im Humanismus. Boppard: Harald Boldt 1979, S. 31–44.
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den. Damit vollzieht sich ein Wandel der ætas aristoteliana zur ætas ciceroniana.181 Es findet eine Wiederbelebung der humanitas statt, die für Salutati nicht nur verstanden werden sollen als illa virtus, que etiam benignitas dici solet [. . .] sed etiam peritia et doctrina: plus igitur humanitatis importatur verbo, quam communiter cogitetur. Optimi quidem auctorum – tam Cicero quam alii plures – hoc vocabulo pro doctrina moralique scientia usi sunt; nec mirum. Preter hominem quidem nullum animal doctrinabile reperitur. Ut, cum homini proprium sit doceri et docti plus hominis habeant quam indocti, convenientissime prisci per humanitatem significaverint et doctrinam.182
Für Cicero soll das Wissen einen Nutzen haben, der bei Platon und Aristoteles nachrangig war.183 Vor diesem Hintergrund wird Weisheit nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel für das Wohlergehen der Republik verstanden.184 Die Betrachtung und Erkenntnis der Natur ist also defizitär, wenn sie nicht zu einer Handlung führt, die das Wohl des Menschen zum Hauptzweck hat.185 In das Wesen der Natur einzudringen oder sich dem Studium der würdigsten Wissenschaften zu widmen sind Aktivitäten, die den nutzenorientierten unterlegen sind. Wenn also ein Gelehrter von einer Gefahr, in der sich sein Staat befindet, erfährt, so soll er umgehend zur Tat schreiten, anstatt weiter die Sterne zu betrachten und die Ausdehnung des Universums zu messen.186 Cicero erachtet es als einen seiner größten Beiträge zum griechischen Denken, dass er im Gegensatz zu Platon oder Aristoteles die praktische Grundlage der Politik anstelle einer intellektuellen betont hat.187 Demnach soll die Politik Vorrang vor der Weisheit haben188 und die Rhetorik, die Platon verschmäht, wird bei Cicero zur Disziplin jener, die ihr Wissen dem Gemeinwohl verschreiben. In Verbindung mit Weisheit ist das eloquente Sprechen also schätzenswerter als es die bloßen Ideen ohne die Pracht der Worte sind, da Ideen selbstbezogen sind
181 Étienne Gilson: Le Message de l’humanisme. In: Franco Simone (Hg.): Culture et politique en France à l’époque de l’humanisme et de la Renaissance. Turin: Academia de las Ciencias 1974, S. 3–9, hier S. 4. 182 Coluccio Salutati: Epistolario. Roma: Forzani EC Tipografi del Senato 1896, S. 536. 183 Michael Erler: Platon, S. 181; Ottfried Höffe: Aristoteles, S. 234–235. 184 Die Weisheit wird somit zu einem Wissen von praktischem Charakter und wird mit der Klugheit und Tugend des Staatsmannes gleichgesetzt (Ursula Klima: Untersuchungen zu dem Begriff ‹Sapientia›. Von der republikanischen Zeit bis Tacitus. Bonn: Rudolf Habelt Verlag 1971, S. 134–136). 185 Cicero: De officiis, S. 250. 186 Ebda., S. 290. 187 Ebda., S. 69. 188 Ebda., S. 167, 256.
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und nur durch die Redekunst das Gemeinwesen erreichen.189 Die Redekunst ruft Bewunderung hervor, da sie das Publikum davon überzeugen kann, dass, wer sie beherrscht, mehr versteht und weiß, als alle übrigen.190 Trotzdem soll der Redner jegliche Unruhe des Gemütszustandes meiden, wie beispielsweise die Raserei oder den Jähzorn, die sich den Begriffen der Vernunft entziehen und gerechtes Handeln verhindern.191 Hierfür bedarf der Redner der Weisheit, die die schwachen und korrupten Seelenteile und mithin die Leidenschaften bezwingt.192 Nur mithilfe der Gesetze kann der gut ausgebildete Herrscher seine Macht auf gerechte Weise ausüben, die das Gemeinwohl allem voranstellt. «Das Gesetz weist immer dem, der das Rechte tut und das Nützliche erkennt, den ersten Rang im Gemeinwesen an»,193 jenen, die Tugend und Klugheit besitzen. Diese werden durch die Ausbildung in den edelsten Künsten erworben, die für Cicero diejenigen sind, die die Bürger für die Republik nützlich machen,194 da dies der größte Erfolg der Weisheit ist.195 Die würdigsten Disziplinen sind jene von größtem Nutzen für die Gesellschaft und die höchsten Aufgaben sind jene, die zum Wohl der Republik beitragen. Dabei sind die Herausragendsten die Redner, Rechtskundigen, Beamten oder Richter.196 An ihnen soll sich die Jugend ein Beispiel nehmen.197 Architektur oder Medizin gehören ebenfalls zu den nützlichen Disziplinen der Republik. Bislang verachtete Bereiche, wie der Handel oder die Landwirtschaft, erfahren mehr Wohlwollen, solange sie dem Staat ohne Betrug Reichtum einbringen.198 Dieses vernunftbestimmte Paradigma entwickelt sich gegen Ende des Trecento und erfährt im Humanismus des Quattrocento politische Relevanz. Hans Baron konstatiert hier die Entstehung eines bürgerlichen Humanismus (civic humanism), der das aktive politische Leben vorantrieb,199 wie es Salutati gegen
189 Ebda., S. 254. 190 Ebda., S. 340. 191 Ebda., S. 222. 192 Cicero: De re publica, S. 157. 193 Plutarch: Moralische Schriften. Herausgegeben von Otto Apelt. Leipzig: Meiner Verlag 1927, S. 110. 194 Cicero: De officiis, S. 14. 195 Cicero: De re publica, S. 67. 196 Cicero: De officiis, S. 371. 197 Ebda., S. 336. 198 Ebda., S. 244–246. 199 Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance: Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. New Jersey: Princeton University Press 1955; Hans Baron: Humanistic and Political Literature in Florence and Venice at the beginning of the Quattrocento. Studies in Criticism and Chronology. Cambridge, Mass.: Harvard University Press
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Ende des Trecento vorgeschlagen hatte, dessen De vita associabili et operativa als Antwort auf Petrarcas De vita solitaria verstanden werden kann.200 Diese Wandlung des Kanons201 bringt einen Bruch mit dem Mittelalter zum Vorschein, der nicht im heidnischen Charakter liegt, den manche dem Humanismus zuschreiben.202 Petrarcas Begriff der Antike ist alles andere als heidnisch; vielmehr bilden das Christentum und das antike Erbe die wahre christliche Philosophie.203 Die Humanisten des Quattrocento nehmen weiterhin Bezug auf christliche Autoren,204 wodurch deren Vereinbarkeit mit dem bürgerlichen Humanismus bezeugt wird.205 Christ und Philosoph zu sein ist zwar begrifflich unterschieden; für Erasmus bedeutet es jedoch dasselbe:206 Die humanitas und die philosophia Christi207 sind identisch. In der Einheit von humanitas und pietas begründet Erasmus das Programm der humanistischen Bildung208 sowie seinen Reformvorschlag
1955, S. 49–50; Hans Baron: From Petrarch to Leonardo Bruni. Studies in Humanistic and Political Literature. Chicago–London: The University of Chicago Press 1968, S. 102–103. 200 Rudolf Pfeiffer: Die klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen. München: Beck 1982, S. 42. 201 Neben Cicero gewinnt auch Platon an Bedeutung (August Buck: Petrarcas Humanismus, S. 7). Ebenso werden hellenistische Autoren zum Referenzpunkt in der Frühen Neuzeit (Stoizismus, Epikureismus, Skeptizismus, Neuplatonismus). Zudem ist eine besondere Präsenz der vorsokratischen Philosophen (Anaxagoras und Parmenides) sowie des Atomismus (Demokrit und Leukipp) zu beobachten (Paul Oskar Kristeller: Renaissance Humanism and its significance, S. 241–242; Thomas Leinkauf: Die Frühe Neuzeit und die Antike Philosophie. In: Ulrich Heinen (Hg.): Welche Antike? Konkurrierende Rezeptionen des Altertums im Barock. Band I. Wiesbaden: Harrassowitz 2011, S. 29–78, hier S. 31–32). 202 Konrad Burdach: Reformation, Renaissance, Humanismus: Zwei Abhandlungen über die Grundlage moderner Bildung und Sprachkunst, S. 201. 203 Karlheinz Stierle: Petrarca. Fragmente eines Selbstentwurfs. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 13; Günter Frank, Andreas Speer: Der Aristotelismus in der frühen Neuzeit, S. 9. 204 Riccardo Fubini: Umanesimo e secolarizzazione da Petrarca a Valla. Roma: Bulzoni 1990, S. 43. 205 Ron Witt: Coluccio Salutati in the footsteps of the Ancients. In: Andrew Colin Gow (Hg.): Christian Humanism. Leiden–Boston: Brill 2009, S. 3–12. 206 Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani, S. 134. 207 Zur Bedeutung der Theologie in Erasmus’ Werk vgl. Heinz Holeczec: Der Humanist Erasmus und sein Beitrag zur Theologie der frühen Neuzeit. In: Hanns Kerner (Hg.): Humanismus und Theologie in der frühen Neuzeit. Nürnberg: Verlag Hans Carl 1993, S. 9–40. 208 Sem Dresden: Christliche Philosophie und Humanistische Ethik bei Erasmus. In: Walter Rüegg/Dieter Wuttke (Hg.): Ethik im Humanismus. Boppard: Harald Boldt 1979, S. 125–146; Walter Nigg: Erasmus von Rotterdam: Christliche Humanität. Ostfildern: Schwabenverlag 1983, S. 25–33.
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einer durch den Humanismus gereinigten Kirche.209 Auch in Frankreich und Spanien gehören Humanismus und Christentum zusammen. Budé rühmt die antike Bildung als Vorbereitung auf das Christentum.210 Montaigne kann als christlicher Humanist betrachtet werden, da er eine Welt beschreibt, die nachdrücklich vom antiken Wissen beeinflusst wurde211 und in der auch die christliche Offenbarung Aufnahme findet.212 In Spanien bekräftigt Vives, dass alles, was die heidnischen Weisen mit Begeisterung und Bewunderung schreiben, in der Religion wiederzufinden ist. Die Erkenntnis der Religion ist die vollkommene Weisheit und nach ihr zu leben ist die vollkommene Tugend; doch niemand kann sie wahrhaft kennen, wenn er nicht ihr entsprechend lebt.213 Vives’ Schrift De veritate fidei christianae lässt keinen Zweifel, dass das Desinteresse gegenüber der christlichen Doktrin den Humanisten fälschlicherweise zugeschrieben wird.214 Im Gegensatz zum Mittelalter ist es nun nicht mehr von Relevanz, die Existenz Gottes vernunftbegründet zu beweisen; vielmehr ist sie eine Glaubensfrage und die Rolle Gottes soll als Grundlage der Moral in verschiedenen Belangen des menschlichen Lebens bestimmt werden. Vor diesem Hintergrund kann die
209 Walter Rüegg: Cicero und der Humanismus. Formale Untersuchungen über Petrarca und Erasmus, 106. Durch Erasmus’ Vorschlag einer Erneuerung der christlichen Welt durch die Einheit der gelehrten und der heiligen Schriften ist seine Lehre nicht mit der devotio moderna vereinbar, wie Cornelis Augustijn: Erasmus. Der Humanist als Theologe und Kirchenreformer. Leiden–New York–Köln: Brill 1996, S. 37 im Gegensatz zu Paul Mestwerdt: Die Anfänge des Erasmus. Humanismus und Devotio Moderna. Leipzig: Rudolf Haupt 1917, S. 20–78; Regnerus R. Post: The modern devotion. Confrontation with Reformation and Humanism. Leiden: Brill 1968, S. 658–676 und Heiko A. Oberman: Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubeskampf. Tübingen: Mohr 1979, S. 60–62 ausführt. 210 Guillaume Budé: Livre de l’Institution du Prince, S. 43. 211 Der griechische Einfluss auf Montaignes Werk wurde, u.a., von Kyriaki Christodoulou (Hg.): Montaigne et la Grèce. Paris: Aux amateurs des livres 1990 analysiert. Trembley zeigt in diesem Sinne auf, dass nicht nur Sokrates, Platon, Aristoteles und vor allem hellenistischen Autoren eine Bedeutung in Montaignes Werk zukommt, sondern ebenso den Vorsokratikern (Bruno Trembley: Connaissance et utilisation des premiers philosophes grècs chez Montaigne. In: Montaigne Studies, XVIII (2006), S. 183–222). Trotzdem geht er mit antiken Autoren frei um (Joan Lluís Llinàs: Montaigne et Platon. In: Bulletin de la Société Internationale des Amis de Montaigne, 56 (2012), S. 113–125, hier S. 125), wie das Beispiel Ciceros verdeutlicht (Thierry Gontier: Montaigne, les humanistes et la doctrine des Anciens. In: Montaigne Studies, XXI (2009), S. 13–33, hier S. 32–33). 212 Peter Mack: Montaigne and Christian Humanism. In: Andrew Colin Gow (Hg.): Christian Humanism. Leiden–Boston: Brill 2009, S. 199–209, hier S. 209. Montaigne geht von einer ciceronischen Tugend aus, die durch eine Vielfalt an christlichen Quellen bereichert wird (Biancamaria Fontana: Montaigne’s Politics. Authority and Governance in the Essais, S. 46–51). 213 Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría, S. 64. 214 Marcia L. Colish: The De veritate fidei christianae of Vives. In: Andrew Colin Gow (Hg.): Christian Humanism. Leiden–Boston: Brill 2009, S. 173–197, hier S. 196.
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Religion laut Vives nicht wahrhaft erkannt werden, solange man nicht durch die Übung der Tugend der Religion entsprechend lebt.215 Gegenstand der Moral ist das Leben.216 Die Theologie, die im Mittelalter der Ethik und Politik noch überlegen ist, wird auf diese Weise durch die Moralphilosophie ersetzt, als königliche Wissenschaft, die alle Übrigen unterordnet. So ist laut Montaigne jegliche Wissenschaft schädlich, solange sie nicht von der Ethik begleitet wird.217 Die Theologie weicht der Moralphilosophie, deren Normen für das individuelle Verhalten oder in der Gesellschaft nicht ausschließlich von der Religion diktiert werden, sondern durch die Ausübung vieler – göttlicher und menschlicher – Künste.218 Darüber hinaus beginnt mit dem humanistischen Bildungsprogramm ein Prozess der Demokratisierung von Wissen. Im Mittelalter blieb dem Volk in seiner Unwissenheit nichts anderes übrig, als die Autorität Gottes und derer anzuerkennen, die durch das Studium der Theologie zur Erkenntnis seines Wesens gelangt waren. Im Gegensatz zum mittelalterlichen Gläubigen, der die Erlösung ausschließlich in den religiösen Riten des Priesters fand, ist sie seit der Reform durch die eigene Lektüre der Heiligen Schrift erreichbar. Zu diesem Zweck wird die Bibel in die Volkssprache übersetzt und werden Handbücher zu ihrer Lektüre geschrieben.219 Das humanistische Bildungsprogramm richtet sich an eine Mehrheit, der die notwendigen Kenntnisse zur Wertschätzung der wahren Tugend zugänglich sein sollen. Die Gerechtigkeit kann nur in jenem Geist wirken, der bereits durch die Lektüre antiker Autoren und der Bibel Kenntnis von ihr hat.220 Während der Zusammenhalt der mittelalterlichen Gesellschaft in der Religion begründet war, so basiert er im Humanismus auf der Kultur, die die Einheit der christlichen Nationen sichert – trotz einiger Divergenzen ihrer Lehren. Diese Kultur ist nichts anderes, als el legado de la Biblia, de la Antigüedad griega y latina, tesoro común de los europeos [. . .]. Este legado en que comulgan los humanistas permite superar las oposiciones confesionales y sugiere un ideario y unas formas de conducta que hay que preservar: cierta concepción del hombre y su dignidad, basada en principios éticos que deben inspirar la organización política y social, el culto a la verdad y a la belleza, en una palabra, es el concepto moderno de civilización frente a barbarie.221
215 Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría, S. 64. 216 Juan Luis Vives: El arte retórica. De ratione dicendi. Barcelona: Anthropos 1998, S. 7. 217 Michel de Montaigne: Du pédantisme, S. 248. 218 Juan Luis Vives: Las disciplinas. Valencia: Ayuntamiento de Valencia 1997, S. 22. 219 Manfred Tietz: Los autos sacramentales de Calderón y el vulgo ignorante. In: Hans Flasche (Hg.): Hacia Calderón. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1983, S. 78–87, hier S. 79. 220 Juan Luis Vives: El arte retórica, S. 3. 221 Ramón Pérez de Ayala: Glosas sobre los clásicos. In: Ders.: Obras completas II. Herausgegeben von J. García Mercadal. Madrid: Aguilar 1969, S. 56.
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Der Gebildete überragt den Unwissenden, da die kulturelle Bildung das wahre Unterscheidungskriterium unter den Menschen ausmacht, während sich Reiche und Arme, der König und der Vasall nur scheinbar unterscheiden.222 Der Humanismus bietet ein Bildungsprogramm für die Söhne der neuen Machteliten oder jene Gruppen, die zur Zusammenarbeit mit Staatsmännern berufen sind oder möglicherweise Staatsämter übernehmen können. Jedoch handelt es sich nicht um die Ausbildung der Staatsmänner, sondern von allen, die ein Amt in der Regierung erreichen könnten.223 Somit vollzieht sich ein Wandel in der intellektuellen Elite im Vergleich zum Mittelalter, der neue soziale Bereiche erschließt und auf diese Weise eine neue politische Ordnung etabliert. Schließlich erstrebt das humanistische Bildungsprogramm eine Reform der Gesellschaft und des Staates: «de studiis autem humanitatis quantum ad grammaticam, ad rhetoricam, historicam et poeticam spectat ac moralem».224 1.3.2.1 Die Neuordnung des Triviums und Quadriviums Der Humanismus des Trecento ordnet in der Tat die mittelalterliche Hierarchie der Künste neu. Die Medizin und die Disziplinen des Quadriviums verbinden sich mit der Scholastik225 und die studia humanitatis werden zu den höchsten Rängen der Hierarchie der Wissenschaften erhoben.226 Hinsichtlich der Disziplinen des Triviums lehnt Petrarca die mittelalterliche Dialektik ab als Verantwortliche für vergebliche Debatten und die Bildung belangloser Syllogismen.227 Der nützlichen Rhetorik hingegen kommt eine fundamentale Rolle zu.228 Die Sprache wird als mächtigste und wirksamste Bindung unter den Menschen betrachtet, wobei die Rhetorik sehr nützlich sein kann, wenn sie vernunftgemäß gebraucht wird
222 Michel de Montaigne: De l’inéqualité qui est en nous, S. 418. 223 Eugenio Garin: L’educazione in Europa (1400–1600). Problemi e programmi, S. 132. 224 Giovanni Sforza: La patria, la famiglia e i parenti di Niccolò V. In: Atti della Reale Academia Lucchese di Scienze, Lettere ed Arti, 23 (1884), S. 1–400, hier S. 380. 225 Vgl. Kapitel 1.3.1. 226 Klaus Bergdolt: Naturwissenschaften und Medizin im Weltbild Petrarcas. In: Reiner Speck/Florian Neumann (Hg.): Francesco Petrarca 1304–1374. Köln: Dumont 2004, S. 193–210, hier S. 194–197. 227 Für Petrarca ist die Dialektik ein Mittel, das den Intellekt anregen, vor Täuschung schützen und den Verstand schärfen kann; jedoch erachtet er sie nicht als Zweck. Deshalb lobt er die Stoiker für ihren richtigen Gebrauch derselben (Francesco Petrarca: Lettere di Francesco Petrarca. Firenze: Felice le Monnier 1863, S. 293–294). Wenn die Dialektik zum Zweck würde, dann würden belanglose Dispute kultiviert, ein vergebliches intellektuelles oder ästhetisches Spiel, das schädlich für die Suche des Philosophen nach Wahrheit ist. 228 Eckhard Keßler: Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. München: Fink 1978, S. 198.
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und schädlich, wenn sie missbraucht wird. Dabei wird die inventio fehlerhaft sein, wenn die Antike und ihre Tradition ignoriert werden, die dann keine geeigneten Argumente liefern können.229 In ihrer praktischen Anwendung liegt im Wesentlichen die Einzigartigkeit der Rezeption der Antike in der Renaissance und nicht, wie Buck meint, im Vorrang der ästhetischen Perspektive.230 Nichtsdestotrotz ist diese rhetorische Praxis untrennbar mit dem Ideal des ethisch-moralischen Wissens verbunden, das besonders charakteristisch für den Humanismus ist. Rhetorik und Ethik können demnach nicht voneinander unabhängig begriffen werden. Dichtung und Geschichte, die der Moralphilosophie mit nützlichen Modellen und Paradigmen dienen, nehmen einen ebenso privilegierten Platz in der Ordnung des Wissens ein.231 Keine Sünde kann gedacht und keine Tugend gelobt werden, wenn nicht durch Beispiele aus der Geschichte.232 Gerade die Nähe der Dichtung zur Moralphilosophie bestimmt für Petrarca ihre Überlegenheit gegenüber der Medizin.233 Die Überlegenheit der
229 Juan Luis Vives: El arte retórica, S. 3–7. 230 August Buck: Die Ethik im humanistischen Studienprogramm, S. 31–33. 231 Helmut Jacobs: Divisiones philosophiæ. Frankfurt a. M.: Vervuert 1996, S. 50. So verficht beispielsweise Erasmus die Einheit von Wahrheit und decorum (Peter Walter: Zum Verhältnis von Rhetorik und Ethik im Humanismus. In: Klaus Arntz/Peter Schallenberg (Hg.): Ethik zwischen Anspruch und Zuspruch. Freiburg: Herder 1996, S. 301–316, hier S. 301). 232 Somit lehnt Ludwig die These Felix Gilberts (The Renaissance interest in History. In: Charles Singleton (Hg.): Art, Science and History in the Renaissance. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1967, S. 373–387) zu Recht ab, der zufolge die Geschichte von geringer Bedeutung für die Humanisten der Renaissance war. Stattdessen zeigt er auf, dass die Lektüre der antiken Geschichtsschreiber einen wesentlichen Bestandteil ihres Bildungsprogramms ausmacht. Das Studium der Geschichte ermöglicht einerseits eine bessere Kenntnis des Menschen und erweist sich andererseits als unabdingbar für das Treffen richtiger Entscheidungen im Bereich der Politik (Walther Ludwig: Erasmus und Schöfferlin – vom Nutzen der Historie bei den Humanisten. In: August Buck (Hg.): Humanismus und Historiographie. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft, Acta Humaniora 1991, S. 61–88, hier S. 61). In derselben Linie steht Meuthen, der ebenso die Bedeutung der Geschichte als magistra vitae hervorhebt und ihren zentralen Charakter im humanistischen Bildungsideal aufzeigt (Erich Meuthen: Humanismus und Geschichtsunterricht. In: August Buck (Hg.): Humanismus und Historiographie. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft, Acta Humaniora 1991, S. 5–50), den sie bereits seit Petrarca genießt (August Buck: Petrarcas Humanismus, S. 9). Tatsächlich ist die Geschichte als magistra vitae ein Topos, der seit Cicero bis zum 18. Jahrhundert kontinuierlich fortbesteht (Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 38–66). 233 Francesco Petrarca: Invective contra medicum. Roma: Edizioni di Storia e Letteratura 1950, S. 176. Für Hoffmeister veranschaulicht Petrarcas Verteidigung der Dichtung gegenüber der Medizin die Ablehnung eines averroistischen Begriffs der Medizin durch den Humanismus der Renaissance (Paul Oskar Kristeller: Petrarch’s Averroists: a note on the History of Aristotelianism in Venice, Padua and Bologna. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, XIV (1952), S. 59–65; Titus Heydenreich: Petrarcas Bekenntnis zur Ignoranz. In: Fritz Schalk (Hg.): Petrarca,
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Dichtung stellt ebenso Coluccio Salutati in De nobilitate legum et medicinae heraus.234 Die Naturwissenschaften nehmen hingegen weder bei Petrarca235 noch bei Salutati einen zentralen Stellenwert ein, da sie sich nicht mit dem Menschen, sondern seiner Umgebung befassen. Die Kenntnis der Natur ist ohne die des Menschen unnütz.236 Die Disziplinen des Quadriviums ordnen sich also denen des Triviums237 unter, da die sprachliche Ausbildung die Grundlage jeden Studiums bildet. Die Humanisten, die der Scholastik eine falsche Lektüre der antiken Autoren sowie eine damit einhergehende Verzerrung der Heiligen Schrift zuschreiben, lesen die originalen Schriften in griechischer oder lateinischer Sprache. Darüber hinaus arbeiten sie Grammatiken auf der Grundlage antiker Schriften aus, wie beispielsweise die Elegantiae von Lorenzo Valla für die restitutio linguae latinae, die im Wesentlichen auf dem Modell von Cicero und Quintilian basieren. Die Tatsache, dass zum ersten Mal ein Zugang zu den Originalschriften Platons oder Aristoteles’ möglich ist, gründet neue Prinzipien im Bereich von Disziplinen wie der Ethik oder der Rhetorik.
1304–1374. Frankfurt a. M.: Klostermann 1975, S. 71–92). Petrarca verfasst seine Schmährede zwischen 1352 und 1355, motiviert durch die Krankheit von Papst Clemens VI., den er vor der sophistischen Schwindelei der Ärzte warnen möchte, die ihn umgeben. Der Disput ermöglicht es ihm somit, seiner Abneigung gegen die scholastische Dialektik freien Lauf zu lassen, indem er jene Ärzte kritisiert, die sich in belanglosen Streitgesprächen verlieren und auf diese Weise in ein Gebiet eindringen, das ihnen nicht zusteht (Vinicio Pacca: Petrarca. Roma–Bari: Laterza 1998, S. 165), wodurch sie sich zudem von der Kunst des Heilens ablenken lassen (Joachim Küpper: Petrarca. Das Schweigen der Veritas und die Worte des Dichters. Berlin–New York: De Gruyter 2002, S. 122). Die Dichtung hingegen besitzt vor diesem Hintergrund eine heilende Wirkung, als Medizin des Geistes. Ihre Reichweite ist daher größer und erhabener als die der Medizin des Körpers (Gerhart Hoffmeister: Petrarca. Stuttgart–Weimer: Metzler 1997, S. 59–60). Die Herabwürdigung, die Petrarca der Medizin zukommen lässt, indem er sie zu den mechanischen Künsten zählt (Luís André Nepomuceno: Petrarca e o Humanismo. Bauru: EDUSC 2008, S. 140), ist jedoch für Bergdolt mehr als anachronistisch, da er die Ärzte als Humanisten in der Tradition Hippokrates’ und Galens begreift (Klaus Bergdolt: Naturwissenschaften und Medizin im Weltbild Petrarcas, S. 199). 234 Coluccio Salutati: De Nobilitate Legum et Medicinae. Firenze: Vallechi Editore 1947, S. 48–49. 235 August Buck: Petrarcas Humanismus, S. 14. 236 Francesco Petrarca: De ignorantia. Milano: Mursia 1999, S. 190: «Nam quid, oro, naturas beluarum et volucrum et piscium et serpentum nosse profuerit, et naturam hominum, ad quod natis sumus, unde et quo pergimus, vel nescire vel spernere?» 237 Die Unterordnung negiert jedoch nicht die Komplementarität der Disziplinen des Triviums und Quadriviums, da trotz allem grundlegende Kenntnisse in den Disziplinen des Quadriviums erforderlich sind (Nicolette Mout: Die Kultur des Humanismus. Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler. München: Beck 1998, S. 31).
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Die praktische Dimension der studia humanitatis nimmt in allen Bereichen des menschlichen Handelns konkrete Gestalt an. Die Rhetorik soll sich nicht in nichtigen Sprachspielen verlieren, sondern, als ars bene dicendi, einen richtigen Ausdruck für die praktische und nützliche Wiedergabe eines konkreten Sachverhaltes aus einem beliebigen Wissensbereich liefern. Durch ihre Überzeugungskraft besitzt sie zugleich die Macht, viele Menschen für dieselbe Idee zu gewinnen, weshalb sie im bürgerlichen Leben fundamental ist. Das Wissen der Rhetorik zeichnet denjenigen, der es besitzt, gegenüber allen anderen aus. So bekräftigt Vives: «Cuenta más en toda reunión y sociedad quien es superior en la palabra y, sin duda, domina entre los hombres quien está especialmente preparado para hablar. Con razón, pues, dio el trágico Eurípides a la elocuencia el nombre de reina».238 Die Moralphilosophie, die untrennbar mit der Rhetorik verbunden ist, darf sich ebenso wenig in theoretischen Betrachtungen der Tugend verlieren, sondern soll auf das politische Leben angewendet werden. Die Bedeutung, die der Humanismus dem Wort zugesteht, ist nicht nur für die Wissenschaften von Relevanz, die spezifisches Wissen und richtigen Ausdruck miteinander verbinden sollen, sondern ebenso für die Einheit des Staates, da die Sprache sein vereinendes Element ist. Dies bestätigt auch Nebrija, Verfasser der ersten spanischen Grammatik, für den die Sprache die Gefährtin des Reiches und Ausdruck seiner Größe ist.239 Ebenso spiegelt sich die politische Hegemonie in Glanzzeiten des römischen Imperiums in der Größe der lateinischen Sprache bei Vergil und Cicero, während mit dem Verfall der lateinischen Sprache der Untergang des römischen Reichs einherging.240 In diesem Kontext des Gleichgewichts zwischen kultureller und politischer Größe ist die Défense et illustration de la langue française (1549) zu verstehen, in der Du Bellay die französische Sprache als würdige Nachfolgerin der griechi-
238 Juan Luis Vives: El arte retórica, S. 11. 239 Antonio de Nebrija: Gramática Castellana. Madrid: Edición de la Junta del Centenario 1946, S. 5. Später betonen Quevedo und Juan de Mariana Spaniens Erfolg in den armas und letras: «No nos basta con ser aborrecidos en todas las naciones, [. . .] ¿quién no nos llama bárbaros? ¿quién no dice que somos locos, ignorantes y soberbios, no teniendo nosotros vicio que no debamos a la comunicación con ellos? Ya pues, es razón que despertemos y logremos parte del ocio que alcanzamos en mostrar lo que es España y lo que ha sido siempre [. . .] nunca tan gloriosa [. . .] de letras y armas como hoy, gobernada por don Felipe II, nuestro señor» (Francisco de Quevedo: España defendida y los tiempos de ahora, de las calumnias de los noveleros y sediciosos. Boletín de la Real Academia de la Historia (1916), S. 24–25). In diesem Sinne verteidigt Juan de Mariana die Weisheit und Gelehrtheit der Spanier «que en ninguna parte del mundo hay mayores premios para la virtud y para las letras» (Juan de Mariana: Tratado contra los juegos públicos. Madrid: Rivadeneyra 1854, S. 459). 240 Antonio de Nebrija: Gramática Castellana, S. 8–9.
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schen und lateinischen Sprache erachtet.241 Im Bereich der Literatur ist die Franciade von Pierre de Ronsard beispielhaft dafür, wie die Nachahmung antiker Autoren zur Bildung einer nationalen Literatur im Sinne einer politischen und kulturellen Selbstbestätigung beiträgt. Die Wahl der Thematik (der Ursprung der französischen Nation wird mithilfe des Trojamythos erklärt) und des Vorbildes (die Aeneis) erhöhte das Prestige aller Beteiligten. Ronsard wurde einerseits als der neue französische Vergil gefeiert und andererseits steigerte Frankreich durch seine edle Herkunft sein Prestige als Kulturnation im Vergleich zu Italien, das sich bereits mit einem antiken (der Aeneis) und einem modernen Epos (Der rasende Roland von Ariost) rühmte.242 Die Rückkehr zur Antike wurde von der Monarchie unterstützt, da sie als deren Legitimationsmittel diente. Das Bündnis zwischen Wissen und Macht setzt sich 1635 mit der Gründung der Académie française fort, die mit dem Ziel, einerseits die französische Sprache sowie ihre Literatur zu fördern und andererseits Frankreich zum politischen Vorbild zu erheben, etabliert wurde, sodass das Ideal der humanistischen Bildung auf Grundlage der Philologie zu einer staatlichen Angelegenheit wurde.243 Nicolas Faret bekräftigt, dass sich dieses Bündnis zwischen Wissen und Macht auf den politischen Ruhm Frankreichs auswirken und der französischen Sprache zu einer Pracht verhelfen kann, die einst nur die griechische und lateinische besaßen. So lobt er Richelieu für den Schutz der Sprache zu Ehren des Königs und des Glanzes seiner Krone, car il juge que c’est bien principalement par les armes que les Roys font connaître leur nom et redouter leur puissance; mais que sans le secours des Sciences et des Arts le lustre de cette réputation s’efface peu à peu et s’éteint à la fin par la barbarie.244
241 Joachim du Bellay: La défense et illustration de la langue française. In: Ders.: Œuvres complètes. Herausgegeben von Francis Goyet und Olivier Millet. Paris: Honoré Champion 2003, S. 74–79. 242 Agnes Becherer: Die panegyrische Inszinierung des Herrschers in der französischen Literatur der Renaissance. Versepos und Eklogendichtung. In: Manuel Baumbach (Hg.): Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezeption der Antike. Heidelberg: Winter 2000, S. 131–146, hier S. 131. Vgl. außerdem Klaus Garber (Hg.): Nation und Literatur im Europa der frühen Neuzeit: Akten des ersten internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Tübingen: Niemeyer 1989 und Giovanni Dotoli: Politique et littérature en France au XVIe et au XVIIe siècle. In: Giovanni Dotoli (Hg.): Politique et littérature en France au XVIe et au XVIIe siècle. Bari: Adriatica 1997, S. 21–52. 243 Bettina Rommel: François Rabelais, Pantagruel und Gargantua. In: Joachim Leeker (Hg.): Renaissance. Tübingen: Stauffenburg 2006, S. 177–212, hier S. 184. 244 Nicolas Faret: Projet de l’Académie. Saint-Étienne: Publications de l’Université de SaintÉtienne 1983, S. 20.
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Die Académie ist laut Faret ein Zeichen für die Exzellenz des berühmten Ministers Richelieu. So hofft er, dass die Sprache das Reich bald ebenso unterstützt: «Si nos heureux succès continuent comme ils ont commencé, on peut dire que notre langage sera bientôt celui de toutes les nations de l’Europe».245 1.3.2.2 Das Ideal des homo universalis Leonardo Bruni betont die vereinende Kraft des humanistischen Bildungsprogramms. So sieht er die Disziplinen des Triviums ohne die des Quadriviums als nutzlos und leer sowie umgekehrt Letztere als fern und dunkel ohne den Glanz der Sprache.246 Auch bei Budé sollen Trivium und Quadrivium die eloquentia und sapientia zu einem Ganzen vereinen, sodass das Studium der Sprache von weiterem spezialisierten Wissenserwerb begleitet wird.247 Letztendlich soll der Humanist über ein universales Wissen verfügen. Die institutio in bonas artes umfasst sowohl das Studium der Moral als auch der Natur. In der Renaissance erreicht der Humanist durch das Studium die Kategorie des uomo universale und damit eine Pluralität von Erkenntnissen, die nicht nur in der objektiven Kenntnis der Antike, sondern gerade in ihrer Anwendung auf das tägliche Leben des Menschen besteht.248 Der naturwissenschaftliche Humanismus ist eng mit dem literarischen verbunden und zeichnet sich durch sein Streben nach einer freien Bildung des Menschen innerhalb der Wissensrepublik aus.249 Beispielhaft für diese Einheit ist die Entwicklung der Medizin, die die der philologischen Methoden deutlich angetrieben hat. Dabei haben die humanistischen Ärzte eine philologische Methode auf die Erneuerung antiker Werke angewandt, um sie im Anschluss auf die medizinische Praxis zu übertragen.250 So werden die Werke von Galen und Hippokrates wiederbelebt, ebenso wie die der
245 Ebda., S. 28. 246 Leonardo Bruni: De studiis et litteris. In: H. Baron (Hg.): Humanistisch-philosophische Schriften mit einer Chronologie seiner Werke und Briefe. Berlin–Leipzig: Teubner 1928, S. 5 ff.; Joaquín Barceló: Ernesto Grassi y el concepto de humanismo. In: Cuadernos sobre Vico, 17–18 (2004–2005), S. 345–370. 247 Guillaume Budé: L’étude des lettres, S. 42. 248 Jacob Burkhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 104. 249 Cirilo Flórez/Roberto Albares/Pablo García: El humanismo científico. Salamanca: Caja Duero 1999, S. 22. 250 Miguel Ángel González Manjarrés: Panorama filológico de Andrés Laguna. In: Juan Luis García Hourcade/Juan Manuel Moreno Yuste (Hg.): Andrés Laguna: Humanismo, Ciencia y Política en la Europa Renacentista. Valladolid: Junta de Castilla y León 2001, S. 61–92.
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Authores Medicos, que pruevan algunas cosas con authoridades de Poetas, como fueron Homero, Hesiodo, y esto hazen no solamente los Modernos, sino los muy antiguos, como Platon y Aristóteles, Theophrasto, Galeno, Aphrodiseo. Han hecho también muchos médicos sus obras en poesia.251
Folglich muss auch der Naturwissenschaftler über ein universales Wissen verfügen. In diesem Sinne wollte der humanistische Arzt Andrés Laguna 1557 das gemeine Volk bilden und aus der Finsternis des Unwissens holen, indem er ihm zahlreiche griechische und lateinische Autoren in spanischer Übersetzung zur Lektüre gab, wodurch es nicht nur in Philosophie und Medizin, sondern ebenfalls in Rhetorik geschult werden sollte.252 1.3.2.3 Die Umkehrung der Wissenschaftshierarchie Der Humanismus der Renaissance legte mit dem neuen Vernunftparadigma die Grundlage für die Entwicklung der Naturwissenschaften und zugleich für die Kenntnis der Physis des Menschen und seiner Umgebung, die mit Roger Bacon und Wilhelm von Ockham bereits im späten Mittelalter Vertreter gefunden hatten. Die Disziplinen sowohl des Triviums als auch des Quadriviums sollen in einer praktischen Anwendung des Wissens im Dienste des Menschen gipfeln; die durch erstere erworbenen Fähigkeiten sollen zum Zweck des Gemeinwohls auf das politische Leben angewandt werden; letztere sollen zu praktischen Erfindungen und Entdeckungen führen, die das Leben des Menschen verbessern. So beurteilt bereits Vives in De disciplinis die verschiedenen Wissenschaften gemäß ihrer Nützlichkeit im praktischen Leben.253 Der Intellektuelle soll ständig in Kontakt mit dem Alltagsleben der Menschen stehen und sein Wissen für dessen Verbesserung gebrauchen. Die Nützlichkeit sowie die praxisbezogene Dimension des Wissens auf seinen verschiedenen Feldern bilden die wesentlichen Argumentationskriterien für die Überlegenheit der Moderne im Vergleich zur Antike. Denn in der Antike findet die Nützlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse keinen prominenten Platz. Vielmehr konzentrieren sich antike Autoren eher auf die Theorie, z.B. bei
251 Enrique Jorge Enríquez: Retrato del perfecto médico. Faksimileausgabe der 1595 Ausgabe. Salamanca: Renaut 1981, S. 270. Zitiert nach Pedro Pablo Conde Parrado: La poesía clásica en los médicos españoles del Renacimiento. In: Juan Luis García Hourcade/Juan Manuel Moreno Yuste (Hg.): Andrés Laguna: Humanismo, Ciencia y Política en la Europa Renacentista. Valladolid: Junta de Castilla y León 2001, S. 259–270, hier S. 259. 252 Antonio Prieto: La extensión democrática del Dioscórides. In: Juan Luis García Hourcade/ Juan Manuel Moreno Yuste (Hg.): Andrés Laguna: Humanismo, Ciencia y Política en la Europa Renacentista. Valladolid: Junta de Castilla y León 200, S. 41–50, hier S. 50. 253 Juan Luis Vives: Las disciplinas, II, S. 29.
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der Betrachtung des Kosmos und dem Verständnis seiner Natur, als auf die Anwendung derartiger Kenntnisse im Leben des Menschen.254 Auch noch im Mittelalter geht es primär um die Erkenntnis Gottes und nicht um den Nutzen dieser Erkenntnis. Vives hingegen, und nach ihm Francis Bacon, gesteht nur jenem Wissen einen Wert zu, das von praktischem Nutzen ist.255 Diese Auffassung von Wissen gibt Anlass zu Studien wie jener von Oliva Sabuco, die zum Ende des 16. Jahrhunderts in ihrer Nueva Filosofía de la naturaleza del hombre aufzeigen will, dass die traditionelle Medizin in ihren Grundlagen irrt: La clave está en la comprensión de la naturaleza del hombre, saber por qué vive, por qué muere o enferma, lo que no abordan ni Galeno, ni Platón ni Hipócrates en sus tratados de la naturaleza humana; ni Plinio ni Eliano cuando trataron del hombre: esta era la filosofía necesaria y la mejor y la de más fruto para el hombre y esta toda se dejaron intacta los antiguos. Esta compete esencialmente a los reyes y a los grandes señores porque en su salud, afectos y mudanzas va más que en las de todos [. . .] porque conociendo la naturaleza y propiedades de los hombres sabrán mejor regirlos y gobernar su mundo. [. . .] Dos mil años han probado la medicina de Hipócrates y Galeno con poco efecto y fines inciertos sin aprovechar nada su medicina antigua.256
Durch die Vorherrschaft des Nützlichkeitsprinzips können Erfindungen nutzbar gemacht werden, wie beispielsweise der Kompass, der geographische Entdeckungen ermöglicht, oder das Teleskop, das der Astronomie zu bedeutenden Fortschritten verhilft. Mit diesem Schritt wird eine neue Wissensform erreicht,
254 John Bury: The idea of progress. Whitefish, Mont.: Kessinger Publishing [1920] 2005, S. 9. 255 Christoph Strosetzki: Juan Luis Vives frente a la autoridad de Aristóteles y el poder de la Universidad de París. In: Ignacio Arellano/Antonio Feros u.a. (Hg.): Del poder y sus críticos en el mundo ibérico del Siglo de Oro. Madrid–Frankfurt a.M.: Iberoamericana–Vervuert 2013, S. 213–226, hier S. 222. Die Tatsache, dass Vives’ De disciplinis ab 1612 eine argumentative Autorität in der Querelle des Anciens et des Modernes darstellt und dass Bacon während seines Aufenthaltes am Trinity College Zugang zu seinen Schriften hatte (Valentín Moreno Gallego: La recepción hispana de Juan Luis Vives. Valencia: Generalitat Valenciana 2006, S. 107–110), macht die Betrachtung Vives’ sowohl als Vorreiter Bacons (Luis González Seara: El poder y la palabra. Idea del Estado y vida política en la cultura europea. Madrid: Tecnos 1995, S. 482) als auch als Bindeglied zwischen Renaissance und Aufklärung (Franco Venturi: Los orígenes de la Enciclopedia. Barcelona: Crítica 1980, S. 121–128) besonders plausibel. Wenngleich Vives und Bacon gleichermaßen die Wissensformen ihrer Zeit und den Bezug auf die Antike kritisch prüfen (Ángel Gómez-Hortigüela Amillo: El pensamiento filosófico de Juan Luis Vives. Contexto socio - cultural. Génesis y desarrollo. Valencia: Diputación de Valencia 1998, S. 217–231), so ordnet Vives die Disziplinen, im Gegensatz zu Bacon, nach dem Grad, in dem sie zur Erkenntnis Gottes verhelfen (István Bejczy: Der christliche Humanismus des Juan Luis Vives. In: Archiv für Kulturgeschichte, 84 (2002), S. 93–112, hier S. 108), die er dem Nützlichkeitskriterium noch überordnet. 256 Oliva Sabuco: Nueva Filosofía de la naturaleza del hombre. Madrid: Editora Nacional 1981, S. 62–64.
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die die Autorität der Antike zunehmend untergräbt. Im 17. Jahrhundert weicht das Ideal des gelehrten und enzyklopädischen Wissens der Schulung der Erfahrung und der Beobachtung, die nützliche Erkenntnisse suchen.257 Die Natur entspricht mathematischen Beziehungen und universalen Gesetzen, die anhand von Messungen und Versuchen gewonnen werden. Die Welt ist ein offenes Buch und um es lesen zu können, ist die Kenntnis seiner Sprache erforderlich: die der Mathematik. Die Disziplinen des Triviums, die zuvor an der Spitze der Hierarchie verortet wurden, sollen nun den Methoden und Ergebnissen der Mathematik folgen. Die neue und präzise Methode der analytischen Mathematik, die sowohl für die Geistes- als auch für die Naturwissenschaften gültig ist, wird auf alle Bereiche des menschlichen Lebens angewandt: auf die Politik, die Kunst, die Poesie, die Philosophie und die Musik.258 In seiner Digression sur les Anciens et les Modernes beschreibt Fontenelle die moderne Philosophie ausgehend von der wissenschaftlichen Methodik als «justesse de raisonnement», der sich alle Disziplinen und sogar die Regierungspraxis unterordnen sollen.259 Die Wissenschaften stellen für Fontenelle keine isolierten Gebiete dar, sondern bilden ein vernetztes System, in dem der Fortschritt der einen zu dem der anderen beiträgt.260 Letztendlich sollen sie von der Einheit und Ordnung der Natur zeugen, wie es die Mathematik und Physik tun,261 die dank eines Wandels, der, wie bereits aufgezeigt, in der Renaissance seinen Anfang nahm, in der Aufklärung die Spitze der Wissenschaftshierarchie einnehmen. 1.3.2.4 Ein neuer Fortschrittsbegriff Durch das Nützlichkeitskriterium des neuen Vernunftparadigmas wird der Diskurs der imitatio zunehmend von dem Diskurs einer überlegenen Nachahmung, der superatio, abgelöst. Die rein reproduktive Nachahmung wird unter anderem von 257 Dies zeigt Albert anhand von Beispielen von Antonio de Eslava und Cristóbal Suárez de Figueroa auf (Mechthild Albert: La autoridad de la Antigüedad en la novela corta del Siglo de Oro. In: Christoph Strosetzki (Hg.): La autoridad de la Antigüedad. Madrid–Frankfurt a. M.: Iberoamericana-Vervuert 2014, S. 11–28, hier S. 25–26; Mechthild Albert: Conflictos entre los saberes en la novela corta. In: Christoph Strosetzki (Hg.): Saberes humanísticos. Madrid–Frankfurt a. M.: Iberoamericana-Vervuert 2014, S. 185–194, hier S. 192). 258 John Bury: The idea of progress, S. 46–47. 259 Jean Dagen: Le philosophe selon Fontenelle. In: Revue Fontenelle, 2 (2004), S. 7–22, hier S. 8; Jean Dagen: Fontenelle et l’invention du politique. In: Jean-Charles Darmon/Georges Molinié (Hg.): Libertinage et politique au temps de la monarchie absolue. Paris: Honoré Champion 2005, S. 131–143, hier S. 142. 260 John Bury: The idea of progress, S. 77. 261 Armand Gilhem: La construction de l’image du savant chez Fontenelle. In: Revue Fontenelle, 4 (2006), S. 79–93, hier S. 84.
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Erasmus und Montaigne kritisiert.262 Demnach stellt die Wiederholung der Aussagen von Platon, Aristoteles oder Cicero keinen größeren Verdienst dar, als ihr Wissen bloß zu bewahren263 und bedeutet weder Innovation noch Fortschritt.264
262 Erasmus von Rotterdam: Dialogus cui titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere. Herausgegeben von Werner Welzig und Wendelin-Schmidt-Dengler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 189. Die Debatte zwischen Ciceronianern (die ausschließlich Ciceros linguistischem Vorbild folgen) und Anti-Ciceronianern (die ein eklektisches Modell vertreten), die in Italien ihren Ursprung findet, erreicht im Jahr 1528 ihren Höhepunkt mit Erasmus’ Ciceronianus, der die rein reproduktiven Imitatoren von Cicero verspottet. Luján sieht die Debatte in Spanien in Abhängigkeit von der Erasmus-Rezeption, sodass der Ciceronianismus in gemäßigter Form in antierasmistischen Kreisen verbreitet ist und sich auf pädagogische Fragen beschränkt (Ángel Luis Luján: La corrección lingüística. Furió Ceriol y Palmireno en el Ciceronianismo español. In: Revista de Filología Española, LXXVI (1996), S. 141–153, hier S. 141–142). Zur Debatte des Ciceronianismus vgl. die Textsammlung von Joann Dellaneva, Brian Duvick (Hg.): Ciceronian Controversies. Cambridge: Harvard University Press 2007, sowie die Studien von Francesco Tateo/Bernhard Teuber u.a.: Ciceronianismus. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band II. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1994, S. 225–247 und Jörg Robert: Die Ciceronianismus-Debatte. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Berlin–New York: De Gruyter 2011, S. 1–54. Zum Ciceronianismus in Spanien vgl.: Eugenio Asensio: Ciceronianos contra erasmistas en España. Dos momentos (1528–1560). In: Revue de Littérature Comparée, 52 (1978), S. 135–154; Miguel Ángel Rábade: Ciceronianismo moderado e imitación en la España del XVI: las figuras de Maldonado, Palmireno y Matamoros. In: Fortunatae, 1 (1991), S. 197–207; Juan María Núñez González: El ciceronianismo en España. Valladolid: Universidad de Valladolid 1993. 263 Michel de Montaigne: Du pédantisme, S. 242: «Nous savons dire ‹Cicéron dit ainsi›, ‹voilà les mœurs de Platon›, ‹ce sont les mots mêmes d’Aristote› mais nous, que disons-nous nousmêmes? Que jugeons nous? Que faisons nous? Autant dirait bien un perroquet. [. . .] Nous prenons en garde les opinions et le savoir d’autrui, et puis c’est tout.» 264 Bezüglich der Nachahmung in der Renaissance vgl. Hermann Gmelin: Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance. In: Romanische Forschungen, 46 (1932), S. 83–360; Harold Ogden White: Plagiarism and Imitation during the English Renaissance. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1935, S. 3–19; Raymond Lebègue: La traduction et l’imitation dans la littérature française du XVIe siècle. In: L’année propédeutique, 5–6 (1952), S. 140–147, hier S. 140, 147; Enea Henri Balmas, Diego Valeri: L'età del Rinascimento in Francia. Letteratura e storia. Firenze: Sansoni 1969; Fernando Lázaro Carreter: Imitación y originalidad en la poética renacentista. In: Francisco Rico (Hg.): Historia y crítica de la literatura española. Band 2/1. Barcelona: Crítica 1980, S. 91–97; G. W. Pigman: Versions of imitation in the Renaissance. In: Renaissance Quarterly, 33 (1980), S. 1–33; Jean-Claude Moisan: Le jeu des simulacres ou la rhétorique consciente. In: Renaissance et Reformation, 1 (1984), S. 19–28; H. F. Plett: Renaissance Poetik zwischen Imitation und Innovation. In: Ders. (Hg.): Renaissance Poetik. Berlin–New York: De Gruyter 1994, S. 1–22; Martin L. McLaughlin: Literary Imitation in the Italian Renaissance: The Theory and Practice of Literary Imitation in Italy from Dante to Bembo. Oxford: Oxford University Press 1996; Jan-Dirk Müller u.a. (Hg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin–New York: De Gruyter 2011; Eric Achermann: Unähnliche Gleichungen. ‹Aemulatio›, ‹imi-
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Aus eben diesem Grund hebt Huarte in seinem Examen de ingenios die Schwierigkeit sowie das Verdienst der Innovation hervor, im Gegensatz zu der Leichtigkeit und Trivialität, bereits Gesagtes zu wiederholen.265 In diesem Sinne betont Vives, dass die verschiedenen Disziplinen nicht reproduzieren, sondern das Wissen der Antike überwinden sollen. Folglich begreift er sein Werk nicht im Sinne einer Nachahmung antiker Autoren, sondern, im Gegenteil, unterzieht diese einer Kritik: es mucho más fructífero para las disciplinas ejercer la crítica sobre los escritos de los grandes escritores antes que contentarse con su sola autoridad y aceptar todo lo ajeno con confianza [. . .] si aplicáramos en ello nuestro esfuerzo, podríamos hablar en general de las cosas de la vida y la naturaleza mejor que Aristóteles, Platón o cualquiera de los antiguos. [. . .] ¿No se atrevió Aristóteles a destruir las opiniones de sus antecesores? ¿Acaso a nosotros nos están prohibidos la crítica y el examen? Especialmente porque, como Séneca dice sabiamente, «los que antes que nosotros dispusieron esto no son nuestros dueños sino nuestros guías». La verdad es accesible a todos y todavía no está ocupada por completo. Mucha parte de ella ha quedado para los que vendrán en el futuro.266
In dem Moment, in dem die Vollkommenheit der Alten antastbar wird, weicht das zyklische Zeitverständnis einem linearen.267 Der Geschichtsbegriff der spanischen Humanisten der Renaissance ist von einem Fortschrittsglauben geprägt. Dies bestätigen Juan de Pineda in Agricultura cristiana sowie Fray Tomás Mercado, indem sie darauf hinweisen, dass die menschlichen Werke sich im Laufe der Zeit der Vollkommenheit annähern, außerdem Baltasar de Vitoria, indem er den Zweck der Erfindung von Dingen in ihrer zunehmenden Vervollkommnung sieht, Juan de Zabaleta, für den die Zeit die Welt perfektioniert, und Suárez de Figueroa, demzufolge alle Künste und alle Wissenschaften mit der Zeit im Fortschritt begriffen sind, ohne je zu einer endgültigen Erkenntnisstufe zu gelangen. In derselben Linie positionieren sich Miguel Sabuco – im Bereich der Medizin – und Pérez de Moya – im Bereich der Kartographie und Mathematik.268
tatio› und die Politik der Nachahmung. In: Jan-Dirk Müller/Ulrich Pfisterer u.a. (Hg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin–New York: De Gruyter 2011, S. 35–73. 265 Juan Huarte de San Juan: Examen de ingenios. Herausgegeben von Guillermo Serés. Madrid: Cátedra 1989, S. 164: «[Al ser] tan dificultoso el inventar cosas nuevas y tan fácil añadir a lo que ya está dicho y tratado, las faltas del primero no merecen, por esta razón, ser muy reprehendidas, ni al que añade se le debe dar mucha alabanza». 266 Juan Luis Vives: Las disciplinas, I, S. 10–11. 267 Simone, Mazauric: Fontenelle et l'invention de l'histoire des sciences à l'aube des Lumières. Paris: Fayard 2007, S. 222. 268 José Antonio Maravall: Un humanisme tourné vers le futur. In: Augustin Redondo (Hg.): L’humanisme dans les lettres espagnoles. Paris: Librairie Philosophique 1979, S. 337–348, hier S. 346–347.
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Ebenso verteidigt Budé im Frankreich des 16. Jahrhunderts einen linearen Fortschritt des menschlichen Wissens.269 Mit dem Aufschwung des Fortschrittsglaubens durch die Wissenschaften erheben sich zugleich kritische Stimmen, wie die von Erasmus oder Montaigne,270 die fortwährend vor den Grenzen der menschlichen Vernunft warnen. Nichtsdestotrotz vergleicht Pascal die Anciens und die Modernes im 17. Jahrhundert mit dem Alter des Menschen, sodass beim Vergleich ihrer Erfolge, die Reife notwendigerweise über die Jugend siegt. Die Geschichte der Wissenschaften und des Menschen wird auf diese Weise als kontinuierlicher und aufsteigender Fortschritt begriffen. Die Autorität des antiken Denkens muss folglich den Erfolgen der modernen Wissenschaft weichen.271
1.4 Vita contemplativa und vita activa 1.4.1 Griechenland Die Überlegenheit des kontemplativen über das aktive Leben findet ihren Ursprung im antiken Griechenland. Für Platon zeichnet sich eine schwache Vernunft durch die Unfähigkeit, Affekte zu beherrschen und die stetige Suche nach Mitteln zu ihrer Befriedigung aus. Diese Art der Vernunft kann demnach
269 Somit kann Budé in gewissem Sinn als Vorreiter der Aufklärung (Herbert Schnädelbach: Descartes und das Projekt der Aufklärung. In: Wilhelm Friedrich Niebel/Angelika Horn u.a. (Hg.): Descartes im Diskurs der Neuzeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 186–206, hier S. 186–187) und der Enzyklopädie (Sylvie Le Clech-Charton: Guillaume Budé. L’humaniste et le prince. Paris: Riveneuve 2008, S. 250; Louise Katz: Guillaume Budé et l’art de la lecture. Turnhout: Brepols 2009, S. 111) verstanden werden. 270 Michel de Montaigne : Apologie de Raimond Sebond. In: Ders.: Essais. Band II. Paris: Imprimerie nationale 2003, S. 159–399, hier S. 287. Zum Skeptizismus bei Erasmus vgl. Christine Christ-v. Wedel: Das Nichtwissen bei Erasmus von Rotterdam. Zum philosophischen und theologischen Erkennen in der geistigen Entwicklung eines christlichen Humanismus. Basel–Frankfurt a. M.: Helbing & Lichtenhahn 1981, S. 134–135. 271 Blaise Pascal: Préface sur Le Traité du vide. In: Ders.: Œuvres complètes. Herausgegeben von L. Lafuma. Paris: 1963, S. 232–233: «Non seulement chacun des hommes s’avance de jour en jour dans les sciences, mais que tous les hommes ensemble y font un continuel progrès [. . .] De sorte que toute la suite des hommes, pendant la course de tant de siècles, doit être considerée comme un même homme qui subsiste toujours et qui apprend continuellement: d’où l’on voit avec combien d’injustice nous respectons l’antiquité dans ses philosophes; car, comme la vieillesse est l’âge le plus distant de l’enfance, qui ne voit que la vieillesse, dans cet homme universel, ne doit pas être cherchée dans les temps proches de sa naissance, mais dans ceux qui en sont les plus éloignées?»
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nur der Ausübung der mechanischen Künste und niederen Berufe wie dem Handel dienen.272 Die schwache Vernunft kann sich ausschließlich auf irdische Objekte richten, während der Weise sich durch seine Vernunft zur Ideenwelt erheben und das Wesen der Dinge schauen kann.273 Den wahren Wert der Wissenschaften kann nur der Weise würdigen, während die Übrigen bloß ihren praktischen Nutzen sehen können. Obwohl sich Händler und Kaufleute die Mathematik für ihre Ankäufe und Verkäufe zunutze machen, ist ihre eigentliche Funktion die, der Seele den Weg zur Kontemplation des Seins zu weisen. Auch die Geometrie und Astronomie bilden in der Seele den philosophischen Geist, indem sie den Blick in die Höhe anstatt zu irdischen Dingen richten, mit denen hingegen der Nutzen üblicherweise verbunden wird. Dasselbe gilt für die Musik, die zur Erkenntnis des Guten und Schönen beiträgt und dennoch zu nichts führt, solange sie mit einem anderen Zweck gelehrt wird. Alle diese Disziplinen sollen feste und unveränderliche Prinzipien und Relationen zwischen ihren Gegenständen ausbilden, seien es Proportionen, Sterne oder Musiknoten – ein Anspruch, den jedoch jeder gewöhnliche Mathematiker, Astronom oder Musiker als extravagant bezeichnen würde. So warnt Platon vor den Schwierigkeiten, die das wahre Studium dieser Wissenschaften impliziert. Einerseits erfordern sie hohe Anstrengungen, weshalb sich ihnen nur Wenige widmen und es nicht leicht ist, einen guten Lehrer zu finden. Andererseits werden ihre Errungenschaften von keinem Staat wertgeschätzt.274 Auch Aristoteles stellt die vita contemplativa über die vita activa, die Weisheit über die Klugheit.275 Die Klugheit gibt ihre Befehle gemäß den Anordnun-
272 Platon: Der Staat, 590–591, S. 385–386. 273 Im Philosophen sollen vita activa und vita contemplativa zusammenkommen (Robert Spaemann: Die Philosophenkönige, S. 175), da jenen, die das Licht der Ideen geschaut haben, die Aufgabe obliegt, die Zurückgebliebenen in der Höhle zu leiten, sodass die philosophische Tätigkeit in der idealen Republik nicht von der Politik zu trennen ist (Ada Babette Hentschke: Politik und Philosophie bei Platon und Aristoteles. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 1971, S. 36). Dennoch begreift Platon den idealen Staat als eine erweiterte Projektion der individuellen Tugend (Alexander Demandt: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, S. 76; Julia Annas: Politics and Ethics in Platos Republic. In: Otfried Höffe (Hg.): Platon. Politeia. Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 141–160, hier S. 144) und lehnt die Idee des Guten im Interesse ihrer Nützlichkeit als falsch ab (Friedo Ricken: Gemeinschaft, Tugend, Glück. Platon und Aristoteles über das gute Leben. Stuttgart: Kohlhammer 2004, S. 20). Der ideale Staat entsteht also nicht aus der nützlichen Anwendung der kontemplativ erworbenen Tugend, sondern die individuelle Tugend erweitert sich und wird dadurch kollektiv. 274 Platon: Der Staat, 525–532, S. 285–295. 275 Aubeque lehnt in diesem Sinne die These von Werner Jaeger: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung. Berlin: Weidmann 1955 ab, der zwei Phasen im aristotelischen Denken ausmacht: eine platonische und eine der Kritik an Platon. Für Aubenque kann
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gen der Weisheit,276 weshalb sie sich ihr unterordnet.277 Darüber hinaus ermöglicht nur die Weisheit die Verwirklichung von Glückseligkeit und Erfüllung des Menschen.278 Die Muße der Philosophie zeichnet den freien Menschen gegenüber dem Sklaven aus, weshalb sie die edelste Lust darstellt: jene, die vom Verstand herrührt.279 Sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles ist es die vita contemplativa, die zur vollkommenen Weisheit und Glückseligkeit führt. Aristoteles führt dies auf ihre Ähnlichkeit mit der Glückseligkeit der Götter zurück, die in höchstem Maß glücklich sind, ohne sich mit menschlichen anstelle von göttlich-kontemplativen Belangen aufzuhalten. Der Unterschied ist, dass der sterbliche Mensch die vollkommene Glückseligkeit nicht anstreben kann, da selbst der Weise, wie Platon aufzeigt, seinen elementarsten Bedürfnissen, wie der Gesundheit und Ernährung, nachkommen muss, um sich der Kontemplation widmen zu können. Wer seinen Tätigkeiten jedoch vermöge seiner Vernunft nachkommt und diese ausbildet, steht in der Gunst der Götter, weil sie an jenen, die ihnen gleichen, Gefallen finden und sie belohnen. Da der weise Mann von den Göttern am meisten geliebt wird, ist er auch der Glücklichste.280 Die kontemplative Tätigkeit ist die einzige, die um ihrer selbst willen geliebt wird, da sie keinen anderen Zweck als die Kontemplation selbst verfolgt, während praktische Tätigkeiten ihren Zweck in von der Handlung unterschiedenen Resultaten finden. Die Kontemplation bildet zugleich den letzten Zweck aller Dinge. Während die Tätigkeit praktischer Tugenden in der Politik und mi-
jedoch nicht von einem kontemplativen Ideal gesprochen werden, das sich zu einem Ideal der Klugheit entwickelt, da das kontemplative Leben auch von Aristoteles, in seinem gesamten philosophischen Schaffen, als dem politischen überlegen angesehen wird (Pierre Aubenque: La prudence chez Aristote. Paris: Presses Universitaires de France 1963, S. 19). Die Weisheit, die durch Kontemplation erreicht wird, erachtet Aristoteles tatsächlich als höchste Form der Erkenntnis. Sie dient keinem spezifischen Zweck (Stephan Herzberg: Menschliche und göttliche Kontemplation. Eine Untersuchung des bios theoretikos bei Aristoteles. Heidelberg: Winter 2013, S. 53); die Glückseligkeit wird mit der spekulativen Tätigkeit des Geistes gleichgesetzt (Reinhart Maurer: Platons Staat und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik, S. 120; Pierre Defourny: Die Kontemplation in den aristotelischen Ethiken. In: Fritz-Peter Hager (Hg.): Ethik und Politik des Aristoteles. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 219–234, hier S. 227). 276 Die Klugheit reflektiert über die notwendigen Mittel für die Erlangung eines bestimmten Ziels, ohne das Ziel selbst festlegen zu können (Viktor Cathrein: Der Zusammenhang der Klugheit und der sittlichen Tugenden nach Aristoteles (1931). In: Fritz-Peter Hager (Hg.): Ethik und Politik des Aristoteles. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 55–65, hier S. 59). 277 Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1145a, S. 149. 278 Ebda., 1143b, S. 146. 279 Aristoteles: Politik, 1334a, S. 271–272. 280 Ebda., 1323a–1323b, S. 236–238.
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litärischen Handlungen (die sich durch ihren Ruhm und ihre Größe auszeichnen) ausgeübt wird und ihre Handlungen mühsam sind (der Staatsmann strebt Macht und Ehre oder seine eigene Glückseligkeit und die der Bürger an), wird die kontemplative Tätigkeit von Muße und Freude an ihr selbst begleitet. In Abhängigkeit von der gewählten Tugend macht Aristoteles drei verschiedene Lebensformen aus. Die erste, des philosophischen Lebens, gründet in der Tugend der Weisheit, die die Klugheit, intellektuelle Tugenden sowie die Kontemplation der Wahrheit umfasst. Die zweite Form, des politischen Lebens, gründet in der Klugheit und umfasst die edlen Handlungen und Tugenden. Die dritte schließlich, des Genusslebens, widmet ihre Aufmerksamkeit ausschließlich den körperlichen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung, beispielsweise durch Nahrung oder Kleidung, wobei sie sich der artes mecanicæ bedient.281 Der Weise wird seit Platon und Aristoteles als den übrigen Menschen überlegen angesehen, da er durch die Erkenntnis Glückseligkeit finden kann. Und dennoch: Soll der Weise für die Glückseligkeit der anderen Menschen sorgen, wie Platon vorschlägt, oder soll er sich vom politischen Leben fernhalten und der Kontemplation widmen, indem er die Staatsführung dem Klugen überlässt, wie es Aristoteles vertritt? Diese Fragestellung wird von Cicero und Seneca wieder aufgenommen, die diesbezüglich gegensätzliche Positionen einnehmen.
1.4.2 Rom Cicero distanziert sich von Aristoteles und Platon, indem er nicht in der Philosophie und Kontemplation, sondern in der Politik die höchste und würdigste Tätigkeit des Menschen sieht. Der Staatsmann ist der Gesellschaft von größerem Nutzen und des Glanzes und Ruhmes würdiger als der Weise. Dieser kann sich vollständig dem Studium der Wissenschaften hingeben, so wie gesundheitlich eingeschränkte Menschen sich eines zurückgezogenen Lebens erfreuen können.282 Die Klugheit soll, vereint mit der Gerechtigkeit, der Weisheit vorangestellt werden, da sie im Vergleich zu letzterer dem Gemeinwohl dient. Bei der Wahl der Pflichten ist es die Klugheit, die in direkter Beziehung zur Gesellschaft steht. Denn aus ihrer Erkenntnis folgt die richtige Handlung, weshalb Cicero das richtige Handeln als weitaus wichtiger erachtet als das weise Denken. Die Weisheit ist nun kein Zweck an sich mehr, sondern soll bei Cicero einen konkreten Beitrag zum Wohl der Republik leisten. Die Weisen sind frei,
281 Aristoteles: Eudemische Ethik, 1215a–1215b, S. 8. 282 Cicero: De officiis, S. 77–78.
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ihr Leben und Talent für das Studium der Wissenschaften aufzuwenden, jedoch sollen sie das Gelernte zum Vorteil der Gesellschaft einsetzen, indem sie anderen zeigen, wie sie bessere Bürger und nützlich für die Staatsführung werden können. Platon selbst habe dies mit Dionysos von Syrakus versucht. Die Hingabe der Weisen an das kontemplative Leben und das Wissen an sich ist laut Cicero also nur dann gerechtfertigt, wenn es durch die Lehre in politischen Belangen der Gesellschaft zum Nutzen und Vorteil gereicht.283 Schließlich ist die Würde des Politikers für Cicero der des weisen Philosophen überlegen.284 Denn obwohl er ebenso wie der Weise eines ruhigen Gemüts bedarf, um standhaft zu bleiben, ist diese Aufgabe für den Staatsmann schwerer zu erreichen, da er in seinem aktiven Leben Schicksalsschlägen stärker ausgesetzt ist. Seine Arbeit ist von größerer Ernsthaftigkeit als die derer, die Muße treiben.285 Somit bewahrt das kontemplative Leben des Philosophen die Würde, die ihm in der griechischen Kultur zuteilwurde, jedoch ordnet es Cicero dem politischen Leben unter, indem er ein neues hierarchisches System der Disziplinen und Ämter etabliert.286 In diesem Sinne beschreibt Cicero, dass er niemals den geringsten Beitrag seiner Fähigkeiten dem öffentlichen Leben und der Verwaltung des Staates verweigert und sich mithin nur dann der Philosophie widmet, wenn er gezwungenermaßen von der Regierung des Staates ablassen muss.287 Unter diesen Umständen wäre es jedoch falsch, sich dem Vergnügen hinzugeben, da die Zeit der Muße mit Würde eingesetzt werden soll. Und für Cicero ist die Suche nach Weisheit eine der edelsten und würdevollsten Aufgaben,288 da sie die Wissenschaft der göttlichen und menschlichen Belange und das Mittel zur Erlangung der Tugend ist.289 Alle Bereiche der Philosophie sind weitreichend und sehr ertragreich, doch ihr wesentlicher Beitrag ist ein moralischer, da sie den Leitfaden für ein ehrenhaftes und glückliches Leben gibt.290 Um diesem Studium Würde zu verleihen, muss es sich zum Vorteil der Gesellschaft auswirken, weshalb Cicero, solange er nicht zur Tat schreiten kann, seine Erkenntnisse niederschreibt. 283 Ebda., S. 250–260. 284 Neal Wood: Cicero’s Social and Political Thought. Berkeley–Los Angeles–Oxford: University of California Press 1991, S. 121; Norbert Blößner: Cicero gegen die Philosophie, S. 258. 285 Cicero: De officiis, S. 79–86. 286 Cicero: Lucullus. Düsseldorf–Zürich: Artemis & Winkler 1997, S. 118. 287 Cicero: De officiis, S. 264–266. 288 Cicero betont im Hortensius, dass die Philosophie unermüdlich auf der Suche nach allem ist, was mithilfe der Tugend zum glücklichen Leben beiträgt, die wiederum nur durch die Philosophie erreichbar ist (Cicero: Hortensius, S. 16). 289 Cicero: De officiis, S. 270–272. 290 Ebda., S. 418.
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Im Gegensatz dazu gesteht Seneca dem politischen Leben weitaus weniger Würde zu. Da es von niederträchtigen Ereignissen des menschlichen Lebens gekennzeichnet ist, verdient es wenig Wertschätzung und soll vom Weisen verachtet werden. Wenn es ihm dennoch unabdingbar ist, einzuschreiten, so soll der Weise danach aber auf dem schnellsten Weg zurück ins kontemplative Leben finden.291 Die Sündhaftigkeit des politischen Lebens rechtfertigt die Zurückgezogenheit des Weisen als tugendhaften Menschen. Damit bezieht sich Seneca auf den Stoiker Athendoros, der, obwohl er das politische Leben und die Verwaltung des Staates als würdevolle Aufgaben sieht, den Rückzug aus diesen empfiehlt, sobald sie von Ehrgeiz und Ungerechtigkeit beherrscht werden. In seiner Abgeschiedenheit kann der Weise durch sein Wissen, seine Worte und seinen Rat eher zum Wohl der Republik beitragen: Nec enim is solus rei publicae prodest, qui candidatos extrahit et tuetur reos et de pace belloque censet; sed qui iuventutem exhortatur, qui in tanta bonorum praeceptorum inopia virtutem insinuat animis, qui ad pecuniam luxuriamque cursu ruentes prensat ac retrahit et, si nihil aliud, certe moratur, in privato publicum negotium agit.292
Folglich kann nicht angenommen werden, dass der Richter durch sein Urteil mehr zum Wohl der Republik beiträgt als jener, der sich dem kontemplativen Leben hingibt und lehrt, was Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Geduld, Stärke oder ein gutes Gewissen ist. Die Hingabe an das Studium stellt also trotz der Abgeschiedenheit kein fehlendes Pflichtbewusstsein dar, sondern erfüllt eine würdevolle Aufgabe. In seiner Zurückgezogenheit kann der Weise ehrenhaft für die Republik handeln. Am Beispiel des Sokrates veranschaulicht Seneca die unheilvollen Konsequenzen, die die Teilnahme des Weisen am öffentlichen Leben mit sich bringen kann. Weil er sich den dreißig Tyrannen, die im Begriff waren, Athen zu zerstören, entgegenstellte, nahmen sie ihm das Leben und der Republik zugleich den größten ihrer Ratgeber. Aus diesem Grund ist es angebracht, sich in besonders schlechten Zeiten aus der Republik zurückzuziehen, um ihr durch Muße und Wissen helfen zu können.293 Ebenso wie bei Platons Vorstellung vom idealen Staat sind es bei Seneca die Weisen, die die Macht im Goldenen Zeitalter innehatten. Jedoch verfiel die Monarchie im Laufe der Zeit zur Tyrannis, weshalb Gesetze unabdingbar wur-
291 Seneca: De tranquillitate animi. In: Ders.: Die kleinen Dialoge. Band II. München: Artemis & Winkler 1992, S. 96–169, hier S. 100. 292 Seneca: De tranquillitate animi, S. 114. 293 Ebda., S. 116–118. 294 Seneca: Epistulæ morales ad Lucilium. Liber XIV. Stuttgart: Reclam 2005, S. 20–21.
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den. Diese wurden zunächst ebenfalls von Weisen geschaffen, wie das Beispiel des Atheners Solon belegt, der zu den Sieben Weisen von Griechenland zählt.294 Dennoch ist es angesichts eines Verfalls des politischen Lebens angebracht, dass der Weise sein Eingreifen in die Politik passiv gestaltet, so wie die Stoiker, abgesehen von ihrem zwangsweisen Rückzug aus dem politischen Leben, das Leben in der Abgeschiedenheit veredelten und den Menschen moralische Prinzipien vorgaben, ohne die Mächtigen zu belästigen. In diesem Sinne beschränkt sich die Aufgabe des Philosophen darauf, die richtigen Tugendbegriffe für die Regierenden festzulegen, anstatt selbst Macht auszuüben.295 Diese Aufgabe hat in einer tyrannischen Regierung eine konfliktreiche Position des Weisen zur Folge. Denn er muss sich vor Angriffen schützen, die nun vom Volk, den einflussreichen Männern des Senats oder wenigen Machthabern ausgehen. Deshalb soll der Weise die Mächtigen nach Möglichkeit meiden und sich vor dem Volk schützen, so wie ein guter Steuermann sein Schiff vom Sturm fernzuhalten sucht.296 Das Eingreifen des Weisen in die Machtausübung kann nur zu Resultaten wie im Falle des gerechten und weisen Catos führen, der auf ungerechteste Art und Weise beschimpft und verleumdet wurde. Seneca verwendet häufig die Metapher des Löwen, die die Stärke und Größe des Weisen repräsentieren soll.297 Denn so, wie der Löwe auch bei seinem Rückzug in voller Kraft und Stärke bleibt, so bleibt auch der Weise unerschütterlich, wenn er sich in das kontemplative Leben zurückzieht. So heldenhaft wie Herkules oder Odysseus kämpft Cato gegen die Ungeheuer der Bestechung, der Habgier und der Laster der Republik. Dennoch endet der Kampf mit der Verachtung dieses tugendhaften Mannes, die so ungerecht wie tragisch ist. Er stirbt in einer Republik ohne Tugend. Trotzdem, so tröstet sich Seneca, befreit ihn seine Weisheit von jeglicher Schande.298 Der Lehrer Neros erachtet eine Beleidigung des Weisen als unmöglich; wie die Götter wird er nicht erschüttert, wenn der unwissende König Pfeile gegen ihn schießt und ebenso wenig verletzt, wenn die Gottlosen seine Tempel anzünden. Außerdem kann der
295 Seneca: Epistulæ morales ad Lucilium. Liber II, S. 20. 296 Ebda., S. 16. 297 Seneca verwendet die Symbolik des Löwen auch in anderen Kontexten. In der Epistola XIX ad Lucilium warnt er, der Mensch solle nicht nur darauf achten, was er isst und trinkt, sondern vor allem mit wem er isst und trinkt, «nam sine amico visceratio leonis ac lupi vita est». Denn ohne Freunde wäre das Leben wie das eines Wolfes oder Löwen, eines wilden Tieres, das sich mit der Befriedigung seiner primitiven Instinkte zufrieden gibt (Seneca: Epistulæ morales ad Lucilium. Liber II, S. 54). 298 Seneca: De constantia sapientis. In: Ders.: Die kleinen Dialoge. Band I. München: Artemis & Winkler 1992, S. 46–95, hier S. 48.
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Weise niemals seines Besitzes enteignet werden, da er nur Tugend besitzt und an anderen Gütern nur gerade das Nötigste hat. Abgesehen von seiner Sterblichkeit ist der Weise den Göttern gleich und seine Tugend ist an das Leiden gewöhnt.299 Der Charakter des Weisen ist dem des Königs somit weit überlegen, der in einer Republik herrscht, in der, angefangen beim Machthaber, alle schlecht sind.300 Cicero hatte die Philosophie dem politischen Leben untergeordnet.301 Hingegen findet die Philosophie bei Seneca die höchste Würde, die ihr seit Platon und Aristoteles zuteilwurde. Für letzteren ist es das dem Studium gewidmete Leben, das den freien Menschen vom Sklaven unterscheidet, den, im Gegensatz zum Philosophen, nur die Sorge um seinen Körper beschäftigt. Die Philosophie widmet sich hingegen der Sorge um die Seele, ohne die der Geist erkrankt.302 Auf diese Weise unterscheidet sich die Philosophie deutlich von untergeordneten Künsten, indem sie die einzige ist, die den Menschen zur Glückseligkeit führt. Die bloße Hingabe an das Studium bringt bereits ein erträgliches Leben mit sich, in dem stets auf den Rat der Wissenschaft zurückgegriffen werden kann. So beschützt die Philosophie den Weisen und ermöglicht ihm ein unbekümmertes Leben.303 Da dies der einzige Weg zur Tugend ist, verlieren materielle Reichtümer jeglichen Wert. Der glücklichste304 und würdevollste ist für die Götter jener, der auf derartige Güter verzichtet, da er dank seiner Vernunft nichts ersehnt noch fürchtet.305 Diesem Urteil entsprechend sind alle Wissenschaften, die den Wunsch nach Prunk und Schein vergrößern, wie beispielsweise die Architektur, verachtenswert.306 Die Philosophie bringt dem Weisen und allen, die ihr folgen, Trost, Schutz und Tugend. Die vita contemplativa genießt bei Seneca einen weit höheren Status als die vita activa und daher ist der weise Mensch dem politischen deutlich überlegen, da er, wie bereits bei Aristoteles, den Göttern näher ist.
