Rückenschmerzen therapieren: Von der multimodalen Idee zur interdisziplinären Lösung 9783110546200, 9783110545036

This volume presents a holistic approach to diagnosing and treating people with back pain. It addresses initial assessme

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German Pages 299 [302] Year 2018

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Table of contents :
Herausgeber
Zum Geleit
Vorwort der Herausgeber
Inhalt
Autorenverzeichnis
1. Grundlagen
2. Interdisziplinäres Assessment
3. Interdisziplinäre Therapie
4. Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug
Abkürzungsverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Rückenschmerzen therapieren: Von der multimodalen Idee zur interdisziplinären Lösung
 9783110546200, 9783110545036

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Michael Hamel, Marion Heinrich, Kay Niemier, Ulf Marnitz (Hrsg.) Rückenschmerzen therapieren

Rückenschmerzen therapieren | Von der multimodalen Idee zur interdisziplinären Lösung Herausgegeben von Michael Hamel, Marion Heinrich, Kay Niemier, Ulf Marnitz

Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen mit den Autoren große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe der Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

ISBN 978-3-11-054503-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054620-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054505-0 Library of Congress Control Number: 2018936206 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Rückenzentrum am Markgrafenpark Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Herausgeber Michael Hamel Sportwissenschaftler M.A., Sporttherapeut, Fachliche Leitung Sporttherapie Rückenzentrum Am Markgrafenpark Markgrafenstraße 19 10969 Berlin

Dr. med. Kay Niemier Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Facharzt für Allgemeinmedizin Rückenzentrum Am Michel Ludwig-Erhard-Straße 18

Dr. rer. nat. Marion Heinrich Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), Spezielle Schmerzpsychotherapie (SSPT) Rückenzentrum Am Markgrafenpark Markgrafenstraße 19 10969 Berlin

Dr. med. Ulf Marnitz Vorstand der Hanseatic Rückenzentrum Holding AG Chefarzt Rückenzentren Berlin-Mitte, Berlin-Köpenick, Berlin Marienfelde Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Rückenzentrum Am Markgrafenpark Markgrafenstraße 19 10969 Berlin

Zum Geleit Die ersten Erfahrungen als Therapeut von Patienten mit chronischen Schmerzen machte ich in meiner Ausbildung zum Physiotherapeuten. Ich wurde instruiert, dass ein Patient, der im Rahmen der Behandlung Schmerzen äußert, sofort in die Stufenbettlagerung überführt werden soll. Auch wenn das Beispiel sehr plakativ gewählt ist, so war doch die Physiotherapie in den 80er und 90er Jahren in Deutschland von sehr passiven Therapiekonzepten geprägt. Nachhaltige Behandlungsergebnisse ließen sich damit nicht erzielen. Schmerzedukation (Explain Pain) oder gar Alltagstraining (Work Hardening) waren Mitte der 80er Jahre noch nicht ausreichend bekannt. Auch während des Medizinstudiums und in der Zeit als Weiterbildungsassistent in einem Hamburger Krankenhaus stand ein sehr mechanisch geprägtes Erklärungsmodell für Rückenschmerzen im Vordergrund. Wir versuchten den Schmerz mit Infiltrationen zu lokalisieren und zu behandeln und entfernten operativ, was auf Nerven und Hüllgewebe drückte. Aber die Wirbelsäulenambulanz der Klinik wurde weiterhin in großem Umfang von Patienten mit fortbestehenden Schmerzen trotz einer oder mehrerer operativer Therapien aufgesucht. Nach einem Wechsel in eine Praxis musste ich erkennen, dass dieses Problem auch mit der ambulanten konservativen Therapie unter den Budgetbeschränkungen und der begrenzten Kontaktzeit nicht zu lösen war. Eine orthopädische Versorgung eines gesetzlich versicherten Patienten mit einer chronischen Rückenschmerzerkrankung wird derzeit mit ca. 30 Euro pro Quartal vergütet. Damit ist das häufig mehrdimensionale Problem dieser Patientengruppe nicht effektiv behandelbar. Es bestand und besteht nach wie vor ein Versorgungsdefizit für Patienten mit einem chronischen Rückenschmerz in unserem Gesundheitssystem. Die Defizite des Systems zeigen sich in mehreren Komponenten: – Der Patient kann nicht erkennen, welchen Therapeuten er aufsuchen soll. Viele Therapeutengruppen mit unterschiedlichster Ausbildung und Behandlungsphilosophie behandeln Patienten mit einer chronischen Schmerzerkrankung. Die Effektivität vieler Therapieformen wurde bisher wissenschaftlich nicht belegt. Somit fehlt eine Orientierung für die Patienten und auch die Kostenträger. Konsultiert werden von den Patienten die Hausärzte, verschiedene Fachärzte, Therapeuten aus den medizinischen Hilfsberufen, Sportlehrer und Fitnesstrainer sowie manchmal Heiler. – Die universitäre Ausbildung der Mediziner ist breit, die Facharztausbildung in den Kliniken monodisziplinär ausgerichtet und sehr spezialisiert, in den orthopädischen Kliniken weit überwiegend operativ. Es gibt kaum noch operative Kliniken mit einem konservativen stationären Behandlungsangebot. Die nötige Weiterbildungsstelle für eine umfassende Ausbildung in Diagnostik und Therapie des chronischen Rückenschmerzpatienten ist nicht vorhanden.

https://doi.org/10.1515/9783110546200-001

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Es besteht eine strikte Trennung der medizinischen Fachdisziplinen, aber auch übriger therapeutischer Angebote im Gesundheitssystem, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. Der ambulant tätige ärztliche Kollege stellt ein Rezept für die Physiotherapie aus, stimmt aber die Therapie nicht mit dem Therapeuten ab, oder er stellt den Patienten in einer Klinik vor, dem Klinikarzt fehlen jedoch hilfreiche Hintergrundinformationen. Eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit gibt es nicht und kann damit nicht gelehrt und von den Kollegen nicht erlernt werden. Die Kostenträgerschaft für die Behandlung wechselt zwischen der Kranken- und der Rentenversicherung. Allein durch die Schwierigkeit der Entscheidungsfindung, in wessen Zuständigkeit die Behandlung und damit deren Kosten fallen, geht viel wertvolle Therapiezeit verloren und die Dekonditionierung schreitet fort.

Zurück in der Klinik reifte gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Gerd Müller die Idee, einen anderen Weg einzuschlagen. Damals waren wir beeindruckt von den Ergebnissen der norwegischen Arbeitsgruppe um Halderson, die zeigen konnten, dass eine vorangestellte interdisziplinäre Diagnostik essentiell für eine effektive und ressourcenschonende Behandlung ist. Sie ermöglicht eine Einschätzung über die notwendige Intensität und den Umfang der Behandlung. Das diagnostische Screening beinhaltete psychologische und physiologische Befunde (anhand der Befunde wurde eine Prognose erstellt (gut – mittel – schlecht). Die Patienten mit einer guten Prognose profitierten von der üblichen Therapie, einem kleinen interdisziplinären Behandlungsprogramm, und auch von dem großen interdisziplinären Programm, ähnlich dem GRIP-Programm in Göttingen. Die Patienten mit einer mittleren Prognose profitierten noch vom kleinen und großen interdisziplinären Programm und die Patienten mit einer schlechten Prognose nur noch vom großen interdisziplinären Programm. Dies war ein wesentlicher Punkt, der uns Mut machte, diesen neuen Weg zu beschreiten. Wenn die positiven Effekte einer neuen Vorgehensweise wissenschaftlich bewiesen sind, so kann sich das Gesundheitssystem nicht verweigern, waren wir uns sicher. Ein weiterer Punkt, der uns zuversichtlich machte, betraf die Arbeit von Dr. Gerd Müller in der Europäischen Leitlinienkommission. Er bildete vor knapp 20 Jahren zusammen mit Prof. Jan Hildebrandt die deutsche Delegation der europäischen Leitlinienkommission (EC COST Action B13) für die Behandlung von Kreuzschmerzpatienten. Als Vice-Chairman des Management Committee arbeitete er zusammen mit Francesco Kovacs und Mauritis van Tulder, die Sektion Prävention gestaltete er zusammen mit Kim Burton. Diese Arbeit führte in der Folge zur Entwicklung der Nationalen Versorgungleitlinie Kreuzschmerz. Damit wussten wir zwar schon früh, wie nach Sichtung der kompletten Literatur durch die EU-Kommission eine erfolgreiche Behandlung für chronische Kreuz-

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schmerzpatienten therapeutisch auszusehen hat, aber wir hatten keine Möglichkeit der Umsetzung im bestehenden Gesundheitssystem. Es fehlten die Organisationsstruktur, das Personal und der Kostenträger für die Komplexprogramme. Die erforderliche Organisationsstruktur konnte weder im ambulanten System mit einer Einzelpraxis umgesetzt werden noch in einer operativ ausgerichteten Abteilung, wie der orthopädischen Abteilung eines Krankenhauses. Also mussten wir uns von den bestehenden Strukturen lösen. Wir suchten nach Mietflächen, die den Aufbau einer ambulanten interdisziplinär arbeitenden therapeutischen Einheit ermöglichten, ein stationäres Setting kam nicht in Betracht, denn die Patienten sollten unbedingt im häuslichen Umfeld eingebunden bleiben. Damit ergab sich die Möglichkeit, die organisatorischen Abläufe und räumlichen Anforderungen selbst zu definieren. Die Behandlung von Patienten mit einer chronischen Schmerzerkrankung erfordert ein sehr breites Facharztwissen aus mehreren Disziplinen, möglichst sektorenübergreifend und inklusive operativer Erfahrungen, Kenntnisse aus der verhaltenstherapeutischen Psychotherapie und der Physio- und Sporttherapie. Kein Therapeut allein kann die erforderliche umfangreiche Diagnostik abdecken oder alle therapeutischen Inhalte beherrschen. Ein Team aus Psychologen, Physiotherapeuten, Sporttherapeuten und Verwaltungsmitarbeitern musste nicht nur sorgfältig zusammengestellt, sondern auch ausgebildet werden, denn zu Beginn hatten die beteiligten Berufsgruppen unterschiedliche Vorstellungen von der Behandlung der chronischen Schmerzpatienten. Darüber hinaus waren sie nicht an die Arbeit in einem nicht hierarchisch strukturierten Team gewöhnt. Also galt es, das erste Team zu schulen und die therapeutischen Inhalte der 4-wöchigen Komplexprogramme gemeinsam festzulegen. Diese Entwicklungszeit war geprägt von vielen Diskussionen, führte aber letztlich zu einer hohen Identifikation mit dieser Behandlungsform und einer „gemeinsamen Sprache“. Wertschätzung und Akzeptanz einer anderen Einschätzung bezogen auf das Problem des Patienten oder auch eine differierende Empfehlung zum therapeutischen Vorgehen sind neben einer guten Diskussionskultur und Kompromissfähigkeit Grundpfeiler des Erfolges der therapeutischen Teams. Nun mussten wir uns mit dem Kostenträger auseinandersetzen, denn für unsere Behandlung gab es im bestehenden System keine adäquate Vergütung. Also blieb nur der Weg über Verträge zur Integrierten Versorgung. Zu dieser Zeit hatten wir Kontakt zur Betriebskrankenkasse (BKK) der Stadt Hamburg und damit ein offenes Ohr für eine Veränderung der Versorgungsstruktur dieser Patientengruppe. Die BKK hatte in ihrem Mitgliederbestand eine große Gruppe mit einer Kreuzschmerzdiagnose sehr lang arbeitsunfähig (AU) geschriebener Patienten. Sie war mit der Versorgung dieser Patientengruppe nicht zufrieden und suchte nach einer Alternative. Über einen ersten Vertrag zur Integrierten Versorgung war es nun möglich, eine Finanzierung für den Aufbau einer neuen Versorgungsstruktur zu erhalten. Die Krankenversicherung erhoffte sich eine Refinanzierung über die Einsparungen der Krankengeldzahlungen ihrer Kreuzschmerzpatienten. Die durchschnittliche AU-Zeit unter einer Kreuz-

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schmerzdiagnose betrug damals zehn Monate. Wir trauten uns zu, diese Zeit deutlich zu verkürzen, sofern die BKK Hamburg die betroffenen Patienten zeitnah unserer Untersuchung zuführen würde. Damit ergab sich eine Win-win-Situation und wir konnten starten. Seit nunmehr 17 Jahren arbeite ich in diesem Therapeutenteam, das die erforderliche Interdisziplinarität täglich lebt. Eine ausführliche Besprechung aller Patienten einer neuen Gruppe vor Behandlungsbeginn sorgt für den gleichen Informationsstand bei allen Therapeuten. Darüber hinaus informieren wir uns ständig über den aktuellen Stand der Behandlung und das Verhalten der Patienten in den Gruppen. Dabei entwickelt sich auch das Therapeutenteam fortwährend weiter. Aus meiner Sicht bildet dieses Behandlungsmodell den idealen Boden für eine große Berufszufriedenheit, setzt jedoch ein hohes Maß an Teamfähigkeit voraus. Wir entfernen uns von der hierarchischen Struktur in den Ausbildungssystemen und schaffen gemeinsam eine alltagstaugliche, effektive Teamarbeit mit kontinuierlicher Weiterentwicklung. Bei dieser Form der Behandlung gibt es nur Gewinner! Der Patient profitiert von einer leitlinienkonformen multimodalen Behandlung seiner Schmerzerkrankung und ist im Anschluss deutlich weniger beeinträchtigt. Die Krankenversicherung als Kostenträger lernt die Patienten zu identifizieren und der therapeutischen Einheit zuzuführen und kann durch die berufliche Wiedereingliederung der Patienten Kosten (Krankengeldzahlungen) einsparen. Die Therapeuten können strukturiert und mit hoher Berufszufriedenheit ihre tägliche Arbeit verrichten, entwickeln sich therapeutisch kontinuierlich fort und laufen nicht in eine Überforderung. Das Unternehmen entwickelt sich stetig und kann andere Zentren nach diesem System aufbauen und das Know-how weitergeben. Dieses Buch soll den aktuellen Stand des Wissens zur interdisziplinären Behandlung vermitteln und sehr praxisnahe Anregungen für eine Veränderung der Versorgung der Patienten mit einer chronischen Rückenschmerzerkrankung liefern. Unsere Erfahrungen aus den zurückliegenden 17 Jahren sind in diesem Buch dargelegt und mögen beispielhaft für weitere Einrichtungen sein. Ich wünsche diesem Buch eine große Akzeptanz unter den Kollegen aller beteiligten Therapeutengruppen, den Kostenträgern und der Gesundheitspolitik. Dr. med. Joachim Mallwitz Hamburg, im Dezember 2017

Vorwort der Herausgeber Das vorliegende Buch konzentriert sich auf die praktische Gestaltung der multimodalen interdisziplinären Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen. Obwohl wir primär chronische Rückenschmerzen behandeln, wollen wir mit diesem Buch ebenfalls Impulse für die Rückenschmerzbehandlung insgesamt geben. Auch wenn zunächst der „Rücken im Zentrum“ steht, greift die hier beschriebene kurative Behandlungsform in alle Kategorien des Lebens. Rückenschmerzen gehören in den westlichen Industrienationen zu den häufigsten und kostenträchtigsten Gesundheitsproblemen. Unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildungsschicht stellen sie eine hohe Belastung für den Betroffenen und das gesellschaftliche System dar. Insbesondere in der chronifizierten Ausprägung verursachen Rückenschmerzen eine hohe Kostenlast. Eine erfolgreiche und nachhaltige Therapie ist von unbestrittener Bedeutung für den Patienten, das Gesundheits- und schließlich auch das gesellschaftspolitische System. Dennoch stellen Rückenschmerzen trotz vorhandener fachlicher Potenziale und öffentlichen Interesses unverändert ein klassisches Beispiel für Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitssystem dar. Die bisherigen Erkenntnisse zur Diagnostik und Behandlung von Rückenschmerzen haben in den letzten Jahrzehnten einen fortgeschrittenen Differenzierungsgrad erreicht. Der damit einhergehende Paradigmenwechsel in der Sichtweise von Rückenschmerzen ist längst in den nationalen und europäischen Versorgungsleitlinien integriert. Insbesondere chronische Rückschmerzen werden als ein vielschichtiges Problem gesehen. Die Lösung erfordert ein mehrdimensionales Herangehen und die Einbeziehung aller Perspektiven, also eine biopsychosoziale Sichtweise. Personell wird dies durch das Zusammenarbeiten verschiedener Fachdisziplinen gewährleistet. Dieser konzeptionelle Ansatz findet sich in der Multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie (MMST) wieder. Sie gilt aktuell als die wirksamste Behandlungsform von chronischen Rückenschmerzen. Die nachhaltige Wirksamkeit ist mehrfach belegt. Die Publikationen zu Rückenschmerzen und ihrer Therapie weisen eine unüberschaubare Anzahl auf. Dies gilt sowohl für die Fachwelt als auch für Betroffene. Mit den Arbeiten u. a. von G. Waddell, J. Hildebrandt, M. Pfingsten, H.-R. Casser, D. Butler und L. Moseley verfügt der Nutzerkreis bereits über umfangreiche und hochgradig differenzierte Leitlinien, Nachschlagewerke und Handbücher. Die vorliegende Veröffentlichung kann und möchte seine Vorgänger nicht ersetzen, sondern ergänzt die konzeptionellen Gestaltungsmöglichkeiten der multimodalen interdisziplinären Therapie. Das Buch liefert eine Darstellung der therapeutischen Praxis aus dem Rückenzentrum am Markgrafenpark (Berlin-Mitte), dem Gelenk- und Rückenzentrum (Berlin-Köpenick) und dem Rückenzentrum Am Michel (Hamburg). Die regional bedingten Unterschiede sind dabei gering und irrelevant. Denn aus der Praxis sind grundlegende Prinzipien ableitbar, die dann auch unter den verschiehttps://doi.org/10.1515/9783110546200-002

XII | Vorwort der Herausgeber

densten personellen und materiellen Bedingungen umgesetzt werden können. So werden nicht nur große Therapeutenteams Impulse finden. Ein besonderes Anliegen von uns ist die oft fehlende Konkretisierung des inflationär verwendeten Begriffes der Interdisziplinarität. Schließlich beantworten wir mit diesem Buch die oft an uns gestellte Bitte nach einem ‚Kochrezept‘ für die konkrete praktische Umsetzung einer MMST. Unsere Arbeit basiert auf der uns zugänglichen grundlagen- und anwendungsorientierten Forschung. Dabei geht es uns im Unterschied zu anderen Rückenschmerz-Behandlungsbüchern nicht um eine umfassende Darstellung, sondern um eine qualitativ hochwertig ausgerichtete Praxisorientierung. Das Kapitel 1 „Grundlagen“ klärt zunächst die notwendigsten Begriffe, liefert Fakten zu der epidemiologischen Lage von Rückenschmerzen, beschreibt die aktuelle Versorgungslandschaft und umschreibt schließlich die elementaren Kennzeichen der Multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie. Das Kapitel 2 „Assessment“ behandelt die diagnostische Herangehensweise der unterschiedlichen Berufsgruppen und das Patientenverhalten unter dem Inhalts-, aber auch dem Beziehungsaspekt. Die interdisziplinäre Zusammenschau und die gemeinsame Entscheidungsfindung bestimmen eine erste Problemdefinition und implizieren Behandlungsschwerpunkte. Das Kapitel 3 „Therapie“ ist in der Praxis untrennbar mit Kapitel 2 verbunden. Es beschreibt die gegenständliche Gestaltung der multimodalen interdisziplinären Therapie in Form einer teilstationären Versorgung. Neben der Vorstellung der einzelnen Module beschreibt es deren Vernetzungspotenzial und liefert so einen Einblick in das interdisziplinäre Arbeiten auf organisatorischer und inhaltlicher Ebene. Das Kapitel 4 „Ergebnisse“ sammelt quantitative Aussagen zu der MMST. Die Outcomes und Einflussvariablen werden auf der Basis internationaler Veröffentlichungen dargestellt. Die hausinternen Ergebnisse sind geprägt von den eigenen Evaluationsmöglichkeiten und der Ausprägung des Qualitätsmanagements. Die Kapitel sind in sich geschlossen. Das Kernthema Interdisziplinarität begleitet sämtliche Teile und macht insbesondere in der Diagnostik und Therapie die Unumgänglichkeit der Vernetzung deutlich. Der induktive Beginn der Kapitel 2 und 3 mit Fallbeispielen unterstützt eine Einordnung der jeweils folgenden Thematik und kennzeichnet Etappen in der Behandlung von Patienten aus Therapeutensicht. Darüber hinaus sind die Hauptkapitel in besonderem Maße eingerahmt. Dabei handelt es sich um die persönliche Sicht einer Patientin auf ihre eigene Krankheitsgeschichte und die Arbeitsweise des Rückenzentrums. Alle Herausgeber und Autoren¹ greifen auf eine langjährige praktische Erfahrung in der Rückenschmerztherapie zurück und können somit in der Themenauswahl pra-

1 Wenn in diesem Manual ein Ausdruck im Maskulinum verwendet wird, wo auch ein Femininum oder eine neutrale Form stehen könnte (oder umgekehrt), geschieht dies ausschließlich um der sprachlichen Ökonomie willen.