1.4.3 Vom Mittelalter zur Renaissance Im Mittelalter bleibt die Überlegenheit der vita contemplativa über die vita activa sowohl in platonischer Tradition bei Augustinus als auch in aristotelischer bei Tho-
299 Ebda., S. 50–70. 300 Ebda., S. 78. 301 Cicero: Lucullus, S. 118. 302 Seneca: Epistulæ morales ad Lucilium. Liber II, S. 24. 303 Ebda., S. 30–32. 304 Ebda., S. 48. 305 Seneca: De vita beata. Stuttgart: Reclam 2009, S. 14. 306 Seneca: Epistulæ morales ad Lucilium. Liber XIV, S. 22.
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mas von Aquin erhalten. Wie auch Aristoteles unterscheidet Thomas von Aquin zwischen spekulativen Wissenschaften, deren Zweck in der Kontemplation liegt, und praktischen Wissenschaften, die am Handeln ausgerichtet sind, wobei ersteren der Vorzug gilt. Die Wissenschaft Gottes, eher spekulativ als praktisch, ist vollkommen. Obwohl sie von einem fundamental spekulativen Charakter zeugt, muss die Weisheit ebenfalls eine praktische Dimension beinhalten. Denn der Weise, der richtig urteilt, muss gemäß diesem Urteil handeln. Andernfalls handelte er gegen die Nächstenliebe und sündigte, was unvereinbar mit wahrer Weisheit wäre.307 Auch im Humanismus der Renaissance ergänzen sich vita contemplativa und vita activa weiterhin gegenseitig,308 sodass die durch Kontemplation erlangte Tugend unabdingbare Voraussetzung für tugendhaftes Handeln ist.309 Dennoch vollzieht sich ein Wandel durch eine Umkehrung der Hierarchie. Wissen bedeutet Tugend, die jedoch ohne praktische Anwendung nutzlos ist.310 Dieser Wandel in der Hierarchie hat sich mit dem Humanismus ab Ende des Trecento vollzogen, der – von Cicero inspiriert – die vita activa über die vita contemplativa stellt.311 Dies bekräftigt Salutatis De vita associabili et operativa, das als Antwort auf Petrarcas De vita solitaria gelesen werden kann.312 Tatsächlich besetzt ein großer Teil der Humanisten des Quattrocento Ämter im Dienst der Republik, die die praktische Anwendung politischer, philosophischer sowie literarischer Kenntnisse ermöglichen. Obwohl der Vorrang der vita contemplativa vor der vita activa noch in platonischer und aristotelischer Tradition fortlebt, ist ein Paradigmenwechsel in Verbindung mit dem starken
307 Thomas von Aquin: Summa theologiae, Secunda Secundae, Qu. 45, A. 3. 308 Diesen Gedanken verdeutlicht Rohwetter am Beispiel Budés (Christina Rohwetter: Zur Typologie des Herrschers im französischen Humanismus. Le Livre de l'Institution du Prince von Guillaume Budé. Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2002, S. 37). 309 Paul Oskar Kristeller: The Active and the Contemplative Life in Renaissance Humanis, S. 199–212. 310 Juan Luis Vives: Introducción a la sabiduría, S. 26; Michel de Montaigne: Du pédantisme, S. 237. 311 Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance: Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny; Hans Baron: Humanistic and Political Literature in Florence and Venice at the beginning of the Quattrocento. Studies in Criticism and Chronology, S. 49–50; Hans Baron: From Petrarch to Leonardo Bruni. Studies in Humanistic and Political Literature, S. 102–103. 312 Rudolf Pfeiffer: Die klassische Philologie von Petrarca bis Mommsen, S. 42.
1.4 Vita contemplativa und vita activa
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Einfluss Ciceros deutlich erkennbar,313 der nicht mehr, wie im Mittelalter, im Wesentlichen als Philosoph, sondern vor allem als Staatsmann und Rethoriker gewürdigt wird. Kurzes Zwischenfazit Die Analyse dieser vier paradigmatischen Topoi des humanistischen Diskurses hat letztendlich bestätigt, dass seine Hierarchisierungen in der Unterscheidung des homo humanus vom homo barbarus und sein politisches, soziales sowie bildendes Programm im Gegensatz von humanitas und feritas begründet sind. Die humanitas erweist sich als veränderlicher Begriff, der die Ungleichheit zwischen Herrschenden und Beherrschten legitimiert. In diesem Sinne geschieht während der Renaissance ein Paradigmawechsel, der durch die Macht des Bürgertums angestoßen wird und sich in Veränderungen äußert, sowohl in den politischen Hierarchien als auch in den wissenschaftlichen Disziplinen, die den Zugang zur Macht ermöglichen. Die humanitas, die Erkenntnis der Tugend als traditionelles Erbe einer Minderheit, wird im zweiten Humanismus allmählich unter einer zunehmend größeren Mehrheit verbreitet, wodurch ein Prozess in Gang gesetzt wird, der mit der französischen Revolution seinen Höhepunkt erreicht. Die Tugend wird immer stärker mit dem Nutzen verbunden, was einen Wandel in der Hierarchie der Wissenschaften zur Folge hat. Während bei Platon, Aristoteles und im Mittelalter die kontemplativen Disziplinen privilegiert werden, weist der Humanismus gegen Ende des Trecento die belanglosen theoretischen Debatten der Dialektik zugunsten der nützlichen und praktisch orientierten Rhetorik zurück. Die Erkenntnis der Tugend durch die Kontemplation soll im politischen Leben für die Erlangung des Gemeinwohls sorgen. Auch die Kenntnis der Natur soll einer Verbesserung des menschlichen Lebens dienen. Unter Berufung auf Cicero gesteht der Humanismus zunächst der Rhetorik und, im Zuge der Entwicklung des zweiten, dem Nützlichkeitskriterium verpflichteten Humanismus, der Mathematik und Physik eine vorrangige Stellung zu. Obwohl die vita contemplativa und die vita activa weiterhin vom Ideal ihrer Einheit aus betrachtet werden, beginnt im Humanismus der Renaissance ein Wandel ihrer Hierarchie, durch den dem aktiven Leben eine höhere Bedeutung zukommt. All diese Wandlungen spiegeln sich, wie der folgende Teil zeigen wird, in der Utopie der Renaissance wider.
313 Aus diesem Grund bezeichnet Gilson diese Zeit als ciceronianische Ära (Étienne Gilson: Le Message de l’humanisme, S. 4).
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1.5 Die Utopie der Renaissance und der Wandel zum zweiten Humanismus In der Antike wird der Mythos, wie Aristoteles in der Poetik darlegt,314 als Nachahmung einer Handlung definiert.315 Die aristotelische Unterscheidung zwischen Lüge und Fiktion, zwischen Realem und Wahrscheinlichem als Gegenstand der Nachahmung schreibt dem Mythos eine noetische Funktion zu;316 die fiktionale Erzählung orientiert sich nämlich an der Belehrung durch das Beispiel. Da die Dichtung nicht bereits Geschehenes reproduziert, sondern das, was hätte geschehen können, ist sie und ihr Beitrag zur Erkenntnis der Moral der Geschichtsschreibung überlegen, da die Dichtung eine breitere Palette von Möglichkeiten umfasst. Auch für den Humanismus trägt die Literatur einerseits maßgeblich zur Erlangung eines universalen Wissens und der Erkenntnis der Tugend bei, über die derjenige verfügen soll, der zur auserwählten Minderheit zählen möchte. Andererseits stellt die Literatur ein wirksames Medium zur Verbreitung der Tugend dar, indem sie das Lob bestimmter Sitten sowie die Geringschätzung anderer nahelegt. Dabei ist die Tugend ein integratives Element, das alle Individuen unter demselben allgemeinen Vernunftideal vereint. Die Verbreitung dieses ethischen Wissens ist somit im humanistischen Diskurs konstitutiv für den Zusammenhalt des Staates. Die Gerechtigkeit, so behauptet Vives, kann nicht verinnerlicht werden, wenn sie nicht erlernt wurde. So gerecht also das Verhalten eines Königs sein mag, kann das Volk es doch nicht als tugendhaft anerkennen, solange es die Tugend nicht kennt. Deshalb weisen bereits die ersten Humanisten darauf hin, dass jeder Staat für eine gute Bildung der Jugend sorgen sollte, da ihr Wissen, das sie in humanistischen Disziplinen erwerben, seine Zukunft sichert.317 Das Studium «guter» Literatur ist demnach für den Fürsten gleichermaßen erforderlich wie für das Volk. Deshalb soll sorgsam die Literatur ausgewählt werden, die Werte vermittelt, und jene verworfen werden, die von der Tugend entfernt. 314 Aristoteles: Poetik. Herausgegeben von Arbogast Schmitt. Berlin: Akademie Verlag 2011, 1450a, S. 9. 315 Luc Brisson: Platon. Les mots et les mythes. Paris: Librairie François Maspero 1982, S. 169. 316 Diese entsteht bei Platon aus den positiven Mythen, die Wahrheit beinhalten, im Gegensatz zu negativen oder falschen Mythen von Homer oder der griechischen Tragödie (Theo Kobusch: Die Wiederkehr des Mythos. Zur Funktion des Mythos in Platons Denken und in der Philosophie der Gegenwart. In: Markus Janka/Christian Schäfer (Hg.): Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 44–57, hier S. 45). 317 Eugenio Garin: L’educazione in Europa (1400–1600). Problemi e programmi, S. 127–136.
1.5 Die Utopie der Renaissance und der Wandel zum zweiten Humanismus
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Die enge Verbindung zwischen Literatur und Politik wird noch 1660 von Guez de Balzac in Aristippe ou de la Cour verdeutlicht: Mais que le Prince est heureux, et que le Ciel l’aime, s’il rencontre en son temps des Esprits du premier Ordre [. . .] des Hommes que Dieu crée exprès, et qu’il envoie extraordinairement pour prévenir ou pour forcer les maux de leur siècle, pour empêcher ou pour calmer les orages de leur Patrie. Ce sont les Anges tutélaires des Royaumes et les Esprits familiers des Rois. Ce sont les Secondes des Alexandres et des Césars. Ils soulagent les Princes dans ses grands travaux. Ils partagent avec lui les salutaires inquiétudes sans lesquelles le Monde n’aurait point de tranquillité. [. . .] Les Poètes ont été les plus anciens Précepteurs du genre humain. Ils lui ont enseigné les premiers principes de la Politique et de la Morale [. . .] ils ont découvert et marqué du doigt la vérité: Les Philosophes l’ont depuis estalée et mise en son jour.318
Die Literatur verbindet Vergnügen und Nutzen, weshalb ihre Reichweite weitaus höher als die eines philosophischen oder wissenschaftlichen Textes ist. Erasmus, der großen Einfluss auf die spanischen Fürstenspiegel ausübt, empfiehlt die Kindeserziehung des künftigen Königs anhand von unterhaltsamen Märchen und schönen Parabeln, um ihn später mit mehr Strenge zu unterrichten319 und Budé lobt die aristotelische Unterweisung von Alexander dem Großen durch die Ilias.320 Das humanistische vernunftbestimmte Ideal von Erkenntnis und Tugend, das dem Wohl des Staates dienen soll, findet einen literarischen Ausdruck in der Utopie. Platon war es, der mit seiner Politeia die Grundlagen der Gattung schuf: eine spekulative Erzählung, die eine Gesellschaft beschreibt, die nach vernünftigen Prinzipien gestaltet ist und in der die hervorstechenden Mängel der Gesellschaft seiner Zeit korrigiert sind. Der Text unterzieht damit die unmittelbare Gegenwart einer kritischen Reflexion und tut dies mit einer ausführlichen Beschreibung der pädagogischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen, die in diesem alternativen Gemeinwesen gelten. Die Dialektik zwischen Identität und Alterität, zwischen Außer- und Innerliterarischem, zwischen Realem und Idealem, zwischen Möglichem und Unmöglichem verleihen der Utopie jene Ambiguität, die dazu führt, dass die Politeia noch im 20. Jahrhundert sowohl als heuristisches Modell (Gadamer) als auch als Beispiel einer geschlossenen Gesellschaft (Popper) verstanden wird.
318 Guez de Balzac: Œuvres. Paris: Jacques Lecoffre 1854, S. 170. 319 Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani, S. 126. 320 Guillaume Budé: Livre de l’Institution du Prince, S. 71.
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Wenngleich sich also Platon als Vorläufer der literarischen Gattung der Utopie anführen läßt, erfährt die Gattung doch in der Renaissance einen so radikalen Wandel, dass sie künftig nach dem Modell des Thomas Morus benannt wird. Die platonische Utopie, paradigmatisch für die Antike, hatte den Mythos des Goldenen Zeitalters und die Sehnsucht nach den Ursprüngen, die einer unausweichlichen Dekadenz vorausgingen,321 aufgenommen und blieb so der Vorstellung vom Fortschritt fern.322 Morus dagegen errichtete die Gattung neu, ausgehend vom Vertrauen in die Perfektibilität des Menschen, das für die Renaissance, angesichts der neuen Entdeckungen und der Infragestellung des überlieferten Wissens charakteristisch ist. Mit seiner Utopie bricht Morus mit dem platonischen Modell und schafft auf diese Weise eine Art Paradis, das nicht mehr wie das mittelalterliche transzendent, sondern immanent ist und nicht göttlichen, sondern menschlichen Grundsätzen folgt. Auch wenn die Religion in den Utopien der Renaissance präsent bleibt, unterwirft sie sich doch einer Rationalität, die zur Herausbildung einer modernen Polis führt. Angestrebt wird Prosperität, nicht im Jenseits, sondern im Diesseits.323 Anders als die platonische Politeia sind die Utopien der Renaissance in der Gegenwart angesiedelt und erscheinen deswegen wahrscheinlich. Die Tatsache, dass ihre Orte weit entfernt und isoliert sind, ermöglicht die Gestaltung der Utopie auf der Grundlage eines Reiseberichts. Darin dient die Beschreibung der fremden Sitten und Strukturen dazu, bei den Regierenden wie beim Volk eine kritische Reflexion in Gang zu setzen, um das Beste des utopischen Gemeinwesens nachzuahmen.324 Die Koexistenz der gegenwärtigen und der utopischen Gesellschaft lässt, im Vergleich zur Politeia, die Fortschritte und Veränderungen realisierbarer erscheinen. Alle diese Veränderungen der Utopie ergeben sich, wie in den folgenden Kapiteln gezeigt werden soll, aus dem neuen Vernunftideal, das in der Renaissance mit dem zweiten Humanismus einsetzt und im 17. Jahrhundert andauert, um dann in der Aufklärung seinen Höhepunkt zu erreichen.
321 Platon: Der Staat, 544–580, S. 312–368; Raymond Trousson: Voyages aux pays de nulle part. Histoire littéraire de la pensée utopique, S. 38 322 Arnold Toynbee: A Study of History. New York: Oxford University Press 1947, S. 181–185. 323 Iveta Nakládová: Religion in Pre-Enlightenment Utopia. In: Ders. (Hg.): Religion in Utopia. From More to the Enlightenment. Sankt Augustin: Academia Verlag 2013, S. 7–40, hier S. 28. 324 Vega, María José: El orden de la ficción. Diálogo y espacio imaginario en Omníbona. In: María José Vega (Hg.): Utopía, disidencia y reforma en la España del siglo XVI. Madrid: Centro de Estudios Políticos y Constitucionales 2018, S. 267–323, hier S. 317–321.
1.5 Die Utopie der Renaissance und der Wandel zum zweiten Humanismus
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1.5.1 Topoi des Humanismus in der Utopie der Renaissance 1.5.1.1 Homo humanus vs. homo barbarus Mit seinem Werk Utopia schafft Thomas Morus den Prototyp der Gattung der Utopie in der Neuzeit.325 Er beschreibt ihre Eigenheiten, Institutionen und Regierungsform, indem er sich der traditionellen Gattung des Dialogs bedient. Den Dialog bilden eine homonyme Figur, Thomas Morus, und sein Gesprächspartner Raphael Hithloday, ein Reisender, der, nachdem er Amerigo Vespucci auf seinen Reisen begleitet hat, viele unbekannte Regionen und bewundernswert regierte Republiken entdeckt hat. Morus’ Utopie kann als literarischer Ausdruck einerseits einer Gesellschaftskritik verstanden werden,326 die Erasmus im Encomium Morae vornimmt,327 sowie andererseits als Kritik bestimmter Aspekte des Humanismus.328 So wird zum Beispiel die Abschaffung des Privatbesitzes durch die Figur des Thomas Morus am Ende des Werkes relativiert. Die Utopie von Morus behält so die bei Platon angelegte Ambiguität.329 Die Wahl von Ortsbezeichnungen wie Utopie (NichtOrt), Anhidra-Fluß (Fluß ohne Wasser) oder von Eigennamen wie dem Fürsten Ademo (Fürst ohne Volk) ebenso wie ein Berichterstatter Hythlodeus (Verbreiter von Unsinn, Lügner) lassen eher auf eine offene spekulative Übung schließen als auf eine normative Setzung. Unterstrichen wird allerdings, und zwar ohne Relativierung oder Ironie, die Bedeutung einer humanistischen Erziehung. Laut Morus nimmt die humanistische Philosophie, im Gegensatz zur scholastischen, politische Belange in den Blick.330 So soll sich der Weise im gelehrten
325 Wilhelm Voßkamp: Thomas Morus Utopia: zur Konstituierung eines gattungsgeschichtlichen Prototyps. In: Ders.: Utopieforschung. Band 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 183–196. 326 Diese Auffassung steht im Gegensatz zu Interpretationen, die die politische Dimension des Werkes ignorieren und trivialisieren, indem sie ihm einen ausschließlich spielerischen Charakter zuschreiben (Richard Halpern: The Poetics of Primitive Accumulation: English Renaissance Culture and the Genealogy of Capital. Ithaca: Cornell University Press 1991, S. 141). 327 Peter Berglar: La hora de Tomás Moro. Solo frente al poder. Madrid: Palabra 1994, S. 202. 328 Diese These stützt Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie: Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2012, S. 33, der davon ausgeht, dass Morus’ Utopia sowohl die positiven als auch die negativen Aspekte der humanistischen Utopie enthält; im Gegensatz dazu steht Yoran, der in Morus’ Utopie eine verborgene aber bedeutende Ebene zu finden glaubt, die wesentliche Aspekte des Humanismus untergrabe (Hanan Yoran: Between Utopia and Distopia. Erasmus, Thomas More and the Humanist Republic of Letters. Plymouth: Lexington Books 2010, S. 160). 329 Diese Ambiguität hat u. a. zu den entgegengesetzten Interpretationen von Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons. Bern: Francke Verlag 1975, S. 215–223 und Hans Georg Gadamer: Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen. In: Ders.: Wege zu Plato. Stuttgart: Reclam 2001, S. 107–137 geführt. 330 Thomas More: Utopia. In: Susan Bruce (Hg.): Three Early Modern Utopias. Oxford: Oxford University Press 1999, S. 41.
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Utopia politischen Angelegenheiten verschreiben, was auf keine wirksamere Weise geschehen könnte, als durch Beratung des Herrschers und durch die Lehre von Sittlichkeit und Tugend.331 Jedoch beklagt der Humanist, dass die reale Republik noch weit von der idealen entfernt ist. Das humanistische Programm der Demokratisierung von Wissen spiegelt sich in Morus’ Utopie in dem zentralen Charakter der Bildung des Volkes wider. Wenn, wie bereits Platon warnte,332 der König den Rat der Philosophie nicht annimmt,333 wird auch das Volk die Tugend nicht annehmen, solange es nicht in ihr ausgebildet wird. Demnach ist die Bildung grundlegend für das Wohl des Staates, da die Ausbildung aller seiner Mitglieder in der Tugend und den guten Sitten von höchster Bedeutung ist. So schreibt Morus: They use with very great endeavor and diligence to put into the heads of their children, whiles they be yet tender and pliant, good opinions and profitable for the conservation of their weal-public. Which when they be once rooted in children, do remain with them all their life after and be wondrous profitable for the defense and maintenance of the state of the commonwealth. Which never decayeth but through vices rising of evil opinions.334
Das höchste Gut Utopias ist die Bildung. Die Erforschung der Natur335 sowie das Studium der Literatur, Logik, Arithmetik, Musik und Geometrie sollen dem Gemeinwohl dienen.336 Morus’ Utopia repräsentiert paradigmatisch das humanistische Vernunftideal, als eine Gesellschaft, die von den Gesetzen der Vernunft regiert und von Weisen geführt wird,337 die ihre Erkenntnis der Tugend in den 331 Ebda., S. 16. 332 Während Jean Céard: Le modèle de la Republique de Platon et la pensée politique au XVIe siècle. In: J. C. Margolin (Hg.): Platon et Aristote à la Renaissance. Paris: Librairie Philosophique 1976, S. 175–190, hier S. 183 oder Antoine Hatzenberger: De More à Bacon: vers une théorie pragmatique du conseil. In: Laurent Bove/Colas Duflo (Hg.): Le Philosophe, le Sage et le Politique. De Machiavel aux Lumières. Saint Étienne: Publications de l’Université de Saint Étienne 2002, S. 75–94, hier S. 77 den platonischen Einfluss auf Morus’ Utopia aufzeigen, stellt Prévost die Unterschiede heraus (André Prévost: Thomas More et la crise de la pensée européenne. Paris: Marne 1967). Er zeigt auf, dass Morus’ Utopie sich von der platonischen durch ihren Ausgang beim Individuum unterscheidet, und empfiehlt eine Verbindung zwischen Morus und Platon mit Vorsicht herzustellen. Zum Einfluß antiker Quellen auf Morus Utopia vgl. George M. Logan: The meaning of More’s Utopia. Princeton: Princeton University Press 1983. 333 Thomas More: Utopia, S. 34. 334 Ebda., S. 114. 335 Ebda., S. 87. 336 Ebda., S. 74, 85. 337 Die Auflösung von Privateigentum und soziale Gleichheit sind aber nach Susan Bruce die wichtigsten Aspekte von Morus’ Utopie, wenngleich sein Schluss keine eindeutige Wertung des Autors herausstellt (Susan Bruce: Introduction. In: More, Bacon, Neville: Three Early Modern Utopias. Oxford: Oxford University Press 1999, S. IX–XLII, hier S. XXV). Die soziale Un-
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Dienst des Volkes stellen, um den Bürgern den Weg zur Glückseligkeit zu weisen. Auch die humanistische Wissensrepublik basiert auf Bildung. Alle müssen Zugang zur Erkenntnis der Tugend haben, um sie würdigen und gleichsam im Dienst des Gemeinwohls praktizieren zu können.338 Der Weise aber demonstriert Erkenntnis und Hochschätzung der Tugend in höchstem Grad und zeichnet sich im Gegensatz zur Mehrheit durch seine Fähigkeit aus, zwischen Schein und Realität unterscheiden zu können. Durch diese Qualitäten eignet er sich am besten, das Volk zu führen und über das Wohl des Staates zu wachen. 1.5.1.2 Humanitas vs. feritas Für Platon steht Stärke ohne den Gebrauch der Vernunft im Dienst der Leidenschaften und führt zu Ungerechtigkeit. Nur bei wem der rationale Seelenteil regiert und wer Begehren sowie Jähzorn beherrscht, kann gerecht handeln.339 Aus diesem Grund ist der Weise und nicht der Starke der vollkommene Staatsmann.340 Zwei entgegengesetzte Richtungen, die dennoch beide von Platons idealer Republik ausgehen, bilden einerseits, in idealistischem Sinne, der Humanismus und andererseits, in realistischer kritischer Hinsicht, der Machiavellismus. Diese Unterscheidung zeigt sich in zwei unterschiedlichen literarischen Strömungen: dem utopischen Roman und dem Schelmenroman.341 Die Grundlage von Machiavellis Kritik am Humanismus liegt im utopischen und nicht realisierbaren Charakter seines politischen Denkens: molti si sono imaginati republiche e principati che non si sono mai visti ne conosciuti essere in vero; perché egli è tanto discosto da come si vive a come si dovrebbe vivere, che colui che lascia quello che si fa per quello che si dovrebbe fare impara piuttosto la ruina che la perseverazione sua: perché uno uomo, che voglia fare in tutte le parte professione di buono, conviene ruini infra tanti che non sono buoni. Onde è necesario a uno principe, volendosi mantenere, imparare a potere essere non buono, e usarlo e non lo usare secondo la necessità. [. . .] Et etiam non si curi di incorrere nella infamia di quelli vizii, sanza quali e’ possa difficilmente salvare lo stato; perché se si considerrà bene tutto, si
gleichheit besteht in ökonomischer Hinsicht, da die soziale Hierarchie in Utopia zwar nicht auf Geldkapital gründet, wohl aber auf intellektuellem Kapital. 338 Willi Erzgräber: Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur. München: Fink 1980, S. 37. 339 Platon: Der Staat, 588–589, S. 382–384. 340 Ebda., 561, S. 337–338. 341 Die strukturelle Konvergenz des Schelmenromans mit dem Machiavellismus wurde unter anderem von José Antonio Maravall: Maquiavelo y maquiavelismo en España. In: Boletín de la Real Academia de la Historia, CLXV (1969), S. 183–218 und José Barrio-Olano: La novela picaresca y el método maquiavélico. Madrid: Pliegos 1998, S. 19 herausgestellt.
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troverrà qualque cosa che parrà virtù e seguendola sarebbe la ruina sua e qualcuna altra che parrà vizio, e seguendola ne riesce la securtà e il bene essere suo.342
Morus hingegen kritisiert in Utopia von 1516 Fürsten, die nach machiavellischem Duktus Reichtümer und Macht anhäufen und es bevorzugen, sich um militärische Belange zu kümmern, anstatt um die Künste des Friedens. Leider ist bei diesen Fürsten für die Philosophie kein Platz, sondern nur für die – legitime oder illegitime – Eroberung neuer Königreiche, sodass sie die richtige Verwaltung derer, die sie bereits regieren, vernachlässigen.343 Auf diese Weise fördern sie den Krieg anstelle des Friedens. Die Utopie des Humanismus hingegen verabscheut den Krieg und bezeichnet ihn als bestialisch. Demnach wird nichts als weniger glorreich erachtet, als durch Krieg erlangter Ruhm344 und ebenso wenig wird ein Krieg ausgerufen, dessen Notwendigkeit sich nicht aus dem Schutz der Republik oder dem humanitären Ziel, versklavte Völker von ihrem Tyrannen zu befreien, ergibt. Denn wenn nach dem Krieg die Schätze des Königs geplündert sind, his treasures wasted and his people destroyed, should at the length through some mischance be in vain and to none effect and that therefore it were best for him to content itself with his own Kingdom of France, as his forefathers and predecessors did before him: to make much of it, to enrich it and to make it as flourishing as he could, to endeavor himself to love his subjects and again to be beloved of them, willingly to live with them, peacebly to govern them and with other kingdoms not to meddle, seeing that what he hath already is even enough for him, yea, and more tan he can well turn him to: this mine advice, Master More, how think you it would be heard and taken?345
Wie auch in Morus’ Utopia stellt Campanellas La cittá del Sole eine entschiedene Kritik an Machiavellis Ideen dar. Im Anschluss an Thomas Morus negiert Campanella, dass die Beschäftigung mit dem, was niemals existierte noch jemals existieren wird, nutzlos und vergeblich sei. Machiavelli beschäftigt sich auf diese Weise nur mit der Art, wie gelebt wird, und missachtet dabei, wie gelebt werden soll. Während Nützlichkeit und Tugend aus Machiavellis Perspektive unvereinbar sind, soll die politische Realität für Campanella dem Vorbild
342 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 150, 152. 343 Thomas More: Utopia, S. 16–17. 344 Diese Auffassung steht im Einklang mit dem humanistischen Diskurs (Klaus Garber: Die Friedensutopie im europäischen Humanismus. Versuch einer geschichtlichen Rekonstruktion, S. 516–552; Klaus Garber: Der Frieden im Diskurs des europäischen Humanismus, S. 113–144; Friedhelm Krüger: Politischer Realismus und Friedensvision im Werk des Erasmus von Rotterdam, S. 145–156). 345 Thomas More: Utopia, S. 36.
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der Utopie folgen. In diesem Sinne erscheint ihm Morus’ Utopie für die Entwicklung von Institutionen wegweisend.346 Weiter führt Campanella an, dass auch das Leben Christi noch nicht nachgeahmt werden konnte, woraus nicht die Schlussfolgerung zu ziehen sei, dass das neue Testament unnütz sei, da es dazu bewege, sich der Tugend so weit wie möglich anzunähern.347 Den Einwand, dass die Erfahrung das Modell der platonischen idealen Republik durch alle realen Republiken widerlegt habe, führt Campanella nicht auf die Qualität der Regierungssysteme, sondern das Versagen der Herrscher zurück, die ihr Volk lieber sich selbst als der Vernunft unterwerfen.348 1.5.1.3 Humaniora und realia Die Bildung der Einwohner von Morus’ Utopia ermöglicht eine Übertragung der Erkenntnisse aus spekulativen Disziplinen auf das praktische Leben. Diese Disziplinen fördern das notwendige Ingenium für nützliche Erfindungen zum Wohl der Menschen, wie den Buchdruck oder die Produktion von Papier,349 die zur Verbreitung von Wissen beitragen. Die urbane Architektur, die für Morus’ Utopie charakteristisch ist und die von den wichtigsten Utopien der Renaissance übernommen wird, kann aus dieser Perspektive als praktische Anwendung des theoretischen Wissens der Geometrie im Interesse des Gemeinwohls gelten. Wie Morus’ Utopie zeigt auch Campanellas Sonnenstaat ein Bildungsideal, das alle Wissenschaften umfasst und in dem herausragt, wer die meisten Disziplinen und Künste beherrscht und am besten ausüben kann.350 Das Oberhaupt des Sonnenstaates wird von einem Triumvirat unterstützt, das über Kenntnisse der Philosophie, Geschichte, Politik und Physik verfügen muss: die Macht (Pon), in deren Verantwortung Krieg und Frieden stehen, die Weisheit (Sin), der die freien und mechanischen Künste sowie ihre Meister zugeteilt sind (Astronomie, Arithmetik, Geometrie, Geschichtsschreibung, Dichtung, Logik, Rhetorik, Grammatik, Medizin, Politik und Ethik), sowie die Liebe (Mor), die für die Fortpflanzung sorgt, damit alle Männer und Frauen sich auf eine Art vereinigen, die eine herausragende Nachkommenschaft sichert.351 Die humanistische Utopie Campa-
346 Tommaso Campanella: La città del sole. Herausgegben von Alberto Savinio. Milano: Adelphi 1995, S. 87. 347 Ebda., S. 88. 348 Ebda., S. 93. 349 Thomas More: Utopia, S. 87. 350 Tommaso Campanella: La città del sole, S. 30–37. 351 Ebda., S. 33; Platon: Der Staat, 415, S. 130: «Den Regierenden nun gebietet die Gottheit zuerst und vor allem, sich für nichts als schärfere Wächter zu bewahren und auf nichts so eif-
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nellas verbreitet auf diese Weise im Interesse der Gesellschaft die Erträge der humanistischen Disziplinen und auch der wissenschaftlichen Entdeckungen.352 Bacon hingegen beklagt, dass die Wissenschaft seit der Antike einen Stillstand erleidet. Aus dieser Perspektive schlägt er eine neue Methode vor, das Studium der Natur anzugehen, die er im Novum Organon, in bewusstem und ausdrücklichem Gegensatz zum aristotelischen Organon, darstellt. Demnach soll die wissenschaftliche Methode einem nützlichen Zweck dienen: der Kenntnis der Natur zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen. Das neue Vernunftideal kommt deutlich in New Atlantis (1626) zum Ausdruck. Diesem Ziel verschreibt sich Salomons Haus, das die Erkenntnis der Ursprünge und der geheimen Bewegung der Dinge anstrebt, um auf diese Weise die Grenzen des menschlichen Reiches auszuweiten.353 Die Arbeitsmethode basiert auf Experimenten und fördert die Erfindung. So wird in New Atlantis die Arbeit der Erfinder gewürdigt und jeweils durch eine Statue belohnt.354 Diese wissenschaftliche Methode erfordert eine Forschung ohne Vorurteile und die Anwendung einer präzisen Methodologie, die nicht auf dem Autoritätsprinzip basiert, sondern auf Erfahrung und Induktion. Es handelt sich also um eine systematische Vorgehensweise, begonnen mit der Aufstellung einer Arbeitshypothese über die Sammlung von Erfahrungsdaten bis hin zum Ziehen von Schlüssen von universaler Geltung, die durch neue Versuche abermals überprüft werden. In gewisser Weise spiegelt die New Atlantis ein neues Leitbild des Weisen wider, in dem der gelehrte Humanist durch den Wissenschaftler ersetzt wird.355 Seine Erkenntnis wirkt sich in der praktischen und handfesten Verbesserung der Lebensbedingungen aus, die die moderne Wissenschaft von der antiken abhebt. Auf antiker Grundlage, so formuliert es Bacon, ist kein großer Fortschritt der modernen Wissenschaften möglich. Die Erneuerung muss demnach bereits an der Wurzel ansetzen, um sich nicht im Kreis zu bewegen und bloß schwache
rig zu achten wie darauf, was von diesen Stoffen [Gold, Silber, Eisen und Erz] den Seelen ihrer Nachkommen beigemischt ist.» 352 Raymond Trousson: Voyages aux pays de nulle part, S. 77. 353 Francis Bacon: New Atlantis. Herausgegeben von Susan Bruce. Oxford: Oxford University Press 1999, S. 177. 354 Bacon: New Atlantis, S. 184–185. 355 Antoine Hatzenberger: De More à Bacon: vers une théorie pragmatique du conseil, S. 94.
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oder unbedeutende Fortschritte zu erreichen.356 Das Wissen der antiken Griechen ist demnach zwar ertragreich in Worten, aber nutzlos in Werken:357 Atque ex philosophiis istis Graecorum, et derivationibus earum per particulares scientias, iam per tot annorum spatia vix unum experimentum adduci potest, quod ad hominum statum levandum et juvandum spectet et philosophiae speculationibus ac dogmatibus vere acceptum referri possit.358
Laut Bacon sollen die Wissenschaften praktische Entdeckungen zeitigen und nicht durch reines Denken zu rationalen Konklusionen gelangen, die zu nichts oder Unbedeutendem führen.359 In der Anwendung dieser Perspektive auf die Analyse von Wachstum und wissenschaftlichem Fortschritt kommt Bacon zu dem Schluss, dass die Wissenschaften in den letzten zweitausend Jahren keinen signifikanten Fortschritt erfahren haben.360 Sowohl Bacon, durch die Erfahrung als Erkenntnisgrundlage, als auch später Descartes, durch die Rationalität seiner mathematischen Methode, fordern einen Bruch mit dem antiken Denken, um eine neue wissenschaftliche Methodologie, frei von Vorurteilen, zu beginnen. Die Mathematik verwandelt sich im 17. Jahrhundert in ein Erkenntnisideal und bildet die Grundlage der übrigen Wissenschaften sowie, allgemein gesprochen, der menschlichen Erkenntnis als höchste Wissenschaft von universaler Geltungskraft. Die großen Philosophen jenes Jahrhunderts sind Mathematiker: Descartes, Leibniz, Pascal. Spinoza errichtet sein Denksystem durch den Gebrauch geometrischer Schemata. Die Philosophie und die humanistischen Disziplinen müssen eine sichere Methode von universaler Geltungskraft finden, derer die antiken Modelle entbehren. Während die antiken Autoren in ihren Utopien einen Mythos des Goldenen Zeitalters schaffen, das mittels der Vernunft und Tugend erreichbar ist, bekräftigen die modernen ihre Überlegenheit über die Antike. Ihr Ideal finden sie nach Bacon in den exakten Wissenschaften und der Technik, nicht in Literatur und Tradition, die vielmehr ein Hindernis des Fortschritts darstellen: Sunt denique Idola quae immigrarunt in animos hominum ex diversis dogmatibus philosophiarum, ac etiam ex perversis legibus demonstrationum; quae Idola Theatri nomina-
356 Francis Bacon: Novum Organon. Hamburg: Meiner Verlag 1990, I, S. 96–97. 357 Ebda., I, S. 152–153. 358 Ebda., I, S. 156. 359 Die Anwendung des Wissens für eine Verbesserung des menschlichen Lebens ist zwar bereits in der Antike zu finden, wie Höffe betont. Bacons Modernisierung liegt nicht in der Festlegung eines Ziels, sondern in der neuen Bewertung von bereits Bekanntem. Damit positioniert sich die Neuzeit im Gegensatz zum griechischen Ideal der Theorie und Kontemplation (Otfried Höffe: Moral als Preis der Moderne, S. 62–63). 360 Francis Bacon: Novum Organon, I, S. 158.
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mus, quia quot philosophae receptae aut inventae sunt, tot fabulas productas et actas censemus, quae mundos effecerunt fictitios et scenicos.361
Die Fehler der Vergangenheit führen auf diese Weise zum Bruch mit dem Reich der Anamnesis,362 sodass das Denken von nun an nicht mehr vergangenheitssondern zukunftsgeleitet wird. 1.5.1.4 Vita contemplativa und vita activa Die Utopien der Renaissance spiegeln die hierarchische Umkehrung der vita contemplativa und vita activa, die sich im zweiten Humanismus vollzieht. Die Debatte um die Überlegenheit der einen oder der anderen wird in Morus’ Utopia durch die Figuren des Raphael Hithloday und Thomas Morus deutlich.363 Während ersterer die Argumente für die vita contemplativa anführt, vertritt Thomas Morus eine politische Philosophie, die Skinner mit dem bürgerlichen Humanismus gleichsetzt.364 Im Gegensatz zur Scholastik oder dem Neoplatonismus wird die Tugend für Thomas Morus im Wesentlichen durch die vita activa erworben.365 Auch Campanella, der Morus’ Werk bewundert,366 begründet seinen Sonnenstaat auf den Prinzipien der vita activa. Das kontemplative Leben ist dabei nur jenem gestattet, der fähig ist, das erworbene Wissen im öffentlichen Leben anzuwenden.367 Der herausragendste Mensch erlernt nicht nur die meisten Künste, sondern weiß sie auch am besten auszuüben. Somit sollen die Bürger nicht nur die Freien Künste studieren, sondern ebenso die von Platon verachteten mechanischen Künste.368 In New Atlantis führt die Vorherrschaft der vita activa zu einem Ausschluss der vita contemplativa. Der Weise kann sich der Kontemplation nicht mehr zu
361 Ebda., I, S. 104. 362 Reinhart Koselleck: Fortschritt. In: Otto Brunner/Werner Conze u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Band II. Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 351–424, hier S. 392–393; Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft, S. 60–62. 363 Manuel Méndez Alonzo: La discusión sobre vita activa, nobilitas y libertad en la utopía de Tomás Moro. In: Revista Portuguesa de Filosofía, 67 (2011), S. 355–376. 364 Quentin Skinner: Thomas More’s Utopia and the virtue of the nobility. In: Ders.: Visions of politics: Renaissance virtues II. Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 213–244, hier S. 214–223. 365 Thomas More: Utopia, S. 41. 366 Tommaso Campanella: La città del sole, S. 87. 367 Ebda., S. 38. 368 Ebda., S. 36–37.
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dem alleinigen Zweck der Erkenntnis an sich widmen. Die Erkenntnis wird somit zu einem Mittel für die Umsetzung von all jenem, was möglich ist, und soll zu einer handfesten und objektiven Verbesserung der Bedingungen des menschlichen Lebens beitragen.369 Auf diese Weise hat die Kontemplation keinen Platz mehr in der Republik, solange sie nicht ausdrücklich einem nützlichen Zweck dient.
369 Francis Bacon: New Atlantis, S. 177.
2 Humanismus und Aufklärung Durch Bacon inspiriert,1 geben Diderot und d’Alembert mit der Unterstützung weiterer Mitarbeiter die Encyclopédie heraus, durch die sich das neue Vernunftideal konsolidiert. Es erreicht seinen Höhepunkt in einer Verschärfung der Kritik der Antike, in dem Demokratisierungsprozess des Wissens, in dem Nützlichkeitsanspruch und der daraus folgenden Überlegenheit der vita activa über die vita contemplativa sowie im wissenschaftlichen Fortschrittsglauben — Entwicklungen, die bereits in der Renaissance ihren Anfang nahmen.
2.1 Topoi des Humanismus in der Aufklärung 2.1.1 Die Kritik der Vernunft Mit dem neuen Vernunft- und Nützlichkeitsparadigma, durch das die Fehlerhaftigkeit des antiken Denkens aufgezeigt und damit dessen Autorität untergraben wird, schlägt Descartes 1637 eine neue Methode vor, nach der die Wissenschaften nur als wahr anerkennen sollen, was unbezweifelbar gewiss ist.2 Kant definiert die Aufklärung im Sinne dieses cartesianischen Gesetzes. Damit will er der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen, der seinen Verstand noch der Führung anderer überlässt, ein Ende setzen und verteidigt die Maxime Sapere aude!3 Diderot bestätigt ebenso, ein aufgeklärter Philosoph sei jener, qui foulant aux pieds le préjugé, la tradition, l’ancienneté, le consentement universel, l’autorité, en un mot tout ce qui subjugue la foule des esprits, ose penser de lui-même, remonter aux principes généraux les plus clairs, les examiner, les discuter, n’admettre rien que sur le témoignage de son expérience et de sa raison.4
1 Simone Mazauric: Fontenelle et l'invention de l'histoire des sciences à l'aube des Lumières, S. 200; Henri Durel: Bacon, pêre de l’Encyclopédie. In: Martine Groult (Hg.): L’Encyclopédie ou la création des disciplines. Paris: CNRS 2003, S. 11–24. 2 René Descartes: Discours de la Méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans las sciences. Paris: Éditions Garnier Frères 1960, S. 49. 3 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Werke, Band 9, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 53: «Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung». 4 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Herausgegeben von Alain Pons. Paris: Flammarion 1986, S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110610376-003
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2 Humanismus und Aufklärung
Das Ziel der Aufklärung besteht also darin, Ideen, die in der Tradition und im Glauben begründet sind, zu hinterfragen, und Wissen sowie Erkenntnis anhand der neuen wissenschaftlichen Methode voranzutreiben. Die Encyclopédie5 stellt die Renaissance als Überwindung des mittelalterlichen Unwissens und Kindheit der Ideengeschichte dar, da ihre Tendenz, die positiven Aspekte des antiken Denkens hervorzuheben und die negativen auszulassen, zu einem noch zurückhaltenden Ausdruck des kritischen Denkens beiträgt. Im Zuge der Querelle des Anciens et des Modernes6 wird die Überlegenheit der Moderne jedoch durch den 5 Die Encyclopédie wird hier und im Folgenden als Synthese der Aufklärung betrachtet, wenngleich im Konkreten Uneinigkeiten bei den Inhalten der Encyclopédie und ihren einzelnen Autoren sowie eine komplexe Vielschichtigkeit des aufklärerischen Projektes eingeräumt werden (David Adams: The Système figuré des connaissances humaines and the Structure of Knowledge in the Encyclopédie. In: Diana Donald/Frank O’Gorman (Hg.): Ordering the World in the Eighteenth Century. New York: Palgrave 2006, S. 190–215). Für Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hg.): Was ist Radikalaufklärung? Eine aktuelle Debatte. In: Ders.: Radikalaufklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014, S. 7–19 zeugt die Aufklärung von einer radikalen und heterogenen Gruppe (Ira Wade: The Clandestine Organization and Diffusion of Philosophic Ideas in France from 1700 to 1750. New York: Octagon Books 1967, S. 264), die den Kult der Vernunft mit besonderem Nachdruck vertreten und nicht nur die Autorität der Tradition, sondern ebenso die gemäßigte Gruppe der Aufklärung, die durch Voltaire, Montesquieu und Turgot repräsentiert wird, angreifen. Die Multidimensionalität des aufklärerischen Denkens (Manfred Tietz: Der Widerstand gegen die Aufklärung in Spanien, Frankreich und Deutschland. In: Christoph Frank/ Sylvaine Hänsel (Hg.): Spanien und Portugal im Zeitalter der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Vervuert 2002, S. 253–276, hier S. 273) betont auch Kondylis, wenn er aufzeigt, wie ihre Quellen sowohl den Optimismus als auch den Pessimismus nähren, den Glauben an die Vernunft einerseits und die Verherrlichung der Leidenschaften andererseits, das Vertrauen und das Misstrauen in die menschliche Vernunft, Religiosität und Atheismus. All diese gegensätzlichen Tendenzen sollen trotzdem als eine Einheit betrachtet werden (Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg: Meiner Verlag 2002, S. 21). 6 Gemeint ist hier die paradigmatische Querelle, die mit Charles Perraults Gedicht «Le siècle de Louis le Grand» 1687 in der Académie française ausgelöst wurde (Simone Mazauric: Fontenelle et l'invention de l'histoire des sciences à l'aube des Lumières, S. 182) und mit der Debatte um das Lob des Königs verbunden ist (Marc Fumaroli: La querelle des Anciens et des Modernes. Paris: Gallimard 2001, S. 26). Schon in der Antike und im Mittelalter zeichnet sich aber diese Kontroverse ab, die in der Frühen Neuzeit (August Buck: Vorgeschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Mittelalter und Renaissance. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance, 20 (1958), S. 527–541; August Buck: Die ‹Querelle des Anciens et des Modernes› im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barock. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1973) im Bereich von Rhetorik, Poetik, Ethik, Recht, Mathematik und Naturwissenschaften (Martin Disselkamp: Parameter der Antiqui-Moderni-Thematik in der Frühen Neuzeit. In: Herbert Jaumann (Hg.): Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Berlin–New York: De Gruyter 2011, S. 157–178, hier S. 158–159) fortgesetzt wird. Der Streit der Alten und der Neuen kann daher als historische Konstante beschrieben werden. Bereits Rigault (Hippolyte Rigault: Histoire de la querelle des anciens et des modernes. Paris: L. Hachette 1856), der Autor der ers-
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Vergleich antiker Erkenntnismängel mit den bewundernswerten Errungenschaften der Moderne als klares Zeichen des Fortschritts bekräftigt. Die Autorität der Alten wird auch im Bereich der Literatur infrage gestellt. Entgegen einer Nachahmung nach den Regeln einer vorbestimmten Poetik, machen die Modernen die Rechte der Erfindung, Kreativität und Originalität geltend.7 So ahmt beispielsweise Fontenelle Lukian in seinen Nouveaux dialogues des morts nicht nach, sondern rivalisiert mit ihm.8 Die Enzyklopädie bringt den Modernen letztendlich den Sieg und richtet den Blick auf die Autoren des 17. Jahrhunderts: Molière überwinde die antike Komödie mit einem scharfsinnigen Porträt der Sitten seiner Zeit; Corneille und Racine behandeln in ihrem Theater Leidenschaften, die die antiken Autoren nicht kannten; La Fontaine lasse Äsop und Bousset Demosthenes in Vergessenheit geraten.9 Ein grundlegendes Kriterium für die Bildung des neuen Kanons der Aufklärung ist also eine kritische Haltung der Autoren gegenüber allgemein verbreiteten oder tradierten Ideen. Für Rousseau soll sich nur dem Studium der Wissenschaften widmen, wer einen eigenständigen Bildungsweg beschreitet
ten Monographie über die Querelle, bestätigt, dass der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Tradition und Fortschritt keinen Wechsel zwischen den konkreten Streitobjekten darstellt, sondern zwischen generellen Typen von bestimmten kulturellen Haltungen. Auf dieser Grundlage sieht Jochen Schlobach (Zyklentheorie und Epochenmetaphorik. Studien zur bildlichen Sprache der Geschichtsreflexion in Frankreich von der Renaissance bis zur Frühaufklärung. München: Fink 1980, S. 270–303) in der Debatte den Gegensatz von zwei Geschichtsmodellen, einem zyklischen und einem linearen, wobei sich letzteres auf Fortschritt begründet und sich gegenüber ersterem durchsetzt. Zum Einfluss der Querelle auf die Veränderung des Geschichts- und Fortschrittsbegriffs vgl. John Bury: The idea of progress, Hans Baron: The Querelle of the Ancients and the Moderns as a Problem for Renaissance Scholarship. In: Paul Oskar Kristeller/Philipp Wiener (Hg.): Renaissance Essays. New York: Harper & Row 1968, S. 95–114 sowie die Studien von Hans Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes. In: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences. München: Eidos 1964, S. 8–64; Hans Robert Jauß: Antiqui/moderni. Querelle des Anciens et des Modernes. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe 1971, S. 410–414. 7 Jean Claude Bourdin: Présentation. In: Fontenelle : Digression sur les Anciens et les Modernes. Édition critique. Paris: Garnier 2015, S. 77–84, hier S. 79. 8 Volker Kapp: Le voyage ultra-terrestre entre l’astronomie et le mythe: Cyrano de Bergerac, Fontenelle et Fénelon. In: Papers on French Seventeeth Century Literature, XLI (2014), S. 379–402, hier S. 392. 9 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 128–131.
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und zum Fortschritt des Wissens beiträgt.10 Descartes ist einer der meist geschätzten Denker der Aufklärung.11 Allen, die zu einem Wandel der Erkenntnisform der Wissenschaften beitragen, wird ein privilegierter Platz in der Enzyklopädie eingeräumt: Newton für die Befreiung der Physik von allen fantastischen Mutmaßungen, die in den Werken antiker Autoren noch vorherrschen, anhand von empirischer Erkenntnis und den Gesetzen der Geometrie sowie durch die Entdeckung des Gravitationsgesetzes; Locke für die Verdrängung aller alten Fragen aus der Metaphysik; Galileo für die astronomischen Entdeckungen, die nicht nur in Religion und Wissenschaft allgemein anerkannte Wahrheiten infrage stellen, sondern auch anderen Disziplinen, wie der Geographie und Mechanik, fundamentale Erkenntnisse bringen; Harvey für die Entdeckung der Blutzirkulation; Huygens für seinen Beitrag zur Geometrie und Physik; Pascal für seine Abhandlung über die Zykloide; Boyle als Vater der experimentellen Physik; Leibniz, gemeinsam mit Newton, für die Erfindung der Differenzialrechnung. Dadurch nährt die Enzyklopädie den kritischen Geist, der der blinden Bewunderung antiker Autoritäten ein Ende setzt. Das Ziel ist also, nicht nur das Wissen vergangener Jahrhunderte zusammenzustellen, sondern vor allem, den großen Beitrag neuer Erkenntnisse im Gegensatz zu alten aufzuzeigen.12 Wie Montesquieu es ausdrückt, ist die Überlegenheit über die Antike eine Forderung.13 Deshalb muss der elitäre Charakter der politischen Philosophie der Antike notwendigerweise überwunden werden. Dabei kritisiert Montesquieu die politischen Schriften Platons und Aristoteles’, in denen die Aristokratie (Platon) oder die Monarchie (Aristoteles) als die beste Regierungsform ausgezeichnet wird. Laut Montesquieu entstehen Konflikte zwischen dem positiven und dem Naturgesetz, sobald der Sklave weniger Rechte hat als der freie Mann.14 Descartes wird in der Encyclopédie nicht nur für seinen Beitrag zur Ideengeschichte
10 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes. Paris: Nathan 1998, S. 76. 11 Montesquieu bekräftigt im Pensée 1265, dass, wenn Descartes hundert Jahre vor den spanischen Eroberern nach Amerika gekommen wäre, weder Cortés noch Pizarro Mexiko und Peru hätten zerstören können (zitiert nach Denis de Casablanca: Montesquieu. De l’étude des Sciences à l’Esprit des Lois. Paris: Honoré Champion 2008, S. 84). 12 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 142. 13 Montesquieu: Pensées. Paris: Laffont 1991, S. 207. 14 Ebda., S. 854.
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gerühmt, sondern ebenso für seine Pionierrolle in der Revolution, die dem Ancien Régime ein Ende setzt: il a eu le courage de s’élever le premier contre une puissance despotique et arbitraire, et qui, en préparant une révolution éclatante, a jeté les fondements d’un gouvernement plus juste et plus heureux qu’il n’a pu voir établi.15
Das neue Vernunftparadigma, das in der Renaissance in enger Verbindung mit der Politik entstand und erstmals dem dritten Stand Macht einräumte, findet schließlich in der französischen Revolution seinen Höhepunkt.
2.1.2 Die Demokratisierung des Wissens Während der erste Humanismus von der Ungleichheit der Menschen, die sich aus ihrer Vernunft ergibt, ausgeht, macht die Aufklärung hingegen die Abschaffung der menschlichen Ungleichheit zu einem ihrer wichtigsten Projekte.16 In L’Esprit des Lois verdeutlicht Montesquieu, dass die Menschen im Naturzustand gleich geboren werden, diese ursprüngliche Gleichheit jedoch nicht aufrechterhalten können, da sie durch die Gesellschaft pervertiert wird. Dennoch bleiben sie vor dem Gesetz gleich. Alle herrschen und alle, auch die Lehrer, gehorchen.17 Für Rousseau ist die Gleichheit der Menschen des Naturzustandes in der bürgerlichen Gesellschaft nicht möglich. Jedoch kann die politische und ökonomische Ungleichheit abgelehnt und eine moralische Ungleichheit akzeptiert werden. Demnach stellt Rousseau die tatsächliche Überlegenheit der Herrscher gegenüber ihren Untertanen, unabhängig von ihrer Macht oder ihrem Reichtum, infrage und schlägt eine ausgleichende Gerechtigkeit in Abhängigkeit von den Verdiensten der Bürger vor. Die Beurteilung dieser Verdienste kann jedoch nicht von einem Beamten durchgeführt werden, da die Bürger in diesem Fall von einer willkürlichen Macht abhingen. Vielmehr soll das Volk selbst diese Bewertung
15 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 142. 16 Im Gegensatz zu Platons Aristokratie lehnt Kant das Ideal des Philosophenkönigs ab und vertritt stattdessen eine Demokratie der Vernunft (Otfried Höffe: Sollen Philosophen herrschen? Vier Antwortmuster. In: Otfried Höffe (Hg.): Vernunft oder Macht? Zum Verhältnis von Philosophie und Politik. Tübingen: Francke 2006, S. 11–26, hier S. 20–22). 17 Montesquieu: De l’esprit des lois. Band 1. Paris: Gallimard 1995, S. 261.
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übernehmen, das nun anders als bisher den Unterschied zwischen schlechten und tugendhaften Menschen festlegen soll.18 Das ethische Wissen, das zuvor noch einer intellektuellen Elite vorbehalten war, ist nun dem Volk zugänglich, sodass der Weise seinen Status der Überlegenheit verliert. Laut Diderot soll er daher seine Funktion als Lehrer der Menschheit aufgeben und stattdessen zu ihrem Schüler werden.19 Der Vorrang des Studiums vor der Lehre ist zu einem großen Teil der Spezialisierung des Wissens zu verdanken. Angesichts der Unmöglichkeit, Experte in jeder Disziplin zu sein, stehen die verschiedenen Wissensdisziplinen unweigerlich in Abhängigkeit zueinander, sodass auch der Weise notwendigerweise nicht nur lehren, sondern auch lernen muss. Somit besitzt er in der Aufklärung dank der Wissens- und Arbeitsteilung dasselbe Recht zu befehlen oder zu gehorchen wie jeder andere.20 Die Enzyklopädie wird in diesem Sinne als kollektives Werk im Auftrag der bedeutendsten Intellektuellen der Epoche mit dem Ziel entworfen, eine gelehrte Gesellschaft zu bilden. Durch die Klarheit der Erläuterungen soll ihr Verständnis selbst jenen zugänglich gemacht werden, die über keine Vorkenntnisse verfügen; zudem werden jeweils die wichtigsten Erkenntnisse und allgemeinen Gesetze eines Bereichs zusammengefasst. Der Erfolg des Projekts der Aufklärung hängt proportional von der Reichweite des Demokratisierungsprozesses von Wissen ab. Die Vervielfachung der Zahl der Weisen durch die Verbreitung von Wissen21 und die Erlangung neuer und greifbarer Ergebnisse22 belegen den Fortschritt der Gesellschaft der Aufklärung.
18 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. Paris: Libraire Générale Française 2004, S. 51, 138. 19 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 7. Sein Vorschlag ist, «moins d’être le précepteur du genre humain que son disciple; de réformer les autres, que de se réformer lui-même.» 20 Ebda., S. 112. 21 Ulrich Johannes Schneider: New Ways of Knowing Things in the Eighteenth Century. In: Uwe Steiner/Christian J. Emden u.a. (Hg.): Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2015, S. 193–208, hier S. 194 betont, dass die Verbreitung des Wissens im 18. Jahrhundert wichtiger wird als in vorherigen Jahrhunderten. Der wissenschaftliche Dialog mit dem Nützlichkeitskriterium und neuen Argumentationsformen verleiht Wissenschaft und Kultur eine Rolle im öffentlichen Leben (Fabrice Chassot: Le dialogue scientifique au XVIIIe siècle. Postérité de Fontenelle et vulgarisation des sciences. Paris: Garnier 2011, S. 614–615). In diesem Sinne steht die Figur Fontenelle dafür, nicht nur den Fortschrift des menschlichen Geistes nachzuweisen, sondern ebenso ihn zu verbreiten (Simone Mazauric: Fontenelle historien des sciences. In: Alain Niderst (Hg.): Hommage à Fontenelle 350e anniversaire. Paris: Eurédit 2009, S. 41–66, hier S. 55). 22 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 75–76, 182, 216.
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2.1.3 Die neue Hierarchie der Wissenschaften: vom homo universalis zum homo faber Die Encyclopédie festigt die Umkehrung der Wissenschaftshierarchie des ersten Humanismus. Die Überlegenheit, die seit der Antike den Freien Künsten über die mechanischen galt, wird nun als ungerechtfertigt angesehen. Nach d’Alembert etabliert die Stärke in primitiven Gesellschaften die Ungleichheit unter den Menschen und hebt ihr Recht auf Gleichheit auf. Diese Ungleichheit wird in der Gesellschaft durch die Vernunft aufrechterhalten, die weniger willkürlich als die Stärke ist. Damit dieser Prozess sich erfolgreich entwickeln konnte, wurden die vernunftmäßig Begabten als den physisch Begabten überlegen angesehen. Die mechanischen Künste, die von unterwürfiger und routinierter Handarbeit abhingen, galten als unterlegen. Der Mangel trieb die Menschen zu dieser Arbeit, während sich die Elite der freien Tätigkeit des Geistes hingeben konnte. Dennoch bleibt nun der Vorteil, den die Freien Künste gegenüber den mechanischen aufgrund der erforderlichen Geisteskraft genießen, zur Genüge durch den Nutzen ausgeglichen, den die mechanischen Künste einbringen und der ein noch höheres Gut darstellt.23 So wird die Entdeckung des Kompass’ als nicht weniger gewinnbringend für die Menschheit angesehen als die Erklärung, die die Physik dazu bereithält. Die Geringschätzung der mechanischen Künste hat in der Folge dazu geführt, dass die Namen der Wohltäter, die diese Errungenschaften brachten, praktisch unbekannt sind. Dies will die Enzyklopädie wiedergutmachen:24 Pourquoi ceux à qui nous devons la fusée des montres, l’échappement et la répétition, ne sont-ils pas aussi estimés que ceux qui ont travaillé successivement à perfectionner l’algèbre? [. . .] Ce génie rare [. . .] n’eût-il pas été bien digne d’être placé à côté du petit nombre d’esprits, qui nous ont ouvert dans les sciences des routes nouvelles?25
Im Sinne Bacons26 weist die Encyclopédie der Technik einen privilegierten Rang in der Hierarchie der Wissenschaften zu. Dieser hierarchische Wandel wirkt sich nicht nur auf den wissenschaftlichen Diskurs aus, der die Phänomene wie
23 Ebda., S. 106–107. 24 Paolo Quintili: Machines et ‹métamachines›. Le rêve de l’industrie mécanisée dans l’Encyclopédie. In: Sylviane Albertan-Coppola/Anne Marie Chouillet (Hg.): La Matière et l’homme dans l’Encyclopédie. Paris: Klincksieck 1998, S. 247–274. 25 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 108. 26 Thomas Klinkert: Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung. Berlin–New York: De Gruyter 2010, S. 49.
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Teile einer Uhr zerlegt,27 sondern ebenso auf den Diskurs über den Geschmack. Demnach könnte die Uhr als paradigmatisches Beispiel für das ästhetische Ideal der Aufklärung betrachtet werden, indem sie eine Harmonie ihrer Teile aufweist, die sie in ein schönes Objekt verwandelt, das zudem noch nützlich ist.28 Durch die Bedeutung der Nützlichkeit erfährt auch der Handel, in deutlichem Gegensatz zu Platon,29 starken Aufschwung. Die Tatsache, dass der Handel bei den Griechen und vor allem bei Platon, der unter anderem in Nomoi Kaufleute bestraft, als verwerfliche Tätigkeit angesehen wurde, beschränkt laut Montesquieu in besonderem Maß die griechische Gesellschaft der Antike, da der Handel großen Nutzen bringe.30 Er trage zur Kenntnis der Sitten anderer Nationen bei und ermögliche Vergleiche, weshalb der Handel die Sitten verbessere.31 Somit verleiht Montesquieu der Handelstätigkeit eine ökonomische und moralische Dimension.32 Er führt eine neue Form industrieller Macht ein, die den durch Eroberungen erlangten Ruhm der Antike ersetzt. Die tatsächliche Hegemonie einer Nation wird nun an seinem Reichtum gemessen, weshalb Frankreich zu diesem Zeitpunkt als das mächtigste Land Europas erscheint.33 Die Wissenshierarchie wird nun also nach dem Maßstab der Nützlichkeit und des messbaren Gewinns etabliert. Laut Rousseau soll der Rang der Bürger nach demselben Kriterium ausgerichtet sein und nicht nur von persönlichen Verdiensten, sondern vom realen Beitrag zum Gemeinwesen abhängen, da dieser eine genauere Bewertung ermöglicht.34 Vor diesem Hintergrund bildet die
27 Paul Geyer: Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 26–27. 28 Jean-Claude Beaune: Mythe et utopie de l’Encyclopédie: de l’ouverture sur une pensée des machines à l’Encyclopédie comprise comme une Méga-machine. Encyclopédie et Encyclopédisme. In: Martine Groult (Hg.): L’Encyclopédie ou la création des disciplines. Paris: CNRS 2003, S. 255–268, hier S. 266. 29 Platon: Der Staat, S. 379. 30 Montesquieu: De l’esprit des lois, I, S. 145: «Tout commerce était infâme chez les Grecs [. . .] Aussi Platon veut-il, dans ses Lois, qu’on punisse un citoyen qui ferait le commerce. On était donc fort embarrassé dans les républiques grecques». 31 Ebda., I, S. 610. Eine detaillierte Analyse des Handels in Montesquieus Schriften ist u.a. bei Catherine Larrère: Montesquieu: noblesse et commerce. Ordre social et pensée économique. In: Antonella Alimento/Cristina Cassina (Hg.): Il pensiero gerarchico in Europa. Firenze: Olschki 2002, S. 31–48 sowie Céline Spector: Montesquieu et l’émergence de l’économie politique. Paris: Champion 2006 zu finden. 32 Céline Spector: Montesquieu et l’émergence de l’économie politique, S. 22–24. 33 Céline Spector: Montesquieu, Les Lettres Persanes: De l’Anthropologie à la Politique. Paris: Presses Universitaires de France 1997, S. 61. 34 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 138.
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Wissenschaft einen sicheren Weg zu Erkenntnis und Fortschritt und ermöglicht dem Menschen eine Verbesserung seiner Bedingungen. Montesquieu zufolge verdanken die Naturwissenschaften den Fortschritt ihrer Nützlichkeit,35 während die Geisteswissenschaften dieselben Methoden übernehmen sollen, um Fortschritt zu erzielen.36 So lobt d’Alembert Lockes Umwandlung der Metaphysik zu jenem, was sie immer schon gewesen sein soll: die experimentelle Physik der Seele. Metaphysiker vor Locke hingegen werden mit Sophisten verglichen, die stets von wahren Philosophen abgelehnt werden sollten.37 In diesem Sinne unterscheidet Diderot den Philosophen als Mann der Wissenschaften vom Priester als Feind der Vernunft.38 In der Rehabilitation der Sinnlichkeit liegt einer der wichtigsten Kämpfe der Aufklärung gegen theologische Ontologie und Moral.39 Nur die mittels wissenschaftlicher Methoden erlangte Erkenntnis gilt als sicher. Die Geisteswissenschaften müssen diese Methoden folglich annehmen, um ebenfalls zu unumstößlichen Wahrheiten gelangen zu können. Die Nützlichkeit wird also der Spekulation und die sachliche der geistigen Ordnung vorgezogen.40 Nützlichkeit, Beweisbarkeit und Gewissheit werden zu unabdingbaren Kriterien eines zuverlässigen Wissens. Letztendlich hat die vita activa die vita contemplativa besiegt. Während im ersten Humanismus die Kontemplation dem tätigen Leben übergeordnet wurde, wird diese Hierarchie in der Aufklärung umgekehrt. Die Kontemplation erscheint nicht ertragreich, solange sie nicht von Nutzen für das Leben des Menschen ist, sei es im Bereich der Geistes- oder der Naturwissenschaften. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass der nützliche Zweck der Enzyklopädie dezidiert hervorgehoben wird, deren Hauptanliegen in einem Beitrag zum Wohl der Nation durch die Konstruktion einer gebildeten Republik besteht, die frei von großen Übeln ist, die aus Unwissenheit, Blindheit und Fanatismus hervorgehen.41
35 Montesquieu: De l’esprit des lois, I, S. 84–88. 36 Heinz Thoma: Anthropologische Konstruktion, Wissenschaft, Ethik und Fiktion bei Diderot. In: Jörn Garber/Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2004, S. 145–176, hier 168; Kristin Reichel: Diderots Entwurf einer materialistischen Moral Philosophie (1745–1754). Methodische Instrumente und poetologische Vermittlung. Würzburg: Könighausen & Neumann 2012, S. 385. 37 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 106, 146. 38 Diderot: Œuvres politiques. Herausgegeben von Paul Vernière. Paris: Garnier 1963, S. 48. 39 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, S. 18–19. 40 Frank Salaun: L’autorité du discours. Recherches sur l’estatut des textes et la circulation des idées dans l’Europe des Lumières. Paris: Honoré Champion 2010, S. 50. 41 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 181, 224.
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Schließlich hat die Analyse der topoi des Humanismus in der Encyclopédie verdeutlicht, dass das neue Vernunftideal, das in der Renaissance seinen Anfang nimmt, sich mit der Aufklärung in einem Humanismus herauskristallisiert, der sich vom ersten Humanismus in folgenden Punkten unterscheidet: – Die Verbindung von Wissen und Macht in einem demokratisch-politischen Projekt.42 Die Überlegenheit einer Elite oder Aristokratie wird als Überrest des Ancien Régime abgewertet und entgegen den Prinzipien des vorherigen Humanismus durch die Behauptung der Gleichheit zwischen den Weisen und der Mehrheit ersetzt. – Die Demokratisierung und Spezialisierung von Wissen, die dazu führen, dass der Weise seinen überlegenen Status gegenüber der Mehrheit einbüßt. – Die Bindung der Tugend an die Nützlichkeit. – Die Verstärkung der Kritik an der Antike. Insbesondere die Wissenschaft und die Genauigkeit ihrer Methode ermöglichen die Infragestellung der Tradition. So setzen die Vertreter der Aufklärung ihre Fortschrittshoffnung auf den Erwerb von Wissen, aufbauend auf einer neuen Wissenshierarchie, die die Geringschätzung der mechanischen Künste in der antiken Tradition korrigiert. – Die Etablierung einer neuen Wissenshierarchie gemäß der wissenschaftlichen Methode zum Zweck von genauem, sicherem und nützlichem Wissen. Die Geisteswissenschaften sollen diese Methode der Naturwissenschaften übernehmen. – Die verstärkte Umkehrung der Hierarchie von vita activa und vita contemplativa.
42 Der politische Charakter des enzyklopädischen Projekts wird von Jacques Proust: Diderot et l’Encyclopédie. Paris: Armand Colin 1967, S. 70–79, 220–231 und Roger Chartier: Les origines culturelles de la Révolution française. Paris: Seuil 1991 hervorgehoben, der die Meinung vertritt, dass die Aufklärung zu einem politischen Zweck erfunden wurde. Chartier zufolge schufen die Führenden der französischen Revolution einen Textkanon durch die Auswahl bestimmter Autoren, die sie mit ihrer republikanischen Agenda identifizierten: «la lecture est investie d’un pouvoir de persuasion si puissant qu’elle est à même de totalement transformer les lecteurs et de les faire être comme les textes veulent qu’ils soient. De là [. . .] une identique manière de comprendre le façonnement prérévolutionnaire de l’opinion comme un processus d’intériorisation par des lecteurs de plus en plus nombreux au fil du siècle des manières de penser proposées par les textes philosophiques. Portées par l’écrit imprimé, les idées neuves conquièrent les esprits, modèlent des façons d’être, suscitent les interrogations. Si les Français de la fin du XVIIIe siècle ont fait la Révolution, c’est parce que, préalablement, ils avaient été transformés, «faits», par les livres – des livres qui portaient un discours abstrait éloigné de la pratique des affaires et qui, en critiquant la tradition, minaient les autorités. Telle est l’hypothèse de laquelle il faut partir» (Roger Chartier: Les origines culturelles de la Révolution française, S. 87).
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2.1.4 Rousseau und die Kritik der aufklärerischen Vernunft Die Existenz eines komplexen kritischen Metadiskurses43 um das Vernunftideal der Aufklärung zeigt, dass sie nicht als homogene Strömung begreifbar ist. An diesem Metadiskurs nimmt beispielsweise Giambattista Vico teil, der in seiner Nova Scienza ein Bildungsideal formuliert,44 das in klarem Gegensatz zum wissenschaftlichen Rationalismus des 18. Jahrhunderts steht.45 Der Glaube der Aufklärung an einen unbegrenzten Fortschritt der Geschichte, den Turgots Discours sur les progrès successifs de l’esprit humain sowie Condorcets Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain paradigmatisch widerspiegeln,46 führt außerdem, wie allgemein bekannt ist, zu Rousseaus Kritik.47 Dieser Kritik zufolge hat der Gebrauch der Vernunft zu nichts anderem geführt als dem Verderb der Sitten. Obwohl Rousseau den Fortschritt der Wissenschaften und Technologie anerkennt, kann er ihn nicht positiv beurteilen, solange er nicht mit dem der Moral und Politik einhergeht.48 Der Entwicklungsgrad von Wissenschaften und Moral erscheint ihm jedoch nicht proportional: in dem Maße, in dem Künste und Wissenschaften voranschreiten, vergrößert sich die Ungleichheit und verbreiten sich Luxus und Sittenverfall.49 Dieser Gegensatz zwischen Wissenschaft und Tugend, der in der Aufklärung gipfelt, hat laut Rousseau bereits in der Antike seinen Anfang genommen:50
43 Günther Lottes: Human Rights vs. The Idea of Progress. In: Uwe Steiner/Christian J. Emden u.a. (Hg.): Humanismus und Antikerezeption im 18. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2015, S. 129–142. 44 Anne Eusterschulte: Kulturentwicklung und -verfall. Giambattista Vicos kulturgeschichtliche Anthropologie. In: Richard Faber/Enno Rudolph (Hg.): Humanismus in Geschichte und Gegenwart. Tübingen: Siebeck 2002, S. 17–44, hier S. 29. 45 Winfried Wehle: Auf der Höhe einer abgründigen Vernunft. Giambattista Vicos Epos einer ‹Neuen Wissenschaft›. In: Roland Galle/Helmut Pfeiffer (Hg.): Aufklärung. München: Fink 2007, S. 149–170, hier S. 149. 46 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Die Gewalt der Erwartungen. Einige theoretische Bemerkungen zur Geschichtsschreibung am Beispiel Condorcets. In: Veit Elm (Hg.): Wissenschaftliches Erzählen im 18. Jahrhundert. Geschichte, Enzyklopädik, Literatur. Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 39–52. ausgehend von Fontenelle (Simone Mazauric: Fontenelle et l'invention de l'histoire des sciences à l'aube des Lumières, S. 222). 47 Andreas Heyer: Die politische Dimension der Anthropologie. Zur Einheit des Werkes von Jean-Jacques Rousseau. Frankfurt a. M. u.a.: Peter Lang 2006, S. 149. 48 Ursula Reitemeyer: Perfektibilität gegen Perfektion. Rousseaus Theorie gesellschaftlicher Praxis. Berlin: LIT 2013, S. 101. 49 Jean- Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 64. 50 Diese Kritik ist mit dem großen Wissen und der Bedeutung antiker Quellen in Rousseaus Werk dennoch vereinbar, die unter anderem Yves Touchefeu: L’Antiquité et le cristianisme
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On a vu la vertu s’enfuir à mesure que leur lumière s’élevait sur notre horizon, et le même phénomène s’est observé dans tous les temps et dans tous les lieux. Voyez la Grèce [. . .] toujours savante, toujours voluptueuse, et toujours esclave, n’éprouva plus dans ses révolutions que des changements de maîtres. [. . .] Après les Ovide, les Catulle, les Martial, et cette foule d’auteurs obscènes, dont les noms seuls alarment la pudeur, Rome, jadis le temple de la vertu, devient le théâtre du crime, l’opprobre des nations et le jouet des barbares.51
Rom hat die Verdorbenheit Athens geerbt, dem vermeintlichen Zentrum der Bildung und des guten Geschmacks im Land der Rhetoriker und Philosophen. Dort wurzeln laut Rousseau jene Werke, die allen verdorbenen Zeitaltern Vorbild waren. Doch ist dies nicht der einzige Grund, der Rousseau zu der Ablehnung einer Bildung in Rückbezug auf die Antike motiviert. Denn, so argumentiert er weiter, die Schüler lernen in solcher Erziehung nur tote Sprachen, während sie die eigene nicht kennen. Sie lernen auch von Großzügigkeit, Mäßigung und Menschlichkeit zu sprechen, ohne zu wissen, was diese bedeuten. Darüber hinaus führe die antike Mythologie, die voller unmoralischer Verhaltensweisen sei, zur Verwirrung der Vernunft. Mit einer auf der Unterscheidung der Talente basierten Bildung beginnt laut Rousseau die Ungleichheit unter den Menschen und die Herabwürdigung der Tugend, die zu einem bloßen Unterscheidungsmerkmal wird.52 Die Leidenschaft für das Studium der Wissenschaften zeigt laut Rousseau den Beginn des Sittenverfalls eines Volkes an, der rasant fortschreitet. In einem guten Staat hingegen wird kein Mensch einem anderen aufgrund seiner Weisheit oder Klugheit vorgezogen. Stattdessen hat jeder seine Funktion im Gemeinwesen und alle genießen gleiches Ansehen. So warnt Rousseau vor der Auszeichnung sogar der Besten, da das Gefallen an Studium und Wissen dem Wunsch nach Anerkennung entspringe und größere Übel als erwartbare Vorteile hervorrufe.53 Das Studium der Geisteswissenschaften sei nur dann wünschenswert, wenn es der Entwicklung der individuellen Tugend und nicht der Beherrschung anderer dient. Der Gebildete muss also frei von der Autorität sein, die ihm in der Antike zukam und im ersten Humanismus noch aufrechterhalten wurde.
dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau. Oxford: Voltaire Foundation 1999 und Terence Marshall: À la recherche de l’humanité. Science, Poésie ou Raison pratique dans la philosophie politique de Jean-Jacques Rousseau, Leo Strauss et James Madison. Paris: Presses Universitaires de France 2009 hervorgehoben haben. 51 Jean-Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 34–35. 52 Ebda., S. 40–69. 53 Jean-Jacques Rousseau: Narcisse ou l’amant de lui-même [1752]. In: Ders.: Œuvres complètes. Herausgegeben von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1961, S. 958–1018, hier S. 965.
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Hingegen bezieht er sich auf die platonische Apologie, um die Figur Sokrates’ zu loben, der im Gegensatz zu Platon von der Unmöglichkeit der Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen ausgeht. Eben darin liege die Überlegenheit seiner Weisheit; sein Lob der Unwissenheit macht für Rousseau aus Sokrates den weisesten Mann im antiken Griechenland. Die Künste und Wissenschaften sind eine komplexe Konstruktion der Vernunft, während die Kenntnis der Tugend nach Sokrates einfach ist. Um ihre Gesetze zu kennen muss man nur in sich gehen und ungestört von Leidenschaften auf die Stimme des Gewissens horchen.54 Im Naturzustand, in dem der Mensch von Natur aus gut ist und noch nicht von der Gesellschaft verdorben wurde, ist jeder Mensch in der Lage, in sich hinein zu horchen.55 Der wahre Fortschritt ist also nach Rousseau nur über eine Rückkehr zum Unwissen möglich, da die Künste und Wissenschaften als Zeichen der Evolution des Menschen ein Produkt seiner Laster sind: Die Astronomie entspringt dem Aberglauben, die Redekunst dem Ehrgeiz, die Mathematik dem Geiz, die Physik der vergeblichen Neugier. Sogar die Moral geht aus dem Stolz des Menschen hervor.56 Die Technik, die zur Verbreitung der nichtigen Erkenntnisse der Wissenschaften und Künste beiträgt, erachtet Rousseau als das Gegenteil von wahrem Fortschritt des Menschen. Der Buchdruck habe der Verbreitung gefährlicher Trugbilder von Hobbes und Spinoza gedient und sie für die Nachwelt aufbewahrt. Vor diesem Hintergrund kann Rousseau nicht anders, als ein Bildungsprogramm wie das der Encyclopédie zu kritisieren,57 das die Problematik verschärft, indem es Wissen dem Volk vermittelt, das außerstande ist, jenes zu verstehen: Que penserons-nous de ces compilateurs d’ouvrages qui ont indiscrètement brisé la porte des sciences et introduit dans leur sanctuaire une populace indigne d’en approcher [. . .]?58
54 Jean-Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 44–78. 55 Scott sieht in Supplément au voyage de Bouganville eine Kritik Diderots an Rousseaus extremem Ansatz, der vorschlägt, die bürgerliche Gesellschaft zum Naturzustand zurückzuführen. Für Scott ist diese Anschuldigung einer falschen Interpretation Rousseaus geschuldet (John T. Scott: Another dangerous Supplement: Diderot’s dialogue with Rousseau in the Supplément au Voyage de Bouganville. In: Michel Odea (Hg.): Rousseau et les philosophes. Oxford: Voltaire Foundation 2010, S. S. 175–192) und er betont in einer Linie mit Laurence D. Cooper: Rousseau, Nature and the problem of the good life. Pennsylvania State: University Press 1999, S. 6–9 den gemäßigten Charakter von Rousseaus Position. 56 Jean-Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 52–75. 57 Damit vollzieht sich eine Trennung im rousseauschen Denken zwischen der Bildung des Bürgers und der Bildung des Menschen. Vgl. Yves Touchefeu: L’Antiquité et le cristianisme dans la pensée de Jean-Jacques Rousseau, S. 100, 263; Nils Ehlers: Der Widerspruch zwischen Mensch und Bürger bei Rousseau. Göttingen: Cuvillier 2004. 58 Jean-Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 75.