Vorwort der Herausgeber | XIII

xisrelevante Schwerpunkte setzen. Einige Autoren sind in Fachgremien als Referenten aktiv und verfügen über wissenschaftliche Erfahrung. Die Fachdisziplinen der Autoren sind so verschieden wie ihre Erkenntnismethoden. Eine vordergründig quantitative (nomothetische) Herangehensweise ist ebenso vertreten wie eine qualitative (ideographische) Methodik. Während die Kombination dieser beiden Ebenen in der Forschung stets Vorteile bringt, darf das ebenso für dieses Buch erwartet werden. Bei derartiger Ausbildungsheterogenität ist auch ein unterschiedlicher schriftlicher Stil der einzelnen Autoren zu erwarten. Wenn es darüber hinaus gelingt, einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist dies Ausdruck einer hochwertigen Zusammenarbeit. Wahrscheinlich fühlen sich Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten und Sporttherapeuten von dieser Publikation am ehesten angesprochen. Sie wendet sich aber grundsätzlich an alle therapeutisch arbeitenden Fachbereiche, die mit komplexen Schmerzproblemen konfrontiert sind und einen Lösungsansatz in der Interdisziplinarität suchen. Patienten und Betroffene finden vielleicht in den Fallbeispielen eine Orientierung bezüglich ihrer eigenen Problematik und in den diagnostischen und therapeutischen Kapiteln eine Reflexion ihres Weges. Insgesamt bekommen beide Seiten einen Eindruck von den Sichtweisen des anderen als Voraussetzung für einen toleranten und respektvollen Umgang miteinander. Wir danken aufrichtig allen Autoren, die in der Regel außerhalb ihrer beruflichen Aufgaben am Buch mitgearbeitet haben. Weiterhin gilt unser Dank allen aktuellen und ehemaligen Kollegen, die durch Begeisterung und Kreativität an der Konzeptgestaltung mitwirkten und immer zu impulsgebenden Gesprächen bereit waren. Ihre Fußabdrücke sind eine wichtige Orientierung für alle zukünftigen Schritte. Ganz besonders hat uns der Erfahrungsbericht einer Patientin gefreut. Die Reflexion, Bearbeitung und Transparenz der eigenen Rückengeschichte erforderten viel Mut, Kreativität und Vertrauen. Michael Hamel Marion Heinrich Kay Niemier Ulf Marnitz Berlin und Hamburg, im Dezember 2017

Inhalt Herausgeber | V Zum Geleit | VII Vorwort der Herausgeber | XI Autorenverzeichnis | XIX Ulf Marnitz 1 Grundlagen | 1 1.1 Eine Patientin erzählt – Teil 1 | 1 1.2 Was ist was? – Begriffsdefinitionen | 5 1.2.1 Schmerz | 5 1.2.2 Rücken- und Kreuzschmerzen | 5 1.3 Fakten zum Problem – Epidemiologie Rückenschmerz | 7 1.4 Lösungsansätze – Die Versorgungslandschaft | 8 1.5 Ein Goldstandard? – Die „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST) | 10 1.5.1 Biopsychosoziales Krankheitsmodell | 11 1.5.2 Die Definition der Kommission der DGSS „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST) | 12 1.5.3 Kennzeichen und Grundsätze | 13 1.5.4 Umfang der MMST | 16 1.5.5 Ambulant, teilstationär, stationär – Akutmedizin oder Rehabilitation? | 16 1.5.6 Wirksamkeit | 17 1.5.7 Wunsch und Wirklichkeit, NVL und Realität | 17 Marion Heinrich 2 Interdisziplinäres Assessment | 21 Katja Witter, Maximilian Redlich und Marion Heinrich 2.1 „Drei Therapeuten, drei Meinungen?“ – Ein exemplarisches Assessment | 25 2.1.1 Ärztliche Anamnese | 25 2.1.2 Physiotherapeutische Anamnese | 26 2.1.3 Psychologische Untersuchung | 27 2.1.4 Diagnosen | 28 2.1.5 Fallkonzeption | 29

XVI | Inhalt

Maximilian Redlich und Kay Niemier 2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik | 31 2.2.1 Ärztliche Anamnese | 32 2.2.2 Ärztlicher Befund | 33 2.2.3 Die Rolle der apparativen Diagnostik | 40 2.2.4 Besprechung der Befunde mit dem Patienten | 42 Marion Heinrich 2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik | 43 2.3.1 Das Erstgespräch: Bedeutung und Funktion | 43 2.3.2 Unterstützung durch Fragebogen | 53 Katja Witter 2.4 Tasten – Die physiotherapeutische Untersuchung | 58 2.4.1 Physiotherapeutische Anamnese | 59 2.4.2 Der spezielle physiotherapeutische Befund | 61 Marion Heinrich 2.5 „Sechs Augen sehen mehr als zwei“ – Die interdisziplinäre Handlungsempfehlung | 65 2.5.1 Behandlungsbezogene Beurteilung | 65 2.5.2 Patientenverhalten | 67 2.5.3 Zum Ergebnis kommen | 68 2.5.4 Erfahrungen sammeln – Rückmeldungen über den Patienten und die Einschätzung – Wie ist es weitergegangen? | 69 Michael Hamel 3 Interdisziplinäre Therapie | 77 Marion Heinrich 3.1 4-Wochen-Therapie – Ein Fallbeispiel | 77 3.1.1 Der „Diagnostiktag“ | 77 3.1.2 Behandlungsverlauf | 79 3.1.3 Beurteilung des Behandlungsverlaufs aus Behandlersicht | 82 Michael Hamel 3.2 Spielplan – Die Rahmenbedingungen | 83 3.2.1 Das Team – Multidisziplinär und interdisziplinär | 83 3.2.2 Die Inhalte – Module, Pläne, Abläufe | 84 3.2.3 Die Patientengruppe – Zusammensetzung und Stärke | 87

Inhalt |

Marion Heinrich 3.3 Spielregeln – Die Therapieprinzipien | 88 3.3.1 Das biopsychosoziale Krankheits- und Behandlungsmodell als Basis | 88 3.3.2 Prozessgestaltung – Wirkfaktoren | 89 3.3.3 Methodik – Über alle Berufsgruppen hinweg | 93 Ulrike Kippe-Sack 3.4 „Der Halbgott in Weiß“ – Modul Medizin | 96 3.4.1 Aufklärung, Behandlung, Begleitung, Verantwortung – Die Rollen der klassischen Medizin | 97 3.4.2 Medikamente | 97 3.4.3 Interventionelle Schmerztherapie | 104 3.4.4 Nichtmedikamentöse Therapieverfahren | 105 3.4.5 Operative Verfahren | 107 3.4.6 Feste Termine für den Arzt im Behandlungsprogramm | 107 3.4.7 Ärztliche Edukation – Die Basisinformationen | 109 Marion Heinrich 3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie | 116 3.5.1 Krankheitsmodell und Schmerzedukation | 118 3.5.2 Strategien im Umgang mit Schmerz zwischen Kontrolle und Akzeptanz | 128 3.5.3 Körperwahrnehmung und Gegenwartsorientierung – Entspannung als Grundlage | 132 3.5.4 Stress und Schmerz – Die Balance im Alltag | 135 3.5.5 Zielsetzung: nach dem Spiel ist vor dem Spiel – Der Anfang und das Ende | 140 3.5.6 Indirekte psychologische Behandlungsanteile | 142 Michael Hamel 3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik | 148 3.6.1 Bewegen trotz Schmerzen? | 149 3.6.2 Wo sind die Defizite? – Motorische Diagnostik als Grundlage und Prozess | 152 3.6.3 Regeln für das „Trainingslager“ – Trainingsprinzipien | 157 3.6.4 Brust raus? – Eine Frage der Haltung | 159 Michael Richter 3.6.5 Bauch rein? – Die Segmentale Stabilisation | 160

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XVIII | Inhalt

Michael Hamel 3.6.6 Die Vielseitige – Funktionsgymnastik | 164 3.6.7 Der Klassiker – Medizinische Trainingstherapie | 171 3.6.8 Das Unabdingbare – Work Hardening | 179 Frauke Dölp 3.6.9 Nur ein Spaßfaktor? – Von großen und kleinen Spielen | 189 3.6.10 Beratung für den Alltag – Rückenschule und Ergonomie | 193 Michael Hamel 3.6.11 Welcher Sport ist gut für den Rücken? – Sportberatung | 199 3.6.12 „Hands on”? – Was ist mit Manueller Therapie? | 203 Marion Heinrich 3.7 Wenn nicht alles glatt läuft – Erfolgsdruck und Praxis | 204 Marion Heinrich und Michael Hamel 3.8 Die Verschmelzung der Module – Interdisziplinäres Arbeiten | 207 3.8.1 Kaffeeklatsch oder Expertenrunde – Interpersonelle Vernetzung | 207 3.8.2 IST und SOLL – Die Visiten | 210 3.8.3 Kooperationswissen und inhaltliche Vernetzung | 216 3.8.4 Wie sich alles zusammenfügt – Ein wissenschaftstheoretisches Fazit | 223 3.9 Eine Patientin erzählt – Teil 2 | 227 Kay Niemier 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug | 247 4.1 Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie auf dem Prüfstand | 249 4.2 Für wen? Wann? Wie viel? – Die Frage der differenziellen Indikation | 252 4.2.1 Wer profitiert am meisten? – Die Bedeutung von Patientenmerkmalen | 252 4.2.2 Zeitpunkt und Intensität als Programmvariablen | 256 4.3 Wird der Trainingsansatz überschätzt? – Was können wir messen? | 258 4.4 Ergebnisse aus den Rückenzentren | 260 4.4.1 Versorgungspraxis transparent machen | 261 4.4.2 Patienten aus den Rückenzentren im Vergleich | 263 4.4.3 MMST in den Rückenzentren – Behandlungsergebnisse | 266 Abkürzungsverzeichnis | 275 Stichwortverzeichnis | 277

Autorenverzeichnis Frauke Dölp Physiotherapeutin Rückenzentrum am Markgrafenpark Markgrafenstraße 19 10969 Berlin Dr. med. Joachim Mallwitz Vorstand der Hanseatic Rückenzentrum Holding AG Chefarzt Rückenzentrum Am Michel, Hamburg Facharzt für Orthopädie Manuelle Medizin/Chirotherapie und Sportmedizin Physiotherapeut Rückenzentrum Am Michel Ludwig-Erhard-Straße 18 20459 Hamburg Ulrike Kippe-Sack Fachärztin für Anästhesiologie und Spezielle Schmerztherapie Rückenzentrum am Markgrafenpark Markgrafenstraße 19 10969 Berlin

Maximilian Redlich Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin Rückenzentrum am Markgrafenpark Markgrafenstraße 19 10969 Berlin Michael Richter Physiotherapeut (M. Sc., B Sc., OMT) Fachliche Leitung Physiotherapie Rückenzentrum Am Michel Ludwig-Erhard-Straße 18 20459 Hamburg Katja Witter Physiotherapeutin Rückenzentrum am Markgrafenpark Markgrafenstraße 19 10969 Berlin Karoline Uphoff (richtiger Name ist dem Verlag bekannt)

Ulf Marnitz

1 Grundlagen 1.1 Karoline Uphoff: Eine Patientin erzählt – Teil 1 Als ich an einem Junimorgen – einem Freitag – mit einem kreischenden Schmerz aufwachte, der aus meinem unteren Rücken mein linkes Bein hinuntertobte, ahnte ich nicht, welche Talfahrt mein Leben in den nächsten Monaten nehmen würde. Ein Bekannter fuhr mich zu einem Allgemeinmediziner mit sportmedizinischem Hintergrund. Dieser gab mir eine schmerzstillende Spritze, vermutete ein Wurzelspitzenreizsyndrom und riet mir, viel spazieren zu gehen. Beides half, doch am Sonntagabend waren die Schmerzen wieder so schlimm, dass mir bei jeder Bewegung die Tränen aus den Augen liefen. Die Nacht zum Montag war eine Tortur. Als ich es unter Qualen geschafft hatte, mich aus dem Bett zu kämpfen, bemerkte ich bald, dass mit meinem linken Bein etwas nicht stimmte. Die äußeren Zehen fühlten sich „wattig“ an, Teile der Fußsohle waren taub, und auch in der Ferse und im unteren Wadenbereich hatte ich kaum noch Gefühl. In Panik rief ich meinen Freund an, der mich wieder zum Arzt fuhr. Schnell hatte der nun einen Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich diagnostiziert. Während der Untersuchung sprach mein Arzt folgenden Satz: „Operieren tut man ja nicht so gern, aber wenn Lähmungen auftreten, muss man das.“ Zudem empfahl er, einen Spezialisten aufzusuchen und eine MRT machen zu lassen. Die folgenden zwei Wochen verbrachte ich in einem Nebel aus Schmerz, Angst und Ohnmacht. Der Arzt hatte mir ein nichtsteroidales Antirheumatikum, ein Opioid, ein muskelentspannendes Medikament und ein Präparat, das den Magen schützen sollte, verordnet – all das nahm ich trotz meines Misstrauens gegenüber Arzneimitteln widerstandslos ein. Ich wusste, dass ich mittels der verordneten Medikamente Schmerzfreiheit herstellen sollte, vor allem, um die so genannte Schonhaltung zu unterbinden. Dennoch fiel ich unmittelbar nach der Diagnose in Schockstarre. Ich saß, lag, stand und lief mit stocksteif gestellter Wirbelsäule. Die Angst, meinen Zustand durch „falsche“ Bewegung zu verschlimmern, war allgegenwärtig. Meine Wohnung verließ ich nur für Arztbesuche. Es gab keine Position, keine Tätigkeit, in der ich es lange ausgehalten habe, von so etwas wie „Nachtruhe“ konnte ich nur träumen. Dieses „Nicht-sein-Können“ war für mich eines der größten Probleme in der Akutphase der Erkrankung. So hatte ich keine Möglichkeit, mich irgendwie zu entspannen oder abzulenken. Ich fühlte mich gefangen in meinem Körper, der mir plötzlich vorkam wie eine scharfgestellte Bombe. Einige Tage nach der Erstdiagnose stellte ich mich in der Spezialabteilung eines Klinikums vor. Ein gelassen und kompetent wirkender Neurochirurg untersuchte mich und diagnostizierte einen „kleinen“ Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1. https://doi.org/10.1515/9783110546200-003

2 | 1 Grundlagen

Auch er gab Hinweise auf OP-Indikatoren: Sollte ich Lähmungen bekommen oder nicht mehr auf die Toilette gehen können, müsste ich sofort wiederkommen, dann müssten sie „da ran“. Auf meine Frage, was ich denn nun tun sollte, empfahl mir der Neurochirurg im Gegensatz zu meinem Allgemeinmediziner absolute Ruhe. Jetzt hieß es, auf den MRT-Termin zu warten, den mir mein Freund für die kommende Woche beschafft hatte. Ich verfiel immer mehr in den Modus des „Selbst-Monitorings“, checkte meinen Körper permanent auf OP-Indikatoren, zumal sich die Taubheitsgefühle im unteren Teil meines linken Beins weiter ausgebreitet hatten. Schon bald fühlte sich mein Rumpf an wie von einem Stahlkorsett umschlossen, ich hatte Atemnot, war gleichzeitig unbeweglich und ruhelos, und durch den fehlenden Schlaf flossen Tag und Nacht ineinander wie in einem fortwährenden Albtraum. Zudem hatte sich in meinem Kopf der Gedanke breitgemacht, dass, wenn man einfach so morgens mit einem Bandscheibenvorfall aufwachen kann, es doch sehr gut möglich, nein, sogar wahrscheinlich ist, dass das bald wieder passiert. Noch monatelang war ich in regelmäßigen Abständen überzeugt davon, mindestens einen weiteren Vorfall in der Halswirbelsäule zu haben. Die MRT-Untersuchung erwies sich als schlimmste Massenabfertigung. Die Mitarbeiterinnen im Empfangsbereich der Einrichtung waren überfordert, die Assistentinnen in der Radiologie, die im fensterlosen Untergeschoss untergebracht war, verhielten sich wie Roboter. Ärzte, mit denen man noch irgendetwas hätte besprechen können, gab es keine. In der vielbeschworenen „Röhre“ bekam ich schließlich eine Panikattacke. Trotzdem hielt ich durch, ohne den „Notfallball“ zu drücken, denn ich wollte auf keinen Fall ohne die erhellenden Bilder wieder gehen. Zwei Tage später hatte ich einen weiteren Termin in der Neurochirurgie. Diesmal behandelte mich ein anderer Arzt. Er sah sich die MRT-Bilder mit mir an und diagnostizierte einen „kleinen“ Bandscheibenvorfall im Segment L5/S1. Mensch. Wo stünde die Medizin heute bloß ohne moderne bildgebende Verfahren?! Er empfahl Physiotherapie nach McKenzie. Auf meine Frage, wie ich mich jetzt am besten verhalten sollte, erklärte er mir, das würde mir mein Schmerz sagen. Der Allgemeinmediziner hatte mir eine Verordnung über sechs krankengymnastische Einheiten gegeben. Mit dieser ging ich nun zu einer Physiotherapeutin, die mir ein Freund empfohlen hatte. Die resolute Frau drückte, zog und dehnte an mir herum, es war unangenehm und schmerzhaft, aber ich hatte das Gefühl, in erfahrenen Händen zu sein. Erst im Zuge der Prozedur erfuhr ich, dass ich eine Osteopathie-Behandlung erhielt. Im Prinzip hatte ich damit kein Problem, erwartet hatte ich jedoch eher etwas in Richtung Gymnastik und nicht eine rein passive Behandlung. Da sich das Vereinbaren von Folgeterminen dann sowieso als schwierig erwies, entschied ich, die Osteopathie erstmal selber zu bezahlen und mit meiner Krankengymnastik-Verordnung woandershin zu gehen. Zudem wollte ich den Tipp des Klinikarztes beherzigen und jemanden suchen, der nach der McKenzie-Methode behandelt. Ich hatte die fast schon fixe Idee, dass es jetzt ganz schnell „richtig“ losgehen müsste, ich wollte

1.1 Eine Patientin erzählt – Teil 1

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handeln, „das Richtige“ tun, Kontrolle wiedererlangen. Also googelte ich mich durch die örtliche Physiotherapie-Szene und rief schließlich in einer Praxis an, die mir der erstdiagnostizierende Arzt empfohlen hatte. In der Rückschau erscheint mir das alles einfacher, als es damals für mich gewesen ist. In meinem reichlich angeschlagenen Zustand kam mir jede Entscheidung über meine weitere Behandlung schwerwiegend vor, organisatorische Probleme überforderten mich. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit der Wahl der Physiotherapeuten und behandelnden Ärzte alleinverantwortlich über meine gesundheitliche Zukunft entschied. Einige Tage später begann ich mit der Krankengymnastik. Die Praxis war üppig mit allerlei Sportgeräten ausgestattet, es gab viele Behandlungsräume, aber keinen weiteren Patienten. Der Physiotherapeut erklärte mir noch einmal die Erkrankung, beschrieb, dass das ausgetretene Material nun langsam abgebaut würde. Das war mir neu. Das klang gut, das versprach Heilung. Er untersuchte mich kurz und zeigte mir einige leichte Mobilisationsübungen. Nach mittlerweile dreiwöchiger Schockstarre war das körperlich und mental eine echte Herausforderung für mich. Dennoch war ich heilfroh, gleich ein Heimprogramm zu bekommen. Ich machte es täglich. Am Ende der dritten Krankheitswoche fing ich in homöopathischen Dosen wieder an zu arbeiten. Dies war die Zeit, in der ich die ersten depressiven Schübe hatte. Während es in den ersten zwei Wochen nur darum gegangen war, die Tage irgendwie zu überstehen, hatte ich nun mit Existenz- und Zukunftsängsten zu kämpfen. Ich war Freiberuflerin ohne nennenswerte soziale Absicherung und lebte gerade von meinen Rücklagen. Meine Berufstätigkeit als Redakteurin fand ausschließlich im Sitzen statt, und das konnte ich am allerschlechtesten. Alle 15 Minuten musste ich aufstehen und eine Pause machen. Ich informierte mich über ergonomische Bürostühle, probierte verschiedene Modelle bei einem Händler aus, kaufte Keil- und Entlastungskissen – nichts davon half. Wenn ich meine Probleme mit der Sitzerei einem Arzt oder Physiotherapeuten gegenüber äußerte, hieß es, dass ich das ja auch möglichst vermeiden sollte. Wie lange würde es dauern, bis ich wieder voll arbeitsfähig wäre? Mein Erspartes würde nicht ewig reichen. Meine Kunden zeigten zwar noch Verständnis, aber bald würden sie einen Ersatz für mich suchen müssen, und ich wäre raus. Meine Freizeit bestand vor dem Bandscheibenvorfall hauptsächlich aus Sport und Bewegung im Freien, auch mein soziales Leben fand zu einem Großteil in diesem Kontext statt. Ich ging mehrmals die Woche laufen, gehörte nach über sechs Jahren Zumba in meinem Fitnessstudio zur Spitzentruppe und hatte mit meinem Freund und einer Bekannten selber einen Salsakurs gegeben. Ich definierte mich stark über meine körperliche Leistungsfähigkeit, die ich mir über Jahre hart erarbeitet hatte. Mit all dem war es von einem Tag auf den anderen, ohne einen Unfall oder ein anderes konkretes Ereignis, im wahrsten Wortsinn „über Nacht“ vorbei. Jetzt konnte ich die lächerlichste Alltagstätigkeit nicht mehr ausführen, allein das Halten eines gefüllten Wasserkochers machte mir Angst. Ich war abhängig von der Hilfe anderer. In den folgenden Wochen kämpfte ich mich weiter durch, steigerte mein Arbeitspensum, übernahm wieder leichte Haushaltstätigkeiten, ging zur Osteopathie und zur Kran-

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kengymnastik und machte täglich Spaziergänge. Ich hatte durchaus erträgliche Tage und konnte nachts wieder mehrere Stunden am Stück schlafen. Die Taubheitsgefühle in meinem linken Bein gingen deutlich zurück, die Analgetika konnte ich zu Beginn der vierten Woche vollständig absetzen. Am Ende der sechsten Woche bekam ich wieder stärkere Rückenschmerzen. Kein Vergleich mit den Beschwerden in der Akutphase, aber dennoch unangenehm und vor allem besorgniserregend. Was nun? Was hatte ich falsch gemacht? Beim nächsten Krankengymnastik-Termin beschrieb ich dem Therapeuten meine Beschwerden. Er reagierte eher verständnislos – der Abbau des ausgetretenen Materials könne schließlich Monate dauern – und fragte mich, ob ich dennoch aktive Übungen machen möchte. Ich wollte irgendetwas tun, und wir trainierten verschiedene Varianten der „Brücke“ auf einem Gymnastikball, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Als ich einige Tage später zusätzlich Symptome einer Blasenentzündung bekam, drehte ich durch. Blasenprobleme gehörten schließlich in den Formenkreis der gefürchteten OP-Indikatoren. Mein Freund fuhr mich nach einer Nacht des Heulens und Zähneklapperns ins Krankenhaus, und ich war überzeugt davon, dass sie mich gleich dabehalten würden. Mit meinen Beschwerden – diffuse und manchmal stechende Schmerzen im unteren Rücken, die bis in die Leistengegend zogen, und einer so stark gereizten Blase, dass ich die Toilette kaum noch verlassen konnte – konnte der Orthopäde in der Notaufnahme nicht viel anfangen. Irgendwie glaubte er nicht, dass das „aus dem Rücken kommt“, sicher sei er sich aber nicht. Deshalb würden sie mir jetzt über den Tropf Schmerzmittel und ein muskelentspannendes Medikament verabreichen und dann weitersehen. Tatsächlich ging es mir danach erheblich besser. Der Arzt meinte nun, dass vielleicht doch noch einmal etwas aus der Bandscheibe ausgetreten sei, und verordnete Schonung, bis die Beschwerden deutlich zurückgegangen seien. Wir fuhren nach Hause, ich informierte meine Kunden über den „Rückfall“ und legte mich wieder ins Bett. Also wieder von vorn. Heute denke ich, dass in dieser Situation entscheidende Weichen für den weiteren Krankheitsverlauf gestellt wurden. Die neuen Beschwerden hatten mir Angst gemacht, die mir weder der Physiotherapeut noch der Orthopäde hatte nehmen können. In dieser Episode hatte ich „gelernt“, in Rückfällen zu denken und wiederkehrende Beschwerden als Indikatoren für sofortige Schonung zu werten. Ich war jetzt voll und ganz im Modus des ängstlichen „In-mich-hinein-Fühlens“, ich nahm jedes Kribbeln und jedes Ziehen als potenziell gefährlich wahr. Ich fürchtete mich davor, doch noch operiert werden zu müssen und in der Folge für den Rest meines Lebens behindert zu bleiben. Und andauernde Angst ist ein fataler Begleiter während einer Erkrankung, die sich aus Anspannung und Vermeidungshaltung nährt (Fortsetzung: Kap. 3.9).

1.2 Begriffsdefinitionen | 5

1.2 Was ist was? – Begriffsdefinitionen 1.2.1 Schmerz Die International Association for the Study of Pain (IASP) ist das führende internationale Netzwerk für Wissenschaft, Klinik, Ausbildung und Kostenträger im Feld der Schmerztherapie. Die IASP-Definition für Schmerz lautet: ”An unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage.” [1] Die US-amerikanische Non-Profit- und Nichtregierungsorganisation Institute of Medicine IOM lieferte 2010 folgende Beschreibung für Schmerz: ”We believe pain arises in the nervous system but represents a complex and evolving interplay of biological, behavioural, environmental and societal factors that go beyond simple explanation.” [2] Diese beispielhaften Zitate skizzieren den mehrschichtigen Charakter von Schmerz und lassen deren neurophysiologische Komplexität erahnen. Eine Behandlung erfordert somit ein mehrdimensionales Vorgehen verschiedener Professionen miteinander.

1.2.2 Rücken- und Kreuzschmerzen Der Begriff Rückenschmerz bezeichnet unspezifische Schmerzzustände in den unterschiedlichen Teilen des gesamten Rumpfes. Das Schmerzteilgebiet zwischen den unteren Rippen und den Glutealfalten wird als Kreuzschmerz (Low Back Pain) bezeichnet. Eines unterscheidet Rückenschmerzen von einer Vielzahl anderer Erkrankungen: Der von einem Patienten angegebene Schmerzort steht nicht in einem zuverlässigen Zusammenhang mit der Ursache [1]. Diese Erkenntnis ist von größter Bedeutung und lässt sich ausweiten: Die Ätiologie beschäftigt sich mit den Ursachen für das Entstehen von Krankheiten. Sie bedient sich der drei grundlegenden Methoden „Causa, Contributio und Correlatio“ (Ursache, Zusammenhang, Wechselbeziehung). Bekannt ist jedoch der unterschiedliche Grad an Gewissheit, mit der die Ursache einer Krankheit herausgefunden wird. Beim Rückenschmerz können wir eine monokausale Ursache regelhaft nur unzuverlässig benennen. Und das hat schwerwiegende Konsequenzen für die Therapie. Ein klassisches Beispiel: Ein Patient leidet unter Kreuzschmerzen. Der gelernte Maurer wurde umgeschult zu einem Verkäufer. In der Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule wird ein Bandscheibenvorfall deutlich. Hinzu kommt, dass der Patient sich seit der Scheidung von seiner Frau antriebslos fühlt. Wenn hier der Bandscheibenvorfall allein als Hauptursache für die Rückenschmerzen angenommen wird, wird ein unidirektionaler Zusammenhang zwischen

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Schmerz und strukturellem Schaden hergestellt – die Behandlung der vermeintlich strukturellen Ursache führt jedoch häufig nicht zu dem gewünschten Therapieerfolg (gleichwohl kann der Bandscheibenvorfall eine Schmerzteilursache sein!). Erst das Erkennen der psychosozialen Wechselbeziehungen und deren therapeutische Berücksichtigung werden hier zu einem nachhaltigen Erfolg führen. In Kenntnis dieser komplexen Wechselbeziehungen wurden vereinfachend die Begriffe des nichtspezifischen und des spezifischen Rückenschmerzes gegenübergestellt. Spezifische Rückenschmerzen stehen in einem direkten Zusammenhang mit einer diagnostizierbaren strukturellen Ursache (z. B. Tumorerkrankungen, Infektionen, Frakturen). Nichtspezifische Rückenschmerzen lassen sich dagegen keiner medizinisch-strukturell eindeutigen Ursache zuordnen. In unserem Patientenbeispiel existieren beide Rückenschmerzarten multikausal nebeneinander. Deshalb kann die Differenzierung spezifisch – nichtspezifisch nie trennscharf sein und somit lediglich eine Arbeitshypothese darstellen. Eine monokausale Ursachen-Wirkungs-Beziehung ist bei Rückenschmerzpatienten eher die Ausnahme als die Regel. Diese Unterscheidung verfolgt vielmehr das wichtige Ziel eines pragmatischklinischen Vorgehens. Im Idealfall können dadurch eine Vielzahl unnötiger Therapien verhindert und wirkungsvolle Interventionen initiiert werden. Die Abgrenzung von nichtspezifisch und spezifisch ist bis heute Gegenstand vieler Diskussionen [3]. Eine Klassifikation von Rückenschmerzen ätiologisch im Sinne einer Kausalität ist selten möglich, sondern meistens nur als multifaktorielles Geschehen (contributio) beschreibbar. Deskriptiv können Rückenschmerzen nach Lokalisation, Dauer, Schweregrad und Stadium der Chronifizierung eingeteilt werden: – nach Lokalisation: – Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule, – Kreuz- und Sitzbein, – Übergänge wie Kopfgelenke, zerviko-thorakal, thorako-lumbal, lumbo-sakral etc. – nach Dauer [4]: – akuter Kreuzschmerz dauert höchstens zwölf Wochen an. – ab sechs Wochen spricht man auch von subakut, – ein Wiederauftreten von akuten Rückenschmerzen nach einer symptomfreien Zeit von sechs Monaten wird als rezidivierend bezeichnet, – ab einer Dauer von mindestens zwölf Wochen gelten Rückenschmerzen als chronisch. Schmerzintensität und Ausprägung können dabei im Verlauf variieren. Die Zeitkriterien in epidemiologischen Studien weichen von diesen Angaben häufig ab. Die zeitlichen Angaben dienen somit einer groben Orientierung: – nach Schweregrad (als Grading) und nach Stadium der Chronifizierung (als Staging):

1.3 Epidemiologie Rückenschmerz |





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nach Chronic Pain Grade (CPG) [5]: Selbsteinschätzungsfragebogen, in dem die Intensität und das Beeinträchtigungserleben über numerische Ratingskalen und Anzahl der Tage mit Beeinträchtigungserleben erhoben werden. Grad 0: keine Schmerzproblematik, Grad 1: geringe Schmerzintensität und geringe schmerzbedingte Beeinträchtigung, Grad 2: hohe Schmerzintensität und geringe schmerzbedingte Beeinträchtigung, Grad 3: moderate schmerzbedingte Beeinträchtigung unabhängig von der Schmerzintensität, Grad 4: hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung unabhängig von der Schmerzintensität. nach Mainz Pain Staging System (MPSS) [6]: Im Unterschied zur alleinigen ärztlichen Fremdeinschätzung wird hier explizit das Ausmaß bisheriger Behandlungen mit einbezogen. Achse 1: zeitlicher Aspekt des Schmerzes, Achse 2: räumlicher Aspekt des Schmerzes, Achse 3: Medikamentenanamnese, Achse 4: Patientenkarriere im Gesundheitssystem.

1.3 Fakten zum Problem – Epidemiologie Rückenschmerz Rückenschmerzen gehören in Deutschland zu den mit Abstand häufigsten Schmerzsyndromen. Diesbezüglich existieren eine Vielzahl epidemiologischer Studien und Erhebungen wie beispielsweise im Bundes-Gesundheitssurvey [7–10]. Einige Fakten daraus: Von chronischen, also länger als drei Monate fast täglich andauernden Schmerzen sind mit einer Lebenszeitprävalenz 32 % der Frauen und 23 % der Männer betroffen. Die Jahresprävalenz ist im Vergleich von 2003 zu 2009/10 leicht gestiegen (Frauen von 22 % auf 25 %, Männer von 16 % auf 17 %). Im Graded Chronic Pain Status fand sich folgende Verteilung in der Bevölkerung: 35,6 % keine Schmerzproblematik (Grad 0), 45,2 % geringe Schmerzintensität und Beeinträchtigung (Grad 1), 8,0 % hohe Schmerzintensität und geringe Beeinträchtigung (Grad 2), 6,6 % moderate Beeinträchtigung unabhängig von der Schmerzintensität (Grad 3), 4,6 % hohe Beeinträchtigung unabhängig von der Schmerzintensität (Grad 4). Die Intensität und Dauer der Rückenschmerzen sind bei Frauen in allen Altersgruppen größer als bei Männern.

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Die hohe Verbreitung von Rückenschmerzen erstreckt sich über alle Altersgruppen progressiv. Die maximale Prävalenz ist im fünften und sechsten Lebensjahrzehnt erreicht. Unter den Befragten mit geringem Bildungsniveau findet sich eine wesentlich höhere Prävalenz für chronische Rückenschmerzen [11]. Je verbreiteter ein gesundheitliches Problem ist, desto höher erwartet man auch die direkten medizinischen Behandlungskosten. Außergewöhnlich sind beim Rückenschmerz die hohen indirekten Krankheitskosten für die Volkswirtschaft: Das Statistische Bundesamt benennt für das Jahr 1994 direkte Behandlungskosten für Dorsopathien (ICD 10: M45–M54) in Höhe von umgerechnet 10 Mrd. Euro [11]. Aufgrund der hier angegebenen Arbeitsunfähigkeitstage lassen sich indirekte Kosten von 12 Mrd. Euro berechnen [12]. Wesentlich sind davon Krankengeldzahlungen der Gesetzlichen Krankenkassen an die Erwerbstätigen [15]. Rückenschmerz ist in Deutschland einer der häufigsten Gründe für eine vorzeitige Berentung und für einen Großteil der Inanspruchnahmen des Gesundheitssystems sowie der Arbeitsunfähigkeitszeiten verantwortlich [11]. Für das Jahr 2008 schätzt das Statistische Bundesamt die direkten Kosten aufgerundet erneut auf 10 Mrd. Euro. Damit bleibt diese Diagnosegruppe die kostenintensivste Erkrankung des Muskel-Skelett-Systems [11]. Der große Anteil mit 80–90 % der Rückenschmerzen ist von kurzer Dauer, rezidivierend und meistens nichtspezifischer Ursache [13]. Ein kleiner Anteil dieser Patienten leidet über einen längeren Zeitraum. Diese Minderheit verursacht den Großteil der Gesamtkosten. Die langfristige Entwicklung ungünstiger Verläufe bedingen viele Faktoren. Die große Bedeutsamkeit psychosozialer Einflussfaktoren für die Chronifizierung ist seit langem bekannt [3, 13, 16]. Insgesamt sind alle der folgenden vier Einflussgrößen für das Erleben und auch für die Therapie im medizinischen Alltag von herausragender Bedeutung (Abb. 1.1): 1. die strukturelle, 2. die funktionelle, 3. die psychische, 4. die soziale. Nur unter Beachtung aller dieser vier Einflussgrößen kann eine langfristig erfolgreiche Therapie gelingen!

1.4 Lösungsansätze – Die Versorgungslandschaft Die Versorgung des Syndroms Rückenschmerz ist eine Herausforderung für das deutsche Gesundheitssystem. Ausgerechnet im Bereich dieses kostenintensiven Krankheitsbildes offenbart es wie bei vielen anderen komplexen Erkrankungen erhebliche

1.4 Die Versorgungslandschaft | 9

strukturell z. B. Bandscheibenvorfall

funktionell z. B. muskuläre Dysbalance

psychisch z. B. Angst und Depressivität

sozial z. B. Arbeitsplatzverlust

Abb. 1.1: Die vier Einflussgrößen beim Rückenschmerz.

Schwächen. Die Vielzahl von Einflussfaktoren bedingt eine Versorgungskatastrophe: mangelnde Steuerung durch fehlende/falsche finanzielle Anreize für Leistungsanbieter, fehlende Ausbildungsschwerpunkte der Studierenden und jungen Ärzte und Ärztinnen, Fragmentierung der behandelnden Akteure wie in ambulant-stationär oder kurativ-rehabilitativ, Technisierung der Medizin, zum Teil historisch gewachsene Versorgungs- und Rentensysteme. Das gesundheitspolitische Erkennen dieser Problemfelder erforderte neue Versorgungsformen. Nicht weniger als eine partielle Neuausrichtung des Gesundheitssystems wurde dazu angestrebt. Wesentliches Ziel war es, durch die Vernetzung der Behandler einen strukturierten Weg für den Patienten zu entwerfen und somit eine integrierte Form der Versorgung zu schaffen. Inhaltliche Meilensteine waren ab 1990 das Göttinger Rücken-Intensiv-Programm (GRIP) als Wegbereiter [14], der Versorgungspfad der Bertelsmann-Stiftung „Gesundheitspfad Rücken“ [29] und die Nationale Versorgungsleitlinie „Nicht-spezifischer [sic!] Kreuzschmerz“ von 2010 sowie in der aktuellen Fassung von 2017 [9]. Gesetzlich wurde 2000 die so genannte „Integrierte Versorgung“ als Selektivverträge in die Sozialgesetzgebung aufgenommen. Nun konnten Leistungserbringer und Kostenträger direkt und sektorenübergreifend Verträge für neue Versorgungen schließen – u. a. unabhängig von Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Attraktivität der Integrierten Versorgung wurde 2004 durch eine temporäre Anschubfinanzierung maßgeblich erhöht. Die Aufbruchsstimmung war enorm. Kostenträger- und institutionsbasierte Konzepte standen nebeneinander. Wohl jede gesetzliche Krankenkasse schloss eigene Verträge, und verschiedene medizinische Einrichtungen realisierten die unterschied-

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lichsten Konzepte mit unterschiedlichsten Qualitäten. Der Aufwand von der therapeutischen Implementierung neuer Konzepte über die Neustrukturierung von Versorgungseinrichtungen bis hin zu der langzeitigen Evaluation der Ergebnisse war und ist gewaltig. Versorgungsbeispiele sind [28]: – ab 2001 das Rückenzentrum Am Michel (Hamburg), 2004 das Rückenzentrum Am Markgrafenpark (Berlin) und 2010 das Rückenzentrum Köpenick (Berlin) als ambulante Tagesklinken in Großstädten, – ab 2006 das Berlin-Brandenburger-Rückennetz als Verbund von mehreren ambulanten Tageskliniken und einer stationären Schmerzklinik, – ab 2007 das Bielefelder Rückenmodell in ländlicher Umgebung, – ab 2008 die bundeslandweite Versorgung Bayerns u. a. mit AlgesiologikumVerbund, – ab 2009 das Integrative Managed-Care-Modell als bundesweiter Ansatz ambulanter Behandlungszentren. Letztendlich überlebten die integrierten Versorgungsstrukturen, die Qualität und Effizienz in ein Gleichgewicht brachten und die hohen organisatorischen Anforderungen stemmen konnten. Auch in den klassischen Versorgungssektoren, in der ambulanten und stationären Versorgung sowie Rehabilitation, kam es in den letzten Jahren zu Anpassungsprozessen. Die zentralen Anforderungen aus den integrierten Versorgungserfahrungen wie Interdisziplinarität und gelebte integrative Versorgung wurden unterschiedlich erreicht [13]. Es gibt Versuche und Insellösungen (Schmerzkliniken, ANOA als Arbeitsgemeinschaft nichtoperativer orthopädischer Akut-Kliniken etc.). Die grundlegenden Probleme der Versorgung (falsche Modelle, fehlende Vernetzung, Primärarztsystem) bestehen aufgrund von berufspolitischen Interessenlagen jedoch weiter. Ob das geplante Disease-Management-Programm (DMP) Chronischer Rückenschmerz eine Verbesserung der Versorgung bedeutet, bleibt abzuwarten.