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Rousseau lehnt somit das Vorhaben der Enzyklopädisten, die Zahl der Weisen zu vergrößern, ab. Die Lösung für die Übel einer modernen Gesellschaft, die bereits nicht mehr zum Naturzustand zurückkehren kann, besteht in einer Nachahmung der natürlichen Ordnung im Rahmen der Möglichkeiten.59 Der Mensch soll sich also von seinem Wunsch nach Ausbildung und Belehrung lösen.60 Damit befreit er sich von dem Willen nach Wissen, dem Wunsch nach Anerkennung und Ungleichheit, von der Herrschaft einiger Menschen über andere und von der Barbarei.61
2.2 L’An 2440 und der Humanismus der Aufklärung Louis Sébastien Mercier projiziert die humanistischen Ideale der Aufklärung ins Paris des Jahres 2440. Dabei handelt es sich um eine platonisch geprägte Utopie,62
59 Da der Naturzustand von Rousseau hypothetisch konzipiert wird, wird die Vervollkommnung durch eine negative Perfektibilität (Ursula Reitemeyer: Perfektibilität gegen Perfektion. Rousseaus Theorie gesellschaftlicher Praxis. Berlin: LIT 2013, S. 114; Andreas Heyer: Die politische Dimension der Anthropologie. Zur Einheit des Werkes von Jean-Jacques Rousseau, S. 149) ersetzt, die den ihm zugeschriebenen Fortschrittspessimismus relativiert (Tim Gülbahar: Autonomie als Ideal. Jean-Jacques Rousseaus politische Theorie. Marburg: Tectum 2000, S. 21; Andreas Heyer: Die politische Dimension der Anthropologie. Zur Einheit des Werkes von Jean-Jacques Rousseau, S. 150–153; Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Göttingen: Wallstein 2007, S. 50; Rainer Bolle: Jean-Jacques Rousseau. Das Prinzip der Vervollkommnung des Menschen durch Erziehung und die Frage nach dem Zusammenhang von Freiheit, Glück und Identität. Münster u.a.: Waxmann 2012, S. 350; Sergey Zanin: Société idéale et horizon d’Utopie chez J.-J. Rousseau. Paris: Classiques Garnier 2012, S. 10–14). 60 Zum negativen Erziehungsbegriff bei Rousseau vgl. u.a. Hartmut von Hentig: Rousseau oder die wohlgeordnete Freiheit. München: Beck 2003, S. 42–82; Brigitte Schlosser: Rousseaus ‹Émile ou de l’Éducation›. Ein Erziehungsentwurf aus produktiver Einbildungskraft. Marburg: Tectum 2008 und Christoph Martin: Faire violence à la nature? Éducation négative et tentation expérimentale dans L’Émile. In: Claude Habib (Hg.): Éduquer selon la nature. Seize études sur l’Émile de Rousseau. Paris: Desjonquères 2012, S. 203–215. 61 Jean-Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 78. 62 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440. Postface de Michel Lallement. Paris: Burozoïque 2009, S. 17: «concentré avec Platon, je rêve comme lui [. . .] quand verrons-nous nos grands projets, quand verrons-nous nos songes se réaliser! Dormir, voilà donc notre félicité». Zudem vertraut Mercier, wie Hakim betont (Zeina Hakim: L’Europe comme utopie. Arcadie et uchronie dans Paul et Virginie et L’an 2440. In: Lara Piccardo (Hg.): L’idée d’Europe au XVIIIe siècle. Paris: Honoré Champion 2009, S. 27–38, hier S. 36), die Regierung des zukünftigen Paris dem Philosophenkönig an, der nichts anderes als die Glückseligkeit und den Fortschritt seines Volkes verfolgt – ein Merkmal, das den platonischen Charakter bestätigt, den der Autor selbst seiner Utopie zuschreibt.
2.2 L’An 2440 und der Humanismus der Aufklärung
111
die jedoch nicht von statischem, sondern dynamischem Charakter ist. Die verschiedenen Verhältnisse zwischen Wissen und Macht, die sich in der Aufklärung als Gegenentwurf zum ersten Humanismus bilden, sowie die neue Wissenshierarchie spiegeln sich nun in Raum und Zeit konkret wider. Auf diese Weise ersetzt Mercier die Unveränderlichkeit der platonischen Utopie und ihrer Nachfolger in der Renaissance durch ein Ideal der Fortschrittsentwicklung, dessen Ziel noch unerreicht in der Zukunft liegt.63 Die platonische Anamnesis wird in dieser Uchronie also letztendlich aufgegeben, die bezeichnenderweise zeitlich zwischen den Fortschrittsdiskursen von Turgot und Condorcet64 geschrieben wurde und von einem fortschrittsgläubigen Geschichtsbegriff zeugt, wie er durch die wissenschaftliche Revolution begründet und in der Aufklärung gefestigt wurde. In diesem Sinne ist L’An 2440 beispielhaft für den Wandel des politischen Systems des Ancien Régime, der sich durch die im 18. Jahrhundert typische Verbindung rationaler Prognose mit zuversichtlicher Fortschrittserwartung auszeichnet,65 zu einem modernen Staat.66 Die Idee des zeitlichen Fortschritts, die Merciers Utopiediskurs darstellt, ermöglicht nicht nur die Konzeption eines utopischen Paris im Jahr 2440 als Kritik des zeitgenössischen Paris, sondern gilt zugleich als realisierbares Stadtmodell.67 Das Ideal eines zukünftigen Paris, das sich gemäß den Utopieprinzipien der Aufklärung entwickelt und dessen Einwohner im Gegensatz zum zeitgenössischen Paris68 ihre Tugend, Freiheit und Glückseligkeit wiedergewonnen
63 Richard Saage: Utopische Profile: Aufklärung und Absolutismus. Münster: Lit Verlag 2002, S. 189; Thomas Schölderle: Geschichte der Utopie. Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2012, S. 18. 64 Raymond Trousson: Sciences et Religion en 2440. In: Cahier de l’Association Internationale des Etudes Françaises, 58 (2006), S. 89–106, hier S. 89. Für Heyer repräsentiert L’an 2440 tatsächlich die Verschmelzung der Fortschrittsdiskurse und der Utopie (Andreas Heyer: Zum Verhältnis von Utopie und Geschichtsphilosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Mercier, Diderot, Volney und Condorcet. In: Romanische Forschungen, 118 (2006), S. 200–220, hier S. 202). 65 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, S. 33. 66 Jean François Hamel: Les uchronies phantômes. Poétique de l’Histoire et mélancolie du progrès chez Louis-Sébastien Mercier et Victor Hugo. In: Poétique, XXXVI (2005), S. 429–441, hier S. 430. 67 Cerstin Bauer-Funke: Zum utopischen Potenzial der Bewegung im Raum in Louis-Sébastien Merciers Uchronie L’an 2440. In: Kurt Hahn/Matthias Hausmann (Hg.): Visionen des Urbanen. (Anti-)Utopische Stadtentwürfe in der französischen Wort- und Bildkunst. Heidelberg: Winter 2012, S. 33–46, hier S. 45. 68 Forsström sieht in dem Gegensatz, den Mercier mit einem alten und neuen Paris öffnet, eine Säkularisierung der augustinischen Gegenüberstellung von irdischer und göttlicher Stadt
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2 Humanismus und Aufklärung
haben,69 wird folglich als erreichbares Ziel dargestellt. Wie im Folgenden herausgearbeitet wird, ist die Schrift Merciers nicht nur paradigmatisch,70 weil sie den Schritt von der Raumutopie zur Zeitutopie repräsentiert,71 sondern zugleich weil sie die elementaren Prinzipien des Reformbestrebens der Aufklärung72 darstellt und somit einen literarischen Ausdruck schlechthin für den zweiten Humanismus, wie er in vorigen Kapiteln beschrieben wurde, bildet. Die Ungleichheit, die im alten Paris herrschte, wird durch die ursprüngliche Gleichheit ersetzt, die unter den Menschen herrschen soll. Das neue Paris orientiert sich am Naturgesetz und lehnt die bürgerlichen Gesetze ab, die den Menschen verdorben haben. Aus diesem Grund sind im Paris von 2440 alle Bücher der Rechtsprechung verbrannt worden,73 zugunsten eines utopischen Ideals, das keine Abweichung zulässt.74 Die Gebote der Natur haben alleinige Geltung. Deshalb führen ihre besten Kenner, die Philosophen, ein beispielhaftes Leben. Sie sind ihren Mitbürgern nützlich und opfern sich selbstlos dem Gemeinwohl, da alle ihre Handlungen stets dem nationalen und gemeinschaftlichen, aber niemals dem eigenen Wohl dienen. Jedoch sind die Philosophen den übrigen nicht überlegen, denn sie
(Riika Forsström: Possible Worlds. The idea of Happiness in the Utopian Vision of Louis-Sébastien Mercier. Helsinki: Suomalaisen Kirjallisuuden Seura 2002, S. 295). 69 Wenn auch ohne direkte Verbindung zur Utopie, zeigt Robert Mauzi: L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIe siècle. Paris: Slatkine 1979 auf, wie die Idee der Glückseligkeit einen Leitfaden im 18. Jahrhundert bildet. 70 Was ihre Präsenz in zahlreichen Überblicksstudien zum Genre der Utopie erklärt, u.a. Raymond Trousson: Voyages aux pays de nulle part. Histoire littéraire de la pensée utopique, S. 175–179; Bronislaw Baczko: Lumières de l’utopie. Paris: Payot 1978; Paul Alkon: Origins of futuristic fiction. Atenas: University of Georgia Press 1987; sowie Richard Saage: Utopische Profile: Aufklärung und Absolutismus im Gegensatz zum Desinteresse, das ihr in allgemeinen Studien zur Aufklärung zukommt (Harvey Chisick: Utopia, reform and revolution: the political assumptions of L.–S. Mercier. In: History of Political Thought, 22 (2001), S. 648–668, hier S. 648). 71 Dieser Schritt tritt hier nicht zum ersten Mal auf, wie Hans Günter Funke: Une ère nouvelle de l’utopie. L’An 2440 (1771) de Louis-Sébastien Mercier. In: Didier Lechat/Ulrich Mölk (Hg.): Penser l’ère nouvelle. Caen: Presses Universitaires 2006, S. 93–108, hier S. 95–97 verdeutlicht: Jacques Guttin: Épigone. Histoire du siècle futur. Paris: Pierre Lamy 1659 beinhaltet im Kern das Phänomen der Uchronie, indem er zum ersten Mal dieses literarische Vorgehen mit einer Reihe von Artikeln verbindet, die im Jahr 2355 im Mercure erscheinen. 72 Harvey Chisick: Utopia, reform and revolution: the political assumptions of L.–S. Mercier, S. 660. 73 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 69–72. 74 Florence Boulerie: Violence du juste en utopie: le pouvoir éclairé selon Louis-Sébastien Mercier. In: Eîdolon, 73 (2004), S. 209–220, hier S. 213.
2.2 L’An 2440 und der Humanismus der Aufklärung
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ne présentent point leur genre de vie comme un modèle à suivre ; ils ne se glorifient point de leur héroïsme; il ne s’abaissent point pour attirer la vénération publique: surtout ils ne censurent point les défauts du prochain ; beaucoup plus attentifs à lui procurer une vie douce et commode, fruit de leurs innombrables soins.75
Die Modernen behaupten sich nicht nur durch die Ablehnung der Ungleichheit gegenüber den Alten, sondern ebenso durch einen Bruch mit dem Bündnis zwischen Wissen und Macht. Auf diese Weise überwinden die Pariser Schriftsteller im Jahr 2440 die Zeiten Louis’ XIV, indem sie die Mängel des Königs, die Übel der Völker, die Zerstörungen durch Leidenschaften, etc. beschreiben. Sie verurteilen die Sklaverei und Tyrannei und sind den Alten an Tapferkeit überlegen, da die Herrscher im zukünftigen Paris nicht für Tugenden gerühmt werden, die sie eigentlich nicht besitzen.76 In Merciers Uchronie genießen die nützlichen Disziplinen die privilegiertesten Plätze in der Wissenschaftshierarchie. Dabei gehören das Studium der Geschichte oder toter Sprachen nicht zum Pariser Bildungsideal der Zukunft. Während erstere nichts als Zeugnis von Wahn und Schandtaten liefert, wird letzteres als nutzloser Zeitvertreib angesehen.77 In Übereinstimmung mit dem Perfektibilitätsideal der Aufklärung wird die Geschichte im Paris des Jahres 2440 nicht mehr als magistra vitae begriffen.78 Stattdessen bezeichnet sie Mercier als Schande der Menschheit, in der sich ihre Verrücktheiten und Verbrechen verdichten. An die unzähligen Namen, Daten, Ereignisse und Stammbäume, die die Geschichte bereithält, zu erinnern, wäre sinnlos. Denn die Hoffnung, dass die Menschheit aus ihrer Geschichte lerne, ist laut Mercier vergebens. Stattdessen lehrt sie allein den Despotismus und macht ihn zunehmend grausamer, indem sie den Menschen als Sklaven zeigt und darstellt, wie ein Befreiungsversuch aus einer alten eine neue Tyrannis bringt.79 Das zukünftige Paris wird somit in Abgrenzung zum alten Paris definiert, wodurch die herrschende Ordnung abgelehnt wird.80 Gerade diese zwei Dimensionen, der Reaktion auf eine bestimmte
75 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 94. 76 Ebda., S. 177–214. 77 Diane Berret Brown: The pedagogical city of Louis-Sébastien Mercier’s L’an 2440. In: The French Review, 78 (2005), S. 470–480, S. 473. 78 Jean François Hamel: Les uchronies phantômes. Poétique de l’Histoire et mélancolie du progrès chez Louis-Sébastien Mercier et Victor Hugo, S. 432. 79 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 58–62. 80 Andreas Urs Sommer: Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant. Basel: Schwabe 2006, S. 272.
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soziale Situation, die der Autor mit der Mehrheit erleidet, sowie ein räumliches und zeitliches Jenseits, zeichnen für Horkheimer die Utopie aus.81 Während die räumliche Utopie der Renaissance statisch war, stellt die Uchronie das Resultat einer zeitlichen Entwicklung dar. Der Fortschritt des Paris des Jahres 2440 wird in diesem Sinne an seinen außerordentlichen und nützlichen Entdeckungen gemessen. An die Stelle von Stolz über gewonnene Schlachten und ungerechte Eroberungen tritt ein industrieller Staat, der sein Reichtum nicht dem Gold Amerikas verdankt; sein Peru bedeutet industrielle Arbeit.82 Die guten Könige orientieren sich am Wissenserwerb und den Unternehmungen, die der Menschheit in ihrer Gesamtheit zugutekommen. Deshalb betreiben sie Medizin, Chirurgie sowie die praktischen Künste. Die Reichen der Nation nutzen ihre Mittel für die Entdeckung der Geheimnisse der Natur. Das Gold, das in anderen Zeiten den Ursprung von Verbrechen und Untätigkeit ausmachte, dient nun der Menschlichkeit. Das Nützlichkeitskriterium hat auch die Wertschätzung der bis dahin verschmähten mechanischen Künste zur Folge. Überall findet man im neuen Paris Marmorstatuen, die an den Erfinder der Säge, der Drehmaschine oder des Krans erinnern,83 wie es bereits in der Enzyklopädie nahegelegt wurde.84 Die besten Männer haben die exaktesten Werkzeuge der Geometrie oder Astronomie gebaut. Die Größe des Menschen spiegelt sich in der Erfindung von Hilfsmitteln wie dem Mikroskop wider, das die Beobachtung von Dingen ermöglicht, die sich dem menschlichen Auge normalerweise entziehen.85 Der Fortschrittsbegriff der Aufklärung findet in der Wissenschaft seine Bestätigung als Mittel des Menschen, um die geheimen Bewegungen der Dinge zu erforschen und seine Herrschaft zu erweitern.86
81 Max Horkheimer: Die Utopie. Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Kohlhammer 1930, S. 77–94. 82 Eve Prosper: La question de l’esclavage dans l’utopie de Louis-Sébastien Mercier. L’an 2440, rêve s’il en fut jamais. In: Norbert Dodille/Amélie Adde u.a. (Hg.): Mondes parallèles dans les espaces coloniaux. Paris: Harmattan 2013, S. 47–69, hier S. 51. 83 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 193–202. 84 Paolo Quintili: Machines et ‹métamachines›. Le rêve de l’industrie mécanisée dans l’Encyclopédie, S. 247–274. 85 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 204–208. Trotzdem warnt Mercier auch vor den Gefahren eines falschen Gebrauchs der Technik: «Des milliers d’hommes respirent forcement cet air empoisonné [. . .] Je vais chercher quelque village où, dans un air pur et des plaisirs tranquilles, je puisse déplorer le sort des tristes habitants de ces fastueuses prisons que l’on nomme ‹villes› [. . .]» (S. 20–32). 86 Raymond Trousson: Sciences et Religion en 2440. In: Cahier de l’Association Internationale des Etudes Françaises, S. 94.
2.2 L’An 2440 und der Humanismus der Aufklärung
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Mercier verdeutlicht in dem Bildungsprogramm, das er für sein utopisches Paris entwirft, wie das Wissensgebäude nach dem Nützlichkeitskriterium umstrukturiert wird. Neben dem Studium der Geisteswissenschaften ist die Bildung der Kinder und Jugendlichen in der Algebra grundlegend, da sie eine Disziplin von allgemeiner Nützlichkeit ist, die eine objektive Betrachtung der Wirklichkeit ermöglicht. Ihre Präzision soll auf alle Künste übertragen werden, die nach dem Kriterium der Objektivität und Nützlichkeit ihrer Erkenntnisse bewertet werden. In diesem Sinne kommt der Physik in der Wissenschaftshierarchie eine privilegierte Position zu.87 Hingegen zeigt Mercier assez de mépris pour la métaphysique, cet espace ténébreux où chacun édifiait un système chimérique et toujours inutile. [. . .] C’est à l’aide de la physique, cette clef de la nature, cette science vivante et palpable, que parcourant le dédale de cet ensemble merveilleux, nous leur apprenons à sentir l’intelligence et la sagesse du Créateur. Cette science bien approfondie les délivre d’une infinité d’erreurs, et la masse informe des préjugés cède à la lumière pure qu’elle répand sur tous les objets [. . .]88
Im Paris des Jahres 2440 sind alle existierenden religiösen Bücher zensiert worden.89 Sie werden wie Kriegswaffen gebraucht; anstatt die Feinde mit Kanonen zu beschießen, werden ihnen diese Bücher geschickt, die so gefährlich wie Brennstoff seien. Mit ihrem Gift zerstören sie den Feind. Folglich verschreibt sich die Universität nützlichen Studien für die Menschheit wie beispielsweise der Medizin, die die Entdeckung von Mitteln gegen physische Leiden ermöglicht. Somit wende sie sich von der Analyse von Absurditäten ab und versuche stattdessen, den verborgenen Ursprung grausamer Krankheiten zu erforschen, wodurch sie für das Wohl der Nachwelt sorge. Darüber hinaus hat sich die Medizin von allem Wissen, das der Heilkunst abgewandt ist, befreit. Somit verteidigt Mercier, wie auch die Encyclopédie,90 eine Spezialisierung der Wissenschaften. Ein Arzt soll keine Kenntnis von Anatomie, Botanik oder Mathematik haben, da jede dieser Disziplinen ein ganzes Leben in Anspruch nehmen würde. Die Ärzte beschränken
87 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 63–200. 88 Ebda., S. 62. 89 Dennoch setzt sich Mercier laut Trousson nicht für eine Auflösung, sondern für eine Erneuerung der Religion ein (Raymond Trousson: Sciences et Religion en 2440. In: Cahier de l’Association Internationale des Etudes Françaises, S. 99–100), wohingegen Rufi den weltlichen Charakter von Merciers Utopie unterstreicht (Enrico Rufi: Le rêve laïque de Louis- Sébastien Mercier entre littérature et politique. Oxford: Voltaire Foundation 1995). 90 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 112.
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2 Humanismus und Aufklärung
sich also im Jahr 2440 auf das, was der Heilung dient: Krankheiten bestimmen und ihre Symptome erkennen.91 Ähnlich kommt das Nützlichkeitskriterium bei der Moral zur Geltung. Hier teilt Mercier Rousseaus Kritik der scheinhaften Tugend.92 Im alten Paris wird Tugend nur geheuchelt, ohne jedoch eine echte Verpflichtung zu bedeuten. Die Moral hingegen, die im zukünftigen Paris gelehrt wird, ist keine unnütze Tugend des Wortes, sondern eine handlungsorientierte, die auf das gesamte Handeln des Menschen übertragen wird. Alle weisen Männer im neuen Paris zeichnen sich durch den nützlichen Beitrag aus, den jeder Einzelne in seinem spezifischen Wissensbereich einbringt, was verhindert, dass sich die einen gegen die andern durchsetzen.93 Zugleich spiegelt Merciers Uchronie die Umkehrung der Hierarchie zwischen der vita activa und der vita contemplativa wider. Während erstere in der Aufklärung jene ehrt, die sich für das Gemeinwohl opfern, entbehrt letztere jeglichen Nutzens. Deshalb gibt es im Paris des Jahres 2440 keine Priester mehr, die beten oder predigen könnten: J’ai lu que ceux qui avaient moins de charité, et par conséquent de religion, étaient ceux qui la prêchaient aux autres ; que l’on avait fait un métier de prier Dieu ; que le nombre de ceux qui portaient cet habit lucratif, gage d’une indolente paresse, s’était multiplié à un point incroyable. 94
Im neuen Paris gibt es nur bestimmte Einsiedler, die im Wald leben, jedoch nicht um der Kontemplation willen, sondern um sich dem Studium der Natur zu widmen, aus dem sich nützliche Erkenntnisse für die Verbesserung des menschlichen Lebens ergeben sollen.95 Diese Reihe von Umkehrungen der topoi des ersten Humanismus unterstreicht die Überlegenheit der Neuen über die Alten, die in Merciers Uchronie letztendlich gefestigt wird. Erstens in Bezug auf die Gleichheit: Pythagore avait aperçu cette égalité des âmes ; il avait senti cette transmigration d’un corps à un autre ; mais ces âmes tournaient sur le même cercle, et ne sortaient jamais de leur globe. Notre métempsycose est plus raisonnée et supérieure à la ancienne.96
91 92 93 94 95 96
Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 64–70. Jean-Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 66–67. Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 23–62. Ebda., S. 95. Ebda., S. 193–201. Ebda., S. 105.
2.2 L’An 2440 und der Humanismus der Aufklärung
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Zweitens in Bezug auf die Wissenschaft: Die Weisen im Paris des Jahres 2440 erachten die Autorität der Alten als Produkt eines progressiven Idealisierungsprozesses, der nicht ihren philosophischen und wissenschaftlichen Verdiensten entspricht. Sich auf sie zu berufen bedeutet, sich ohne Fortschritt im Kreis zu drehen und stets zu demselben Punkt zurückzukehren. Die Alten nachzuahmen ist demnach nichts als die Frucht der intellektuellen Faulheit sowie das Vertrauen auf die Meinung anderer. Die so verstandene Wissenschaft verliert zudem den Erfindungsreichtum und die Originalität, die unabdingbar für die Erlangung nützlicher Ergebnisse sind. Das Bildungssystem des zukünftigen Paris schließt nutzlose Disziplinen aus, worunter Latein und Griechisch fallen, die zwar allgemeines Wissen beinhalten, aber trotzdem meistens bloße Nichtigkeiten bieten. Im Gegensatz zum Paris des 18. Jahrhunderts häufen die Kinder nicht mehr Unmengen von Kenntnissen an, die unnütz sind.97 Stattdessen wird eine sorgsame Auswahl antiker Quellen getroffen,98 sodass nur die herausragendsten Autoren ins Französische übersetzt werden – in die Sprache moderner Werke, die im Paris des Jahres 2440 antike Werke in den Schatten stellen: Ces nouveaux poèmes sont incomparablement plus utiles, plus intéressants pour nous, plus relatifs à nos mœurs, à notre gouvernement, à nos progrès dans nos connaissances physiques et politiques, au but moral, enfin, qu’il ne faut jamais perdre de vue. 99
Anstatt Griechisch oder Latein zu lehren,100 die keine praktische Anwendung finden können, wird im zukünftigen Paris Französisch, Italienisch, Englisch, Deutsch und Spanisch gelehrt. Zudem muss die Grammatik der Rhetorik weichen, da das Land laut Mercier keine Grammatiker, sondern Redner braucht, die ihre Kenntnisse in der Praxis umzusetzen wissen.
97 Ebda., S. 60. 98 An dem Schaffensprozess der Utopie eines aufgeklärten Paris hat die Zensur teil, die zur Verbrennung jener Bücher führt, die als frivol, unnütz oder schädlich gelten. Die Flammen sollen die Fehler sowohl der Alten als auch der Neuen tilgen. Dabei werden Schriften von griechischen Denkern wie Homer, Sophokles, Euripides, Demosthenes, Platon und Plutarch bewahrt, während die Werke von Herodot, Sappho, Anakreon und insbesondere Aristophanes verbrannt werden. Unter den Schriften des antiken Roms werden die von Vergil, Plinius, Titus Livius, Sallust und Tacitus bewahrt, während die von Lukrez und Ovid verbrannt und die von Horaz und Seneca auf ein Viertel gekürzt werden. Unter den Modernen werden Milton, Shakespeare und Richardson wegen ihres Schöpfergeists sowie unter den Franzosen Montaigne, Descartes und Fénélon wegen ihrer Verbindung von Verstand und Gefühl gerettet (Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 157–163). 99 Ebda., S. 57. 100 Jean-Jaques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 34–69.
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2 Humanismus und Aufklärung
Schließlich repräsentiert Merciers Uchronie eine Realisierung des Ideals des zweiten Humanismus im glücklichen Paris des Jahres 2440. Die Fehler der humanistischen Tradition werden dort korrigiert; im Gegensatz zu vergangenen Zeiten herrscht Gleichheit unter den Menschen und der Weise hat seine Vorrangstellung vor der Mehrheit verloren; durch Wissenschaft, Technik und ein Leben fern der reinen Kontemplation werden sichere und nützliche Erkenntnisse für die glücklichen Bewohner des zukünftigen Paris gewonnen. Die Fortschrittslinie, die zwischen den beiden durch die Zeit getrennten Städten gezogen wird, prophezeit gemäß dem Diskurs der Aufklärung101 eine goldene Zukunft auf der Grundlage eines neuen Vernunftideals und der daraus hervorgehenden neuen politischen und wissenschaftlichen Hierarchie.
2.3 Die Aufklärung und das 20. Jahrhundert Die Entwicklung des europäischen Humanismus im 20. Jahrhundert wird maßgeblich durch die Prinzipien der Aufklärung sowie die Kritik Rousseaus geprägt. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs üben Adorno und Horkheimer wie vor ihnen Rousseau102 eine Kritik an der Vernunft der Aufklärung, die in den Debatten über die Identität der Moderne viel Resonanz finden sollte.103 Damit markiert die Dialektik der Aufklärung in paradigmatischer Form die Festigung eines neuen Vernunftideals, das die Entwicklung des dritten Humanismus auszeichnet. Ausgangspunkt von Adorno und Horkheimer ist die Kontroverse zwischen den Vertretern der Aufklärung, die die zivilisierende Kraft der Vernunft verfechten,104 und ihren Kritikern, die die Aufklärung für die Dekadenz und Barbarei verantwortlich machen, was der Aufklärung einen dialektischen Charakter verleiht. Der vernunftorientierte Fortschritt der Aufklärung habe die Menschheit in die Barbarei des Zweiten Weltkriegs geführt. In der Aufklärung ist demnach laut Adorno und Horkheimer zugleich der Ursprung des Fortschritts und der der Barbarei zu situieren.105
101 Riika Forsström: Possible Worlds. The idea of Happiness in the Utopian Vision of Louis-Sébastien Mercier, S. 55. 102 Michaela Rehm: Bürgerliches Glaubensbekenntnis. Moral und Religion in Rousseaus politischer Philosophie. München: Fink 2006, S. 12. 103 Charles Taylor: Sources of the Self. The making of modern identity. Cambridge: Cambridge University Press 1989, S. 499–513. 104 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 162. 105 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 1–3.
2.3 Die Aufklärung und das 20. Jahrhundert
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Nach Adorno und Horkheimer suchen die Aufklärer die Menschen von ihrer Angst durch das Vertrauen in Vernunft und Fortschritt zu befreien und streben eine Führung der Menschheit durch die Vernunft an. Hierzu bedarf es dessen, was Max Weber die Entzauberung der Welt nannte.106 Durch die Aufklärung sollen Mythen und Phantasien beseitigt und durch wissenschaftlich-technisches Wissen ersetzt werden, mit dem Ziel, dass die menschliche Vernunft über die Leichtgläubigkeit siege und die Natur beherrscht werde. Adorno und Horkheimer erkennen in diesem aufklärerischen Kampf gegen den Mythos selbst einen Mythos. Vor dem dialektischen Charakter der Aufklärung, so fahren sie fort, habe bereits Nietzsche gewarnt. Die Vorrangstellung der Rationalität in der Aufklärung hebe das Dionysische auf und beschränke somit den Schöpfungsdrang des Lebens. Die Rationalität für sich ist nicht fähig, Neues zu schaffen, sondern stellt vielmehr eine organisierende Kraft dar, die jenem, was sie selbst nicht geschaffen hat, eine Form gibt. Adorno und Horkheimer sehen hierfür die Odyssee als beispielhaft, da sie das Ergebnis einer homerischen rationalen Ordnung von mythischem Inhalt in mündlicher Tradition darstellt. In ihr verschwindet jegliche Spur des Willens, an dessen Stelle eine Vernunft tritt, die stets über der Leidenschaft stehen soll.107 Ihr Protagonist, Odysseus, repräsentiert für Horkheimer und Adorno den Archetyp des bürgerlichen Individuums. Die Mittel, derer er sich für die Selbstbestätigung als Subjekt und für einen guten Ausgang seiner Reise bedient, sind List und Täuschung höherer Kräfte. Auf diese Weise entsteht im Individuum jenseits der Moral der instrumentelle Geist, der die abendländische Zivilisation bestimmt: Der listige Einzelgänger ist schon der homo œconomicus, dem einmal alle Vernünftigen gleichen [. . .] Dem Zufall des Wellengangs ausgeliefert, hilflos isoliert, diktiert ihnen ihre Isoliertheit die rücksichtslose Verfolgung des atomistischen Interesses. Sie verkörpern das Prinzip der kapitalistischen Wirtschaft. [. . .] Odysseus lebt nach dem Urprinzip, das einmal die bürgerliche Gesellschaft konstituierte. Man hatte die Wahl, zu betrügen oder unterzugehen.108
Die Konstitution des Subjekts und dessen Bestätigung in Abgrenzung zu einer bedrohlichen Natur geschieht mittels einer instrumentellen Vernunft. Die Menschen trachten nach Wissen, um die Erkenntnisse zunächst für die Beherrschung der Natur und daraufhin der Menschen zu instrumentalisieren. Wissen und Macht werden auf diese Weise zu Synonymen.
106 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Tübingen: J. C. B. Mohr 1994, S. 9. 107 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 9–91. 108 Ebda., S. 69.
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2 Humanismus und Aufklärung
Die Herrschaft des Subjekts über die Natur verwandelt sich jedoch schließlich in die Herrschaft des Objekts über das Subjekt. Der Mensch wird ökonomischen Kräften unterworfen und das Freiheitsversprechen der Aufklärung wird somit zu einer neuen Form der Sklaverei. In der Folge vollzieht sich zudem eine Trennung zwischen Kulturindustrie und wahrer Kultur. Die Kulturindustrie übernimmt das Denken für den Menschen und beschafft ihm unmittelbar eine Reihe von Gütern, die der Zuschauer oder Leser nur zu konsumieren braucht. Das Ziel der Kulturindustrie ist ein ökonomisches und jeglicher Aufwand gilt der Erzielung von Gewinnen, wodurch die Kultur zu einer Ware wird. Die eigentliche Kultur hingegen stellt einen Zweck an sich dar, regt die Phantasie und Reflexion an und ist von individuellem und nicht schematischem Charakter. Damit wird für Horkheimer und Adorno abermals evident, wie die Aufklärung den Menschen in eine neue Form der Barbarei stürzt. Die positiven Güter verwandeln sich in negative und der Fortschritt wird zum Rückschritt.109 Die Funktion der Wissenschaft ist, wie schon Bacon aufzeigte, das Leben des Menschen zu verbessern,110 doch der Preis, den die Menschen dafür zahlen müssen – so warnen Horkheimer und Adorno –, ist hoch. In dem Maße, in dem sie ihre Macht erweitern, entfernen sie sich gleichsam vom Gegenstand ihrer Macht. So ist die Aufklärung für Adorno und Horkheimer totalitär, indem sie sich den Dingen gegenüber verhält, wie der Diktator gegenüber seinen Untertanen. Zudem wird die Entwicklung der modernen Welt von einer Dekadenzentwicklung der Natur bestimmt. Während das Individuum im sozialen Apparat verschwindet, beschafft dieser ihm mehr Güter als je zuvor. In umgekehrt proportionalem Verhältnis steigt die Wehrlosigkeit und Lenkbarkeit der Massen durch die Güter, die ihnen gewährt werden. Die Technik verstümmelt den Menschen, selbst wenn sie ihm außergewöhnliche Lebensbedingungen verschafft.111 Horkheimer und Adorno stellen die Aufklärung als Erbin eines instrumentellen Vernunftbegriffs dar, dessen Ursprung sie bei Platon ansiedeln. Demnach geht der Prozess auf die letzten Schriften Platons zurück, in denen er die Ideen mit Zahlen vergleicht. Im Kontext der Aufklärung bestimme dann die Zahl Gerechtigkeit und Ökonomie.
109 Ebda., S. 6–16. 110 Francis Bacon: Novum Organon, I, S. 96–97. 111 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 14–44. Obwohl Adorno und Horkheimer sich hier auf eine Idee von Ortega y Gasset stützen, formulieren sie dennoch eine Kritik der Zivilisation, die sich an einem anderen Vernunftbegriff orientiert und einen unterschiedlichen Bezug zur Tradition hat.
2.3 Die Aufklärung und das 20. Jahrhundert
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Dennoch sei der Einwand gestattet, dass die instrumentelle Vernunft nicht Platon zugeschrieben werden kann. Denn dieser macht mit ausreichender Klarheit die Überlegenheit des kontemplativen über das aktive Leben deutlich. Auch wenn in seinen letzten Schriften die Ideen mit Zahlen gleichgesetzt werden, sind diese von idealem Charakter, der nichts mit praktischem Nutzen oder der Erlangung materieller Güter zu tun hat. Platon betont ausdrücklich das Gegenteil. Die Nützlichkeit der Mathematik liegt nicht darin, sich ihrer beim Kauf und Verkauf bedienen zu können, wie es Händler tun, die Platon verachtet. Vielmehr liegt ihr Nutzen darin, der Seele den Weg zu erleichtern, der sie zur Schau der Ideen führen soll.112 Auch die Geometrie und Astronomie bilden in der Seele den philosophischen Geist, indem sie den Blick dem Hohen zuwenden und nicht weltlichen Dingen, mit denen wiederum die Nützlichkeit der Wissenschaften in Verbindung gebracht wird.113 Der platonische Weise zeichnet sich durch seine Wertschätzung der wahren Wissenschaften aus und steht damit im Gegensatz zu jenen, die sie, nur um Macht zu erwerben, instrumentalisieren. Die weise Hingabe an die Wissenschaft birgt jedoch Schwierigkeiten. Mit dem Ziel der Erkenntnis an sich erfordert sie große Anstrengung und nur wenige nehmen sie auf sich. Da die Wissenschaft in diesem Fall nicht an einem anderen Nutzen als dem der Erkenntnis selbst ausgerichtet ist, werden ihre Ergebnisse kaum geschätzt.114 Folglich darf die instrumentelle Vernunft nicht als platonisches Erbe begriffen werden, sondern als modernes Phänomen, das sich in der Aufklärung konsolidiert. Auch in Frankreich und Spanien festigt sich der dritte Humanismus ausgehend von einer Kritik der aufklärerischen Vernunft und schlägt folglich ein neues Vernunftideal vor, das für seine Entwicklung entscheidend ist, wie im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt werden soll.
112 Platon hebt in Nomoi erneut den Gedanken hervor, dass der Wert der Mathematik in der elementaren Hilfe liegt, die sie auf dem Weg zur Wahrheit der Ideen darstellt, und nicht in ihrer praktischen Anwendung (Konrad Gaiser: Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften. In: Antike und Abendland, 32 (1986), S. 89–124, hier S. 91). 113 Da für Platon das Ziel der Geometrie die Erkenntnis ist, verzichtet er auf ihre sensorischen und empirischen Implikationen (Konrad Gaiser: Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften, S. 397–424). 114 Platon: Der Staat, 525–532, S. 285–295.
3 Topoi des Humanismus im 20. Jahrhundert 3.1 Die Kritik der humanistischen Tradition im europäischen Kontext Ausgehend von einem neuen Vernunftparadigma wird im Verlauf des dritten Humanismus die Umkehrung der wesentlichen topoi verworfen, die im zweiten Humanismus stattgefunden hatte. So erstarkt im humanistischen Diskurs des 20. Jahrhunderts aus den verschiedensten Perspektiven und Positionen eine Kritik am mächtiger werdenden homo œconomicus, der den homo humanus verdrängt, an der Überlegenheit der Naturwissenschaften und Technik gegenüber den Geisteswissenschaften sowie an der hierarchischen Umkehrung von vita activa und vita contemplativa.
3.1.1 Homo humanus vs. homo œconomicus Der homo œconomicus kommt mit dem kapitalistischen System auf, in dem die Produktion von Gütern unter der kleinstmöglichen Investition auf den größtmöglichen Gewinn gerichtet ist. In Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus stellt Max Weber die Vereinbarkeit zwischen der protestantischen Weltanschauung und Ethik einerseits und dem Prinzip der Anhäufung von Kapital und seiner Reinvestition fest, auf deren Grundlage später die Industrialisierung folgt. Der radikale Wandel, den die ethischen Modelle der Frühen Neuzeit erfuhren, wurde auch laut Hannah Arendt von den Bedürfnissen und Idealen einer neuen Elite vorangetrieben: Industrie, Erfolg und sichere Erkenntnisse stellen die herausragendsten Tugenden der modernen Wissenschaft dar.1 Der europäische Rationalismus setzt einen Prozess in Gang, der zu einer intellektualisierten Welt ohne magische oder mysteriöse Kräfte führt, die in der modernen Welt von der Technik ersetzt werden: Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder das Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gäbe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet die Entzauberung
1 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 277. https://doi.org/10.1515/9783110610376-004
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3 Topoi des Humanismus im 20. Jahrhundert
der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.2
Für Fromm beeinflusst die Behauptung des homo œconomicus gegenüber dem homo humanus den Charakter der gegenwärtigen Gesellschaften maßgeblich, da diese sich nicht mehr über ihren Beitrag zur Entwicklung der Menschheit profilieren, sondern über den Beitrag zum Fortschritt ihrer Systeme. Für seine Theorie sieht Fromm den Vietnamkrieg als beispielhaft, da es ein ungerechter und unmoralischer Krieg ist, der jedoch für den Erhalt des amerikanischen Wirtschaftssystems notwendig ist. Das Wirtschaftssystem dient nämlich seinen eigenen Interessen, statt den Interessen des Menschen. Vor diesem Hintergrund fordert Fromm 1961 eine Wiederbelebung des Humanismus.3 Der humanistische Diskurs begreift im 20. Jahrhundert die Politik weiterhin als angewandte Ethik. Ein gutes Beispiel gibt Ortega y Gasset, wenn er von einer technokratischen Regierung abrät,4 die Ramiro de Maeztu in La crisis del humanismo befürwortet hatte. Für Maeztu liegt das Problem Spaniens in einem Humanismus, der ökonomischen Nutzen verurteilt, weil er im Gegensatz zur Spiritualität stehe. 5 In diesem Sinne stelle Nordamerika ein gutes Beispiel für die Überlegenheit jener Länder dar, die das Geld als Teil der Moral hochachten.6 Für Ortega dagegen kann die technische Rationalität, wenn sie auf moralische Belange angewandt wird, nur zu Barbarei und Gewalt führen, die paradigmatisch von Mussolinis Faschismus verkörpert wird.7 Raymond Aron sieht noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen der Hauptgründe für die europäische Krise darin, dass Europa der humanitas keine Beachtung zukommen lässt und seine Machthierarchien falsch aufbaut, nämlich ausgehend von der Nutzenorientierung und Gewinnmaximierung statt
2 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, S. 9. 3 Erich Fromm: Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Mensche, S. 34: «[Ich glaube], daß es heute für den modernen Menschen und für den Menschen auf dieser Erde überhaupt im Wesentlichen nur die Alternative gibt zwischen der Barbarei und einer neuen Renaissance des Humanismus.». 4 José Ortega y Gasset: Meditación sobre la técnica y otros ensayos sobre ciencia y filosofía. Madrid: Alianza 2008, S. 56. 5 Ramiro de Maeztu: Don Quijote, Don Juan y La Celestina. Ensayos en simpatía. Madrid: Visor [1926] 2004, S. 184. 6 Ramiro de Maeztu: ¿Sometimiento de lo económico? In: El Sol, 23 (1926), S. 26–27. 7 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas. In: Ders.: Obras completas. Madrid: Alianza 1994, S. 143–228, hier S. 216–219.
3.1 Die Kritik der humanistischen Tradition im europäischen Kontext
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nach moralischen Kriterien. In diesem Sinne nimmt die Kultur eine ausgleichende Funktion ein. Die Macht der Ökonomie, die äquivalent zu der der Sophisten in der Antike oder der Machiavellisten in der Renaissance gesetzt wird, kann demnach nur zu einem Untergang Europas führen.8 3.1.1.1 Das Scheitern des aristokratischen Humanismus Die Kritik des zweiten Humanismus gibt den Raum frei für einen dritten Humanismus und damit zu einer neuen Rückkehr zu den ursprünglichen griechischen Quellen. Der Begriff des Dritten Humanismus9 wurde zur Jahrhundertwende vom George-Kreis geprägt und später von Eduard Spranger aufgegriffen, der ihn als Weg zur Verwirklichung des Menschen in der humanitas begreift, was insbesondere Aufgabe der Philologie sei.10 Die Philologie ermöglicht Jaeger, die Antike mit dem Dritten Humanismus zu verbinden, sodass Kultur, Bildung, paideia und Philologie eine konstitutive Rolle einnehmen.11 Ein Aufschwung der humanistischen Bildung wird laut Jaeger durch eine Auseinandersetzung mit der antiken Literatur möglich. Aus ihr entsteht die Ethik, so Jaeger, auf welcher der Humanismus basiert. Jaegers Humanismus erhält damit einen eudämonistischen Charakter, indem er die vollständige Verwirklichung des Menschen durch ethisches Wissen anstrebt.12 Jaeger distanziert sich von dem ausschließlich ästhetischen Charakter, der die Rückkehr zur Antike im Klassizismus kennzeichnet, um dem dritten Humanismus eine an Platon orientierte13 politische Dimension zu geben: «Humanismus ist unbedingt ein Politicum».14 Die Aufgabe der Schulen sei es also, zukünftige Führungskräfte zu bilden anstelle von bloßen Gelehrten. Für Jaeger liegt die Aufgabe
8 Raymond Aron: Plaidoyer pour l’Europe décadente, S. 445–447. 9 Um uns von Jaegers Begriff des Dritten Humanismus zu unterscheiden, benutzen wir für unseren Begriff des dritten Humanismus die Kleinschreibung. 10 Eduard Spranger: Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule. Leipzig–Berlin: Teubner 1922, S. 10–13: «Als Wissenschaft gibt sie Wahrheit, und ohne den Geist der Objektivität wäre sie keine ethische Kraft im Leben. Als Wissenschaft aber von geformten Werten und vom Menschentum gibt sie Bildung [. . .] als bildende Wissenschaft endlich führt sie den Menschen in jene Tiefen seines Inneren hinab, wo sein Begrenztes Dasein in einem Gesamtsinn Erlösung findet und, von den dunklen Mächten in sich selbst befreit, den lichten, heiteren Höhen der Menschheit selig entgegenstrebt». 11 Horst Rüdiger: Wesen und Wandlung des Humanismus, S. 279–297; Horst Rüdiger: Der Dritte Humanismus, S. 217–218. 12 Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge, S. 54, 119–127. 13 Charles H. Kahn: Werner Jaeger’s portrayal of Plato. In: William M. Calder III (Hg.): Werner Jaeger reconsidered. Atlanta: Scholars Press 1992, S. 69–83. 14 Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge, S. 162.
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3 Topoi des Humanismus im 20. Jahrhundert
von Schulen und Universitäten in der Bildung des homo politicus nach dem Vorbild der Antike.15 Im Sinne dieses Ziels wird die alte Überlegenheit der Geistes- über die Naturwissenschaften wiedererrichtet. Letztere, die rein analytisch und ordnungsgenerierend sind, beschäftigen sich nicht mit dem Menschen in seiner Gesamtheit und können somit keine neue Werte schaffen. 16 Jaeger hebt damit die Bedeutung des Humanisten für den Aufbau eines Staates hervor, der ebenso wie der platonische Staat auf der Grundlage einer Bildung errichtet werden soll, die die Ideale von Humanität und Moralität anstrebt, denen der Staat untergeordnet wird. Jaeger kritisiert, dass die platonische und aristotelische Ethik des Staates in der modernen Gesellschaft durch eine Individualethik ersetzt worden ist.17 Die Mehrheit kennt die Idee des Guten nicht, weshalb sie einer Führung bedürfe, um zu höherer Glückseligkeit und größerem Wohlergehen zu gelangen.18 Die Bildung nach dem griechischen Modell der paideia bildet laut Jaeger die gemeinsame Kultur, die von einer Aristokratie gestaltet wird,19 und verbindet die Mitglieder des Staates auf harmonische Weise. Jaeger spricht aber von den schwachen Römern und betont den gewaltigen Unterschied ihrer moralischen und geistigen Konstitution verglichen mit den Griechen. Ihr größtes Verdienst liegt für Jaeger darin, dass sie das griechische Ideal der paideia in die eigene Kultur aufgenommen und dadurch die Grundlagen für die moderne humanistische Bildung gelegt haben.20 Curtius hingegen weist die Herabwürdigung der römischen Kultur durch die Griechenliebhaber als ungerechtfertigt und politisch motiviert ab:21 Ein bekannter italienischer Archäologe äußerte einmal, die Überschätzung des griechischen Teils der antiken Kultur durch die Deutschen sei nur aus ihrem bösen Willen zu erklären, der sich weigere, die Suprematie der lateinischen Kultur und also auch der ihrer Erbin, der italienischen anzuerkennen. Und eine hervorragende englische Gelehrte [. . .] führte aus, dies eben hätte uns von den übrigen Kulturen getrennt, dass wir in einem unbegreiflichen Eigensinn uns dem griechischen Denken und der griechischen Kunst hingäben, ja beinahe den griechischen Geist mit dem deutschen identifizierten.22
15 Werner Jaeger: Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike. In: Volk im Werden. Zeitschrift für Geistes- und Glaubensgeschichte, I (1933), S. 43–49, hier S. 47. 16 Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge, S. 64. 17 Ebda., S. 89, 110. 18 Ebda., S. 100. 19 Ebda., S. 109, 114. 20 Ebda., S. 49, 55. 21 Ernst Robert Curtius: Humanismus als Initiative, S. 112. 22 Zitiert nach Horst Rüdiger: Der Dritte Humanismus, S. 221.
3.1 Die Kritik der humanistischen Tradition im europäischen Kontext
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Jaegers Humanismus wurde vom Nationalsozialismus enthusiastisch aufgenommen,23 der die in Paideia entwickelten Ideale in seinen Dienst stellte: Aristokratismus, Identifikation des deutschen Geistes mit dem griechischen, um dessen Überlegenheit gegenüber anderen Völkern zu unterstreichen, Primat der ethischen Vorgaben des Staates gegenüber individuellen Gestaltungsmöglichkeiten und ein auf Erziehung im Dienst des Staates gestützter Dirigismus. Auf alle diese Merkmale kommt Karl Popper zurück, um Platon als Theoretiker der geschlossenen Gesellschaft vorzuführen und demgegenüber einen Humanismus einzufordern, der seine Grundlagen in Sokrates und der griechischen Demokratie hat.
3.1.2 Humanismus und Machiavellismus im 20. Jahrhundert Die Verbindung zwischen Humanismus und Nazionalsozialismus hat der Pädagoge Friedrich Pfister paradigmatisch unter Beweis gestellt. 1934 lobte er Hitler wegen der hohen Bedeutung, die er der geisteswissenschaftlichen Bildung der Jugendlichen beimaß. Dabei sei insbesondere das Studium der Antike und ihrer Ideale wichtig, da «die politische Macht nur Bestand haben kann, wenn sie durch eine geistige und sittliche Erziehung im Volk fest verankert wird».24 Während 23 Hinsichtlich der Verbindung Jaegers mit dem Nationalsozialismus gibt es in der Forschung keine Einigkeit. So bemerkt Schmidt, dass Jaeger in der zweiten Auflage von Padeia 1935 aufgrund der ungewollten Analogie zum Dritten Reich auf den Begriff des «Dritten Humanismus» verzichtet (Ernst A. Schmidt: Werner Jaegers Dritter Humanismus. Analyse des Programms, der Stimmen der Kritiker und ihrer Positionen. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, 2 (2003), S. 193–223). Die herrschende Meinung ist jedoch gegenteilig. So hebt Näf die enthusiastische Aufnahme von Paideia durch den Nationalsozialismus hervor, von der sich Jaeger nicht distanziert hat (Beat Näf: Werner Jaegers Paideia: Entstehung, kulturpolitische Absichten und Rezeption. In: William M. Calder III (Hg.): Werner Jaeger reconsidered. Atlanta: Scholars Press 1992, S. 125–146, hier S. 126–127). Landfester sieht in Paideia ein utopisches Konzept, das klar und deutlich in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt wurde (Manfred Landfester: Die Naumburger Tagung, Das Problem des Klassischen und die Antike (1930). Der Klassikbegriff Werner Jaegers: seine Voraussetzung und seine Wirkung. In: Hellmut Flaschar/Sabine Vogt (Hg.): Altertumswissenschaft in den 20 Jahren. Neue Fragen und Impulse. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1995, S. 11–40, hier S. 40). Mehring warnt, dass weder seine Emigration in die USA noch Paideia als eine direkte Antwort auf den Nationalsozialismus verstanden werden sollten (Reinhard Mehring: Humanismus als Politicum. Werner Jaegers Problemgeschichte der griechischen Paideia. In: Antike und Abendland, 45 (1999), S. 111–128, hier S. 127), während Edler versucht, eine ideologische Verbindung zwischen Jaeger und Heidegger herzustellen (Frank H. Edler: Heidegger and Werner Jaeger on the Eve of 1933: A possible Rapprochement? In: Research in Phenomenology, 27 (1997), S. 122–149). 24 Friedrich Pfister: Der politische Humanismus. In: Bayerische Blätter für das Gymnasial Schulwesen. Herausgegeben vom Verein Bayerischer Philologen. Band LXX. München–Berlin: Oldenbourg Verlag 1934, S. 65–77.
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3 Topoi des Humanismus im 20. Jahrhundert
Deutschland seine nationale Identität auf griechischem Erbe aufbaut, um seine Überlegenheit gegenüber anderen Völkern zu rechtfertigen, beruft sich Charles Maurras, ein Anhänger des italienischen und spanischen Faschismus, in Frankreich auf das römische Erbe. Für Maurras liegt der Schlüssel zu nationalem Glanz in einer Rückbesinnung auf die Antike, deren Tradition es Frankreich ermöglichen soll, die einstige Größe Roms zu erlangen.25 Die Verbindung zwischen Humanismus und Totalitarismus hatte zu Nietzsches Begriff der Moral als Mittel zur Macht und Kontrolle der Massen beigetragen, der später zu einer Ablehnung des Humanismus durch Denker wie Foucault führte.26 Diese Verbindung problematisiert den Gegensatz zwischen Humanismus und Machiavellismus. So zeigt Raymond Aron auf, dass die Tugend während der faschistischen Systeme des 20. Jahrhunderts machiavellistische Züge annimmt: Si le machiavélisme consiste à gouverner par la terreur et par la ruse, aucune époque ne fut plus machiavélique que la nôtre [. . .] Notre temps paraît machiavélique avant tout parce que les élites violentes qui ont accompli les révolutions du XXe siècle conçoivent spontanément la politique sur le mode machiavélique.27
Die politische Elite in totalitären Systemen28 beruht auf der machiavellistischen Tyrannei.29 Eine Antwort auf die Frage, ob Europa noch Aufbaukräfte habe, findet Aron in einer Verabschiedung vom Machiavellismus, der nicht nur
25 Charles Maurras: Anthinéa. Paris: Flammarion 1912, S. 15–16. 26 Michel Foucault: Dits et écrits, S. 619. 27 Raymond Aron: L’homme contre les tyrans, S. 11–12. Aron stellt eine Entsprechung zwischen Machiavelli und totalitären Ideologien hinsichtlich ihrer Themen, Methoden, Geschichtsauffassung und schließlich ihres technischen und instrumentellen Politikbegriffs fest (Mathias Oppermann: Raymond Aron und Deutschland. Die Verteidigung der Freiheit und das Problem des Totalitarismus. Ostfildern: Jan Thorbecke 2008, S. 91–165). 28 Die Kritik an totalitären Systemen bildet den Leitfaden von Arons Werk, indem er sie nach fünf Grundkategorien definiert: das politische Monopol einer einzigen Partei und einer Ideologie, die in absoluter Autorität sowie im Wahrheitsanspruch des Staates etabliert wird und für deren Verbreitung der Staat zwei weitere Monopole errichtet: das der Gewaltausübung sowie der Kontrolle der Kommunikationsmedien. Ein großer Teil der Arbeit und wirtschaftlichen Tätigkeiten wird in den Dienst der Staatsideologie gestellt und auch jede individuelle Handlung wird letztendlich nach ihrem Maßstab bewertet (Christoph Miething: Der Totalitarismus Kritik Raymond Arons. In: Ders.: Judentum und Moderne in Frankreich und Italien. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 156–179, hier S. 164). Angesichts der instrumentellen Vernunft und dem univoken Realitätsbegriff, die totalitäre Systeme auszeichnen, schlägt Aron einen Rationalismus der Antinomien vor, der von einer dialektischen Auffassung der Wirklichkeit ausgeht (Stephen Launay: La pensée politique de Raymond Aron. Paris: Presses Universitaires de France 1995, S. 237). 29 Raymond Aron: Hat Europa noch Aufbaukräfte? Frankfurt a. M.: Schulte-Bulmke 1948.
3.1 Die Kritik der humanistischen Tradition im europäischen Kontext
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im 20. Jahrhundert, sondern im gesamten Verlauf der Geschichte präsent ist.30 Eine Rückkehr zum Humanismus als Gegengewicht gegen den Maquiavellismus, wie sie Aron fordert,31 erscheint nur möglich ausgehend von der Kritik an der Tradition und von einer darauffolgenden Neuorientierung an demokratischen Prinzipien. 3.1.2.1 Der demokratische Humanismus Im Gegensatz zu Jaegers platonischem Modell32 ist für Popper der Rückbezug auf Sokrates der einzig richtige Weg für die Entwicklung moderner Gesellschaften. Denn ihren Ursprung haben sie in der griechischen Antike, wo sich zum ersten Mal der Wechsel von einer geschlossenen Gesellschaft, charakterisiert durch ein strenges Kastensystem, zu einer offenen, humanen Gesellschaft vollzogen hat, in der das Individuum über ausreichend Freiheit für eigene Entscheidungen verfügt: Wenn wir daher sagen, dass unsere abendländische Zivilisation von den Griechen herkommt, so sollten wir uns vergegenwärtigen, was das bedeutet. Es bedeutet, dass die Griechen für uns eine große Revolution begonnen haben, die sich, wie es scheint, noch immer im Anfangsstadium befindet, den Übergang von der geschlossenen zur offenen Gesellschaftsordnung.33
30 Raymond Aron: Études politiques. Paris: Gallimard 1972. Trotz der Wurzeln moderner Formen der Tyrannei in Machiavellis Theorie (Friedrich Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der Neueren Geschichte. München: Oldenbourg 1957; Leo Strauss: Thoughts on Machiavelli. Chicago: University of Chicago Press 1958, S. 13–14; Gennaro Maria Barbuto: Il Principe nel Novecento. In: Alessandro Nicosia (Hg.): Il Principe di Niccolò Machiavelli e il suo tempo: 1513–2013. Roma: Treccani 2013, S. 303–317, hier S. 306–309) dürfen totalitäre Systeme jedoch nicht als radikale Übertreibung von Machiavellis Ideen interpretiert werden (Gerhard Ritter: Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus. München: Oldenbourg 1940), was der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Machiavelli und Machiavellismus besondere Bedeutung verleiht, wie Cassirer aufzeigt: «Der Machiavellismus zeigte sein wahres Antlitz und seine wirkliche Gefährlichkeit, als seine Prinzipien später auf eine größere Szene und ganz neue politische Bedingungen angewandt wurden. In diesem Sinne können wir sagen, dass die Folgen von Machiavellis Theorie erst in unserer Zeit ans Licht kamen. Jetzt können wir den Machiavellismus sozusagen in einem Vergrößerungsspiegel betrachten» (Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 185). 31 Aron, L’homme contre les tyrans, S. 21. 32 Werner Jaeger: Humanistische Reden und Vorträge, S. 85, 180: «Plato hat eine Auferstehung erlebt wie kein zweiter großer Vertreter des Altertums [. . .] denn er ist der umfassendste politische, dichterische und philosophische Repräsentant derjenigen Gestaltungskräfte, die für die lebendige Dauer der Antike im Aufbau unserer Kulturwelt bis heute ausschlaggebend sind und immer bleiben werden». 33 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons, S. 233–236.
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Die offene Gesellschaft ist für Popper die einzige, die sich wirklich human nennen darf. Im Peloponnesischen Krieg sieht er den Schlüssel für diesen Wandel in der antiken Welt der Griechen, indem er sich einerseits zu einem Klassenkrieg34 und andererseits zu einem Krieg zwischen zwei Städten entwickelte, die die Vorherrschaft in Griechenland für sich beansprucht haben. Mit Perikles beginnt ein demokratisches politisches Programm, das für den Individualismus, den Glauben an den Menschen und seine Vernunft sowie für die Gleichheit aller vor dem Gesetz eintritt. Den größten Beitrag zu all diesen Werten leistet laut Popper Sokrates, der sogar für sie gestorben ist.35 Seine Verteidigung des Individualismus steht einer geschlossenen Gesellschaft entgegen, die dem Kollektiv statt dem Individuum die höchste Bedeutung beimisst, das sich harmonisch in das Kollektiv einfügen soll. Laut Popper begeht Platon in seinen Dialogen Verrat an Sokrates im Namen der geschlossenen Gesellschaft. Ohne zu erkennen, dass er die Meinungsfreiheit bekämpft, hat Platon seinen Hass gegenüber der individuellen Initiative hinter dem Traum von Einheit und Schönheit verborgen. Die individuelle Verantwortung dagegen soll, laut Popper, die Grundlage jeder Gesellschaft sein. Daher muss letzten Endes zu jener Revolution zurückgekehrt werden, die von den Griechen im Übergang von einer geschlossenen zur offenen Gesellschaft begonnen wurde, bevor Platon ihr ein Ende gesetzt hat: Was wir von Platon lernen sollten, ist somit das genaue Gegenteil der Lehre, die er uns vorträgt. Es ist eine Lektion, die nicht vergessen werden darf. [. . .] Das Anhalten der politischen Veränderung ist kein Heilmittel; es kann kein Glück bringen. Wir können niemals zur angeblichen Unschuld und Schönheit der geschlossenen Gesellschaft zurückkehren. Unser Traum vom Himmel lässt sich auf Erden nicht verwirklichen. Sobald wir beginnen, unsere kritischen Fähigkeiten zu üben, sobald wir den Appell persönlicher Verantwortung fühlen und damit die Verantwortung, beim Fortschritt des Wissens zu helfen, in diesem Augenblick können wir nicht mehr zu einem Zustand der Unterwerfung [. . .] zurückkehren. Für die, die vom Baume der Erkenntnis gekostet haben, ist das Paradies verloren. [. . .] Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg gehen wir müssen zu Bestien werden. Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere weiterschreiten und die Vernunft, die uns gegeben ist, verwenden [. . .] für die Freiheit.36
34 Der Klassenkampf ist der Preis, den die offene Gesellschaft im Gegensatz zur geschlossenen zahlen muss, in der ein solcher Kampf nicht aufkommt. 35 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons, S. 238–253. 36 Ebda., S. 266–268.
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Während der sokratische Weise sich als rationaler, gemäßigter Individualist präsentiert, erscheint der platonische als eine Art allwissender und allmächtiger Gott. Popper erachtet Platon, im Gegensatz zu Sokrates, als ersten Verfechter der geschlossenen Gesellschaft, wobei er sich auf die Analyse der totalitären Struktur seines politischen Denkens bezieht, das er anhand von folgenden Aspekten charakterisiert: – Die statische Gesellschaft. Für Platon liegt der ideale Staat in der Vergangenheit, in jenem Goldenen Zeitalter, das zu Beginn aller Zeiten situiert ist. Er darf sich nicht verändern, wenn er nicht in einer Verfallsentwicklung münden soll. Er soll demnach Heraklits Fluss entfliehen, der in Veränderungen und Revolutionen sichtbar wird und letztendlich nur zum Verfall führen kann. – Die soziale Organisation nach einer strikten Klassenteilung. Die wahre Glückseligkeit ist nur erreichbar, wenn jeder in seiner sozialen Stellung bleibt und sich damit zufrieden gibt: Der Herrscher ist glücklich, Herrscher zu sein, der Krieger ist in seinem Kriegerdasein zufrieden und der Sklave in seiner Sklavenrolle. – Die Gleichsetzung staatlicher Ziele mit den Zielen der führenden Klasse. – Das alleinige Vorrecht der führenden Klasse, Waffen zu tragen und eine privilegierte Bildung zu genießen. – Eine Zensur zur Kontrolle der intellektuellen Tätigkeiten, während eine dementsprechende Propaganda die Ideen bestimmt. – Die Befürwortung der Eugenik mit dem Ziel, eine führende Klasse für die Regierung zu schaffen.37 Popper bestreitet, dass die moralische Position Platons der von totalitären Systemen überlegen sei. Stattdessen beschreibt er Platons politische Forderungen als totalitär und antihumanitär. In Platons Idee der Gerechtigkeit sieht Popper keinen universalen oder absoluten Begriff, sondern einen, der im Dienst des Staates und somit einer totalitären Führungsklasse steht.38 Demnach verändert sich die Moral in der platonischen Philosophie gemäß den Interessen des Staates und wird von der Führungsklasse bestimmt. Schließlich fordert die platonische Idee der Gerechtigkeit, dass die Herren regieren und die Sklaven gehorchen.39 Der Gedanke, dass nur der weise Philosoph, der die Wahrheit erkennt, regieren soll, führt Platon zu der bedachten Auswahl und Erziehung des Regierenden.
37 Ebda., S. 51, 205. 38 Ebda., S. 128–130. 39 Ebda., S. 153–154.
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Die Institution, die für seine Erziehung und Ausbildung zuständig ist, kann laut Popper als eine Art Bildungsministerium innerhalb der Regierung betrachtet werden. Platon würde demnach eine Gesellschaft vorschlagen, in der die Macht und die Kontrolle über die Erziehung, die zu einem Distinktionsmerkmal der führenden Klasse wird, durch Philosophenherrschaft ausgeübt werden. Für Popper ist Platons Modell des Philosophenkönigs nicht erstrebenswert, da ein Gewaltmonopol unweigerlich zu einem Ende der freien Urteilskraft führt.40 Hinter der Idee des Philosophenkönigs sieht Popper bloßes Machtstreben verborgen. Obwohl der Philosoph die Wahrheit lieben soll, betont Popper, wie Platon ihn zu propagandistischen Lügen und Täuschungen drängt41: Welche Möglichkeit gäbe es nun wohl, eine Unwahrheit von jener unentbehrlichen Art, von der wir oben sprachen, also eine einzelne, durchaus wohlgemeinte Lüge am liebsten den Regierenden selbst, wo nicht, doch den übrigen Bürgern glaubhaft zu machen? 42
Popper sieht in Platon und seiner Verfallstheorie die Ursprünge des Historizismus von Oswald Spengler. Diese prophetische Weisheit, die die Demokratie als vergänglich darstellt, so warnt Popper, ist schädlich und gefährlich, da sie dazu neigt, all jene, die gegen totalitäre Ideen kämpfen, auszubremsen.43 Für Popper stellen die platonischen Ideen, die die Basis von Jaegers dritten Humanismus bilden, den ideologischen Unterbau einer geschlossenen Gesellschaft und damit totalitärer Systeme dar. Aus diesem Grund lehnt Popper sie ab, um stattdessen einen demokratischen Humanismus vorzuschlagen, der die Ungleichheit sowie die Hierarchien, auf denen Platons idealer Staat beruht, kritisiert, an dessen Stelle die Figur Sokrates’ als Garant der offenen Gesellschaft tritt und der Barbarei der geschlossenen entgegengestellt wird.
3.1.3 Die «Demokratisierung» der Wissenschaftshierarchie Mit der wissenschaftlichen Revolution hatte sich das Ideal des Fortschritts durch Naturwissenschaft und Technik durchgesetzt, das seinen Höhepunkt in
40 Ebda., S. 185–213. 41 Ebda., S. 192. 42 Platon: Der Staat, 414, S. 128. Mit diesen Lügen bezieht sich Platon, wie er gleich im Anschluss zu erkennen gibt, auf Gleichnisse und Fiktionen, die trotz ihrer nachahmenden Natur gut sein können, wenn sie die Wahrheit veranschaulichen, zugänglich oder verständlich machen, wobei ihr Ziel eine Lehre für Bürger und Regierende sein soll. In diesem Sinne sind sie für das Wohl des Staates nützlich. 43 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons, S. 25.
3.1 Die Kritik der humanistischen Tradition im europäischen Kontext
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der Aufklärung findet und schließlich zu einer Unterwerfung der Geisteswissenschaften unter die Methoden der Technik und Naturwissenschaften führt. Gerade der Versuch, die Autonomie der Geisteswissenschaften zu retten, führt Dilthey im 19. Jahrhundert zu einem dualistischen System wissenschaftlicher Klassifizierung. Während der Untersuchungsgegenstand der Naturwissenschaften äußerlich begründet ist, liegt er bei den Geisteswissenschaften im Innern. Von dieser materiellen Unterscheidung leitet er eine methodologische ab: «Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir».44 Demnach erklärt der Naturwissenschaftler die einzelnen Naturphänomene und stellt zwischen ihnen Verbindungen her, während der Geisteswissenschaftler sich in einem Prozess des Verstehens befindet und eine Gesamtheit von erlebten Tatsachen oder Ereignissen beschreibt. Trotzdem begründet Dilthey die Geisteswissenschaften in der deskriptiven Psychologie. Das führt Windelband zu der Kritik, dass die Psychologie der Naturwissenschaft zu nahe stünde und auch Gadamer sieht Dilthey zu stark von den naturwissenschaftlichen Methoden beeinflusst.45 Zudem stellt Windelband die Existenz der zwei Formen der Realität infrage, der inneren und der äußeren, um aufzuzeigen, dass derselbe Gegenstand sowohl durch eine nomothetische als auch idiographische Analyse erfasst werden kann. Zwar schlägt auch er ein dualistisches Klassifikationsschema der Wissenschaften vor, bestreitet dabei jedoch die Existenz von zwei verschiedenen Untersuchungsgegenständen, um vielmehr von zwei verschiedenen Arten sich der Realität zu nähern auszugehen: der naturwissenschaftlichen und der historischen. Während der Naturwissenschaftler induktiv vorgeht und universale Gesetze sucht, konzentriert sich der Historiker auf einzelne, individuelle Ereignisse. Die eine ist eine Wissenschaft der Gesetze und die andere der Ereignisse; während die eine lehrt, was ist und immer sein wird, lehrt die andere, was gewesen ist.46 Naturwissenschaft und Geschichte gehen dabei nicht von zwei unterschiedlichen Formen der Realität aus, sondern von ein und derselben unter zwei verschiedenen Betrachtungsperspektiven.47 Doch auch Windelbands Klassifizierung erscheint nicht
44 Wilhelm Dilthey: Die Philosophie des Lebens. Leipzig: Teubner 1961, S. 136. 45 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J. C. B. Mohr 1975, S. 4. 46 Wilhelm Windelband: Präludien: Aufsätze und Reden zur Einführung in die Philosophie. Tübingen: J. C. B. Mohr (P. Siebeck) 1924, S. 145. 47 Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. In: Hans Ludwig Ollig (Hg.): Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihre Vorläufer und Kritiker. Stuttgart: Reclam 1982; Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit — Gegensatz — Komplementarität? Göttingen: Wallstein Verlag 1998, S. 122.
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überzeugend, wenn sie beispielsweise auf spätere Arbeiten wie die Oswald Spenglers übertragen wird, der in Der Untergang des Abendlandes (1918) versucht, aus der Geschichte universale Gesetze zu folgern. Der Versuch, eine spezifische Methode für die Geisteswissenschaften festzusetzen ist somit unvollständig geblieben. Spenglers Werk gliedert sich in eine Reihe von wissenschaftlichen Klassifikationsmodellen, wonach die humanistischen Disziplinen wie die naturwissenschaftlichen nach universalen Prinzipien streben sollen. Beispielhaft ist in diesem Kontext Carnaps Modell, der die Geistes- und Naturwissenschaften als ein einheitliches System versteht, vereint durch eine gemeinsame Sprache: die Sprache der Physik,48 die die Formulierung von Prinzipien universaler Gültigkeit ermöglicht.49 Das Kriterium der Genauigkeit und Wissenschaftlichkeit hat eine neue Hierarchie der Wissenschaften zur Folge, die die Philosophie im Vergleich zu exakten Wissenschaften infrage stellt. Vor diesem Hintergrund spricht Husserl 1929 von einer Krise der Wissenschaften, die an Bedeutung für das Leben einbüßen, indem sie die wichtigsten Fragen des Menschen ausschließen.50 Es vollzieht sich also ein Wandel in dem Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Ihr Verhältnis gestaltet sich weder im Sinne des wissenschaftlichen Positivismus noch der Neokantianer. Stattdessen zeigen die Analysen der Wissenschaftsgeschichte auf, wie eine Komplementarität und Einheit beider wissenschaftlichen Bereiche angestrebt wird. Sowohl der Begriff als auch das Experiment werden zu Mitteln jeder wissenschaftlichen Erkenntnis.51 In diesem Sinne behauptet Ortega, Philosophie und Technik, Kultur und Zivilisation sollen sich erneut vereinen. Die Technik ist für ihn grundsätzlich eine angewandte Wissenschaft, die nicht existieren kann, wenn nicht ein Interesse an Kultur besteht. Wenn dieses Interesse hingegen nachlässt, kann die Technik nur eine kurze Zeitspanne überleben, solange der Schwung der Kultur anhält, die sie geschaffen hat. Die moderne Zivilisation ist laut Ortega noch unvollständig, vor allem im Bereich der Ethik, die der industriellen Gesellschaft eine solide Grundlage böte.52
48 Rudolf Carnap: Die physikalische Sprache als Universalsprache der Wissenschaft. In: Erkenntnis, 2 (1931), S. 432–465. 49 Werner Strube: Über das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften. In: Paderborner Studien, 3/4 (1981), S. 18–28. 50 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg: Meiner Verlag 1992, S. 1–5. 51 Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität?, S. 136. 52 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 197, S. 404–405.
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1958 kritisiert auch Gilbert Simondon einen Kulturbegriff, der in Konflikt mit der Technik steht und in dem die Kultur als Verteidigung des Menschen gegenüber technischen Objekten dargestellt wird. Simondon zeigt auf, dass die so verstandene Kultur den menschlichen Aspekt der Technik ignoriert, wobei sie eigentlich das Wissen über technische Gegenstände miteinbeziehen sollte, um ihrer Rolle gerecht zu werden. Demnach soll die Philosophie ein Bewusstsein über die Existenzarten technischer Objekte erlangen, wodurch ihr im 20. Jahrhundert eine ähnlich wichtige Rolle zukommt, wie bei der Abschaffung von Sklaverei oder der Wertschätzung der Menschenwürde.53 Der Gegensatz von Kultur und Technik, von Mensch und Maschine ist laut Simondon falsch, unbegründet und offenbart Ressentiments und Unwissen. Er enthüllt demnach einen einseitigen Humanismus, der eine Wirklichkeit ignoriert, die reich an menschlicher Kraft ist und eine Realität technischer Gegenstände darstellt, die als Vermittler zwischen Mensch und Natur fungieren. 54 In diesem Sinne verhalte sich die Kultur wie der Mensch gegenüber dem Fremden, sobald er sich primitiver Xenophobie hingibt. Die gegenwärtige Entfremdung
53 Gilbert Simondon: Du mode d’existence des objets techniques. Paris: Aubier 2012, S. 9. 54 Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird die Position vertreten, die den menschlichen Aspekt der Technik hervorhebt. In den Grundlinien einer Philosophie der Technik beschreibt Ernst Kapp die Technik als organische Projektion. Die technischen Gegenstände, von den rudimentärsten Geräten bis hin zu den komplexesten Systemen, sind demnach Projektionen oder Ausweitungen von Elementen, Organen oder Funktionsweisen des menschlichen Körpers. So dient die Stimme als Modell für die Orgel, die Augen für die Brille, die Linse und das Mikroskop, die Ohren für das Stethoskop, das Herz für die Pumpe oder sogar für die Dampfmaschine sowie das Nervensystem für die Telekommunikation. Da die Technik eine Erweiterung des Körpers ist, ist der technische Fortschritt auch ein Zeichen menschlicher Evolution. Der frühere Überlebenskampf des Menschen in der Natur hat zur Entwicklung der Technik geführt. Auf der Grundlage der Ausweitung der natürlichen Auswahlkriterien auf den Zivilisationsprozess kritisiert Kapp den Sozialdarwinismus. Die am weitesten entwickelten Gesellschaften oder Individuen sind demnach jene, die die beste Tauglichkeit zeigen, ihren eigenen Willen und ihre eigenen Interessen durchzusetzen sowie jene, die die nützlichsten Gegenstände für die Erlangung ihrer Ziele herstellen. Wie Kittler später behauptet, ist die Technik in diesem Sinne die Waffe par excellence. Das moderne Menschenbild ist vor diesem Hintergrund nicht von der Technik zu trennen (Friedrich Kittler: Es gibt keine Software. In: Ders.: Die Wahrheit der technischen Welt. Mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 285–299). Trotzdem betont Kapp, dass alles Notwendige dafür getan werden muss, dass die technische Projektion sich nicht in Entfremdung, mechanische Abhängigkeit oder Unterwürfigkeit umkehre, die aus der Faszination für die Kreationen des Menschen entstehen können (Benoît Timmermans: La philosophie de la technique d’Ernst Kapp. In: Pascal Chabot/Gilbert Hittois (Hg.): Les philosophes et la technique. Paris: Librairie Philosophique 2003, S. 95–108).
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der Welt liegt laut Simondon insbesondere in fehlendem Wissen über die Maschine begründet. Diese wurde vom machtgierigen Menschen mythifiziert, der in der Maschine ein Herrschaftsmittel sieht. Demnach gebe der Mensch ihr gegenüber auf. Er will eine Maschine bauen, die denken, fühlen und leben kann, um frei von Angst und Gefahr bequem in ihrem Schatten zu leben. In diesem Fall wird die Maschine, die in der Phantasie des Menschen einem Roboter gleicht, offensichtlich zu einem mythischen Wesen. Simondon betont jedoch, dass dieser Roboter nicht existiert und rein fiktiv ist. Wer technische Objekte aus dieser mythifizierenden Perspektive betrachtet, spricht demnach von Maschinen, die den Menschen bedrohen, als ob sie eine Seele hätten und die Fähigkeit, sich gegen den Menschen zu wenden. Doch Simondon verdeutlicht, dass technische Objekte nicht autonom sind; sie können nicht ohne den Menschen, der sie erfunden hat, leben. Demnach kann die Kultur den universalen Charakter zurückerlangen, den sie verloren hat, wenn sie die Beschaffenheit der Maschinen, deren Beziehung zueinander sowie zum Menschen und die daraus folgenden Werte berücksichtigt. Diese Kulturreform wird als ein Prozess der Erweiterung und Bereicherung verstanden, der der Kultur die ordnende Funktion zurückgibt, die sie verloren hat. Nach Simondon ist die Kultur aus dem Gleichgewicht geraten, da sie nur bestimmte Objekte der Realität anerkennt, während sie andere, nämlich die technischen, außer Acht lässt. Die moderne Wirklichkeit umfasst jedoch beides. Wenn die Kultur aber die Technik ignoriert, kann die Kultur nicht richtig vermittelt werden, da ihre Sprache nicht der Wirklichkeit entspricht und dadurch anachronistisch wird. Anstatt ihren allgemeinen Charakter zurückzugewinnen, wird die Kultur zunehmend spezifischer und verarmt dadurch. Die Aufgabe einer Erweiterung und Vertiefung der Kultur ist eine philosophische und soll zu der Kritik bestimmter Mythen, wie beispielsweise dem oben erwähnten Mythos des Androiden, führen. Wenn Technik, Natur- und Geisteswissenschaften sich ergänzen, entsteht auch für Gadamer der wahre Fortschritt. 55 Ihre Trennung jedoch kann, so warnt Gadamer, in Barbarei münden. Die Vernachlässigung der Geistes- zum Vorteil der Naturwissenschaften hat demnach zu der Konstruktion von Flug- und Atomwaffen geführt, ohne ihre möglichen Folgen in Form von massiver Zerstörung des Menschen und natürlicher Ressourcen zu bedenken.56 Die Lösung dieses Problems liegt für Fromm nicht in einer Verachtung der Technik, sondern
55 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, S. 5. 56 Hans Georg Gadamer: Das Erbe Europas. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 9–11.
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vielmehr in ihrer Verbindung mit der Kultur, damit sie die Funktion erfüllen kann, die ihr eigentlich zukommt: das Leben des Menschen zu verbessern.57 Auch Fromm erachtet die radikale Trennung traditioneller humanistischer Werte und Normen von neuen technologischen als einen der Hauptkonflikte der modernen Gesellschaft: Die traditionellen Werte sagen, man solle etwas tun, weil es gut, wahr oder schön ist, oder, um es anders zu sagen, weil es dem Wachstum des Menschen dient. Der neue technologische Wert sagt, man solle etwas tun, weil es technisch möglich ist. Ist es technisch möglich zum Mond zu fliegen dann soll man das auch tun trotz der Tatsache, dass weitaus dringendere Aufgaben auf der Erde unerledigt bleiben. Ist es technisch möglich, die verheerendsten Waffen zu produzieren, dann soll man dies auch tun, ungeachtet der Tatsache, dass diese Waffen die ganze Menschheit auszulöschen drohen. [. . .] Ein weiterer Widerspruch besteht darin, dass die Industriegesellschaften auf der ganzen Welt die Fähigkeit anstreben, lesen und schreiben zu können und eine höhere Bildung fördern, ihr tatsächlicher pädagogischer Fortschritt dazu aber in scharfem Kontrast steht: Die Fähigkeit zu kritischem Denken wird immer geringer. Das Fernsehen schafft eine neue Art von Analphabetentum, bei dem der Verbraucher mit Bildern gefüttert wird. Er gebraucht seine Augen und Ohren, nicht aber seinen Verstand. Kurzum, während man immer leistungsfähigere Maschinen produziert, verliert der Mensch einige seiner wichtigsten Eigenschaften. [. . .] Je mehr Macht der Mensch über die Natur hat, umso ohnmächtiger ist er gegenüber der Maschine. [. . .] Man muss sich die nötigen Änderungen des Systems vornehmen, um den Zerfall zu verhindern.58
Der große Beitrag der philosophischen Wissenschaften im 20. Jahrhundert ist demnach der, technisches und menschliches Wachstum in ein Gleichgewicht zu bringen,59 sodass die antike Einheit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften wiederauflebt.60 Der Humanismus muss im 20. Jahrhundert also mit einer Technik umgehen, die unendlich viel komplexer ist als die der Antike, die jedoch notwendig für das Überleben erscheint.61 Ein Verschwinden der Technik würde viele Übel mit sich bringen, wie beispielsweise den Zusammenbruch der globalen Einheit, die auf modernen Kommunikationswegen basiert, oder eine radikale Zunahme
57 Erich Fromm: Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen, S. 42–43. 58 Ebda., S. 56–57. 59 Hans Georg Gadamer: Das Erbe Europas, S. 63. 60 Ebda., S. 62, 105. 61 Kogge weist in diesem Sinne darauf hin, dass in den Diskursen, sowohl der Verteidigung als auch der Kritik neuer Technologien, diese nicht als Antagonisten, sondern vielmehr als Teil des menschlichen Lebens angesehen werden (Werner Kogge: Technologie des 21. Jahrhunderts. Perspektiven der Technikphilosophie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 56/6 (2008), S. 935–956, hier S. 955).
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der Sterberate. Bedeutet die Technik also ein Verhängnis oder die Möglichkeit, den Menschen zu vervollkommnen? Eine vollständige Verurteilung der Technik ist unangebracht. Ein Humanismus könnte auf dieser Grundlage nicht gedeihen. Das Schicksal des Menschen wird in der Welt der Technik also aufs Spiel gesetzt, indem sie sowohl zu seiner Rettung als auch zu seinem Verderben führen kann.62 Auch Wenke sieht die Lösung in einer Einheit von Kultur und Technik. So argumentiert er zunächst, dass, wer die Kultur auf der Grundlage von Technik kritisiert, für seine Schmähreden trotzdem elektrisches Licht, Schreibmaschinen oder heutzutage Computer verwendet. Abgesehen von stark kritisierten technischen Erfindungen, die dem Menschen die Seele rauben sollen oder beispielsweise der Atombombe, von der zurecht mit Angst und Schaudern geredet wird, erinnert Wenke zugleich daran, dass alle technischen Errungenschaften gleichzeitig erhabener Ausdruck menschlichen Geistes sind. Das Verhängnis der Menschheit ist demnach nicht auf die Technik, sondern auf ihren unvernünftigen und unmoralischen Gebrauch durch den Menschen zurückzuführen.63 Vor diesem Hintergrund korrigiert die humanistische Bildung zwei verschiedene Arbeitshaltungen: die jener, die den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen nicht kennen, und die jener, die über alle Mittel oder den Plan für die Verwirklichung eines Ziels verfügen, ohne nach dessen moralischem Wert zu fragen: Wer die ethische Situation begriffen und erfühlt hat, die die griechische Tragödie oder die Philosophie von Platon und Aristoteles beschrieben hat, ist in unverlierbarem Besitz von Modellen des menschlichen Lebens. Oder wer Aufbau und Wesen des griechischen Stadtstaates nach der Lektüre des Geschichtswerkes des Thukydides verstanden hat, besitzt wiederum ein Modell politischen Lebens und Handelns, wie es ihm in dieser Klarheit, in dieser Selbstdarstellung des Wesentlichen das Studium der modernen Verfassungsgeschichte nicht vermitteln konnte.64
So schließt Wenke, dass die humanistische Bildung in modernen Zeiten unverzichtbar ist. Denn sie bietet eine sichere Grundlage und ermöglicht es, ausgehend vom Besonderen zu universalem Wissen zu gelangen. Wer auf diese Weise gebildet wird, wird im Nachhinein ein besserer Experte, als wer zu früh
62 Karl Jaspers: Conditions et possibilités d’un nouvel humanisme. In: VVAA, Pour un nouvel humanisme. Neuchâtel: Éditions de la Baconnière 1949, S. 181–209, hier S. 190. 63 Hans Wenke: Humanistische Bildung und modernes Berufsleben. In: Das Gymnasium, 64 (1957), S. 386–391. Auch in: Hans Oppermann (Hg.): Humanismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 521–529. 64 Ebda., S. 528.
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in spezifischen Aufgabenfeldern erzogen wird und somit nur ein beschränktes Wissen erlangt. Eine humanistische Bildung ermöglicht hingegen eine ethische Grundlage für sichere Urteile und verhindert kurzsichtiges und zweckorientiertes Handeln. Eine ähnliche Position nimmt Snow ein. Die Polarisierung von literarischem Wissen einerseits und naturwissenschaftlichem Wissen andererseits führt laut Snow zu zwei gegensätzlichen Positionen. Die eine repräsentiert T. S. Elliot zugunsten der Kultur, während die andere durch Rutherford verkörpert wird, der das 20. Jahrhundert als das heroische Zeitalter der Naturwissenschaft darstellt. Während also die Intellektuellen einen unreflektierten Optimismus der Naturwissenschaften kritisieren, die die Natur des Menschen missachtet, werfen ihnen die Naturwissenschaftler den fehlenden praktischen Bezug ihres Wissens vor, wie es bereits Bacon in seiner Kritik des antiken Wissens tat. Für Snow gibt es nur einen Weg, um dieser Bipolarisierung des Wissens als Resultat von Missverständnissen zu entgehen: Bildung neu zu denken und in integrativer Form umzugestalten.65 Diese Haltung stößt auf Unterstützung vonseiten verschiedenster Disziplinen. Die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston erachtet die Debatten um die Trennung der Geistes- und Naturwissenschaften als unfruchtbar und fordert, stattdessen darüber zu reflektieren, wie sie sich gegenseitig bereichern können.66 Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers bemerkt, dass die Orientierungslosigkeit angesichts der Zukunft das Resultat eines fehlenden Basiswissens sein kann, das die technischen Errungenschaften begleiten sollte.67 Für den Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas ist es eine lebenswichtige Problematik der wissenschaftlichen Kultur, die die Philosophie lösen kann, indem sie den Wissenschaften ein ethisches Wissen zur Seite stellt, das über den wahren technischen Fortschritt wacht.68 Alle hier angeführten Positionen bilden im europäischen Diskurs eine gemeinsame Forderung und Notwendigkeit ausgehend von der Kritik des ersten und zweiten Humanismus. Aus dem alten Streit über die Überlegenheit der einen
65 Charles P. Snow: The two cultures and a second look. An expanded version of the two cultures and the scientific revolution. Cambridge: Cambridge University Press [1959] 1964, S. 3–18. 66 Lorraine Daston: Die Kultur der wissenschaftlichen Objektivität. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität? Göttingen: Wallstein Verlag 1998, S. 39. 67 Karl Jaspers: Conditions et possibilités d’un nouvel humanisme, S. 199. 68 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, S. 104 ff.
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Disziplinen über die anderen erfährt nun die Ordnung der Wissensdisziplinen einen «Demokratisierungsprozeß» durch Abkehr von einem «wissenschaftlichen Aristokratismus».
3.1.4 Ortega, Hannah Arendt und der Sieg des homo faber Nach Hannah Arendt stellt die Umkehrung der Hierarchie zwischen der vita contemplativa und vita activa eine der bedeutendsten Folgen der wissenschaftlichen Revolution dar. Ein menschengemachtes Gerät, das Teleskop, hat die Perspektive auf die Welt verändert; es waren nicht die theoretische Betrachtung und Spekulation, die zur neuen Erkenntnis geführt haben, sondern das aktive Eingreifen des homo faber und seine handwerklich-künstlerischen Fertigkeiten. Seitdem ist der moderne Fortschritt laut Arendt eng mit der Entwicklung von Werkzeug verbunden, wodurch sich die Umkehrung der Hierarchie von Mittel und Zweck vollzogen habe.69 Mit diesem Wandel haben Wahrheit und Erkenntnis dennoch nicht an Bedeutung verloren, sondern sollten weniger durch theoretische Reflexion als vielmehr durch Handeln erreicht werden. In dieser Umkehrung der Hierarchie von vita activa und vita contemplativa durch die wissenschaftliche Revolution sieht Arendt die Grundlegung des modernen Denkens. Die gesamte Tradition des Abendlandes seit der Antike ist laut Arendt als System von Umkehrungen zu verstehen. So bestimmt die platonische Philosophie die Leitbilder europäischen Denkens mit ihren unaufhörlichen Umkehrungen von Idealismus und Materialismus, Transzendenz und Immanenz, Realismus und Nominalismus, Hedonismus und Askese. Die abendländische Tradition beruht somit auf einer Reihe von dualen und umkehrbaren Antinomien. Marx kehrt Hegels Dialektik um, Nietzsche die Hierarchie von Weltlichem und Übernatürlichem, etc.70 Dabei macht Arendt nach der Umkehrung von vita activa und vita contemplativa durch die wissenschaftliche Revolution eine weitere Wendung innerhalb der vita activa aus. So hat die wissenschaftliche Revolution den homo faber auf den Thron erhoben,71 der die Welt instrumentalisiert, auf nützliche Gerätschaften vertraut, die gesamte Motivation des Menschen auf das Nützlich-
69 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 267–297. 70 Ebda., S. 284–285. 71 Suzanne Kirkbright: Intellectuals of Our Time: The humanist approach of Karl Jaspers and Hannah Arendt. In: Gerald Hartung/Kay Schiller (Hg.): Weltoffener Humanismus, Bielefeld: Transcript Verlag 2006, S. 209–220, hier S. 214.
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keitsprinzip reduziert und jegliches Denken verachtet, das nicht auf die Produktion von Nützlichem gerichtet ist. In einer Linie mit Ortega y Gasset72 baut Arendt ihre Kulturkritik auf der Grundlage eines scheinbaren Widerspruchs auf. So schreibt sie dem Aufschwung der Naturwissenschaften ein Aufsteigen von Wissen und Macht einerseits sowie gleichzeitig die Zunahme von Nihilismus und Hoffnungslosigkeit des Menschen andererseits zu.73 Die Lösung liegt sowohl für Ortega74 als auch für Arendt75 in einem dritten Humanismus, der im Gegensatz zum zweiten vita contemplativa und vita activa miteinander vereint.
3.2 Die Utopie im 20. Jahrhundert 3.2.1 Die Utopie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zu Beginn des 20. Jahrhunderts währt das Vertrauen in den technischwissenschaftlichen Fortschritt als Mittel zur Steigerung des Gemeinwohls noch fort. Die Beständigkeit des Fortschrittsglaubens spiegeln Utopien wider, die den Triumph der Wissenschaft und Technik darstellen, wie beispielsweise Wells’ A modern Utopia (1905). Die Natur wird hier vollständig der Herrschaft des Menschen unterworfen, der sich sogar der absoluten Kontrolle über die Entwicklung menschlicher Natur durch die Eugenik rühmt.76 Doch die Erfahrungen mit der Zerstörungsmacht der modernen Technik im Ersten Weltkrieg sowie bei der Machtergreifung durch die Oktoberrevolution im Jahr 1917 verwandeln die Utopie des Fortschritts in eine Dystopie. In diesem Sinne bereitet Wells’ moderne Utopie den Weg für Aldous Huxleys Brave New World (1932). Letztere repräsentiert auf paradigmatische Art und Weise einen Bruch mit der Utopie des zweiten Humanismus im europäischen Kontext, wie im Folgenden gezeigt wird.
72 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 196. 73 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben,S. 255. 74 José Ortega y Gasset: Meditación sobre la técnica y otros ensayos sobre ciencia y filosofía, S. 56. 75 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 298–317. 76 Richard Saage: Utopische Profile, Widersprüche und Synthesen des 20. Jahrhunderts. Berlin: Lit Verlag 2006, S. 261–263.
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Brave New World (1932) und die Kritik des zweiten Humanismus Das Werk Huxleys ist nicht nur eine bloße Warnung vor den Gefahren totalitärer Systeme77 oder den verheerenden Folgen, die ein falscher Gebrauch der Wissenschaften mit sich bringen kann.78 Seine Dystopie stellt außerdem eine Entmythifizierung des wissenschaftlichen Ideals dar, das in der Renaissance aufgekommen war und sich mit der Aufklärung gefestigt hatte. Die Idee eines Zivilisationverfalls, die die aufsteigende Linie des aufklärerischen Fortschritts umkehrte, wurde ein Jahr vor der Veröffentlichung von Huxleys Roman von Russell paradigmatisch aufgezeigt. Laut Russell werden viele Merkmale seiner Zeit durch die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts eingeleitet. Die Industrialisierung bringt ein Erstarken des spezialisierten, nützlichen, praktischen und produktiven Wissens als Mittel des Machterwerbs in einer neuen Gesellschaft mit sich. Diese basiert auf Produktion und Technik, deren Wissenschaft zwar das Radio, Auto, Flugzeug, Züge und eine Verbesserung des Gesundheitssystems entwickelt hat, die jedoch ebenso Luftwaffen und die Atombombe erfunden hat.79 Die Herrschaft der Wissenschaften, die Bacon in seiner Utopie New Atlantis entfaltet hat, wird in einer solchen Dystopie entmythifiziert, wie Huxley sie in Brave New World darstellt. Vor den negativen Folgen eines unkontrollierten technischen Fortschritts hat Russell am Beispiel der UdSSR gewarnt. Von technischen und wissenschaftlichen Spezialisten sowie Staatsbeamten gegründet, wird in dem technokratischen Staat die Loyalität der Bürger zum Staat besonders bedeutsam, während die traditionellen Werte bekämpft werden. Auf diese Weise orientiert sich die Ethik an den technischen Erfolgen, die in den Dienst der Macht gestellt werden. Trotzdem, so warnt Russell, ist eine solche Gesellschaft nicht nur unter dem Kommunismus, sondern ebenso im Kapitalismus oder Sozialismus oligarchisch: Amerika wird als Plutokratie angesehen, in der technische Innovation und Massenproduktionsmittel den Kapitalisten zum Vorteil gereichen. Denn sie kontrollieren die Technik, durch die sie der breiten Mehrheit künstlich generierte Vergnügen und Ideen aufdrängen.80 Die Gesellschaften entwickeln sich zu Systemen von zunehmend komplexer Organisation, in denen die individuelle Freiheit fortschreitend eingeschränkt wird. Dieser Tendenz kann laut Russell nur durch Bildung entgegengewirkt werden. So beschreibt er Lenin
77 Julia Hachtel: Die Entwicklung des Genres Antiutopie: Aldous Huxley, Margaret Atwood, Scott McBain und der Film ‹Das Leben der Anderen›. Marburg: Tectum Verlag 2007, S. 42. 78 Hannelore Ploog: Im Netz der Manipulierung. Aldous Huxley und seine ‹Brave New World›. Frankfurt a. M.: Marxistische Blätter 1979, S. 94. 79 Bertrand Russell: The scientific Outlook. London: George Allen & Unwin 1954, S. 35. 80 Ebda., S. 233.
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oder Rockefeller als Männer ohne Kultur, die die Vergangenheit verachten und nur an Mechanismen und Organisation interessiert sind, als Männer also, die eine andere Bildung möglicherweise auch zu anderen Menschen gemacht hätte.81 Diese andere Bildung sollte nach Russell auf der Geschichte, Dichtung und Kunst aufbauen. Naturwissenschaft, Technik und die Reduzierung der Freiheit des Individuums sind hingegen Bestandteile einer enthumanisierten Gesellschaft, die Huxley in Brave New World zeichnet und damit Russells Theorie eine literarische Gestalt gibt.82 Zwei Jahre vor dessen Publikation setzt sich Ernst Robert Curtius auf ähnliche Weise mit der Idee einer möglichen vollkommenen Gesellschaft auseinander. Mit der Annahme, dass der wissenschaftliche und soziale Fortschritt seinen Höhepunkt erreicht hat, stellt sich Curtius eine Gesellschaft vor, in der Kriege, Klassenkämpfe und Überlebenskampf nicht existieren, in der es weder Krankheiten noch Gefangene gibt und ebenso wenig politische oder ökonomische Grenzen. Letztendlich soll es eine Gesellschaft sein, in der alle Probleme dank der Technik gelöst worden sind. Doch selbst in einer solchen Gesellschaft wäre laut Curtius für den Sinn der menschlichen Existenz keine Lösung gefunden. Wahrscheinlich wären in dieser Gesellschaft die Fragen, wie man leben, lieben oder sterben sollte, sogar dringender als je zuvor. In einer solchen Utopie als bester aller Welten bliebe also weiter die Frage bestehen, was der Mensch und die Menschlichkeit sind, wie das menschliche Leben mit höheren Inhalten gefüllt werden und auf diese Weise eine schönere Gestalt annehmen kann.83 Huxley gelang es, in seinem Werk eine zur damaligen Zeit vieldiskutierte philosophische Problematik vorzuführen. So zeigt Heideggers Kritik der Technik laut Polt einige Befürchtungen less Orwellian than Huxleyan. In Aldous Huxley’s Brave New World, the planet has been transformed into a place where everyone is satisfied and pleased [. . .] There is no dissent. But what has been lost is depth, awareness and freedom. In Huxley’s vision, traditional ways and feelings survive only in Indian reservations. Similarly, Heidegger once wrote, ‹Today the authentic thinking which explores the primordial lore of Being still lives only in reservations (perhaps because it, in accordance with its origin, is as ancient as the Indians are in their fashion)›. Heidegger’s fear is that once we have gained complete control over ourselves and our natural environment, we will have lost our openness to Being. We
81 Ebda., S. 276. 82 Cara Rice: Who stole the future? In: Alan Schwerin (Hg.): Russell revisited: Critical Reflections on the Thought of Bertrand Russell. Newcastle: Cambridge Scholars Publishing 2008, S. 100–114, hier S. 101. 83 Ernst Robert Curtius: Humanismus als Initiative, S. 109.
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will no longer be Dasein, because we will be so entrapped in technology that we will have no suspicion that there are other, richer ways in which beings can show themselves. We will be completely insensitive to mistery, to the possibility of historical transformation and to Being as something that is worth asking about.84
In der Tat stellt sich die Frage nach der menschlichen Existenz sogar in der vollständig enthumanisierten Gesellschaft bei Huxley durch die Figur des Bernard Marx. Die führenden Kräfte setzen alle erdenklichen technischen Kontrollmittel ein, um die Stabilität durch einen Prozess der Enthumanisierung aufrecht zu erhalten, der sich im Wesentlichen auf ein Bildungsideal stützt, das die humanistischen Disziplinen beseitigt, die zu kritischem Denken bewegen und somit einen potentiellen Destabilisierungsfaktor darstellen: ‹You all remember› said the Controller, in his strong deep voice, ‹you all remember I suppose, that beautiful and inspired saying of Our Ford’s: History is bunk, History, he repeated slowly, is bunk.› He waved his hand and it was as though, with an invisible feather whisk, he had brushed away a little dust, and the dust was Harappa, was Ur of the Chaldees; some spider-webs, and they were Thebes and Babylon and Cnossos and Mycenae. Whisk, whisk – and where was Odysseus, where was Job, where were Jupiter and Gotama and Jesus? Whisk – and those specks of antique dirt called Athens and Rome, Jerusalem and the Middle Kingdom- all were gone. Whisk- the place where Italy had been was empty. Whisk – the cathedrals; whisk, whisk, King Lear and the Thoughts of Pascal.85
Darüber hinaus wird die Vergangenheit als primitiv und rückständig angesehen und soll folglich aus der bürgerlichen Gesellschaft beseitigt werden. Andererseits ist die Bildung von der strengen Zensur humanistischer Bücher geprägt. Das Bildungssystem in Huxleys glücklicher Welt entspricht den Eigenschaften, die Russell diktatorischen Regimen zuschreibt: fehlende Freiheit in Schulen und die Indoktrinierung der Jugend durch eine Reihe von Glaubensvorstellungen, bevor sie zu eigenständigem Denken fähig sind. Diese Glaubensvorstellungen werden so konstant und beharrlich gelehrt, dass die Schüler sich niemals aus den hypnotischen Wirkungen ihrer ersten Lektionen befreien können. Die Glaubensvorstellungen werden nicht durch argumentative Überzeugung vermittelt, sondern durch ständige Wiederholungen, Hysterie und Suggestion eingetrichtert. Wenn auf diese Weise zwei entgegengesetzte Tendenzen gelehrt wurden, entstehen zwei Armeen, die gegeneinander kämpfen, anstelle zweier Parteien, die demokratisch miteinander debattieren.86 In solch einem Regime
84 Richard Polt: Heidegger. New York: Cornell University Press 1999, S. 173. 85 Aldous Huxley: Brave New World. London: Vintage 2004, S. 29. 86 Bertrand Russell: Power: a new social analysis. London: George Allen & Unwin LTD 1948, S. 313.
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wird der Erzieher von seinem Machtstreben geleitet und denkt auf eine Weise, wie sie Russell beschreibt: Here is a material that I can manipulate, that I can teach to behave like a machine in furtherance of my purposes [. . .] fancy, imagination, art and the power of thought shall have been destroyed by obedience; the death of joy will have bred receptiveness to fanaticism; and in the end I shall find my human material as passive as stone from a quarry or coal from a mine. In the battles to which I shall lead them, some will die, some will live; those who die will die exultantly, as heroes, those who live will live on as my slaves with that deep mental slavery to which my schools will have accustomed them.87
Der liberale Erzieher hingegen sucht nach Russell die Stärkung der individuellen Urteilskraft statt kollektiver Indoktrination. Wem die Erziehung anvertraut wird, der darf in seinen Schülern keine potentiellen Soldaten einer Armee oder Propagandisten sehen. Die Macht des Wissens ist nicht zur Versklavung bestimmt, sondern zur Befreiung.88 Die Tatsache, dass Huxley in seiner Dystopie eine Bildung mit diktatorischen Zügen darstellt, erlaubt es ihm, zu dem im Roman vorgeschlagenen Bildungsideal zu gelangen, das die Umkehrung aufhebt: dem humanistischen. Dabei handelt es sich um einen Humanismus von demokratischem Charakter. Vor diesem Hintergrund zeigt Huxleys Dystopie die Gefahren oligarchischer Gesellschaften auf, deren Funktionsmechanismen Popper später durch die Merkmale einer geschlossenen Gesellschaft beschreibt: die strikte Unterteilung in gesellschaftliche Klassen, der Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum, ein Zensursystem zur Kontrolle der intellektuellen Tätigkeiten, angemessene und wirksame Propaganda der Ideen der führenden Klasse, Gleichsetzung der Staatsziele mit denen der Führungsschicht. Unter Verweis auf die Geschichte warnt Russell in diesem Sinne, dass dort, wo eine Minderheit ein Machtmonopol besetzt, die Mehrheit früher oder später zu Dienern und Sklaven wird.89 Wenn die Macht also in einem einzigen Organisationsapparat (dem Staat) gebündelt wird und die Übel des Despotismus vermieden werden sollen, ist eine angemessene Verteilung der Macht innerhalb dieses Organisationsapparates notwendig.90 Es zeichnet sich jedoch trotzdem weiterhin – insbesondere im Europa der 30er Jahre – eine Tendenz zu der Annahme ab, dass eine Oligarchie erstrebenswert sei, solange sie durch ‹gute› Männer gebildet
87 88 89 90
Ebda., S. 313–319. Ebda., S. 284. Ebda., S. 287. Ebda., S. 305.
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wird. Für Russell ist dieses Konzept relativ. Je nach Perspektive kann beispielsweise bei Shakespeare die Familie Capulet oder die Familie Montague ‹gut› sein, sodass die einzige praktikable Form der Unparteilichkeit eine der Regierung durch die Mehrheit ist.91 Huxley hingegen verteidigt in seinen theoretischen Schriften eine Demokratie, die durch eine intellektuelle Aristokratie als beste aller Regierungsformen kontrolliert wird.92 Die Idee jedoch, dass die Besten die Spitze der Sozialpyramide bilden sollen, ist laut Huxley in seiner gegenwärtigen Gesellschaft nicht realisierbar, weil letztere durch spezialisiertes Wissen und durch Entmenschlichung des Individuums geprägt ist. Dadurch entsteht das, was Huxley New Romanticism nennt, wobei alte und neue Romantik mit extremen gegensätzlichen Positionen verbunden sind: exzessiver Individualismus und exzessive persönliche Freiheit in der alten Romantik im Gegensatz zu Kollektivismus und fanatischem Glaube an die Technik zum Nachteil des Individuums in der neuen. Während in der alten Romantik die soziale Facette des Menschen der individuellen weichen musste, begreift die moderne Romantik den Menschen als zoon politikon, das mit der richtigen Unterhaltung in eine perfekte Maschine verwandelt werden kann. Die neue Romantik, in Verbindung mit kollektivistischer Ideologie und der Neurose des technischen Fortschritts, ist also nichts anderes als eine selbstzerstörerische kulturelle Tendenz, die nur zur Katastrophe und zur Vernichtung führen kann.93 Brave New World stellt somit eine Kritik des New Romanticism dar, der in dieser ‹glücklichen› Welt von Technokraten herrscht. Die Moral, die entsprechend der jeweiligen intellektuellen Elite variiert, ordnet sich in modernen Zeiten der Technik unter als Beschaffungsmittel für sozioökonomische Macht. Letztendlich ist es laut Huxley ein Fehler, Fortschritt mit technischer Entwicklung gleichzusetzen, da zwischen Quantität und Qualität menschlicher Tätigkeiten oder zwischen Reichtum und Tugend nicht notwendigerweise ein direkt proportionales Verhältnis besteht.94 Huxleys Dystopie entlarvt auf diese Weise den Fortschrittsmythos der instrumentellen Vernunft, der schließlich zu nichts anderem als einer enthumanisierten Gesellschaft, wie der in Brave New World, führt.
91 Ebda., S. 247–288. 92 Aldous Huxley: The Outlook for American Culture. Some reflections in a Machine Age. In: Harpers Magazine, 155 (1927), S. 265–272, hier S. 270. 93 Aldous Huxley: The new Romanticism. In: Ders.: Music at night and other essays. Leipzig: Bernhard Tauchnitz 1931, S. 213–222, hier S. 214–222. 94 Aldous Huxley: Progress (1928). In: Ders.: Aldous Huxley Complete Essays. Band 2: 1926–1929. Edited with commentary by Robert S. Baker and James Sexton. Chicago: Ivan R. Dee 2000, S. 293–297, hier S. 294.
3.2 Die Utopie im 20. Jahrhundert
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3.2.2 Vernunft und Utopie nach dem Zweiten Weltkrieg Der Glaube an die Utopie erleidet nach dem Zweiten Weltkrieg einen endgültigen Bruch. Einerseits war nunmehr offensichtlich, dass das Ende der zaristischen Tyrannei in Russland nicht zu einer glücklichen Welt unter kommunistischen Gesetzen geführt hatte, sondern zu Stalins totalitärer Diktatur. Andererseits wurde schließlich deutlich, dass das imperialistische Ideal der Faschismen zu nichts anderem als Verwüstung durch Krieg führte. Das aufklärerische Ideal des Fortschritts durch Vernunft, Wissenschaft und Technik hatte nicht zu einer Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen geführt, sondern zu der Entwicklung von Nuklearwaffen, zu potentieller Zerstörung und Barbarei. Letztendlich haben sich all diese Utopien in erschreckende Dystopien verwandelt. Dies führt Karl Popper zu einer Definition der Utopie als ein Staatsprojekt, das irdische Glückseligkeit und Vervollkommnung repräsentiert und die autoritäre Regierung einer Minderheit erfordert. Der Ästhetizismus, den Popper als den Willen begreift, eine Welt ohne Hässlichkeit zu erschaffen, ist der Motor dieser Tendenz zu einer geschlossenen Gesellschaft, dessen Ursprung er bei Platon ansiedelt.95 Die Auffassung, dass jede rationale Handlung über die vorherige Festsetzung der Ziele verläuft, setzt voraus, dass auch eine politische rationale Handlung auf einem Plan oder Entwurf eines Staatsideals basieren muss, das das Handlungsziel konstituiert. Wie auch für Adorno und Horkheimer96 kann die instrumentelle Vernunft, die notwendige Mittel bereithält, um das Ziel zu erreichen, laut Popper nur Gewalt hervorrufen. Darüber hinaus ruft er in Erinnerung, dass Utopien das Erzeugnis einer bestimmten Epoche und ein Spiegel ihrer Denkweise sind. Zielgerichtete Repräsentationen, die in einem Moment utopisch erscheinen, verwandeln sich in einem anderen historischkulturellen Rahmen in Dystopien. Popper positioniert sich gegen jegliche Utopie, die nach seinem Urteil zwangsweise zu einer geschlossenen Gesellschaft führt. Demgegenüber schlägt er politische Reformen vor, die konkrete Übel
95 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons, S. 215–223. 96 Es wurde bereits aufgezeigt, dass Adorno und Horkheimer den Ursprung dieses Prozesses in der instrumentellen Vernunft ansiedeln, die in der Aufklärung von antiken Denkern übernommen wurde und mithilfe der Technik zur Herrschaft des Menschen über den Menschen geführt hat. Ebenso ausgehend von einem dialektischen Aufklärungsbegriff beschreibt Koselleck später den historischen Prozess, nach dem die Aufklärung im Despotismus mündete (Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 5).
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3 Topoi des Humanismus im 20. Jahrhundert
beseitigen, anstatt für die Realisierung eines abstrakten Heilsplans zu kämpfen, der nicht debattiert, sondern schlicht festgesetzt wird.97 Für Popper sind die Regierung des platonischen Weisen und Bacons Behauptung, Wissen sei Macht, Ausdrucksformen einer Utopie, die in einer gewalttätigen Machtergreifung endet. Im Gegensatz dazu sucht der wahre Rationalist laut Popper stets den Dialog und will vom anderen lernen. Er strebt danach, die anderen als gleich und die Vernunft als verbindendes Element unter ihnen anzusehen. Nur eine so verstandene Vernunft wird nicht mehr Macht- und Gewaltinstrument sein, sondern sich in ein Mittel verwandeln können, Machtansprüche zurückzuhalten.98 Poppers Platonkritik, mit der er Hobbes, Hegel und auch Nietzsche folgt, wird 1983 von Gadamer zurückgewiesen. Nach seinem Urteil bringt die literarische Gattung der Utopie die Bindung des Autors sowohl an formale als auch an inhaltliche Kriterien mit sich. Zweitens betont Gadamer, worauf Platon selbst in Politeia hinweist, dass seine politische Utopie nicht die programmatische Übertragung des idealen Staates auf die Realität zum Ziel hat. Folglich sollen die platonischen Schriften, gemäß Gadamers Interpretation, anstatt als Utopie als Einladung zum utopischen Denken gelesen werden. Das Hauptziel der Utopie ist demnach die Vermeidung von Machtmissbrauch, die Entdeckung von Gerechtigkeit und der Kardinaltugenden sowie die Feststellung des unvermeidbaren Verfalls eines jeden Staatssystems. Es ist also notwendig, zwischen der Utopie und utopischem Denken zu unterscheiden.99 Ebenso hat Miguel Abensour jüngst Poppers These bestritten. Seiner Meinung nach führt die Utopie nicht zu einer geschlossenen, autoritären und statischen Gesellschaft, da der Totalitarismus das Ende der Utopie bedeutet.100 Die Utopie ist als Traum eines Kollektivs stets Ausdruck des Wunsches nach einer sozialen Veränderung, die deswegen niemals von totalitären Regierungen gewollt sein kann. Die Suche nach Alterität kann somit als Mittel gegen die Verfallsprozesse dienen, die Demokratien stets bedrohen. Die Utopie ist also nicht die Ursache der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sondern stellt ihnen die Hoffnung entgegen, aus den Ruinen neues Leben zu erschaffen. Abensour nimmt eine These Ernst
97 Karl Popper: Utopia and Violence. In: Ders.: Conjectures and refutations: the growth of scientific knowledge. New York: Harper Torchbooks 1963, S. 357–363. Zum ersten Mal veröffentlicht in: Popper, Karl: Utopia and violence. In: The Hibbert Journal 16, 2 (1948), S. 109–116. 98 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons, S. 215–223. 99 Hans Georg Gadamer: Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen, S. 107–137. 100 Miguel Abensour: L’homme est un animal utopique. Paris: Sens & Tonka Éditeurs 2013, S. 168.
3.2 Die Utopie im 20. Jahrhundert
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Blochs auf, indem er die Utopie als eine Projektion des Prinzips Hoffnung, als Triebfeder der Realität und anthropologische Konstante darstellt. Trotzdem ist die Utopiekritik laut Abensour ebenso falsch wie eine unkritische Verteidigung derselben. Im Anschluss an die dialektische Kritik von Adorno und Horkheimer soll die utopische Denkweise die gerechte und angemessene Dimension der Utopiekritik aufnehmen und anhand derselben Kritik die Mythen auflösen, die die Utopie zerstören. Erst dann kann die Utopie aufhören, ein Modell darzustellen und vielmehr zur utopischen Denkweise selbst einladen,101 wie Gadamer es vorgeschlagen hat. Diese neue utopische Bewegung kann als eine Bewegung der Selbstreflexion und des Misstrauens gegenüber der Utopie beschrieben werden, als eine Utopie, die die Perspektiven ihrer Gegner miteinbezieht und dennoch nicht das Ende der Utopie ausruft, sondern sie weiterführt. Schließlich ist laut Abensour die Aufgabe des neuen utopischen Geistes, die Utopie von den Mythen zu befreien, die sie gefährden, und anstatt das Ende der Utopien auszurufen, sie vor der Aggression zu bewahren, die sie bedroht. Abensour unterstreicht diesbezüglich seine Nähe zu Benjamin und Adorno: ils m’ont aidé à comprendre que l’autoréflexion critique, qui constitue à mes yeux le nouvel esprit utopique, avait pour visée de combattre la rechute toujours possible de l’utopie dans le mythe. L’utopie ne peut prendre son envol qu’en rompant avec le mythe.102
In dem Maße, in dem die Utopie sich vom Mythos loslöst, öffnet sie sich der Dialektik und erwacht gleichsam aus einem Traum. Nur auf diese Weise kann erkannt werden, dass der Mythos des Goldenen Zeitalters, der Technik oder dergleichen Paradies und Hölle zugleich ist. Die Utopie, so schließt Abensour, darf demnach nicht verworfen werden, sondern soll einem kritischen dialektischen Prozess unterworfen werden. Humanismus und Dystopie Obwohl die Utopie ein Medium für die Projektion und Verbreitung humanistischer Ideale in der Renaissance und Aufklärung war, kann sie dem dritten Humanismus und seinem dialektischen Vernunftideal nicht mehr dienen. So kommt der Dystopie im dritten Humanismus eine entmythifizierende Funktion zu, die das Fortschrittsideal vorheriger Humanismen problematisiert. Darüber hinaus wurde die Gattung größtenteils dazu verwendet, Prinzipien zu verbreiten, die im dritten Humanismus verworfen werden. Die Umkehrung
101 Ebda., S. 195–204. 102 Ebda., S. 263.
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der topoi des ersten Humanismus, die in der Aufklärung gestärkt und durch die Utopie widergespiegelt und verbreitet wird, verschärft sich im 19. und 20. Jahrhundert, sodass im 20. Jahrhundert eine noch radikalere Kritik stattfindet, die nicht nur die Prinzipien des ersten sondern auch des zweiten Humanismus verwirft. So wird die Utopie des ersten und zweiten Humanismus zur Dystopie. Ein paradigmatisches Beispiel für die Komplexität, die sie im 20. Jahrhundert annimmt, stellt Gonzalo Torrente Ballesters Las islas extraordinarias dar.
3.2.3 Las islas extraordinarias Unter deutlicher Rückbesinnung auf die wichtigsten Utopien der Renaissance103 findet Torrente Ballesters scheinbare Utopie auf drei Inseln statt.104 Die Inselgruppe bildet einen vollkommenen Staat, den der Autor als Meisterwerk der Vernunft105 definiert. Alles funktioniert auf den Inseln nach den Gesetzen der Vernunft, wie es der Renaissancehumanismus rühmt,106 während das Irrationale, das zu Krieg, Invasion und Katastrophen führt, abgeschafft wurde. Damit stellen die Inseln die Realisierung einer politischen Utopie von platonischem Charakter dar: «Platón, más realista, concibió una república jerarquizada y es a Platón107 a quien tenemos que recurrir cuando la democracia destruye los valores».108 Anspielend auf Thomas Morus109 sowie auf Jorge Luis Borges110 weist Torrente darauf hin, dass die geschichtlichen und geographischen Daten dieser Inseln in der Enciclopedia británica zu finden sind.111 Ihre
103 Raymond Trousson: Voyages aux pays de nulle part. Histoire littéraire de la pensée utopique, S. 84. 104 Obwohl Las islas extraordinarias eine der paradigmatischsten Dystopien in der spanischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist, geht die Aufmerksamkeit, die dem Stück in der Forschungsliteratur gewidmet wurde, bis heute nicht über positiv bewertende Rezensionen hinaus. Dies ist vielleicht auf das späte Erscheinen (1991) dieses Werkes, das sich thematisch und ästhetisch in der Nachkriegszeit einordnet, zurückzuführen. 105 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias. Barcelona: Planeta [1991] 2004, S. 119. 106 Platon: Der Staat, 588–589, S. 337–384; Thomas More: Utopia, S. 16–17; Erasmus von Rotterdam: Institutio Principis Christiani, S. 114–116. 107 Platon: Der Staat, 590–592, S. 384–387. 108 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 86. 109 Thomas More: Utopia, S. 34. 110 Jorge Luis Borges : Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. In: Ders.: Ficciones. Barcelona: Penguin 2018, S. 15–21, hier S. 15. 111 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 10.
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rationale Ordnung fand ihren Anfang in einer großen Revolution, die die herrschende Armut und soziale Ungleichheit dem Schein nach112 beendet hat,113 durch einen neuen Staat, der sich für das Wohl der Bürger einsetzt.114 Ein Detektiv wird beauftragt, im Fall eines möglichen Putschs zu ermitteln, der das Wohlergehen der Inseln bedrohen könnte. Sowohl bei ihm als auch beim Leser entsteht der Eindruck, dass sich hinter dieser rationalen Ordnung im Dienst der Glückseligkeit der Inselbewohner dennoch etwas Schreckliches verbirgt.115 Dadurch spiegelt die Perspektive des Detektivs – und gleichsam des Lesers – das Misstrauen gegenüber der Utopie wider: Hinter dem scheinbar utopischen Staat versteckt sich eigentlich eine Dystopie.116 Der Aufstieg zur Macht des homo œconomicus Die außerordentlichen Inseln werden in Wirklichkeit gemäß einer hierarchischen Ordnung organisiert, die auf der Annahme basiert, dass Gleichheit die Waffe der Mittelmäßigen für Erfolg in der Gesellschaft ist.117 Wie auch in der platonischen Utopie wird die Auswahl der besten Männer von Beginn an praktiziert,118 obwohl diese nicht von der Erziehung, sondern von der Vererbung abhängt. Die Söhne des Diktators bilden die Regierungsschicht, wenngleich diese im Falle einer körperlichen oder geistigen Behinderung umgebracht werden. Deshalb werden die Mütter dieser Kinder gezwungen, sie nicht zu lieben. Während der Schwangerschaft werden sie geistig darauf vorbereitet und überzeugt, dass sie ihr Kind wie bei Platon119 im Dienst des Staates austragen,120 was nicht mehr und nicht weniger als eine Dienstleistung bedeutet, fern von jeglichem persönlichen Interesse, das mit Gehorsam und Disziplin unvereinbar wäre. Die Männer sollen sich als Söhne des Systems und nicht ihrer Eltern verstehen
112 Die große Revolution, die die Dystopie Torrentes mit der teilt, die Ortega in La rebelión de las masas entwirft, besteht im Versprechen eines Fortschritts, der sich als Rückschritt erweist. Das Individuum schafft einen Staat, um seine Verhältnisse zu verbessern, und wird am Ende zum Sklaven eben dieses Staats (Ortega: La rebelión de las masas, S. 143–228), der, wie sich im weiteren Verlauf zeigt, die Aufgabe aller Rechte des Individuums verlangt. 113 Eine Thematik, die sich wiederfindet in República barataria, ursprünglich veröffentlicht im Jahre 1942 und neu aufgelegt in: Gonzalo Torrente Ballester. República barataria. In: Ders.: Teatro 2. Barcelona: Destino 1982. 114 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 110. 115 Ebda., S. 54. 116 Ebda., S. 143. 117 Ebda., S. 166. 118 Platon: Der Staat, 590–592, S. 384–387. 119 Ebda., 415, S. 130. 120 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons, S. 205.
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und ihre Dankbarkeit soll dem System gelten. Wer sich von diesen Prinzipien abwendet, bedroht die Stabilität des Staates und muss konsequenterweise eliminiert werden.121 Das Werk kritisiert also die Aufhebung einer individuellen Moral zugunsten einer kollektiven. Letzerers hatte Popper mit dem platonischen Staatsideal in Verbindung gebracht.122 Die Staatsführung unterscheidet sich von der übrigen Bevölkerung nicht durch ihr ethisches, sondern durch ihr instrumentelles Wissen.123 Um Aufständen vorzubeugen, wird die Ausbeutung verschleiert und das Konzept von sozialer Gerechtigkeit modifiziert. Dem Arbeiter wird ein komfortables Leben gewährleistet – nicht zum Zweck seiner Zufriedenheit, sondern um seine Produktivität zum Wohl der Wirtschaft zu steigern.124 Schließlich geht die Macht vom homo œconomicus aus, dessen Vernunft die notwendigen Mittel für die Erlangung von Kapital bereithält. Damit setzt Torrente eine Kritik des Kapitalismus fort, die seit dem Beginn seiner literarischen Laufbahn prägend für sein Werk ist.125 Nichtsdestotrotz wird sie hier mit dem europäischen philosophischen Diskurs, mit der humanistischen Tradition und ihren platonischen Ursprung zusammengeführt. Humanitas vs. feritas Auf diese Weise wird den besten Männern das Recht eingeräumt, jene zu töten, die die Ordnung stören, seien sie Untergebene oder nicht: «Si no sirve[n], ¿para qué se les va a mantener?»126 Der Zweck heiligt die Mittel und wer nicht den Zwecken des Staates dient, wird beseitigt. Die Intellektuellen legen im Sinne Machiavellis127 die theoretische Grundlage, die die Ermordung von jedwedem Bürger legitimieren kann.128 Politik und Ethik verfolgen, wie bei Machiavelli,129 zwei unterschiedliche Wege130 und der Wohlstand wird in materiellen Gütern statt in ethischen Werten gemessen: 121 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 47–88. 122 Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Der Zauber Platons, S. 233–234. 123 Vgl. Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16–91. 124 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 87. 125 Diese Kritik ist zentral in El casamiento engañoso, publiziert in ediciones Escorial im Jahr 1939 und neuaufgelegt in Torrente Ballester, Gonzalo: El casamiento engañoso. In: Ders.: Teatro 1. Barcelona: Destino 1982. Dasselbe unterstreicht auch Víctor García Ruiz: Calderón, Felipe Lluch y el auto sacramental en la España de los años 30. In: Manfred Tietz (Hg.): Texto e imagen en Calderón. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1998, S. 95–108. 126 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 89. 127 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 167–177. 128 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 146. 129 Quentin Skinner: Machiavelli, S. 41. 130 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 126.
3.2 Die Utopie im 20. Jahrhundert
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No es que hayamos renunciado a la moral, sino que intentamos sustituir la antigua, esa que hemos recibido y de la que tanto esfuerzo mental nos ha costado librarnos, por otra nueva, una moral más apoyada en la realidad de los hechos y en la urgencia de ciertas necesidades.131
Humaniora und realia Der Vorrang der instrumentellen Vernunft vor der kontemplativen bestimmt eine Wissenshierarchie, in der die Technik über die humanistischen Disziplinen herrscht. Die Spezialisierung des Wissens132 und der Lob des Handels 133 sowie das Paradigma der Nützlichkeit des zweiten Humanismus tragen in dieser Dystopie bei zur industriellen Spezialisierung auf Kriegswaffen und zum Handel mit verbotenen Waren, die den Inseln ausreichend Reichtum verschaffen. Um die Experten für Elektronik oder die Erfindung neuer Legierungen zufriedenzustellen, werden sie mit luxuriösen Autos ausgestattet; außerdem wird ihnen der Eintritt zur Isla del Vicio gestattet.134 In dieser kapitalistischen Dystopie, in der Wert und Tugend verwechselt werden, werden Genies gekauft, um dem Staat einen nützlichen Dienst zu erweisen, um die größten Gewinne durch den geringsten Aufwand zu erzielen. Auf der Inselgruppe orientieren sich die Geisteswissenschaften an der Technik, um fortbestehen zu können, und müssen im Sinne des zweiten Humanismus135 dem Staat nützlich sein. Für die intellektuelle Welt der Inseln ist Professor Martín beispielhaft – ein Denker, der nur dank des ökonomischen Einsatzes seiner intellektuellen Fähigkeiten lebt.136 Aus dieser Perspektive ist er nichts anderes als ein guter Händler, der sein Gut zum bestmöglichen Preis verkauft. Er entwirft ein System, mit dessen Hilfe die Menschen nicht mehr selbst denken müssen, da sie ansonsten eine Bedrohung für die Stabilität des Staates darstellen würden. Auf diese Weise kontrolliert er zwei Tageszeitungen, die zwar dem Anschein nach gegensätzlich sind, jedoch dieselben Prinzipien und Ziele verfolgen. Indem die Mehrheit der einen oder der anderen folgt, bleibt sie in dem Glauben, ihre Denkweise frei zu wählen. So ist Professor Martín stolz auf seinen nützlichen Beitrag zum Staat: «Esto sostiene al Estado y yo soy el
131 Ebda., S. 91; Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 167–177. 132 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 112. 133 Montesquieu: De l’esprit des lois, I, S. 610. 134 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 53, 75–76. 135 Vgl. D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 106 und Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, S. 138. 136 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 147.
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3 Topoi des Humanismus im 20. Jahrhundert
artífice del pensamiento y del sistema. Sin mí, el Estado se desmoronaría. La gente necesita creer que piensa».137 Gleichzeitig erarbeitet er politische Diskurse, in denen die Lügen wiederholt werden, die die Begeisterung und Leidenschaft der Bürger aufrechterhalten. Erneut als Kritik an Platon, der die Dichter aus dem Idealstaat verbannt, 138 wird in Torrentes Dystopie die Literatur, die nicht dem Statt dient, als Störfaktor betrachtet,139 so dass ihr kein Platz auf den Inseln eingeräumt wird. Der Import von Büchern ist verboten und es wird ausschließlich das gelesen, was von Professor Martín oder unter seiner Aufsicht veröffentlicht wird. So wird eine Kritik an der für jede Diktatur notwendigen Zensur und an der ideologischen Homogenität im Sinne Ortegas ausgeübt.140 Ohne aufrührerische Dichter wird der Möglichkeit vorgebeugt, aufzudecken, was sich hinter dem Schein verbirgt: Barbarei statt Fortschritt.141 Die Stadt als greifbares Symbol des Fortschritts und als Besonderheit der Utopien des ersten und zweiten Humanismus sieht sich in diesem Sinn relativiert. Der urbane Raum, von grauen und mächtigen Gebäuden geprägt, entspricht der für Diktaturen typischen Architektur,142 die entworfen wurde, um ihre Macht widerzuspiegeln.143 Vita activa und vita contemplativa Es ist nicht verwunderlich, dass die vita contemplativa, die keinen materiellen Nutzen in Form von Gewinnen bringt, ebenso wenig Platz auf den Inseln findet wie die Literatur. In Las islas extraordinarias sind die höchst geschätzten Bürger jene, die die höchsten Gewinne beitragen: Ingenieure wegen ihres nützlichen Beitrags zur Entwicklung der Seerüstungsindustrie sowie Händler.144 Mit Las islas extraordinarias entmythifiziert Torrente letztendlich den Fortschrittsmythos des ersten und zweiten Humanismus, dessen Vernunft, unter dem Versprechen von Freiheit und Wohlergehen, wie Adorno, Horkheimer145
137 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 92. 138 Platon: Der Staat, 598–601, S. 393–397. 139 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 57. 140 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 143–228. 141 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 49, 58. 142 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra. Barcelona: Anthropos 1990, S. 130–131. 143 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 115–130. 144 Ebda., S. 52–56. 145 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 1–3.
3.2 Die Utopie im 20. Jahrhundert
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oder Popper146 hervorheben, in die Barbarei führt. Torrentes Dystopie warnt auf diese Weise nicht nur vor den Gefahren, die die Ideale des ersten Humanismus für die zukünftige Gesellschaft bedeuten. Auch die des zweiten führen letztendlich zur Macht des homo œconomicus, zum Machiavellismus, zur Verdrängung der Geisteswissenschaften durch die Technik, zur Ablehnung der vita contemplativa zugunsten der vita activa und damit zur Barbarei. Die Hoffnung des Humanismus im 20. Jahrhundert wird nicht mehr auf die Utopie, sondern in Form von Desillusionierung auf die Dystopie projiziert.
146 Karl Popper: Utopia and Violence, S. 357–363.
4 Antike Mythen im 20. Jahrhundert Aristoteles definiert den Mythos als Nachahmung einer Handlung.1 Die griechischen Mythen stellen in diesem Sinne weiterhin eine Inspirationsquelle für die europäische Literatur dar, indem sie wiederaufgenommen, neuinterpretiert und neugestaltet werden. Ebenso wie die Utopie bildet die Tragödie ein paradigmatisches Verbindungselement zwischen der Antike und der Gegenwart. Aufgrund der Tatsache, dass das Vernunftideal des dritten Humanismus zu einer Evolution der Utopie hin zur Dystopie geführt hat, wie im ersten Teil der vorliegenden Arbeit erörtert wurde, wird zunächst analysiert, auf welche Weise sich der dritte Humanismus auf die Konzeption antiker Mythen und damit auf die neue klassische Tragödie der Gegenwart auswirkt. Ausgehend vom vielfältigen Charakter des Humanismus im 20. Jahrhundert, der im ersten Teil dieser Arbeit dargelegt wurde, wird ein zweiter Teil die Unterschiede zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen des Humanismus in Frankreich und Spanien aufzeigen, um der Frage nachzugehen, zu welchen unterschiedlichen Modellen der Tragödie diese Erscheinungsformen führen. Wenn sich eine Epoche durch ihren Wirklichkeitsbegriff auszeichnet und dieser das Resultat einer bestimmten Haltung zum Mythos ist,2 wird im Folgenden erörtert, auf welche Weise diese beiden Aspekte im Werk zweier paradigmatischer Theaterautoren des französischen und spanischen Dramas zusammenhängen: Jean Giraudoux und Gonzalo Torrente Ballester. Beide Autoren belegen, dass selbst in einer Gesellschaft, die zunehmend rationalisiert, säkularisiert und verwissenschaftlicht wird, die antiken Mythen nach wie vor Schlüssel für das Verstehen der zeitgenössischen Wirklichkeit bereithalten.
4.1 Mythos und intrahistoria Wenngleich die Mythen im 20. Jahrhundert weiter definiert werden können als die Fiktionen, die sie für Aristoteles waren, wird ihre Definition doch grundlegend verändert durch Freuds Entdeckung des Unbewußten. Er definiert den Mythos als Projektion des Unbewußten, die das Verhalten des Ich grundlegend bestimmt. Während der Mythos für Freud auf das Individuum beschränkt bleibt,
1 Aristoteles: Poetik, 1450a, S. 9. 2 Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Manfred Fuhrmann (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München: Fink 1971, S. 11–66. https://doi.org/10.1515/9783110610376-005
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4 Antike Mythen im 20. Jahrhundert
schreibt ihm Unamuno eine soziale und politische Dimension zu.3 Für ihn sind die Mythen zwar in der Vergangenheit verankert, bilden aber eine Tradition, die die kollektive Identität in der unmittelbaren Gegenwart bestimmt. Daher erweist sich die Geschichte, die sie nicht berücksichtigt, als ungenügend, wenn es um die Vergangenheit geht. Denn debajo de la Historia es donde vive la verdadera tradición, la eterna, en el presente [. . .] La tradición eterna es lo que deben buscar los videntes de todo pueblo para elevarse a la luz, haciendo consciente en ellos lo que en el pueblo es inconsciente [. . .].4
Die von Unamuno so genannte Intrahistoria, die im Unterschied zur Geschichte nicht mit Ereignissen von Chroniken arbeitet, sondern mit Mythen, bringt die Unterscheidung ins Schwanken, die Aristoteles in seiner Poetik zwischen Geschichte als Bericht dessen, was sich ereignet hat, und Dichtung als Fiktion dessen, was hätte geschehen können, vornimmt. Dabei verschwimmt der Unterschied zwischen dem historischen und dem mythischen Diskurs. Aus dieser Perspektive und unter Rückgriff auf Unamunos Begrifflichkeit ersetzt Torrente Ballester die historischen Epochen durch transhistorisch- mythologische5 und konzipiert aus dieser Sicht die Geschichte als Intrahistoria, d.h. als Kontinuum sich fortsetzender Mythifizierungen, Entmythifizierungen und Remythifizierungen. Ausgehend vom Mythos entwirft er einen Begriff von Geschichte, die er als Gesamtheit von Ereignissen versteht, denen der Mythos eine Struktur, eine Verbindung und einen Sinn verleiht.6 Wie Cassirer versteht Torrente den Mythos als symbolische Form. Die Beziehung, die im Mythos zwischen signifiant und signifié entsteht, geht über die bloße Darstellung hinaus und wird zur Identifizierung:
3 Dies geschieht noch vor Jungs Archetypen (Carl Gustav Jung: Archetypen. München: DTV 2009, S. 7). Während Mythen für Jung von universalem Charakter sind, verbindet Unamuno den kollektiven Mythos mit nationaler Geschichte und der Identität Spaniens. 4 Miguel de Unamuno: En torno al casticismo. Madrid: Alianza 2000, S. 43. 5 Torrente Ballesters Ansatz nähert sich somit dem von Northrop Frye: «The words story and history were originally identical but they are now distinguished and the word story seems to lie along an axis extending from history to fantasy [. . .] Obviously, such extremes do not really exist» (Northrop Frye: Myth and Metaphor. Charlottesville–London: Virginia University Press 1990, S. 3). Der historische Diskurs verschmilzt mit dem fiktionalen, insofern beide erfunden sind: der Mythos der Dekadenz bei Spengler, der zyklische Mythos von Vico, der des Fortschrittes bei Condorcet oder der revolutionäre von Marx lassen sich verstehen als unterschiedliche Ausformungen des geschichtlichen Verlaufs (Northrop Frye: Myth and Metaphor, S. 9; Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 63, 80). 6 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 48.
4.1 Mythos und intrahistoria
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Das ‹Bild› stellt die ‹Sache› nicht dar - es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt. [. . .] In allem mythischen Tun gibt es einen Moment, in dem sich eine wahrhafte Transsubstantiation eine Verwandlung des Subjekts dieses Tuns in den Gott oder Dämon, den es darstellt, vollzieht.7
Für Cassirer also wie später für Torrente bezeichnen oder bedeuten Mythen nicht, sondern sie sind und wirken. Die Identifizierung der Mythen mit der Wirklichkeit hat zur Folge, dass sie nicht als solche erkannt werden. Ihre Wirkkraft verleiht ihnen die Fähigkeit, die Geschichte zu bewegen und die Massen zu instrumentalisieren.8 Die Mythentheorie im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts nimmt sich daher vor, die interne Struktur der Mythen aufzudecken, um sie auf diese Weise bloßzustellen.9 Aus dieser Perspektive wird im folgenden Kapitel die Dekonstruktion des antiken Mythos bei zwei Theaterautoren des 20. Jahrhunderts vorgestellt, Jean Giraudoux und Gonzalo Torrente Ballester, um daraus wesentliche Parameter der neuen klassischen Tragödie aufzustellen. Vor dem Hintergrund der intrahistoria verstehen beide Autoren den antiken Mythos als Teil einer Tradition, mit der Giraudoux und Torrente nun die europäische Krise seit dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts analysieren. Das antike Erbe lebt seit der Dekonstruktion des Mythos fort, wobei ‹dekonstruieren›, wie Buero Vallejo verdeutlicht, keine Zerstörung bedeutet: La destrucción de un mito sólo es posible por la indiferencia. Cuando un autor de nuestro tiempo da su versión de un mito helénico, lo sirve en realidad, por muy personal que la versión sea. Pero no hay, ni puede haber, en viva literatura, otra actitud de servicio a un mito cualquiera que su examen apasionadamente humano. La fría aceptación sin reservas del material antiguo sería lo peor que a ese material podría pasarle en el fondo de nuestros corazones.10
7 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Das mythische Denken, II. Hamburg: Meiner Verlag 2010, S. 51–53. 8 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 47, 83. 9 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16–91; Roland Barthes: Mythologies. Paris: Éditions du Seuil 1957, S. 235–257; Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 104. 10 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños. In: Ders.: Obra completa. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa Calpe 1994, S. 352–363, hier S. 355.
5 La Guerre de Troie n’aura pas lieu In diesem Theaterstück von 1935 stellt Jean Giraudoux den Kontext vor, der dem Trojanischen Krieg voranging, von dem Homer in der Ilias erzählt. Die Handlung dreht sich um den gescheiterten Versuch des Trojaners Hektor, einen Krieg gegen die Griechen zu vermeiden. Giraudoux nähert sich dem homerischen Mythos aus der Perspektive der intrahistoria, einerseits, weil er den Mythos als Projektion eines kollektiven Unbewussten präsentiert, nämlich des Willens zur Macht,1 der sich hinter einem Krieg im Namen der Schönheit verbirgt. Andererseits, weil er den Trojanischen Krieg als lebendige Gegenwart und nicht als tote Vergangenheit2 und damit als Teil einer Tradition darstellt, die bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreicht. Giraudoux etabliert somit ein Verhältnis zwischen dem antiken Mythos und einem Europa, das durch das Aufkommen des Faschismus und die Bedrohung eines Zweiten Weltkriegs gepeinigt ist. Die platonische Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik bestimmen die Idee der Wahrheit, des Guten und des Schönen. Der Kampf um sie löst einen Krieg aus, den Giraudoux wiederholt als absurd bezeichnet. Denn hinter diesem Krieg, der im Namen der höchsten Ideale entfacht wurde, verbergen sich bloß niederträchtige Beweggründe. Für Hektor würde der Krieg nicht im Namen der Schönheit stattfinden, wie die Alten glaubhaft machen wollen, sondern er sieht den Grund in etwas so Trivialem wie dem Streit um die Gunst einer Frau.3 Für Paris rechtfertigt nicht die Liebe zu Helena, sondern das Streben nach Macht, Reichtum und Ruhm den Krieg.4 Nicht weniger niederträchtig ist der Beweggrund der Intellektuellen, die im Namen des Guten und Wahren sprechen, schreiben und handeln. In Giraudoux’ Werk rechtfertigen die Priester den Krieg durch den Willen der Götter, obwohl diese eigentlich keine Rolle darin spielen.5 Ebenso wie in der Ilias sind es die Weisen und nicht die Generäle, die den ersten Kriegsrat bilden. Kunst und Wissenschaft, repräsentiert durch einen Geometer, werden in den Dienst des Krieges gestellt. Hinter ihnen verbirgt sich eine deutliche Kritik der Intellektuellen von 1935. Wie der Grieche Aias Hektor
1 Der Mythos als symbolische Form sieht sich also hier unauflöslich mit den Mechanismen der Macht verbunden, die aber nicht inkompatibel sind mit der Funktion der Angstbewältigung, die Blumenberg ihm zuvor zuschrieb (Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, S. 9). 2 Miguel de Unamuno: En torno al casticismo. Madrid: Alianza 2000, S. 43. 3 Jean Giraudoux: La Guerre de Troie n’aura pas lieu. Paris: Grasset 1991, S. 70–78. 4 Ebda., S. 107. 5 Ebda., S. 97. https://doi.org/10.1515/9783110610376-006
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zu erkennen gibt, stehen sowohl die Griechen als auch die Trojaner demselben Feind gegenüber: den Intellektuellen, die die Ideale der Schönheit, des Guten und des Wahren in den Dienst des Krieges stellen. Diese Ideale werden infrage gestellt, begonnen bei der platonischen Idee von Schönheit. Während Platon das Gute und Schöne gleichsetzte, wird das Schöne im Theaterstück mit dem unmittelbaren Auslöser des Krieges in Verbindung gebracht: Helena.6 Ebenso wird die platonische Idee der Wahrheit bestritten. Als die Weisen den Fremden Busiris um Rat bitten, befürwortet dieser die kriegerische Auseinandersetzung im Namen der Wahrheit unter Berufung auf das Gesetz. Als Hektor ihm hingegen droht, ihn während des Krieges einzusperren, bekräftigt Busiris, indem er sich auf dasselbe Gesetz beruft, das genaue Gegenteil: dass die Tore des Krieges nicht geöffnet werden sollen. Die Wahrheit, die nun nicht mehr universale, sondern relative Geltung hat und nicht mehr transzendent, sondern immanent ist, kann neu geschaffen werden, um die Barbarei zu vermeiden: BUSIRIS Je ne peux vous donner qu’une aide, la vérité. HECTOR Justement. Trouve une vérité qui nous sauve. Si le droit n’est pas l’armurier des innocents, à quoi sert-il? Forge-nous une vérité.7
Der platonische Charakter, den Magny Giraudoux’ Werk zuweist,8 erweist sich somit als unvereinbar mit Giraudoux’ Kritik des platonischen Essentialismus. Das Zitat verdeutlicht, dass die Wahrheit nicht gegeben ist, sondern erst geschaffen wird; sie ist nicht essenziell, sondern kontingent. In diesem Sinne beklagt Gabriel Marcel sogar Giraudoux’ Mangel an Metaphysik sowie seinen aggressiven, weltlichen Tonfall.9 Ebenfalls im Gegensatz zu Magny charakterisiert Sartre Giraudoux aufgrund des immanenten Charakters seines Werkes als aristotelischen Autor. Zudem schreibt er ihm die Annahme seines essentialistischen Denkens und seines rationalisierten Weltbildes, in dem die Entwicklung des Menschens weniger von Kontingenz als vielmehr von der Realisierung seines Wesens abhängt. Auch behauptet Sartre, dass Giraudoux die Versuche ignoriert, die Starrheit dieses Weltbildes zu brechen, das der Existenzialismus überwinden will.10 Es lässt sich jedoch feststellen, dass Giraudoux genau das Gegenteil tut. Die Verantwortung für den Krieg wird in La guerre de Troie
6 Ebda., S. 114. 7 Ebda., S. 121. 8 Claude-Edmonde Magny: Précieux Giraudoux. Paris: Seuil 1945, S. 17–31. 9 Gabriel Marcel: L’heure théâtrale. De Giraudoux à Jean-Paul Sartre. Paris: Librairie Plon 1959, S. 15. 10 Jean-Paul Sartre: Situations. Band I. Paris: Gallimard 1947, S. 76–91.
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n’aura pas lieu essentialistischem Denken zugeschrieben.11 Der Krieg bricht nämlich nicht aus, weil es das Schicksal12 oder übermenschliche Kräfte13 wollen: er liegt in der ausschließlichen Verantwortung des Menschen.14 La Guerre de Troie n’aura pas lieu repräsentiert somit implizit ein Plädoyer gegen den historischen Determinismus, von dem aus Oswald Spengler einen unvermeidbaren Verfall des Abendlandes vorhersah. Das Schicksal des Menschen, so warnt Giraudoux, ist nicht durch die Götter vorherbestimmt.15 Wenn sie um Hilfe angerufen werden, um den Konflikt zu lösen, der im Trojanischen Krieg mündet, ist ihre Uneinigkeit derart, dass sie die Entscheidung dem Menschen überlassen. Aphrodite und Athene streben in der Tat gegensätzliche Lösungen an. Während die Göttin der Liebe und Schönheit befiehlt, Paris und Helena nicht zu trennen, um einen Krieg zu vermeiden, fordert die Göttin der Weisheit und Gerechtigkeit das genaue Gegenteil. Deshalb bittet Priamos Zeus, den höchsten Gott, um Rat. Dieser stellt fest, dass eine Trennung von Paris und Helena ebenso gut wie schlecht sein könnte, weshalb er die Entscheidung Odysseus und Hektor überlässt, damit sie zu einer Einigung kommen und den Krieg verhindern.16 Letztendlich liegt es also am Menschen, den Krieg zu vermeiden. Der Mensch selbst ist für sein eigenes Schicksal verantwortlich und kann keine Ausflüchte mehr bei den Moiren, dem Fatum oder den Göttern suchen. Nichtsdestotrotz zeugt das Stück nicht von dem paradoxen Charakter, den ihm Nolting-Hauff zuweist, der sich in der Verteidigung des Friedens trotz der Unvermeidbarkeit des Krieges zeige.17 Die Tatsache, dass der Krieg nicht vermieden
11 Diese Kritik tritt ebenfalls in Werken wie Amphytrion auf, wo Alcmène die göttliche Unsterblichkeit ablehnt und die menschliche Endlichkeit bevorzugt (Roland Quilliot: La condition humaine dans le theâtre de Giraudoux. In: Bruno Curatolo (Hg.): Les écrivains et leurs lectures philosophiques. Paris: L’Harmattan 1996, S. 91–105, hier S. 100). 12 Roland Quilliot: La condition humaine dans le theâtre de Giraudoux, S. 102; Wolf Albes: Jean Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu (1935) und Jean Anouilh, Antigone (1942). In: Konrad Schoell (Hg.): 20. Jahrhundert. Theater. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2006, S. 100–149, hier S. 111. 13 Renée Zenon: Le traitement des mythes dans le théâtre de Jean Giraudoux. Washington: University Press of America 1981, S. 69. 14 Mireille Brémond: Les dieux antiques face à l’humanité moderne dans l’Amphytrion 38 de Jean Giraudoux. In: Sylviane Coyault u.a. (Hg.): Jean Giraudoux et les mythes. Paris: Presses Universitaires Blaise Pascal 2000, S. 197–207, hier S. 205. 15 Marie Claude Hubert: Giraudoux et la notion de la tragédie. In: Revue d’histoire du théâtre, 233 (2007), S. 137–142, hier S. 139. 16 Jean Giraudoux: La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 151. 17 Ilse Nolting-Hauff: Mythenrenaissance und Episierung in Giraudoux’ La guerre de Troie n’aura pas lieu. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 93 (1983), S. 131–150, hier S. 139.
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werden konnte, bedeutet für Giraudoux jedoch nicht, dass er nicht hätte vermieden werden können. Wenngleich es in der Tragödie auch für Giraudoux stets das Element des Schicksals gibt, sind die Kräfte, die auf der Bühne eingreifen, keine obskuren, sondern sie werden vom Autor in aller Klarheit entlarvt, damit die Menschen gegen sie kämpfen können.18 So verfolgt Giraudoux das Ziel, dem Zuschauer Wege zu zeigen, die den bevorstehenden Krieg verhindern könnten.19
18 Guy Teissier: D'Ulysse à Apollon. Les réécritures ‹à l'antique› de Giraudoux. In: Jean-Pierre Martin und Claudine Nédelec (Hg.): Traduire, trahir, travestir. Études sur la réception de l'Antiquité. Arras: Artois Presses Université 2012, S. 221–239, hier S. 231. 19 Das Theater Giraudoux’ bildet, wie Bombard bemerkt, einen Resonanzraum der zeitgenössischen Welt (Françoise Bombard: Un théâtre de mémoire et d’utopie. L’œuvre dramatique de Jean Giraudoux. In: Laurence Richer (Hg.): Littérature et architecture. Lyon : Centre Jean Prévost 2004, S. 103–119, hier S. 112). Die Verbindung von La guerre de Troie n’aura pas lieu mit Giraudoux’ Gegenwart hat im Wesentlichen zu zwei politischen Interpretationen in der Forschungsliteratur geführt: Nach der ersten werden die Griechen und Trojaner als Spiegel der deutsch-französischen Beziehungen verstanden. Gemäß der zweiten Interpretation stellt das Stück die Beschreibung eines universalen Archetypus dar, ohne notwendig in Zusammenhang mit dem politischen Kontext vor dem Zweiten Weltkrieg gelesen zu werden (Gunnar Graumann: Les allusions politiques dans La guerre de Troie n’auras pas lieu. In: Cahiers Jean Giraudoux, 7 (1978), S. 27–46). Aus erster Perspektive präsentiert Agnes G. Raymond: Jean Giraudoux. The theater of victory and defeat. Boston: University of Massachussetts Press 1966 Giraudoux als politisch engagierten Autor und sein Werk als Spiegel der Gegenwart. R. H. Desroches: Reality behind the myth in Jean Giraudoux’s La guerre de Troie n’aura pas lieu. In: Revue des Langues Vivantes, 34 (1968), S. 239–244 sieht in dem Gespräch zwischen Hektor und Odysseus eine literarische Darstellung der Friedensverhandlungen zwischen Aristide Briand und Gustav Stresemann, die 1925 in Locarno stattfanden. Zenon interpretiert das Theaterstück als Warnung vor der Gefahr des Zweiten Weltkriegs (Renée Zenon: Le traitement des mythes dans le théâtre de Jean Giraudoux, S. 55). Gegenüber dieser ersten Interpretation hebt die zweite das Stück aus seinem konkreten historischen Kontext und sieht im Stück, wie Giraudoux es selbst nahelegt, eher einen Bezug zu Frieden und Krieg im Allgemeinen (Roy Lewis: Giraudoux: ‚La guerre de Troie n’aura pas lieu’. London: Edward Arnold 1971, S. 9). Pinkernell hingegen betont, dass Giraudoux seine politische Gegenwart darstellt und einerseits die Griechen als Abbild der Deutschen sowie andererseits die Trojaner als Abbild der Franzosen begreift. Demnach entspricht Demokos dem intellektuellen Typus eines Charles Maurras, dem nationalistischen und antideutschen Vorsitzenden der Action Française, während Hektor Auristide Briand und Odysseus Stresemann darstellt, und dies in einem Stück, das vor der Gefahr eines Krieges gegen Deutschland warnt (Gert Pinkernell: Alte Stoffe, neuer Sinn. Zeithistorische Deutungen antikisierender Stücke (Giraudoux’ La guerre de Troie n’aura pas lieu und Électre, Sartres Les mouches und Anouihls Antigone). In: Studia Romanica, 90 (1997), S. 192–206). Für Graumann wiederum reproduziert das Stück das allgemeine Klima in Europa, nicht nur in Bezug auf Deutschland, sondern ebenso auf Italien und dem Abessinien-Konflikt (Gunnar Graumann: Les allusions politiques dans La guerre de Troie n’auras pas lieu, S. 44). In jedem Fall sind die allgemeine und die konkrete Dimension von La guerre de Troie n’aura pas lieu miteinander vereinbar.
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Giraudoux’ Theater wird in diesem Sinne zu einem Ort der Erinnerung und Utopie.20 Dabei handelt es sich um eine kritische Erinnerung, die platonische Ideen dekonstruiert, um sie als Resultat niederträchtiger Motivation zu entlarven. Die zeitgenössische Welt soll sie zurückweisen, um Krieg zu vermeiden und Frieden herzustellen.21 Dabei richtet sich Giraudoux’ Kritik nicht nur auf die Ideen des Schönen, Guten und Wahren, hinter denen sich eigentlich das Streben nach Macht, Ruhm und Reichtum verbirgt. Denn was Helena für Paris empfindet, so kritisiert es Andromache, sei keine Liebe im idealen Sinne.22 Helena hat in der Tat kein Problem damit, erkennen zu geben, dass ihre Gefühle für Paris der Promiskuität entspringen, ebenso wenig ihre Verachtung für die Menschheit zu bekunden, die sie als gemein und niederträchtig erachtet. All dies, so beklagt Andromache, wird verheerende Folgen für die Zukunft haben: ANDROMAQUE Et que nos idées et que notre avenir soient fondés sur l’histoire d’une femme et d’un homme qui s’aimaient, ce n’est pas si mal [. . .] penser que [. . .] les habitudes [. . .] vont se fonder sur l’aventure de deux êtres qui ne s’aimaient pas, c’est là l’horreur. [. . .] Nos vieillards n’adorent pas la beauté, ils s’adorent eux-mêmes, ils adorent la laideur. Et l’indignation des Grecs est un mensonge. Dieu sait s’ils se moquent de ce que vous pouvez faire avec Paris, les Grecs ! [. . .] Et la vie de mon fils, et la vie d’Hector vont se jouer sur l’hypocrisie et le simulacre. C’est épouvantable!23
Nach Odysseus’ Geständnis benutzen die Griechen den Raub Helenas als Vorwand, um die Reichtümer Troyas zu plündern.24 Dennoch kann Hektor Odysseus davon überzeugen, eine List anzuwenden, um den Krieg zu vermeiden. Doch ebenso wie der Pfeil des Pandaros in der Ilias, provoziert eine letzte Intrige von Demokos – trotz der kühnen Vermeidungsversuche Hektors – schließlich den Krieg. Das Theaterstück endet mit der Bestätigung Cassandras, dass der trojanische Dichter gestorben ist. Nun wird Homer die Ilias schreiben: «La parole est au poète grec».25 Und Griechenland wird, wie es Odysseus erkennt, für das gute Gewissen zukünftiger Generationen lügen.26 Auf diese Weise wurde die
20 Françoise Bombard: Un théâtre de mémoire et d’utopie. L’œuvre dramatique de Jean Giraudoux, S. 103–119. 21 Jean Giraudoux: La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 89–91. 22 Ebda., S. 132. 23 Ebda., S. 132–133. 24 Ebda., S. 157. 25 Ebda., S. 163. 26 Ebda., S. 159.
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Geschichte bereits seit den Anfängen der abendländischen Zivilisation von den Siegern geschrieben, eine Tatsache, die Benjamin später im Zweiten Weltkrieg kritisiert.27 Laut Giraudoux wurde die Kultur des Abendlandes auf Lügen aufgebaut, auf dem Hässlichen, Schlechten und auf Täuschung, die sich hinter dem griechischen Ideal des Schönen, Guten und Wahren verbergen. Wenn sich nichts ändert, so warnt Giraudoux im Jahr 1935, wird sich der Trojanische Krieg im 20. Jahrhundert wiederholen. La guerre de Troie n’aura pas lieu verdeutlicht in paradigmatischer Weise den Umgang mit antiken Mythen der Tragödie im 20. Jahrhundert. Der Mythos wird zum Kernelement einer Analyse aus der Perspektive der intrahistoria. Der Trojanische Krieg ist als Krieg im Namen höchster Ideale, die sich als leer und heuchlerisch herausstellen, Teil einer Tradition, die bei den Ursprüngen der abendländischen Zivilisation beginnt und in der unmittelbaren Gegenwart noch immer vorhanden ist. Giraudoux sieht in der Entmythifizierung des antiken Mythos ein Gegengift angesichts der Bedrohung durch den Krieg, der als Konsequenz der Rationalität moderner Gesellschaften verstanden wird.28
27 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010, S. 82 ff. 28 Abdelghani El Himani: L’utopie giralducienne: néo-romantisme et nouvelle modernité. In: Cahiers Jean Giraudoux, 38 (2010), S. 125–243, hier S. 153–197.