1.5 Ein Goldstandard? – Die „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST) Historisch betrachtet entstand in der Schmerztherapie über einige Jahrzehnte die Erkenntnis, dass bei chronischen Beschwerden die strukturelle Pathologie, wie z. B. ein Bandscheibenvorfall, nicht isoliert im Vordergrund steht. Bereits in den 1970er Jahren führte diese Erkenntnis zu einer Neuausrichtung der Therapieziele, nicht mehr die Reparatur der strukturellen Pathologie stand im Fokus, sondern darüber hinaus die individuelle innerpsychische Bewertung der Pathologie durch die Patienten. Durch eine Verknüpfung von somatischen und psychotherapeutischen Therapieansätzen wurde

1.5 „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST)

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nun eine so genannte Rekonditionierung von motorischen, psychischen und sozialen Funktionen als behavioraler Ansatz angestrebt [3]. Eine erste ausgestaltete Umsetzung dieses funktionellen Defizitmodells für die Therapie von Rückenschmerzen erfolgte in den USA mit dem Konzept der Functional Restoration [17]. Das sehr intensive multimodale Programm enthielt medizinische Interventionen, Verhaltenstherapien und motorische Trainingseinheiten. Das erste multimodale Therapieprogramm in Deutschland wurde 1990 durch das GRIP initiiert. Diesem Impuls folgt inzwischen eine Vielzahl von Therapiezentren. So wurden 2001 das Rückenzentrum am Michel (Hamburg) und 2004 das Rückenzentrum am Markgrafenpark (Berlin) gegründet. In den aktuell 16 Jahren des Bestehens wurden sowohl im Bereich der multidisziplinären Therapie, im Bereich der Zusammenarbeit mit den Versicherungsträgern als auch in der Evaluation von Versorgungsmaßnahmen vielfältige Erfahrungen gesammelt. Begrifflichkeiten wie biopsychosoziales Krankheitsmodell, Multimodale Schmerztherapie und Interdisziplinarität bilden den Kern, der den Erfolg des Therapieansatzes ausmacht. Um dies zu verdeutlichen, sollen im Folgenden die Begriffe genauer umfasst werden.

1.5.1 Biopsychosoziales Krankheitsmodell Die MMST benötigt ein gemeinsames Modell, an dem sich die verschiedenen Behandler orientieren. Es sollte ein Modell sein, in dem sich die multimodal Therapierenden in ein interdisziplinäres Denken einfügen können. Diese Voraussetzung erfüllt das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Dabei steht bio für die körperlich-strukturellen Schäden und die Funktionsstörungen des Bewegungssystems. Wir können uns hier an einer großen diagnostischen Bandbreite an Verfahren bedienen, beispielsweise an einer Vielzahl bildgebender Verfahren. Die technischen Möglichkeiten sind exzellent und in der Regel standardisiert. Regelmäßig mangelt es aber an einer nachfolgenden salutogenetischen Bewertung der Bilder durch den behandelnden Arzt. Durch eine entängstigende Wortwahl an den Patienten kann er bereits an dieser Stelle maßgeblich zur Heilung beitragen. Denn die Bildgebung ist nur im Zusammenhang von Anamnese und klinischer Untersuchung sinnvoll. Das Erkennen von Funktionsstörungen ist manualtherapeutisch erlernbar. Deren schulenübergreifend einheitliche Benennung ist dagegen schwieriger. Seitens der Patienten und Ärzte ist der Zugang in unserer heutigen Gesellschaft akzeptiert. Ganz anders sieht es bei der Akzeptanz der seelischen Einflüsse auf das Schmerzerleben aus: Die gesellschaftliche Akzeptanz des psychischen Einflusses hat jahrzehntelang gedauert und ist dennoch nicht überall vollzogen. Gleichwohl ist diese Einflussgröße fester Bestandteil des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens beim chronischen Rückenschmerzpatienten. Zwingend notwendig sind beim „Psycho“-Anteil die grundsätzlich positive Einstellung und Offenheit aller Handeln-

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den gegenüber einer psychologischen Sichtweise. Doch aufgepasst: Mancherorts schwingt das Pendel in die entgegengesetzte Richtung mit der Gefahr der „Überpsychologisierung“. Oberflächlich betrachtet erscheint manchmal eine Erklärung für die Entstehung von Rückenschmerzen hauptsächlich im psychischen Bereich verführerisch einfach. Und wenn eine strukturell motivierte Intervention wie eine Operation nicht zu einem ausreichenden Therapieerfolg geführt hat, liegt die ursächliche Annahme manchmal „im Kopf“ der Patienten. Wichtig ist hierbei, sich bewusst zu machen, dass „Schmerzerleben“ in sich ein psychisches Erleben ist – immer und bei jedem Menschen. Erst die Verarbeitung einer Nozizeption führt zu der Qualität des als erträglich oder nicht erträglich erlebten Schmerzes. Belastungserleben fördert hier die emotional negative Färbung des Erlebten. Zentral ist hierbei, dass das Erleben der Patienten keine „Einbildung“ ist, sondern das Ergebnis komplexer, individueller Verarbeitungsprozesse. Hinzu kommt, dass in manchen Fällen eventuell weitere somatische Krankheitsursachen bislang übersehen oder falsch interpretiert wurden, dass Muskelschmerzen eventuell doch auf eine bislang nicht klar diagnostizierte Funktionsstörung wie beispielsweise die der Schilddrüse zurückzuführen sind. Im Fall fortbestehender Beschwerden ist daher immer ein erneutes interdisziplinäres Assessment anzuraten, um den Patienten neu biopsychosozial einzuschätzen. Das soziale Drittel dieses Krankheitsmodells unterzieht sich aktuell einem Wandel. Noch vor einigen Jahren bestand bei den Patienten oft der Wunsch nach einer frühzeitigen Berentung, nach der Bewilligung eines hohen Grades der Behinderung (GdB) und nach der gesellschaftlichen Akzeptanz ihres Leidens. Zweifelsfrei bestehen diese Wünsche auch noch heute. Gleichwohl zeigen sich sozialrechtlich neue Einflussfaktoren: Die moderne Arbeitswelt ruft eine neue Dimension der Arbeitsverdichtung auf: mediales Multitasking, Empowerment, Zeitverträge, leistungsbezogene Bezahlung, Reduktion der sozialen Sicherungssysteme, Mithalten in der Globalisierung. Eine Folge dieser Belastungen ist die Überforderung.

1.5.2 Die Definition der Kommission der DGSS „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST) Als Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie wird die gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassende Behandlung von Patienten mit chronifizierten Schmerzsyndromen bezeichnet, in die verschiedene somatische, körperlich übende, psychologisch übende und psychotherapeutische Verfahren nach vorgegebenem Behandlungsplan mit identischem, unter den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel eingebunden sind. Die Behandlung wird von einem Therapeutenteam aus Ärzten einer oder mehrerer Fachrichtungen, Psychologen bzw. Psychotherapeuten und weiteren Disziplinen wie Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Motortherapeuten und anderen in Kleingruppen von maximal

1.5 „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST)

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acht Patienten erbracht. Unter ärztlicher Leitung stehen die beteiligten Therapieformen und Disziplinen gleichberechtigt nebeneinander. Obligat ist eine gemeinsame Beurteilung des Behandlungsverlaufs innerhalb regelmäßiger vorgeplanter Teambesprechungen unter Einbindung aller Therapeuten. Zentrales Behandlungsziel ist die Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit (Functional Restoration) mit Steigerung der Kontrollfähigkeit und des Kompetenzgefühls der Betroffenen, die Vorgehensweise ist ressourcenorientiert [18, 19, 27].

1.5.3 Kennzeichen und Grundsätze Die Definition beschreibt die zentralen Elemente der MMST [20]:

1.5.3.1 Multimodalität Das biopsychosoziale Krankheitsmodell ist die philosophische Basis der MMST. Demnach wirken Rückenschmerzen auf den Ebenen Funktionen und Strukturen, Aktivität und gesellschaftliche Teilhabe sowie Kontextfaktoren. Ausschließlich eine vielfältige Auswahl der Therapiebausteine wird dieser Komplexität gerecht. Diese Verschiedenartigkeit von Modulen kann nur von unterschiedlichen therapeutischen Berufsgruppen gewährleistet werden.

1.5.3.2 Interdisziplinarität Das Ausgestalten der Interdisziplinarität ist der zentrale Punkt der MMST. Das Vorhandensein mehrerer Fachdisziplinen stellt zunächst lediglich eine Vielkomponententherapie mit Multiprofessionalität dar. Erst das räumliche und zeitliche Vernetzen der Disziplinen im Sinne einer gemeinsamen Arbeit an einem Problem (Patienten) bildet ein interdisziplinär arbeitendes Team. Sämtliche diagnostischen und therapeutischen Bausteine laufen integrativ und werden ständig aufeinander abgestimmt. Es dauert einige Jahre, bis ein Behandlerteam zusammengestellt ist und im Sinne der Interdisziplinarität funktioniert. Eine gemeinsame Sprache und Haltung – auch zu einzelnen Therapiearten wie beispielsweise Osteopathie oder peri-radikulären Infiltrationen – sind in der täglichen Arbeit zwingend notwendig. Auf der interaktionellen Ebene bedarf es einer hohen Offenheit und Reflexionsbereitschaft, und folglich ist nicht jeder Therapeut für das interdisziplinäre Arbeiten geeignet. Ein hohes Maß an Organisation und Struktur ist als tragfähiges Gerüst unumgänglich.

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1.5.3.3 Die geschlossene Patientengruppe Die Gruppenstärke sollte ca. acht Patienten betragen [9, 19]. Diese Gruppenstärke hat sich auch bei psychotherapeutischen Gruppenbehandlungen bewährt (Richtlinien zur Durchführung der Psychotherapie, Gemeinsamer Bundesausschuss 2009). Bei dieser Stärke befinden sich gruppendynamische Prozesse und ausreichende individualisierte Behandlungen in einem günstigen Gleichgewicht. Die Gruppen sollten des Weiteren geschlossen durchgeführt werden; d. h., die Gruppe beginnt und beendet die Therapie gemeinsam. Der Mensch lernt vom Menschen. Die Mitglieder der Gruppe begleiten einander durch diese körperlich, emotional und sozial anspruchsvolle Therapiezeit. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ganz unterschiedliche Menschen in einer geschlossenen Gruppe zu einer Gemeinschaft reifen und sich dadurch gegenseitig stützen. Und letztendlich stehen die Patienten der Gruppe den Therapeuten nicht allein gegenüber: „Die Therapeuten sind ein Team und wir sind es auch!“

1.5.3.4 Das multiprofessionelle Behandlerteam Im Wesentlichen sollte ein MMST-Team gemäß der Definition der Ad-hoc-Kommission der DGSS „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ aus folgenden Professionen bestehen: Ärzten, psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten, Physiotherapeuten und Motortherapeuten. Grundlegend ist die positive Einstellung des gesamten Teams gegenüber der MMST. In jedem einzelnen sollten ein heterarchisches Denken und wertschätzendes Miteinander verankert sein. Dies trifft auch für die ärztliche Behandlungsleitung zu, denn oft werden Ärzte in ihrer Ausbildung ausgeprägt hierarchisch sozialisiert. In zweiter Linie ist eine hochwertige Ausbildung des Therapeutenteams zentral; eine fortwährende Fort- und Weiterbildung geschieht im multidisziplinären Team, in der Teilnahme an dezentralen Schmerzkonferenzen und an Up-to-dateFortbildungscurricula. Die Förderung des gesamten Teams im Sinne einer fortdauernden fachlichen und persönlichen Weiterentwicklung ist eine zentrale Führungsaufgabe in diesem Sinne. Neben der Heterarchie sind die Kernkompetenzen jeder Profession klar definiert, auch wenn beispielsweise Physiotherapeuten tagtäglich verhaltenstherapieren und dabei ihre Kernkompetenzen im Sinne der MMST verlassen. Die Ärzte sind zentral in der Patientenführung und im Rahmen der biopsychosozialen Edukation der „Autoritätsfaktor“ für den Patienten. Die Physiotherapeuten und Sportwissenschaftler sind im Rahmen eines interdisziplinären Teams für das therapeutische Vorgehen und die Inhalte im funktions-, bewegungs- und sporttherapeutischen Bereich verantwortlich. Die Ärzte müssen dem Team die strukturellen Schäden beschreiben und vermitteln. Sie beurteilen die Bedeutung von Symptomen und stimmen den Einsatz von Infiltrationen und Medikamenten auf den Behandlungsverlauf unter Austausch mit den anderen Therapeuten des Teams ab. Die Psychotherapeuten diagnostizieren die psy-

1.5 „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST)

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chischen Komorbiditäten und vermitteln den Einfluss dieser auf den Therapieverlauf. Die Berücksichtigung der individuellen Schmerzverarbeitung, ihre Beeinflussung in Richtung einer konstruktiven Krankheitsverarbeitung unter Rückgriff auf die Erfahrungen im Bewegungsbereich sind zentrale Schwerpunkte. Andersherum ist es nicht die Aufgabe von Physiotherapeuten, MRT-Bilder zu beurteilen, nicht die Aufgabe von Ärzten, Patienten zu psychologisieren, und nicht die Aufgabe von Psychotherapeuten, physisch notwendige Belastungen der Patienten in Frage zu stellen: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“ Die Akzeptanz des Könnens der jeweiligen Berufsgruppe untereinander ist als Teil der Wertschätzung grundlegend und Basis für eine offene Kommunikation. Der berufspolitische Einfluss auf die personelle Zusammensetzung ist enorm. Nach bald zwei Jahrzehnten interdisziplinärer Therapie in den Rückenzentren haben wir folgende Erfahrungen gemacht: Schon bei der Suche nach der geeignetsten Facharztgruppe wird es schwierig: Orthopäden/Unfallchirurgen können ihre operative Erfahrung bei der Beurteilung von operierten oder fraglich zu operierenden Patientengruppen einfließen lassen. Darüber hinaus sind sie in der Behandlung des gesamten Bewegungssystems qualifiziert. Anästhesiologen verfügen meistens über weitreichende Kenntnisse der Schmerzmedikamente und speziellen Infiltrationstechniken. Die Fachärzte für Physikalische und Rehabilitative Medizin bringen als wesentlichen Bestandteil die Diagnostik und Behandlung spezieller Funktionsstörungen des Bewegungssystems mit. Als kooperierende Spezialisten außerhalb des interdisziplinären Teams sind Fachärzte aus dem Bereich der Neurologie, Radiologie und Neurochirurgie von besonderer Bedeutung. Die psychotherapeutischen Inhalte können grundsätzlich psychologische und ärztliche Psychotherapeuten übernehmen, Verhaltenstherapeuten, tiefenpsychologische Therapeuten und Systemiker. Psychotherapeuten mit einer fundierten Ausbildung in Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin und Verhaltensmodifikation bringen die Voraussetzungen mit, um die komplexen psychologischen, kognitiven und lerntheoretischen Hintergründe der Schmerz- und Krankheitsverarbeitung zu befunden, Konzepte zur günstigen Beeinflussung dieser zu entwickeln und zu vermitteln und komorbide psychische Störungen zu diagnostizieren und im Rahmen der Gesamttherapiekonzeption zu berücksichtigen. Psychotherapeuten erweitern als Spezialisten für psychologische Prozesse das Team in einer gleichzeitig klaren Abgrenzung der Kompetenzen gegenüber den im strukturellen Bereich tätigen Ärzten. Der bewegungstherapeutische Anteil wird von Physiotherapeuten (Manuelle Therapie) und Sporttherapeuten (Sportwissenschaften M. A. – Rehabilitation und Prävention) als gemeinsames Kleinteam gestaltet. In der klassischen Rehabilitation intervenieren diese Fachgruppen am Patienten ursprünglich mit einer gewissen Schnittmenge zeitlich nacheinander. Im Rahmen der MMST erfolgt diese Arbeit parallel. Nur so ist es möglich, sämtliche Sozialisationsebenen der motorischen Tätigkeit abzudecken. So können spezialisierte Physiotherapeuten körperliche Grundfunktionen stark differenzieren und entsprechend hochwertig versorgen. Die Sport-

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therapeuten fördern psycho- und sozialmotorische Handlungskompetenzen bis hin zur Beratung eigenverantwortlich durchführbarer Aktivitäten. Die Schnittmenge an Kompetenzen hängt von der Dauer der Zusammenarbeit ab, ist aber nicht bis zur Deckungsgleichheit anzustreben. Die Aufgabentrennung von Physio- und Sporttherapeuten ist ein klares Beispiel für die Notwendigkeit von Spezialisierung, um den Umfang komplexer Probleme überhaupt (be)greifen zu können. Obwohl beide Fachbereiche den Fokus auf ein System (das Bewegungssystem) legen, ist es für eine (Fach-)Person unwahrscheinlich, sich adäquates Wissen und Können anzueignen, um das gesamte System differenziert zu diagnostizieren und passende Interventionen steuern zu können.

1.5.4 Umfang der MMST Es besteht eine Abhängigkeit zwischen dem Chronifizierungsgrad und der notwendigen Dauer einer Therapie. Gemäß der vielzitierten Studie von Guzman sollte die Therapiedauer bei chronischen Rückenschmerzpatienten über 100 Stunden liegen [23]. Grundsätzlich ist hier die Erhebung weiterer wissenschaftlicher Daten notwendig, um diese Angabe zu untermauern. Dabei ist der enorme Zeitbedarf für medizinische, psychosomatische und sportphysiologische Veränderungsprozesse unstrittig. Aus Sicht der Autoren können dreiwöchige Programme mit 60–80 Therapiestunden bei subakuten Patienten mit leichter Dekonditionierung, guter Motivation und geringer sozialer Veränderungsnotwendigkeit ausreichend sein. Bei einem hohen Chronifizierungsgrad sind Programme unter vier Wochen und mit weniger als 100 Therapiestunden keinesfalls ausreichend.

1.5.5 Ambulant, teilstationär, stationär – Akutmedizin oder Rehabilitation? In den nationalen Versorgungsleitlinien Kreuzschmerz werden sowohl akutmedizinische als auch rehabilitative interdisziplinäre Therapien beschrieben [9]. In der tagesklinischen und stationären multimodalen Diagnostik und Therapie geht es um eine kausale Abklärung und Therapie des chronischen Schmerzes. Beides gehört somit in die akutmedizinische Versorgung. Die Rehabilitation hat den gesetzlichen Auftrag, Patienten mit Gesundheitsschädigungen wieder bei der Erlangung der Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen. Die medizinische Ursachendiagnostik und Behandlung gehören nicht in die Rehabilitation. Bei medizinischen Akutbehandlungen ist die ambulante Leistung der teil- oder vollstationären Krankenhausleistung vorzuziehen. Eine stationäre oder teilstationäre Behandlung ist immer dann indiziert, wenn das Behandlungsziel nicht durch ambulante Behandlungen erreicht werden kann (SGB V). Hier die sehr vereinfachte

1.5 „Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie“ (MMST)

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Darstellung der heutigen Versorgung: Es gibt keine gesetzlich geregelte ambulante Multimodale Schmerztherapie. Wenn diese grundsätzlich indiziert ist, d. h. eine komplexe multifaktorielle Schmerzerkrankung mit medizinischem Handlungsbedarf besteht, ist eine teilstationäre bzw. auch eine stationäre Schmerztherapie durchzuführen. In der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten gibt es keine wissenschaftlichen Belege, die die Durchführung einer ambulanten monomodalen Therapie unterstützen. Auch eine echte ambulante multimodale interdisziplinäre Therapie ist bisher nicht entwickelt und evaluiert worden. Insofern sind entsprechend der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz und der Sozialgesetzgebung bei Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungssystems in der Regel eine multimodale interdisziplinäre Schmerzdiagnostik und -therapie indiziert. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen teilstationärer und stationärer Multimodaler Schmerztherapie sind neben differentialtherapeutischen Überlegungen (Subgruppenbildung) mehrere Kriterien in Betracht zu ziehen (Tab. 1.1). Tab. 1.1: Kriterien für stationäre und teilstationäre MMST. Kriterium

Teilstationäre MMST

Stationäre MMST

Körperliche Belastbarkeit Psychische Belastbarkeit Körperliche Komorbiditäten Psychische Komorbiditäten Individueller Behandlungsbedarf Fahrwege Weiterer Differentialdiagnostikbedarf Gruppenfähigkeit

Hoch Hoch Gering Gering Gering Kurz Gering Hoch

Gering Gering Hoch Hoch Hoch Längere Anfahrt Hoch Gering

1.5.6 Wirksamkeit Bereits in den 90er Jahren hat eine Reihe hochwertiger Studien die Wirksamkeit der multimodalen interdisziplinären Therapie beschrieben [21, 22]. Insbesondere die Nachhaltigkeit in Bezug auf Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit ist inzwischen wiederholt belegt [23–26]. Folgerichtig werden in der aktuellen Nationalen Versorgungsleitlinie „Nicht-spezifischer [sic!] Kreuzschmerz“ [9] die multimodale und interdisziplinäre Rückenschmerztherapie empfohlen und weniger intensive Programme als nicht ausreichend wirksam identifiziert (s. a. Kap. 4).

1.5.7 Wunsch und Wirklichkeit, NVL und Realität Vor über 20 Jahren wurde die interdisziplinäre multimodale Rückenschmerztherapie in Deutschland erstmalig durchgeführt. Es wurde um die geeignetsten Therapiebau-

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steine und deren Zusammenspiel, die notwendigen Zeiträume sowie die Finanzierung gerungen. Wissenschaftliche Grundlagen wurden geliefert, Stundenpläne geschrieben und Therapeuten ausgebildet, neue Versorgungsstrukturen geschaffen und Verträge geschlossen. Viele Patienten wurden behandelt und die Ergebnisse publiziert. Und ja, die moderne Rückenmedizin funktioniert! Patienten bekamen eine höhere Lebensqualität, die Kostenträger sparten Geld und die Therapieteams genossen den beruflichen Erfolg. Doch wie sollte diese neue Versorgungsform möglichst vielen Patienten zugutekommen? Der Gesetzgeber schuf innovative Rahmenbedingungen und subventionierte die damals so genannten „Leuchttürme“ der Therapie. Plötzlich wurde die MMST finanziell attraktiv. Eine Reihe therapeutischer Pioniere machte sich auf. Die MMST hatte es geschafft: Sie genoss nun Akzeptanz und Attraktivität! Die Versorgungsrealität hat jedoch ihre eigene Dynamik. Der Gesundheitsmarkt brachte Konzepte hervor, die allein schon strukturell nicht geeignet waren, chronische Rückenschmerzpatienten zu behandeln. Plötzlich war alles „multimodal“. Der Begriff „MMST“ wurde inflationär benutzt. Leistungsanbieter, Verbände und Gesellschaften sicherten ihren Mitgliedern beispielsweise durch Exklusivverträge eine Honorierung der MMST und den Patienten Heilversprechungen wie Schmerzfreiheit zu. Das hielt jedoch der Qualitätssicherung oft nicht stand. Um die Wirksamkeit der verschiedenen Therapieanbieter zu sichern, wurden „Gesundheitspfade“ geschrieben, Anforderungslisten erstellt und Evaluationen gestartet. Als ein Ergebnis entstand 2010 die Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) [9]. In dem Bemühen, den therapeutischen Erfolg noch messbarer zu machen, wurden eine Vielzahl von Messinstrumenten geschaffen, Patienten-Therapeuten-Bögen von über 50 Seiten geschrieben und internetgestützte Evaluationsplattformen als Geschäftsmodell etabliert. Aus einer Notwendigkeit wurden mancherorts ausufernde Dokumentations- und Erfassungsmonster geschaffen. Die Evaluation der verschiedenen Krankenkassen und Versorgungsverbände wurde so umfassend, dass die Datenerfassung und -eingabe immer aufwändiger ausfielen und für deren wichtige Auswertung im klinischen Alltag wenig Zeit blieb. Eine aktuelle Aufgabe besteht darin, sinnvolle Qualitätssicherungsstandards sowohl für die Absicherung des Therapieerfolges als auch der Strukturqualität zu definieren, die im klinischen Alltag sinnvoll und zeiteffizient umgesetzt werden können. In den letzten Jahren erlebte Deutschland eine erhebliche Zunahme wirbelsäulenchirurgischer Operationen. Ohne hier in die Diskussion über deren Ursachen einsteigen zu wollen, lässt sich jedoch der intensive Wunsch nach einer qualitativen Aufwertung der konservativen Rückentherapie und damit auch der MMST erkennen, in der Hoffnung, Operationen vermeiden zu können. Darüber hinaus bekam das altbekannte Steuerungselement des „Interdisziplinären Assessments“ als Zweitmeinungsverfahren vor Wirbelsäulen-Operationen eine neue Bedeutung und Aufgabe. Nun wird von einem Team aus Fachärzten, Psychotherapeuten und Physiotherapeuten überprüft, ob es zur vorgeschlagenen Operation eine sinnvolle konservative Behandlungsalter-

Literatur

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native gibt. Des Weiteren wurde die stationäre MMST finanziell aufgewertet. In deren Folge sind eine Vielzahl von „Schmerzstationen“ in den Kliniken entstanden und entstehen auch weiterhin. Heute können wir eine beginnende Umsetzung der NVL in Diagnostik und Therapie beobachten. Ein Umdenken bei den klinisch Tätigen hat begonnen. Von einem Einzug dieser Empfehlungen in die breite Regelversorgung sind wir jedoch noch weit entfernt, denn es bleibt oft die Diskrepanz zwischen Empfehlung und Umsetzbarkeit in der täglichen Versorgung. Die Einführung von Qualitätsstandards ist zwingend notwendig. Von zentraler Bedeutung bleibt dabei die Ergebnisqualität vor der Strukturqualität. Denn am Ende zählt die gesunde Rückkehr der Patienten in ihren Alltag durch eine finanzierbare und funktionierende Therapie!

Literatur [1]

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Marion Heinrich

2 Interdisziplinäres Assessment Ziel des interdisziplinären Assessments ist es, die Symptomatik und die gegenwärtige Problemsituation des Patienten ganzheitlich zu erfassen und der Komplexität des individuellen Krankheitsbildes gerecht zu werden. Eine klinische Diagnose, die Planung eventuell notwendiger weiterer (apparativer) Diagnostik und die Erhebung der Befundlage für die weitere Therapieplanung sind konkrete Aufgaben des Assessments. Die Untersucher tragen ihre Ergebnisse zusammen, dabei geht es auch darum, abzuschätzen, inwieweit die geschilderten Beschwerden zu den erhobenen Befunden passen. Ein einzelner Diagnostiker ist kaum in der Lage, diese Komplexität zu erfassen und zu bewerten. Das interdisziplinäre Assessment ist deshalb ein wesentlicher Baustein in der Diagnostik und Voraussetzung für die Behandlung chronischer Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems. Die gründliche Befunderhebung ist außerdem als Ausgangspunkt für die Bewertung von Veränderungen im Behandlungsverlauf von zentraler Bedeutung. Das Team der Diagnostiker setzt sich zusammen aus einem: – Facharzt, – Psychologischen Psychotherapeuten¹, – Physiotherapeutischen Manualtherapeuten. Durchschnittlich benötigt jeder Diagnostiker eine Stunde Zeit. Abschließend erfolgt eine Teambesprechung von 20 Minuten. Die Patienten werden 45 Minuten vor Beginn des Assessments einbestellt, um den Deutschen Schmerzfragebogen (DSF, [1]) zu bearbeiten. Die in der Untersuchungssituation aktuell erhobenen Befunde werden den bisherigen – soweit vorliegend – gegenübergestellt. Die Erfassung führt dann in der Zusammenschau der Diagnostiker zu einer Behandlungsempfehlung (s. Kap. 2.5). Der Ablauf des Assessments bereitet die Behandlung vor. Die klinische Erfahrung zeigt die Relevanz dieses Assessments für die Behandlung. Patienten, die nicht dieses Assessment durchlaufen, aber dennoch am Programm teilnehmen, haben mehr Schwierigkeiten, die Struktur des Behandlungskonzeptes zu verstehen und zu akzeptieren. Insofern lässt sich das ausführliche Assessment, das mit einer detaillierten Darstellung des Programms endet, im erweiterten Sinne als eine kognitive Vorbereitung begreifen [2]. Die Erhebung von Informationen ist vorrangiges Ziel des Assessments. Neben der Informationserhebung besteht die wesentliche Aufgabe in der Herstellung einer konstruktiven Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten. Gespräch und Beziehung sind untrennbar miteinander verwoben. Jede Form der

1 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit anstelle Psychologischer Psychotherapeut die Berufsbezeichnung Psychologe verwendet. https://doi.org/10.1515/9783110546200-004

22 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Behandlung geschieht in Beziehung, und diese beginnt mit dem Erstkontakt. Welche Informationen relevant sind, wird bestimmt durch die spezifische behandlungsinhärente Beziehung und ist für jede Berufsgruppe unterschiedlich, weist aber auch Überschneidungen auf (Tab. 2.1). Der erste Kontakt ist geprägt von Rollenvorstellungen und Erwartungen. Dabei sind die Erwartungen von Patienten an den Arzt meist konkret, die Erwartungen an die Physio- und Sporttherapeuten abhängig von bisherigen Vorerfahrungen – in beiden Fällen ist der vordergründige Untersuchungsgegenstand die körperliche Symptomatik, die in aller Regel seitens des Patienten mit dem Schmerzerleben gleichgesetzt wird. Die Erwartungshaltung gegenüber Psychotherapeuten ist heterogen, oft diffus. Dies führt entweder zu Neugier, teils auch Freude, aber auch zu Verunsicherung. Patienten bringen bisherige Behandlungs- und damit auch Beziehungserfahrungen mit. Dies gilt ebenso für Ärzte und Therapeuten, deren spezifische Fachrichtung, Einstellungen und Erfahrungen die Art der Interaktion, die Problemanalyse und letztlich die Entscheidung über das weitere Vorgehen bestimmen [3]. Nicht wenige Patienten haben die Erfahrung gemacht, dass das Bejahen einer vom Arzt frühzeitig gestellten Frage nach Stress dazu führte, dass keine weitere medizinische Diagnostik stattfand. Die Schmerzproblematik wurde dementsprechend „auf Stress“ reduziert, und die Patienten fühlten sich nicht mehr ernst genommen. Insofern kann das Erfüllen der Erwartung nach einer gründlichen körperlichen Untersuchung durch den Arzt und Physiotherapeuten das Vertrauen und eine positive Behandlungserwartung erhöhen. Alle drei Diagnostiker erheben eine Anamnese mit einer fachspezifischen Akzentuierung und sozialmedizinischen Einschätzung. Der Arzt bespricht und bewertet die vom Patienten mitgebrachten Befunde. Er untersucht neurologisch-orthopädisch und schließt Red Flags, relevante Komorbiditäten und relevante behandlungsbedürftige Pathomorphologien aus. Der Physiotherapeut untersucht funktionell und gibt eine Einschätzung bezüglich der Belastungsfähigkeit ab. Im psychologischen Erstgespräch geht es um das kognitive, affektive und verhaltensbezogene Bewältigungsverhalten und um den Kontext, in dem der von Schmerz betroffene Mensch agiert.

Arbeitshypothesen zu Funktionsstörungen und beteiligten Strukturen unter dem Behandlungsaspekt Fokussierung auf „Hauptschmerz“ diffus – klar lokalisierbar?

Funktionelle Beschreibung/Einschränkungen Belastbarkeit für die Gruppe

Einstieg ins Gespräch Vermittlung von Kompetenz

Psychische Komorbidität Krankheitskonzept Motivation/Zielklärung

Psychologe

Hinweise auf eine nozizeptive Sensibilisierung durch vorhergegangene Episoden Prognose

Trauma? Zusammenhang zu psychosozialen Faktoren wird erfragt, Ganzheitlichkeit und Interdisziplinarität werden dabei sichtbar

Positionswechsel Ausweichbewegungen Bewältigungsverhalten des Pat. (Medikamente, Positionswechsel, …)

Schmerzverlauf Aktuelle Episode, frühere Episoden

Ursachen und Auslöser

Schmerzverstärkung/Linderung

Positionswechsel Ausweichbewegungen – Arbeitshypothesen bilden/ überprüfen

Auffälligkeiten (z. B. Muskelanspannungen) bestimmen die Nachfrage

Fokus liegt auf aktueller Situation, Erfragung bei konkretem Verdacht SZ im Tagesverlauf

Psychische Mitbeteiligung – Beeinflussung über Stress, Stimmung

Krankheitskonzept des Patienten Ursachenannahmen In Beziehung setzen zu Informationen des Patienten

Bisherige Schmerzerfahrungen und Einfluss auf die Biographie Bewältigungserfahrungen Ressourcen

Diagnostischer Hinweis: sensorisch-affektive Beschreibung Schmerzintensität (NRS) und Verhalten in der Untersuchungssituation

Lokalisation am Körper Ausstrahlender Schmerz (radikulär/pseudoradikulär) Wertigkeit RS oder Beinschmerz? Weitere Schmerzen? Diffus – klar lokalisierbar?

Schmerzort

Schmerzqualität Schmerzstärke

Physiotherapeut Beziehungsaufbau Verdeutlichung des interdisziplinären Ansatzes

Ausschluss spezif. schwerer Erkrankungen (Red Flags)

Arzt

Berufsspezifische Aufgabe

Allgemeine Aufgabe

Aufgabe

Tab. 2.1: Aufgaben und Inhalte des Erstgesprächs: Alle fragen das Gleiche?

2 Interdisziplinäres Assessment |

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Aufklärung, ggf. auch Erklärung des MRT-Befundes

Psychische und physische Belastungen am Arbeitsplatz, Gehstrecke

Sozialmedizinische Situation AU-Dauer, GdB Arbeitssituation → Vermittlung des ganzheitlichen Ansatzes

Befundbesprechung

Einschränkung im Alltag /Arbeitssituation

Arbeitsfähigkeit

Gehstrecke, besondere Belastungen Zwangshaltungen, die im Alltag auf der Arbeit gebraucht werden (mit Blick auf die Behandlung)

Aufklärung über Muskulatur und Funktion, Hinweise auf Ansatzpunkte für Behandlung (nicht: auffälliger Befunde)

Fokus auf die bisherigen physiotherapeutischen und bewegungstherapeutischen Behandlungen, passiv – aktiv?

Physiotherapeut

Passt die Behandlungserwartung zur Behandlung?

Welche Diagnostik ist erfolgt Welche bisherige Behandlung? Wie effektiv? Bisherige Rehas, welchen Effekt? Passive oder aktive Behandlungen?

Bisherige Behandlung

Behandlungserwartung

Arzt

Aufgabe

Tab. 2.1: (fortgesetzt)

AU-Dauer, vorherige AU-Zeiten Exploration der Arbeitssituation und -zufriedenheit (s. 2.3)

Vermeidungsverhalten, Schonhaltung Durchhaltestrategien Rückzug, Konzentration, Regenerationsund Erholungsfähigkeit

Rückversicherung, was hat der Patient bislang verstanden; sein Krankheitsmodell und Schlussfolgerungen, die er daraus zieht

Welche Behandlungen haben welche Bedeutung für den Patienten? Reha-Aufenthalte auch aus anderen Gründen? Was hat geholfen? Was wurde als problematisch erlebt? Welche Behandlung ist aus Sicht des Patienten nötig?

Psychologe

24 | 2 Interdisziplinäres Assessment

2.1 „Drei Therapeuten, drei Meinungen?“ – Ein exemplarisches Assessment |

25

Katja Witter, Maximilian Redlich und Marion Heinrich

2.1 „Drei Therapeuten, drei Meinungen?“ – Ein exemplarisches Assessment Im Folgenden wird ein Assessment beispielhaft vorgestellt. Dabei werden lediglich die Besonderheiten aufgeführt.

2.1.1 Ärztliche Anamnese Der 48-jährige Herr A. berichtet über Schmerzen im unteren Rücken mit Ausstrahlung in das rechte Bein seit sieben Wochen, aktuell mit deutlicher Verstärkung. Rückenschmerzen bestünden grundsätzlich seit vielen Jahren. Zuletzt suchte er drei Rettungsstellen auf. Sein behandelnder Orthopäde sprach von einem schlimmen Bandscheibenvorfall und riet ihm zu einer nichtoperativen Therapie („Da musst du dich jetzt durchbeißen.“). Ein zweiter Orthopäde riet ebenfalls von einer Operation ab. Die bisher durchgeführten konservativen Therapien (Cortisonstoßtherapie, Physiotherapie nach McKenzie, Pilates, Aquasport, PRT (periradikuläre Therapie/Infiltration)) erbrachten keine anhaltende Beschwerdelinderung. Nach der Cortisonstoßtherapie konnte der Patient jedoch wieder Sport machen und erhöhte die Trainingsfrequenz von einmal auf dreimal täglich, „da man ja immer höre, Sport helfe bei Rückenproblemen“. Nach der PRT war der Beinschmerz zu 60–70 % für einen Tag gelindert. Eine medikamentöse Schmerztherapie mit Oxycodon und Ibuprofen wirkt aus Sicht des Patienten unzureichend. Aktuell bestünden zusätzlich eine Schwindelsymptomatik sowie ausgeprägte Schlafstörungen, und vor kurzem erlitt er einen Hörsturz.

2.1.1.1 Auszüge aus der neuroorthopädischen Untersuchung Unkoordiniertes rechts-hinkendes Gangbild mit problemlos zu demonstrierendem Fersengang, Absinktendenz beim Zehengang rechts, unsicherem Einbeinstand rechts. Die Fußsenkerkraft ist rechtsseitig mit Kraftgrad 4/5 gemindert, rechtsseitige Hypästhesie der lateralen Fußkante, Achillessehnenreflex rechts abgeschwächt, Lasègue rechts bei 40 Grad positiv und positiver Slump-Test. Zusammenfassend zeigt sich in der ärztlichen Diagnostik eine akute Exazerbation eines chronischen Rückenschmerzes. In der Untersuchung ergeben sich klinische Hinweise auf eine Radikulopathie, welche trotz intensiver Behandlungen keine adäquate Beschwerdelinderung erfährt. Hinzu kommen Schwindel, Hörsturz und Schlafstörungen, die auf ein multifaktorielles Schmerzgeschehen hinweisen.

26 | 2 Interdisziplinäres Assessment

2.1.2 Physiotherapeutische Anamnese Der Patient gibt an, dass die Beschwerden „wahrscheinlich durch eine Summation der Reize“ (Trennung von der Partnerin) seit zehn Tagen mit deutlicher Schmerzverstärkung aufgetreten seien. Die manualtherapeutische Behandlung brachte nur einen kurzfristigen Effekt. Der Hauptschmerzort liegt im Bereich der rechten Gesäßhälfte. Hinzu kommt ein ausstrahlender Schmerz in das rechte Bein, welchen er als zuckend und krampfend beschreibt. In der Patient specific functional scale (PSFS) (Kap. 2.4.1), welche die Wahrnehmung der motorischen Beeinträchtigung im Alltag und Beruf beschreibt, nennt der Patient eine moderate motorische Beeinträchtigung. Zusammengefasst sind ihm Bewegungen, die ein „Einfalten“ erfordern, sehr unangenehm. Das Sitzen beim Kunden sei eingeschränkt, nicht alleine aufgrund der mechanischen Belastung, vielmehr werden hier auch Konzentrationsschwierigkeiten benannt. „Ich versuche, alles im Stehen zu machen oder in Bewegung, kaum setze ich mich hin, ist der Schmerz wieder da. Das mache ich dann auch nachts, wenn ich nicht liegen kann. Ich stehe auf, laufe hin und her, versuche etwas zu arbeiten. Ich bin total fertig und müde.“ „Womit können Sie Ihre Schmerzen lindern?“ „Keine Ahnung! Es hilft rein gar nichts, ab und zu nehme ich eine Ibuprofen ein. Naja, wenn ich nicht mehr sitzen kann, stehe ich eben auf.“ Der Patient wirkt im Gespräch unruhig und reizbar, steht ständig auf, läuft auf und ab. Es wird das Bewegungsverhalten erfragt: „Ich gehe normalerweise jeden Tag ins Fitnessstudio, mal mehr Kraft, mal mehr Cardio oder Kurse. Nach der Trennung von meiner Freundin bin ich sogar mehrmals täglich zum Sport gegangen. Ich glaube, das war einfach meine Art, das zu kompensieren, diesen Trennungsschmerz zu überwinden.“ Der Patient wirkt dabei eher selbstgefällig als deprimiert. Die Befragung nimmt viel Zeit in Anspruch, eine Strukturvorgabe durch den Therapeuten wird durch ausschweifende Erklärungen des Patienten erschwert. Als der Untersucher den Patienten bittet, sich freizumachen, reagiert der Patient genervt- aggressiv, fragt, warum das jetzt noch einmal erfolge, das habe doch gerade beim Arzt stattgefunden.

2.1.2.1 Auszüge aus der orientierenden physiotherapeutischen Untersuchung Mit 189 cm Größe und 86 kg ist der Patient schlank und groß. Im Stand lassen sich eine hyperlordotische Haltung und ein Beckenhochstand links beobachten. Das Gangbild zeigt ein Entlastungshinken rechts. Beim Gehen fällt eine Aufrichtung des Beckens und damit eine Entlordosierung der Lendenwirbelsäule auf.