6 Der Mythos von Odysseus und die neue klassische Tragödie In Aias bringt Sophokles den Fall des titelgebenden Protagonisten in einer Weise auf die Bühne, die dem Helden Odysseus zum Vorteil gereicht. Aias’ Unglück ist dem Wahn geschuldet, in den ihn sein Zorn, sein Hochmut und die Geringschätzung der Götter treiben. Nachdem er erfahren hat, dass die Waffen des gestorbenen Achilles nicht ihm, sondern Odysseus zustehen, entschließt sich Aias, das gesamte griechische Heer zu vernichten. Athene rettet die Griechen vor Aias’ Rache, indem sie dafür sorgt, dass er sie mit Herdentieren verwechselt. Als Odysseus das Massaker am nächsten Tag bemerkt, erzählt ihm Athene, die Schutzgöttin, von den Ereignissen und warnt ihn vor den verheerenden Folgen, die eine Beleidigung der Götter mit sich bringen kann. In seinem Hochmut hat sich Aias von seinen Leidenschaften leiten lassen und ist unvernünftig geworden, während die Götter, so warnt Athene, nur die Vernünftigen lieben. In seinem Wahn nimmt sich Aias schließlich selbst das Leben. Agamemnon will ihm aufgrund seines gescheiterten Versuchs, das griechische Heer zu töten, ein Grab verweigern, was Teukros verhindern und Aias als unglückseligen Mann verstanden wissen will: «Und also sage ich, daß dies und alles stets den Sterblichen die Götter zubereiten».1 Da Odysseus weiß, dass alles passieren kann, wenn die Götter es so möchten2 und sich an Athenes Rat erinnert, löst er den Konflikt, indem er seinem Feind ein Grab zugesteht und auf diese Weise die Tugenden des Aias vor seinem Wahn anerkennt. Nun wird Odysseus vom Chor wegen seiner Weisheit, Gerechtigkeit und Güte als Held bejubelt und schließlich als der Beste aller Menschen anerkannt. Wie Agamemnon bemerkt, haben nicht die stärksten Männer die größte Macht, sondern die vernünftigen mit gutem Urteilsvermögen, da sie, wie im Fall des Odysseus, von den Göttern begünstigt werden.3 Sophokles entwirft damit das Bild eines klugen Odysseus, das sich stark von dem listigen unterscheidet,4
1 Sophokles: Aias. In: Ders.: Tragödien. Herausgegeben von Wolfgang Schadewaldt. Zürich– Stuttgart: Artemis 1968, S. 5v64, hier S. 48. 2 Ebda., S. 11. 3 Ebda., S. 62–64. 4 Rocío Orsi: El saber del error. Filosofía y tragedia en Sófocles. Madrid: CSIC 2007, S. 110. https://doi.org/10.1515/9783110610376-007
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das seit Homer5 bekannt ist und auch in anderen Stücken Sophokles’ gezeichnet wird.6 Ein Zeugnis von diesem heroischen Bild des Odysseus bietet bereits in der Renaissance Guillaume Budé, der ihn dank Athenes Gunst als den menschlichsten aller Helden betrachtet. Odysseus lässt sich von den Sirenen und seiner Neugierde nicht verführen, sondern kehrt zu der treuen Penelope zurück, ebenso wie der Weise zum Hof zurückkehrt, anstatt der Versuchung einer Zuflucht in das kontemplative Leben zu folgen.7 In vergleichbarer Weise verkörpert Budé als Ratgeber des François I. und königlicher Bibliothekar das Ideal des bürgerlichen Humanismus.8 Die Figur des Odysseus repräsentiert in den hier angeführten Beispielen ein Ideal, das die Vernunft über die Leidenschaften und den Willen stellt. Adorno und Horkheimer bekräftigen, dass sich auf diese Weise das Subjekt konstituiert und sich in Abgrenzung zu einer bedrohlichen Natur selbst bestätigt. Vor diesem Hintergrund zeigt die Vernunft einen instrumentellen Charakter, dessen Ziel die Herrschaft nicht nur der inneren, sondern ebenso der äußeren Natur des Menschen ist. Für Adorno und Horkheimer ist es also die instrumentelle Vernunft, die letztlich für die Herrschaft des Menschen über den Menschen, für Barbarei und für Sklaverei verantwortlich ist. In diesem Sinne lässt sich Odysseus auch als Urform des homo œconomicus definieren. Die Mittel, die er zur Selbstbestätigung als Subjekt sowie für einen guten Ausgang seiner Reise einsetzt, sind die List und die Täuschung höherer Kräfte. Damit bildet sich der instrumentelle Geist, der laut Adorno und Horkheimer den Charakter der abendländischen Kultur bestimmt. Das Wissen ist nicht an der Erlangung von Erkenntnis ausgerichtet, sondern am Kapital. Anstelle eines besseren Verständnisses der Natur wird der größtmögliche Vorteil angestrebt. Das Wissen der instrumentellen Vernunft ist somit im Sinne von Adorno und Horkheimer ein grundlegend technisches Wissen,9 das bestrebt ist, Erkenntisse als Mittel anzuwenden, um Macht zu erwerben.
5 Joseph Pérez: Una visión humanista de Europa a mediados del siglo XVI. El Discurso sobre Europa del doctor Laguna. In: Juan Luis García Hourcade/Juan Manuel Moreno Yuste (coord.): Andrés Laguna: Humanismo, Ciencia y Política en la Europa Renacentista. Valladolid: Junta de Castilla y León 2001, S. 51–60, hier S. 57. 6 William B. Stanford: El tema de Ulises. Madrid: Clásicos Dykinson 2013, S. 137. 7 Alain Michel: Guillaume Budé et la tradition antique. In: Comptes rendus des séances de l’Académie des Inscriptions et Belles Lettres, 2 (2002), S. 681–690, hier S. 682–684. 8 Zum bürgerlichen Humanismus vgl. Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance: Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. 9 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16–91.
6 Der Mythos von Odysseus und die neue klassische Tragödie
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Im 20. Jahrhundert wird der Mythos von Odysseus aus der Perspektive der intrahistoria wieder aufgegriffen. Die lineare Zeitlichkeit wird getilgt und mit ihr die Distanz von Vergangenheit und Gegenwart, die nunmehr verschmelzen.10 In diesem Sinne nähert sich Gonzalo Torrente Ballester dem Mythos von Odysseus im Jahr 1946.11 Mit seinem Theaterstück El retorno de Ulises behandelt Ballester, der vom europäischen philosophischen12 und literarischen13 Diskurs beeinflusst wurde, zum ersten Mal in der spanischen Literatur14 den Mythos im Sinne der kritischen Theorie der Nachkriegszeit. Torrentes Interesse am Mythos geht aus seiner eigenen persönlichen Erfahrung hervor; er wohnt dem Aufkommen der Totalitarismen in Europa bei, ihrem Höhepunkt sowie ihrem Verschwinden und beobachtet bei diesen Entwicklungen die Rolle des Mythos. Der Mythos kann nicht nur der Wahrheit gleichkommen, sondern sie bisweilen sogar überwinden. Auf diese Weise stellt der historische Kontext vor dem Spanischen Bürgerkrieg für Torrente einen Prozess dar, in dem klar beobachtet werden kann, wie die Mythen des José Antonio Primo de Rivera und des Francisco Franco geschaffen werden15 und wie aus ihrer Konfrontation der Mythos von Franco siegreich hervorgeht.16 Das Theaterstück kann somit als Dekonstruktion der mitopoiesis gelesen werden. Obwohl die erste Antwort des Autors auf den Mythos eine Entmythifizierung ist, bemerkt er später, dass der Mythos untrennbar mit der Wirklichkeit verbunden ist: Der Prozess der Entmythifizierung ersetzt eigentlich einen Mythos durch
10 In Übereinstimmung mit dem neuen Verständnis von Zeitlichkeit wie es im Existenzialismus vorliegt. Vgl. auch die Kapitel 4.1., 4.2.2. und 4.4.2. 11 Das Theaterstück wurde 1945 geschrieben, jedoch erst 1985 zum ersten Mal und einmalig an der Universität Salamanca aufgeführt. Außerdem wurde es als Schlussstück beim XXXII. Theaterfestival in Mérida unter dem Titel Oh, Penélope aufgeführt (José C. Paulino: Ulises en el teatro español contemporáneo. Una revisión panorámica. In: Anales de la Literatura Española Contemporánea, 19 (1994), S. 327–340, hier S. 340). 12 José Luis López Aranguren, der den Diskurs der Frankfurter Schule nach Spanien gebracht hat (Beatriz Caballero Rodríguez: Against instrumental reason: Neo-marxism and Spirituality in the Thought of José Luis L. Aranguren and Jesús Aguirre. Piera: Anagnórisis 2013, S. 14), hat wie auch Torrente Ballester bei der Revista Escorial (1940–1950) mitgewirkt. 13 Carmen Rivero: La guerre aura lieu: la actualidad del mito clásico en el teatro de Jean Giraudoux y Gonzalo Torrente Ballester. In: Anuario de Estudios Torrentinos, 13 (2015), S. 65–78. 14 Dies bestätigt Torrente selbst in seinen Gesprächen mit Carmen Becerra (Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 104). 15 Da Odysseus also ein Abbild des Primo de Rivera darstellt, ist es nicht möglich, dass Odysseus in Torrentes Stück «el exilio español» repräsentiert, wie Elizabeth Rogers: Myth, Man and Exile in El retorno de Ulises and ¿Por qué corres, Ulises?. In: Anales de Literatura Española Contemporánea, 9 (1984), S. 117–130, hier S. 125 behauptet. 16 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 52, 179.
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6 Der Mythos von Odysseus und die neue klassische Tragödie
einen anderen.17 Die Geschichte wird somit als ein fortschreitender Prozess der Mythifizierung, Entmythifizierung und erneuten Mythifizierung begriffen. In El retorno de Ulises greift Torrente Ballester den antiken Mythos also aus der Perspektive der intrahistoria auf, indem er ihn mit einem kollektiven Unbewussten in Verbindung bringt und als Teil der unmittelbaren Gegenwart präsentiert.18 Jean Giraudoux, in dessen Tradition sich Torrente Ballester sieht, war in gleicher Weise vorgegangen. Sowohl in La guerre de Troie n’aura pas lieu als auch in El retorno de Ulises gibt es Frauen, deren Ehemänner in einen absurden Krieg ziehen müssen. In Giraudoux’ Werk ist es die Trojanerin Andromache, die unter der Abwesenheit Hektors leiden muss; in Torrentes Stück ist es die Griechin Penelope, die auf Odysseus’ Rückkehr wartet. Sowohl Giraudoux als auch Torrente entmythifizieren die Figur des Odysseus und zeigen eine Verbindung zu Frankreich in der Zwischenkriegszeit auf der einen Seite und zum Spanien von Primo de Rivera und Franco auf der anderen. Neben der ausdrücklichen Anerkennung des Einflusses durch Giraudoux weist Torrente Ballester darauf hin, dass die aktuelle Interpretation eines traditionellen Mythos in einer literarischen Tradition steht, die weit zurückreicht bis zu Plautus, der griechische Themen römischen Kontexten anpasst.19 Trotzdem räumt er ein, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen vorherigen Neuschreibungen und denen im 20. Jahrhundert besteht, wo der Mythos notwendigerweise mit einer Kritik am Mythos einhergehen muss.20 Der antike Mythos wird im Sinne von Adorno und Horkheimer einem dialektischen Prozess unterworfen, der nicht nur die Besonderheit der antiken Rezeption, sondern auch der klassischen Tragödie im 20. Jahrhundert bestimmt, wie im Folgenden gezeigt wird.
6.1 Geschichte und Mythos Torrente Ballester stellt in El retorno de Ulises einen Prozess der Mythifizierung des gleichnamigen Helden während seiner langen Abwesenheit dar. Der mythische Odysseus, als herausragender Held von übermenschlicher Größe, der vor
17 Ebda., S. 63, 82–84. 18 So geht er später ebenso bei der Bearbeitung des antiken Mythos vor, den er in Ifigenia behandelt (Manfred Tietz: Das narrative Werk von Gonzalo Torrente Ballester: zwischen realismo social und ludischer Mythenkritik. In: Dietrich Briesemeister/Axel Schönberger (Hg.): Ex nobili philologorum officium. Festschrift für Heinrich Bihler zu seinem 80. Geburtstag. Berlin: Domus Editoria Europaea 1998, S. 545–574, hier S. 556). 19 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 75. 20 Ebda., S. 104.
6.1 Geschichte und Mythos
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den Toren Trojas gesiegt hat, steht im Gegensatz zum realen Odysseus,21 an den sich nur noch seine Ehefrau Penelope als sanftmütig erinnert.22 Wie Giraudoux hebt Torrente die Verantwortung des Intellektuellen im Prozess der Mythifizierung hervor, der auf einem Bündnis zwischen Wissen und Macht jenseits der Ethik beruht. Dies bekräftigt der Pakt zwischen Penelope und Mentor für die Erziehung des Telemachos: PENÉLOPE
Te encomiendo [no su educación sino] su vigilancia [. . .] él espera que Palas Atenea le acompañe en su viaje. ¡Insinúa, discretamente, que tú eres Palas Atenea!
MENTOR
Me obligas a una superchería vergonzosa porque Palas Atenea no existe [. . .]
PENÉLOPE
Yo duplicaré la paga y el éxito y el dinero te levantarán el ánimo. Con autoridad de diosa lo protegerás mejor de todos los peligros.23
Penelope nimmt die Hilfe eines Weisen und eines Dichters für die Schöpfung des Mythos in Anspruch. Das Erzählen seiner großen Heldentaten dient als Beweis, dass Odysseus am Leben ist, damit Penelope eine Heirat mit einem ihrer Bewerber vermeiden kann, die angesichts der langen Abwesenheit von Odysseus ungeduldig werden. Weit von historischer Realität entfernt, bilden die Heldentaten des Odysseus eine geschickt konstruierte epische Geschichte24 auf der Grundlage des Bündnisses zwischen Wissen und Macht, das besonders evident wird, als Telemachos’ Mentor nach Erzählungen über Odysseus fragt: MENTOR
(Después de una mirada de inteligencia a Penélope) Llegó hasta mí la fama de sus hechos.
TELÉMACO (Muy sorprendido) ¿Luego es famoso? MENTOR
(Nueva mirada consultiva. Penélope mueve la cabeza afirmativamente) ¡Como ningún héroe ni ningún hombre!25
21 José C. Paulino: Ulises en el teatro español contemporáneo. Una revisión panorámica, S. 333. 22 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 137–138. 23 Gonzalo Torrente Ballester: El retorno de Ulises. In: Ders.: Teatro 2. Barcelona: Destino 1982, S. 131. 24 Torrente geht somit von der Idee aus, dass Odysseus’ Abenteuer reine Fiktion sind, eine Idee, die bereits in der Antike bei Philostratos’ Palamedes zu finden ist (Fernando García Romero: Ulises en el teatro español del siglo XX. In: Cuadernos de Filología Clásica, 9 (1999), S. 281–303, hier S. 287). 25 Gonzalo Torrente Ballester: El retorno de Ulises, S. 134–135.
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6 Der Mythos von Odysseus und die neue klassische Tragödie
Der Zweck heiligt die Mittel, wie Penelope vor Telemachos bestätigt. Wenn die Täuschung der Staatsräson dienlich ist, darf sie nicht als unwürdig betrachtet werden. Der Mythos des Odysseus dient somit dem persönlichen Wohl der Königin, wie Korai ihr vorwirft: «pedir que se respete tu viudez, cuando el pueblo cree necesitar un rey, es oponer la razón privada a la razón de Estado».26 Penelope vertraut die Erziehung ihres Sohnes einem Weisen an, der den jungen Telemachos in einen machiavellischen Fürsten verwandelt: listig wie eine Schlange und stark wie ein Löwe.27 Mentors Erziehungsprogramm bei Torrente basiert auf einer Vernunft, die keine Mysterien zulässt28 — dieselbe Vernunft, der Max Weber die Existenz einer desillusionierten und technifizierten Welt zuschreibt. Ebenso wie Adorno und Horkheimer kritisiert Torrente Ballester in El retorno de Ulises eine instrumentelle Vernunft, die machtorientiert ist. Der Prozess der Entmythifizierung des Odysseus beginnt mit dem Wunsch Telemachos, Odysseus den Thron Ithakas zu entreißen. Mentor und Telemachos laufen zunächst die Orte ab, wo die Heldentaten von Odysseus erzählt werden. Verliebte Frauen, blinde Riesen, unglaubliche Großtaten, all dies bildet einen übermenschlichen Mythos, der seinen Sohn, Telemachos zu seinem bloßen Schatten macht, und dennoch, wie Helena enthüllt, nichts als Schwindel ist: TELÉMACO Es cierto que inventó lo del caballo de Troya pero ese ardid habría avergonzado a cualquier guerrero digno. Y [Helena] me explicó que todo lo demás era pura invención y que si Calipso, Circe o Nausicaa aseguraban que mi padre era un gran hombre, lo hacían para justificarse de habérsele entregado a la ligera y por compartir un poco de aquella gloria que ellas mismas habían inventado. Y si el gigante Polifemo y los Titanes proclamaban su heroísmo era por no pasar por la vergüenza de que alguien tan pequeño como Ulises los hubiera derrotado. Por eso te aseguré que mi padre no existió jamás. En efecto: no existió ese que has pintado sino un oscuro guerrero, bastante astuto [. . .] 29
Die Täuschungen des Odysseus, die nicht dem Willen der Götter entsprangen, werden als bloße männliche Eitelkeit beschrieben. Auf diese Weise verdeutlicht Torrente in El retorno de Ulises, dass die moderne Schöpfung eines Mythos stets mit seiner Entmythifizierung einhergehen muss, wie weiter oben erörtert wurde.30 Nach seiner Rückkehr kann sich der reale Odysseus, weit entfernt von dem Mythos, der um seine Figur konstruiert wurde, nicht in Penelopes
26 27 28 29 30
Ebda., S. 118–119. Ebda., S. 130. Ebda., S. 119. Ebda., S. 165–170. Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 157.
6.1 Geschichte und Mythos
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idealisiertem Teppich wiedererkennen.31 Es handelt sich um ein heroisches Bildnis eines übermenschlichen Odysseus, mit dem sich der menschliche Odysseus nach seiner Rückkehr nicht identifizieren kann.32 Odysseus begreift nicht, wieso ihm solche Erhabenheit zugeschrieben wird, während Penelope angesichts einer Realität desillusioniert wird, die nicht mit dem während seiner Abwesenheit erschaffenen Mythos übereinstimmt. Sie fürchtet sogar, dass seine Diener ihn nicht wiedererkennen; sie stellen sich ihn als einen edelmütigen und großen Mann vor, doch ist er nicht mehr als ein müder alter Mann, der eher wie ein Bettler als wie ein Held aussieht: PENÉLOPE si llamas y se congregan súbditos y sirvientes no te reconocerán. Ellos te creen grandioso y soberbio y no pareces más que un hombre envejecido y fatigado, con los vestidos rotos, como un mendigo [. . .] Permanece en secreto hasta mañana. Te ocultaré y que el descanso devuelva el vigor a tu figura. Por la mañana, vestidas las ropas de guerra, el casco y la loriga resplandecientes, en la mano el escudo de bronce sonoro y la lanza poderosa, como un dios que bajase a la tierra, serás el que ellos admiran y caerán a tus pies maravillados. 33
Sowohl Penelope als auch Eumaios drängen Odysseus, als Herrscher so in Erscheinung zu treten, wie es seine Untertanen von ihm erwarten. Dies habe er der Idee zu verdanken, die alle von ihm haben, selbst wenn Odysseus selbst sie übertrieben und falsch findet. So planen sie,34 ihn als Gott zu verkleiden, sodass ihn alle für den halten, den sie bewundern und ehren. Während Odysseus sich bei seiner Rückkehr nicht in seinem Mythos wiedererkennt, wurde Telemachos durch Mentor zum Ebenbild des mythischen Odysseus erzogen. Telemachos verlässt Ithaka als schüchterner junger Mann und wird bei seiner Rückkehr von der Menge als Held bejubelt.35 Der Schatten seines Vaters, der ihn erdrückt und sein Glück zerstört, verschwindet, als er Odysseus entlarvt, indem er die Falschheit der in Rhapsodien idealisierten Heldentaten offenbart. Der Abstieg in den Hades, Polyphem und die Sirenen werden zu epischen Konstruktionen, deren Realität mehr als zweifelhaft ist.36 Deshalb drängt Telemachos Odysseus dazu, sein Heldentum durch
31 Penelope hat in der Tat einen Odysseus als übermenschlichen Helden konstruiert (Elizabeth Rogers: Myth, Man and Exile in El retorno de Ulises and ¿Por qué corres, Ulises?, S. 119). 32 Gonzalo Torrente Ballester: El retorno de Ulises, S. 158–159. 33 Ebda., S. 162. 34 Damit präsentiert Torrente eine kalkulierende und intrigante Penelope (José C.Paulino: Ulises en el teatro español contemporáneo. Una revisión panorámica, S. 338). 35 Gonzalo Torrente Ballester: El retorno de Ulises, S. 162–175. 36 Ebda., S. 186–189.
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6 Der Mythos von Odysseus und die neue klassische Tragödie
die Prüfung mit dem Bogen zu zeigen, dieselbe Prüfung, die Penelope in der Odyssee vor einer möglichen Hochzeit von ihren Freiern verlangt und die Odysseus schließlich dazu bringt, die Bewerber seiner treuen Gattin zu töten. In Torrentes Theaterstück jedoch wird Odysseus geschlagen. Als die Bogensehne in seinen Händen schließlich nachgibt, schießt er den Pfeil in die Ferne und offenbart seinen Betrug. Telemachos hingegen, der nun dem mythischen Bild des Odysseus mehr entspricht als Odysseus selbst, bewältigt die Prüfung und erlangt somit die Hand Korais, die mit einer Heirat auf den wahren Sohn des Odysseus gewartet hat. Auf diese Weise stellt das Ende des Theaterstücks heraus, dass die Prozesse der Mythifizierung stets durch bestimmte Interessen motiviert und durch Machtgefüge bestimmt sind. Schließlich stellt das Stück eine Kritik an diktatorischen, machiavellischen und kapitalistischen Regierungsformen dar. Die Verwandlung des Odysseus in einen Helden hat Ithaka weltweit Ruhm und Größe eingebracht. Diese Propaganda fördert nicht nur den Zustrom von Reisenden und wirtschaftlichen Aufschwung, sondern trägt ebenso zum Frieden des Staates bei, der für eine Weiterentwicklung des Reichtums nötig ist, solange sich niemand einer Nation entgegenstellt, die zuvor von einem epischen Helden geführt wurde.37 Torrente Ballester macht auf diese Weise deutlich, dass die diktatorischen Strategien, die später zum sogenannten spanischen Wirtschaftswunder führen würden, sich sehr viel früher zu entwickeln begonnen haben, als einige Geschichtsschreiber behaupten.38 Der Autor glaubt jedoch nicht an ein Spanien als Produkt des Wirtschaftswunders, der Touristeninvasion, der politischen Unterdrückung sowie der ideologischen und moralischen Zensur.39 Stattdessen kritisiert er, dass der Wohlstand und die Stabilität, die die Diktatur verspricht, auf einem Betrug basieren. Torrente richtet sich nicht nur an jene, die im Namen des Eigennutzes und mit der Unterstützung der Intellektuellen eifrig einen Mythos konstruieren, sondern ebenso an die Mehrheit des Volkes. Obwohl Penelope den Mythos des Odysseus schafft und Korai ihn fortführt, wird Odysseus, wie der Priester von Zeus aufzeigt, schließlich in Ithaka vergöttlicht, indem ihm Tempel und Statuen errichtet werden und er über die Götter gestellt wird.40
37 Ebda., S. 143. 38 Stanley Payne: Franco y José Antonio: el extraño caso del fascismo español : historia de la Falange y del movimiento nacional (1923–1977). Barcelona: Planeta 1997, S. 52; Enrique Moradiellos: La España de Franco (1939–1975). Política y sociedad. Madrid: Síntesis 2000, S. 137–147; Lino Camprubí: Los ingenieros de Franco. Barcelona: Crítica 2017. 39 Manfred Tietz: La búsqueda de la identidad española en la obra de Juan Goytisolo y Gonzalo Torrente Ballester. In: Iberoamericana, 2/3 (1985), S. 5–18, hier S. 5. 40 Gonzalo Torrente Ballester: El retorno de Ulises, S. 145.
6.1 Geschichte und Mythos
177
Wenngleich die Entmythifizierung des Odysseus im 20. Jahrhundert nicht zum ersten Mal geschieht,41 kann diesen beiden klassischen Tragödien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Versuch zugeschrieben werden, die untrennbare Verbindung von Mythos und Macht sowie ihre negativen Auswirkungen auf die Geschichte zu verdeutlichen. Ihre Helden sind sich des fiktiven Charakters des Mythos bewusst: Hektor in La guerre de Troie n’aura pas lieu, indem er die Lüge aufzeigt, auf die sich der Trojanische Krieg gründet,42 Odysseus in Torrentes Stück, indem er sich nach seiner Rückkehr nach Ithaka in dem Mythos, der von seiner Figur geschaffen wurde, nicht wiedererkennen kann: EUMEO ¡Verdaderamente, tienes aspecto marcial, casi divino! ULISES Me falta el gesto. Fíjate en él: brío, arrogancia, grandeza [. . .] EUMEO Eres demasiado escrupuloso, Ulises, y no tan astuto como tu fama dice. Si te dejara, aparecerías ante el pueblo con una sencilla túnica y el pueblo se sentiría defraudado. Tiene razón Penélope: te debes a la idea que todos tienen de ti. ULISES ¡Pero si es una idea exagerada, o falsa, o. . .! EUMEO No importa. Siempre has sido un buen político.43
Für beide Autoren verbirgt sich also hinter der Mythifizierung des Odysseus bloßer Wille zur Macht. So zeigt sich wieder, dass im 20. Jahrhundert Mythos und die Kritik an eben demselben Mythos untrennbar sind.44 Wie Barthes später aufzeigen wird, hebt der Mythos die Komplexität menschlicher Handlungen auf, beseitigt jegliche Dialektik und organisiert eine klare und eindeutige Welt ohne Widersprüche. Um dies zu vermeiden, soll der Mythos selbst als Täuschung
41 Odysseus wurde bereits im antiken Rom entmythifiziert. Die Æneis wird Vergil vom Kaiser Augustus aufgetragen, um das Reich zu rühmen. Die Erben Trojas konnten nicht anders, als den niederträchtigen und betrügerischen Autor zu entthronen, der den Fall der Stadt mit sich brachte, und ihm einen Nationalhelden entgegenzustellen: Æneas. Aus derselben Perspektive lässt Dante, der die Überlegenheit des römischen Reichs und dessen Recht, andere Völker zu regieren, unterstützt, Odysseus in den Höllen seiner Divina Commedia auftreten als Strafe für seinen Betrug Trojas. 42 Jean Giraudoux: La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 159. 43 Gonzalo Torrente Ballester: El retorno de Ulises, S. 175. 44 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 104.
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6 Der Mythos von Odysseus und die neue klassische Tragödie
erkannt werden, um den Trug aufzulösen und schließlich seine eigentliche Intention zu entlarven.45 Der antike Mythos wird im 20. Jahrhundert nicht nur aus dialektischer Perspektive behandelt, sondern ebenso im Sinne der intrahistoria. Dabei sollen seine verborgenen Aspekte enthüllt werden, um aufzuzeigen, auf welche Weise sie die unmittelbare Gegenwart mitkonstituieren. Im Gegensatz zur griechischen Tragödie, in der die Verantwortung für das Schicksal der Menschen in die Hände der Götter gelegt wird, wird in der Tragödie des 20. Jahrhunderts die Verantwortung des Menschen für sein eigenes Schicksal nachdrücklich betont. Der Trojanische Krieg wurde durch Habgier und das Streben des Menschen nach Ruhm und Macht verursacht. Auch für Torrente drückt sich die moderne Tragödie in dem Krieg aus, der auf der Grundlage künstlich konstruierter Mythen ein Resultat der machtorientierten instrumentellen Vernunft ist. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Giraudoux’ Theaterstück einige wesentliche Aspekte der klassischen Tragödie der Nachkriegszeit antizipiert: die Dekonstruktion des antiken Mythos; die Negierung absoluter Helden; das Bewusstsein des Helden über den fiktionalen Charakter des Mythos (die Peripetie findet also ohne Anagnorisis statt); die Analyse des antiken Mythos aus der Perspektive der intrahistoria; die Ablehnung von Transzendenz zugunsten der Immanenz (das Schicksal des Menschen hängt nicht mehr von den Göttern ab, sondern ausschließlich vom Menschen selbst). Die Inspiration des französischen Theaters der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die antiken Mythen46 und seine Wirkung auf die spanische Tragödie der Nachkriegszeit kann in diesem Sinne nicht nur als Kritik der humanistischen Tradition47 sondern auch der traditionellen Konzeption des antiken Dramas verstanden werden.48
45 Roland Barthes: Mythologies. S. 235–257. 46 Françoise Jouan: Le retour au mythe grec dans le théâtre française contemporain. In: Bulletin de l’Association Guillaume Budé, 1 (1952), S. 62–79; Wolf Albes: Jean Giraudoux, La Guerre de Troie n’aura pas lieu (1935) und Jean Anouilh, Antigone (1942), S. 100–149. 47 In diesem Sinne betont Quilliot Giraudoux’ Kritik an der Rationalität und am Anthropozentrismus eines geschlossenen und dogmatischen Humanismus, der an eine Moral der Unterdrückung gebunden ist (Roland Quilliot: La condition humaine dans le theâtre de Giraudoux, S. 94–96). 48 Manfred Fuhrmann: Mythos als Wiederholung in der griechischen Tragödie und im Drama des 20. Jahhunderts. In: Ders. (Hg.): Terror und Spiel: Probleme der Mythenrezeption. München: Fink 1971, S. 121–143, hier S. 128. Die besondere Bedeutung der Antike für das französische Theater erklärt aus dieser Perspektive die übermäßige Anzahl an Dramen von antiken Thematiken während der ersten Hälfte des Jahrhunderts.
7 Die Pluralität des Humanismus Der zweite Humanismus entsteht im Zuge einer Kritik am ersten Humanismus, die auf der Grundlage eines neuen Kanons zu einem neuen Menschenbild und Moralbegriff führt, wie in den vorangegangenen Kapiteln erörtert wurde. Analog zu dieser Entwicklung besteht der dritte Humanismus in einer Kritik, die auf einem neuen Vernunftideal und seiner dialektischen Auffassung von Wirklichkeit basiert. Er richtet sich in seiner Vielfältigkeit nach den jeweiligen Gegensätzen, die die Thesen vorangegangener Humanismen dialektisch ergänzen. Der dritte Humanismus äußert sich also in einer Pluralität und findet in verschiedenen Diskursen einen Ausdruck, die mitunter im Gegensatz zueinanderstehen, wie es beispielsweise beim christlichen und existenzialistischen Humanismus der Fall ist. Der christliche Humanismus setzt sich für eine Einheit von Vernunft und Glauben ein,1 die laut Unamuno mit den Anfängen des zweiten Humanismus zerstört wurde: A descatolizar Europa han contribuido el Renacimiento, la Reforma y la Revolución, sustituyendo aquel ideal de una vida ultraterrena por el ideal del progreso, de la razón, de la ciencia [. . .] Y la famosa maladie du siècle [. . .] no era ni es otra cosa que la pérdida de la fe en la inmortalidad del alma.2
Unamuno kritisiert die Idee von einem Europa, das die Reformationsländer Frankreich und Deutschland prägen, während die Peripherie, zu der er Spanien zählt, ignoriert wird. Das Wesen Spaniens liegt für Unamuno in der Gegenreformation. Deshalb muss es dazu beitragen, Europa wieder zu beseelen und von der neuen Wissenschaftsinquisition zu befreien. Im Sinne dieser Kritik bekräftigt Jacques Maritain, dass das Laster des Humanismus der Renaissance nicht in dem liegt, was er bejaht, sondern in dem, was er negiert:
1 Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida. Madrid: Alianza 1997, S. 304–311. Insgesamt verficht Unamuno in seinem Werk eine dialektische Auffassung von der Wirklichkeit, die nicht nur auf dem Gegensatzpaar von Vernunft und Glauben beruht, sondern ebenso von Wissenschaft und Leben, Äußerlichkeit und Innerlichkeit, Historia und intrahistoria (Paul Olson: The novelistic Logos in Unamuno’s Amor y pedagogía. In: Modern Languages Notes, 84 (1969), S. 249–268, hier S. 261), sowie von Allgemeinem und Besonderem, Notwendigkeit und Zufall, Traum und Realität (Rosendo Díaz Peterson: Estudios sobre Unamuno. Madrid: Verbum 2013, S. 210–260). 2 Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida, S. 301–302. https://doi.org/10.1515/9783110610376-008
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7 Die Pluralität des Humanismus
alles nämlich, was die Vernunft übersteigt. Maritain betont, dass die Versprechen, die auf Optimismus und Vertrauen in die Macht der Vernunft beruhen, nicht zur Glückseligkeit des Menschen geführt haben, wie die Geschichte bezeugt.3 Das Problem liegt für Maritain darin, dass der Mensch Gott entsagt hat und in seiner Selbstgenügsamkeit den Bezug zu seiner Seele verloren hat. Im Zuge dessen komme der dionysische Übermensch auf, der sich in den Konzentrationslagern Chinas, dem Spanischen Bürgerkrieg sowie in einem Europa offenbart, das sich für den Zweiten Weltkrieg rüstet.4 Sartre hingegen tadelt beim zweiten Humanismus, dass er die Idee Gottes nicht vollständig abschaffen konnte. Sie habe zu einem Menschenbild geführt, durch das der Mensch nicht zur vollständigen Verwirklichung gelangen konnte.5 Deshalb schlägt er vor, wie im Folgenden gezeigt wird, den Humanismus auf der Grundlage einer dialektischen Auffassung des Seins neu zu definieren, die sowohl seine Bejahung wie seine Negation beinhaltet. Der dritte Humanismus steht sowohl der vorherigen humanistischen Tradition als auch der Antike kritisch gegenüber. Doch bereits im Ciceronianus bemerkt Erasmus: «es ist sehr wohl möglich, daß derjenige am ehesten an Cicero heranreicht, der ihm am wenigsten gleicht, das heißt, der sich zwar ganz vorzüglich und angemessen aber, der völlig veränderten Situation entsprechend, völlig anders ausdrückt».6 Das antike Erbe besteht auf diese Weise im 20. Jahrhundert fort und zwar lebendiger als je zuvor. Dabei wird es nicht unreflektiert erneuert, sondern angepasst an die Komplexität der neuen Zeit und entsprechend überarbeitet und transformiert.
3 Maritain nimmt dabei die Fortschrittsidee in sein christliches Denken auf, wodurch er sich vom Traum einer christlichen Gesellschaft im mittelalterlichen Sinn verabschiedet (Philippe Chenaux: ‹Humanisme intégral› (1936) de Jacques Maritain. Paris: Cerf 2006, S. 101). 4 Jacques Maritain: Scholasticism and Politics. London: Geoffrey Bles, The Centenary Press 1945. [1940 als Sammlung seiner Vorträge an der Universität Chicago veröffentlicht], S. 2–5. Später, im Jahr 1975, schlägt Welte ebenso einen neuen Humanismus vor, der angesichts der in der zeitgenössischen Gesellschaft verbreiteten Tendenzen zur Immanenz, dem Menschen einen Rahmen für seine ganzheitliche, d.h. sowohl transzendente als auch immanente Entwicklung, ermöglichen soll (Bernhard Welte: Der Gedanke des neuen Humanismus (1975). In: Ders.: Zu Fragen der Bildung und Erziehung und zu einem neuen Humanismus. Freiburg im Breisgau: Herder 2009, S. 63–76, hier S. 74). 5 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme. Paris: Gallimard 1996, S. 26–29. 6 Erasmus von Rotterdam: Dialogus cui titulus Ciceronianus sive de optimo dicendi genere. Herausgegeben von Werner Welzig und Wendelin-Schmidt-Dengler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S. 189.
7.1 Heideggers Kritik der traditionellen Ontologie
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7.1 Heideggers Kritik der traditionellen Ontologie: Zu einer neuen Konzeption des Menschen Das Verhältnis des 20. Jahrhunderts zur Antike wird von Ortega beschrieben: Creíamos ser herederos de un pasado magnífico y que podíamos vivir de su renta. Al apretarnos ahora el porvenir un poco más fuertemente de lo que solía en las últimas generaciones, miramos atrás buscando, como nos era habitual, las armas tradicionales; pero al tomarlas en la mano hallamos que son espadas de caña [. . .] y súbitamente nos sentimos desheredados, sin tradición, como recién llegados a la vida, sin predecesores. [. . .] Nuestra herencia consistía [. . .] en los clásicos. Pero la crisis europea, que es la crisis del mundo, puede diagnosticarse como una crisis de todo clasicismo. Tenemos la impresión de que los caminos tradicionales no nos sirven para resolver nuestros problemas.7
Um zu leben, kritisiert der Geist einer Epoche laut Ortega seine eigene Vergangenheit und negiert sie sogar; doch gibt es keine Kritik an der Geschichte, die diese nicht zugleich lebendig hielte. Die Moderne kann die Antike also nur überwinden, indem sie sie zugleich bewahrt. Dem antiken Erbe sollen neue Konzepte hinzugefügt werden, die ihre Neuartigkeit nachzuweisen haben. Hierzu muss sich das neue Konzept notwendigerweise mit der Antike auseinandersetzen, indem es sie partiell ablehnt oder bejaht.8 Auf diese Weise verfährt Heidegger in seiner neuen Philosophie, indem er die Frage nach dem Sein, ausgehend von einem platonischen Zitat aus dem Sophistes, neu stellt.9 Mit diesem Zitat eröffnet Heidegger Sein und Zeit und seine Kritik der antiken Ontologie, die zu einer neuen Konzeption des Menschen führt und die Entwicklung des dritten Humanismus in Frankreich und Spanien maßgeblich beeinflusst, wie im Folgenden gezeigt wird. Heidegger wirft der traditionellen Ontologie drei Vorurteile über das Sein vor, die das abendländische Denken bis in das 20. Jahrhundert hinein bestimmen. Erstens wurde das Sein als der allgemeinste Begriff definiert, der alles
7 José Ortega y Gasset: Goethe desde dentro. In: Ders.: Obras completas. Band V. Madrid: Taurus, 2006, S. 109–250, hier S. 121. 8 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X. In: Ders.: Obras completas. Band VIII. Madrid: Taurus. 2008, S. 359–376, hier S. 359. 9 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006, S. 1: « ‹Denn offenbar seid ihr doch schon lange mit dem vertraut, was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck seiend gebraucht, wir jedoch glaubten es einst zwar zu verstehen, jetzt aber sind wir in Verlegenheit gekommen› [Plato, Sophistes, 244a]. Haben wir heute eine Antwort auf die Frage nach dem, was wir mit dem Wort seiend eigentlich meinen? Keineswegs. Und so gilt es denn die Frage nach dem Sinn von Sein erneut zu stellen».
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7 Die Pluralität des Humanismus
Seiende umfasst; zweitens wurde er als nicht definierbarer Begriff deklariert; drittens wurde das Sein als gegeben und selbstverständlich vorausgesetzt. Aus traditioneller Perspektive ergibt die Frage nach dem Sein folglich keinen Sinn, sodass sie aus einer neuen Perspektive formuliert werden muss10: der der Phänomenologie, die es erlaubt, methodologisch bei null zu beginnen und, wie zuvor Descartes, alles bisher Gegebene anzuzweifeln.11 Einerseits überwindet die Phänomenologie den ontologischen Dualismus Platons, der zwischen Schein und Realität unterschied, denn das Phänomen zeigt sich als das, was es ist; es ist das «Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare».12 Die Phänomenologie als Methode der Ontologie trennt somit die Philosophie von transzendentaler Spekulation und führt zur Welt der Erfahrung. Gleichzeitig verwirft die Phänomenologie den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, auf dessen Grundlage sich die traditionelle Ontologie entwickelt. Das Dasein, die Existenz des Menschen, ist für Heidegger nur in seinem Bezug zur Welt möglich. Es gibt also nicht, wie bei Kant, eine Trennung von Subjekt und Objekt oder ein Subjekt, dessen Bezug zur Welt erst herzustellen ist. Heidegger definiert das Dasein als In-der-Welt-Sein. Subjekt und Objekt sind Teil derselben Welt, in der die Dinge in ihrer Totalität untereinander in Beziehung stehen. Andererseits hat die traditionelle Ontologie laut Heidegger das Sein mit dem Seienden verwechselt. Zu sagen, dass etwas ist, impliziert nicht notwendigerweise, dass wir wissen, was es ist. Deshalb setzt Heidegger eine ontologische Differenz zwischen beiden. Das Sein definiert er als Kontext oder Horizont, innerhalb dessen sich das Seiende erst manifestieren kann. Jedes Seiende ist nur durch seine Bedeutung in der Welt zu verstehen; sein Bezug zur Welt bestimmt sein Sein. Dieses Prinzip kann auf das Dasein, also die menschliche Existenz bezogen werden, aber auch auf jeden anderen Gegenstand, also jedes Seiende. Die Beschreibung eines Hammers als Stück Holz, verbunden mit einem Stück Eisen, sagt nichts darüber aus, was ein Hammer ist. Was er ist, verstehen wir nur, wenn wir ihn in Bezug zu anderen Elementen der Realität setzen, wie z.B. einem
10 Ebda., S. 2–5. 11 Ebda., S. 27–28: «Der Titel Phänomenologie drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ‹zu den Sachen selbst!›– entgegen allen freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, entgegen der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen, entgegen den Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch als Probleme breitmachen. Diese Maxime ist aber doch [. . .] reichlich selbstverständlich und überdies ein Ausdruck des Prinzips jeder wissenschaftlichen Erkenntnis». 12 Ebda., S. 28.
7.1 Heideggers Kritik der traditionellen Ontologie
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Nagel. Schließlich kann bestimmt werden, was ein Hammer ist, wenn jemand ihn benutzt, um einen Nagel in die Wand zu hämmern, der beispielsweise ein Bild halten soll. Ausgehend von dieser ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem ist das individuelle Sein nicht einfach in der Gegenwart gegeben, sondern sein Verständnis wird erst durch seine Bezüge zu Vergangenheit und Gegenwart möglich. Die Zeit stellt somit eine fundamentale Kategorie für das Verständnis von Sein dar, indem es den Rahmen bildet, in dem die Dinge in der Welt sinnhafte Bezüge untereinander herstellen können. Heidegger kritisiert daher, dass der Bezug zur Zeit für das Verständnis des Seins in der traditionellen Ontologie außer Acht gelassen wurde, die das Seiende als etwas bloß gegenwärtiges ohne Bezug zu Vergangenheit und Zukunft begriffen hat. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlaufen laut Heidegger nicht getrennt und linear, sondern bilden eine Einheit: Zukünftig auf sich zurückkommend, bringt sich die Entschlossenheit gegenwärtigend in die Situation. Die Gewesenheit entspringt der Zukunft, so zwar, dass die gewesene (besser gewesende) Zukunft die Gegenwart aus sich entläßt. Dies dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit.13
Das Seiende entsteht in einer Folge von Möglichkeiten, die sich in der Zeit aktualisieren. Das Sein ist folglich niemals vollständig, da es seine Totalität, sein Ganzseinkönnen, nur dann erreicht, wenn vor ihm keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten mehr liegen. Mit anderen Worten erreicht das Sein seine Totalität erst mit dem Tod, im Nicht-mehr-da-sein.14 Das Sein wird von Heidegger als ein Sein zum Tode definiert. Der Tod stellt die einzige Existenzmöglichkeit dar, die mit Gewissheit geschehen wird. Das Dasein, die menschliche Existenz, zeichnet sich folglich durch die Angst vor der Zeit und dem Tod aus. Schließlich kritisiert Heidegger die humanistische These der Überlegenheit des Menschen über alle anderen Wesen aufgrund seiner Vernunft. Für Heidegger soll der Mensch eine Welt ausgehend vom Sein konstruieren, eine Welt, in der der Mensch nicht mehr das Zentrum bildet. Aus einem neuen Bezug zur Welt soll ein neues Denksystem entstehen, das sich nicht durch absolute Wahrheiten, sondern durch die Frage nach dem Sein auszeichnet.
13 Ebda., S. 326. 14 Ebda., S. 236.
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7 Die Pluralität des Humanismus
7.2 Der existenzialistische Humanismus Ausgehend von Heideggers neuem Ontologiebegriff15 sucht Sartre in L’être et le néant den antiken Dualismus von Sein und Erscheinung durch den Monismus des Phänomens abzulösen. In der Antike wurde der Schein – wie alles, was Illusion, Fehler oder schlicht kein sicheres Sein bedeutet – rein negativ aufgefasst. In Anlehnung an Nietzsche schlägt Sartre hingegen vor, an kein anderes Sein zu glauben, als jenes, das uns erscheint: Car l’être d’un existant, c’est précisément ce qu’il paraît. Ainsi, parvenons-nous à l’idée de phénomène, telle qu’on peut la rencontrer, par exemple, dans la Phénoménologie de Husserl ou de Heidegger [. . .] Le phénomène peut être étudié et décrit en tant que tel, car il est absolument indicatif de lui-même.16
Sein und Erscheinung sind identisch. Durch Heideggers Kritik der traditionellen Metaphysik inspiriert, findet Sartre in der Annahme, dass die Existenz dem Wesen vorausgeht, ein gemeinsames Merkmal aller Existenzialismen und eine neue Definition des Menschen. Auf diese Weise stellt sich der Existenzialismus der Annahme, dass die Essenz der Existenz vorausgehe oder, um es mit Sartre zu sagen, einem technischen Weltbild entgegen. Die Essenz eines Brieföffners bzw. seine Funktion des Öffnens von Briefen, geht also seiner Existenz voraus. Ebenso geht die traditionelle Metaphysik von einem Plan Gottes als Schöpfer des Menschen aus, der laut Sartre dem Plan im Kopf des Fabrikanten eines Brieföffners gleicht. Gott schafft den Menschen anhand eines konkreten Konzeptes, so wie der Fabrikant den Brieföffner produziert, um Briefe zu öffnen. Die Aufklärer, beklagt Sartre,
15 Sartres Humanismus wird von Heidegger hingegen abgelehnt. Sartres These, dass die Existenz der Essenz vorausgeht, stellt laut Heidegger eine Antwort auf einen traditionellen essentialistischen Humanismus dar, den Sartre durch einen ebenso essentialistischen Humanismus überwinden will. Für Heidegger jedoch ist der Mensch Hüter des Seins und seine dignitas liegt in seiner Nähe zum Sein (Alain Flajoliet: Sartre, Heidegger et la question de l’humanisme. In: Gerard Wormser (Hg.): Jean Paul Sartre: du mythe à l’histoire. Lyon: Parangon 2005, S. 133–162, hier S. 134–141; Deborah Evans: 1945–2005. Existentialism and Humanism sixty years on. In: Benedict O’Donohoe/Roy Elveton (Hg.): Sartres Second Century. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars 2009, S. 73–85, hier S. 79). Die Unterschiede im Denken beider Philosophen führt Lévy dazu, zu bestreiten, Sartre sei der französische Heidegger (Bernard Henri Lévy: Le siècle de Sartre. Paris: Grasset 2000, S. 171). Doch gerade diese Unterschiede zeigen die Originalität von Sartres Philosophie (Yves Charles Zarka: Sartre à l'épreuve. L’engagement au risque de l'histoire. Paris: Presses Universitaires de France 2005, S. 6) und legen so die Grundlage für eine spezifische Entwicklung des Humanismus in Frankreich. 16 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. Paris: Gallimard 1943, S. 12.
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nehmen die Vorstellung Gottes zwar nicht in ihre Theorie mit auf, wohl aber die Annahme, dass die Essenz der Existenz vorangeht. Für Diderot oder Kant ist der Mensch individueller Ausdruck einer universalen Idee des Menschen. Sowohl der Bürger als auch der Wilde zeugen von einem gemeinsamen Ursprung; die Essenz gehe ihrer historischen Existenz voraus. Im Gegensatz dazu existiert laut Sartre der Mensch zunächst, um sich erst daraufhin selbst zu definieren – daher der berühmte Spruch, dass man nicht als Mensch geboren ist, sondern es erst wird. Erst auf dieser Grundlage kann bei Sartre von der dignitas hominis17 gesprochen werden, die den Menschen von allem übrigen Sein, belebt oder unbelebt, unterscheidet. Somit ist die existenzialistische Philosophie für ihn die einzige, die dem Menschen Würde bringen kann. Der Mensch ist nichts anderes, als sein Entwurf und ihm kommt die Verantwortung für seine eigene Existenz nicht nur auf individueller, sondern ebenso auf kollektiver Ebene zu. Sartre gibt das Beispiel einer Entscheidung, die eigentlich eine persönliche ist: Ein Mensch entscheide, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Mit seiner Entscheidung wählt dieser Mensch die Monogamie jedoch nicht nur für sich selbst, sondern ebenso für die Menschen seiner Kultur und Epoche. Wer hingegen die Polygamie wählt, öffnet gleichzeitig der Menschheit einen revolutionären Weg. Dabei erlangt jede Entscheidung ihren Wert im Gegensatz zu anderen nicht gewählten Möglichkeiten sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene. Wenn sich eine Person für die eine oder andere Berufung entscheidet, Priester oder Revolutionär sein will, so ist es eine persönliche Entscheidung, die dennoch die übrigen Menschen betrifft. Der Mensch existiert, indem er sich zugleich als Mensch definiert und diese Entscheidung gilt für alle und eine ganze Zeitspanne. Das Bewusstsein dieser großen Verantwortung impliziert für Sartre eine zentrale Angst für den Menschen. Wer keine Angst kennt, meidet sie bloß, versteckt und verbirgt sie. Der Mensch soll sich laut Sartre stets die Frage stellen, ob er das Recht hat, auf die eine oder andere Weise zu handeln, da sich jede seiner Handlungen auf die gesamte Menschheit auswirkt. Dabei handelt es sich nicht um eine Angst, die zu Quietismus oder Passivität führt, sondern eine, die jedem vertraut ist, der Verantwortung übernimmt. Beispielsweise wer eine wichtige gesellschaftliche Stellung innehat, kennt diese Angst, die die Tragweite und Konsequenzen seiner Entscheidungen mit sich bringen, was ihn jedoch deshalb nicht daran hindert, diese Entscheidungen zu treffen.18
17 Vgl. Fußnote 31. 18 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme, S. 26–36.
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Die Tatsache, dass die Existenz der Essenz vorausgeht, führt nicht nur zu einem anderen Begriff des Menschen als im ersten und zweiten Humanismus, sondern ebenso zu einem neuen Moralbegriff, da die Existenz von Werten a priori nicht behauptet werden kann. Der Mensch wird somit gänzlich verantwortlich für jede einzelne seiner Handlungen; er ist dazu verdammt, frei zu sein. Der Faschismus oder der Stalinismus – die somit nicht Ergebnis einer unvermeidbaren historischen Entwicklung sind – werden in diesem Sinne in die volle Verantwortung eines jeden Individuums gelegt.19 Die zuvor etablierten ethischen Systeme geben laut Sartre keine Antwort auf bestimmte Problematiken des Menschen, was er beispielhaft an einem Dilemma eines Studenten verdeutlicht, der an die Front möchte, um seinen Bruder zu rächen, der unter der Besetzung der Nationalsozialisten gestorben ist. Würde er jedoch an die Front gehen, müsste er seine Mutter allein lassen, die nur für ihn lebt. Aus diesem Beispiel zieht Sartre die Schlussfolgerung, dass keine universal gültige Moral existiert, die das Dilemma lösen könnte. Der Mensch ist absolut verantwortlich für seine eigene Wahl. Das Leben hat keinen Sinn a priori; es ist der Mensch, der ihm durch seine persönlichen Entscheidungen Sinn verleiht.20 Der innovative Charakter von Sartres Philosophie in Bezug auf den traditionellen Humanismus liegt letztendlich in seiner dialektischen Konzeption des Menschen,21 seiner Moral22 sowie seiner historischen Entwicklung.23 Das An-sichsein ist bei Sartre unveränderlich; das Für-sich-sein hingegen hält Möglichkeiten der Veränderung bereit, da es das Sein ist, das noch nicht ist. Es stellt auf diese Weise die Negation des An-sich-seins dar, mit dem es nur im Tod als Abwesenheit anderer Möglichkeiten zusammenläuft. Der Mensch ist in der Lage, sich in einem
19 Ebda., S. 26–51. 20 Ebda., S. 74. 21 R. Olschanski: Aspekte des Möglichkeitsdenkens. Aristoteles, Hegel, Sartre und Bloch. In: System und Struktur, 7/1–2 (1999), S. 47–68, hier S. 59; Raul Fornet Betancourt: L’humanisme solidaire de Sartre: anticipation de l’universalité et de la philosophie. In: Alfredo Gómez Müller (Hg.): Sartre et la culture de l’autre. Paris: L’Harmattan 2006, S. 145–160. 22 Arno Münster: Sartre et la morale. Paris: L’Harmattan 2007, S. 74. 23 In diesem Sinne ist für Sartre Marx’ Auffassung vom Menschen als Marionette sozioökonomischer Bedingungen verkürzt (André Constantino Yazbek: Sartre et Althusser: Le marxisme, est-il un humanisme? In: Emmanuel Barot (Hg.): Sartre et le marxisme. Paris: La Dispute 2011, S. 179–200, hier S. 189), während Adorno und Marcuse wiederum Sartre vorwerfen, sein philosophisches System abstrahiere von historischen Variablen und entwickle einen Menschenbegriff aus rationalen und im Voraus festgesetzten Schemata (David Sherman: Sartre and Adorno. The dialectics of subjectivity. Albany: State University of New York Press 2007, S. 75–84).
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Lebensentwurf selbst zu transzendieren (humanisme de dépassement),24 indem er sich seine eigenen Ziele setzt und sich selbst schafft. Die Realität wird somit als dialektische Spannung zwischen Faktizität und Transzendenz begriffen.25 Ebenso wenig wie die menschliche Natur sind die moralischen Werte im Voraus festgelegt.26 Für Sartre sind moralische Entscheidungen vergleichbar mit dem Schaffen eines Kunstwerkes. Einem zeitgenössischen Künstler wird nach der Fertigstellung eines Gemäldes nicht vorgeworfen, sich nicht an a priori festgesetzte Normen gehalten zu haben. Sartre führt das darauf zurück, dass es ästhetische Werte nicht a priori gibt, wohl aber in einem bestimmten Kunstwerk. Niemand kann dem Künstler vorschreiben, was er zu malen hat, noch vorhersagen, wie das Gemälde von morgen sein wird. Sartre sieht hier eine Parallele zur Moral des Menschen. Beiden gemeinsam sind Schöpfung und Erfindung sowie die Unmöglichkeit, eine richtige Wahl a priori zu begründen. Eine falsche Wahl lässt sich allein daran erkennen, dass sie nicht zur Idee der Freiheit führt. Der Mensch ist nicht als solcher geboren, sondern wird es und in dem Maße, in dem er sich selbst entwirft und eine Moral wählt.27 Der Existenzialismus definiert den Menschen also über nichts anderes als seinen Lebensentwurf und sein eigenes Engagement dafür: L’homme n’est autre que son projet, il n’existe que dans la mesure où il se réalise, il n’y est donc que l’ensemble de ses actes, rien d’autre que sa vie [. . .] Ce que dit l’existentialisme c’est que le lâche se fait lâche, que le héros se fait héros; il y a toujours une possibilité pour le lâche de ne plus être lâche, et pour le héros de cesser d’être un héros.28
Nach dem Existenzialismus ist der Mensch frei, zu wählen, während jeder, der gemäß einem Determinismus handelt oder die Existenz von Werten a priori annimmt, aus Unaufrichtigkeit handelt (mauvaise foi), da nur die Freiheit das Fundament aller Werte sein soll. So kann aus der Perspektive einer existenzialistischen Moral im Fall des zuvor angeführten Beispiels des Studenten keine Entscheidung – weder ein Einsatz an der Front noch ein Bleiben bei der Mutter – als moralisch richtig bestimmt werden.
24 Die Transzendenz besitzt hier keinen metaphysischen Sinn, sondern bezieht sich auf die Fähigkeit des Menschen, über sich selbst hinauszugehen. 25 Deborah Evans: 1945–2005. Existentialism and Humanism sixty years on, S. 84. 26 Glenn Braddock: Sartre on Atheism, Freedom and Morality. In: Christine Daigle (Hg.): Existentialist Thinkers and Ethics. Montreal–Kingston: McGill Queen’s University Press 2006, S. 91–106, hier S. 92. 27 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme, S. 64–66. 28 Ebda., S. 51, 55–56.
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7.2.1 Die Dezentralisierung des Menschen und das Auftreten des Anderen Darüber hinaus lehnt Sartre, in einer Linie mit Heidegger und im Gegensatz zum zweiten Humanismus, eine anthropozentrische Auffassung der Realität ab. Für Sartre kann es keinen anderen Ausgangspunkt geben, als das cartesianische cogito, ergo sum. Jegliche Theorie, die nicht von der Subjektivität ausgeht, kann laut Sartre nur falsch sein. Doch im Gegensatz zu Descartes verficht Sartre keinen Subjektivismus, der auf Individualität gründet, da der Mensch sich durch das Denken nicht nur selbst entdeckt, sondern ebenso den Anderen. Die Anderen werden laut Sartre zu einer Bedingung der individuellen Existenz. So wird sich der Mensch der Tatsache bewußt, dass seine selbst entworfene Identität vom Anderen anzuerkennen ist.29 Das Auftreten des Anderen stellt das traditionelle Konzept der dignitas hominis auf den Prüfstand. Mit dem italienischen Humanismus began in Europa ein Paradigmenwechsel, durch den das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen Würde und Elend zu Gunsten der ersteren gebrochen wurde, womit sich die Überlegenheit des Menschen kraft seiner Vernunft über die anderen Lebewesen festigte.30 Diese Vorstellung ist für Sartre absurd, da zum objektiven Beleg der Überlegenheit des Menschen die Bestätigung dieser These durch ein anderes, nicht der menschlichen Rasse zugehöriges Wesen, etwa einen Hund oder ein Pferd, notwendig wäre, was natürlich unmöglich ist.31 Im Gegensatz zum zweiten Humanismus ist der Mensch aus existenzialistischer Perspektive für Sartre nicht letzter Zweck und höchster Wertmaßstab. Der Mensch kann nicht als Zweck betrachtet werden, da er stets noch zu schaffen ist. Für Sartres Existenzialismus gibt es jene Humanität nicht, die Comte verehrt wissen wollte: «Le culte de l’humanité aboutit à l’humanisme fermé sur soi de Comte et il faut le dire au fascisme».32 Für Sartre hingegen liegt das spezifisch Menschliche des menschlichen Seins im Nichts. Damit geht er von der absoluten Freiheit und Verantwortung für das je eigene Schicksal aus. Es geht also nicht darum, dass der Mensch exis-
29 Ebda., S. 58–59. 30 Pablo Sol Mora: Miseria/Dignitas hominis en El Criticón de Gracián. In: Nueva Revista de Filología Hispánica, LVIII (2010), S. 95–128, hier S. 96–111. 31 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme, S. 76. 32 Ebda., S. 75–76. Sartres Humanismuskritik als Antihumanismus zu begreifen, entlarvt die Unfähigkeit, zwischen einem Humanismus, der auf der Überlegenheit des Menschen besteht, und einem Humanismus, der sie kritisiert, zu differenzieren, wie David R. Law: Sartre’s existentialism and Humanism. London: SCM Press 2007, S. 83 aufzeigt.
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tiert und auf der Grundlage dieser Existenz frei sei. Der Mensch ist ontologisch betrachtet vielmehr Nichts, wodurch die Freiheit sein Sein konstituiert. Gleichwohl verursacht die Entdeckung des Nichts die Angst des Menschen, der seine Freiheit zu verschleiern und verbergen sucht, indem er unaufrichtig handelt (de mauvaise foi) und bestimmte Rollen übernimmt. Doch das menschliche Sein wird nicht durch seine Haltung, sein Verhalten, seinen Beruf oder gar seine Lebensumstände konstituiert. Der Mensch hat zunächst kein Sein und deshalb hebt er sich durch die Möglichkeit, seine Bedingungen zu überwinden, hervor.33 Dies zu ignorieren ist bloßer Selbstbetrug, mit dem die Anerkennung der eigenen Freiheit vermieden wird.34 Laut Sartre ermöglicht also nur der existenzialistische Humanismus die Würde des Menschen. Er bezeichnet seine Position ausdrücklich als humanistisch, um den Menschen daran zu erinnern, dass er selbst sein einziger Gesetzgeber ist. Seine Philosophie ist demnach auch nicht darauf ausgerichtet, die Nicht-Existenz Gottes aufzuzeigen: Il déclare plutôt: même si Dieu existait, ça ne changerait rien; voilà notre point de vue. Non pas que nous croyions que Dieu existe, mais nous pensons que le problème n’est pas celui de son existence; il faut qu’il homme se retrouve lui-même [. . .]35
7.2.2 Die Zeit im Existenzialismus In einer Linie mit Heidegger begreift Sartre die Zeitlichkeit in den Strukturen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die die drei Elemente einer ursprünglichen Synthese darstellen. So gibt es laut Sartre keine Vergangenheit ohne ihren Bezug zur Gegenwart. Diese These veranschaulicht Sartre anhand von zwei Aussagen. Wenn wir beispielsweise sagen, ‹1920 war Paul ein Schüler der polytechnischen Schule›, existiert das Subjekt, dem das Prädikat zugesprochen wird, nur 1920. Der Inhalt der Aussage erhält folglich erst im Bezug zur Gegenwart Relevanz. Eigentlich bedeutet der Satz also: ‹Paul ist ein ehemaliger Schüler der polytechnischen Schule›.36 Dasselbe wird bei der Aussage deutlich, dass dem verstorbenen Pierre Musik gefiel. Subjekt und Prädikat gehören der Vergangenheit an. Das Gefallen
33 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant, S. 94–95. 34 Martin Thomas: Opression and the Human Condition. An introduction to Sartrean Existentialism. Lanham: Rowman & Littlefield 2002, S. 30. 35 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme, S. 77–78. 36 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant, S. 143–146.
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an der Musik war für Pierre jedoch nie vergangen oder, anders ausgedrückt, Pierre war Zeitgenosse seiner Vorliebe für Musik. Das Vergangene ist in diesem Fall Pierre, dem Musik gefiel; doch in dem Maße, in dem jemand anderes dieses Urteil ausspricht, macht er sich in der Gegenwart für das Sein von Pierre verantwortlich. Es zeigt sich also von Neuem, dass die Vergangenheit ohne ihren Bezug zur Gegenwart nichts ist: «Je suis mon passé et si je ne l’étais pas, mon passé n’existerait plus ni pour moi ni pour personne. Il n’aurait aucune relation avec le présent».37 Ebenso wie die Vergangenheit, ist auch die Zukunft nur in ihrem Bezug zur Gegenwart von Bedeutung. Die Zukunft wird niemals in der Gegenwart sein. Was sich realisiert, ist ein Für-sich-Sein, das sich in Bezug auf diese Zukunft bildet. Die Zukunft bzw. die Gesamtheit der Möglichkeiten, die sich der Gegenwart eröffnen, geben dem Für-sich-Sein einen Sinn als möglicher Entwurf, legen es jedoch nicht im Voraus fest. Der Mensch ist seine Zukunft mit der steten Perspektive der Möglichkeit, sie auch nicht zu sein. Die freie Existenz zeichnet sich somit durch die stete Möglichkeit für das Dasein aus, sich vor dem Nichts zu befinden und es als Phänomen zu entdecken. Eben dann entsteht die Angst als conditio sine qua non für die Freiheit.38
7.2.3 Die Hoffnung und das Absurde Die gesamte menschliche Realität stellt laut Sartre das Projekt einer Wandlung vom Für-sich-Sein (das Sein, das noch nicht ist) zum An-sich-Sein (das Sein, das ist) dar, wobei letzteres mit der menschlichen Existenz inkompatibel ist (solange der Mensch lebt, findet er neue Möglichkeiten, sich zu entfalten und ist also noch nicht). Damit strebt der Mensch nach dem Unmöglichen und seine Existenz ist als unnützes Streben konzipiert.39 In derselben Idee begründet Camus seine Idee des Absurden, die die Trennung zwischen dem Geist, der begehrt, und der Welt, die ihn enttäuscht, konstatiert und die Sehnsucht nach einer unmöglichen Einheit hervorruft.40 Der Mensch steht also zwischen einer sinnleeren Realität und der Suche nach Sinn, zwischen der Irrationalität der Welt und der Notwendigkeit einer menschlichen Rationalität.41
37 Ebda., S. 151. 38 Ebda., S. 52, 163–164. 39 Ebda., S. 662. 40 Albert Camus: Le mythe de Sisyphe, S. 73. 41 Jean Firges: Albert Camus. Das Absurde und die Revolte: auf der Suche nach einem neuen Mythos. Annweiler am Trifels: Sonnenberg 2000, S. 35–38; Dagmar Fenner: Der Mensch auf
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Wie Pindars Zitat, das Le mythe de Sisyphe (1942) einleitet, ankündigt, mahnt Camus, nicht nach Unsterblichkeit zu streben, sondern im Bereich des Möglichen zu bleiben. Er kritisiert also die Hoffnung jener, die sich nicht auf das Leben selbst beschränken, sondern nach einer das Leben überschreitenden und sublimierenden Idee trachten, die, indem sie dem Leben Sinn gibt, es gleichzeitig verrät.42 Diese Art von Bestrebungen kann laut Camus nur zu fehlender Freiheit führen, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. In dem Maße, in dem der Mensch seinem Leben ein vorherbestimmtes Ziel zugesteht, passt er sich an die Anforderungen dieses erwarteten Ziels an und verliert folglich seine Freiheit. Das Sein des Menschen soll sich laut Camus also ausgehend von einem Bewusstsein über das Absurde und die Abwesenheit eines Sinns der menschlichen Existenz bilden. Wie bei Sartre gibt es auch für Camus weder eine bereits festgelegte Moral noch universale Tugenden. Nur im Bewusstsein über das Absurde kann der Mensch sich sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene in Freiheit entwickeln.43 Wie das menschliche Leben entbehrt auch die Geschichte eines Sinns.44 Camus warnt daher vor einer Auffassung der Vergangenheit als Goldenem Zeitalter, das wiederhergestellt werden sollte, aber ebenso vor einer Zukunft, die eine bessere Welt durch absolute Utopien verkündet, denen Camus misstraut. Vor diesem Hintergrund ruft er dazu auf, gänzlich gegenwärtig in der eigenen Epoche zu bleiben.45 Seine Rückkehr zu den antiken Griechen zeugt demnach nicht vom
der Suche nach dem Sinn des Lebens. Kritische Reflexionen zur Sinnfrage im Rahmen von Camus’ Theorie des Absurden. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 31 (2006), S. 79–290, hier S. 87. 42 Albert Camus: Le mythe de Sisyphe, S. 23. Diese Idee betonen unter anderem Jean Firges: Albert Camus. Das Absurde und die Revolte: auf der Suche nach einem neuen Mythos, S. 39; Dagmar Fenner: Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Kritische Reflexionen zur Sinnfrage im Rahmen von Camus’ Theorie des Absurden, S. 94 sowie Günter Weick: Das Absurde bei Albert Camus. Frankfurt a. M.: August von Goethe Literaturverlag 2011, S. 15. 43 Albert Camus: Le mythe de Sisyphe, S. 83–96. 44 Jörg Paul Müller: Ein verkanntes Hauptwerk der politischen Philosophie: L’homme révolté von Albert Camus. In: Roland Kley/Silvano Möckli (Hg.): Geisteswissenschaftliche Dimensionen der Politik. Bern: Verlag Paul Haupt 2000, S. 111–121, hier S. 115. Sowohl Camus als auch Sartre üben in diesem Sinne Kritik am teleologischen Optimismus der Hegel’schen Geschichte (Sophie Bilemdjian: Premières leçons sur ‹L’existentialisme est un humanisme› de Jean Paul Sartre. Paris: Presses Universitaires de France 2000, S. 34; Wolfgang Klein: Zynische Revolutionäre? Camus über Hegel, Marx und Lenin. In: Brigitte Sändig (Hg.): ‹Ich revoltiere, also sind wir›. Nach dem Mauerfall. Diskussion um Albert Camus‘‹Der Mensch in der Revolte›. Nettersheim: Graswurzelrevolution 2009, S. 63–87, hier S. 65). 45 Denis Salas: Albert Camus, l’humaniste intransigeant. In: Études: Revue de culture contemporaine, 416 (2012), S. 79–90, S. 90.
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Streben nach Wiederherstellung oder Konservation der Vergangenheit, sondern passt sich dem Kontext und der Problematik seiner Zeit an.46 Der Mensch, der sich des Absurden bewusst ist, verwandelt sich somit in einen hoffnungslosen Menschen. Er vollzieht keine Handlung, die an der Ewigkeit ausgerichtet wäre und definiert sich gemäß einem Entwurf, der im Rahmen des Möglichen und innerhalb der Grenzen seines Lebens bleibt.47 Auch Sartre schlägt in L’existentialisme est un humanisme (1946) vor, ohne Hoffnung in der Gegenwart zu handeln. Es soll ohne Illusion, nur im Rahmen des Möglichen und somit auch des Individuellen gehandelt werden: Un homme s’engage dans sa vie, dessine sa figure, et en dehors de cette figure il n’y a rien. Évidemment, cette pensée peut paraître dure à quelqu’un qui n’a pas réussi sa vie. Mais d’autre part, elle dispose les gens à comprendre que seule compte la réalité, que les rêves, les attentes, les espoirs permettent seulement de définir un homme comme rêve déçu, comme espoirs avortés, comme attentes inutiles ; c’est à dire que ça les définit en négatif et non en positif.48
Camus begreift Sisyphos in diesem Sinne als absurden Helden par excellence.49 Die Götter haben ihn dazu verdammt, die Aufgabe unaufhörlich zu wiederholen, einen Stein auf die Spitze des Berges zu tragen, um ihn von dort aus wieder herunterrollen zu sehen. Auf diese Weise bestrafen sie ihn mit einer unnützen und hoffnungslosen Aufgabe. Wenn der Mythos für Camus tragisch ist, dann ist er es aufgrund des Bewusstseins seines Helden über sein erdrückendes Schicksal. Der Arbeiter des 20. Jahrhunderts teilt das absurde Schicksal des Sisyphos, indem er jeden Tag seines Lebens dieselben Aufgaben verrichten muss; jedoch ist er sich, abgesehen von seltenen Gelegenheiten, nicht darüber bewusst. Sisyphos, den Camus als Proletarier der Götter betrachtet, denkt während des Abstiegs an seine elendige Situation und eben darin liegt sein Sieg: dem Schicksal mit Empörung und Geringschätzung zu begegnen.50 Dieselbe Konstellation kann auf andere antike Helden übertragen werden. In Sophokles’ König Ödipus beginnt die Tragödie in dem Moment, in dem der Protagonist von seinem Schicksal weiß. In dem Moment, in dem er versteht,
46 Heinz Robert Schlette: Camus und die Griechen. In: Brigitte Sändig (Hg.): ‹Ich revoltiere, also sind wir›. Nach dem Mauerfall. Diskussion um Albert Camus’ ‹Der Mensch in der Revolte›. Nettersheim: Graswurzelrevolution 2009, S. 151–185, hier S. 155. 47 Günter Weick: Das Absurde bei Albert Camus, S. 39. 48 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme, S. 53. 49 Irmgard Fuchs: Albert Camus oder das Abenteuer ein Mensch zu sein. In: Gerhard Danzer (Hg.): Dichtung ist ein Akt der Revolte. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 221–280, hier S. 241. 50 Albert Camus: Le mythe de Sisyphe, S. 165–166.
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dass es kein anderes gibt, findet laut Camus die «victoire absurde» statt, so dass «la sagesse antique rejoint l’héroïsme moderne».51 Sophokles’ Tragödie macht aus dem Schicksal des Menschen etwas, das von ihm selbst gelöst werden muss. Eben darin liegt die stille Freude des Sisyphos, bemerkt Camus. Das Schicksal gehört ihm selbst; ein höheres Schicksal gibt es nicht. Auf diese Weise bleibt Sisyphos, vom menschlichen Ursprung alles Menschlichen überzeugt, aktiv und gänzlich bewusst über das Absurde der menschlichen Existenz: «Il faut imaginer Sisyphe heureux».52
7.2.4 Oreste und Caligula: Held und Antiheld der existenzialistischen Tragödie Für Camus ist es die Aufgabe der Kunst, das Absurde darzustellen.53 So bildet Caligula einen literarischen Ausdruck der Konzeption menschlicher Existenz ab, für den Sartre in L’être et le néant eine ontologische Grundlage gelegt hat. Die menschliche Realität besteht in dem Plan einer harmonischen Einheit zwischen Für-sich-Sein und An-sich-Sein, die jedoch nur im Tod erreichbar ist. So wird die Existenz zunächst als sinnfrei und absurd begriffen, aufgrund der Diskrepanz zwischen der Einheit und Ordnung, die der Mensch durch seine Vernunft anstrebt, und der Irrationalität einer chaotischen und unzugänglichen Welt. Camus, der in seinem Werk die verschiedenen menschlichen Reaktionen auf das Absurde erörtert,54 lässt seine Tragödie um Caligulas Erfahrung des Absurden kreisen, die mit dem Tod seiner Schwester und Geliebten Drusilla ihren Anfang nimmt. Außerdem behandelt das Stück das ausdrückliche Vorhaben des Caligula, das Absurde zu verleugnen, indem er versucht, ein Gott zu werden, um für die Menschen ein neues Schicksal zu entwerfen, das nicht im Tod mündet. Caligula strebt also danach, eine neue Ordnung jenseits der Grenzen einer Welt zu etablieren, die sich ihm als unerträglich zeigt.55
51 Ebda., S. 167. 52 Ebda., S. 168. 53 Heiner Wittmann: Albert Camus. Kunst und Moral. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2002, S. 29–38. 54 Irmgard Fuchs: Albert Camus oder das Abenteuer ein Mensch zu sein, S. 241. Sisyphos, der laut Camus als über sein Schicksal bewusster und glücklicher Mensch vorzustellen ist, stellt in diesem Sinne also den Antagonisten Caligulas dar. 55 Albert Camus: Caligula. Paris: Gallimard 1958, S. 49, 116–119.
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Somit wird Caligula zu einem Rebellen par excellence56 oder, präziser ausgedrückt, zum Prototyp des Menschen in der metaphysischen Revolte, wie Camus ihn in L’homme révolté definiert. Im Gegensatz zum Sklaven, der sich über seine Situation innerhalb des Staates beklagt, beschwert sich der metaphysische Rebell, wie Caligula, über seine Situation als Mensch. Seine Rebellion entsteht aus der Betrachtung der Unvernunft und dem daraus resultierenden Willen, Einheit und Ordnung mitten im Chaos herzustellen, selbst wenn es durch Verbrechen sein muss. Auf diese Weise erklärt sich Caligula zum Gott eines neuen Reichs. Nachdem jegliches Prinzip der Hoffnung mit der Bewusstwerdung des Absurden beseitigt wurde, lehnt der metaphysische Rebell jede Einschränkung ab und steht schließlich selbst dem Tod gleichgültig gegenüber. Nietzsches Thesen zum Willen zur Macht verwandeln sich hier in den Willen zur absoluten Macht.57 Jeder Mensch strebt im Grunde nach dem Unmöglichen, doch als Herrscher hat Caligula, anders als andere, ausreichend Macht, es richtig zu versuchen: CALIGULA Il s’agit de ce qui n’est pas possible [. . .] C’est la vertu d’un empereur [. . .] Je viens de comprendre enfin l’utilité du pouvoir. Il donne ses chances à l’impossible [. . .] de quoi me sert ce pouvoir si étonnant si je ne puis changer l’ordre des choses, si je ne puis faire que le soleil se couche à l’est, que la souffrance décroisse et que les êtres ne meurent plus? Non Cæsonia, il est indifférent de dormir ou de rester éveillé, si je n’ai pas d’action sur l’ordre de ce monde. [. . .] Je veux mêler le ciel à la mer, confondre laideur et beauté, faire jaillir le rire de la souffrance.58
Bis zu Caligula hat, nach seiner Aussage, niemand dieses Vorhaben erreicht, da es niemand bis in die letzte Konsequenz versucht hat. Caligulas Plan basiert also auf Logik und Vernunft, die sich diesem letzten Ziel unterordnen,59 wie die Mittel dem Zweck untergeordnet werden. Nun wird die Moral der Ökonomie unterstellt. Caligula verpflichtet die wohlhabenden Bürger und alle Menschen des Reiches, die über Reichtum verfügen, ihre Kinder zu enterben und ihre Güter dem Staat zu übertragen. Caligulas Strategie im Sinne einer zielorientierten Logik ist die, entsprechend den ökonomischen Bedürfnissen des Staates, Bürger zu töten: Si le Trésor a de l’importance, alors la vie humaine n’en a pas. Cela est clair [. . .] J’ai décidé d’être logique et puisque j’ai le pouvoir, vous allez voir ce que la logique va vous coûter.60
56 Sophie Bastien: Caligula et Camus. Interférences transhistoriques. Amsterdam–New York: Rodopi 2006, S. 140. 57 Albert Camus: L’homme révolté. Paris: Gallimard 1951, S. 80–127. 58 Albert Camus: Caligula, S. 58–62. 59 Ebda., S. 49, 128. 60 Ebda., S. 57.
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Sein Plan ist nicht nur auf das ökonomische Wohlergehen des Staates, sondern ebenso auf die Glückseligkeit des Menschen ausgerichtet. Helicon beschreibt ihn deshalb als Idealisten.61 Tatsächlich träumt Caligula, dass die Menschen, sobald er einmal das Unmögliche erreicht hat, nicht mehr sterben müssen und glücklich leben.62 Caligulas Reaktion angesichts seiner Gewissheit des Absurden bewegt sich im Rahmen des Nihilismus63 sowie der Ankunft des Übermenschen64 und gerade in diesem Rahmen findet das Verbrechen laut Camus einen privilegierten Ort. Wenn an nichts mehr geglaubt wird, wenn nichts einen Sinn hat und wenn es keine Werte mehr gibt, dann ist alles möglich und nichts ist von Bedeutung, sodass sowohl der Holocaust als auch die Philanthropie gleichermaßen Optionen sind. Wenn nichts wahr oder falsch, gut oder schlecht ist, lautet die Regel, sich als der Tatkräftigste, d.h. der Stärkste zu bewähren. Die Welt teilt sich nicht mehr in Gerechte und Ungerechte, sondern in Herren und Sklaven.65 Somit kann das Stück als Kritik des zeitgenössischen Nihilismus und der Totalitarismen gelesen werden.66 Demgegenüber schlägt Camus die Zusammenschließung der Menschen im Kampf um dasselbe Ziel vor. Der Rebell beansprucht eine bestimmte Freiheit für sich selbst und die Freiheit, die er fordert, fordert er gleichzeitig für alle; was er ablehnt, lehnt er für alle ab. Er fordert keine absolute Freiheit – das wäre die Freiheit, zu töten – und die unbeschränkte Macht stellt nicht, wie für Caligula, sein einziges Gesetz dar.67 Anhand der Figur des Caligula zeigt Camus, wie die Vernunft zur Unvernunft führt und kritisiert auf diese Weise die Hoffnung all jener, die nicht für die Gegenwart, sondern für die Zukunft leben, für eine große, erhabene, unmöglich realisierbare Idee, die ihrem Leben einen Sinn gibt.68 Die Befriedigung dieser Art von Bestrebungen stellt einerseits Anlass und Rechtfertigung von Verbrechen gegen die Menschheit dar. Dafür hat nicht einmal der Tyrann die
61 Ebda., S. 51. 62 Ebda., S. 63. 63 Margot Fleischer: Zwei Absurde: Camus’ Caligula und der Fremde. Eine Interpretation. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 50; Irmgard Fuchs: Albert Camus oder das Abenteuer ein Mensch zu sein, S. 247. 64 Imafedia Okhamafe: Non-Teleological Temporality in Philosophy and Literature: Camus, Achebe, Emerson, Ellison, Hurston and Nietzsche. In: Analecta Husserliana, LXXXVI (2007), S. 115–128, hier S. 117. 65 Albert Camus: L’homme révolté, S. 65. 66 Imafedia Okhamafe: Non-Teleological Temporality in Philosophy and Literature: Camus, Achebe, Emerson, Ellison, Hurston and Nietzsche. In: Analecta Husserliana, LXXXVI (2007), S. 115–128, hier S. 247. 67 Albert Camus: L’homme révolté, S. 127. 68 Albert Camus: Le mythe de Sisyphe, S. 23.