2.1 „Drei Therapeuten, drei Meinungen?“ – Ein exemplarisches Assessment | 27

2.1.2.2 Auszüge aus der spezifischen physiotherapeutischen Untersuchung Es werden alle drei Bewegungsebenen der Lendenwirbelsäule untersucht, wobei die Flexion deutlich eingeschränkt und schmerzhaft ist. Der Finger-Boden-Abstand beträgt 54 cm. „Normalerweise komme ich bis zum Knie.“ Beim Bücken verstärkt sich der einschießende Schmerz, dies kann durch eine passive Flexion des rechten Kniegelenks vermindert werden. Bei der Untersuchung der Gleitfähigkeit des N. ischiadicus wird der Beinschmerz rechts beim Testen des SLR (Straight Leg Raise) auf der Höhe von 40 Grad angegeben. Zunehmend provoziert werden kann der Schmerz durch eine weitere Bewegung, die Innenrotation des Beines. Die Antwort ist klar und es ist unnötig, den Patienten weiter zu belasten. Auch beim SLUMP-Test kann eine Störung der neuronalen Gleitfähigkeit festgestellt werden, bei 45-Grad-Kniebeugung wird der Schmerz reproduziert, durch Hinzunahme der Flexion in der Halswirbelsäule kommt es zur Schmerzverstärkung. Bei den beiden Tests zur motorischen Kontrolle im Stand ist beim Heben der Arme ein Ausweichen in Extension zu beobachten. Beim Heben der Beine im Wechsel findet weder in Rotation noch in Extension ein Ausweichen statt, jedoch ist eine Unsicherheit in der Standfestigkeit des rechten Beines zu beobachten. Bei der Testung der lumbalen Kontrolle ist die Bewegung im Seitenvergleich im rechten Bein eingeschränkter, das setzt sich in Richtung Becken und Lendenwirbelsäule fort. Die Untersuchung ist für den Patienten sehr unangenehm, und er wirkt im Verlauf zunehmend unwilliger. Er bricht die Untersuchung in Bauchlage ab, da er „das nicht mehr aushalten kann“. Der Patient ist jetzt mit seiner Geduld am Ende und besteht auf einen Abbruch der Untersuchung, wobei diese jetzt ohnehin abgeschlossen ist. Das Verhältnis zwischen orientierender und körperlicher Untersuchung ist schlussendlich etwas unausgewogen. Zusammenfassend ist in der physiotherapeutischen Untersuchung eine schlechte Kontrolle der lumbalen Stabilität zu erkennen, zudem gibt es den klinischen Verdacht auf eine Radikulopathie aufgrund der positiven neurodynamischen Testung. Nicht zuletzt zeigt sich der Patient auffällig im Interaktionsverhalten (ausgeprägtes Schmerzempfinden, ausschweifende Redeführung).

2.1.3 Psychologische Untersuchung Herr A. zeigt ein ausgeprägtes verbales und nonverbales Schmerzverhalten. Deutlich wird ein hoher Leidensdruck, er wirkt fordernd und hilfebedürftig. Er möchte unbedingt am Programm teilnehmen („Ich mache ja alles“). Sein Verhalten mutet histrionisch (egozentrisch und theatralisch) an, er nimmt sich viel Raum. Herr A. erkennt für sich eine Schmerzmodulation durch psychologische Faktoren. Er sieht einen deutlichen Zusammenhang zu seiner letzten Partnerschaft. Er habe die Trennung und die

28 | 2 Interdisziplinäres Assessment

zahlreichen Konflikte im Vorfeld noch nicht verarbeitet. Seine Partnerin schildert er als emotional instabil, sie habe an ihm festgehalten, ihn aber ständig abgewertet. Sein Selbstwertgefühl habe er verloren. Trotz der Trennung melde sie sich immer noch bei ihm. Er komme trotz massiver Unzufriedenheit nicht von ihr los. Er wirkt übermüdet, angestrengt und gezeichnet. Die Stimmung sei gedrückt, die Arbeitsunfähigkeit führe zu erheblichen finanziellen Ängsten. Er könne nicht mehr Auto fahren, was er aber zur Berufsausübung dringend brauche. Auf Ebene der motorisch-verhaltensmäßigen bzw. kognitiven Schmerzverarbeitung bestehen Hinweise auf Schonverhalten, Bewegungsangst und Belastungsvorsicht einhergehend mit einer erheblichen auch iatrogen bedingten Verunsicherung. Schmerzauslösende Haltungen (u. a. Sitzen, Bücken) werden vermieden. Darüber hinaus werden eine Katastrophisierungstendenz und ausgeprägte Schmerzfokussierung bei Hinweisen auf eine hypochondrische Körperwahrnehmung mit Grübelzwängen deutlich. Das Sportverhalten ist bei hohem zeitlichen Aufwand auf die Vermeidung angst- und schmerzauslösender Bewegungen ausgerichtet. Herr A. lebt alleine in einer Mietwohnung, stabile soziale Kontakte sind vorhanden. Er ist Ökonom und als Unternehmensberater selbstständig. Er arbeitet überwiegend für einen festen Kunden, unterliegt dort einem hohen Leistungsdruck. Er sei arbeitszufrieden. Seit Beginn der Schmerzen vor sieben Wochen ist er arbeitsunfähig.

2.1.3.1 Psychischer Befund Freundlich-zugewandtes Interaktionsverhalten, dabei weitschweifige Problemschilderung. Herr A. ist bewusstseinsklar, voll und allseits orientiert bei subjektiv berichteter herabgesetzter Konzentration und Merkfähigkeit. Die Stimmung ist deprimiert bei gesteigertem Antrieb und angespannter Psychomotorik. Die vegetativen Funktionen sind durch ausgeprägte Schlafstörungen und Tagesmüdigkeit beeinträchtigt. An Reaktionsbildungen bestehen Krankheitsbefürchtungen. Keine Hinweise auf Sinnestäuschungen oder Wahnbildungen. Suizidalität wird glaubhaft verneint. Zusammenfassend zeigt sich ein ausgeprägt dysfunktionales Schmerzverhalten mit erhöhter Ängstlichkeit und einer depressiven Stimmungslage bei einer akzentuierten Persönlichkeitsstruktur.

2.1.4 Diagnosen – –

psychische und Verhaltensfaktoren mit Einfluss auf das Schmerzgeschehen (F54), chronifizierungsgefährdete Lumboischialgie rechts (Mischbild aus S1- und Iliosakralgelenk-Reizung) mit senso-motorischer Defizitsymptomatik bei funktioneller Instabilität und Bandscheibenvorfall L5/S1 rechts mediolateral (G55.1) (M99.03), (M51.1),

2.1 „Drei Therapeuten, drei Meinungen?“ – Ein exemplarisches Assessment | 29

– –

muskuläre Dysbalance der Lenden-Becken-Hüftregion mit Rumpfmuskulaturinsuffizienz insbesondere des tiefen stabilisierenden Systems (M62.99), Ein- und Durchschlafstörung (F51.0).

2.1.5 Fallkonzeption Das Störungsmodell des Patienten sieht neben dem „schlimmen Bandscheibenvorfall, der auf den Nerv drückt“, eine deutliche psychosoziale Mitbeteiligung. Der Patient befindet sich in psychoanalytischer Behandlung. Die Veränderungserwartung erfolgt jedoch getrennt: Für die psychische Befindlichkeit ist der behandelnde Psychotherapeut zuständig, für die Durchführung der PRT der extern behandelnde Orthopäde, für die körperliche Funktionsfähigkeit unsere Einrichtung. Auch ist das Störungsmodell begrenzt auf die Verursachung, nicht auf die Aufrechterhaltung. Die Veränderung wird an die jeweiligen Behandler delegiert. Das Erklärungs- und Veränderungsmodell der interdisziplinär arbeitenden Kollegen sieht auf der somatischen Ebene die Radikulopathie und die funktionellen Befunde der lumbosacralen Übergangsregion als schmerzrelevante Befunde an. Bei ausschließlich aktivitätsorientiertem Copingverhalten über Sport kommt es zu einer erheblichen Schmerzverstärkung, die dann zur psychophysischen Dekompensation, zum Kontrollverlusterleben und zur Katastrophisierung führt. Die Bewegungsangst bezüglich bestimmter Bewegungen und Körperhaltungen zieht ein Vermeidungsverhalten (u. a. Vermeiden von Sitzen und Liegen) nach sich, welches kurzfristig den Schmerz und die Angst reduziert, mittel- und langfristig über das Fehlen von Ruhe und Entspannung – aber auch über das Fehlen von adäquaten Trainingsund Bewegungsreizen – zur Aufrechterhaltung der Schmerzproblematik beiträgt. Die konflikthafte Partnerschaft bewirkt ein bereits seit mehreren Jahren bestehendes hohes Anspannungsniveau. Es liegt die Vermutung nahe, dass die sportliche Aktivität auch motiviert ist von einer erheblichen Definition des Selbstwertes über Aussehen und körperliche Attraktivität. Aus den Einschätzungen der Diagnostiker lassen sich Hinweise für die Beziehungsgestaltung ableiten. Die vielen Fragen zeigen eine hohe Unsicherheit. Herr A. möchte Zuwendung und Hilfe. Übergeordnet gewinnt er durch sein Nachfragen Kontrolle über den Ablauf der Untersuchung. Auch sucht er bei verschiedenen Behandlern Hilfe. Die empfohlene PRT-Behandlung möchte er bei seinem bisherigen Behandler weiter durchführen. Dieses Interaktionsverhalten weist auf einen motivationalen Konflikt zwischen Autonomie und Wunsch nach Beziehung und Fürsorge hin. Das Schmerzerleben ermöglicht es ihm, beides zu realisieren. Für die Behandlung ergeben sich hieraus folgende Ansatzpunkte: Im Vorfeld der Behandlung könnte bei noch bestehender Radikulopathie eine erneute PRT durchgeführt werden.

30 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Eine manualtherapeutische Intervention vor Beginn der tagesklinischen Behandlung sollte mit zwei wesentlichen Zielstellungen durchgeführt werden: 1. Im Rahmen der Verbesserung der Nervengleitfähigkeit (Neuromobilisation Nervenwurzel S1), 2. Aufarbeitung/Erlernen der Selbstmobilisation des lumbosakralen Übergangs. In der tagesklinischen Behandlung liegt ein funktioneller Schwerpunkt auf der Verbesserung der Stabilisation der Lenden-Becken-Hüft-Region (Tiefenstabilisation). Trainingsprinzipien und eine sinnvolle Trainingsgestaltung mit den notwendigen Komponenten (Kraft, Ausdauer, Koordination) sollten vermittelt werden. Hinsichtlich der Katastrophisierungskognitionen geht es einerseits um Wissensvermittlung, andererseits auch um Konfrontation mit dem bisherigen Vermeidungsverhalten bezüglich angstauslösender Bewegungsmuster in den Sport- und Bewegungseinheiten. Ziel ist es, durch Wissen und Erfahrung dysfunktionale Kognitionen zu überprüfen und zu korrigieren. Herr A. zeigt ein bei großer Angst und geringem Selbstvertrauen ausgeprägtes Sicherungsverhalten, ausgedrückt durch die Forderung nach Behandlung und Erklärung. Auf einer übergeordneten Ebene sollte deshalb ein alternatives Bewältigungskonzept etabliert werden, welches weniger auf Kontrolle als vielmehr auf Akzeptanz zumindest momentan nicht veränderbarer Zustände und Unsicherheiten ausgerichtet ist. Dazu gehört auch das Erlernen einer Entspannungstechnik. Die Regeneration könnte durch eine antidepressive Medikation, die schlafanstoßend wirkt, unterstützt werden. In der Exploration des Bewegungsverhaltens wurde offensichtlich, dass die Sportberatung im Falle einer Teilnahme an der Tagesklinik ein wichtiger Bestandteil sein wird. Der zeitliche Aufwand der bisherigen sportlichen Aktivitäten steht in keinem effektiven Verhältnis zum Nutzen. Aus der Fallkonzeption wird deutlich, dass Herr A. eine Chance hat, von einer strukturierten multimodalen tagesklinischen Behandlung zu profitieren. Die Behandlung könnte erschwert werden durch die disparate Zielsetzung zwischen Patient und Behandler, durch die herausfordernde Beziehungsgestaltung und die motivationale Konfliktsituation in der aktuellen Lebenssituation zwischen Kontrolle und Wunsch nach Fürsorge. Deren Bearbeitung könnte den Behandlungsrahmen deutlich übersteigen. Gemeinsam entscheiden die Kollegen, den Patienten in eine 4-wöchige Multimodale Schmerztherapie (MMST) aufzunehmen, mit dem Patienten aber eine Probewoche zu vereinbaren.

2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik | 31

Maximilian Redlich und Kay Niemier

2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik Die zentralen Bestandteile der ärztlichen Diagnostik sind die Anamnese und der klinische Befund. Auf dieser Grundlage können notwendige weitere apparative diagnostische Maßnahmen veranlasst oder die schon mitgebrachten apparativen Befunde bewertet werden. Im Rahmen der multimodalen interdisziplinären Diagnostik haben einzelne Berufsgruppen spezielle diagnostische Aufgaben, deren Bereiche sich zum Teil überlappen (Tab. 2.1). Zentrale Aufgaben der ärztlichen Diagnostik bestehen in der: – Erhebung von klinischen Hinweisen auf potenziell pathomorphologische Befunde – klinische Hinweise auf potenziell gefährliche Erkrankungen [4]: Red Flags, Alter < 20 oder > 50 Jahre, Persistenz oder Zunahme der Beschwerden trotz adäquater Therapie, Fieber, ausgeprägte Paresen ≤ 3/5 nach Janda oder im Verlauf zunehmend, Cauda-Syndrom (Blasen-Mastdarm-Störungen), bekannte tumoröse oder rheumatische Erkrankungen, Immunsuppression, i. v.-Drogenabusus, Osteoporose, systematische Steroidmedikation, schlechter Allgemeinzustand, – klinische Hinweise auf pathomorphologische Befunde, die einer spezifischen Therapie bedürfen (z. B. Hüft-TEP bei Coxarthrose), – klinische Hinweise auf pathomorphologische Befunde, die ggf. im Rahmen einer multimodalen Therapie einer spezifischen Therapie bedürfen (z. B. Wurzelreizsyndrom bei Bandscheibenvorfall – PRT), – Einordnung von pathomorphologischen Befunden als irrelevant für die Schmerzsymptomatik. – Erhebung von funktionellen Befunden (Überlappung mit, ggf. Delegation an den Physiotherapeuten) zur Planung/Empfehlung der funktionellen Therapie – Erhebung sekundärer schmerzhafter Befunde (z. B. Triggerpunkte), – Erhebung primärer Funktionsstörungen (z. B. Insuffizienz der Haltungs- und Bewegungsstabilisation), – Bewertung der funktionellen Befunde in ihrer aktuellen Relevanz und im Therapieverlauf. – Wertung der erhobenen Befunde in Beziehung zum Krankheitserleben des Patienten – Befundlage und Krankheitserleben stimmen überein (Kongruenz, pathomorphologische und funktionelle Befunde sind verantwortlich für das Krankheitsbild), – Befundlage und Krankheitserleben stimmen teilweise überein (partielle Kongruenz, pathomorphologische und funktionelle Befunde erklären das Krank-

32 | 2 Interdisziplinäres Assessment



heitsbild nur partiell, andere Einflussfaktoren sind für die Pathogenese und die Therapie relevant), – völlige Diskrepanz zwischen Befundlage und Krankheitserleben (es liegen keine/minimale pathomorphologische Befunde vor, oder die vorliegenden Befunde sind nach Bewertung irrelevant für das Krankheitsbild. Andere Einflussfaktoren sind für die Pathogenese und Therapie entscheidend). Erhebung/Ausschluss von relevanten therapiebeeinflussenden Komorbiditäten (z. B. schwere kardiopulmonale Erkrankungen mit Verminderung der Belastbarkeit/Trainierbarkeit)

2.2.1 Ärztliche Anamnese Gerade bei Patienten mit langjährigen Schmerzerkrankungen und vielfältigen therapeutischen Vorerfahrungen erfordert die Anamneseerhebung viel Geschick und Können. Die Anamnese trägt zum Aufbau der Arzt-Patienten-Beziehung bei und gibt dem Patienten Raum, seine Leidensgeschichte darzustellen sowie Frustration abzubauen. Dem Arzt wiederum bietet sie die Möglichkeit, vielfältige verbale und nonverbale Informationen zu sammeln. Um einem Patienten die Gelegenheit einer umfassenden Darstellung seiner Krankheitsgeschichte und seines Krankheitserlebens zu geben, braucht es Zeit, eine ruhige, geschützte Atmosphäre sowie eine professionelle empathische Gesprächsführung durch den Arzt. Grundsätzlich kann die Anamnese in einen strukturierten und einen unstrukturierten Teil differenziert werden. Begonnen wird mit der unstrukturierten Anamnese mit offenen Fragen (z. B. Was führt Sie zu uns? Wie kann ich Ihnen helfen?). Die Gesprächsstrategie ist gekennzeichnet durch aktives Zuhören und eine empathische Haltung [5, 6]. Beim aktiven Zuhören wendet der Arzt dem Patienten seine volle Aufmerksamkeit zu, idealerweise unterbleibt der Blick in den PC. Wichtige Informationen werden zur Verständnisverbesserung wiederholt. In diesem Teil der Anamnese erfährt man je nach Auskunftsbereitschaft des Patienten viel über das Krankheitsverständnis des Patienten, seine bisherigen Behandlungserfahrungen und seinen Lebenskontext. Im strukturierten Teil der Anamnese werden Daten abgefragt. Diese Datenabfrage hat mehrere Zielstellungen: – detaillierte Erfassung des Schmerzerlebens: Abfrage von Schmerzstärke, Schmerzcharakter, Schmerzdynamik etc., – Ausschluss von Red Flags und/oder relevanten Pathomorphologien: Abfrage von neurologischen Symptomen, spezifische Krankheitsabfragen (z. B. Nachtschmerz bei Spondylarthropathien), – Erhebung von Komorbiditäten (zur Einschätzung der Belastbarkeit und Erhebung von Hinweisen auf Somatisierungstendenzen, z. B. wiederholte Laparaskopien bei unklaren Bauchschmerzen),

2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik | 33

– –

– – – –

– –

Medikamente: Analgetika, andere Medikamente, explosive Mischungen (z. B. ASS, Prednisolon, Diclofenac), Polypharmazie (mehr als fünf Wirkstoffe/d), Erfassung von Vorbehandlungen und deren Wirksamkeit: Präferenzen des Patienten, Wirksamkeit bisheriger Behandlungen. Erfolglose Vorbehandlungen rechtfertigen eine Begründung für multimodale Diagnostik und Therapie, Erfassung der autonomen Regulationsfähigkeit: Schmerzregulation, funktionelle Störungen, soziale Aspekte: Belastungsfaktoren, Kontraindikationen MMST, psychische Aspekte: Selbsteinschätzung des Patienten über deren Relevanz – Krankheitsbild, körperliche Aktivitäten im Alltag des Patienten: keine Bewegung, dysfunktionale Verhaltensweisen, Fehlbelastung im Sinne von Überforderung (Marathon, Triathlon) etc., Substanzgebrauch: Alkohol, Nikotin, Drogen, Allergien: Vermeidung von Komplikationen, multiple Allergien (Polychemical Intoleranz als Hinweis für Somatisierung).

Der Schmerz ist das zentrale Anliegen des Patienten, und ein unzureichendes Interesse des Arztes am Schmerz hat einen Einfluss auf die Arzt-Patienten-Beziehung. Viele Daten der strukturierten Schmerzanamnese werden im Deutschen Schmerzfragebogen (DSF) abgefragt. Der vom Patienten im Vorfeld ausgefüllte Fragebogen kann helfen, das Gespräch zu strukturieren und klärende sowie vertiefende Fragen zu stellen. Eine geschickte Einbindung des Schmerzfragbogens in eine digitale Dokumentation erleichtert das Schreiben von Berichten (Tab. 2.2). Im Ergebnis der Anamnese steht ein umfassendes Wissen über die Beschwerden des Patienten, das Krankheitsverständnis des Patienten, relevante Komorbiditäten, Vorbehandlungen, und es ergeben sich Hinweise auf dessen Beziehungsgestaltung. Wichtige Hinweise auf relevante Pathologien werden in die nachfolgende klinische Untersuchung einbezogen.

2.2.2 Ärztlicher Befund In den Tageskliniken der Rückenzentren werden primär chronische und chronifizierungsgefährdete Schmerzsyndrome des Bewegungssystems behandelt. Insofern liegt ein wesentlicher Schwerpunkt der klinischen Diagnostik in der Untersuchung des Bewegungssystems. Ein allgemeiner ärztlicher Status dient dem Ausschluss von relevanten leistungseinschränkenden Komorbiditäten mit Einfluss auf die Therapieentscheidung. Im Folgenden wird die neuroorthopädische Befunderhebung besprochen. Für eine genaue Beschreibung von einzelnen Tests und deren Auswertung wird auf die entsprechende orthopädische Fachliteratur verwiesen.