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Freiheit erreicht, die er für sich allein zu beanspruchen glaubte. Dem Glauben an die Notwendigkeit, einer übergeordneten Idee zu folgen, hat er all seine Handlungen untergeordnet und sich somit, wie er schließlich eingesteht, in ihren Sklaven verwandelt.69 Camus’ Kritik gilt jedoch nicht nur der Figur des Tyrannen. Das Streben nach Unmöglichem und Unerreichbarem charakterisiert ebenso die Menschen, die im Gegensatz zu Caligula nicht über ausreichend Macht verfügen, ihren eigenen Plan auszuführen. In diesem Sinne kritisiert Helicon, der Diener Caligulas, die Falschheit von Chereas Tugend, die geheuchelt und nur scheinbar edel ist, während sie nur als Mittel zur Machterlangung dient. Scipion versteht letztendlich, dass Caligula die Tragödie repräsentiert, die alle Menschen teilen: das Streben nach dem Unerreichbaren, das niemals vollständig verwirklicht werden kann. Caligula hat die Verzweiflung erfahren, die das Menschsein mit sich bringt, sowie gleichsam den existenziellen Konflikt zwischen Sehnsüchten und der Unmöglichkeit ihrer Befriedigung. Demgegenüber kann Scipion nur Mitleid haben. Es bleibt keine andere Möglichkeit, als sich auf optimistische Weise des Absurden bewusst zu werden, wie es bei Sisyphos der Fall ist. Scipion bildet somit den moralischen Kontrapunkt zu Caligula, der ohne eine vorgegebene Moral urteilt. Für Scipion liegt der einzig mögliche Irrtum darin, das Leid anderer zuzulassen.70 Nur durch eine Moral, die auf den Anderen ausgerichtet ist, wird die richtig verstandene Freiheit des Menschen möglich. Vor diesem Hintergrund erachtet Camus, wie auch Sartre,71 den Humanismus als begrenzt72 und schlägt stattdessen einen solidarischen Humanismus vor, der die Figur des Anderen ins Zentrum stellt,73 als wesentliches Gegenmittel gegen den zeitgenössischen Nihilismus.74 Das Absurde ist eine notwendige Bedingung für die Freiheit des Menschen, doch die Mehrheit der Menschen traut sich nicht, in einer Welt ohne Sinn zu leben. Für Cherea wäre es unerträglich, einen Sinn des Lebens und einen
69 Albert Camus: Caligula, S. 172. 70 Ebda., S. 41–172. 71 Raul Fornet Betancourt: L’humanisme solidaire de Sartre: anticipation de l’universalité et de la philosophie, S. 155. 72 Albert Camus: Carnets. Paris: Gallimard 1962–1964, S. 172. 73 Gabriel Bonno: L’humanisme dans la littérature française du 20 siècle. In : French Review, 23/3 (1950), S. 198–204; Jörg Paul Müller: Ein verkanntes Hauptwerk der politischen Philosophie: L’homme révolté von Albert Camus, S. 115; Arnaud Corbic: Camus et Bonhoeffer. Rencontre de deux humanismes. Genève: Labor et Fides 2002, S. 76; Vincent Grégoire: Une critique de l’humanisme par Saint-Exupéry, Sartre et Camus. In: Les Lettres Romanes, LVI/2 (2002), S. 115–126, S. 123. 74 Yves Charles Zarka: Sartre à l'épreuve. L’engagement au risque de l'histoire, S. 7.
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Grund für die menschliche Existenz aufzugeben. Also lehnt er, wie auch die Mehrheit der Menschen, ein Leben unter dem Absurden anstatt unter der Vernunft ab. Das Absurde zu akzeptieren würde bedeuten, das Fehlen eines Lebenssinns zu akzeptieren, weshalb er eine «betäubte» Existenz vorzieht.75 Sein Vorhaben, der Welt Frieden und Kohärenz zurückzugeben, kann letztendlich nur zu einem ähnlich grausamen Plan wie dem von Caligula führen. Chereas Rebellion gegen Caligula bestätigt außerdem Scipions Vorhersage, die den Herrscher vor der Gefahr warnt, die jenen droht, die sich in Götter verwandeln wollen. Unweigerlich entstünden um ihn andere menschliche Götter, die sich gegen ihn erheben und seine Göttlichkeit unerbittlich und blutig bestreiten. Caligula repräsentiert eine unbegrenzte Macht, der er sich, zum ersten Mal in der Geschichte, grenzenlos bedient, um den Menschen zu negieren und sich in einen Gott zu verwandeln.76 Camus findet in den antiken Quellen77 den Schlüssel für das Verständnis der modernen Welt und stützt darauf seinen Vorschlag eines neuen Humanismus, der Katastrophen wie den Zweiten Weltkrieg vermeiden können soll. Er warnt: Caligula n’est pas mort. Il est là et là. Il est en chacun de vous. Si le pouvoir vous était donné, si vous aviez du cœur, si vous aimiez la vie, vous le verriez se déchaîner, ce monstre ou cet ange que vous portez en vous. Notre époque meurt d’avoir cru aux valeurs et que les choses pouvaient être belles et cesser d’être absurdes.78
Der existenzialistische Humanismus schlägt also vor, dass der Mensch nicht mehr versuchen soll, gottgleich zu sein, sondern das Absurde seiner sinnlosen Existenz akzeptieren und glücklich sein soll, da er nur so frei werde. Das Fehlen einer vorgefestigten Moral bedeutet, dass jeder gänzlich selbst verantwortlich für seine eigenen Handlungen ist.
75 Jean Firges: Albert Camus. Das Absurde und die Revolte: auf der Suche nach einem neuen Mythos, S. 39. 76 Albert Camus: Caligula, S. 73, 74, 120, 130. 77 Es gibt zahlreiche Studien zum griechischen Erbe in Camus’ Werk. Fernande Bartfeld: L’effet tragique. Essai sur le tragique dans l’œuvre d’Albert Camus. Paris–Genève: Champion-Slatkine 1988, S. 151–185) hebt u.a. Arbeiten von D. Papamalamis: Albert Camus et la pensée grecque. Nancy: Imprimerie Idoux 1965; Paul Archambault : Camus’ Hellenic Sources. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1972; Monique Crochet: Les mythes dans l’œuvre de Camus. Paris 1973; Hans-Ludwig Scheel: Zur Bedeutung der griechischen Mythologie für Albert Camus. In: Klaus Heitmann/Eckhart Schröder (Hg.): Renatae Litterae. Studien zum Nachleben der Antike und zur europäischen Renaissance. Frankfurt a. M.: Athenäum 1973, S. 299–317 sowie Fernande Bartfeld: L’effet tragique. Essai sur le tragique dans l’œuvre d’Albert Camus hervor. 78 Albert Camus: Carnets, I, S. 43.
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In diesem Sinne wird Oreste in Sartres von Nietzsche beeinflußtem Werk79 Les Mouches zum paradigmatischen Helden der existenzialistischen Tragödie. Er zeichnet sich durch die Ablehnung einer transzendenten Moral aus. Durch sie entstehen das schlechte Gewissen und die Angst, an denen sich die Götter ergötzen.80 Die transzendente Moral und ihre Begriffe von Gut und Böse wachen darüber, dass die Schlechten bestraft und die Guten belohnt werden. Doch sowohl in Les mouches als auch in Caligula werden ihre Relativität und ihr Dienst an diktatorischen Regimes aufgezeigt, in denen nur jener, der über ethisches Wissen verfügt, ein Mensch ist, während die übrigen auf den Status von Insekten oder Tieren herabgewürdigt werden. Mit der Tatsache, dass sich Caligula an seine Untertanen als Insekten richtet,81 während Égisthe die seinen als Hunde anspricht,82 problematisieren Camus und Sartre die Ungleichheit unter den Menschen, die durch das ethische Wissen des ersten und zweiten Humanismus begründet wird. Jupiter und Égisthe haben in Sartres Stück einen Begriff des Guten entwickelt,83 um eine Macht zu bewahren, die sie nicht besäßen, wenn sich der Mensch, wie Oreste, seiner Freiheit bewusst wäre: JUPITER Le secret douloureux des Dieux et des rois: c’est que les hommes sont libres. Ils sont libres, Égisthe. Tu le sais, et ils ne le savent pas. ÉGISTHE Parbleu, s’ils le savaient, ils mettraient le feu aux quatre coins de mon palais. Voilà quinze ans que je joue la comédie pour leur masquer leur pouvoir. JUPITER Tu vois bien que nous sommes pareils. ÉGISTHE Dieu tout puissant, qui suis-je, sinon la peur que les autres ont de moi? JUPITER Qui donc crois-tu que je sois? [. . .] tant qu’ils ont les yeux fixés sur moi, ils oublient de regarder en eux-mêmes. [. . .] Car nous avons la même passion. Tu aimes l’ordre, Égisthe. ÉGISTHE L’ordre. C’est vrai. C’est pour l’ordre que je séduis Clytemnestre, pour l’ordre que j’ai tué mon roi; je voulais que l’ordre règne et qu’il règne par moi. JUPITER Oreste sait qu’il est libre.
79 Walter Kaufmann: Tragödie und Philosophie. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1980, S. 285. 80 Jean-Paul Sartre: Les mouches. Paris: Gallimard 1947, S. 119. 81 Albert Camus: Caligula, S. 98. 82 Jean-Paul Sartre: Les mouches, S. 155, 167. 83 Ebda., S. 192.
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ÉGISTHE Il sait qu’il est libre [. . .] Il va contaminer tout mon royaume et ruiner mon œuvre. JUPITER
Quand une fois la liberté a explosé dans une âme d’homme, les Dieux ne peuvent plus rien contre cet homme-là. Car c’est une affaire d’hommes, et c’est aux autres hommes – à eux seuls – qu’il appartient de le laisser courir ou l’étrangler.84
Gegen den König und die Götter entscheidet sich Oreste für eine Moral, die nicht auf universalen und transzendenten Werten basiert. Auf ihrer Grundlage rechtfertigt Oreste seine Entscheidung, Égisthe zu töten, und führt diese Handlung ohne schlechtes Gewissen aus:85 ORESTE
Des remords? Pourquoi? Je fais ce qui est juste.
ÉGISTHE Ce qui est juste, c’est ce que veut Jupiter. [. . .] ORESTE
Que m’importe Jupiter? La justice est une affaire d’hommes, et je n’ai pas besoin d’un Dieu pour me l’enseigner.86
Ebenso verhält es sich beim Mord seiner Mutter Clytemnestre, die in zweiter Ehe mit dem Mörder seines Vaters lebt: «Les gémissements de ma mère, crois-tu que mes oreilles cesseront jamais de les entendre? [. . .] Et l’angoisse [. . .]? Mais que m’importe: je suis libre».87 In Anbetracht des Publikationszeitpunktes des Stückes, 1943, kann Les mouches als Aufruf verstanden werden, mit allen Mitteln aktiven Widerstand gegen das Vichy-Regime zu leisten. Der Handlungsmaxime des Oreste steht Électres Konformismus gegenüber. Oreste repräsentiert in dem Stück die Bedrohung der Macht, die Könige und Götter über die Menschen haben. Deshalb versucht Jupiter, ihn zu überreden, sein Verbrechen zu bereuen und sich erneut einer transzendenten Moral zu unterwerfen. Oreste bleibt jedoch unbeugsam: ORESTE
Je ne suis pas coupable, et tu ne saurais me faire expier ce que je ne reconnais pas pour un crime. [. . .] Je ne regrette rien.
JUPITER Pas même l’abjection où ta sœur est plongée par ta faute ?
84 Ebda., S. 200–203. 85 Bei der Rechtfertigung von Gewalt distanziert sich Camus von Sartre. In L’homme révolté übt Camus Kritik an der Legitimierung von Gewalt durch die Geschichtstheorie von Hegel und Marx und später auch durch Sartre (Stephen Gardner: The Cult of Violence Revisited. In: Social Science and Modern Society, 44 (2007), S. 77–81, hier S. 78). 86 Jean-Paul Sartre: Les mouches, S. 205. 87 Ebda., S. 224.
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ORESTE
Pas même [. . .] Je l’aime plus que moi-même. Mais ses souffrances viennent d’elle, c’est elle seule qui peut s’en délivrer : elle est libre.88
Vergangenheit und Gegenwart von Oreste richten sich auf eine Zukunft in absoluter Freiheit. Oreste ist frei und mit sich selbst im Reinen. Die Figur der Électre macht vom Beginn des Stückes bis zu seinem Ende einen erheblichen Wandel durch. War sie zunächst noch rachsüchtig, wird sie später von Reue geplagt. Als Jupiter ihnen den Thron von Argos anbietet, sofern sie Reue für ihr Verbrechen zeigen, lehnt Oreste im Interesse seiner Menschlichkeit und Freiheit ab, während Électre sich unterwerfen möchte: JUPITER Si vous répudiez votre crime, je vous installe tous deux sur le trône d’Argos. [. . .] le monde est bon; je l’ai créé selon ma volonté est je suis le Bien. ORESTE
Tu étais mon excuse d’exister, car tu m’avais mis au monde pour servir tes desseins. [. . .] Tu es le roi des Dieux, Jupiter, le roi des pierres et des étoiles, le roi des vagues de la mer. Mais tu n’es pas le roi des hommes. [. . .] Je ne suis ni le maître ni l’esclave, Jupiter. Je suis ma liberté! [. . .] il n’y a plus rien eu au ciel, ni Bien ni Mal, ni personne pour me donner des ordres. [. . .] Je suis condamné à n’avoir d’autre loi que la mienne.89
In Anbetracht dessen kann Jupiter diese existenzielle Angst, die den Menschen ohne Gott unweigerlich zerstört, beruhigen. Wenn Oreste den Menschen die Augen öffnet, damit sie ihre Freiheit erkennen, so warnt Jupiter, dann zeigt er ihnen das Absurde ihrer Existenz, die ihnen grundlos gegeben wurde.90 Für Oreste hingegen und im Sinne von Sartres Philosophie gründet ein menschliches Leben in Freiheit auf dieser Verzweiflung, die aus dem Bewusstsein seiner Absurdität resultiert. Trotzdem wirft Électre Oreste vor, sie in diese Angst gestürzt zu haben: ÉLECTRE Je n’avais presque rien à moi, qu’un peu de calme et quelques rêves. Tu m’as tout pris [. . .] Tu étais mon frère [. . .] Tu devais me protéger [. . .] ORESTE
Mon amour, c’est vrai, que j’ai tout pris, et je n’ai rien à te donner que [. . .] un immense présent [. . .] nous marcherons à pas lourds, courbés sous notre précieux fardeau.
ÉLECTRE Où? ORESTE
Je ne sais pas; vers nous mêmes. De l’autre côté des fleuves et des montagnes il y a un Oreste et une Électre qui nous attendent. Il faudra les chercher patiemment.
88 Ebda., S. 226–227. 89 Ebda., S. 230–237. 90 Ebda., S. 238.
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ÉLECTRE Je ne veux plus t’entendre. Tu ne m’offres que le malheur et le dégoût [. . .] Jupiter, roi des Dieux et des hommes, mon roi, prends-moi dans tes bras, emportemoi, protège-moi. Je suivrai ta loi, je serai ton esclave et ta chose, j’embrasserai tes pieds et tes genoux. Défends-moi contre les mouches, contre mon frère, contre moi-même, ne me laisse pas seule, je consacrerai la vie entière à l’expiation. Je me repens, Jupiter, je me repens.91
Oreste hingegen akzeptiert die «wertvolle Last» der Angst und verwandelt sich in einen freien Menschen.
7.3 Ortega y Gasset und das Prinzip Hoffnung Der Spanier Ortega y Gasset teilt mit den französischen Existenzialisten die Ansicht, dass Heidegger im Vergleich mit den antiken Denkern eine grundsätzlichere Seinsweise aufgedeckt und damit einen neuen und bislang unbekannten Seinsbegriff entwickelt hat. Für Ortega bedeutet Leben, sich ständig zwischen Möglichkeiten zu entscheiden und sich im Voraus zu sorgen (preocuparse). Sich nicht zu sorgen bedeutete, instinktiv das zu tun, was die anderen tun – wie es der hombre masa tut. Das Leben besteht also im Wesentlichen in einer Tätigkeit. Dabei schreitet die Existenz unvermeidbar voran und ist auf die Zukunft gerichtet; sie ist, was noch nicht ist und damit vor allem eine Begegnung mit der Zukunft.92 Laut Ortega ist der Bezugspunkt des antiken Denkens die Vergangenheit, während seine Gegenwart auf die Zukunft gerichtet ist, die zur grundlegenden Dimension der Zeit wird.93 Dennoch kritisiert Ortega Heideggers Seinsbegriff, der auf den Tod gerichtet ist, was zugleich eine Charakteristik des französischen Existenzialismus darstellt: La doctrina que algunos llaman «existencialismo» y que hoy está tan de moda con un retraso de veinte años, al hacer de la idea de la propia muerte base de toda la filosofía, debía haber contado más sustantivamente con la condición de que sólo hay dos cosas que la vida – la cual es siempre la de cada cual – en absoluto no puede ser, que no son, pues, posibilidades de mi vida, que en ningún caso pueden acontecer. Esas dos cosas ajenas a mi vida son el nacimiento y la muerte. Mi nacimiento es un cuento, un mito que otros me
91 Ebda., S. 241. 92 José Ortega y Gasset: Goethe desde dentro, S. 120. 93 Die Ausrichtung auf die Zukunft ist also neben dem Perspektivismus entscheidend in Ortegas Philosophie (Charles Cascalès: L’humanisme d’Ortega y Gasset. Paris: Presses Universitaires de France, 1957, S. 151; Antonio Rodríguez Huéscar: Perspectiva y verdad. El problema de la verdad en Ortega. Madrid: Revista de Occidente 1966; José Ferrater Mora: Ortega, filósofo del futuro. In: Cuadernos hispanoamericanos, 403–405 (1984), S. 121–131).
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cuentan pero al que yo no he podido asistir y que es previo a la realidad que llamo vida. En cuanto a mi muerte, es un cuento que ni siquiera pueden contarme. De donde resulta que esa extrañísima realidad que es mi vida se caracteriza por ser limitada, finita, y, sin embargo, por no tener ni principio ni fin. Así es, a mi juicio, como hay que plantear el problema de mi propia muerte y no como la plantea el melodramático señor Heidegger.94
Ortega schließt den Tod aus der Existenz aus und schreibt ihr einen gleichermaßen endlichen wie unendlichen Charakter zu: endlich, weil der Mensch sterblich ist; unendlich, weil der Ausschluss des Todes eine unendliche Entfaltung von Wahrscheinlichkeiten innerhalb der eigenen Existenz ermöglicht. Damit lehnt er Heideggers Umkehrung aller traditionellen Thesen zur Hoffnung ab. Für Heidegger ist die Zukunft nur dann reflektiert, wenn der Blick des Daseins auf den Tod, auf die Möglichkeit der Nicht-Existenz oder das Nichts gerichtet wird. Das Nichts ist der metaphysische Horizont der Existenz und gleichsam ihr absoluter Bezugsrahmen. Im Gegensatz zu Heidegger, sieht Ortega die Existenz nicht auf den Tod, sondern, wie Bloch, auf die Hoffnung gerichtet. Die wesentliche und wichtigste Funktion des Lebens ist die Erwartung und ihr leidenschaftlichstes Organ ist die Hoffnung.95 Es ist nicht verwunderlich, dass Don Quijote, wie Ortega 1914 bestätigt, ein Paradigma heldenhafter Existenz darstellt: Podrán a este vecino nuestro quitarle la ventura pero el esfuerzo y el ánimo es imposible [. . .] la voluntad de la aventura es real y verdadera [. . .] la querencia es real pero lo querido es irreal. [. . .] Es un hecho que existen hombres decididos a no contentarse con la realidad. [. . .] A estos hombres los llamamos héroes.96
Don Quijote entwirft sich und bestimmt selbst, wer er sein will. Demnach soll die reine Vernunft der lebendigen Vernunft, die die Phantasie als grundlegende Fähigkeit des Menschen anerkennt, im Sinne von Ortegas Ratiovitalismus weichen.97
7.3.1 Ernst Bloch und das Real-Utopische Die Philosophie der Hoffnung erfährt im Europa der 50er Jahre einen entscheidenden Anstoß durch das Werk Ernst Blochs. Dieses stützt sich im Wesentlichen
94 José Ortega y Gasset: Ideas sobre el teatro y la novela. Madrid: Alianza 2005, S. 130. 95 José Ortega y Gasset: El hombre y la gente. In: Ders.: Obras completas. Band IX. Madrid: Taurus 2009, S. 281–440. 96 José Ortega y Gasset: Meditaciones del ‹Quijote›. Herausgegeben von José Luis Villacañas. Madrid: Biblioteca Nueva 2004, S. 285–287. 97 Francisco José Martín: La tradición velada. Ortega y el pensamiento humanista. Madrid: Biblioteca Nueva 1999, S. 96–97.
7.3 Ortega y Gasset und das Prinzip Hoffnung
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auf die Psychoanalyse und den Marxismus. Freud widmet seine Aufmerksamkeit dem Unbewussten im Verhältnis zur Vergangenheit. Hingegen wurde laut Bloch die Beziehung des Unbewussten zur Zukunft noch nicht analysiert. Den Freud’schen Kategorien des Bewussten und Unbewussten fügt Bloch die Kategorie des noch nicht Bewussten hinzu, als psychischer Ort, an dem Neues vorbereitet und geschaffen wird.98 Darüber hinaus wurde laut Bloch alles Wissen bis zu Marx in Beziehung zur Vergangenheit gesetzt. So nimmt er die marxistische Kritik der bürgerlichen Gesellschaft wieder auf, in der die Vergangenheit vor der Gegenwart vorherrscht, während die kommunistische Gesellschaft die Gegenwart und Zukunft vorzieht: Es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist, und dem der Fluß der Gegenwart den spezifischen Raum gibt, den Raum neuer, betreibbar besserer Gegenwart. Also wurde die beginnende Philosophie der Revolution, das ist, der Veränderbarkeit zum Guten allerletzt am und im Horizont der Zukunft eröffnet.99
Der Marxismus ist für Bloch die Wissenschaft der Zukunft, die die Möglichkeit des real Objektiven birgt und handlungsorientiert ist.100 Das Sein wird auf der Grundlage einer Tendenz definiert, deren Fokus von der Vergangenheit zu einer offenen Zukunft übergegangen ist. Das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt wird als Verhältnis zwischen der Erwartung und dem Erwarteten verstanden. Die Philosophie soll demnach ihre Ziele überdenken und sich auf die Zukunft ausrichten, um zum Bewusstsein von morgen zu werden. Die Utopiekritik des Marxismus darf jedoch nicht als Aufhebung des Rechts des Menschen zu träumen verstanden werden. Aus dieser marxistischen Perspektive ist der Gegensatz zwischen Traum und Realität nicht negativ konnotiert, solange der Träumende wirklich an seinen Traum glaubt und gewissenhaft an seiner Verwirklichung arbeitet.101 Vor diesem Hintergrund entwickelt Bloch das Modell der konkreten Utopie. Die ältesten Bestrebungen des Menschen (Glückseligkeit, Wohlergehen und Freiheit) müssen stets erneute Konkretisierungen zulassen. Jedoch darf die Hoffnung nicht als eine stete Annäherung an ein Ideal verstanden werden, das sich dennoch nie verwirklichen lässt. Der Prozess und die Distanz zwischen Antizipation und Ziel müssen endlich sein. Daher begreift Bloch die Geschichte als einen Prozess von aufeinanderfolgenden Verwirklichungen bestimmter Hoffnungen. Die
98 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1959, S. 131–132. 99 Ebda., S. 329. 100 Ebda., S. 331–332. 101 Ebda., S. 4–9.
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Welt ist für Bloch nicht endgültig festgelegt, sondern befindet sich in einem permanenten Prozess der Unentschlossenheit zwischen realen Möglichkeiten: Konkrete Utopie steht am Horizont jeder Realität; reale Möglichkeit umgibt bis zuletzt die offenen dialektischen Tendenzen-Latenzen. Von ihnen ist die unabgeschlossene Bewegung der unabgeschlossenen Materie – und Bewegung ist, nach dem tiefen Aristotelischen Wort «unvollendete Entelechie» – erzrealistisch durchzogen.102
Laut Paul Tillich überwindet Bloch mit seinem dialektischen Utopiebegriff die Problematik der Verbindung zwischen Utopie und diktatorischem Denken, auf das bereits eingegangen wurde,103 indem er Möglichkeit und Unmöglichkeit, Erfolg und Scheitern vereint.104 Ähnlich wird das Werk Blochs in Spanien durch Laín Entralgo rezipiert.
7.3.2 Laín Entralgo und die dialektische Hoffnung Pedro Laín Entralgo wird als einer der Hauptvertreter des Humanismus in Spanien angesehen.105 Er begreift den Menschen einerseits als soziales, auf den Anderen ausgerichtetes Wesen106 und andererseits als historisches, zukunftsorientiertes Wesen. In diesem Sinne stellt er eine wissenschaftliche historische Anthropologie107 auf der Grundlage von Hoffnung auf, in der der Mensch auf die Zukunft ausgerichtet ist.108 Ähnlich wie Ortega und Bloch,109
102 Ebda., S. 258. 103 Vgl. Kapitel 3.2.2. 104 Paul Tillich: Kairos und Utopie. In: Ders.: Der Widerstreit von Raum und Zeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Gesammelte Werke. Band VI. Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1963, S. 149–156, hier S. 155–156. 105 Thomas Mermall: Concepts of Humanism in the Contemporary Spanish Essay. In: Hispanic Review, 39/3 (1971), S. 237–248, S. 238. 106 Pedro Soler Puigoriol: El hombre, ser indigente. El pensamiento antropológico de Pedro Laín Entralgo. Madrid: Guadarrama 1966 und Amancio Sabugo Abril: Para una antropología de la otredad. In: Cuadernos Hispanoamericanos, 446–447 (1987), S. 139–155, hier S. 140 sprechen vor diesem Hintergrund von einer «antropología de la otredad». 107 Blas Matamoros: El hombre, esa enfermedad. In: Cuadernos hispanoamericanos, 446–447 (1987), S. 165–182. 108 Pedro Laín Entralgo: Antropología de la esperanza. Barcelona: Labor 1978, S. 199. 109 Obwohl zahlreiche Unterschiede zwischen beiden Philosophen bestehen, wird Muguerzas These, dass Ortega im Gegensatz zu Bloch kein utopischer Denker sei (Javier Muguerza: Ortega y la filosofía del futuro. In: Cuadernos hispanoamericanos, 403–405 (1984), S. 132–140, hier S. 136–139), nicht geteilt.
7.3 Ortega y Gasset und das Prinzip Hoffnung
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wenngleich aus eigener Perspektive,110 erachtet Laín die Hoffnung also als Haltung, die konstitutiv für die Natur des Menschen ist.111 In der Tat hat Bloch gezeigt, wie die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte und auf verschiedenste Art und Weise ein beständiges Streben nach Erfüllung zum Ausdruck bringt. Im Zeitraum von 1918 bis 1945 soll die menschliche Existenz laut Laín als Gesang zweier komplementärer Melodien verstanden werden: der Hoffnung und der Hoffnungslosigkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg überwiegt in Europa zwischen 1920 und 1930 die Hoffnung, wie Laín am Beispiel von Max Scheler, Thomas Mann, Bergson, Valéry, Claudel, Ortega und Eugenio d’Ors aufzeigt.112 Doch während der Mensch 1918 sein Opfer noch als Versöhnung versteht, begreift er seinen Schmerz 1945 als absurd, was die Hoffnungslosigkeit zur Lebensform macht. Darüber hinaus tragen laut Laín noch andere Faktoren in der Zwischenkriegszeit zu einer Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit bei: der Börsencrash von 1929 und die Machtergreifung des Nationalismus. Laín erachtet Heideggers Schriften als philosophisches Zeugnis einer neuen Tendenz des neuen europäischen Geistes, so wie Huxleys Brave New World das literarische ist.113 Nach Heidegger stellt die Angst den Menschen vor das mögliche Nichts seiner Seinsmöglichkeiten, indem die Existenz in die Perspektive des Todes als sicherste Möglichkeit gerückt wird. Der Existenzialismus geht also von einer 110 Laín schreibt der Hoffnung eine metaphysische Dimension zu. Im Gegensatz zu Bloch oder Ortega, versucht er, Glaube und Wissenschaft miteinander zu versöhnen (Pilar Concejo: Humanismo y sociabilidad en Laín Entralgo. In: Cuadernos hispanoamericanos, 446–447 (1987), S. 157–163, hier S. 158). Javier García Gibert: Sobre el viejo humanismo. Exposición y defensa de una tradición, S. 422–423 betont in diesem Sinne den Einfluss von Paul Ludwig Landsberg, einem Schüler von Max Scheler, insbesondere seines Werkes Die Erfahrung des Todes, das von Eugenio Imaz in der Zeitschrift Cruz y Raya übersetzt wurde. In dieser Schrift kritisiert Landsberg Schelers Idee des Todes als Ende des Lebens und trennt sie von der Heidegger’schen Angst, um den Tod stattdessen als Verwirklichung der menschlichen Hoffnung auf ein ewiges Leben zu verstehen. 111 Pedro Laín Entralgo: La espera y la esperanza, S. 817. Obwohl Laín Ortega als eine seiner wichtigsten Quellen erachtet (Laín in Carlos Alfieri: Una mirada al siglo XX. Entrevista con Pedro Laín Entralgo. In: Cuadernos Hispanoamericanos, 594 (1999), S. 17–28, hier S. 18–23), nehmen Thomas Mermall: Concepts of Humanism in the Contemporary Spanish Essay, José Luis Abellán: Laín, filósofo de la cultura española. In: Cuadernos hispanoamericanos, 446–447 (1987), S. 421–456 und Javier García Gibert: Sobre el viejo humanismo. Exposición y defensa de una tradición darauf keinen Bezug, während Pilar Concejo: Humanismo y sociabilidad en Laín Entralgo und Manuel Fraijó: Esperanza y trascendencia en Pedro Laín. In: Comprendre, 13/1 (2011), S. 49–65, hier S. 55 den Einfluss von den Meditaciones del ‹Quijote› sowie Ideas y creencias auf Laíns Schaffen erwähnen, ohne jedoch näher darauf einzugehen. 112 Pedro Laín Entralgo: La espera y la esperanza. In: Ders.: Obras selectas. Madrid: Plenitud 1965, S. 665. 113 Ebda., S. 601–602.
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Existenz aus, die sich durch die beständige Möglichkeit des Todes auszeichnet.114 Laut Laín ist die Angst seit der Publikation von Sein und Zeit das Hauptmerkmal jedes Daseins, das als Sein zum Tode in die Welt geworfen ist. Die Erwartungshaltung kann demnach reflektiert oder unreflektiert sein. In der angstvollen Erwartung – jener also, in der die Möglichkeit des Todes bewusst akzeptiert wird – entfaltet sich die Eigentlichkeit der Existenz, während die hoffnungsvolle Erwartung eine vertrauensvolle, aber uneigentliche ist.115 Aus der Hoffnungslosigkeit entsteht der neue Mensch nach Sartre. Anhand einer Analyse des europäischen Denkens stellt Laín jedoch einen signifikanten Wandel in der Bedeutung der Hoffnung fest, der sich zwischen 1940 und 1950 ereigne. Um 1945 sind die vorherrschenden intellektuellen Haltungen durch den Existenzialismus geprägt; zwischen 1940 und 1950, die Torrente Ballester die dunklen Jahre nennen sollte,116 bestimmte die Hoffnungslosigkeit das abendländische Denken. Doch zwischen 1950 und 1960, und mehr noch in den anschließenden Jahren, vollzieht sich ein Wandel durch Ernst Bloch. Bloch zeigt auf, dass sich der Mensch in seiner Existenz nach dem Prinzip der Hoffnung entwickelt. Vor diesem Hintergrund widmet Laín sein Werk der Entwicklung eines überzeugenderen und befriedigenderen Hoffnungsbegriffs als dem des Existenzialismus.117 Während der französische Existenzialismus dafür eintritt, die Hoffnungslosigkeit als historische Gegebenheit anzunehmen, schlägt Laín eine neue, dialektische Hoffnung vor.118 Diese nimmt sowohl die Hoffnung als auch die Hoffnungslosigkeit mit auf, sodass die Hoffnung niemals zu der positiven Sicherheit werden kann, bestimmte Erwartungen zu erreichen, so wie die Hoffnungslosigkeit nicht die Unerreichbarkeit dieses Ziels behaupten kann. Die Gegenwart einer solchen Hoffnung liegt also zwischen der Angst vor der Hoffnungslosigkeit und ihrer vollen Verwirklichung. So arbeitet er eine Anthropologie aus, in der die dialektische Hoffnung nicht nur möglich, sondern sogar wertvoll ist.119 Dieser neue Hoffnungsbegriff ist es, der seit den 1960er Jahren die Gattung der Tragödie modifiziert.
114 Ebda., S. 571–578. 115 Ebda., S. 532. 116 Gonzalo Torrente Ballester: El ‹Quijote› como juego y otros trabajos críticos. Barcelona: Destino 2004, S. 204. 117 Pedro Laín Entralgo: La espera y la esperanza, S. 614. 118 Ebda., S. 848–850. 119 Ebda., S. 660.
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7.4 Der Humanismus der Hoffnung und die Erneuerung der Tragödie 7.4.1 Dionysos und Apoll Nach Nietzsches bekannter These aus Die Geburt der Tragödie verschmelzen in ihrem Ursprung zwei gegensätzliche Prinzipien: das apollinische und das dionysische. Das apollinische repräsentiert das Rationale, entfaltet sich vor allem in der nachahmenden Kunst und Epik und bezieht sich auf das Individuelle. Das dionysische hingegen gehört dem Irrationalen an, spiegelt sich in der Musik wider und fußt auf dem Kollektiven.120 Euripides nun lässt Dionysos aus der griechischen Tragödie verschwinden und führt sie somit laut Nietzsche zu ihrem Ende. Euripides’ Tragödie ist für Nietzsche eine Folge des ästhetischen Sokratismus, dem Feind des Dionysischen: Die Idee, dass die Vernunft für Schönheit notwendig sei, ist das ästhetische Äquivalent zu dem ethischen Prinzip, dass nur der Weise tugendhaft sein kann. Nach Nietzsche modifiziert Euripides die Struktur, die Figuren sowie die Sprache der Tragödie nach drei Postulaten des Sokrates: dass die Weisheit eine Tugend ist, dass jede schlechte Handlung durch Unwissen entsteht und dass nur der tugendhafte Mensch glücklich ist.121 Mit der sokratischen Tragödie von Euripides verliere die Tragödie ihr wesentliches Element: die Musik. Das Gleichgewicht zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Rationalität und Irrationalität, zerbreche.122 Apoll verdrängt also Dionysos und schafft auf diese Weise eine illusorische Hoffnung auf Wohlwollen, das Gute und Ordnung, die jedoch nicht absolut existieren. Der Optimismus, der auf einem vorgegebenen Ideal beruht, siedelt sich im Bereich der Philosophie bei Sokrates und Platon sowie im Bereich der Tragödie bei Euripides an. Die Analyse, die George Steiner 1961 in seiner Gegenrede Death of tragedy vornimmt, zieht anders als bei Nietzsche den Schluss, dass die tragische Stimme im Theater nach Shakespeare und Racine verstummt oder verzerrt wird. Für Steiner sind die Theaterstücke von Sartre123 oder Camus nur die Parabel einer
120 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk. Berlin: Insel 2012, S. 120. 121 Ebda., S. 102–110. 122 Ebda., S. 90, 126. 123 Die Konzeption von Sartres Literatur als Projektion seiner Philosophie wurde in zahlreichen Forschungsarbeiten hervorgehoben. Vgl. u.a. Leo Pollmann: Sartre und Camus. Literatur der Existenz. Stuttgart: Kohlhammer 1976, S. 12 ff; Hans Mayer: Anmerkungen zu Sartre. Neske: Pfullingen 1992; Christine Hober: Das Absurde. Studien zu einem Grenzbegriff menschlichen Handelns. Münster: LIT 2001, S. 81; Ulrike Bardt: Geschlossene Gesellschaft oder die ‹Moral in
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philosophischen oder politischen These,124 während er Beckett als verzerrt und monoton bezeichnet. Die Bedeutung dieser Stücke, so fährt er fort, liege außerhalb des Theaters, da ihre dramatische Form beinahe zufällig ist. In Wirklichkeit aber repräsentieren diese Stücke, denen Steiner den Rang der Tragödie abspricht, den Willen, der Gattung ihr dionysisches Element zurückzugeben, das sie im Sinne Nietzsches nach Euripides verloren hat. Vor diesem Hintergrund wäre also nicht vom Tod der Tragödie die Rede, wie Steiner bekräftigt, sondern von ihrer Wiedergeburt. Sartre und Camus suchen die Tragödie des Menschen darzustellen, der sich zwischen dem Dionysischen und Apollinischen, der Irrationalität der Welt und dem Willen, sie zu verstehen, befindet. Auch Buero Vallejo strebt eine Einheit beider Kräfte in der Tragödie an: [El teatro logra] la mesura y el equilibrio a que aspiraba mediante la expresión misma de tantas desmesuras y equilibrios. Una obra de arte puede ser grande y desequilibrada pero la aspiración apolínea al equilibrio vuelve siempre o, mejor dicho, nunca puede abandonarse del todo.125
Dem apollinischen soll durch verständliche und neuordnende Worte entgegengewirkt werden. Die Musik, der Tanz, der Schrei, die Geste – Befreier der tiefsten menschlichen Impulse – sollten nicht endgültig über das Wort siegen. In La tejedora de sueños konstruiert Buero eine Tragödie in dialektischer Gestalt, indem er das dinoysische Temperament Penelopes der apollinischen Strenge des Odysseus entgegenstellt.126 Zudem zeichnet sich die Tragödie durch das widrige Schicksal aus, das stärker als der Held ist und ihn schließlich besiegt. Dieses unheilbringende Schicksal ist aufgrund seiner Willkür in vielen Tragödien doppelt grausam, indem es den Launen der Götter oder, aus existenzialistischer Perspektive, der Absurdität der Welt entspringt. Daher kann die Tragödie entweder als Ausdruck der Angst des Menschen vor einer grausamen und ungerechten Gottheit oder als Ausdruck der Angst vor einem Universum ohne Sinn verstanden werden. Für Buero hingegen ist das grausame Schicksal nur ein Teilelement der Tragödie. Die griechische Tragödie weist ein organisches Verhältnis zwischen Not-
Situation›. In: Ders.: Jean-Paul Sartre: Philosoph des 21. Jahrhunderts? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 42–52, hier S. 44. 124 George Steiner: La muerte de la tragedia. Madrid: Siruela 2011, S. 277. 125 Antonio Buero Vallejo: Del quijotismo al mito de los platillos volantes. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 443–447, hier S. 447. 126 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 363.
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wendigkeit und Freiheit auf, wobei jedoch nur erstere als bedeutsam erachtet wurde. Buero bemerkt, dass die griechische Tragödie seit Aischylos lehrt, dass das Schicksal nicht willkürlich ist, sondern vielmehr eine Strafe oder automatische Folge von Fehlern oder Exzessen des Menschen darstellt: Los griegos lo decían así: tras la hybris –exceso, insolencia, pecado—viene la Némesis – venganza, castigo, expiación –. Ya en la Odisea, madre de tantas tragedias, lo leemos: «De qué modo culpan los mortales a los númenes! – profiere Zeus –. Dicen que las cosas malas les vienen de nosotros y son ellos quienes se atraen con sus locuras infortunios no decretados por el destino». [. . .] Al comienzo de todo encadenamiento trágico de catarsis los griegos ponen un acto de libertad humana y no un decreto del destino. Los oráculos y predicciones no hacen otra cosa que indicar sus consecuencias. [. . .] El absurdo del mundo tiene muy poco que ver con la tragedia como último contenido a deducir, aunque tenga mucho que ver con ella como apariencia a investigar.127
Laut Buero betont die existenzialistische Tragödie den Pessimismus durch den Ausdruck konkreter Negierungen von Weltsinn, was der Hoffnung jede Unterstützung versagt. Dennoch sieht Buero die tragische Hoffnung immer – sei es in stärkerem oder schwächerem Maß – gegeben, da sogar die Tragödie der Hoffnungslosigkeit der Hoffnung zuarbeitet.128 Obwohl die Figuren die Angst vor einer enttäuschten Hoffnung erfahren, bleibt diese Hoffnung für den Zuschauer dennoch lebendig. Im Gegensatz zum französischen Existenzialismus ist das Schicksal in der Tragödie für Buero nicht immer grausam. Nicht einmal in der Tragödie wird dem Menschen die Möglichkeit des Kampfes und des Sieges verweigert. Die Möglichkeiten der Protagonisten können sogar zu einem Sieg über das Schicksal führen: «En esto, como en casi todo, los griegos nos brindan la más luminosa lección. Pues si ellos ponían al comienzo de todo destino trágico un acto de libertad, también nos han legado ejemplos en los que el destino trágico se resuelve en un final acto de libertad».129 Seit ihrem Ursprung zeigt die Tragödie einen Konflikt zwischen Determinismus und freiem Willen auf, der in einigen der wichtigsten griechischen Tragödien durch einen Sieg des Helden über sein Schicksal gelöst wird. In jedem Fall aber ebnen die Tragödien sowohl mit unheilvollem als auch siegreichem Ende gleichermaßen den Weg zur Hoffnung, da auch die Ausweglosigkeit der unheilvollen Tragödie nur eine scheinbare ist – sogar, wenn der Autor der Tragödie selbst anderer 127 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 632–660, hier S. 640, 642. 128 Ebda., S. 648–649. 129 Ebda., S. 642.
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Meinung ist.130 Vor diesem Hintergrund sieht Buero in En attendant Godot die große Tragödie seiner Zeit: «El efecto que produce en el espectador se orienta a la esperanza, aunque parezca invitarle a desesperar».131 Mit seinem Verständnis vom Theater sieht sich Buero in der Tradition des Aischylos,132 den er als beispielhaften Tragödienautor betrachtet.133 Die Orestie ist für Buero ein gutes Beispiel dafür, wie die Tragödie nicht eine pessimistische und hoffnungslose, sondern eine offene und hoffnungsvolle Sicht auf die menschliche Existenz darstellt. In den Eumeniden, dem letzten Teil der Trilogie, besiegt Orest das Unheil verkündende Schicksal und das Stück schließt mit einem glücklichen Ende: Porque el destino, en su aspecto fatídico, es algo provisional. Lo trágico no es el necesario aplastamiento de las pobres tentativas de libertad del hombre sino la lucha entre libertad y necesidad y en esa lucha la libertad muchas veces puede ganar la partida. [. . .] Veo en Esquilo elementos que estructuralmente pueden estar muy cerca de mis preocupaciones dramáticas.134
Die Verbindung von Tragödie und Pessimismus ist laut Buero ein Fehler, der der Unfähigkeit entspringt, die Hoffnung zu bewahren, nachdem erkannt wurde, dass zur angestrebten Ganzheit des Lebens auch Schicksalsschläge und Niederlagen gehören. Die Tragödie drückt für Buero den Optimismus und Glauben an das menschliche Handeln besser als jede andere Gattung aus. Damit bringt sie dem spanischen Volk Lebenskraft angesichts eines scheinbar unausweichlichen Schicksals, das es dennoch besiegen kann.135
130 Antonio Buero Vallejo: Sobre la tragedia. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 702–706, hier S. 703. 131 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 649. Damit will Buero die Unmöglichkeit einer Tragödie der Hoffnungslosigkeit aufzeigen. Seine Interpretation des Stückes steht im Gegensatz zu der von Alfonso Sastre, der Beckets Werk als Tod der Hoffnung interpretiert: «Seguiremos esperando pero nuestra espera será ya una espera sin esperanza, una espera desesperada» (Alfonso Sastre: Siete notas sobre Esperando a Godot. In: Primer Acto, I (1957), S. 46–52, hier S. 49). 132 Gonzalo Torrente Ballester: Teatro histórico. In: Ders.: Ensayos críticos. Barcelona: Destino 1982 S. 391–445, hier S. 391. 133 Antonio Buero Vallejo: Esquilo, Sófocles, Eurípides. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 660–662, hier S. 661. 134 Antonio Buero Vallejo: Mis autores preferidos. In: Ders.: Obras Completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa-Calpe 1994, S. 535–537, hier S. 536. 135 Antonio Buero Vallejo: Lo trágico. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 588–590, S. 589.
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Buero sieht in der Tragödie die Auseinandersetzung zweier gegensätzlicher Kräfte, die nicht notwendigerweise unvereinbar sein müssen, und stellt sich somit einer existenzialistischen Definition der Tragödie als unversöhnliche und unlösbare Antithese entgegen. Die Griechen geben laut Buero als Erfinder der Tragödie anhand von Stücken wie der Orestie oder Iphigenie bei den Taurern ein gutes Beispiel dafür, dass diese Definition nicht zutrifft. Sie führen bei dionysischen Festen keine isolierten Tragödien auf, sondern Zyklen aus drei Tragödien und einem Satyrspiel am Ende. Dank der Bewahrung einer vollständigen Trilogie – der Orestie von Aischylos – ist bekannt, dass das Ende einer Tragödie versöhnlich sein kann und gleichzeitig ist heute erkennbar, was ein tragischer Zyklus war. Obwohl vom prometheischen Zyklus nur eine Tragödie überliefert ist, wird vermutet, dass er mit der Versöhnung von Zeus und Prometheus endete und dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Mehrheit der tragischen Zyklen einen ähnlichen Ausgang nahm. Wenn sie dennoch in der Katastrophe endeten, war die moralische Ordnung wiederhergestellt und der verhängnisvolle Geist geschlagen. Beispielhaft hierfür sind Sophokles’ Tragödien Ödipus auf Kolonos, Philoktetes oder Aias sowie Euripides’ Iphigenie bei den Taurern, in deren letzten Zeilen der Chor seine Freude über das besiegte Unglück ausdrückt.136 Somit bevorzugt Buero, sich auf die Musik zu berufen, um die Tragödie nach Beethoven zu definieren: «Durch Leiden Freude: la más rotunda definición de lo trágico que para mí se ha dado».137 Im Gegensatz zur Tragödie des französischen Existenzialismus, die sich der Hoffnung verschließt, verficht Buero eine offene und hoffnungsvolle Tragödie. Laut Buero gibt Aristoteles die Anleitung dafür. Ihr charakteristischstes Merkmal ist die Katharsis, die Reinigung durch Schrecken und Mitleid. Die kathartische Handlung der Tragödie erleichtert es dem Zuschauer einerseits, durch den Schrecken rechtzeitig über die Übel nachzusinnen, die die Figuren auf der Bühne nicht zu vermeiden vermochten. Andererseits wird der Zuschauer durch das Mitleid dazu angeregt, sich selbst von diesen Übeln zu befreien. Trotzdem gibt es zahlreiche Beispiele, in denen der Held sein tragisches Schicksal durch Reflexion abwenden kann. Ein versöhnliches und glückliches Ende ist in der antiken Tragödie selten. Und dennoch: aquellas tragedias donde el conflicto termina en un desenlace funesto y sin aparente salida son, en el fondo, igualmente «abiertas». La lucha entre la tragedia del personaje y la necesidad del destino es el conflicto típico de la tragedia; y, como en toda lucha, también en esta se dibuja la esperanza de que, al fin, la libertad pueda vencer al Destino ad-
136 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 643. 137 Antonio Buero Vallejo: De mi teatro. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 504–519, hier S. 514–515.
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verso y modificarlo, si no en el ámbito de la propia narración, fuera de ella. Aunque pueda haberla para los personajes concretos de una tragedia concreta, no hay una previa situación «cerrada» para el hombre.138
Nicht einmal die Philosophie des Absurden kann als pessimistisch betrachtet werden, da bei ihr stets die Hoffnung auf die Errettung des Dionysos besteht, die für Nietzsche die mutige Akzeptanz eines Lebens ohne Sinn durch das griechische Volk bedeutet. Der eigentliche Pessimismus steht demnach im Gegensatz zur Tragödie. Ibsen, Pirandello und Tschechow wurden fälschlicherweise als Pessimisten abgetan, wobei sie eigentlich das genaue Gegenteil sind. Ihr Werk stellt für Buero den Versuch dar, den Schmerz zu verstehen und daraufhin überwinden zu können. Vor diesem Hintergrund zeugen der Existenzialismus oder die Philosophie des Absurden von einem nur vorläufigen Pessimismus, der dann auf sicherem Grund zur Hoffnung führen kann: [La tragedia] nos propone conservar el optimismo sin negar ninguna negrura de la vida, en vez de propagar la peligrosa tontería de que el mundo es, a fin de cuentas, un valle de delicias. La tragedia propone la fundación del optimismo en la verdad y no en la mentira [. . .]. Propone el único optimismo posible, si es que esta virtud ha de ser una gran realidad del hombre y no una falacia sin consistencia. 139
Dennoch warnt Buero davor, anzunehmen, dass die optimistische Seite der Tragödie sich immer explizit zeigt. Wenn ein Stück ohne offenbare Auflösung des Konflikts endet, bleibt die Hoffnung deshalb dennoch nicht ausgesperrt, da sie stets hinter jeder Tragödie liegt.140 Während Nietzsche in der Verdrängung des Chors bei Euripides das Ende der Tragödie sieht, handelt es sich für Buero bloß um eine Substitution durch andere Elemente. In zeitgenössischen Tragödien wird der Chor durch bestimmte Figuren ersetzt, die das Kollektiv darstellen und in die Handlung eingreifen oder aus eigener Perspektive urteilen. Die Musik ist weiterhin ein wesentlicher Bestandteil der Tragödie und in Bueros Werk kommt ihr eine wichtige Rolle zu, wie Valentin Haüy in El concierto de San Ovidio bestätigt: VALENTIN HAÜY Cuando no me ve nadie, como ahora, gusto de imaginar a veces si no será. . . la música. . . la única respuesta posible para algunas preguntas.141
138 Antonio Buero Vallejo: La juventud española ante la tragedia. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 611–614, hier S. 612–613. 139 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 646. 140 Ebda., S. 647. 141 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio. Madrid: Castalia 1990, S. 196.
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Obwohl sich die Form des Chors verändert hat, besteht seine Funktion fort. Dasselbe, so fügt Buero hinzu, gilt für die Musik, die sich hinter der melodischen Schönheit der Worte, Singspiele und Lieder verbirgt. Die großen Dramatiker der Gegenwart schreiben der Musik eine Rolle im Drama zu. Sowohl Ibsen als auch später Pirandello, O’Neill, Brecht und García Lorca greifen erneut und auf unterschiedlichste Weise auf den Chor zurück, der bei ihnen ähnliche Funktionen wie in der antiken Tragödie übernimmt.142 Für Buero versucht das Theater – das, wie bei Artaud, das Apollinische radikal beseitigen will, um bei Null zu beginnen – nicht, zur Tragödie zurückzukehren, sondern stattdessen zum spontanen Dithyrambos, aus dem sie hervorgegangen ist, sowie zum Chor der Zuschauer-Schauspieler. Pero no se puede [. . . .] volver al primitivo ditirambo con siglos de cultura encima; ni suplantar al coro, vicario de espectadores participantes, por el coro desmandado de éstos. Cuando el teatro ha intentado algo realmente integrador, totalizador del hombre, sus claridades y sus enigmas, ha vuelto a la tragedia, que ya englobó y superó al ditirambo y que, naturalmente, no es, como se suele decir, género cerrado y fatídico. No: es un género esperanzado y abierto. Y así lo fue en sus orígenes mismos, como nos lo pueden atestiguar tragedias tan abiertas y felices, incluso, como Las Euménides de Esquilo.143
Mit Nietzsche erkennt Buero im Dionysischen eines der wesentlichen Elemente der Tragödie und betont wiederholt, dass das Theater ebenfalls das Gegengewicht des Apollinischen brauche. Theaterströmungen wie das Living Theatre, die sich intensiv mit dem Dionysischen als Form des radikalen Bruchs mit den Täuschungen der modernen Gesellschaft beschäftigen, erreichen kein beständiges Resultat durch die Beseitigung des Apollinischen: «Sin este contrapeso tampoco existe Dionisos; sólo existe la neurosis».144 Buero schlägt die Wiederaufnahme beider Pole im Theater vor, die Versöhnung seiner dionysischen und seiner apollinischen Seite: «¿Habrá el teatro de optar por una indefinida libertad dionisíaca contra las instancias apolíneas? [. . .] Dionisos ha vuelto a liberar energías pero Apolo debe reordenarlas para que no se esterilicen».145 Schließlich schlägt Buero vor, das Gleichgewicht der griechischen Tragödie wiederherzustellen. Es stellt sich für ihn als unvermeidbar heraus, da die Problematiken des Menschen weiterhin einen beispiellosen Ausdruck in der Gat-
142 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 655. 143 Antonio Buero Vallejo: Problemas del teatro actual. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 740–754. 144 Ebda., S. 750. 145 Antonio Buero Vallejo: Una frase de don Quijote. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 1300–1308, hier S. 1304.
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tung der Tragödie finden, obwohl sie gegenwärtig Formen annehme, die sich von denen der Zeiten ihrer Entstehung erheblich unterscheiden.146 Doch Buero präzisiert, dass die Tragödie, sieht man vom Kontext ab, keinem anderen Weg folgen kann, als dem griechischen.147 Anders als Nietzsche behauptet Buero, dass Euripides die Tragödie nicht zerstört habe, eine These, die auch spätere Studien bekräftigen: «Der Mythos, dass die Tragödie unter Euripides Händen starb, ist daher beinah eine Umkehrung der Wahrheit».148 Für Buero ist Euripides anders als für Nietzsche nicht der optimistischste, sondern der pessimistischste unter den griechischen Tragödiendichtern.149 Ihn quält die Möglichkeit, dass der Mensch ein hilfsbedürftiges Wesen ist, geworfen in eine Welt ohne Sinn. In dieser Angst aber liegen Glaube und Hoffnung verborgen. Daher behauptet er schließlich, dass La historia entera del género describe, de Esquilo a Sartre, la misma trayectoria que va de Esquilo a Eurípides [. . .] De Eurípides puede pasarse a Sófocles y de este a Esquilo, o viceversa. Del sentido trágico de Esquilo – el más afirmativo – o del de Eurípides – el más escéptico – no puede pasarse a ningún otro sentido trágico: son los límites de la tragedia. Las concepciones trágicas recorrerán siempre el triángulo dibujado por los gigantes de la escena ateniense con sus cambiantes gradaciones entre la fe, la duda y la esperanza. Y si los hombres no se ciegan del todo, seguirán sacando de la tragedia preciosas enseñanzas que les servirán para entender con buen ánimo y afrontar con invencible valor la [. . .] verdad.150
7.4.2 Zeitlichkeit und Hoffnung bei Ortega y Gasset und Buero Vallejo Der Existenzialismus begreift die menschliche Existenz als konstante Antizipation und Vorformung der Zukunft. Für Ortega y Gasset existieren Vergangenheit und Gegenwart nachrangig, da der Mensch sie nur in Bezug auf das, was er von der Zukunft erwartet, betrachtet: El porvenir es siempre el capitán, el Dux; presente y pasado son siempre soldados y edecanes. Vivimos avanzando en nuestro futuro, apoyados en el presente. [. . .] En un buen orden psicológico, pues, lo decisivo no es la suma de lo que hemos sido sino de lo que
146 Antonio Buero Vallejo: Problemas del teatro actual, S. 753. Vgl. auch Antonio Buero Vallejo: Esquilo, Sófocles, Eurípides, S. 662. 147 Antonio Buero Vallejo: Esquilo, Sófocles, Eurípides, S. 661. 148 Walter Kaufmann: Tragödie und Philosophie, S. 268. 149 So hat das auch in der neueren Forschung Herreras gesehen, sich stützend auf die Bewertung, die Carlos García Gual in seiner Ausgabe der sämtlichen Werke des griechischen Autors vornimmt (Enrique Herreras: La tragedia griega y los mitos democráticos. Madrid: Biblioteca Nueva 2010, S. 166–167). 150 Antonio Buero Vallejo: Esquilo, Sófocles, Eurípides, S. 662.
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anhelamos ser: el apetito, el afán, la ilusión, el deseo. Nuestra vida, queramos o no, es en su esencia misma futurismo. El hombre va llevado au bout du nez por sus ilusiones, imagen que en su barroquismo pintoresco está justificada porque en efecto, la punta de la nariz es lo que suele ir a la vanguardia, lo que va de nosotros al más allá espacial, en suma, lo que nos anticipa y nos precede. [. . .] Constantemente estamos decidiendo nuestro ser futuro y para realizarlo tenemos que contar con el pasado y servirnos del presente, operando sobre la actualidad. [. . .] El presente en que se resume y condensa el pasado, el pasado individual y el histórico es, pues, la porción de fatalidad que interviene en nuestra vida [pero es una fatalidad] que no ahoga, que deja un margen de decisión a la vida y permite siempre que de la situación impuesta del destino demos una solución elegante y nos forjemos una vida bella.151
Es wurde bereits aufgezeigt, dass für Ortega, im Gegensatz zu Heidegger und zum französischen Existenzialismus, die menschliche Existenz nicht auf den Tod, sondern auf die Hoffnung gerichtet ist. Für Ortega sind wir, noch bevor wir sehen, was uns umgibt – sei es vergangen oder gegenwärtig – ein ursprüngliches Bündel von Leidenschaften, Bestrebungen und Illusionen. Was der Mensch in der Vergangenheit war, das ist er in Hinblick auf die Zukunft, ob in affirmativer (wenn er entscheidet, zu bleiben, was er bislang war) oder negierender Form (wenn er es ändern will). Die Erinnerung steht demnach im Dienst der Hoffnung. Die menschliche Realität muss sich gleichermaßen auf den Blick in die Vergangenheit und die Zukunft stützen. Ausgehend vom Wissen der Vergangenheit kann ein Projekt in der Zukunft geschaffen werden. Das historische Wissen ist für Ortega, mit Worten von Laín Entralgo, die Untersuchung einer Erinnerung im Dienst der Hoffnung.152 Wenn die Vergangenheit die Mittel bereithält, um die Zukunft zu verwirklichen, dann entdeckt der Mensch seine Gegenwart, die die drei Dimensionen der inneren Zeit vereint.153 Ortegas Zukunftsorientierung drückt somit die entschlossene Bekräftigung eines ‹Jetzt› aus, das Vergangenes, Gegenwärtiges
151 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X, S. 369–371. 152 Pedro Laín Entralgo: La espera y la esperanza, S. 867. Das Verständnis des Menschen ist für Laín, wie bereits dargelegt wurde, ein historisches und nicht von den Ideen der Hoffnung und des Anderen zu trennen, wie in zweien seiner Hauptwerke von 1967 deutlich wird, Cuando se espera und Entre nosotros (Donald W.Bleznick: El teatro de Pedro Laín Entralgo. In: Cuadernos Hispanoamericanos: Revista Mensual de Cultura Hispánica, 446–447 (1987), S. 219–234). Beide Ideen sind für Bueros Werk von wesentlicher Bedeutung, wie im Folgenden gezeigt wird. 153 Im Gegensatz zur Zeitkonzeption der Antike, existieren Erfahrungen aus phänomenologischer Perspektive niemals isoliert, sondern gliedern sich in Kontexte ein, in denen sich Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart miteinander verbinden.
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und Zukünftiges umfasst und auf mehr oder weniger harmonische Weise zusammenfügt. Die unterschiedliche Heidegger-Rezeption in Frankreich und Spanien führt zu verschiedenen Ausformungen des Humanismus. Laut Gumbrecht entsteht in der zentraleuropäischen Literatur der Nachkriegszeit ein neuer Chronotopos: der einer ewigen Gegenwart,154 die durch eine Vergangenheit, der der Mensch nicht entfliehen, und eine Zukunft, die er nicht erreichen kann, bestimmt ist. Die Gegenwart ist also kein Übergangszustand mehr, sondern wird zu einer permanenten Latenzzeit. Laut Gumbrecht ähnelt die Situation des Menschen nach 1945 der von Vladimir und Estragon in En attendant Godot.155 Während das Theater der 50er Jahre in Frankreich den Ansatz des absurden Theaters fortführt, wendet sich das spanische Theater dem Prinzip der Hoffnung von Ernst Bloch und Ortega y Gasset zu, wie im Folgenden gezeigt wird. Im Sinne Ortegas156 sowohl von Heidegger157 als auch von Bloch158 beeinflußter Phänomenologie der Zeit definiert Buero Vallejo Spanien als eine Gegenwart, in der sowohl die Vergangenheit als auch die Hoffnung auf eine unabgeschlossene Zukunft zusammenfließen.159 Einerseits plädiert Buero für ein Theater, das historisch und dennoch aktuell ist:
154 Jean-Paul Sartre: Les mouches, S. 240: «immense présente». 155 Hans Ulrich Gumbrecht: After 1945. Latency as origin of the present. Stanford: Stanford University Press 2013, S. 27, 200. 156 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X, S. 369–371. 157 Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 326. 158 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 17: «Das Sein versteht sich aus seinem Vorher, [. . .] aus einem ebenso tendenzhaften, noch unabgeschlossenen Wohin. Das Sein [. . .] versteht sich letzthin nur aus dem und in dem, woher und wonach es tendiert». 159 Bueros Hoffnungstragödie stellt also einen Ausdruck eines philosophischen Hoffnungsdiskurses dar, auf den die bisherige Forschungsliteratur nicht eingegangen ist (Félix G.Ilárraz: Antonio Buero Vallejo: ¿pesimismo o esperanza? In: Revista de Estudios Hispánicos, 1 (1967), S. 5–16; Martha Halsey: Buero Vallejo and the Significance of Hope. In: Hispania, 51 (1968), S. 57–66; Elizabeth S. Rogers: The Humanization of Archetypes in Buero Vallejo’s La tejedora de sueños. In: Revista de Estudios Hispánicos, 15/3 (1981), S. 339–347, hier S. 346; Wilfried Floeck: Zwischen Tradition und Avantgarde. Das dramatische Werk von Antonio Buero Vallejo. In: Ders. (Hg.): Spanisches Theater im 20. Jahrhundert. Gestalten und Tendenzen. Tübingen: Francke Verlag 1990, S. 155–178, hier S. 159–163; Katrin C. Bernhard: Zensurbedingte Strategie oder ästhetisches Konzept? Das dramatische Werk von Antonio Buero Vallejo im franquistischen und demokratischen Spanien. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1991, S. 91; Martha T. Halsey: The dreamer in the tragic theater of Buero Vallejo. In: Mariano de Paco (Hg.): Estudios sobre Buero Vallejo. Murcia: Universidad de Murcia 1994, S. 47–61, hier S. 47; Ida Molina: The dialectical structure of Buero Vallejo’s multi faceted definition of tragedy. In: Mariano de Paco (Hg.): Estudios sobre Buero Vallejo. Murcia: Universidad de Murcia 1984, S. 113–132; Simone Trecca: Silen-
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La historia misma de nada nos serviría si no fuese un conocimiento por y para la actualidad y por eso se reescribe constantemente. El teatro histórico es valioso en la medida en que ilumina el tiempo presente y no ya como recurso que se apoye en el ayer para hablar del ahora, lo que, si no es más que recurso o pretexto, bien posible es que no logre verdadera consistencia. El teatro histórico ilumina nuestro presente cuando no se reduce a ser truco ante las censuras y nos hace entender y sentir mejor la relación viva existente entre lo que sucedió y lo que nos sucede.160
Andererseits stellt auch Buero die Erinnerung in den Dienst der Hoffnung. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft des Menschen bringt ihn dazu, auf der Bühne die hoffnungslosesten Situationen darzustellen.161 Buero wertet somit Ideale der Antike auf, wie Wahrheit oder Schönheit, die zuvor stark kritisiert wurden, ohne dabei diese Kritik zu ignorieren. Wie Tillich162 schlägt er eine dialektische Lösung vor, die Transzendenz und Immanenz in Einklang bringen soll. Die auf transzendenter Ebene abstrakten Ideale spiegeln sich auf immanenter Ebene in der Hoffnung wider. Auf diese Weise unterliegen sie ständig einem dialektischen Prozess und verwirklichen sich niemals vollständig, sondern stets nur teilweise in einer verbesserungswürdigen Gegenwart. Durch die Tragödie ruft Buero den Zuschauer dazu auf, seine gegenwärtige Wirklichkeit zu verändern, die die Figuren auf der Bühne nicht ändern konnten. Jede Tragödie wird demnach von der Hoffnung geleitet, da sie nicht mit dem Text endet, sondern in dem Verhältnis zwischen Schauspiel und Zuschauer. Die Hoffnungslosigkeit tritt nicht auf der Bühne auf, um den Anwesenden die Hoffnung zu nehmen, sondern damit sie erhoffen, was die Figuren bereits nicht mehr hoffen können.163 Wie Buero selbst erklärt, sind der Mensch, die Gesellschaft und Spanien als Tragödie der Kern seiner dramatischen Werke.164 Wiederholt betont er die
cios, Ecos, Voces. El proceso de dramatización en las reescrituras para el teatro de Antonio Buero Vallejo. Vigo: Academia del Hispanismo 2012, S. 220). 160 Antonio Buero Vallejo: El teatro de Buero Vallejo, visto por Buero Vallejo. In: Ders.: Obras Completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa-Calpe 1994, S. 408–412, hier S. 411. 161 Antonio Buero Vallejo: Acerca del drama histórico. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa Calpe 1994, S. 826–830, hier S. 827–828. 162 Paul Tillich: Kairos und Utopie, S. 155–156. 163 Antonio Buero Vallejo: García Lorca ante el esperpento. In: Ders.: Tres maestros ante el público. Madrid: Alianza 1973, S. 142–143. 164 Antonio Buero Vallejo: Buero Vallejo nos habla de Hoy es fiesta y Un soñador para un pueblo. In: Ders.: Obras Completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa Calpe 1994, S. 420–424, hier S. 422.
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Verbindung seiner historischen Tragödie mit der Gegenwart und der Hoffnung, wodurch sein Werk ein organisches Ganzes ergibt,165 in dem sowohl die Vergangenheit (die Antike in La tejedora de sueños, die Neuzeit in Las Meninas und die Aufklärung in Un soñador para un pueblo, El concierto de San Ovidio und El sueño de la razón) als auch die Zukunft (in Mito und El tragaluz) die Gegenwart Spaniens bestimmen.
7.4.3 Die Gegenwart der Vergangenheit 7.4.3.1 La tejedora de sueños: das antike Erbe und die zeitgenössische Tragödie Als Buero La tejedora de sueños aufführt, ist er sich der aktuellen Problematik seines Stückes bewusst. So regt er den Zuschauer zum Nachdenken über die Mythen von Penelope und Odysseus vor dem Hintergrund des Trojanischen Krieges sowie deren möglicher Realität in der Gegenwart an.166 Der Zuschauer soll also eine Verbindung zwischen der inszenierten Vergangenheit und dem gegenwärtigen Spanien herstellen.167 Mit seiner Neubearbeitung des griechischen Mythos zeigt Buero die Notwendigkeit, die griechische Tragödie mit der Gegenwart zu verknüpfen: No pretendo, ni mucho menos, haber logrado la grandeza de [los griegos] pero sí contribuir en la medida de mis fuerzas a la reaclimatación, que tan necesaria juzgo para nosotros, de su sentido actual de lo trágico. O sea, un sentido que actúe de cara a dolores y problemas, no sólo permanentes sino rigurosamente contemporáneos.168
165 Während Luis Iglesias Feijoo eine Klassifizierung von Bueros Dramen nach formalen und technischen, spezifisch dramatischen Kriterien vornimmt, anhand derer er zwei Etappen seines dramatischen Schaffens unterscheidet (Luis Iglesias Feijoo: La trayectoria dramática de Antonio Buero Vallejo. Santiago de Compostela: Servicio de Publicaciones de la Universidad 1982, S. xi), werden Bueros Theaterstücke hier als Ausdruck einer neuen Konzeption der Zeit verstanden, in der die Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu einem organischen Ganzen verknüpft wird. 166 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 363. 167 La tejedora de sueños macht in diesem Sinne für Manuel Alvar: Presencia del mito. La tejedora de sueños. In: Mariano de Paco (Hg.): Estudios sobre Buero Vallejo. Murcia: Universidad de Murcia 1994, S. 279– 313, hier S. 287) das Fortleben des antiken Mythos und seine Wirksamkeit in der Gegenwart deutlich. 168 Antonio Buero Vallejo: La ceguera en mi teatro. In: Ders.: Obras Completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco, Madrid: Espasa-Calpe 1994, S. 430–431.
7.4 Der Humanismus der Hoffnung und die Erneuerung der Tragödie
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Die spanische Bühne der 50er Jahre braucht laut Buero ein Theater, das die Realität abbildet, und kein Unterhaltungstheater.169 Das bedeutet auch, dass das Publikum den Mut braucht, das Tragische zu sehen, ohne vor Schrecken und Mitleid zu zittern, die die Katharsis auslösen.170 Die Wege zur Katharsis der zeitgenössischen Tragödie sind jedoch sehr unterschiedlich, weshalb sie nicht mehr in einer Poetik formuliert werden können, wie es Aristoteles getan hat.171 Griechisches Fatum Die Vergangenheit bestimmt die Gegenwart auf eine Weise, in der sie die Form des Schicksals annehmen kann, wobei Buero mit Ortega anmerkt,172 dass es sich nicht um ein beklemmendes Schicksal handelt, sondern um eines, das den Entscheidungsraum für eine bessere Zukunft bietet.173 Das Schicksal liegt demnach in den Händen der Menschen und nicht der Götter, wie Penelope und Odysseus in La tejedora de sueños verdeutlichen: ULISES
Todo está perdido. Así quieren los dioses labrar nuestra desgracia.
PENÉLOPE No culpes a los dioses. Somos nosotros quienes la labramos.174
Die Menschen sind demgemäß keine passiven Opfer ihres Schicksals, sondern Urheber ihres eigenen Glücks, sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene. Dieser Idee kann laut Buero sogar bei den Schöpfern der Gattung nachgespürt werden. Trotz wiederholter Fehler zeigt der Mensch fortwährend seine Fähigkeit, sich gegen die unheilvollsten Schicksalsschläge durchzusetzen und sie zu besiegen. Insbesondere die Tragödie hilft, das zu erkennen. Es ist also die Hoffnung, die hinter dem Scheitern auf der Bühne liegt und die Theaterautoren die hoffnungslosesten Situationen darstellen lässt.175
169 Antonio Buero Vallejo: El teatro como problema. In: Ders.: Obras Completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa-Calpe 1994, S. 580–582, hier S. 581. 170 Antonio Buero Vallejo: Lo trágico, S. 589. 171 Antonio Buero Vallejo: Buero Vallejo nos habla de Hoy es fiesta y Un soñador para un pueblo, S. 421. 172 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X, S. 369–371. 173 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 355. 174 Ebda., S. 203. 175 Antonio Buero Vallejo: El teatro de Buero Vallejo, visto por Buero Vallejo, S. 411.
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Mythos und «intrahistoria» Bueros Theater behandelt den antiken Mythos, wie es für die neue klassische Tragödie charakteristisch ist, aus der Perspektive der intrahistoria, wodurch er eine Gegenwart bestimmt, die sich durch die Bedrohung des Krieges auszeichnet.176 Während alle glauben, dass Penelope durch das unaufhörliche Weben ihre Freier hinhält, um Odysseus Zeit für die Rückkehr zu geben, erahnt Dione in Bueros Stück trotz ihrer physischen Blindheit die Wahrheit. Die Tatsache, dass Penelope beim Weben weint und lacht enthüllt einen inneren Konflikt zwischen ihren Pflichten als Königin und ihrer Liebe zu Anfino, einem ihrer Freier.177 Nach zwanzig Jahren Abwesenheit glaubt Buero nicht mehr an die Liebe der Penelope zum abwesenden Odysseus: Aunque nada de esto pudiese desprenderse de La Odisea, el derecho del escritor a suponerlo seguiría siendo absoluto. Pero, como antes dije, el poema no me parece tan alejado de estas cosas que a mí se me antoja ver. Su lectura causa la impresión de que allí se silencian hechos.178 [. . .] Uno de mis críticos vino a confirmárme[lo], al recordar que se ha venido dudando sin cesar de las virtudes domésticas de la mujer de Ulises en textos apócrifos y el maestro del helenismo, Gilbert Murray, solía hablarnos en su cátedra de una obra perdida de Esquilo, que se llamaba Penélope, comedia de sátiros, basada, sin duda, en la leyenda de sus infidelidades.179
Wie auch Giraudoux und Torrente Ballester zeigt Bueros Tragödie die Falschheit des homerischen Mythos auf: ULISES Nuestro nombre debe quedar limpio y resplandeciente para el futuro. Nadie sabrá nada de esto. CORO
176 177 178 179
Cual roca poderosa es la hembra fuerte. El esposo partió, pero la reina su palacio y su lecho ha defendido cual nuevo Ulises, sin olvidar nunca [. . .] Penélope fue sola, y circundada estuvo de peligros y deseos. Mas sólo para Ulises vive ella. Y no caerá cual otra Clitemnestra. Tejía y destejía durante años para burlar, así, a los pretendientes. Ella bordó sus sueños en la tela. Sus deseos y sueños son: ¡Ulises! [. . .]
Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 363. Antonio Buero Vallejo: La tejedora de sueños. Madrid: Cátedra 2005, S. 149. Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 357. Ebda., S. 361.
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Sonría la gloria a la prudente reina que nunca ha amado otro hombre que su esposo. PENÉLOPE ¡Mentira! 180
Ebenso wird das Absurde des Krieges, den Helena hervorruft, verdeutlicht.181 Die abendländische Zivilisation basiere somit nicht auf Wahrheit und Schönheit sondern, wie bereits Giraudoux gezeigt hatte,182 auf den Lügen und der Banalität, die sich seitdem hinter jedem Krieg versteckt haben. Die Entmythifizierung von Odysseus und die Kritik der instrumentellen Vernunft Im Einklang mit dem Diskurs der Nachkriegszeit wird die Figur des Odysseus in Bueros Stück als Verkörperung der instrumentellen Vernunft entmythifiziert.183 Buero bringt einen schwindlerischen Odysseus auf die Bühne: «igual a aquel triste embustero, pálidamente ennoblecido en La Odisea».184 Die Entmythifizierung des Odysseus vollzieht sich in Bueros Stück zunächst anhand der Opposition der Vernunft, die zum Krieg führt, und der Hoffnung, die Penelope verkörpert: PENÉLOPE Las mujeres no sabemos razonar, pero soñamos. Helena nos quitó a nuestros esposos. Por esa. . . puerca, las mujeres honradas hemos quedado viudas, condenadas a hilar y a tejer en nuestros fríos hogares. . . A consumirnos de vergüenza y de ira porque los hombres. . . razonaron que había que verter sangre, en una guerra de diez años, para vengar el honor de un pobre idiota llamado Menelao. [. . .] ULISES
No podemos nosotros suprimir las guerras.
180 Antonio Buero Vallejo: La tejedora de sueños, S. 204–206. 181 Ebda., S. 122–143. 182 Jean Giraudoux: La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 70–78. 183 Die Entmythifizierung des Figur des Odysseus wird sich im spanischen Theater der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert verbreiten (Wilfried Floeck: Mito e identidad femenina. Los cambios de la imagen de Penélope en el teatro español del siglo XX. In: Mª Francisca Vilches de Frutos (Hg.): Mitos e identidades en el teatro español contemporáneo. Foro Hispánico 27 (2005), S. 53–63. Auch in: Floeck, Wilfried: Mythos und weibliche Identität. Die Wandlungen Penelopes im spanischen Theater des 20. Jahrhunderts. In: Bettina Bosold-DasGupta/Charlotte Krauß u.a. (Hg.): Nachleben der Antike — Formen ihrer Aneignung. Festschr. anlässlich des 60. Geburtstages von Klaus Ley. Berlin: Weidler 2006, S. 303–318). García Romero weist als Ausnahme, die die Regel bestätigt, auf die Nausica von Joan Maragall hin, in der Odysseus seinen heldenhaften Charakter bewahrt (Fernando García Romero: Ulises en el teatro español del siglo XX, S. 282). 184 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 356.
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PENÉLOPE ¿Ah, no podéis? Vosotros las hacéis para que nosotras suframos las consecuencias. Nosotras queremos paz, esposo, hijos. . . y vosotros nos dais guerras, nos dais el peligro de la infidelidad, convertís a nuestros hijos en nuestros asesinos. ULISES
¿Tendré que recordarte que esta guerra se hizo por causa de una mujer?
PENÉLOPE ¡Mentira! Fue vuestra torpeza de hombres la causa. [. . .] Yo no te recordaba así. ULISES
¿Así, cómo?
PENÉLOPE Mezquino. ULISES
Mezquino pero verdadero. Yo no sueño.185
Die Vernunft ist eine instrumentalisierte, da sie die erforderlichen Mittel für bestimmte Ziele bereithält, ohne sie einer ethischen Reflexion zu unterziehen. Der Trojanische Krieg ist das Mittel, das die instrumentelle Vernunft bereithält, um Menelaos zu rächen, ohne über die Abwesenheit, die Opfer an Menschenleben, das Blutvergießen oder die Verwüstung nachzudenken, die die Rache mit sich bringt. Auf ähnliche Weise erobert Odysseus in Bueros Stück den Thron von Ithaka zurück: mit Mitteln, die so effektiv wie unmoralisch sind. Im Gegensatz zu Odysseus bekennt Penelope ihre fehlende Rationalität und zieht es vor, ihre Träume zu weben,186 so wie es charakteristisch für die «kontemplativen»187 Figuren in Bueros Theaterstücken ist. Dabei regen die Zukunftsträume die ethische Reflexion in der Gegenwart an, derer die instrumentelle Vernunft unfähig ist. Die instrumentelle Vernunft stellt sich also als unzureichend heraus, den Menschen zu definieren, der sich sowohl für Ortega als auch für Buero durch eine Vernunft auszeichnet, die im Gegensatz zur instrumentellen Vernunft die Hoffnung miteinbezieht. Die Wert- oder Geringschätzung eines jeden Menschen richtet sich nicht nach dem, was er tat, sondern nach dem, was er hofft; nicht nach seinen Erfolgen, sondern seinen Wünschen.188 Ortegas Kritik einer instrumentellen Vernunft, die losgelöst ist vom menschlichen Streben und damit vom Leben,189 wird in Bueros Stück durch die Trennung
185 Antonio Buero Vallejo: La tejedora de sueños, S. 157–196. 186 Ebda., S. 159. 187 Ricardo Doménech: El teatro de Buero Vallejo. Una meditación española. Madrid: Gredos, 1993, S. 80–81. 188 José Ortega y Gasset: Meditación de nuestro tiempo. Introducción al presente. In: Ders.: Obras Completas. Band VIII. Madrid: Taurus 2008, S. 31–116, hier S. 51. 189 José Ortega y Gasset: ¿Qué es filosofía? Lección V. In: Ders.: Obras Completas. Band VIII. Madrid: Taurus 2008, S. 291–304, hier S. 301.
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zwischen Vernunft und Hoffnung verdeutlicht, die der Ehekonflikt zwischen Odysseus und Penelope symbolisiert. Nach seiner Rückkehr ist Odysseus nicht mehr der, von dem Penelope geträumt hatte, sondern ein berechnender, gemeiner und Hoffnung vernichtender Ehemann und Herrscher.190 Die Ethik der Hoffnung Penelope stellt sich also Odysseus, der die instrumentelle Vernunft und den Krieg darstellt, mit ihrer Hoffnung und Liebe entgegen: PENÉLOPE [ Al cuerpo de Anfino] Esperar. . . Esperar el día en que los hombres sean como tú y no como ese [se refiere a Ulises]. Que tengan corazón para nosotras y bondad para todos: que no guerreen y nos abandonen. Sí, un día llegará en que eso sea cierto (A Ulises) ¡A ti te lo digo, miserable! ¿Y sabes cuándo? ¡Cuando no haya más Helenas ni Ulises en el mundo! Pero para eso hace falta una palabra universal de amor que sólo las mujeres soñamos. . . a veces. ULISES
Esa palabra no existe.
PENÉLOPE Aún tengo algo. . . Mi Anfino [. . .] Espérame. Yo iré contigo [. . .] ¡Dichosos los muertos!191
Vor diesem Hintergrund, wie Buero selbst bemerkt, endet das Stück mit der tragischen weltlichen Hoffnungslosigkeit Penelopes und gleichsam ihrer inneren, ewigen Hoffnung, die sie auf ein Jenseits projiziert.192 Penelope verkörpert somit die Überwindung des Seins zum Tode nach Heidegger durch die Hoffnung. Anfino bestätigt: «La muerte es nuestro gran sueño liberador».193 Die Hoffnung schafft einen Raum jenseits des Todes, wo die Träume Realität werden können. Es läßt sich also behaupten, dass La tejedora de sueños den utopischen Geist anstelle eines Utopismus widerspiegelt.194 Die Hoffnung, dass die Menschen eher wie Anfino anstatt wie Odysseus seien, führt zur Hoffnung auf eine neue soziale und geistige Struktur, die auf Träumen und Hoffnungen basiert, anstatt auf einer instrumentellen Vernunft. Sie bewegt den Menschen dazu, gewissenhaft zu handeln und an der Verwirklichung der Träume zu arbeiten, wie Bloch es in seinem Modell der konkreten Utopie verdeutlicht, die sich im angemessenen Moment verwirklicht (Kairos), stets in einem dialektischen Prozess befindlich, der dieses Ideal neuen Konkretisierungen aussetzt. Die enttäuschte
190 Antonio Buero Vallejo: La tejedora de sueños, S. 202. 191 Ebda., S. 206. 192 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 357. 193 Antonio Buero Vallejo: La tejedora de sueños, S. 194. 194 Vgl. Karl Popper: Utopia and Violence, S. 358–363.
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Hoffnung der Penelope in Bueros Stück öffnet die Möglichkeit, dass der Zuschauer sie in seiner Gegenwart realisieren kann. So nimmt die Hoffnung die Form von Penelopes Weberei an: Es sind ihre Träume, die sie jede Nacht entweben muss, um sie eines Tages letztendlich zu erreichen.195 Die Hoffnung macht den innovativen Charakter von Bueros Theater aus, insbesondere im Verhältnis zum Theater der düsteren 30er und 40er Jahre.196 In La Guerre de Troie n’aura pas lieu spiegelt sich die Hoffnung in den abstrakten Idealen wider, die zu so absurden Kriegen, wie den von Troja oder den zweiten Weltkrieg, führen.197 In dem Stück von Torrente Ballester bewirkt die Hoffnung auf Odysseus’ Rückkehr die Entstehung eines politischen Regimes von diktatorischem Charakter durch einen Mythifizierungsprozess.198 In Sartres Stück ist die Hoffnung bloß tröstende Täuschung, durch die wahre Freiheit nicht möglich ist.199 In Camus’ Caligula resultiert die Tyrannei des Protagonisten aus der Hoffnung auf die Verwirklichung eines unmöglich realisierbaren Ideals jenseits dieser Welt.200 In all diesen Stücken wird die Hoffnung mit Diktatur und Barbarei verknüpft. Buero hingegen vertritt die These, dass Diktaturen und Barbarei gerade dort entstehen, wo es weder Träume noch Hoffnung gibt. Damit spiegelt er in seinem Theater die neue Ethik wider, die Ortega y Gasset in Abgrenzung zu Kant vorschlägt, in der nicht mehr die Pflicht,201 sondern die Hoffnung den Kern der Moral ausmacht.202 In diesem Sinne braucht Europa laut Ortega kein neues System von Pflichten, sondern ein neues Programm von Hoffnungen, dem Buero für Spanien in seinem Theater eine konkrete Gestalt gibt. Die Wiedergeburt der Hoffnung bringt nicht nur ein erneutes Aufkommen und Revidieren des traditionellen Humanismus mit sich, sondern ebenso die Neubewertung des Mythos. Buero begreift ihn als Ausdrucksform einer Kultur. Wenn die Kulturen keine neuen Mythen schaffen, dann werden die alten in der Tragödie neu adaptiert und kommentiert. Griechenland schuf so die seinen, die
195 Antonio Buero Vallejo: La tejedora de sueños, S. 160. 196 Gonzalo Torrente Ballester: El ‹Quijote› como juego y otros trabajos críticos, S. 204. 197 Jean Giraudoux: La Guerre de Troie n’aura pas lieu, S. 70–107. 198 Gonzalo Torrente Ballester: El retorno de Ulises, S. 168. 199 Jean-Paul Sartre: Les mouches, S. 238. 200 Albert Camus: Caligula, S. 58–62. 201 So stützt sich die Ethik in der Nachfolge Kants im Gegensatz zur Antike nicht mehr auf Glückseligkeit, sondern löst sie durch die Pflicht ab (Julia Annas: The morality of happiness. New York–Oxford: Oxford University Press 1993, S. 452; Arbogast Schmitt: Zur Grundlegung der Ethik in einer ‹Kultur des Gefühls› bei Aristoteles. In: Christoph Strosetzki/Walter Mesch u.a. (Hg.): Ethik und Politik des Aristoteles in der Frühen Neuzeit. Hamburg: Meiner Verlag 2016, S. 277–302, hier S. 277–278). 202 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X, S. 363.
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von den Tragödiendichtern aufgegriffen wurden. Auf dieselbe Weise haben die verschiedenen Epochen neue mythische Figuren geschaffen, die die Inhalte der gegenwärtigen Tragödie nähren, da die Tragödie nicht ohne den Mythos leben kann. Auch dann, wenn sie nur den Zweck der Kritik und Entmythifizierung verfolgt, kreist sie immer noch um den Mythos.203 Die Neubearbeitung eines alten Mythos in der Tragödie sollte nach Buero die enge und beizeiten sogar widersprüchliche Beziehung zwischen den beiden Epochen sowie ihre deutliche gegenseitige Abhängigkeit aus einer gegenwärtigen Perspektive zeigen, die nichts unkritisch akzeptiert. Deshalb soll das wahre Theater laut Buero entmythifizieren,204 damit es eine angemessene kritische Funktion erfüllt, was jedoch nicht bedeutet, dass mit der mythifizierenden Aufgabe der Kunst gebrochen werden soll: Por eso hablo de otra cara del mito de Penélope y no de su destrucción [. . .] No hay que destruir los mitos sino estudiarlos. No hay que creer que esa palabra equivale a «mentira». Sólo es mentiroso el mito en el terreno de la ciencia y del pensamiento racional; en el del arte, puede ser la expresión condensada de una gran verdad. Dudo que haya un solo dramaturgo, al menos en Occidente, que no haya intentado alguna vez, o pensado al menos, el tratamiento actual de un mito helénico: hasta tal punto es para nosotros vigente aún el conjunto de problemas dramáticos que la literatura griega nos ha legado.205
Die beste Kritik ist der Vorschlag einer überzeugenderen und befriedigenderen Variante, so dass die Kunst befähigt, Mythen zu schaffen, die als positive Kraft in die Gesellschaft wirken. ‹La tejedora de sueños› und der dritte Humanismus Bueros Begriff der Tragödie ist, wie der Hegel’sche,206 dialektisch. Das Tragische entsteht aus der Kollision zweier Kräfte, die nicht das Gute und das Böse darstellen, sondern aus zwei Positionen erwachsen, die jeweils etwas Gutes haben. Laut Buero entsteht das Tragische in La tejedora de sueños aus dem inneren Scheitern und dem äußeren Sieg von Odysseus einerseits sowie dem äußeren Scheitern und dem inneren Sieg von Penelope andererseits.207 Ebenso wird in Sophokles’ Antigone die Gerechtigkeit mit dem äußeren Sieg (der Erfüllung des Gesetzes)
203 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 659. 204 Antonio Buero Vallejo: El teatro de Buero Vallejo, visto por Buero Vallejo, S. 411. 205 Antonio Buero Vallejo: Sobre La tejedora de sueños. In: Ders.: Obra completa. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa Calpe 1994, S. 434–435. 206 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 342–354. 207 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 363.
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und dem inneren Scheitern von Kreon (dem Tod Antigones, Haimons und Eurydikes) wiederhergestellt, sowie ebenso mit dem äußeren Scheitern (dem Tod) und dem inneren Sieg (dem Begräbnis von Polyneikes) von Antigone. Jeder von Homers Helden verkörpert für Hegel ein Konglomerat verschiedener und gegensätzlicher Charaktereigenschaften. Neben Achilles’ positiven Qualitäten als Krieger, der seine Mutter liebt und den eine edle Freundschaft mit Patroklos und Antilochos verbindet, zeigt Homer ebenso seinen cholerischen Charakter, wenn er impulsiv und voller Grausamkeiten gegen seine Feinde handelt. Daraus folgert Hegel: Bei Achill kann man sagen: Das ist ein Mensch! Und so ist es auch mit den übrigen Homerischen Charakteren: Odysseus, Diomedes, Aias, Agamemnon, Hektor, Andromache [. . .]208
Auf dieselbe Weise betont Buero, dass es in La tejedora de sueños weder einen absoluten Helden (Penelope) noch einen absoluten Antihelden (Odysseus) gibt.209 Sowohl Odysseus als auch Penelope zeugen von Tugend und Schwäche gleichermaßen. Penelopes Schwäche zeigt sich in dem Hinauszögern des Kampfes ihrer Freier, den sie ihren kleinen Trojanischen Krieg nennt,210 weshalb ihr Odysseus vorwirft: ULISES Fue Helena, una mujer. Un ser loco, frívolo, peligroso. . . , como tú. Como tú, que la has envidiado y que te has dedicado a soñar y a tejer estérilmente ahí dentro, en vez de cuidar de los ganados y las viñas; en lugar de convertirte en la fiel esposa que aguarda el regreso del marido y que aumenta durante su ausencia las riquezas de los dos.211
Auch Dione beschreibt sie als Träumerin, unfähig, zu regieren.212 Buero selbst beschreibt Penelope als zu menschlich und Anfino als zu schwach und gutmütig, um die teilweise listigen Regierungsaufgaben des Reiches und der Familie energisch anzugehen: De todas las funestas realidades del hombre: crímenes, guerras, infidelidades, odios, despotismos, traiciones, mentiras; de todas esas cosas que poseen a Ulises y que reflejan la falta de amor entre los seres humanos, estaba libre Anfino. Claro es que de esas cosas se forma gran parte de la vida colectiva y por eso Anfino era poco apto para la vida.213
208 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 308. 209 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 363. 210 Antonio Buero Vallejo: La tejedora de sueños, S. 157. 211 Ebda., S. 197. 212 Ebda., S. 152. 213 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 357–360.
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Mit der Figur des Odysseus lehnt Buero die instrumentelle ethikfreie Vernunft und den Vorrang der Gewalt gegenüber der Tugend ab. Allerdings wird Anfino als Gegenstück zu Odysseus nicht als absoluter Held dargestellt. Damit sieht Buero die Politik als angewandte Ethik, die das Ideal der vita activa und der vita contemplativa verbinden soll. 7.4.3.2 Las Meninas: Ethik und Wahrheit Nicht nur das antike Erbe, sondern ebenso das 17. Jahrhundert, wie Las Meninas verdeutlichen, bestimmen maßgeblich das zeitgenössische Spanien. Buero macht Velázquez nicht nur, weil er in bewundert, zum Protagonisten seines Theaterstücks, sondern sieht in ihm auch eine falsch verstandene Figur, der man Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte. Erneut wendet er sich der Vergangenheit zu, um dort ein verborgenes Element aufzudecken, das zu einem Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart wird. Im Gegensatz zu der konformistischen Haltung, mit der Velázquez häufig in Verbindung gebracht wird, entdeckt Buero Elemente sowohl in seinem malerischen Werk als auch in seiner Biographie, die, ganz im Gegenteil, einen kritischen Menschen zeigen.214 In Bueros Theaterstück steht Velázquez für ein ethisches Wissen, das die politische Macht einer Kritik unterzieht. So stellt er sich der Aristokratie entgegen, die die Figur des Marqués repräsentiert. Für letzteren verbreiten die Aufsässigen gegenüber dem König eine schädliche Unzufriedenheit, weshalb er sie mit Unkraut vergleicht, das erbarmungslos ausgerissen werden soll.215 Velázquez lehnt jahrelang ab, dem König das Lob, das dieser als Treuebeweis erwartet, zukommen zu lassen: VELÁZQUEZ No soy hombre de bellas palabras y vuestra majestad tiene ya muchos que cantan sus alabanzas. ¿Por qué había de ser yo uno más en el coro?216
Anstatt den König zu loben, zieht Velázquez es vor, in seinen Gemälden die Wahrheit abzubilden, indem er jene Figuren zu seinen Protagonisten macht, die die gesamte Schwermut Spaniens schmerzhaft in sich tragen müssen.217 Der König jedoch fühlt sich verraten:
214 Antonio Buero Vallejo: Sobre la tragedia, S. 706. Er ist der einzige Maler im Spanien seiner Zeit, der eine vollständig unverhüllte Venus malt. Auch einige biographische Details offenbaren seinen Nonkonformismus, wie z.B. die Tatsache, dass der König ihm zehn mahnende Briefe schicken muss, damit er aus Italien zurückkehre, die jedoch ein Jahr lang mit Schweigen beantwortet werden. 215 Antonio Buero Vallejo: Las Meninas. Barcelona: Espasa 2013, S. 120. 216 Ebda., S. 128. 217 Ebda., S. 134–135.
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EL REY
Yo os he amado. . . Ahora veo que vos no me amasteis.
VELÁZQUEZ
Gratitud, sí, majestad. Amor. . . Me pregunto si puede pedir amor quien nos amedrenta.218
Dadurch bleibt Velázquez der Idee treu, dass kein Mensch Sklave eines anderen sein soll.219 Mit Las Meninas zeigt Buero, dass Velázquez’ Kritik dieser Leidenszeit220 durchaus auf das zeitgenössische Spanien übertragen werden kann: Ante un mundo enajenado de supersticiones, errores, milagrerías e injusticias, su vida y su pintura nos muestran que mantiene los ojos abiertos. Y por ello su figura, sin violentación esencial de la verdad histórica aunque otra cosa se haya dicho, no sólo [es] apropiada para glosar una aleccionadora visión de aquel momento español sino para expresar también algunos problemas de sostenida importancia y actualidad. Problemas inherentes al enmascaramiento de la realidad por los tópicos y engaños vigentes, a las injusticias sociales y al dolor humano; a la responsabilidad del creador, del intelectual ante todo ello. 221
Buero lobt Velázquez als eine der repräsentativsten kritischen Stimmen seiner Zeit, als einen Quevedo oder Gracián, selbst wenn ihm weniger Aufmerksamkeit zuteilwurde, weil er eine wortlose Kunst betrieb. Dabei ist er für Buero besonders als Figur attraktiv, die einer blinden Welt mit offenen Augen und offenem Geist entgegentritt.222 So beschreibt er Velázquez als eine große, klare und desillusionierte Seele, die den Vertretern der 98er Generation vergleichbar ist, in deren Tradition sich Buero selbst begreift.223 Die Verantwortung des Intellektuellen im 20. Jahrhundert ist demnach dieselbe, die Velázquez im 17. Jahrhundert auf sich nahm. So stellt Buero, wie zuvor schon Velázquez, erneut die Frage nach dem «Licht», nach dem letzten Sinn des Wirklichen und der Welt, die mit offenen und klaren Augen betrachtet werden sollen,224 sowie schließlich die Frage nach der Wahrheit. Um sie auszudrücken, soll der Künstler gleichermaßen über Würde und Geschicklichkeit verfügen wie Velázquez225 – Eigenschaften, auf die sich Bueros Possibilismus im Gegensatz zu Sastres
218 Ebda., S. 192. 219 Ebda., S. 101, 117. 220 Ebda., S. 192. 221 Antonio Buero Vallejo: Sobre la tragedia, S. 706. 222 Antonio Buero Vallejo: Las Meninas, ¿es una obra necesaria? In: Ders.: Obra completa. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa Calpe 1994, S. 425–427, hier S. 426. 223 Antonio Buero Vallejo: Sobre la tragedia, S. 706. 224 Antonio Buero Vallejo: Las Meninas, ¿es una obra necesaria?, S. 427. 225 Antonio Buero Vallejo: Las Meninas, S. 163.
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Impossibilimus konzentriert.226 So schlägt Buero vor, die Kritik an der Regierung zu verschleiern, um die Zensur zu umgehen und mit dieser Kritik die spanische Öffentlichkeit zu erreichen. Für Alfonso Sastre hingegen soll die Kritik nicht versteckt ausgedrückt werden, sondern auf direkte Weise; selbst, wenn deshalb die Aufführung eines Stückes verboten wird. Die Wahrheitssuche stellt das vereinigende Moment von Bueros dramatischem Werk dar. Er bemerkt, dass der Versuch, sie zu finden, zwar eine große Entschädigung, aber ebenso großen Schmerz bringt. Obwohl Buero Literatur als Erkenntnismedium begreift, definiert er Wahrheit nicht als etwas bereits Gegebenes von universalem Charakter, das unzweifelhaft vorliege. Als Forschungsmethode schlägt er deshalb Ortegas Perspektivismus vor, den er bei seiner Analyse von Velázquez’ Werk paradigmatisch anwendet. Die Wirklichkeit hängt von der Perspektive des Individuums ab, das sie betrachtet,227 weshalb Buero anmerkt, dass Velázquez nicht ‹die Dinge›, sondern ‹das Sehen› malt.228 Wie Velázquez soll der Künstler eine Sichtweise erlangen, die sich von der antiken unterscheidet, da die Wahrheit der Dinge in ihrer Erscheinung liegt, die sich ebenfalls verändert.229 Die Geschichte zeigt, wie die Wahrheit der einen Epoche in einer anderen als Irrtum angesehen werden kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Irrtum die Wahrheitssuche lähmt, die sowohl für Velázquez230 als auch für Buero231 zum Wesen des Menschen gehört. Vielmehr gelangt man erst durch Irrtum und Kritik zu dauerhafteren Wahrheiten. Die Hoffnung auf Wahrheit zu verlieren oder die Suche nach ihr aufzugeben, kann nur in einer Lethargie der Konformität, Bequemlichkeit und Täuschung münden. Niemand weiß besser als Velázquez in Las Meninas, dass die Wahrheit eine schreckliche Bürde ist, die niemand hören möchte. Obwohl die Infantin María Teresa in dem Stück sehr wohl nach Wahrheit strebt, wird sie durch die Tatsache, dass sie sich in einer Machtposition befindet, erheblich eingeschränkt: «Aunque tengáis los ojos abiertos, os los volverán a cerrar. . . Terminaréis por
226 Kessel Schwartz: Posibilismo and Imposibilismo. The Buero Vallejo-Sastre Polemic. In: Revista Hispánica Moderna, 1/2 (1968), S. 436–445, hier S. 441. 227 José Ortega y Gasset: Verdad y perspectiva. In: Ders.: Obras completas. Band II. Madrid: Taurus 2004, S. 159–164, hier S. 162. 228 Antonio Buero Vallejo: Las Meninas, S. 180. Vgl. auch die Analyse Foucaults über den Multiperspektivismus in Las Meninas (Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966, S. 19–31). 229 Antonio Buero Vallejo: Las Meninas, S. 115. 230 Ebda., S. 179. 231 Buero Vallejo, Antonio: Sobre mi teatro. In: Ders.: Obras Completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa-Calpe 1994, S. 427–430, hier S. 427–428.
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adormeceros de nuevo, fatigada de buscar. . .».232 Die Wahrheit hat einen ethischen Charakter, wie die mutigen Worte zeigen, mit denen die Infantin sich an ihren Vater, den König, richtet, um Velázquez zu verteidigen: MARÍA TERESA [Velázquez] os ha hablado como podría hacerlo vuestra conciencia: [. . .] Podéis optar por seguir engendrando hijos con mujerzuelas [. . .] y castigar a quien tuvo la osadía de enseñaros que se puede ser fiel a la esposa; podéis seguir dormido entre aduladores que le aborrecen porque es íntegro, mientras ellos, como el Señor Marqués, venden prebendas y se enriquecen a costa del hambre del país; podéis escandalizaros ante una pintura para ocultar los pecados del Palacio. Podéis castigar a Velázquez. . . y a vuestra hija, por el delito de haberos hablado, quizá por primera y última vez, como verdaderos amigos. ¡Elegid ahora entre la verdad y la mentira!233
Auch Velázquez sieht sich zur Wahl gezwungen. Der Maler weiß, dass Worte des Lobes und der Treue den König beschwichtigen werden, sodass er malen kann, was er malen soll. Es handelt sich also um eine verführerische Lüge, die er zum eigenen Vorteil nutzen kann. Die Alternative ist die Wahrheit: VELÁZQUEZ
Una verdad peligrosa que ya no remedia nada [. . .] El hambre crece, el dolor crece, el aire se envenena y ya no tolera la verdad, que tiene que esconderse como mi Venus, porque está desnuda. Mas yo he de decirla. Estamos viviendo de mentiras o de silencios. Yo he vivido de silencios, pero me niego a mentir.234
7.4.3.3 Das Scheitern der Aufklärung in Spanien und die Hoffnung der Vernunft Wie Luis Iglesias Feijoo verdeutlicht, hatte das Franco-Regime die historische Figur der Katholischen Könige sowie das Kaiserreich mythifiziert, während das kritische und gottlose 18. Jahrhundert geschmäht wurde.235 Da eine falsche Vergangenheit eine ebenso falsche Gegenwart hervorruft, will Buero die Reformbestrebungen der Aufklärung als einen der Schlüssel zur Zukunft Spaniens
232 Antonio Buero Vallejo: Las Meninas, S. 105. 233 Ebda., S. 192. 234 Ebda., S. 190–191. 235 Luis Iglesias Feijoo: Introducción. In: Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo. Madrid: Espasa Calpe 2004, S. 9–54, hier S. 24. Diese Ablehnung der Aufklärung beginnt laut Tietz nach der Herrschaft von Ferdinand VII. und erstreckt sich über das gesamte 19. Jahrhundert bis hinein ins 20. Jahrhundert, wo sie durch die mythifizierende Konstruktion einer «España áurea» vorangetrieben wird (Manfred Tietz: La Ilustración española. El desarrollo sistemático de una realidad histórica y el problema de la identidad española. In: Maria Falska (Hg.): Encuentros literarios II. Lublin: UMCS 2009, S. 55–80, hier S. 55).
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herausarbeiten. Im Sinne von Ortegas Zeitbegriff236 bildet sich so die Gegenwart ausgehend von Vergangenheit und Zukunft. Dabei verliert Buero trotzdem nicht die Vernunftkritik nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Augen, wenn er die Dialektik, die Adorno und Horkheimer der Aufklärung zugeschrieben haben, berücksichtigt. 7.4.3.3.1 Un soñador para un pueblo: die Dialektik der Aufklärung Für Torrente Ballester verhalten sich die beiden Stücke Las Meninas und Un soñador para un pueblo wie These und Antithese einer Trilogie zueinander, deren dritter Teil nicht geschrieben werden kann: «‹Aquello›, lo del tiempo de Velázquez, fue la causa de lo que ‹esto›, la Ilustración, intentaba remediar. Y el hecho de que ‹aquello› no haya desaparecido enteramente es lo que justifica la vigencia de ‹esto›».237 In der Tat erklärt Buero die Gegenwart in Un soñador para un pueblo durch ihre Vergangenheit und betont auf diese Weise ihren gegenwärtigen Charakter: aquella etapa en la que un grupo de hombres esclarecidos – los «Ilustrados» – intentaron, pero no consiguieron finalmente convertir a mi país en una nación moderna y ejemplar. Ese grupo y el excepcional monarca que lo dirigió han sufrido en estos tiempos, «mala prensa». A mí me pareció necesario darles, en la medida de mis modestas fuerzas, una reparación escénica. No a todos ha gustado eso pues muchas de nuestras cosas se siguen pareciendo demasiado a aquellas otras contra las que el rey, Esquilache y los demás creyeron obligado luchar. [. . .] Se trata, pues, de una defensa de la España «ilustrada»– que Esquilache, figura históricamente discutible, personifica por conveniencias dramáticas –.238
Torrente Ballester lobt Bueros Wahl jener Zeitspanne, in deren Peripetie die Gegenwart wurzelt. So betrachtet es Torrente als Tatsache, dass die moderne Geschichte und die Gegenwart Spaniens durch das Scheitern der Aufklärung bestimmt sind.239 In diesem Sinne verteidigt Buero die Aktualität seines Theaterstücks, das er als Chronik eines Volksirrtums begreift, der in den Tagen des Aufruhrs begangen wurde. In dieser Chronik erscheint es notwendig, dass das Volk seine historischen Fehler überwindet und Kraft findet,
236 José Ortega y Gasset: Historia como sistema. In: Ders.: Obras completas. Band VI. Madrid: Taurus 2006, S. 45–82, hier S. 71; Pedro Laín Entralgo: La espera y la esperanza, S. 867. 237 Gonzalo Torrente Ballester: Ensayos críticos. Barcelona: Destino 1982, S. 406. 238 Antonio Buero Vallejo: Buero Vallejo nos habla de Hoy es fiesta y Un soñador para un pueblo, S. 423. 239 Gonzalo Torrente Ballester: El casamiento engañoso. In: Ders.: Teatro 1. Barcelona: Destino 1982, S. 405.
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selbst den Weg zu einer gerechteren Gesellschaft zu ebnen.240 Eine Auffassung der Geschichte als lebendige Gegenwart und nicht als tote Vergangenheit, die Transformation des Unbewussten in Bewusstes sowie das Volk als Protagonist der Geschichte241 sind Ideen, die zeigen, dass Buero, ganz im Sinne der 98er Generation, die Analyse der Problematik Spaniens aus einer Perspektive der intrahistoria vornimmt. Un soñador para un pueblo handelt von der Konfrontation in einem gespaltenen Spanien zwischen Konservativen und Fortschrittsgläubigen. Während die Konservativen, repräsentiert durch den Adel, ihre Hoffnung auf die Tradition und Bewahrung der Privilegien der Vergangenheit setzen, ist die Hoffnung ihrer Gegner wie Esquilache auf den Fortschritt gerichtet; nicht nur auf technischen Fortschritt, sondern auch auf moralischen.242 Esquilaches Projekt der Aufklärung entspricht den aufklärerischen Idealen von Entwicklung und Wachstum durch die Vernunft: eine Umerziehung von Verbrechern durch die beruhigende Kraft der Geometrie oder Stipendien für Mathematik- und Botanikstudenten, die dem Land die nötigen Spezialisten verschaffen, sind Teil seines Programms.243 Mit diesen Maßnahmen will Esquilache ein zurückgebliebenes Land voranbringen, während ihm Villasanta vorwirft, sein Projekt auf Kosten der Tradition durchsetzen zu wollen: ESQUILACHE Los gobernantes de ahora no solemos tener abuelos linajudos. Somos unos advenedizos que saben trabajar y eso es imperdonable para la antigua nobleza que ya no sabe hacerlo. [. . .] Las oficinas públicas se ahogaban bajo el peso de tanto protegido [. . .] el rey nos trajo consigo de Italia porque el país nos necesitaba para levantarse. VILLASANTA ¿Hacia dónde? ¿Hacia la Ilustración? ¿Hacia todo eso que sus señorías llaman «las luces»? Nosotros lo llamamos, simplemente, herejía. ESQUILACHE Sin duda por eso han apagado sus señorías las hogueras del Santo Oficio porque nuestra época nos ha enseñado que es monstruoso quemar vivo a un ser humano, aunque sea un hereje. El infierno es un misterio de Dios, duque: no lo encendamos en la Tierra. VILLASANTA Blanduras, marqués. Blanduras tras las que se agazapa la incredulidad y que nos traerán lo peor si no lo cortamos a tiempo. ESQUILACHE ¿Lo peor?
240 Antonio Buero Vallejo: Buero Vallejo nos habla de Hoy es fiesta y Un soñador para un pueblo, S. 424. 241 Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 40–44. 242 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo. Madrid: Austral 2004, S. 80. 243 Ebda., S. 76.
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VILLASANTA La desaparición en España de nuestra Santa Religión. ESQUILACHE (Ríe) Mal confía en ella si cree que puede desaparecer tan fácilmente. Le aseguro que dentro de uno o dos siglos a los intransigentes católicos no se les ocurrirá ni pensar en quemar por hereje a un ser humano. Y no por eso la religión habrá desaparecido. Puede que esos católicos se crean sucesores directos de sus señorías; pero serán nuestros sucesores. Y ese es todo el secreto: nosotros marchamos hacia delante pero sus señorías no quieren moverse. Pero la Historia se mueve.244
In dem tragischen Kampf der Aufklärer gegen die reaktionären Kräfte, die sich ihnen entgegenstellten,245 relativiert Buero beide Positionen. Einerseits kritisiert Esquilache den instrumentellen Gebrauch, den der Adel von der Moral macht, um seine Ziele zu erreichen: «Muy español, ¿eh? Aquí todo se jura ante el Santo Sacramento: lo mismo las empresas más nobles que las más sucias».246 Gleichzeitig zeichnet Buero in seinem Drama die Mängel der Aufklärung, die ihr historisches Scheitern verursachten.247 Das Vernunftideal der Aufklärung stellt laut Ortega das Quantitative als Wahrheit dar, während es das Qualitative, so anregend es auch sein mag, als illusorisch ablehnt. Für Ortega sind es die Physik und Descartes’ Philosophie, die diesen neuen Geist zum ersten Mal ausdrücken, der sich später auf alle Bereiche ausweiten und modernen Enthusiasmus sowie die Sensibilität für das Rationale bilden sollte. Der Mensch der Aufklärung lehnt die Vergangenheit ab, da in ihr nicht more geometrico gedacht wurde. Die traditionellen politischen Institutionen erscheinen ihm unvollkommen, während er einen neuen Vorschlag macht: Un orden social definitivo, obtenido deductivamente por medio de la razón pura. Es una constitución esquemáticamente perfecta donde se supone que los hombres son entes racionales y nada más. [. . .] El edificio de conceptos políticos, así elaborado, es de una lógica maravillosa, es decir, de un rigor intelectual insuperable. Ahora bien, el hombre cartesiano sólo tiene sensibilidad para esta virtud: la perfección intelectual pura. Para todo lo demás es sordo y ciego. Por eso, el pretérito y el presente no le merecen el menor respeto. [. . . .] Urge, pues, aniquilar el pecado vigente y proceder a la instauración del orden social definitivo. El futuro ideal construido desde el intelecto puro debe suplantar al pasado y al presente [. . .] Hoy nos parece demasiado petulante esta actitud. Además, nos parece estrecha y ruda. El mundo se ha hecho a nuestros ojos más complejo y vasto.
244 Ebda., S. 106–110. 245 Antonio Buero Vallejo: Buero Vallejo nos habla de Hoy es fiesta y Un soñador para un pueblo, S. 423. 246 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 134. 247 Antonio Buero Vallejo: Buero Vallejo nos habla de Hoy es fiesta y Un soñador para un pueblo, S. 424.
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Empezamos a sospechar que la historia, la vida, ni puede ni debe ser regida por principios, como los libros matemáticos.248
Bueros Esquilache begeht denselben Fehler wie der ‹cartesianische Mensch› nach Ortega, indem er eine Vergangenheit und Gegenwart herabwertet, die er frühestmöglich durch eine Zukunft ablösen will, die auf der Vernunft aufbaut. So setzt er beispielsweise ein Verbot der traditionellen langen Mäntel und breitkrempigen Hüte durch, indem er den König sowie den Rat von Kastilien lange ignoriert, die auf der Notwendigkeit einer Reform ohne Tyrannei bestehen.249 Damit betreten Bueros Protagonist und das Ideal der Aufklärung, das er repräsentiert250, ihren Weg des Scheiterns, wodurch Buero dem dialektischen Charakter, den Adorno und Horkheimer der Aufklärung zuschreiben, eine literarische Form gibt. Die Philosophen der Frankfurter Schule warnten davor, dass die Aufklärung sich in direkt proportionalem Verhältnis von jenem entfernt, über das sie Macht ausübt. Diese Perspektive verdeutlicht der erste Esquilache251: ESQUILACHE (Con la hiriente frialdad de un ilustrado) ¿Sabes leer, Fernandita? FERNANDITA (Avergonzada) No, excelencia. Perdón, excelencia. . . 252
Was als Freiheitsversprechen und Fortschritt beginnt, endet in Sklaverei und Rückschritt.253 Eine ähnliche Entwicklung nehmen die Ereignisse in Un soñador para un pueblo. Zunächst ignoriert Esquilache die Warnungen des Rats von 248 José Ortega y Gasset: El tema de nuestro tiempo. In: Ders.: Obras completas. Band III. Madrid: Taurus 2005, S. 559–611, hier S. 574–576. 249 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 125, 179. 250 Antonio Buero Vallejo: Buero Vallejo nos habla de Hoy es fiesta y Un soñador para un pueblo, S. 423. 251 In der Forschungsliteratur finden sich ausschließende Interpretationen, wie bei Molina, die Esquilaches Beschreibung als Träumer ablehnt, um ihn eher als «ingeniero social» zu beschreiben (Ida Molina: Dreamers and Power: Buero Vallejo’s Un soñador para un pueblo and Ibsen’s An enemy of the people. In: Revista de Estudios Hispánicos, 9 (1975), S. 241–256) sowie einschließende Interpretationen wie bei Ricardo Doménech: El teatro de Buero Vallejo. Una meditación española, S. 80 und Luis Iglesias Feijoo: La trayectoria dramática de Antonio Buero Vallejo, S. 252, die in Esquilache die Überwindung der Opposition zwischen aktiven und kontemplativen Figuren sehen. In dieser Arbeit wird jedoch die These vertreten, dass Bueros Protagonist eine Entwicklung von einer aktiven Figur (dem ersten Esquilache) zu einer kontemplativen Figur (dem zweiten Esquilache) vollzieht, ohne jedoch jemals beides zugleich zu sein. Sobald er handelt, hört er auf zu träumen (sobald er Gewalt als Mittel zulässt, gibt er den Traum von einem besseren Madrid auf) und wenn er reuig den Traum wiederbelebt, kann er nicht mehr handeln (er muss ins Exil gehen, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden). 252 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 96. 253 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 15–31.
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Kastilien, der das Brechen mit Sitten, selbst wenn es keine guten sind, für unklug erachtet; später ignoriert er die Anweisungen des Königs: EL REY
La medida es justa. Debes, pues, lograr que se cumpla. Pero sin violencias, ¿eh? Con toda la dulzura posible [. . .] Y si podemos les enseñaremos también un poco de lógica y un poco de piedad, cosas ambas de las que se encuentran bastante escasos. Quizá preferirían un tirano pero nosotros hemos venido a reformar, no a tiranizar.254
Esquilache hingegen entscheidet sich für die Durchsetzung des Fortschritts im Interesse des Gemeinwohls: «¡ya es hora de demostrar a esos tercos que no sólo se exhorta sino que se manda!»255 Er versteht sich als Minister in der Position, jenen das Gute aufzudrängen, die es nicht wollen, mit dem Ziel, Spanien zu gestalten und ihm Licht und Freude zu verleihen.256 Demgemäß macht der Mensch schließlich Gebrauch von Gewalt, wie auch Adorno und Horkheimer kritisierten,257 um seine Ziele zu erreichen258. Und so mündet das Ideal von aufklärerischem Fortschritt in Barbarei. Dennoch bereut Esquilache letztendlich seine Fehler und geht freiwillig ins Exil, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, wobei er die Möglichkeit offenlässt, dass die Reife jener Vernunft, über die sich die Aufklärung definiert,259 in der Zukunft erreicht werde: ESQUILACHE Nací plebeyo, Ensenada. . . Fui y soy como ella. Tú dices: nunca comprenderán. Nosotros decimos: todavía no comprenden. ENSENADA
¡Deliras! ¡Sueñas!
ESQUILACHE Tal vez. Pero ahora sé una cosa: que ningún gobernante puede dejar de corromperse si no sueña ese sueño. 260
Fehlende Bildung schwächt das Volk, das in seinem Unwissen korrupten Herrschern ausgeliefert ist, die es nach Lust und Laune regieren. Das Projekt der Aufklärung muss demnach nicht aufgegeben, sondern korrigiert werden. In diesem Sinne merkt Ortega an, die aufklärerische Vernunft sei unvollständig, weil nämlich der Mensch im Wesentlichen über seine Träume definiert wird: 254 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 125–126. 255 Ebda., S. 81. 256 Ebda., S. 180. 257 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 16. 258 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 118–123. 259 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, S. 60. 260 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 191.
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Nuestra verdadera y profunda personalidad está constituida por los afanes, empeños, anhelos y deseos [. . .] Valemos según lo que deseamos. La calidad de nuestras aspiraciones fija el rango de nuestra alma porque son la pura y espontánea emanación que de nuestra intimidad se levanta como los vahos de las aguas inmóviles.261
Im Gegensatz zur aufklärerischen Vernunft schlägt Ortega also eine lebendige Vernunft vor, die durch den Perspektivismus das Individuelle zulässt und durch die zukunftsorientierte Haltung dem von Träumen und Hoffnungen bewegten Leben den Vorrang gibt.262 Wenn Buero für den Fortschritt Spaniens Träumer vorschlägt, die sich mit Zahlen auskennen,263 ist dies also ein Ausdruck von Ortegas dialektischem Vernunftideal bzw. von seinem Ratiovitalismus. Nur auf diese Weise kann sich das aufklärerische Versprechen von Freiheit durch Wissenschaft und Technik in einem Fortschritt materialisieren, statt zu Gewalt, Hass und Barbarei zu führen. Dadurch entsteht eine neue Hoffnung für das spanische Volk des 20. Jahrhunderts, an das Buero appelliert: Tal vez pasen siglos antes de que comprenda. . . Tal vez nunca cambie su oscuridad por la luz264. . . ¡Pero de vosotros depende! ¿Seréis capaces? [. . .]265
Mit diesem Ende veranschaulicht Buero seinen offenen Tragödienbegriff, der stets hoffnungsschwanger ist. Damit stellt er seine Tragödie als Hegel’sche Kor-
261 José Ortega y Gasset: Meditación de nuestro tiempo. Introducción al presente, S. 51. 262 José Ortega y Gasset: ¿Qué es filosofía? Lección V, S. 301. 263 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 127. 264 In Anlehnung an Platon, der seine dualistische Auffassung der Wirklichkeit mit dem Höhlengleichnis veranschaulicht, verleiht Buero Licht und Dunkelheit einen symbolischen Charakter. Nur jene, die sich von ihren Ketten befreien, sind in der Lage, aus der Dunkelheit zu treten und das Licht der Ideen zu schauen, statt ihrer täuschenden Spiegelung in Form von Schatten. Das Licht wird somit der Erkenntnis von Wahrheit, dem Guten und dem Schönen gleichgesetzt, im Gegensatz zur Dunkelheit und Unwissenheit jener, deren Wirklichkeit aus Schatten besteht und die sich dadurch von den Erscheinungen der Sinneswelt täuschen lassen. Diese platonische Opposition zwischen Schein und Realität wurde in der Forschungsliteratur auf verschiedene Stücke von Buero übertragen, wie En la ardiente oscuridad (Enrique Pajón Mecloy: ¿Ciegos o símbolos? In: Sirio, 2 (1962), S. 11–14, hier S. 11–13) oder El tragaluz (Ricardo Doménech: A propósito de El tragaluz. In: Cuadernos para el diálogo, 51 (1967), S. 40–41). Doch auch in Stücken wie El sueño de la razón oder La fundación wird das platonische Gegensatzpaar deutlich, wo die Barbarei und Blindheit dem Licht der Vernunft und der Wahrheitserkenntnis entgegengesetzt werden. Dabei handelt es sich eigentlich um ein Schema, das auf das gesamte Werk Bueros übertragbar ist, da es, wie der Autor selbst sagt, das vereinigende Ziel seiner Stücke ist, die Augen der Wahrheit zu öffnen, sodass sich das Augenlicht symbolisch der Dunkelheit der Blindheit entgegensetzt (Antonio Buero Vallejo: Sobre mi teatro, S. 427–428). 265 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 194.
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rektur266 des geschlossenen Existenzialismus dar, da der tragische Charakter der Konflikte anhand des dialektischen Spiels gemildert wird. 7.4.3.3.2 El concierto de San Ovidio (1962): Die Kritik der instrumentellen Vernunft und des homo œconomicus Die Handlung von El concierto de San Ovidio ist ebenfalls im 18. Jahrhundert situiert, in der Zeit, in der laut Buero die Welt sich weitet und die Menschen neue Wege der Erkenntnis und des Reichtums entdecken.267 In diesem Stück kritisiert er einen Fortschrittsbegriff, der auf materiellem Wohlstand basiert, um erneut eine Verbindung zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert in Spanien herzustellen. In diesem Sinne betont er die Opposition zwischen instrumenteller Vernunft und Traum, die eine Konstante in seinem dramatischen Schaffen darstellt. Die Kritik der instrumentellen Vernunft wird durch die Figur des Unternehmers Valindin verkörpert. Dieser bekommt die Zusage einer Nonne und Leiterin eines Hospiz’, dass sechs ihrer blinden Gäste an einem musikalischen Konzert auf dem Fest von San Ovidio teilnehmen dürfen. Was Valindin bei diesem Vorhaben eigentlich im Sinn hat, ist ein Konzert mit beachtlichem Gewinn, bei dem die Blinden zur Unterhaltung des bürgerlichen Publikums lächerlich gemacht werden. Somit repräsentiert Valindin den modernen homo œconomicus, der nutzenorientiert das Gute in der Maximierung des Kapitals unter kleinstmöglichem Aufwand sieht. Sein modus operandi entspricht, wie er seiner Frau Adriana gesteht, machiavellischen Prinzipien, indem er nützliche und ethische Tugend gleichsetzt:268 «Me vas a ver subir como la espuma. ¿Y sabes por qué? Porque sé unir lo útil a lo bueno. [. . .] Esos ciegos nos darán dinero».269 Das Fehlen von ethischem Wissen bringt Valindin jedoch bloß die Verachtung seiner Frau: ADRIANA
Eres un asno.
VALINDIN ¡Sí, pero de oro! Tiempo de hambre, tiempo de negocios. [. . .] ¡El mundo es una gran feria! ¡Y yo soy empresario y sé lo que quieren!270
266 Auch Trecca bezieht Bueros offenen Tragödienbegriff auf Hegels Dialektik (Simone Trecca: Silencios, Ecos, Voces. El proceso de dramatización en las reescrituras para el teatro de Antonio Buero Vallejo, S. 116–124). 267 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio, S. 79. 268 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 197–198. 269 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio, S. 96. 270 Ebda., S. 95, 119, 140.
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Valindin sieht in seiner Umgebung keine Menschen, sondern bloß Mittel zur Erlangung seiner Ziele. David ist sich gänzlich dessen bewusst: «Como todos los que trabajamos para el señor Valindin [. . .] no somos personas, sino limones».271 Ihnen wird die dignitas hominis verwehrt («¡Ciegos, lisiados, que no merecéis vivir!»272) und Valindin wendet sich häufig mit tierischen Anreden an sie, was ihre Entmenschlichung weiter unterstreicht: Adriana bezeichnet er als Windhund, Gilberto als Vogel,273 während er die Blinden mit räudigen Hunden vergleicht.274 Auch in der Vorführung werden diese für die grausame Belustigung des bürgerlichen Publikums als Tiere dargestellt: «¡Son como animalillos!», «¡Orejas de burro ya tienen!»275 Der Zweck heiligt für den Valindin die Mittel. Und im ebenso machiavellischen Sinne ist Gewalt für Valindin zulässig276: physische Gewalt gegen Adriana, die er erbarmungslos schlägt;277 psychologische Gewalt gegen David: «Entérate, imbécil. Eres ciego. ¡Y débil! Nunca intentes nada contra un hombre con los ojos en su sitio».278 Unter Anwendung von Gewalt nimmt er den Blinden ihre Menschlichkeit. David klagt: «Los ciegos no somos hombres [. . .] porque hasta un niño nos puede hacer daño».279 Die Beherrschung des Menschen durch ökonomische Kräfte hat den Menschen in die Barbarei getrieben, wie Adorno und Horkheimer bekräftigen.280 Was ursprünglich ein Freiheitsversprechen war281 (die Blinden vor der Armut im Hospiz zu retten und ihnen eine würdige Aufgabe zu geben), stellt sich als Sklaverei, Demütigung und Verlust der Würde heraus. Adriana erkennt das: «sé qué es el hambre. [. . .] Él os ha atrapado como me atrapó a mí [. . .] Y también yo me avergüenzo cada día».282 Angesichts der Sklaverei bestehen zwei Möglichkeiten, für die im Stück zwei blinde Figuren stehen: nachzugeben und die Situation zu akzeptieren, wie Donato es tut, oder sich zu befreien, wie David es tut.283 Sein Traum von Freiheit
271 Ebda., S. 154. 272 Ebda., S. 141. 273 Ebda., S. 109, 133. 274 Ebda., S. 141. 275 Ebda., S. 147. 276 Niccolò Machiavelli: Il Principe, S. 82–83. 277 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio, S. 175. 278 Ebda., S. 176. 279 Ebda., S. 157–158 280 Theodor Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 15. 281 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio, S. 109. 282 Ebda., S. 157. 283 Ebda., S. 142.
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und Würde für die Blinden steht im Gegensatz zur instrumentellen Vernunft des Valindin, der Verkörperung des kapitalistischen Bürgertums.284 Die Sklaverei kann nur durch die Akzeptanz ihres Mittels durchgeführt werden: das Kapital. Deshalb drängt David die Blinden dazu, den Konzertauftritt nicht für den materiellen Gewinn zu akzeptieren, sondern für ihre Geigen – für die Musik, ohne einen weiteren Zweck.285 Dadurch können sie sich ihrer Entwürdigung entgegenstellen.286 Wie David seinen skeptischen blinden Freunden zu verstehen gibt, ist die Musik ihre einzige Möglichkeit, die Menschenwürde zurückzuerlangen. Deshalb schlägt er vor, dass jeder seinen Teil auswendig lernt und all seine Arbeit in diesen Teil steckt, um dem Publikum zu zeigen, dass sie keine kranken Tiere, sondern exzellente Musiker sind. Um zu zeigen, dass es sich nicht um ein unrealisierbares Ideal handelt, berichtet ihnen David von Mélanie de Salignac (1744–1766), die blind geboren wurde und noch vor der Erfindung der Brailleschrift lesen und schreiben lernte: DAVID ¿No habéis oído hablar de Melania de Salignac? [. . .] Esa mujer sabe lenguas, ciencias, música. . . Lee. ¡Y escribe! ¡Ella, ella sola! No sé cómo lo hace pero lee. . . ¡en libros! [. . .] ¡Estáis muertos y no lo sabéis! ¡Cobardes! [. . .] Me creéis un iluso porque os hablé de Melania. ¡Pero tú sabes, Nazario, que con mi garrote de ciego te he acertado en la nuca cuando he querido, jugando y sin dañarte! ¿Y sabes por qué? Porque se me rieron de mozo, cuando quise defenderme a palos de las burlas de unos truhanes! Me empeñé en que mi garrote sería para mí como un ojo. Y lo he logrado. ¡Hermanos, empeñémonos todos en que nuestros violines canten juntos y lo lograremos! ¡Todo es querer! Y si no lo queréis, resignaos como mujerzuelas a esta muerte en vida que nos aplasta.287
Das Wissen regt die Fähigkeit an, zu träumen und zu denken, was sich niemand zu denken traut. In diesem Fall ist es der Gedanke, dass die Blinden wie Sehende Instrumente spielen und dass sie ebenso gut lesen und schreiben können.288 Durch die Musik, Lektüre und Schrift gewinnen die Blinden ihre Freiheit und können ein so würdiges Leben wie jeder andere führen. Und dennoch haben sie sich alle, wie David beklagt, für das Gegenteil entschieden: «Ahora somos los payasos de la feria y mis compañeros ni siquiera lo lamentan ya».289 Nicht nur Valindin, dem eine Auflehnung der Blinden schaden würde, sondern
284 Catherine O’Leary: The theater of Antonio Buero Vallejo: Ideology, Politics and Censorship. Woodbridge: Tamesis 2005, S. 150. 285 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio, S. 88. 286 Ebda., S. 169. 287 Ebda., S. 89–91. 288 Ebda., S. 112. 289 Ebda., S. 156.
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ebenso seine blinden Gefährten erachten ihn als Träumer, als Verrückten,290 der unerreichbare Ideale verfolgt291: DAVID
¡Seremos hombres, no los perros [. . .] en que nos ha convertido! ¡Aún es tiempo!
LUCAS
¿Cuándo vas a dejar de soñar?
ELÍAS
Ni siquiera nos deja los violines. . .
DAVID
¡Nos los dejará si le exigimos eso! ¡Pero tenemos que pedírselo unidos! ¡Unidos, hermanos!
NAZARIO ¡Basta! Soy yo ahora el que dice que no. Lo que tú quieres es un sueño y, además, no me importa. ¡A mí me importa el dinero y más no nos va a dar. ¡Ya lo has oído! Conque déjanos en paz. DAVID
Tenéis la suerte que os merecéis.292
Auf tragische Weise bleibt David allein mit seinen Träumen, der unfehlbaren Waffe gegen die Beherrschung von Menschen durch Menschen, die die Tyrannei Valindins repräsentiert.293 Davids Traum wird von einer Welt zerstört, die vom Kapital regiert wird und in der die Menschen Hunger leiden müssen, in Zirkuspuppen verwandelt und geschlagen werden, sowie von einer Gerechtigkeit verurteilt, die dem Kapital unterworfen ist.294 Sein Traum hat sich somit in einen Alptraum verwandelt.295 Doch diese Hoffnungslosigkeit des Protagonisten wird zur Hoffnung des Zuschauers. Angesichts der Trostlosigkeit Davids nach dem
290 Ebda., S. 166, 173. 291 Ebda., S. 105, 113. 292 Ebda., S. 165. 293 Die in Buero Vallejos Werk immer präsente Gegenüberstellung von ‹aktiven› und ‹kontemplativen› Figuren wird laut Doménech besonders deutlich in der Antinomie ValindinDavid (Ricardo Doménech: Tríptico: En la ardiente oscuridad, El concierto de San Ovidio y La Fundación. In: Cristóbal Cuevas García (Hg.): El teatro de Buero Vallejo. Teatro y espectáculo. Barcelona: Anthropos 1990, S. 17–39, hier S. 22), wo der starke Valindin den schwachen David unterdrückt (Mariano de Paco: El concierto de San Ovidio y el teatro de Buero Vallejo. In: Anales de Filología Hispánica, 5 (1990), S. 37–51, hier S. 44). Das zeigt sich auf der Bühne in einer Opposition von Licht als Symbol von Erkenntnis und von der ethischen Überlegenheit Davids einerseits und andererseits der Finsternis, die mit Valindins Engherzigkeit asoziiert wird (Francisco Javier Díez de Revenga: Sentido trágico en El concierto de San Ovidio de Antonio Buero Vallejo. In: Fernando Doménech (Hg.): Teatro español. Autores clásicos y modernos. Homenaje a Ricardo Doménech. Madrid: Fundamentos 2008, S. 291–296, hier S. 295). 294 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio, S. 171. 295 Ebda., S. 182.
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Scheitern seines Traums, in dem Blinde lesen, schreiben und herausragende Musiker werden können, versichert ihm Adriana, dass seine Bemühungen nicht vergeblich gewesen sein werden: «Nuestros hijos verán [. . .] otros lo harán».296 Diese Hoffnung nimmt Gestalt an in Valentin Haüy: VALENTÍN HAÜY Ante el insulto inferido a aquellos desdichados, comprendí que mi vida tenía un sentido. Yo era un desconocido: Valentín Haüy, intérprete de lenguas y amante de la música. Nadie. Pero el hombre más oscuro puede mover montañas si lo quiere. Sucedió en la plaza de la Concordia; allí se han purgado muchas otras torpezas. [. . .]«Sí», me dije embargado de noble entusiasmo [. . .] Yo haré leer a los ciegos. [. . .] Si se les da tiempo ellos lo conseguirán aunque yo haya muerto; ellos lo quieren y lo lograrán. . . algún día [. . .] No quise volver a la feria ni saber ya nada de aquellos pobres ciegos. Fue con otros con los que empecé mi obra [. . .]297
Der Zuschauer weiß, dass Valentin Haüy 1784 die erste Blindenschule gründet, in die später (1819) Louis Braille eintritt. Während der Konformismus der Tyrannei und Kapitalmacht zum Tod im Leben führt, sind die Träume befreiend. Der beständige Gegensatz von instrumenteller Vernunft und Träumen in Bueros Theaterstücken gibt letzteren die Legitimität, die ihnen im französischen existenzialistischen Theater fehlt. Das Leben beruht nicht mehr auf Angst angesichts der sichersten Möglichkeit, dem Tod, sondern auf dem Prinzip der Hoffnung. Die einzige Möglichkeit, sich von dieser Angst zu lösen und frei zu sein, liegt im Träumen, wie David verdeutlicht.298 7.4.3.3.3 El sueño de la razón gebiert Ungeheuer Während Un soñador para un pueblo die Reformen von König Karl III. und seines Ministers Esquilache als positiv für die Entwicklung Spaniens darstellt und die Gründe ihres Scheiterns analysiert, wird sein Thronnachfolger Ferdinand VII. mit allen Charakteristiken eines Tyrannen dargestellt. Bueros Goya klagt: «Cuando el país iba a revivir, lo han adormecido a trancazos».299 El sueño de la razón spiegelt daher die direkten Folgen des Scheiterns der Aufklärung in Spanien wider.
296 Ebda., S. 190. 297 Ebda., S. 195. 298 Ebda., S. 182. 299 Antonio Buero Vallejo: El sueño de la razón. Madrid: Austral 2009, S. 120. Allerdings wurde die Tatsache der Umkehrung von Un soñador para un pueblo in El sueño de la razón weder bei John W. Kronik: Buero Vallejo y el sueño de la razón. In: Mariano de Paco (Hg.): Estudios sobre Buero Vallejo. Murcia: Universidad de Murcia 1994, S. 253–261, Donald Gene Pace: Forced Political Confession. Buero Vallejo’s El sueño de la razón. In: Romance Quarterly, 53/2 (2006), S. 129–143
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Buero konzipiert dieses Stück als Plädoyer gegen einen König, der die Exzesse absolutistischer Macht verkörpert, wie selbst die königlichen Geschichtsschreiber vermerken.300 Es ist bereits deutlich geworden, dass Bueros historisches Theater untrennbar mit der Gegenwart verbunden ist, weshalb auch eine Verbindung dieser Vergangenheit zu dem aufklärerischen Impuls naheliegt, der mit der 98er Generation erneut an Bedeutung gewinnt, durch die Institución libre de Enseñanza stärker wird und in der Franco-Diktatur zwangsweise verschwindet. El sueño de la razón, der zu Barbarei, Unfreiheit und Konformismus führt, steht im Gegensatz zu Goyas Sueños und zu jenen befreienden Träumen von Esquilache in Un soñador para un pueblo. Die Klarheit des Lichts und der Vernunft steht somit der Dunkelheit und dem Unwissen des Absolutismus entgegen. Buero belebt erneut die Rolle des Intellektuellen, der weit davon entfernt ist, den Exzessen von Macht und Tyrannei zu dienen und sie stattdessen mit allen ihm möglichen Mitteln verurteilt. Gegenüber den Kirchenfürsten, die es gutheißen, dass der König seine Ratgeber zu Mord und Raub ermuntert,301 versucht Goya, dem Volk die Augen zu öffnen: GOYA Les parece que el día es hermoso pero yo veo que está sombrío. [. . .] Sí, al fondo brilla el sol. Y allá está la montaña, pero ellos no la ven [. . .].302
Bueros Goya malt zwar Hexen, aber er liebt die Vernunft; er spiegelt die grässliche Wirklichkeit wider,303 um auf diese Weise, wie auch Buero selbst, eine Hoffnung ohne Täuschungen zu schaffen. Das Wissen stellt sich so damals wie heute in den Dienst der Kritik einer tyrannischen Macht. Goya verurteilt ein Regierungssystem, das von einem fanatischen König geführt wird, der Universitäten schließt, um Schulen für Stierkampfkunst zu eröffnen; der einen guten Arzt und einen guten Maler zum Tode verurteilt; der nur Vasallen will, die ihm mit Furcht und Angst begegnen; der seine Macht durch Gewalt aufrechterhält.304 Goya porträtiert auf diese Weise ein Land, dessen Vernunft schläft.305 Während Vernunft und Traum in Un soñador para un pueblo als conditio sine qua non für den Fortschritt dargestellt werden, hat der Schlaf der Vernunft nach noch bei Eric Pennington: Power and Punishment in Antonio Buero Vallejo’s El sueño de la razón. In: Hispania, 90/4 (2007), S. 650–661, hier S. 660–661) aufgezeigt. 300 Antonio Buero Vallejo: Nota a El sueño de la razón. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 450–451, hier S. 451. 301 Antonio Buero Vallejo: El sueño de la razón, S. 107. 302 Ebda., S. 85. 303 Ebda., S. 85, 149. 304 Ebda., S. 150–153. 305 Ebda., S. 181.
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dem Scheitern der Aufklärung das Land in die Barbarei geführt. Wenngleich der Titel des Theaterstücks dem Capricho 43 zu verdanken ist, El sueño de la razón produce monstruos, gipfelt das Stück in Capricho 71: Si amanece, nos vamos. Mit diesem Bezug als Glanzsymbol im Gegensatz zu den Schatten des Unwissens, öffnet sich die Hoffnung auf einen Sieg der Vernunft über die Finsternis des Absolutismus.
7.4.4 Die Gegenwart der Zukunft Im vorangegangenen Abschnitt ist deutlich geworden, wie Buero sich auf das Erbe der Antike, der Neuzeit und der Aufklärung bezieht, das noch immer auf verschiedene Weise im 20. Jahrhundert fortlebt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Vergangenheit mit der Gegenwart verschmilzt – in Erwartung der Zukunft. Diese kann nach Ortega entweder positiv angegangen werden, sodass das Gewesene, zumindest teilweise, weiterhin fortbesteht (König Karl III. in Un soñador para un pueblo), oder negativ, sodass das Gewesene sich verändert (König Ferdinand VII. in El sueño de la razón). Es sei daran erinnert, dass das Leben des Menschen für Heidegger, Ortega und Sartre gleichermaßen vor allem auf die Zukunft gerichtet ist und eine Antizipation der Möglichkeiten darstellt, die das individuelle und kollektive Leben bestimmen. Mit diesem Zeitbegriff entwickelt Ortega eine Ethik der Hoffnung,306 der Buero in seinen Theaterstücken eine ästhetische Gestalt gibt. Anhand seiner Träume setzt der Mensch Gegenwart und Zukunft miteinander in Verbindung. Eine bessere Zukunft zu erwarten, impliziert eine Kritik der Gegenwart, wie Buero auch in El tragaluz und Mito verdeutlicht. 7.4.4.1 El tragaluz: die Ethik der Hoffnung und der Humanismus des Anderen El tragaluz (1967) handelt von einem Experiment, das zwei anonyme Wissenschaftler in der Zukunft durchführen: die Analyse einer Familiengeschichte aus dem 20. Jahrhundert, die die Folgen des Spanischen Bürgerkriegs durchlebt. Das Ziel des Experiments ist es, eine Wiederholung der Fehler aus der Vergangenheit zu vermeiden und sich gleichzeitig einer Zukunft bewusst zu werden, die ständig über die Gegenwart urteilt: ÉL
Si no os habéis sentido en algún instante verdaderos seres del siglo veinte, pero observados y juzgados por una especie de conciencia futura; si no os habéis sentido en algún
306 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X, S. 363.
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otro momento como seres de un futuro hecho ya presente que juzgan, con rigor y piedad, a gentes muy antiguas y acaso iguales a vosotros, el experimento ha fracasado.307
Die Bedeutung, die die Wissenschaftler dem Fall dieser einzelnen Familie zuschreiben, zeigt, dass sie sich ihrem Gegenstand nicht aus der Perspektive der Geschichte, sondern, wie im Folgenden gezeigt wird, der intrahistoria nähern. So spielen nicht die Herrscher und Mächtigen die Hauptrollen, sondern gewöhnliche Leute, das Volk, der feste und stete Grund der sichtbaren und wechselhaften Geschichte. Zu diesem Grund muss zurückgekehrt werden, um zu vermeiden, dass die Erinnerung an den Bürgerkrieg entmenschlicht wird.308 Die Analyse der Vergangenheit soll laut Buero auf einer guten Kenntnis der Geschehnisse und ihrer Ursachen beruhen sowie auf der Rekonstruktion der intrahistoria, zu der die dokumentierten Tatsachen beitragen können.309 Die Bedeutung, die Buero der intrahistoria beimisst, zeigt erneut den großen Einfluss, den Unamuno auf Bueros dramatisches Schaffen hat und den der Theaterautor selbst offenlegt.310 Die intrahistoria soll laut Buero anhand von jenen leidenden Individuen geschrieben werden, die ansonsten keine Stimme in der Geschichte hätten: ÉL
Pues, en efecto, ¿quién es ese? Es la pregunta que seguimos haciéndonos.
ELLA La pregunta invadió al fin el planeta en el siglo veintidós. [. . .] ELLA Asumir el pasado vuelve más lento nuestro avance, pero también más firme. ÉL
Compadecer, uno por uno, a cuantos vivieron, es una tarea imposible, loca. Pero esa locura es nuestro orgullo.
ELLA Condenados a seleccionar, nunca recuperaremos la totalidad de los tiempos y de las vidas. Pero en esa tarea se esconde la respuesta a la gran pregunta, si es que la tiene.311
Obwohl es sich um einen mühseligen und schmerzhaften Prozess handelt und obwohl das Wissen zu neuem Unwissen führt, ist es besser, als die Wahrheit nicht zu kennen. Buero macht dies am Beispiel jener Familie deutlich, die ihr Leben lang eine Lüge lebt: die Lüge, dass der ältere Bruder Vicente nach dem Bürgerkrieg von seiner Familie getrennt wird, indem er in einen Zug steigt, aus
307 Antonio Buero Vallejo: El tragaluz. Madrid: Castalia 1971, S. 309. 308 Ebda. S. 213. 309 Antonio Buero Vallejo: Acerca del drama histórico, S. 826. 310 Antonio Buero Vallejo: Mi teatro. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 469–480, hier S. 470. 311 Antonio Buero Vallejo: El tragaluz, S. 290.
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dem er nicht aussteigen kann. Wie der Zuschauer am Ende jedoch herausfindet, entschließt sich Vicente tatsächlich, nicht aus dem Zug auszusteigen, um die Milch (ein wertvolles Gut in der ungewissen Nachkriegszeit) für seine kleine Schwester, die sein Vater ihm anvertraut hat, für sich allein zu behalten. Er bleibt mit der Flasche im Zug, vor den Augen der sprachlosen Familie, die ohnmächtig vom Gleis aus zuschaut und nichts dagegen tun kann, dass das Baby einen Hungertod stirbt. Diese Vergangenheit ist ein Teil der Gegenwart der Familie. Mit dem Ziel, die traumatische Erfahrung zu überwinden, überzeugt sich die Mutter selbst, dass ihr Sohn in jenem Zug zurückgehalten wurde und nicht aussteigen konnte, während der Vater verrückt wird. Eine falsche Vergangenheit bestimmt für die ganze Familie eine falsche Gegenwart. Natürlich steht diese Familie für ein Spanien, das, um das Trauma des Bürgerkriegs zu überwinden, eine beruhigende Erzählung konstruiert hat, einen Mythos. Erst wenn die Falschheit des Mythos von Mario, dem jüngeren Bruder, der an die ins Unbewusste verdrängten Geschehnisse erinnert, entlarvt wird, öffnet sich für die Familie die Möglichkeit einer besseren Zukunft. Auch Vicentes Vergangenheit bestimmt seine Gegenwart, die noch immer an jenen Eisenbahnzug geknüpft ist. Für ihn hat das materielle Gut Priorität vor dem Menschen, dessen Auslöschung aus dieser Perspektive zur Erlangung von materiellem Vorteil zulässig ist.312 Auf diese Weise trägt Vicente zum Fortbestehen einer enthumanisierten Welt bei: MARIO
No se vive de la rectitud en nuestro tiempo. ¡Se vive del engaño, de la zancadilla, de la componenda. . .! Se vive pisoteando a los demás. ¿Qué hacer, entonces? O aceptas ese juego siniestro. . . y sales de este pozo. . . o te quedas en el pozo. [. . .] Me repugna nuestro mundo, en él no cabe sino comerte a los demás o ser comido. Y encima, todos te dicen: ¡devora antes de que te devoren! Te daremos bellas teorías para tu tranquilidad. La lucha por la vida. . . El mal inevitable para llegar al bien necesario. . . La caridad bien entendida. . . Pero yo, en mi rincón, intento comprobar si puedo salvarme de ser devorado. . . aunque no devore.313
In dieser Welt ohne Moral, in der nur das Recht des Stärkeren zählt, konnte Vicente Erfolg haben. Durch seinen Gebrauch der instrumentellen Vernunft, durch seine heuchlerische Tugend und den Vorrang des Einzelnen vor dem Gemeinwohl, hat er sich in einen Tyrannen verwandelt, wie Mario ihm vorwirft: MARIO
¡Ah, pequeño dictadorzuelo, con tu pequeño imperio de empleados a quienes exiges que te pongan buena cara mientras tú ahorras de sus pobres sueldos
312 Ebda., S. 307. 313 Ebda., S. 256–257.
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para tu hucha! ¡Ridículo aprendiz de tirano, con las palabras altruistas de todos los tiranos en la boca!314
Bei beiden Brüdern ist die Vergangenheit Teil ihrer Gegenwart, doch ihre Zukunft ist nicht vorbestimmt, sondern bildet sich erst durch ihre Entscheidung. Im Gegensatz zu Vicente wird Mario als homo humanus und nicht als homo œconomicus dargestellt. Er weigert sich, sich in einen unmoralischen und habgierigen Menschen zu verwandeln, den er in Vicente als Opfer des Kapitalismus sieht.315 Um dies zu vermeiden, wählt Mario freiwillig die Armut. Die beiden Brüder gestalten ihre Zukunft auf radikal entgegengesetzte Weise. Während Vicente die vita activa wählt, entscheidet sich Mario für die vita contemplativa: VICENTE Mario, toda acción es impura. Pero no todas son tan egoístas como crees. ¡No harás nada útil si no actúas! Y no conocerás a los hombres sin tratarlos, ni a ti mismo, si no te mezclas con ellos. MARIO
Prefiero mirarlos.
VICENTE ¡Pero es absurdo, es delirante! ¡Estás consumiendo tu vida aquí, mientras observas a un alienado o atisbas por el tragaluz piernas de gente insignificante!. . . ¡Estás soñando! ¡Despierta! MARIO
¿Quién debe despertar? ¡Veo a mi alrededor muchos activos, pero están dormidos! ¡Llegan a creerse tanto más irreprochables cuanto más se encanallan! [. . .] Me conformo por eso con observar las cosas y a las personas desde ángulos inesperados. . .316
Vicente reagiert verächtlich und irritiert, während Mario ihm vorwirft, dass ihn das aktive Leben einschläfert und am Träumen hindert. Wie bei Ortega sind es die Träume, die es dem Subjekt ermöglichen, über sich selbst hinauszugehen.317 Durch die Einbildungskraft und Träume kann das ‹Ich› ein ‹Anderer› sein, mit allen ethischen Implikationen. Wenn der, der foltert oder demütigt, sich in die Lage des Leidenden hineinversetzen könnte, handelte er anders.318 So vertritt Buero mit El tragaluz im Sinne Ortegas eine Ethik der Hoffnung, die die Figur des Anderen aus verschiedenen Perspektiven miteinbezieht. Träume ermöglichen die Vorstellung eines räumlichen und zeitlichen utopischen Jenseits. Die Zukunft ist ein ethischer Wächter der Gegenwart und ur-
314 315 316 317 318
Ebda., S. 286. Ebda., S. 281–282. Ebda., S. 259. José Ortega y Gasset: Meditaciones del ‹Quijote›, S. 291–292. Antonio Buero Vallejo: El tragaluz, S. 291.
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teilt über eine Gegenwart, die von Ungerechtigkeiten, Krieg und Angst erfüllt ist und wo die Tätigen die Kontemplation vergessen und die Nachdenklichen nicht zur Tat schreiten können.319 Die Hoffnung auf eine Welt mit mehr Menschlichkeit, aus der die instrumentelle Vernunft, Barbarei und Kriege verbannt werden, liegt zwar nicht mehr im Horizont der Möglichkeiten von Bueros Protagonisten, vielleicht aber in dem ihrer Kinder und zukünftiger Generationen. Voraussetzung hierfür ist, dass sie unaufhörlich die Kraft für die unmögliche Aufgabe aufwenden, die Vergangenheit Stück für Stück aufzuarbeiten und in die Gegenwart zu holen, um eine bessere Zukunft erwarten zu können. 7.4.4.2 Mito: Don Quijote und die Verteidigung des Geistes der Utopie In El tragaluz vergleicht Vicente Mario mit einem Fahrenden Ritter,320 einem Träumer, der durch das Dachfenster schaut und Riesen sieht, wo er eigentlich Windmühlen erkennen sollte.321 Die quijotesken Figuren werden in Bueros Stücken häufig von den Repräsentanten der instrumentellen Vernunft verachtet. In diesem Sinne verachtet beispielsweise Doña Pastora den Quijotismo von Esquilache in Un soñador para un pueblo.322 In Mito. Libro para una ópera, nimmt Buero diese Idee wieder auf. Vor dem Hintergrund einer krisengeschüttelten Gesellschaft habe Don Quijote zu seinem Glauben an die Ritterschaft gefunden. Angesichts des Irrsinns der gegenwärtigen Welt schaffen laut Buero manche Wesen von quijotesker Kraft ihren Glauben an ‹fliegende Untertassen› und Ritter des Mars, der Venus oder eines anderen entfernten Planeten.323 Die Schale, die für Don Quijote der Helm des Mambrin war, hat sich für Eloy, den Protagonisten des Stückes, in eine Satellitenschüssel in Form einer fliegenden Untertasse verwandelt, durch die die Besucher aus dem All die Erde beobachten können: ELOY Ellos nos visitaban ya hace siglos con sus raudos platillos voladores y ahora aterrizarán para salvarnos de nuestra propia insania. 324
Die Hoffnung, die Eloy in die Außerirdischen setzt, unterzieht seine Gegenwart einer Kritik und öffnet die Möglichkeit einer gerechteren Zukunft. Wie Unamuno sieht Buero Vallejo in Don Quijote die paradigmatische Darstellung des
319 Ebda., S. 309. 320 Ebda., S. 288. 321 Ebda., S. 285. 322 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 87. 323 Antonio Buero Vallejo: Del quijotismo al mito de los platillos volantes, S. 444. 324 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito. Madrid: Austral 1976, S. 157.
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Glaubensritters,325 wenngleich der Idee des Glaubens in Bueros Mito keine christliche Bedeutung zukommt, da sie mit der Hoffnung gleichgesetzt wird. Zudem wird Buero von Ortegas Interpretation des Quijote inspiriert, die er in seinen Meditaciones ausarbeitet. Dort zeigt Ortega y Gasset die Region Campo de Montiel als einen unbegrenzten Raum, der alle Dinge der Welt exemplarisch spiegelt: Caminando a lo largo de él con don Quijote y Sancho venimos a la comprensión de que las cosas tienen dos vertientes. Es una el ‹sentido de las cosas›, su significación, lo que son cuando se las interpreta. Es otra la ‹materialidad de las cosas›, su positiva sustancia, lo que las constituye antes y por encima de toda interpretación.326
Für Ortega muss das spanische Volk für sein Land dasselbe tun, was Don Quijote angesichts der Windmühlen tat: seinen idealen Sinn erkennen.327 Vor diesem Hintergrund setzt Buero Don Quijotes Wahnsinn mit dem von Larra, Unamuno und all jener Geistesgrößen gleich, die seit dem Siglo de Oro gegen Gesellschaften kämpfen, die sich systematisch den Versuchen entgegenstellen, sich weiterzuentwickeln. Es handelt sich also um einen Wahnsinn, der unfruchtbar zu sein scheint angesichts einer scheinbar unveränderlichen Gesellschaft, doch ist er es laut Buero nicht: «El quijotismo es una gran fuerza, porque el quijotismo es la ética, la insobornabilidad».328 Es ist diese quijoteske Kraft, die all jene großen Lehrer dazu bewegt hat, die Konflikte ihrer Zeit nicht zu ignorieren, trotz der Schwierigkeiten in einer Gesellschaft, in der z.B. Vives oder Erasmus, ohne Gefährdung weder sprechen noch schweigen konnten.329 Im Gegensatz zu den vorherrschenden Mythentheorien der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg schreibt Buero dem Mythos eine positive Dimension zu. Entgegen Adorno, Horkheimer, der existenzialistischen Tragödie in Frankreich oder in Spanien bei Torrente Ballester, lehnt Buero die Idee ab, dass zu seiner Zeit alle Mythen stets von ihrer Entmythifizierung begleitet werden sollen.330 Obwohl er der Meinung ist, dass eine Entmythifizierung wichtig und notwendig ist, glaubt er nicht, dass dieser Prozess verallgemeinert werden sollte. Vielmehr
325 Antonio Buero Vallejo: Unamuno. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 961–966, hier S. 962. 326 José Ortega y Gasset: Meditaciones del ‹Quijote›, S. 277. 327 Anthony Close: La concepción romántica del ‹Quijote›. Barcelona: Crítica 2005, S. 212. 328 Antonio Buero Vallejo: Unamuno, S. 963. 329 Antonio Buero Vallejo: Discurso en la recepción del Premio Cervantes. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa 1994, S. 1290–1296, hier S. 1291, 1296. 330 Gonzalo Torrente Ballester: In: Carmen Becerra: Guardo la voz, cedo la palabra, S. 104.
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solle man zwischen den positiven und den negativen Aspekten eines konkreten Mythos differenzieren. Der Quijotismo (bzw. der Glaube an die Fahrende Ritterschaft, die Buero in Mito auf die fliegenden Untertassen überträgt) kann in diesem Sinne eine positive Kraft entfalten: El quijotismo como estéril acción individual que confunde las dianas, la fe en los «platillos» como pasividad tienen, por supuesto, aspectos negativos; pero inclusive en los casos en que sólo son esterilidad y pasividad poseen al menos el carácter de síntomas. Síntomas de un mundo trágico, cuya mera presentación entraña ya, para ellos, el significado positivo de alarmas y advertencias. Pero es que, además, el quijotismo no es siempre estéril o confuso – no en balde es «andante» – y la creencia en los «platillos» es, a menudo, compatible con sanas y dinámicas conductas sociales.331
Buero stellt die Idee infrage, dass der Wahnsinn (oder der Bruch mit der Unterscheidung zwischen dem Realen und Imaginären) eine Geistesschwäche darstellt und sieht darin vielmehr den Hinweis auf Probleme, die voreilig für überwunden erklärt wurden. Ohne den Quijotismus als Lösung aller möglichen Übel darzustellen und im Bewusstsein seiner Unzulänglichkeiten meint Buero, der Mythos, sei es der der Fahrenden Ritterschaft oder der vom Mars, erscheine nicht hinderlich, sondern könne unter gewissen Bedingungen die Gesellschaft auf positive Weise bewegen. Auf diese Weise wird der Anti-Quijotismo in dem Stück Mito mit moralischem Verfall und Konformismus gleichgesetzt, dem ein Quijotismo entgegensteht, der diese Dekadenz entlarvt. Ironischerweise stellt in der Oper, die im Stück dargestellt wird, Rodolfo auf der Bühne als stärkste Figur des AntiQuijotismo Don Quijote dar, während der quijotesken Figur Eloy diese Rolle verwehrt bleibt. Obwohl er ein schlechter Baritonist ist, wird Rodolfo vom Regime als Diener einer großen Kultur und eines großen Landes ausgezeichnet,332 das den Mythos des Don Quijote auf diese Weise missbraucht.333 Sein bezahlter Konformismus macht ihn zum Antagonisten Eloys der sich nicht einer Regierung fügt, die das Volk zum Unwissen erzieht. Stattdessen beklagt er, dass die Aufführung keinen anderen Zweck verfolgt, als die Bevölkerung von den tatsächlichen Geschehnissen abzulenken:
331 Antonio Buero Vallejo: Del quijotismo al mito de los platillos volantes, S. 445. 332 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 144–146. 333 Wie Ursula Trappe zeigt, bedient sich die franquistische Propaganda des Mythos des Don Quijote, um den Staatsstreich von 1936 zu legitimieren, um den Fortbestand eines geistigen Reiches zu zeigen und von da aus die nationale Identität zu konstruieren (Ursula Trappe: Kriegsmythen. Politische Mythen in Propaganda und Romanen der Aufständischen im spanischen Bürgerkrieg. Frankfurt a. M.: Vervuert 2011). Bueros Werk ist also als Kritik der Instrumentalisierung des Mythos zu verstehen, die während der Diktatur umgesetzt wurde.