34 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Tab. 2.2: Spezielle Schmerzanamnese. Frage

Messskala DSF (Deutscher Schmerzfragebogen)

Schmerzlokalisation/ Schmerzausbreitung

Schmerzzeichnung

– Hinweise für einen potenziellen funktionellen und/oder pathomorpholgischen Zusammenhang – Mono- oder multilokulärer Schmerz (Hinweise für Chronifizierung, Schmerzregulationsfähigkeit)

Schmerzstärke/ Schmerzdynamik

NRS/ Schmerzdynamikkurven

– Hohe Schmerzstärken und wenig Schmerzmodulation = schlechte Prognose und ggf. emotionale Schmerzkomponente – Hinweis für Chronifizierung – Kurze Attacken – Frage Neuropathie

Schmerzdauer

Aktueller Schmerz/ langfristiger Schmerz

– Chronifizierung – Rezidivneigung

Schmerzcharakter

SBL (Schmerzbeschreibungsliste)

– Emotionale Schmerzbeschreibung – Sensorische Schmerzbeschreibung – Hinweise auf spezifische Schmerzmechanismen (z. B. Neuropathie)

Vorbehandlungen (allgemein)

Abfrage im DSF mit Erfolgsbewertung

– Krankheitsverständnis Patient (durch Auswahl Ärzte, Therapeuten, aktiv/passiv und Bewertung) – Prognose – Darstellung für Indikation zur MMST (MDK-Prüfungen) – Therapiegestaltung

Vorbehandlung Analgetika

Medikamentenabfrage DSF Wichtig: Dauer der Einnahme, Dosierungen, Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung etc. müssen zur Beurteilung der Effektivität abgefragt werden

– Chronifizierung – Potenzielle Gefährdung – Abhängigkeiten – Medikamenteninduzierte Schmerzen – Einstellung Patient gegenüber Analgetika – Wurde bisher eine an Mechanismen orientierte analgetische Therapie durchgeführt?

Vorbehandlungen (Operationen)

Abfrage DSF

– Chronifizierung – Krankheitsverständnis Patient – Wirksamkeit/Unwirksamkeit der OPs – Therapieplanung – Prognose

Vorbehandlungen MMST

Aussagen (beispielhaft)

– Was weiß der Patient? – Was hat er umgesetzt? – Indikation zur weiteren MMST gegeben? – kritische Wertung notwendig!

2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik |

35

Wesentliche Zielstellungen der Untersuchung sind: – Erhebung und Wertung von Befunden, ggf. Anforderung von weiterer apparativer Diagnostik, – Abgleich der klinischen Befunde mit der (meist) vorhandenen Bildgebung, – Abgleich der klinischen Befunde mit der Beschwerdesymptomatik, – Grundlage für die Verlaufsbeurteilung (Beschwerden und klinische Befunde. Eine sorgfältige körperliche Untersuchung ist darüber hinaus wichtig und hilfreich für eine positive Arzt-Patient-Beziehung. Bei der Untersuchung sollte sich der Patient wohlfühlen. Da die Untersuchung in Unterhose bzw. in BH und Slip erfolgt („Keine Diagnose durch die Hose!“), sollte der Raum ausreichend warm sein. Der Patient sollte auf die Untersuchung vorbereitet, bestimmte Untersuchungsschritte sollten angekündigt („Ich fass‘ jetzt mal auf Ihr Becken!“) und gegebenenfalls eine Arzthelferin anwesend sein. Ein empathischer und respektvoller Umgang mit dem Patienten gilt darüber hinaus als selbstverständlich. Das Bewegungssystem hat zwei zentrale Aufgaben: die der Haltung und die der Bewegung. Durch die Untersuchung von Haltung und Bewegung lassen sich Rückschlüsse auf relevante regionale Störungen ziehen und in den auffälligen Regionen gezielt nachuntersuchen. Das erspart Anstrengung und Zeit für den Arzt sowie Patienten. Zusätzlich hat es sich bewährt, besonders störungsanfällige Regionen (Tab. 2.3) genauer zu untersuchen. Eine Untersuchungsroutine in bestimmter Reihenfolge macht es dem Arzt leichter, keinen Untersuchungsschritt zu vergessen und sich die erhobenen Befunde für die spätere Dokumentation zu merken oder strukturiert der Arzthelferin zu diktieren. Aus Gründen der Zeitökonomie sollten möglichst wenig Lagewechsel durchgeführt werden. Eine gängige Untersuchungsreihenfolge ist: – Stand/Gang, – Sitz, – Rückenlage, – Seitlage, – Bauchlage. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Untersuchung bestimmter Wirbelsäulenabschnitte, Gelenke oder Organsysteme in mehreren Haltungspositionen erfolgt. Im Stand werden Aussagen zur Statik, Haltung, Beweglichkeit der Wirbelsäule und Qualität von Bewegungsmustern getroffen. Deutliche Abweichungen der Wirbelsäule (Hyperlordose, Hyperkyphose, Flachstellungen, Skoliosen) oder des Beckens (Tiefstand, Beckenanteversion, Beckensteilstellung) geben Hinweise auf eine Störung der Koordination oder Stabilisation. Fehlhaltungen können auch schmerzbedingt aufgrund einer akuten Funktionsstörung oder eines pathomorphologischen Befundes entstehen (z. B. Ischiasskoliose bei einem akuten Bandscheibenvorfall).

36 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Tab. 2.3: Schlüsselregionen Bewegungssystem. Schlüsselregion

Besonderheit

Cranio-cervicaler Übergang (Kopfgelenke)

– Großer/schwerer Schädel balanciert auf den Kopfgelenken – Hohe Dichte an Rezeptoren (Propriozeption) – Übergang Stammhirn Rückenmark

Cervico-thorakaler Übergang (CTÜ)

– Übergang hoch bewegliche Halswirbelsäule (HWS) auf relativ hypomobilen Thorax

Mittlere Brustwirbelsäule (BWS)

– Muskuläre Schwäche im Erector spinae (klinisch häufig „flach gestellt“)

Thorako-lumbaler Übergang (TLÜ)

– Übergang relativ hypomobiler Thorax auf bewegliche Lendenwirbelsäule (LWS) – Rotationszentrum beim Gang – Zentraler Ansatzpunkt des Zwerchfells (stabilisierender Muskel)

Lumbo-sakraler Übergang (LSÜ)

– Übergang bewegliche LWS auf das relativ hypomobile Becken – Überleitung der gesamten Rumpflast auf die untere Extremität – Asymmetrische Belastung beim Gehen

Füße

– Ableitung der gesamten Körperlast – Hohe propriozeptive Anforderung

Die Stellung des Beckens wird palpatorisch untersucht. Des Weiteren werden im Stand oft typische Muskelmuster (adaptiert nach Janda [7]) gefunden. Diese geben einen Hinweis auf die jeweils funktionell beeinträchtigte Muskulatur, welche daraufhin gezielt untersucht werden sollte (Tab. 2.4). Die Bewegungsprüfung der Vor- und Rückbeuge sowie der Seitneige der Wirbelsäule erfolgt im Stand. An allen Bewegungen ist auch das Becken beteiligt. Die Vorbeuge im Stand wird durch eine Hüftbeugung und eine Streckung/Kyphosierung der Lendenwirbelsäule (LWS) realisiert. Bei Einschränkungen der Vorbeuge können eine oder beide Komponenten gestört sein. Gemessen werden Winkelgrade (Rückbeuge, Seitneige) oder der Finger-Boden-Abstand. Zusätzlich wird der Schober als Maß der Beugung in der Lendenwirbelsäule bestimmt. Einschränkungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit können aus verschiedenen Störungen resultieren: – segmentalen Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule, – myofaszialen Funktionsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule und/oder Lenden-Becken-Hüft-Region (LBH), – artikulären Funktionsstörungen der Hüft- und/oder Beckengelenke, – Verkürzung der ischiokuralen Muskulatur (Vorbeuge) und/oder der Hüftbeugemuskulatur (Rückbeuge),

2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik | 37

Tab. 2.4: Muskelmuster, adaptiert nach [7]. Syndrom nach Janda [7]

Fehlhaltung

Abgeschwächte Muskulatur

Verspannte/verkürzte Muskulatur

1

– Kopfvorhalte, Schulterprotraktion – Schulterhochstand (ein-/beidseitig) – Rundrücken (häufig)

– Tiefe Halsbeuger – Scapulafixatoren

– Nackenstrecker – M. sternocleidomastoideus – Pars descendens M. trapezius – Mm. pectoralis

2

– Lumbale Hyperlordose – Häufig ausladenes Abdomen – Beckenanteversion – Lumbosakrale Hyperlordose

– M. transversus abdominis – Lumb. Mm. multifidii

– Lumbaler Errector spinae

– Gluteal-Muskulatur – Lumbosakrale Mm. multifidii – Ggf. Beckenboden

– M. iliacus – M. psoas – Ggf. M. piriformis

3

M. = Musculus, Mm = Musculi, lumb. = lumbal

– – –

Pathomorphologien im Bereich der Lendenwirbelsäule mit schmerz- und/oder strukturbedingter (z. B. Ankylose) Bewegungseinschränkung, strukturbedingter Einschränkung der Hüftbeugung (z. B. Coxarthrose), angstbedingter Bewegungsvermeidung.

Zusätzlich wird die Bewegungsqualität (z. B. Ausweichbewegungen) untersucht. Bei Auffälligkeiten erfolgt eine gezielte und ggf. apparative Diagnostik der gestörten Region (z. B. segmentale Untersuchung der Lendenwirbelsäule). Im Stand können weiterhin gezielt Bewegungsmuster als Hinweis für regionale Funktionsstörungen bzw. Pathomorphologien untersucht werden. Häufig finden sich Koordinationsstörungen im Einbeinstand (gezielte Untersuchung LBH) und in der Schulter Ab- und Adduktion (gezielte Untersuchung Schulter-Nacken-Region [8]). Die Untersuchung des Gangs kann Hinweise auf neurologische Störungen (z. B. hemiparetischer Gang, Fußheberschwächen, Unsicherheiten bei Polyneuropathien), pathomorphologische Störungen (z. B. Duchenne oder Trendelenburghinken bei einer Coxarthrose) und funktionelle Störungen (z. B. insuffiziente Stabilisierung der LBHRegion) geben. Da der Gang äußerst komplex und seine klinische Untersuchung schwierig ist, bietet es sich an, bestimmte Befunde/Regionen strukturiert abzuarbeiten (Tab. 2.5). Zusätzlich erfolgen die Untersuchung des Zehen- und Fersengangs zur Überpüfung, ob Paresen vorliegen, und der Romberg-Test, der Hinweise auf eine mögliche Polyneuropathie gibt.

38 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Tab. 2.5: Reihenfolge und beispielhafte Aussagen zur klinischen Untersuchung des Gangs. Nr.

Beobachtung

Aussagen

1.

Gangdynamik

– Dynamisch – Undynamisch (z. B. depressive Patienten) – Starhessitation (z. B. Parkinson) – Überdynamisch (z. B. Kompensation von koordinativen Defiziten)

2.

Hinkmechanismen

– Duchenne/Trendelenburghinken (z. B. Coxarthrose, L5 Radikulopathie) – Hemiparetisches Gangbild (Z. n. Apoplex) – Ataktischer Gang (z. B. inkompletter Querschnitt, PNP) – Paretischer Gang (z. B. Fußheberschwäche bei L5 Radikulopathie)

3.

Regionale Störungen

– Fuß: Stabilität der Fußgewölbe beim Gang – Knie: Streckung/Überstreckung, muskuläre Stabilisierung – Lenden-Becken-Hüft-Region: – Streckung/Überstreckung der Hüfte (Einschränkungen z. B. bei verkürzter Hüftbeugemuskulatur und/oder Coxarthrose) – Beckenanteversion mit Überlastung des lumbosakralen Übergangs) – Instabilität der LBH-Region – Lumbale Hyperlordose oder Steilstellung der LWS – Oberkörper/BWS – Hyperkyphose oder Flachstellung der BWS – Verminderte Rotation des thorako-lumbalen Übergangs (z. B. bei segmentalen Dysfunktionen) – Verminderte Dynamik des Oberkörpers (Hinweis für kompensatorische Fixierung des Oberkörpers bei insuffizienter Stabilisierung der LBH-Region) – Schulter-Nacken-Region – Verminderte Mitbewegung der Arme – Kopfvorhalte und Schulterprotraktion (Hinweis für insuffiziente Stabilisierung Schulter-Nacken-Region)

2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik | 39

Im Sitz erfolgt die neurologische Untersuchung der oberen Extremität (Muskeleigenreflexe (MER), Kraft, Sensibilität). Des Weiteren ist die Überprüfung des Patellasehnenreflexes (PSR) im Sitz einfach. Zusätzlich sollten bei Hinweisen auf spezifische Probleme die Hirnnerven und die Koordination (z. B. Diadochokinese) geprüft werden. Neuroorthopädisch kann bei Relevanz die obere Extremität (Hände, Ellenbogen, Muskulatur) untersucht werden. Die Untersuchung der Beweglichkeit der Hals- und Brustwirbelsäule sollte ebenso wie die Untersuchung der Schulter zum Untersuchungsstandard gehören. Die Schulter wird wie alle großen Gelenke nach der Neutral-0-Methode [7] in der Rotation, Ante- und Retroversion sowie Ab- und Adduktion untersucht. Bewegungseinschränkungen in Reihenfolge des Kapselmusters (Außenrotation, Abduktion, Innenrotation) weisen auf gelenkige Störungen (z. B. bei der Frozen Shoulder) hin. Bei Bewegungseinschränkungen, die nicht dem Kapselmuster folgen, sind die Ursachen eher nicht im Schultergelenk, sondern in den periartikulären Geweben zu suchen (z. B. beim Impingementsyndrom). Die Halswirbelsäule (HWS) wird in ihrer Rotation, Ante- und Retroversion sowie Seitneigefähigkeit untersucht. Bei deutlichen Einschränkungen der HWS-Beweglichkeit werden die Muskeln der HWS-Nackenregion und die HWS segmental unter besonderer Berücksichtigung der Schlüsselregionen (Kopfgelenke, CTÜ) untersucht. Die häufigsten Ursachen für eine Beweglichkeitseinschränkung der HWS sind segmentale und/oder muskuläre Dysfunktionen. Des Weiteren sind angstbedingte Abwehrspannungen nicht selten. Insbesondere starke Abwehrspannungen und Bewegungseinschränkungen mit auffälligem neurologischen Befund sollten hinsichtlich einer relevanten Pathomorphologie abgeklärt werden. Die Brustwirbelsäule (BWS) wird in der Rotation und Ante- sowie Retroflexion untersucht. Neben dem reinen Bewegungsausmaß fallen hier häufig segmentale Störungen insbesondere in den Schlüsselregionen (CTÜ, mittlere BWS und TLÜ) auf. Im Sitzen kann auch die Atmung beobachtet und bei Bedarf von dorsal die Thoraxbewegung bei der Atmung palpiert werden. Einschränkungen der Thoraxbeweglichkeit finden sich bei entsprechenden Funktionsstörungen der BWS und der Rippen, aber auch bei den Spondylarthropathien. Deutliche Atemfehlmuster (thorakale Hochatmung) weisen auf eine insuffiziente Stabilisation des Rumpfes und sekundäre muskuläre Überlastung der Nackenmuskulatur (Atemhilfsmuskulatur) hin. In der Rückenlage können bei Bedarf die Kopfgelenke und die Hüftbeugemuskulatur gut untersucht werden. Auch die Aktivierbarkeit des M. transversus abdominis bei V. a. eine insuffiziente Tiefenstabilisation erfolgt in Rückenlage. In jedem Fall wird die untere Extremität neurologisch (MER, Kraft, Sensibilität, pathologische Reflexe, Wurzelreizzeichen (Lasègue)) untersucht. Bei Bedarf erfolgt die Untersuchung des Muskeltonus und auf koordinative Defizite. Neuroorthopädisch werden die Hüft- und Kniegelenke nach der Neutral-0-Methode untersucht. Einschränkungen in Reihenfolge der Kapselmuster (Hüfte: In-

40 | 2 Interdisziplinäres Assessment

nenrotation, Flexion, Extension, Außenrotation; Knie: Extension, Flexion) weisen auf eine artikuläre Störung hin. Bei Auffälligkeiten der Hüftbeweglichkeit oder der routinemäßig durchgeführten zusätzlichen Tests im Beckenbereich (Patrick-KubisTest, gebeugte Adduktion) werden die Hüfte, das Iliosakralgelenk (ISG) und die Beckenmuskulatur gezielt untersucht. Beim Knie erfolgt weiterhin die Überprüfung auf Entzündungs-/Reizzeichen (Schwellung, Erguss, Überwärmung, Rötung). Bei Hinweisen auf Störungen in den Füßen kann in der Rückenlage deren gezielte Untersuchung erfolgen. In der Seitlage können das ISG gezielt, die Lendenwirbelsäule segmental und der Beckenboden sowie die Glutealmuskulatur untersucht werden. In Bauchlage erfolgt die Untersuchung des umgekehrten Lasègue als Wurzelreizzeichen, ggf. die gezielte Untersuchung des ISG und des Steißbeins und die Palpation der Beckenmuskulatur (z. B. M. piriformis). Durch einen federnden Druck auf die Zwischenwirbelgelenke kann ein Translationsschmerz ausgelöst werden (Facettendruckschmerz). Die Interpretation ist jedoch nicht einfach, da auch ein Druck auf Bindegewebe und Muskulatur (z. B. Mm. Multifidi) erfolgt und Schmerzprovokationen bei Patienten mit chronischen Schmerzen zwar reliabel, aber nicht besonders zielführend (valide) sind. An Bewegungsmustern in der Bauchlage wird die Hüftextension geprüft. Eine Absinktendenz des Beckens wird als Hinweis auf eine insuffiziente Stabilisation des Beckens gewertet. Zusammengefasst wird der Befund mit Aussagen zu – der Koordination und Stabilisation von Bewegung und Haltung, – der Beweglichkeit und Statik der Wirbelsäule, – der Beweglichkeit und Statik der großen Gelenke, – schmerzauslösenden oder mitverursachenden Funktionspathologien, – möglichen Pathomorphologien. Auf dieser Grundlage wird ggf. eine weitere Diagnostik angeordnet bzw. zusammen mit den anderen Teammitgliedern in der Teambesprechung ein Therapieplan entwickelt.

2.2.3 Die Rolle der apparativen Diagnostik Die moderne Medizin ermöglicht eine große Bandbreite an bildgebenden, laborchemischen und elektrophysiologischen Untersuchungen. Hinsichtlich der Bildgebung steht eine Vielfalt von Möglichkeiten zur Verfügung (Tab. 2.6). In der Regel reicht im Rahmen der multimodalen Diagnostik die Auswertung der schon vorliegenden Befunde aus. Die meisten Patienten, die zu einer multimodalen interdisziplinären Diagnostik kommen, bringen eine Vielzahl von Befunden apparativer Diagnostik mit, so dass eine weitere Bildgebung meist nicht notwendig ist.

2.2 Sehen – Die Ärztliche Diagnostik |

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Tab. 2.6: Bildgebung Bewegungssystem mit beispielhafter Indikationsstellung. Verfahren

Organ

Röntgen

Gelenke

– Arthrosediagnostik – Fehlstellungen

Wirbelsäule

– Statikbestimmung – Diagnostik von Instabilitäten (Funktionsaufnahmen) – Frakturdiagnostik

Knochen (allgemein)

– Frakturdiagnostik

Wirbelsäule

– Frakturdiagnostik – Strukturdiagnostik, wenn Kontraindikation für MRT

Knochen

– Frakturdiagnostik – Tumordiagnostik

Gelenke

– Arthrosediagnostik – Diagnostik von Gelenkbinnenschäden (z. B. Meniskus, Bänder) – Diagnostik von entzündlichen Veränderungen (z. B. ISG)

Wirbelsäule

– Strukturdiagnostik, z. B.: – Bandscheiben – Spinalkanal – Facettengelenke – Entzündungen (z. B. V. a. Diszitis)

Weichteilgewebe

– Strukturverletzungen (z. B. Muskel) – Tumordiagnostik

Gehirn

– Differentialdiagnostik Encephalitis disseminata

Gelenke

– V. a. Lockerung von künstlichen Gelenken – Entzündungsdiagnostik

Skelett allgemein

– Tumordiagnostik

Skelett allgemein

– Osteoporosediagnostik

Computertomographie (CT)

Magnetresonanztomographie (MRT)

Szintigraphie

DXA-Scan

Typische medizinische Indikationen (Beispiele)

Die Erwartung der Patienten an die apparative Diagnostik ist enorm. Es besteht die Hoffnung, endlich die Ursache für die Schmerzen zu sehen oder zu messen. Allerdings lösen die beschriebenen Befunde bei Patienten oft Angst aus und sind nicht selten ein Faktor bei der Schmerzchronifizierung. Dem gegenüber stehen die klinische Erfahrung und die medizinische Evidenz. In vielen Fällen zeigt die Bildgebung keine für die Symptomatik relevanten Befunde, oder irrelevante Befunde werden für die beschriebene Symptomatik verantwortlich gemacht.