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ELOY
¡Sabio gobierno, que mantiene la ópera ¡y concede oportunos galardones ¡para endulzar consignas necesarias! [. . .] ¡Si la guerra estalló sin avisarnos ¡y cayeran bombas esta noche, ¡continuaremos tan despreocupados ¡como en el popular cuento del lobo. 334
Die Opposition zwischen Quijotismo und Anti-Quijotismo nimmt in Mito die Gestalt des Gegensatzes zwischen Idealismus und Konformismus an. 335 Beispielhaft hierfür ist auch die Neubearbeitung von der Clavileño-Episode aus dem Quijote, die Buero in das Stück einfügt. So wie die Herzogin und der Herzog sich über Don Quijote und Sancho lustig machen, indem sie sie glauben lassen, dass sie auf einem magischen Holzpferd reiten, werden Eloy und Simón in Bueros Mito von Rodolfo und seinem Gefolge verspottet, indem sie sie glauben lassen, in einer fliegenden Untertasse durch den Weltraum zu fliegen, wo ein interplanetarischer Krieg zwischen Mars und Jupiter ausbricht. Als Eloy die Täuschung durchschaut, bedauert er es zutiefst: ELOY
Sé bien que no hay bondad en lo que ha hecho. A hacerme pasar hambre, ha preferido matar mi alma. Darme la evidencia de que soy un imbécil y un iluso. Pues bien, alégrese. Lo ha conseguido. Tal vez mi flaco juicio no distingue lo real de lo soñado. [. . .] Deliro frente a un mundo que delira mientras ríe y se aturde sin saberlo. ¡Buena imagen del mundo fue su broma! Esa espantosa guerra planetaria en el cielo no está, sino en la Tierra.
RODOLFO No tanto, amigo mío. No exageres. No va tan mal el mundo y nuestro tiempo mejor es que otros tiempos de la historia.336
Doch der Quijotismo wird in dem Stück nicht allein durch die Opposition von Eloy und Rodolfo dem Konformismus gegenübergestellt. Denn Buero analysiert darüber hinaus die Beziehung zwischen Quijotismo und der Wissenschaft anhand
334 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 150. 335 Catherine O’Leary: The theater of Antonio Buero Vallejo: Ideology, Politics and Censorship, S. 168. 336 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 214.
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251
des Verhältnisses zwischen Eloy und dem Elektriker. Dieser wird von seiner Vernunft geleitet und hält Eloy für einen Träumer, sodass erneut die Opposition zwischen Vernunft und Traum eingeführt wird: «El pobre sueña en fantasmas; yo sólo creo en la ciencia. La razón es tan segura como la electricidad».337 Eloy hingegen lehnt den Positivismus des Elektrikers ab. Er bemerkt, dass die Bücher, die letzteren beeinflussen und aus denen er papageienhaft deklamiert überhaupt keine sicheren Erkenntnisse enthalten. In einer Linie mit Husserl338 und Ortega339 bemerkt Buero, dass die Naturwissenschaft auf alle Existenzfragen keine Antwort hat. Darüber hinaus stütze sich die Wissenschaft in dem Stück auf eine Vernunft von instrumentellem Charakter, die ein anderes Ziel als die Erkenntnis selbst verfolgt. In diesem Sinne lobt der Elektriker eine listige und schlaue Regierung, die die Bevölkerung täuscht und betrügt, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Wie Eloy anprangert, verbrennt oder verbietet die Regierung Bücher und beseitigt Abtrünnige im Namen des Guten und der Wahrheit,340 die jedoch dem Nutzen des Staates untergeordnet werden. Da die Regierung sich nach einer nützlichen und nicht einer ethischen Tugend richtet, beklagt der Elektriker, dass sie nicht von mehr Naturwissenschaftlern gebildet werde, die den höchsten Grad der Tugend erreicht haben: «Pero, si fuera perfecto, el gobierno llamaría a otros hombres que le faltan. . .[. . .] A algunos electricistas [. . .]».341 Ein solcher Wissenschaftsbegriff stützt sich auf eine instrumentelle Vernunft, die Wissen und Macht eng miteinander verknüpft. 342 Eloy kündigt dann die Ankunft der Außerirdischen an.343 Sie repräsentieren ein ethisches Bewusstsein, das gegenwärtig wird.344 Das ethische Bewusstsein ist jedoch etwas, das dem Elektriker unbegreiflich ist. Er fühlt sich von keiner Instanz beobachtet und bewacht. Er glaubt nicht an Marsbewohner,
337 Ebda., S. 152. 338 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, S. 1–5. 339 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 216–219. 340 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 216–217. 341 Ebda., S. 152. 342 Ebda., S. 186. 343 Carl Gustav Jung behauptet in seinem Ein moderner Mythus: Von Dingen, die am Himmel gesehen werden (Zürich: Rascher 1958), dass die fliegenden Untertassen den großen Mythos des 20. Jahrhunderts darstellen. Nach Diago ist es wahrscheinlich, dass Buero dieses Werk kannte, als er sein Theaterstück geschrieben hat (Nel Diago: El teatro de ciencia-ficción en España: de Buero Vallejo a Albert Boadella. In: Cristóbal Cuevas García (Hg.): El teatro de Buero Vallejo. Teatro y espectáculo. Barcelona: Anthropos 1990, S. 173–186, hier S. 179). 344 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 193.
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sondern nur an die unerschöpfliche Elektrizität, die Sterne und Menschen geschaffen habe.345 Buero verdeutlicht anhand der Figur Eloys und in einer Linie mit Erich Fromm,346 dass die Naturwissenschaft ohne Ethik verantwortungslos ist und im Dienst der Macht alte Waffen in Atomwaffen verwandelt. Der wissenschaftliche Fortschritt geht mit einem ethischen Rückschritt einher, der die Freiheit des Menschen bedroht: «Con muy pocas monedas, cualquier pillo fabricará de aquí a muy pocos años, atómicas pistolas diminutas, lindas y esbeltas como transistores. Los prudentes gobiernos no lo ignoran y avanzarán no menos felizmente. Sus leyes prohibirán el ejercicio de toda libertad, que es peligrosa».347 Der instrumentellen Vernunft stellt Buero die Ethik der Hoffnung entgegen. Der Naturwissenschaftler hat keine Träume und lebt in einer Gegenwart ohne Zukunft, in der die Menschen keinen anderen Gott als den Menschen selbst haben.348 So formuiert Buero seine Kritik am Anthropozentrismus der humanistischen Tradition. Der Ernst der Worte von Eloy steht im Kontrast zur seelischen Verschlossenheit seiner Zuhörer, die charakteristisch für Ortegas hombre masa ist349: «Creo que me estoy durmiendo!»,350 ruft Teresina aus, die ohne jegliches Interesse an der Wahrheit lieber in ihre Künstlergarderobe geht, um Bonbons zu essen. Kurz darauf gehen auch die übrigen gelangweilt und energisch gähnend.351 Auf diese Weise lassen sie keinen Zweifel, dass sie sich nicht mit Geistigem befassen wollen und es stattdessen bevorzugen, die Welt als Paradies zu betrachten und ein leichtes Leben zu verfolgen. So beklagt Eloy: «hallan lo absurdo natural y sueñan que es bella y fuerte su ciudad podrida».352 Demnach ist Eloy in der Lage, im Gegensatz zur Mehrheit einen Unterschied zwischen Schein und Realität zu machen, den die meisten Figuren lieber ignorieren («libros ardiendo, fusilamientos, ahorcaduras, guillotinas, sillas eléctricas en acción. . .»)353:
345 Ebda., S. 193. 346 Erich Fromm: Humanismus als reale Utopie. Der Glaube an den Menschen, S. 42–43. 347 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 215. 348 Ebda. 349 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 173–186; diese Haltung zeichnet alle Figuren aus Bueros Mito außer den Protagonisten Eloy aus. Besonders ausgeprägt zeigt sie sich bei Rodolfo und dem Elektriker, um Konformismus und Wissenschaft dem Idealismus Eloys entgegenzustellen (Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 145, 152, 214, 241). 350 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 216. 351 Ebda., S. 216. 352 Ebda., S. 155. 353 Ebda., S. 215.
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ELOY
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Así es el hombre y este paraíso.
ELECTRICISTA Convénzase, buen hombre. Nadie vive en los cielos que usted ama. ELOY
Pues si es así, lloremos.
ELECTRICISTA ¡O riamos! ELECTRICISTA El mundo no es tan malo como cree y nunca hubo catástrofes completas. Sabremos remontar las venideras igual que remontamos otras muchas. ¿O no lo piensa así? ELOY
No es imposible. Pero mal podrá ser sin agoreros. Para evitar que lo peor suceda hay que gritar que puede sucedernos.354
Der Traum mit Blick auf die Zukunft ist befreiend. Bueros Tragödie ist ein literarischer Ausdruck des utopischen Geistes und steht damit im Gegensatz zum Utopismus: ELOY
Podéis reíros de este pobre iluso que todavía busca una esperanza. [. . .]
VOCES DE LOS VISITANTES
Eloy [. . .] Tendrás que soportar la amarga prueba de las horas vacías de esperanza. . . Pero tú no flaquees. No estás solo. . . Porque tú eres legión. . . Legión. . . Legión. . .
ISMAEL
Inútil todo ha sido. Tú te mueres. . . Yo moriré también. Somos dos locos.
ELOY
No es todo inútil. . . Aunque no lo entiendas. . . Los actos son semillas. . . que germinan. . . Germinará tu acción. . . También la mía.355
354 Ebda., S. 218–223. 355 Ebda., S. 219–238.
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Obwohl im Fall von Don Quijote, von Eloy oder jedem anderen Träumer (Penelope, Esquilache, Mario. . .) die Realität letztendlich stärker ist als die Träume,356 versichert Buero, dass sich die Hoffnung im günstigen Augenblick verwirklichen wird (Kairos). Damit nähert sich Buero Blochs Begriff der konkreten Utopie.357 Die Hoffnung öffnet immer einen leeren und noch unausgefüllten Raum vor sich, weshalb sich die Gerechtigkeit niemals vollständig verwirklichen wird. Alles andere würde die Behauptung eines Gerechtigkeitsbegriffs mit sich bringen, den man über alles andere stellen und woraus eine Teilgerechtigkeit resultieren würde, die in einer Diktatur mündete. So wie Esquilache die Auferlegung seines Fortschrittsideals der Aufklärung aufgibt, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, kommen auch die Außerirdischen nicht auf die Erde, um eine neue soziale Ordnung durchzusetzen. Stattdessen bringen sie die Hoffnung, dass der Fortschritt oder die Gerechtigkeit im richtigen Augenblick kommen werden. Ideale und Träume verwirklichen sich nie in der unmittelbaren Gegenwart, sondern regen auf der Grundlage ihrer Abwesenheit stets eine zukünftige Verwirklichung an. Auf diese Weise ermöglichen und erfordern universale Ideale wie der Fortschritt oder das Gute stets neue Konkretisierungen. Weit entfernt davon, den Ursprung der geschlossenen Gesellschaft bei Popper darzustellen,358 bilden die Träume für Buero ihr wirksamstes Gegenmittel. Die Hoffnung wird also zu einer moralischen Verantwortung. Nicht nur träumt jede Epoche die Folgende, wie Michelet behauptete,359 sondern träumend drängt sie auf das Aufwachen hin, wie Benjamin nuanciert.360
7.4.5 Buero Vallejos Humanismus Buero Vallejo gibt dem philosophischen Diskurs der Hoffnung, der sich in Spanien mit Ortega und in Abgrenzung von Heideggers Konzept vom Sein zum Tode entwickelte,361 einen literarischen Ausdruck.362 Ausgehend von der Hoffnung 356 Antonio Buero Vallejo: Mi teatro, S. 476. 357 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 216–223; Paul Tillich: Kairos und Utopie, S. 155–156. 358 Karl Popper: Utopia and Violence, S. 358–359. 359 Jules Michelet: Journal (1828–1848). Band I. Herausgegeben von Paul Viallaneix. Paris: Gallimard 1959, S. 390. 360 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 59. 361 Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 236. 362 Damit wird an dieser Stelle der Bruch bestritten, den Iniesta Galván zwischen Bueros theoretischen und dramatischen Texten sieht, wenn er behauptet, den offenen und hoffnungsvollen Charakter, den Buero seinem Tragödienbegriff zuschreibt, nicht in seinem Theater er-
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und von den Mängeln der instrumentellen Vernunft schlägt Ortega ein neues Vernunftideal von dialektischem Charakter vor, aus dem eine neue Konzeption des Menschen sowie eine neue Ethik, in der die Pflicht der Hoffnung untergeordnet wird, hervorgehen. Diese veranschaulicht Buero in seinem literarischen Werk anhand einer instrumentellen Vernunft, die ohne Träume nur in die Barbarei führen kann. Auf diese Weise erörtert er auf der Bühne nicht nur, was der Mensch ist, sondern ebenso, was er aufhören kann zu sein und was er werden könnte. Buero strebt danach, durch die Tragödie – wie es charakteristisch für den Humanismus ist363 – ein vollständiges Bild des Menschen zu entwerfen, das seine miseria und seine dignitas gleichermaßen beinhaltet.364 Es ist gerade die Dimension des Menschlichen, die die Tragödie von einem bloß sozialkritischen Stück unterscheide: «Si ante una obra de tema social de nuestros días el espectador sólo experimenta deseos de actuación inmediata y no se plantea –o siente– con renovada viveza el problema del hombre y de su destino, no es una tragedia lo que está viendo».365 Wie in der Antike soll die zeitgenössische Tragödie laut Buero eine ethische Problematik thematisieren.366 Am Anfang der Tragödie wird ein Fehler begangen, der geschehen kann oder auch nicht und zu dem sich die Figur frei entscheidet.367 Das tragische Schicksal entsteht somit aus einer Verletzung der moralischen Ordnung, die Leid verursacht.368 Die Tragödie wird dadurch als moralische Gattung definiert, die in der Lage ist, neue Aspekte des Menschen
kennen zu können: «No lo hallamos ni en las primeras obras que hemos distinguido como paradigma de todo su teatro ni en el resto de su creación dramática. [. . .] no conseguimos ver la esperanza trágica que Buero cree contenida en sus obras» (Antonio Iniesta Galván: Esperar sin esperanza. El teatro de Antonio Buero Vallejo. Murcia: Universidad de Murcia 2002, S. 320). Der dialektische Charakter, den Buero der Tragödie zuschreibt, ist hingegen sehr gut mit seiner Theaterpraxis verbunden (Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 646–647), sodass die Hoffnungslosigkeit untrennbar mit der Hoffnung einhergeht, die nicht auf Täuschung basiert. 363 August Buck: Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis. In: Archiv für Kulturgeschichte, 42 (1962), S. 61–75; Christoph Strosetzki: La literatura como profesión. En torno a la autoconcepción de la existencia erudita en el Siglo de Oro español, S. 5–9. 364 Antonio Buero Vallejo: Sobre mi teatro, S. 427–428. 365 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 637, 650. 366 Auch Torrente Ballester sieht Buero als einen an der Ethik orientierten Theaterautor (Gonzalo Torrente Ballester: Nota de introducción al teatro de Buero Vallejo. In: Primer Acto, 38 (1962), S. 11–14). 367 Antonio Buero Vallejo: Mis autores preferidos, S. 536. 368 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 640.
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zu enthüllen, die zu seinem Gesamtverständnis beitragen.369 Die Moralität der Gattung der Tragödie liegt insbesondere in ihrem Nachdenken über immanente Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass die Tragödie als moralische Gattung präsentiert wird, darf jedoch nicht dazu führen, sie mit einer moralischen Lehre zu verwechseln. Buero nennt sie vielmehr eine Annäherung an die Intuition der komplexen moralischen Ordnung der Welt.370 Nietzsches Verbindung der Moral mit Macht und seine Ankündigung des Übermenschen, jenseits von Gut und Böse, bedeutet für Buero keine Zerstörung der Ethik: Nietzsche ersetze eine Ethik durch eine andere, die ihm weniger trügerisch erscheint. Die Ablehnung konventioneller Moralvorstellungen kann laut Buero zu Handlungen führen, die sich anscheinend durch eine Unmoral auszeichnen und in denen das Schlechte als das Gute ausgegeben wird. Im Grunde jedoch werfen auch diese Stücke eine ethische Problematik auf, da selbst Autoren, die das Böse als Böses verteidigen, wie beispielsweise der Marquis de Sade, den Begriff des Bösen unweigerlich in Abgrenzung zum Begriff des Guten verwenden. Ohne eine ethische Pluralität auszuschließen, stellt Buero eine wachsende Tendenz zu einer neuhumanistischen Ethik fest, die wegen ihres oppositionellen Charakters zur Franco-Diktatur nicht verletzt werden dürfe.371 So schreibt er, eine Ethik im Sinne des Humanismus kristallisiere sich in der Franco Diktatur zu der einzig wahren Ethik heraus, die nicht verletzt werden dürfe.372 Buero verbindet so Humanismus und Aktualität auf der spanischen Bühne,373 wie im Folgenden gezeigt werden soll. 7.4.5.1 Humanistische Topoi im Werk Buero Vallejos Homo humanus vs. homo barbarus Den homo barbarus definieren sowohl Ortega als auch Buero als jenen, der sich nicht der Wahrheitssuche verpflichtet. Der homo humanus hingegen entfaltet sich auf der Grundlage seines Strebens nach dem Guten, Gerechten und Schönen.374
369 Antonio Buero Vallejo: Lo trágico, S. 590. 370 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 642. 371 Antonio Buero Vallejo: Una frase de don Quijote, S. 1303–1304. 372 Ebda., S. 1303–1304. 373 Antonio Buero Vallejo: El nuevo teatro español debe seguir el camino del valor y la sinceridad. In: Ders.: Obra completa. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa Calpe 1994, S. 597–599, hier S. 599. 374 Antonio Millán Puelles: Prólogo. In: María de las Mercedes Rovira Reich (Hg.): Ortega desde el humanismo clásico. Pamplona: Eunsa 2002, S. XVII–XX, hier S. 17.
7.4 Der Humanismus der Hoffnung und die Erneuerung der Tragödie
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Ausgehend von dieser Idee konstruiert Buero die Figuren des guten und des schlechten Königs in Un soñador para un pueblo (1958) sowie in El sueño de la razón (1970), die jeweils durch Karl III. (1716–1788) und Ferdinand VII. (1808; 1813–1833) verkörpert werden. Ersterer, ein aufgeklärter König, will dem Land durch eine parallele Entwicklung von Wissenschaft und Sittlichkeit Fortschritt bringen, während Letzterer das Land erneut in die Dunkelheit des Absolutismus stürzt. Während unter der Herrschaft Karls III. die Ziele des Friedens und des Gemeinwohls verfolgt werden, zeichnet sich die Herrschaft Ferdinands VII. durch die beständige Bedrohung durch eine willkürliche Justiz aus, was sich vor allem auf die Künste und Wissenschaften auswirkt, deren Kritik destabilisierende Wirkung haben. Während der gute König sich mit Weisen umgibt,375 bestraft sie der schlechte.376 Der Intellektuelle hat in letzterem Fall bei der kleinsten Unachtsamkeit das Risiko, wie ein Verbrecher bestraft zu werden oder sogar, wie Sokrates, den Schierlingsbecher trinken zu müssen.377 Der Intellektuelle wird so gezwungen, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen, um dennoch die Exzesse einer schlecht ausgeübten Macht mit den ihm möglichen Mitteln, der Kunst oder der Wissenschaft, anzuklagen. In Bueros Werk zeichnet sich der Intellektuelle durch die Fähigkeit aus, Sein und Schein zu unterscheiden und die Wirklichkeit durch die Malerei oder das geschriebene Wort aufzudecken. Buero begreift die Wahrheitssuche als ein wesentliches Kennzeichen des Menschen,378 weshalb er sie zum Leitprinzip seines eigenen literarischen Schaffens macht: La primera obra que escribí, y que luego fue mi tercer estreno, se llamaba En la ardiente oscuridad y era una tragedia entre ciegos [. . .] que pretendían parecerse algo a todos nosotros. Mi teatro ha procurado desde entonces asomarse a muy diversos panoramas pero creo que en el fondo se ha mantenido fiel al impulso que lo inició. Los «ciegos» de aquella obra tenían los ojos cerrados; su conflicto consistía en abrirlos. El propósito unificador de toda mi obra sigue siendo, seguramente, el mismo: el de abrir los ojos. [. . .] esos ciegos que quieren – y no quieren – ver se me imponen como ejemplo fundamental y tipifican la propensión trágica de la mayoría de mis obras.379
Ricardo Doménech beschreibt das Stück En la ardiente oscuridad als eine Neufassung von Platons Höhlengleichnis.380 Wenn der Mensch aufhört, nach
375 Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 109–110. 376 Antonio Buero Vallejo: El sueño de la razón, S. 150. 377 José Ortega y Gasset: Meditación sobre la técnica y otros ensayos sobre ciencia y filosofía, S. 117. 378 Antonio Buero Vallejo: Sobre mi teatro, S. 427–428. 379 Antonio Buero Vallejo: Sobre la tragedia, S. 702. 380 Ricardo Doménech: El teatro de Buero Vallejo. Una meditación española, S. 322.
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der Wahrheit zu suchen, dann entsteht Ortegas hombre masa, der der Barbarei den Weg ebnet.381 Die Wahrheit ist jedoch weder für Ortega382 noch für Buero etwas bereits Gegebenes von universalem Charakter, das bloß aufzudecken ist und sich mit Gewissheit präsentiert.383 So stellt sein Theater Fragen, statt Antworten zu geben. Es erhebt keinen Anspruch auf sichere Wahrheiten, sondern lebt aus der Suche nach Wahrheit. Wenn es Teilwahrheiten oder relative Lösungen anbietet, dann nur, um sie gleich wieder zu problematisieren und infrage zu stellen, wie Buero selbst verdeutlicht: «el constante replanteamiento de nuestros problemas es la más fuerte y vivificante de las acciones humanas».384 Eins der Hauptmerkmale seiner Tragödie liegt also in einem (hoffnungsvollen) Aufwerfen von Problematiken ohne endgültige Lösung.385 Buero stellt die Reflexion einem diktatorischen Denken entgegen, das einer Bevölkerung, die keine Fragen stellt, stets endgültige Antworten liefert, wodurch der Diktator seine Macht sichert. Die gut ausgeübte Macht hingegen geht mit einer Weisheit einher, die sowohl wissenschaftliches als auch ethisches Wissen impliziert, in der Frage und Antwort immer zusammenstehen und die sich von der Macht löst, sobald diese nicht mehr dem Gemeinwohl dient. Ein gutes Beispiel dafür ist Esquilache, der am Ende von Un soñador para un pueblo freiwillig in die Verbannung geht, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, hoffend, dass seine Vorschläge Spanien in der Zukunft zu einem Fortschritt führen. Dadurch werden die Figuren, die Hoffnung haben und träumen, jenen gegenübergestellt, die sich von einer instrumentellen Vernunft leiten lassen. Während erstere ein ethisches Wissen haben, das in den Dienst des Gemeinwohls gestellt wird, den Figuren jedoch persönlich schadet (Esquilache, Mario, Eloy), richten letztere ohne Rücksicht auf die Ethik ihre Handlungen an der eigenen, individuellen Gewinnmaximierung aus (Esquilaches Ehefrau, Vicente, Rodolfo). Der Gegensatz des traditionellen Humanismus zwischen homo humanus und homo barbarus spiegelt sich im 20. Jahrhundert in Bueros Theater im Gegensatzpaar von homo humanus und homo œconomicus wider.
381 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 139. 382 María de las Mercedes Rovira Reich: Ortega desde el humanismo clásico. Pamplona: Eunsa 2002, S. 315. 383 Antonio Buero Vallejo: El teatro de Buero Vallejo, visto por Buero Vallejo, S. 411. 384 Antonio Buero Vallejo: Sobre mi teatro, S. 429. 385 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 649.
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Humanitas vs. feritas Die ethische Tugend steht in Bueros Werk also in stetem Gegensatz zur instrumentellen Vernunft. Sie zeichnet sich zunächst durch eine Bevorzugung des Gemeinwohls vor dem individuellen Nutzen aus. Beispielsweise will Anfino in La tejedora de sueños seine Liebesbeziehung mit Penelope nicht zu seinem eigenen Vorteil im Wettbewerb der Freier nutzen und mit illegitimen Mitteln den Thron von Ithaka erwerben – im Gegensatz zu Odysseus, der vor keinem Mittel zurückschreckt, um den Thron zu behalten. Wie Buero selbst erklärt, wird Odysseus in La tejedora de sueños von machiavellischer Staatsräson geleitet.386 Der Gegensatz von ethischer und nutzenorientierter Tugend wird auch im Gegensatz zwischen Velázquez und dem Grafen in Las Meninas vorgeführt, zwischen Esquilache und Ensenada in Un soñador para un pueblo, zwischen David und Valindin in El concierto de San Oviedo, zwischen Goya und dem König in El sueño de la razón, zwischen Mario und Vicente in El tragaluz sowie zwischen Eloy und Rodolfo in dem Stück Mito. Dabei gelten Velázquez’ Hoffnungen der Wahrheit, Esquilaches dem Fortschritt, Davids der Menschenwürde, Goyas der Vernunft sowie die Hoffnung von Mario und Eloy der Ethik.387 Jede dieser Figuren klagt Lüge und Falschheit, Täuschung, Unterdrückung und Barbarei an. Sie alle werden dafür verurteilt, verbannt, gedemütigt, mit dem Tod bestraft oder ausgegrenzt. Im Gegensatz dazu orientieren Odysseus, Valindin, Ferdinand VII., Vicente und Rodolfo ihre Handlungen an politischer (Odysseus, Ensenada und Ferdinand VII.) oder ökonomischer Macht (Valindin, Vicente und Rodolfo). Unter der Leitung der instrumentellen Vernunft handeln sie mit List und ohne Moral im Interesse ihres eigenen individuellen Nutzens auf Kosten des Gemeinwohls. Ihre Handlungen führen zur Herrschaft des Menschen über den Menschen, zu Barbarei und Unterdrückung in einer Welt, in der «homo homini lupus»388 ist. All diese Figuren kehren auch den vom Humanismus verfochtenen Vorrang der Wahrheit vor dem Schein um und zeugen von einer machiavellischen Haltung, wonach die Aufrechterhaltung des Scheins von Wohlstand und Güte der Erlangung und Bewahrung von Macht dient. Odysseus erscheint so im Interesse der Macht als der Beste aller Männer. Auf dem königlichen Hof von Philipp IV. sind die Infantin Maria Theresia und Velázquez die einzigen, die den Schein im Interesse der Wahrheit verurteilen. Hinter Ensenadas vermeintlich fortschrittlichen Maßnahmen für das Gemeinwohl verbergen sich eine tiefe Verachtung gegenüber dem Volk sowie sein Wille zur Macht. Valindin organisiert das Konzert 386 Antonio Buero Vallejo: Comentario de La tejedora de sueños, S. 362–363. 387 Antonio Buero Vallejo: La doble historia del doctor Valmy. Mito, S. 155. 388 Thomas Hobbes: Elementa philosophica de cive. Lausanne: Grasset 1760, S. 4; Antonio Buero Vallejo: El tragaluz, S. 257.
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nicht, um den Blinden zu helfen, sondern um den eigenen Nutzen und Gewinn auf Kosten ihrer Menschenwürde zu maximieren. Ferdinand VII. fordert von seinen Untertanen als der größte König der Welt anerkannt zu werden, während er sein Volk größter Unterdrückung aussetzt und untergehen lässt. Vicente, der scheinbar gute Sohn, entpuppt sich als das schlimmste Übel für seine Familie, und hinter dem Lob von Rodolfos Talent verbirgt sich bloß der Lohn des Konformismus. Die vorgeblich außergewöhnliche Entwicklung der Künste und des Wohlstands in Spanien verdeckt eigentlich einen tiefgreifenden Rückschritt. Daher schlägt Buero vor, den lähmenden Schlaf der Gegenwart durch einen dynamischen Traum von der Zukunft zu ersetzen. Humaniora und realia Ortega y Gasset kritisiert, dass es dem am praktischen Leben orientierten Bürgertum an Kontemplation mangele. Es strebe nicht danach, die Welt zu verstehen, sondern nur in ihr Geschehen einzugreifen und sie zum eigenen Nutzen zu verändern. Darin sieht Ortega den unmittelbaren Grund für den Triumph der Physik und des Industrialismus: Las masas medias se interesaron en ella no por curiosidad intelectual sino por interés material. En tal atmósfera se produjo lo que podríamos llamar el «imperialismo de la Física». Para nosotros, nacidos y educados en una edad que participa de este modo de sentir nos parece una cosa muy natural, la más natural y discreta, que se otorgue el primado entre los modos de conocimiento a aquel que, sea como sea en cuanto teoría, nos proporcione el dominio práctico sobre la materia.389
Die auschließliche Orientierung an den Realia verwandelt den Fortschritt durch Wissenschaft und Technik in einen Rückschritt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Wiederbelebung der in der Hierarchie der Wissenschaften vernachlässigten Humaniora, um den Betrug dieses Fortschrittsmythos zu entlarven: Mientras los demás hombres hablan de los principios de la ciencia o de la civilización, el verdadero intelectual va más allá de estos llamados principios que tranquilizan al buen burgués y que, finalmente, no son sino falsos o al menos verdades parciales, sabiendo que es preciso descubrir principios más firmes.390
Gegenüber früheren Humanismen wetteifern Humaniora und Realia nicht in einer Hierarchie, sondern verstehen sich als gleich und komplementär. Wie Or389 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección I. In: Ders.: Obras completas. Band VIII. Madrid: Taurus 2008, S. 235–254, hier S. 251. 390 José Ortega y Gasset: Meditación sobre la técnica y otros ensayos sobre ciencia y filosofía, S. 117.
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tega im europäischen Kontext,391 sieht Buero das Ungleichgewicht zwischen beiden als einen der Gründe für die Krise Spaniens. Mit Ortega beklagt Buero, dass die Humaniora, die keinen materiellen Nutzen haben, wenig Aufmerksamkeit in Spanien erfahren. Man sehe nicht die Notwendigkeit der Geisteswissenschaften, woraus sich ein erschütterndes Resultat ergebe: «siglos de incuria, de estructuras sociales perjudiciales y atrasadas, de fanatismo, de temor al pensamiento libre, de educación paupérrima incluso entre las clases que gozaron del privilegio de acceder a ella».392 Vita contemplativa und vita activa Sowohl Ortega als auch Buero treten auch für eine Verbindung von vita activa und vita contemplativa im Leben des Menschen ein.393 Die Kontemplation zeichnet für Ortega die Lebensweise des Philosophen aus, während das aktive Leben jenen, wie den Politiker oder den Techniker, charakterisiert, der an einem konkreten Ziel orientiert ist.394 In dem Gegensatz beider (der die Technik oder Politik von der Philosophie trennt, bzw. Philosophie von der Technik) sehen Ortega und Buero einen der Hauptgründe für die Krise des 20. Jahrhunderts. Doménech weist in diesem Sinne auf die konstante Antinomie zwischen aktiven und kontemplativen Figuren in Bueros dramatischem Werk hin, sowie auf das Postulat von Moral und nicht nur von Effizienz, das in Bueros gesamtem Werk präsent ist.395
391 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 197, 404–405. 392 Antonio Buero Vallejo: Literatura y educación. In: Ders.: Obras completas. Band II. Herausgegeben von Luis Iglesias Feijoo und Mariano de Paco. Madrid: Espasa Calpe 1994, S. 1268–1274, hier S. 1268–1270. 393 José Ortega y Gasset: Meditación sobre la técnica y otros ensayos sobre ciencia y filosofía, S. 56. 394 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X, S. 367–368. 395 Ricardo Doménech: El teatro de Buero Vallejo. Una meditación española, S. 343, 377.
Schluss Die Analyse der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Humanismus anhand der vier paradigmatischen topoi des humanistischen Diskurses von der Antike bis zum 20. Jahrhundert hat einerseits ermöglicht, eine Linie der Kontinuität von der Antike bis zum 20. Jahrhundert zu ziehen, ohne andererseits ihre Entwicklung im Laufe der Geschichte zu ignorieren. Die Geschichte des Humanismus läuft somit parallel zur Geschichte der Vernunft. Wie die Geschichte der Vernunft in der Kritik der Vernunft besteht, ist auch die Geschichte des Humanismus eine Kritik des Humanismus durch den Humanismus. Die Analyse der Auswirkung von Veränderungen des Vernunftparadigmas auf die topoi des Humanismus hat es ermöglicht, drei Phasen in seiner Entwicklung auszumachen. In der Phase des ersten Humanismus bringt die spekulative Vernunft ein ethisches Wissen hervor, das die Ungleichheit von Regierenden und Regierten zur Folge hat und demgemäß kontemplative Disziplinen und Lebensweisen den aktiven überlegen sind. Die Entwicklung des zweiten Humanismus hingegen ist von dem Parameter der instrumentellen Vernunft geprägt. Dieses Vernunftmodell, das mit dem italienischen Humanismus des Trecento aufkommt, entwickelt sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts in den Bereichen der Politik, der Philosophie und der Wissenschaft. Die Weisheit, die für Platon und Aristoteles einen Selbstzweck darstellt, wird nun im Wesentlichen zu einem Mittel, ein bestimmtes Ziel zu erreichen; die Erkenntnisse müssen demnach einen Nutzen für die Verbesserung des menschlichen Lebens haben. Die wachsende Kritik am antiken Wissen, die mit dem Humanismus der Renaissance beginnt, findet ihren Höhepunkt in der Aufklärung. Diese definiert Kant als das Ziel eines Prozesses, den Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, durch den Mut, sich des eigenen Verstandes ohne die Anleitung anderer zu bedienen.1 Der Prozess der Demokratisierung des Wissens, der gleichsam mit dem Humanismus gegen Ende des Trecento seinen Anfang genommen hat, bringt schließlich neue politische Ideale mit sich, die letztendlich in der Französischen Revolution münden. Der Weise verliert seine führende Position angesichts der Vermehrung des Wissens: Unfähig, alle und jede einzelne Wissensform zu beherrschen, steht seine Erkenntnis in Abhängigkeit zum Wissen anderer. Die Wissensformen werden nun je nach ihrer Nützlichkeit geordnet, sodass in einer frühen Phase die nützliche Rhetorik die kontemplative Dialektik der Scholastik ersetzt. Im Zuge der weiteren Entwicklung dieses Vernunftideals weichen die Humaniora zunehmend den Realia. Die Geschichtsschreibung, Philosophie und 1 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, S. 60. https://doi.org/10.1515/9783110610376-009
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Schluss
Metaphysik müssen sich an deren Methoden anpassen und zu zweckorientierten Mitteln werden, während die mechanischen Künste, die noch im ersten Humanismus verachtet wurden, nun Anerkennung erlangen.2 Auf diese Weise wird die Hierarchie des ersten Humanismus umgekehrt, wobei ein technokratisches und egalitäres System vertreten wird.3 Das neue Vernunftideal spiegelt sich zugleich in der Umkehrung der Hierarchie von vita activa und vita contemplativa, wobei letztere den Überlegenheitsstatus verliert, der ihr noch im ersten Humanismus zukam, um nun lediglich als bloßer zielloser Zeitvertreib erachtet zu werden. Der dritte Humanismus beginnt mit der hegelschen Dialektik4 und festigt sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg mit der Kritik der instrumentellen Vernunft durch Adorno und Horkheimer. Die dialektische Auffassung der Realität, die bereits in Marx’ Humanismus zu finden ist, führt im 20. Jahrhundert zum Ersatz der vorherigen Vernunftideale durch neue, ebenso auf dialektischer Vernunft beruhende Vorschläge. So setzt sich Ortega in der ersten Hälfte des Jahrhunderts für eine Vernunft ein, die das Rationale mit dem Irrationalen oder Vitalen verbindet. Durch diese Periodisierung und die Analyse der Topoiwandlungen, die sie bestimmen, greifen wir auf Sartres Kritik zurück, für den Foucaults Archäologie eher erscheint als une géologie: la série des couches successives qui forment notre «sol». Chacune de ces couches définit les conditions de possibilité d’un certain type de pensée qui a triomphé pendant une certaine période. Mais Foucault ne nous dit pas ce qui serait le plus intéressant: à savoir [. . .] comment les hommes passent d’une pensée à une autre. Il lui faudrait pour cela faire intervenir [. . .] l’histoire, et c’est précisément ce qu’il refuse.5
Die vorliegende Geschichte des Humanismus, die sich auf eine durch die Vernunft verbürgte geschichtliche Kontinuität beruft, grenzt sich somit von
2 D’Alembert, Diderot (dir.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, S. 106–146. 3 Montesquieu: De l’esprit des lois, I, S. 261. 4 Dabei stellt Hegels Dialektik lediglich den Ausgangspunkt dar. In seiner dialektischen Konzeption der Geschichte schreibt Marx den ökonomischen Verhältnissen den Ort zu, den Hegel dem Geist zukommen ließ und seine Idee der Synthese (einer klassenlosen Gesellschaft) bezieht nicht die Gegensätze mit ein (Bürgertum und Proletariat). Für Ortega ist dies der bloße Ausgangspunkt der Entwicklung des Ratiovitalismus. Camus geht zwar von einer dialektischen Auffassung der Wirklichkeit aus, lehnt jedoch die Hegel’sche Überwindung der Gegensätze in der Synthese ab (Wolfgang Klein: Zynische Revolutionäre? Camus über Hegel, Marx und Lenin, S. 65); die menschliche Existenz basiert laut Camus auf unvereinbaren Gegensätzen (die Vernunft des Menschen gegenüber einer irrationalen Welt) und ist demnach absurd. 5 Jean-Paul Sartre: Jean-Paul Sartre répond. In: L’Arc, 30 (1966), S. 87–96, hier S. 87.
Schluss
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Foucaults Archäologie ab, die vom Verschwinden des Subjekts ebenso ausgeht wie von Diskontinuitäten und Brüchen.6 Foucaults Kritik des Humanismus7 gründet zudem in einem reduktionistischen Verständnis desselben, da sie viele Elemente mit dem kritischen Diskurs des dritten Humanismus teilt. Die Geisteswissenschaften, die den Menschen laut humanistischer Tradition befreien sollten, entdeckten, dass er nicht frei, sondern nicht zuletzt durch die Eingebungen des Unbewußten bestimmt ist, und dies auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Da sich aufgrund dessen eine traditionell verstandene Geschichte als unzureichend erwies, entstand beim dritten Humanismus das neue Konzept der intrahistoria, das in der Lage war, die Projektionen des kollektiven Unbewussten und der Mythen im Gang der Geschichte zu berücksichtigen.8 Die intrahistoria trägt einem neuen Zeitverständnis Rechnung, das mit der historischen Linearität bricht,9 wie es auch Foucault später tut.10 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden nunmehr eine Einheit, bei der die eine ohne die beiden anderen nicht mehr zu verstehen ist. Die intrahistoria ist daher in diesem Sinn eine Geschichte der Gegenwart, die ebensowenig wie bei Foucault, die Vergangenheit aus sich heraus verstehen, sondern sie vielmehr als Gegenwart begreifen will, sodass ungerechtfertigte Autoritätsansprüche verworfen werden können.11 So gesehen entlarvt der dritte Humanismus, wie sich gezeigt hat, ebenso alte wie moderne Mythen. Mit der Entmythifizierung des Fortschrittsmythos als Utopie, die unter dem Paradigma der dialektischen Vernunft zur Dystopie oder Tragödie wird, zeigt sich die Kritik eines teleologischen Geschichtsverständnisses, die auch Foucault später vertreten wird. Der dritte Humanismus lehnt darüber hinaus die externen und internen Hierarchien der vorausgegangenen humanistischen Tradition ab, dezentralisiert das Subjekt,12 hinterfragt die von vorausgegangenen Humanismen vertretene enge Verbindung zwischen Wissen und Macht und gibt die Hierarchisierung der Wissenschaften auf, um an ihre Stelle gleichberechtigte und komplementäre humaniora und realia zu setzen.
6 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, S. 11. 7 Ebda., S. 278. 8 Miguel de Unamuno: En torno al casticismo, S. 44; Michel Foucault: L’archéologie du savoir, S. 25. 9 Martin Heidegger: Sein und Zeit, S. 326; José Ortega y Gasset: Historia como sistema, S. 71; Jean-Paul Sartre: L’être et le néant, S. 143–146. 10 Michel Foucault: L’archéologie du savoir. Paris: Gallimard 1969. 11 Michel Foucault: Surveiller et punir. Paris: Gallimard 1975, S. 35. 12 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, S. 278.
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Schluss
Die Kritik am dritten Humanismus zeigt schließlich, dass das Projekt eines vernunftgeleiteten Fortschritts gescheitert ist, plädiert aber im Unterschied zu Foucault und aus einer Perspektive, die der später von Habermas vertretenen nahekommt,13 für dessen Korrektur und nicht für dessen Abschaffung. Comment redonner [alors] un sens au mot humanisme?14 Der dritte Humanismus wird die Antwort auf diese Frage in einer dialektischen Vernunft suchen, die die Realität (sowie sich selbst) als eine Gegenüberstellung von Gegensätzen begreift. Auf der Grundlage dieser dialektischen Vernunft entsteht eine Pluralität von Vernunftidealen,15 die sich in entsprechend heterogenen Erscheinungsformen des Humanismus niederschlägt. Doch sind alle seine Ausprägungen so unvereinbar mit und kritisch gegenüber dem zweiten Humanismus, wie dieser es im Verhältnis zum ersten war. Der christliche Humanismus beispielsweise wird durch die Ablehnung des vernunftbestimmten Ideals des zweiten Humanismus bestimmt, da dieser den Glauben ausschlösse.16 Der existenzialistische Humanismus Sartres hingegen unternimmt den Versuch, das Menschenbild des ersten und zweiten Humanismus auf der Grundlage eines dialektischen Seinsbegriffs zu korrigieren, der seine eigene Affirmation und Negation als notwendige Bedingung impliziert, um die Ganzheit des Menschen zu fassen, nach der jeder Humanismus strebt.17 Indessen kommt in Spanien ein Humanismus auf der Grundlage von Ortegas Ratiovitalismus auf, der in Hegels Dialektik seinen Ausgangspunkt findet.18 Die reine, physisch-mathematische Vernunft stellt sich für Ortega als unzureichend heraus, um das Menschliche verstehen zu können.19 Ausgehend von einem dialektischen Vernunftideal nimmt Ortega die Versuche einer Systematisierung der Kulturgeschichte von Curtius, Burkhardt und Huizinga wieder auf,20 um ihre Mängel aufzudecken und Ergänzungen vorzunehmen.21 Dieser
13 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 339. 14 Vgl. Fußnote 1. 15 Herbert Schnädelbach: Vernunft, S. 120. 16 Miguel de Unamuno: Del sentimiento trágico de la vida, S. 304–311; Jacques Maritain: Scholasticism and Politics, S. 2–5. 17 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant. 18 Jesús Ruiz: El método de la ciencia: la razón vital. In: Revista de Estudios Orteguianos, 18 (2009), S. 171–189. 19 Francisco José Martín: La tradición velada. Ortega y el pensamiento humanista, S. 96, 108. 20 Heilette van Ree: Ortega y el humanismo moderno. La conformación de los modelos de análisis cultural. Zaragoza: Tropelías 1997, S. 150. 21 María de las Mercedes Rovira Reich: Ortega desde el humanismo clásico, S. 315.
Schluss
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Humanismus zeigt sich durch die Verbindung von Geisteswissenschaften und Technik erneut in seinem Gegensatz zum Machiavellismus. Die Hauptargumente, die für die Forderung einer Überwindung des Humanismus in der Postmoderne angeführt werden (Anthropozentrismus,22 die Identifikation von Wissen und Macht als letzte Ursache totalitärer Systeme23 sowie das Fehlen von Antworten auf die Technikfrage)24 werden in dieser revidierten Form des Humanismus hinfällig. Anders als der erste und zweite Humanismus hat der dritte den Menschen dezentralisiert und die Figur des Anderen in sein Verständnis des Menschen aufgenommen.25 Außerdem stellt der dritte Humanismus sowohl in Frankreich als auch in Spanien eine Alternative zum Vernunftideal dar, das die sogenannten Wissensgesellschaften bestimmt, die sich auf dem Leitsatz gründen: «ipsa scientia potestas est».26 Camus, der aufmerksamer Leser von La rebelión de las masas war, übt in diesem Sinne eine ähnliche Kulturkritik wie Ortega;27 beide behaupten das Scheitern der wissenschaftlichtechnischen Rationalität und stellen aus je unterschiedlicher Perspektive den Fortschritt der Zivilisation infrage. Eine solche Kritik hat in der heutigen Zeit nicht an Aktualität eingebüßt. Die postmodernen Gesellschaften werden durch die Technologie der neuen Medien und die Verwendung von Wissen als Kapital,28 das zu herrschenden und beherrschten Klassen führt.29 Die Wissensgesellschaften zeichnen sich also durch einen instrumentellen Begriff des Wissens aus, der dazu führt, dass die
22 Michel Foucault: L’archéologie du savoir, S. 283. 23 Michel Foucault: Dits et écrits, S. 1392. 24 Für Sloterdijk stellt der traditionelle Humanismus keine Alternative für die modernen Gesellschaften dar, da sie, vor allem seit dem Aufkommen der neuen Medien, anderen Prinzipien als denen der Renaissance folgen. Die Literatur verwandele sich demzufolge in eine Art Subkultur und das Ideal humanistischer Bildung werde hinfällig, nachdem die Illusion zerschlagen ist, dass die politischen und ökonomischen Strukturen sich nach dem Modell einer literarischen Gesellschaft organisieren könnten (Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 14). 25 Donald W. Bleznick: El teatro de Pedro Laín Entralgo, S. 219–234; Raul Fornet Betancourt: L’humanisme solidaire de Sartre: anticipation de l’universalité et de la philosophie, S. 155. 26 Francis Bacon: Meditationes sacrae. In: James Spedding u.a. (Hg.): The Works of Francis Bacon. Band XIV. Boston: Brown & Tagard 1861, S. 59–80, hier S. 79. 27 Marc Firoud: Albert Camus, lecteur de José Ortega y Gasset. À propos de l’avenir de la civilisation européenne. In: Jean-Louis Meunier u.a. (Hg.): L’Europe selon Camus. Avignon: Barthélemy 2011, S. 121–146, hier S. 127–131. 28 Peter Drucker: The age of discontinuity. Guidelines to our changing society. New York: Harper & Row 1968, S. 10–27; Daniel Bell: The Coming of Post-Industrial Society. New York: Basic Books Publishers 1973, S. 212. Vgl. auch Pierre Bourdieu: La distinction. 29 Alain Touraine: La société post-industrielle. Paris: Denoël 1969, S. 73–74.
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Schluss
früher untrennbar mit der Bildung des Geistes vereinte Wissenschaft nun auf der ganzen Welt zu einem Quell des Machterwerbs wird.30 Der dritte Humanismus entsteht als Reaktion auf diese Wandlung des Wissens, die sich im Laufe des zweiten Humanismus vollzogen hat. Auf diese Weise lehnt er das Wissen als Instrument ab und begreift es als nicht zweckorientiertes oder instrumentelles Gut,31 das er der technischen Rationalität entgegensetzt.32
Humanismus und Utopie Rico definiert den Humanismus als Traum von einer neuen Welt, die auf dem alten Wort aufgebaut wird.33 In diesem Sinne findet der Humanismus in der Utopie einen literarischen Ausdruck, der seine Entwicklung exemplarisch zeigt. So wurde dargelegt, wie die Utopien von Erasmus bis Bacon den Wandel vom ersten Humanismus zu den Anfängen des zweiten widerspiegeln. Dadurch bezeugen sie den Wandel hin zu einem neuen Vernunftideal, das sich in der Aufklärung konsolidiert und in Louis-Sébastien Merciers L’an 2440 auf paradigmatische Weise literarisch konkretisiert. Die platonische Anamnesis wird endgültig durch einen positiven Fortschrittsbegriff ersetzt, der die wissenschaftliche Revolution der Renaissance in Gang gesetzt hatte.34 Der Fortschritt gründet nun im Gegensatz zum ersten Humanismus auf einer Vernunft, die nach dem Nützlichkeitsprinzip handelt. Die Vernunft wird ökonomisch und verwandelt sich in ein zweckdienliches Mittel. Vor diesem Hintergrund gedenkt das Paris des Jahres 2440 der Erfinder der Säge, der Drehbank und des Krans, indem es für sie Statuen aufstellt.35 Auch deshalb findet im zukünftigen Paris eine Technisierung der humanistischen Disziplinen statt. Latein und Griechisch werden nicht mehr unterrichtet, da sie als schierer Zeitverlust gelten, und werden durch Französisch ersetzt, was dagegen ein nützliches Kommunikationsmittel darstellt. Ebenso muss die Grammatik der Rhetorik weichen. Gleichzeitig wird auf die Spezialisierung des Wissens gesetzt, was die Zahl der Wissenden (und Mächtigen) vermehrt. Zugleich genießt das aktive Leben Vorrang vor dem kontemplativen Leben.
30 Jean-François Lyotard: La condition postmoderne. Paris: Minuit 1979, S. 14. 31 Cristiano Castelfranchi: Six critical remarks on science and the construction of the knowledge society. In: Journal of Science Communication, 6/4 (2007), S. 1–3. 32 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme, S. 26–29. 33 Francisco Rico: El sueño del humanismo. Madrid: Alianza 1993, S. 19. 34 John Bury: The idea of progress, S. 21. 35 Louis-Sébastien Mercier: L’an 2440, S. 193–202.
Humanismus und Utopie
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Der dritte Humanismus definiert sich über ein Vernunftideal, das mit dem des zweiten Humanismus unvereinbar ist und die Realität dialektisch begreift. Diese Veränderung bringt schließlich eine Problematisierung der Utopie mit sich. So sehen Marx und Engels «systematische Pedanterie» und «fanatischen Aberglauben»36 in dem Versuch des utopischen Sozialismus, das Vernunftideal der Aufklärung zu verbreiten und damit Gegensätze aufzulösen, die vielmehr miteinander konfrontiert werden sollten, um das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft verwirklichen zu können. In dem Maße, in dem sich das neue Vernunftparadigma sowie eine entsprechende Auffassung von Wirklichkeit festigen, erweist sich die Gattung der Utopie zunehmend als unvollständig und einseitig. So gibt dem Vernunftideal des dritten Humanismus bereits im 20. Jahrhundert die Dystopie, als gleichzeitige Repräsentation eines Ideals und seines Gegensatzes, einen paradigmatischen literarischen Ausdruck. Das neue Ideal begreift sich nicht nur selbst als dialektisch, sondern enthüllt zugleich den dialektischen Charakter der Vernunftideale vorheriger Humanismen. Ein gutes Beispiel stellt die bislang wenig beachtete Dystopie Las islas extraordinarias von Torrente Ballester dar, die nicht nur als Kritik der platonischen Utopie und als Umkehrung der Morus’schen Utopie gelesen werden kann, sondern ebenso als Warnung vor den Gefahren, die die Mythifizierung der instrumentellen Vernunft mit sich bringt.37 Darüber hinaus wird die Dystopie zum ästhetischen Ausdruck des utopischen Geistes und steht im Gegensatz zum Utopismus, den Popper als Setzung eines Zwecks definiert, der Vorbedingung für jegliche rationale Handlung sei. Aus dieser Perspektive erfordert eine rationale politische Handlung einen mehr oder weniger genauen Vorentwurf von einem idealen Zustand sowie einen Plan des Weges, der zum gesetzten Ziel führt. Es handelt sich folglich um einen attraktiven, aber trügerischen Gedanken, der die Schöpfer der Utopie zu Allwissenden und Allmächtigen macht. Aus diesem Grund führt der Utopismus für Popper unweigerlich zu Gewalt und Tyrannei und ist das Ergebnis eines falschen Vernunftideals instrumenteller Natur. Unter seiner Führung sah sich die Politik in derselben Situation wie die Naturwissenschaften: Die tiefgreifendsten Erkenntnisse der Physik ermöglichen es dem Wissenschaftler trotzdem nicht, darüber zu urteilen, ob die Konstruktion eines Pfluges, eines Flugzeugs oder einer Atombombe moralisch besser wäre. Die Ziele sind ihm im Vorhinein vorgegeben und seine einzige Aufgabe ist es, die nötigen Werkzeuge bereitzustellen, um diese Ziele zu erreichen.38 36 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. In: Ders.: Werke. Band IV. Berlin: Dietz 1961, S. 491. 37 Gonzalo Torrente Ballester: Las islas extraordinarias, S. 143. 38 Karl Popper: Utopia and Violence, S. 358–359.
270
Schluss
Popper schlägt ein Vernunftideal fern von jedem instrumentellen oder dogmatischen Charakter vor. In diesem Fall sei die Festlegung der Ziele als Vorbedingung für die rationale Handlung nicht notwendig und der Kampf für die Umsetzung abstrakter Ideale könne in der Zukunft durch die Arbeit an der Abschaffung konkreter und gegenwärtiger Übel ersetzt werden. Für Popper hat das Konzept der instrumentellen Vernunft seinen Ursprung bei Platon, bei dem die Tugenden des Weisen, seine Herrschaft über die anderen Menschen der idealen Republik legitimieren. Poppers Rationalismus sucht im Gegensatz dazu den Dialog, um vom Anderen zu lernen, und nimmt alle Menschen als gleich an, da ihnen allen die Gabe der Vernunft zukommt. Allein auf diese Weise kann die Vernunft für Popper das Gegenstück zu Macht- und Gewaltinstrumenten bilden und sich ihnen entgegenstellen.39 Gemäß der Interpretation Gadamers aber sollen die platonischen Schriften weniger als Utopien, sondern vielmehr als Einladungen zu utopischem Denken gelesen werden. Der Hauptzweck der Utopie ist es, Machtmissbrauch zu vermeiden, Gerechtigkeit und Kardinaltugenden freizulegen und die unvermeidbaren Verfallserscheinungen zu entlarven.40 Die Utopie kann aus dieser Perspektive als eine Projektion des Prinzips Hoffnung verstanden werden, das Bloch als anthropologische Konstante definiert.41 Davon ausgehend zeigt Miguel Abensour, wie die zeitgenössische Utopie an Modellcharakter verliert und eher zum utopischen Denken einlädt.42 Die vorliegende Arbeit hat die Dystopie als literarischen Ausdruck dieses neuen utopischen Geistes gezeigt, der im dritten Humanismus von dialektischer Natur ist. So bezieht sie die Utopiekritik mit ein, die die Utopie vom zerstörerischen Mythos trennt.43 Utopien dagegen erscheinen entweder als vom Himmel gefallene Träume, die niemals auf der Erde existieren könnten, oder als Mittel, um fürchterliche Übeltaten zu rechtfertigen.44 Die Dystopie ermöglicht es, die Utopie einem kontinuierlichen dialektischen Prozess zu unterziehen. Der Wunsch einer gesellschaftlichen Alternative, der sie auszeichnet, wird somit im Gegensatz zum Mythos situiert, der totalitäre Systeme nährt. Die dialektische Vernunft ist das apriori eines neuen Diskurses, in dem die Utopie, anders als Levitas behauptet,45 39 Ebda., S. 363. 40 Hans Georg Gadamer: Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen, S. 107–137. 41 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, I, S. 86–87. 42 Miguel Abensour: L’homme est un animal utopique, S. 204: «une utopie qui n’ait plus valeur de modèle mais d’incitation à la démarche utopique elle-même». 43 Ebda., S. 195–197. 44 Immanuel Wallerstein: Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts. Wien: Promedia 2008, S. 7. 45 Ruth Levitas: The concept of utopia. New York u.a.: Philip Allan 1990, S. 198: «the fear that utopia is dead is unfounded».
Humanismus und Tragödie
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keinen Platz findet.46 Die Formulierung jedes neuen Gemeinschaftsideals bezieht notwendigerweise ihren Gegensatz mit ein.
Humanismus und Tragödie Die Utopie stellt nicht nur eine Antwort auf die Frage nach der Glückseligkeit des Menschen dar, sondern ebenso eine Reaktion auf die Angst angesichts einer bedrohlichen Zukunft.47 Vor diesem Hintergrund kann die Utopie als Mythos verstanden werden, als symbolische Form, die die fehlende Kontrolle über die Zukunft zu überwinden versucht.48 Es wurde bereits dargelegt, wie der dritte Humanismus im Gegensatz zum ersten und zweiten aufgrund eines neuen Vernunftparadigmas die Utopie dialektisch begreift. Ebenso wie die Dystopie die Verschmelzung eines Ideals und seines Gegensatzes repräsentiert, verbindet die Tragödie den Mythos und seine Entmythifizierung, wie die Werke Giraudoux’ sowie Torrentes aus einer intrahistorischen Perspektive paradigmatisch zeigen.49 Diese strukturelle Parallele verwandelt auch Bueros Tragödie in einen exemplarischen Ausdruck des neuen utopischen Geistes: «El hombre es un animal esperanzado y si escribe tragedias donde alienta la angustia de la esperanza defraudada, a la esperanza misma sirve.»50 Auf diese Weise sucht die Tragödie, wie auch die Dystopie, den menschlichen Optimismus ohne Illusionen, Verblendung oder Täuschung darzustellen.51
46 Das Gegenteil der Dystopie ist nicht mehr die Utopie, sondern die Prosa des utopischen Augenblicks, die den utopischen Inhalt nicht mehr umkehrt, sondern auflöst. Die utopische Phantasie verlagert sich in die Innenseite des Subjekts, sodass das kollektive Glück nur noch in individuellen Momenten zu retten ist (Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit: Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 185–186). 47 Jean-Marie Goulemot: L’utopie du temps immobile au temps déployé. In : Ders.: Le Règne de l’Histoire. Discours historiques et révolutions, XVIIe et XVIIIe siècle. Paris: Albin Michel 1996, S. 263–294, hier S. 277. 48 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 9. 49 Entsprechend eines neuen Zeitbegriffs stellen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Teile einer einzigen Einheit dar, wobei die Vergangenheit nur in Verbindung mit der Gegenwart Bedeutung erlangt. Diese Idee nimmt in Unamunos Konzept der intrahistoria Gestalt an, die zu einer Analyse- und Darstellungsmethode der Vergangenheit in der Nachkriegsliteratur wird, wie am Beispiel Giraudoux’, Torrente Ballesters und Buero Vallejos gezeigt wurde. 50 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 648–649. 51 Antonio Buero Vallejo: Sobre la tragedia, S. 703–704.
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Schluss
Der negative oder dialektische Weg ermöglicht es, Hoffnung und Optimismus zu bewahren, ohne die Realität zu beschönigen und zu verharmlosen.52 Bueros Tragödie ist beispielhaft humanistisch. Auf der Bühne erforscht er, was der Mensch ist, was er nicht zu sein braucht und was er werden kann, wobei er ein vollständiges Bild des Menschen zu entwerfen versucht:53 «la [medida] de su miseria pero también la de su grandeza».54 Das Menschliche unterscheidet die Tragödie von einem einfachen sozialkritischen Werk: «Si ante una obra de tema social de nuestros días el espectador sólo experimenta deseos de actuación inmediata y no se plantea –o siente– con renovada viveza el problema del hombre y de su destino, no es una tragedia lo que está viendo.»55 Darüber hinaus liegt der eminent humanistische Charakter von Bueros Tragödie in ihrer Orientierung an der Hoffnung auf die volle Verwirklichung des Menschen; sie zielt auf einen Fortschritt, der in nicht instrumenteller, sondern dialektischer Vernunft begründet wird; sie basiert auf Ortegas Ratiovitalismus, der für eine Vernunft eintritt, die die Hoffnung miteinbezieht. Bueros humanistische Tragödie steht weitgehend im Gegensatz zur Tragödie des französischen Humanismus der Nachkriegszeit. Sie stellt eine offene Tragödie als Hegel’sche Korrektur56 der geschlossenen Tragödie des Existenzialismus dar, indem sie die unversöhnliche These (das apollinische) und Antithese (das dionysische) miteinander vereint, ohne sie auflösen zu können. Gegenüber der wiederholt aufgezeigten Verbindung von Sartres und Camus’ Theaterstücken zur Philosophie der Hoffnungslosigkeit, wurde in der Forschungsliteratur57 bis heute keine Verbindung zwischen Bueros Tragödie der Hoffnung und dem
52 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 646–647: «sin negar ninguna negrura, en vez de propagar la peligrosa tontería de que el mundo es un valle de delicias». 53 August Buck: Die Rangstellung des Menschen in der Renaissance: dignitas et miseria hominis, S. 61–75. 54 Antonio Buero Vallejo: Sobre mi teatro, S. 427–428. 55 Antonio Buero Vallejo: La tragedia. El concepto de lo trágico, S. 637, 650. 56 Ebda., S. 637, 650. 57 Félix G. Ilárraz: Antonio Buero Vallejo: ¿pesimismo o esperanza?, S. 5–16; Martha Halsey: Buero Vallejo and the Significance of Hope, S. 57–66, Elizabeth S. Rogers: The Humanization of Archetypes in Buero Vallejo’s La tejedora de sueños, S. 346; Ida Molina: The dialectical structure of Buero Vallejo’s multi faceted definition of tragedy, S. 113–132; Wilfried Floeck: Zwischen Tradition und Avantgarde. Das dramatische Werk von Antonio Buero Vallejo, S. 159–163; Katrin C. Bernhard: Zensurbedingte Strategie oder ästhetisches Konzept? Das dramatische Werk von Antonio Buero Vallejo im franquistischen und demokratischen Spanien, S. 91; Martha T. Halsey: The dreamer in the tragic theater of Buero Vallejo, S. 47; Simone Trecca: Silencios, Ecos, Voces. El proceso de dramatización en las reescrituras para el teatro de Antonio Buero Vallejo, S. 220.
Humanismus und Tragödie
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philosophischen Diskurs der Hoffnung hergestellt. Durch diese Verbindung lässt sich jedoch feststellen, dass aufgrund der unterschiedlichen Rezeption Heideggers in Spanien und Frankreich (jeweils über Ortega y Gasset und Sartre) zwei Erscheinungsformen des Humanismus entstehen, die wiederum zu zwei unterschiedlichen Modellen der Tragödie führen. Sowohl Heidegger als auch Sartre sehen die menschliche Existenz an der eigenen Sterblichkeit ausgerichtet. Nicht die Hoffnung auf ein wirkliches Sein ist primär, sondern die Angst vor der Möglichkeit, nicht mehr zu sein. Das Nichts ist der metaphysische Horizont der Existenz, die ein Sein zum Tode ist.58 Andernfalls strebe der Mensch nach der Unsterblichkeit und träte aus dem Bereich des Möglichen heraus. Vor diesem Hintergrund kritisiert Camus die Hoffnung derer, die nicht für das Leben selbst leben, sondern für eine große, sinnstiftende Idee, die das Leben überschreitet und letztendlich verrät.59 Das Wesen des Menschen muss nach Camus auf der Grundlage der Bewusstwerdung des Absurden und der Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz selbst entworfen werden. Moral oder im Vorhinein festgelegte universale Tugenden existieren demnach nicht. Nur aus dem Bewusstsein des Absurden könne der Mensch sich in Freiheit entwickeln und Herr seines eigenen Schicksals sein.60 Er verwandelt sich so in einen Menschen ohne Hoffnung und im Bewusstsein darüber, dass das Sein nicht der Zukunft angehört. Demnach vollzieht er auch keine Handlung, die auf die Ewigkeit gerichtet ist, sondern wählt seinen Entwurf innerhalb des Möglichen und der Grenzen seines Lebens.61 Sartre und Camus fordern, in einer Gegenwart ohne Hoffnung zu handeln.62 Vor diesem Hintergrund treten Oreste und Caligula jeweils als Held und Antiheld der existenzialistischen Tragödie auf. Ortega y Gasset hingegen kritisiert Heidegger, und allgemeiner den Existenzialismus, weil dieser nicht berücksichtige, dass weder Geburt noch Tod Teil des Lebens seien. Die Geburt liege vor und der Tod nach dem Leben.63 Im Gegensatz zu Heidegger begreift Ortega, wie auch Bloch,64 die Existenz nicht auf den Tod, sondern auf die Hoffnung ausgerichtet.65 Aus diesem Prinzip Hoffnung und Ortegas Humanismus schöpft, wie die vorliegende Arbeit gezeigt hat, auch die Tragödie Buero Vallejos.
58 Pedro Laín Entralgo: La espera y la esperanza, S. 533–604. 59 Albert Camus: Le mythe de Sisyphe, S. 23. 60 Ebda., S. 83–96. 61 Ebda., S. 95. 62 Jean-Paul Sartre: L’existentialisme est un humanisme, S. 53. 63 José Ortega y Gasset: Ideas sobre el teatro y la novela, S. 130. 64 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 65 José Ortega y Gasset: El hombre y la gente, S. 281–440.
274
Schluss
Somit spiegelt sie die Kritik an der Unzulänglichkeit der Vernunft der Aufklärung. Die Tatsache, dass deren Fortschrittsideal in der Barbarei mündet,66 bedeutet hingegen nicht, dass der auf Vernunft basierende Fortschritt aufzugeben ist. Er sollte vielmehr anhand einer Vernunft vervollständigt werden, die die Hoffnung miteinbezieht. Wenn die Hoffnung fehlt, spricht Ortega von einem falschen Leben, in dem der Mensch sich entkräftet, entmenschlicht und letztendlich weniger Mensch ist.67 Die Wertschätzung oder Verachtung eines jeden Menschen sollte sich also nach seinem Streben und nicht seinen Handlungen, nach seinen Träumen und Wünschen und nicht seinen Erfolgen richten: Nuestra verdadera y profunda personalidad está constituida por los afanes, empeños, anhelos y deseos. [. . .] Valemos según lo que deseamos. La calidad de nuestras aspiraciones fija el rango de nuestra alma porque son la pura y espontánea emanación que de nuestra intimidad se levanta como los vahos de las aguas inmóviles.68
In Un soñador para un pueblo drückt Buero im Sinne von Ortega das Scheitern des Traums der aufgeklärten Vernunft aus. Dennoch sollte dieser anhand eines neuen Ideals wiederaufgenommen werden, das Vernunft und Hoffnung, Aktion und Kontemplation, Vergangenheit und Zukunft harmonisch miteinander verbindet. Auf diese Weise verleiht Bueros Tragödie Ortegas Ethik der Hoffnung einen literarischen Ausdruck.69 Die Existenz wird nicht, wie im französischen Existenzialismus, durch Angst, sondern durch Hoffnung begründet. Die einzige Möglichkeit, sich von der Angst zu befreien und frei zu sein, liegt im Träumen, wie David in El concierto de San Ovidio behauptet.70 Die Tragödie bringt dem Volk im Kontext des franquistischen Spaniens Hoffnung angesichts eines scheinbar unabwendbaren Schicksals.71 Im Gegensatz zu Popper, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Utopie mit Gewalt und diktatorischem Denken in Verbindung bringt,72 zeigt Bueros Theater in einer Linie mit Ortega73 nach dem Spanischen Bürgerkrieg das genaue
66 José Ortega y Gasset: La rebelión de las masas, S. 111; Antonio Buero Vallejo: Un soñador para un pueblo, S. 81–126; Max Horkheimer/Theodor Adorno: Dialektik der Aufklärung. 67 José Ortega y Gasset: Cambio y crisis. In: Ders.: Obras completas. Band VI (1941–1955). Madrid: Taurus 2006, S. 421–431, hier S. 426. 68 José Ortega y Gasset: Meditación de nuestro tiempo. Introducción al presente, S. 51. 69 José Ortega y Gasset: ¿Qué es la filosofía?, Lección X, S. 363. 70 Antonio Buero Vallejo: El concierto de San Ovidio, S. 182. 71 Antonio Buero Vallejo: Lo trágico, S. 589. 72 Karl Popper: Utopia and Violence, S. 357–363. 73 In La rebelión de las masas zeigt Ortega, dass in dem Zusammenhang zwischen der Erschöpfung des utopischen Denkens und der Gewalt ein Hauptgrund für die europäische Krise
Humanismus und Tragödie
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Gegenteil: Gerade die Abwesenheit und Aufgabe der Hoffnung ist der Hauptgrund für das Aufkommen und Erstarken totalitärer Regime. Bueros Konzept der Tragödie, das sich an Aischylos orientiert, das für ein Vernunftideal jenseits der instrumentellen Vernunft steht, macht Buero Vallejos Theaterstücke zu einem exemplarischen Ausdruck des dritten Humanismus. Es handelt sich um einen Humanismus, der den Kritiken des antiken Erbes nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unwissend gegenübersteht, da er durch die Verbindung von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Transzendenz und Immanenz, Vernunft und Unvernunft sowie des Dionysischen und Apollinischen dialektischer Natur ist. Die Suche nach der Wahrheit bleibt für Buero mehr eine Frage als eine Antwort: «Y por eso escribo de las pobres y grandes cosas del hombre; hombre yo también de un tiempo oscuro, sujeto a las más graves pero esperanzadas interrogantes. Frente a las cuales, en estas líneas como en la obra escénica que hasta ahora ofrecí sólo caben [. . .] las precarias respuestas que vuelven a preguntar».74
liegt; ein Gedanke, den er auch in «La idea de Platón», (José Ortega y Gasset: La Idea de Platón. In: Ders.: Obras completas. Band VII. Madrid: Taurus 2007, S. 221–231, hier S. 231) sowie in Epistolario, Carta VIII (José Ortega y Gasset: Epistolario completo Ortega – Unamuno. Madrid: El Arquero 1987, S. 58) betont. 74 Antonio Buero Vallejo: El teatro de Buero Vallejo, visto por Buero Vallejo, S. 411.
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Register Abensour, Miguel 148–149, 270, 277 Adorno, Theodor 8, 118–120, 149, 170, 172, 174, 231, 234, 235, 238, 248, 264, 277, 305 Alfonso X 36–38, 56, 277 Arendt, Hannah 123, 140–141, 277, 297 Aristoteles 4, 26–28, 32, 35–36, 46, 52, 56–58, 65, 72, 75, 77, 81–85, 100, 138, 159–160, 211, 219, 263, 277, 282, 289–290, 295, 299, 301, 303–304 Aron, Raymond 10, 11, 124–125, 128–129, 277, 298, 300–301 Augustinus 31, 32, 34, 81, 277, 296 Bacon, Francis 9, 14, 69–70, 88, 92–93, 97, 110, 120, 139, 142, 267–268, 277 Balzac, Guez de 85, 277 Barthes, Roland 5, 161, 177–178, 277 Bellay, Joachim du 66, 277 Benjamin, Walter 149, 168, 254, 277 Bloch, Ernst 202–206, 216, 220, 254, 270, 273, 277 Blumenberg, Hans 8–9, 159, 271, 277–278 Bodin, Jean 42–43, 51, 278, 299–300 Borges, Jorge Luis 150, 278 Boscán, Juan 41, 278 Botero, Giovanni 51, 278 Bourdieu, Pierre 11, 267, 278 Bruni, Leonardo 60, 68, 82, 278, 287 Budé, Guillaume 40, 41, 46, 61, 68, 74, 81, 85, 170, 278, 293, 296, 298, 300, 303–304 Buero Vallejo, Antonio 161, 210, 208–214, 216–242, 244, 246–259, 249, 254–258, 261, 271–272, 274–275, 278–280, 288, 296, 301, 307 Campanella, Tommaso 14, 90–91, 94, 280 Camus, Albert 3, 15, 190, 191–199, 207, 224, 264, 267, 280, 283, 290, 292–294, 297, 300–304, 307–308 Carnap, Rudolf 134, 280 Cassirer, Ernst 8, 45, 129, 160–161, 280
https://doi.org/10.1515/9783110610376-011
Cicero 4, 20, 28–29, 57–61, 64–66, 72, 77–78, 81–83, 180, 280, 288, 303 D’Alembert 97, 99–103, 105, 115, 118, 153, 264, 277 Dante 37–39, 50, 72, 177, 249, 269, 280, 299, 303, 305 Descartes, René 9, 74, 93, 97, 100, 104, 110, 117, 182, 188, 233, 280, 294, 305 Diderot 97, 99–103, 105–106, 109, 111, 115, 118, 153, 185, 264, 277, 280, 295, 302, 305–306 Die Bibel 31, 62, 277 Dilthey, Wilhelm 12, 133, 280, 283 Diogenes, Laertius 3, 29–30, 280 Engels, Friedrich 269, 282 Enríquez, Enrique Jorge 69, 280 Erasmus von Rotterdam 24, 41–42, 47, 49–51, 72, 74, 85, 90, 180, 280, 289, 296, 298, 300 Faret, Nicolas 67–68, 280 Fontenelle 71, 73, 97–99, 102, 107, 280, 288–290, 294, 296, 299 Foucault, Michel 6, 128, 229, 264–267, 281 Fromm, Erich 10, 13, 124, 136–137, 252, 281 Gadamer, Hans Georg 85, 87, 133, 136–137, 148–149, 270, 281 Gellius, Aulus 2, 19–20, 281 Giraudoux, Jean 15, 159, 161, 163–168, 171–173, 177–178, 220, 221, 224, 271, 281–282, 286, 288, 290–291, 294, 296, 298–300, 302–303, 306–308 Gracián, Baltasar 39, 48–49, 51, 188, 228, 281, 289, 291, 305 Guttin, Jaques 112, 281 Habermas, Jürgen 139, 266, 281 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 140, 148, 186, 191, 199, 225–226, 236–237, 264, 266, 272, 281, 297, 301
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Register
Heidegger, Martin 1, 3, 127, 143–144, 181–184, 188–189, 201–202, 205, 215–216, 223, 243, 254, 265, 273, 281, 291–292, 302 Hobbes, Thomas 109, 148, 259 Horkheimer, Max 8, 114, 118–120, 147, 149, 152, 154, 161, 170, 172, 174, 231, 234–235, 238, 248, 264, 274, 277, 281 Huarte de San Juan, Juan 73, 281 Husserl, Edmund 134, 184, 195, 251, 281, 301 Huxley, Aldous 141–146, 205, 281, 295, 302 Jaeger, Werner 2–3, 19–20, 75, 125–127, 129, 132, 281–282, 291, 296, 298–300, 304 Jaspers, Karl 138–140, 282, 297 Jung, Carl Gustav 160, 251, 282 Kant, Immanuel 97, 101, 114, 182, 185, 224, 235, 263, 282, 305 Kapp, Ernst 99, 135, 282, 296, 306 Kepler, Johannes 65, 282, 300 Kittler, Friedrich 135, 282 Laín Entralgo, Pedro 204–206, 215, 231, 267, 273, 282, 288, 290, 294, 305 Machiavelli, Niccolò 11, 45–53, 89–90, 125, 127–129, 152–153, 155, 174, 176, 237–238, 259, 267, 282, 287, 289, 292, 303–308 Maeztu, Ramiro de 124, 282 Marcel, Gabriel 108, 164, 280, 282, 284 Mariana, Juan de 66, 282 Maritain, Jaques 179–180, 266, 282, 289 Mark, Aurel 29, 282 Marx, Karl 1, 3, 140, 144, 160, 186, 191, 199, 203, 264, 269, 282, 297 Maurras, Charles 128, 166, 282 Mercier, Louis-Sébastien 110–118, 282, 287–289, 292–293, 295, 302–303 Michel de Montaigne 41–42, 47, 62–63, 72, 74, 82, 282, 291 Michelet, Jules 254, 282 Montesquieu 98, 100–101, 104–105, 153, 264, 283, 289, 298, 305
More, Thomas 86–88, 90–92, 94, 150, 283, 288, 295–296, 300, 302, 308 Nebrija, Antonio de 66, 283 Nietzsche, Friedrich 3, 119, 140, 148, 184, 195, 198, 207, 212–214, 256, 283, 301 Ortega y Gasset, José 12, 120, 124, 134, 141, 154, 181, 201–206, 214–216, 219, 222, 224, 229, 231, 234, 236, 243, 246, 248, 251–252, 257–258, 260–261, 265, 267, 273–275, 283, 289, 292 Pascal, Blaise 74, 93, 100, 135, 144, 165, 283–284, 288–289, 297, 303, 306 Pérez de Ayala, Ramón 62, 284 Perrault, Charles 98–99, 284 Petrarca, Francesco 8, 38, 48, 50, 57, 60–61, 63–64, 82, 284, 287–288, 293, 295–296, 298, 300–301, 303–304, 306 Platon 11, 13, 14, 22–28, 31–32, 43–44, 46–47, 52–55, 58, 60–61, 69–70, 72–78, 81, 83–89, 91, 94, 100, 104, 109–110, 117, 120–121, 125, 127, 130–132, 138, 147–148, 150–151, 154, 164, 207, 236, 263, 270, 275, 283–284, 286, 288–289, 291, 295–298, 303, 305, 308 Plutarch 59, 117, 284 Popper, Karl 8, 85, 87, 127, 129–132, 145, 147–148, 151–152, 155, 223, 254, 269–270, 274, 284 Quevedo, Francisco de 66, 228, 284 Rousseau, Jean-Jaques 9, 99–101, 104, 107–110, 116–117, 153, 284, 288, 290–291, 294–295, 299, 305, 307–308 Russell, Bertrand 142–146, 284, 302 Sabuco, Oliva 70, 73, 284 Salutati, Coluccio 57–60, 65, 82, 284, 308 Sartre, Jean-Paul 1, 3, 15, 164, 180, 184–189, 191–193, 196, 198–199, 206–208, 214, 216, 224, 243, 264–268, 273, 282, 284, 287–288, 292, 294, 298–300, 302, 305, 308
Register
Seneca 29, 31, 73, 77, 79–81, 117, 284 Simondon, Gilbert 135–136, 285 Sloterdijk, Peter 207, 267, 283, 285 Sophokles 117, 169–170, 192–193, 211, 225, 285 Spranger, Eduard 125, 285 Steiner, George 62, 98, 102, 107, 127, 152, 207–208, 285, 288, 293, 298, 305–306 Suárez de Figueroa, Cristóbal 41, 71, 73, 285 Thomas von Aquin 32–38, 55–56, 82, 285 Tillich, Paul 204, 217, 254, 285 Torrente Ballester, Gonzalo 15, 150–154, 159–161, 171–177, 206, 210, 220, 224, 231, 248, 255, 269, 271, 285, 303, 306
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Unamuno, Miguel de 160, 163, 179, 232, 244, 247–248, 265–266, 275, 280, 283, 285, 290, 301 Valéry, Paul 12–13, 205, 285 Vives, Juan Luis 42, 50, 61–62, 64, 66, 69–70, 73, 82, 84, 248, 285, 287, 290, 294, 300, 306 Weber, Max 44, 119, 123–124, 174, 224, 285 Welte, Bernhard 180, 285 Windelband, Wilhelm 133, 286