42 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Eine gute und korrekte Interpretation der Befunde setzt einen guten klinischen Befund und eine gründliche Anamnese voraus. Nur vor diesem Hintergrund können die apparativen Befunde hinsichtlich ihrer Relevanz bewertet werden. In der Kommunikation zum Patienten ist eine Katastrophisierung (z. B. „So eine Wirbelsäule habe ich ja noch nie gesehen!“ oder „Das muss ja weh tun!“) ebenso zu vermeiden wie eine Bagatellisierung (z. B. „Sie haben nichts!“). In jedem Fall muss im Rahmen der Diagnostik die vorliegende apparative Diagnostik durch den Arzt ausgewertet und mit dem Patienten besprochen werden. Dies dient dem Vertrauensaufbau, der medizinischen Diagnosefindung und oft der Einordnung der klinisch erhobenen Befunde in das Gesamtbild. Ergibt sich aus der klinischen Diagnostik die Notwendigkeit zur apparativen Diagnostik, sollte diese vor weiteren Therapieentscheidungen durchgeführt werden. Laboruntersuchungen können Hinweise auf entzündliche und systemische Erkrankungen mit Einfluss auf die Schmerzen und die Belastbarkeit geben. Ein Routinelabor ist, wenn es noch nicht vorliegt, sinnvoll bei Patienten, die zur multimodalen interdisziplinären Diagnostik überwiesen werden. Elektrolyte, Nierenwerte, Leberwerte, Entzündungs- und Schilddrüsenparameter sollten im Wesentlichen die Anforderungen an die Notwendigkeit, bestimmte Erkrankungen auszuschließen oder zu bestätigen, erfüllen. Weitere Laboruntersuchungen (z. B. Rheumadiagnostik) sind nur bei einem spezifischen Verdacht indiziert. Neurophysiologische Verfahren können die neurologische Untersuchung ergänzen und Hinweise auf Nervenwurzelschäden, Nervenschäden oder auch auf Polyneuropathien geben.

2.2.4 Besprechung der Befunde mit dem Patienten Die Besprechung und auch Einordnung von bisherigen Befunden sind für die Mehrzahl der Patienten von großer Bedeutung. Die Betroffenen können Fragen stellen und Befürchtungen äußern. Eine entpathologisierende und dementsprechend entängstigende Aufklärung und Einordnung der Befunde aus bildgebenden Verfahren haben therapeutische Wirksamkeit und sind Teil des ärztlichen Erstgesprächs (s. o.). Die abschließende Einschätzung des Assessments findet jedoch zu einem späteren Zeitpunkt statt. Dass die Einordnung der Befunde und die daraus resultierenden Behandlungsempfehlungen dem Patienten erst nach der Teambesprechung mitgeteilt werden können, ist in der multimodalen interdisziplinären Diagnostik als problematisch anzusehen. Der Patient hat ein berechtigtes Interesse daran, über seine Befunde so bald wie möglich aufgeklärt zu werden. Patienten sollten deshalb vor dem Diagnostiktag darüber informiert werden, dass die jeweiligen Untersucher erst am Ende der Teambesprechung Therapieentscheidungen treffen und mitteilen können.

2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik | 43

Marion Heinrich

2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik 2.3.1 Das Erstgespräch: Bedeutung und Funktion 2.3.1.1 Ausgangssituation Für die ärztliche Untersuchung im klassischen Sinne haben wir oft klare Vorstellungen darüber, welche Informationen relevant sind. Es gibt Patienten, die einen akribisch geführten, gut sortierten Ordner mit Beschwerdeentwicklung, bisherigen Behandlungen in der Vorgeschichte und aktuell eingenommenen Medikamenten mitbringen. Im Unterschied dazu können die Fragen im psychologischen Erstkontakt überfordernd sein. Patienten wissen meist nicht, welche Informationen für den Psychologen relevant sind. Im Schmerzbereich kommt zusätzlich die Sorge hinzu, auf ein psychisches Problem reduziert zu werden bzw. dieses unterstellt zu bekommen. Der psychologische Termin ist im Rahmen der multimodalen Diagnostik nicht freiwillig, sondern fester Bestandteil des Assessments. Patientenerwartungen an den Psychologen hinsichtlich einer Schmerzreduktion sind in der Regel gering. Die Ausgangssituation zu einem psychologischen Erstgespräch im interdisziplinären Setting bei Schmerzpatienten unterscheidet sich damit von ihren Zugangs- und Ausgangsbedingungen wesentlich von einem Erstgespräch für eine ambulante Psychotherapie. Dementsprechend ist eine strukturierte Gesprächsführung wichtig, um dem Patienten Sicherheit zu geben. Dazu gehören gezieltes Nachfragen, ggfs. auch lange, ausufernde Beschwerdeschilderungen oder Schilderungen darüber, was Vorbehandler gesagt haben, zu unterbrechen und den Fokus auf das patientenbezogene Erleben zu richten. Patienten sind nicht selten genervt, ihre Krankheitsgeschichte nochmals erzählen zu müssen. Erfahrungsgemäß reagieren Patienten positiv auf die Unterbrechung, entscheidend ist, dass sich die weiteren Fragen auf bisher Gesagtes beziehen und im Idealfall bereits einen weiteren zu erhebenden Bereich betreffen. Beispiele von anderen Patienten, aber auch geschlossene Fragen können Orientierung geben. Es geht darum, den Patienten zum Nachdenken zu bringen. Insofern soll das diagnostische Gespräch unter zwei Aspekten betrachtet werden. Der eine Aspekt umfasst den Inhaltsbereich, der Andere richtet sich auf die Gesprächsgestaltung.

2.3.1.2 Konkret – Relevante Themenbereiche Die typische Einstiegsfrage „Was führt Sie zu mir?“ oder „Was kann ich für Sie tun?“ ist zielführend, wenn der Patient aus eigenem Antrieb kommt, oder dann, wenn beide Seiten implizit die jeweils komplementären Rollenzuschreibungen teilen, wie dies beispielsweise für die Arzt-Patient-Beziehung überwiegend gilt. Als Einstieg in das psychologische Erstgespräch empfiehlt sich eine kurze Erklärung, warum das Gespräch stattfindet. „Schmerzen passieren nicht im luftleeren

44 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Raum. Mich interessiert, wie Sie mit den Schmerzen zurechtkommen, wo Sie eingeschränkt sind, und was für Belastungsfaktoren es im Hintergrund gibt … und in diese Richtung werde ich fragen …“ Hilfreich ist auch, etwaige Verunsicherungen vorwegzunehmen und Vorbehalte gezielt zu erfragen: „Viele wundern sich, wenn sie wegen Rückenschmerzen kommen und plötzlich vor der Psychologin sitzen, wundern Sie sich auch?“ Erfahrungsgemäß sind es nur wenige und „im Vergleich zu früher“ immer weniger Patienten, die sich wundern. Durch Medienberichte besteht eine zunehmende Akzeptanz der Mitbeteiligung psychosozialer Faktoren, die allerdings interessanterweise häufiger bei anderen und seltener bei sich selbst als zutreffend und relevant wahrgenommen werden. Die zentralen Themenbereiche sind das Schmerzerleben, die berufliche Situation, die private Lebenssituation und die Überprüfung komorbider psychischer Störungen. Da der Grund für das Erstgespräch der Schmerz ist, sollte auch genau dies der Einstieg in die Exploration sein. Auch wenn die meisten Patienten ihre Geschichte schon vielfach erzählt haben und für den Psychologen die genaue Diagnose und der spezifische Befund für die psychologische Behandlung wenig handlungsleitend sind, sind diese Fragen auf der Beziehungsebene zentral. Der Patient wird in seinem Hauptanliegen ernst genommen, und der Psychologe kann seine Kompetenz durch spezifische Fragen zu typischen Begleitsymptomen zeigen. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht sind die Schmerzproblemanalyse und der Schmerzverlauf zentral. Sie umfassen die zeitliche Schmerzentwicklung und die Schmerzdynamik. Wenn der Schmerz als schwankend erlebt wird, in welchen Situationen wird er stärker/schwächer? Wenn der Schmerz als gleichbleibend erlebt wird, kann alternativ gefragt werden, was ihn „schlimmer machen“ kann und was guttut. Häufig wird körperliche Belastung als schmerzverstärkend erlebt und Ruhe als wohltuend oder umgekehrt. Die Antworten ergeben Hinweise auf das implizite Krankheitskonzept des Patienten und das damit verbundene Bewältigungsverhalten. Unsere Wahrnehmung ist selektiv, ebenso wie unsere Erinnerung selektiv ist in Abhängigkeit von dem aktuell dominierenden Affekt und der Erwartung der Situation. Das in unserer Gesellschaft vorherrschende somatische, im orthopädischen Bereich auch mechanistische Krankheitsmodell bestimmt die Wahrnehmung und Erinnerung von Einflussfaktoren. Insofern ist die Frage nach konkreten, individuell für den Patienten relevanten psychischen Einflussfaktoren schwierig, weil sie den Rahmen überschreitet, innerhalb dessen das Schmerzproblem bisher verortet wurde. Einzelne Fragen können für den Untersucher und den Untersuchten auch explizit offenbleiben, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder gestellt zu werden. Erfährt man beispielsweise, dass es viele gute Freunde gibt, kann eine noch offene Frage zu psychischen Einflussfaktoren wieder aufgegriffen werden, im Sinne von „Wie ist das Schmerzerleben, wenn Sie mit ihrer Freundin telefonieren?“ Die Frage nach der Ursache/dem Grund für die Rückenschmerzen bezieht sich direkt auf das Krankheitskonzept des Patienten. Die Antworten reichen von „In der Jugend schwer körperlich gearbeitet“ bis zur konkreten medizinischen Diagnose. Das

2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik | 45

ist dann die vordergründige Antwort, und es lohnt sich nachzufragen, warum der Schmerz genau zu diesem Zeitpunkt aufgetreten ist. Diese zweite Antwort ist oft individueller. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht interessieren antezendente Bedingungen, also das Bedingungsgefüge, das dem Schmerzereignis vorausgeht. Neben dem Schmerzverlauf und den Ursachenannahmen geht es vor allem um die Schmerzreaktion. Diese umfasst schmerz- und selbstwertbezogene Kognitionen, affektive Reaktionen (Angst, Wut/Ärger, Trauer; Scham, Resignation) und die Reaktion auf der Verhaltensebene. Das Beeinträchtigungserleben ist höher, wenn der Schmerz als gefährlich/bedrohlich und Belastung als den Rücken schädigend eingeschätzt werden [9]. Zentrale dysfunktionale Kognitionen sind Fear-Avoidance-Beliefs [10, 11]), eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Katastrophisierungskognitionen [12]. Was bedeutet der Schmerz für den Betroffenen? In welchen Bereichen ist er eingeschränkt? Was macht er nicht mehr? Wie schätzt er seine Stimmung ein? Was belastet ihn am meisten an der jetzigen Situation? Da vor allem der Schmerz als Problem wahrgenommen und die eigene Reaktion auf den Schmerz als normale/natürliche Reaktion eingeschätzt wird, sind diese Aspekte oft nicht bewusst. Psychologe: Wenn Sie Ihren Alltag anschauen, wo sind Sie eingeschränkt? Was machen Sie nicht mehr? Patient: Ich gehe nicht mehr arbeiten und bin krankgeschrieben, ich kann nicht lange sitzen (die Patientin arbeitet im Büro). Aber sonst mache ich alles und lasse mich von den Schmerzen nicht einschränken. Psychologe: Wie ist das mit dem Sitzen im Alltag, z. B. beim Essen oder beim Autofahren? Patient: Wenn Sie so fragen …, also beim Essen stehe ich oft, und ich bin seit der Krankschreibung meist zu Hause. Eine Familienfeier habe ich auch abgesagt.

Das Beispiel zeigt, wie Einschränkungen im Verlauf selbstverständlich werden. Erst konkrete Beispiele und Nachfragen „klassischer“ Einschränkungen beim Rückenschmerz (z. B. Heben und Tragen, Bücken, Drehbewegungen oder Über-Kopf-Arbeiten) machen diese wieder bewusst. Patientenäußerungen wie „Ich lasse mich nicht einschränken“, „Ich habe mich an die Schmerzen gewöhnt“ wirken selbstwertstabilisierend. Das mit Schmerz einhergehende Kontrollverlusterleben und die Sorge, als psychisch inkompetent zu erscheinen, bewirken bei manchen Patienten, dass sie eine explizite Richtigstellung für erforderlich halten. Ähnlich problematisch kann die Frage nach Stimmung und Gefühlen im Umgang mit Schmerz sein. Psychologe: Wie ist denn Ihre Stimmung in den letzten zwei Monaten? (Patientin gibt eine deutliche Schmerzverstärkung seit diesem Zeitraum an) Patient: Gut, wie immer. Ich bin immer gut drauf. Psychologe: Die meisten Menschen sind mit Schmerzen gedrückter oder besorgter als sonst. Gibt es im Zusammenhang mit den Schmerzen etwas, worüber Sie sich Sorgen oder Gedanken machen? Patient: Sorgen mache ich mir keine. Das wird wieder. Aber klar, Gedanken mache ich mir schon. Ist ja die Frage, wann ich zur Arbeit zurückkann. Psychologe: Wie oft denken Sie darüber nach?

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Patient: Fast ständig, wenn ich alleine bin. Psychologe: Haben Sie da eine bestimmte Befürchtung? Patient: Ich weiß, was die mit einem machen, wenn man länger krank ist … Ich rechne auch schon mit ‘ner Kündigung. Aber hören Sie, ich hab’ da kein Problem, mir geht’s gut, wenn der verdammte Schmerz nicht wäre.

Die Wahrnehmung, Differenzierung und das Benennen von Gefühlen sind für manche Menschen schwierig und/oder werden als Schwäche wahrgenommen. Gedanken können leichter benannt werden und erlauben dann Rückschlüsse über das damit einhergehende Gefühl. Einen weiteren Zugang erhält man auch über die Einschränkungen. Bei deutlichen Einschränkungen ist die Frage, warum einer bestimmten Tätigkeit nicht mehr nachgegangen wird, klärend. Eine typische Antwort kann sein, dass jemand laut Arzt nicht mehr als 10 kg heben darf. Interessant ist dann zu erfragen, ob sich der Patient daran hält und wenn ja, warum? Wenn der Betroffene dieses Gewicht oder mehr heben würde, gäbe es eine Befürchtung, oder was für ein Gefühl wäre das? Eine andere Antwort kann sein, dass in diesem Fall der Schmerz stärker wird, und stärkerer Schmerz kann unangenehm-nervig sein oder verkettet mit der Sorge, dass dem Körper Schaden zugeführt oder der Heilungsverlauf gefährdet wird und der Patient einen Rückschlag erleidet. Informationen zur beruflichen und privaten Lebenssituation ergeben sich oft bereits in der Schmerzexploration. Schmerzen finden jedoch nicht nur innerhalb eines bestimmten Umfeldes, sondern auch innerhalb einer Biographie zu einem bestimmten Zeitpunkt statt. Havighurst [13, 14] beschrieb Mitte des letzten Jahrhunderts Entwicklungsaufgaben für das Erwachsenenalter, die bis heute Gültigkeit haben. Dazu gehören die Berufswahl und die Familiengründung, aber auch die Akzeptanz physiologischer Veränderungen ab dem mittleren Erwachsenenalter. Durch chronische Schmerzen kann die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben erschwert/verhindert oder vorzeitig erforderlich werden. Eine fehlende Bewältigung von Entwicklungsaufgaben kann zu Stagnation und Unzufriedenheit führen. Entwicklungsaufgaben können auch als normative Lebensereignisse [14] beschrieben werden, die mit einer Veränderung der sozialen Rolle einhergehen und deren Erfüllung durch die Schmerzerkrankung gefährdet sein kann (z. B. Versorgerrolle bei Familiengründung). Die Entwicklung über die Lebensspanne wird auch als Veränderung des Verhältnisses zwischen Verlusten und Gewinnen zugunsten der Verluste mit zunehmendem Erwachsenenalter angesehen. Viele Patienten beschreiben einen Verlust an Lebensqualität, und dass sie sich durch die Schmerzen älter fühlen. Die aktuelle Lebenssituation sowie die Veränderungen in der Lebenssituation verweisen auf bisheriges Bewältigungsverhalten und vorhandene Ressourcen. Sie legen den funktionalen Kontext des Schmerzerlebens fest. Ein vergleichsweise banales Ereignis (z. B. Ausrutschen auf Glatteis) kann zur „Dekompensation vorher (gerade noch) kompensierter psychischer Verhaltensmöglichkeiten führen“ (S. 123 [15]) (s. a. Kap. 3.5.4).

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Die primäre Funktion von Schmerz ist Warnung, welche dann bei entsprechender Intensität in ein Entlastungs- und Schonverhalten führt. Der Verlust des Vertrauens in die körperliche Integrität kann Zukunftsängste auslösen. Das Schmerzerleben selbst kann aber auch entlastend, misserfolgs-/angstvermeidend und damit selbstwertstabilisierend sein („Wenn der Schmerz nicht wäre, könnte ich länger sitzen und endlich meine Bachelor-Arbeit zu Ende schreiben.“). Nicht zuletzt kommt dem Schmerz auch eine kommunikative Bedeutung zu: Der Betroffene erfährt vor allem zu Beginn der Schmerzsymptomatik Rücksichtnahme und Fürsorge. Die Hauptthemenkomplexe sind deshalb die familiäre Situation, das soziale Netz, die Gestaltung der Freizeit und die Arbeitssituation. Untersuchungen belegen einen Zusammenhang zwischen Arbeitssituation, z. B. der Erwartung, an den Arbeitsplatz zurückkehren zu können, und der Arbeitsfähigkeit nach der Behandlung. Arbeitszufriedenheit ist ein Risikofaktor für den Übergang von akuten zu chronischen Schmerzen [16]. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz ist wesentliches Ziel der Behandlung, eine differenzierte Erfassung der Arbeitssituation ist deshalb zwingend. In einer hausinternen Evaluation ergab sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen der im Fragebogen angegebenen Arbeitszufriedenheit („Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Arbeitssituation?“) und der Einschätzung der Arbeitszufriedenheit des Patienten während des psychologischen Erstgesprächs. Patienten können beispielsweise zufrieden mit ihrer Arbeit sein, aber sehr unter den Bedingungen (Zeitdruck, schlechtem Arbeitsklima bei viel Konkurrenz etc.) leiden. Oft ist auch zu Beginn der Behandlung eine positive Einschätzung geprägt von dem Wunsch, durch die Behandlung wieder so fit zu werden, dass alles spielend bewältigt werden kann. Im Erstgespräch oder oft auch erst im Behandlungsverlauf wird realisiert, dass dies nicht erreicht werden kann. Die Einschätzung der Arbeitszufriedenheit ändert sich, da die Anforderungen dann als zu hoch eingeschätzt werden. Damit einher geht die wachsende Unsicherheit, im Arbeitsverhältnis weiter bestehen zu können. Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten sowie das Arbeitsklima sind von Bedeutung. Eng mit der Arbeitssituation verknüpft sind wirtschaftliche und finanzielle Problemstellungen: Rechnet der Patient mit einer Kündigung nach seiner Krankschreibung? Läuft ein befristeter Vertrag während der Krankschreibung aus oder gibt es eine Klage im Zusammenhang mit einer Kündigung? War der Patient im Vorfeld häufiger arbeitsunfähig oder arbeitslos? All dies wird den Behandlungsverlauf erheblich beeinflussen. Patienten selbst stellen oft keinen Zusammenhang zu psychosozialen Faktoren her. Psychologe: Haben Sie eine Vermutung, woran es liegt, dass die Schmerzen seit einem halben Jahr deutlich stärker sind? Patient: Die Bandscheibe ist rausgerutscht. Hm, keine Ahnung. Ich bin ja kein Arzt. Psychologe: Ist der Schmerz immer gleich stark? Patient: Nein, der ist sehr unterschiedlich. Ich habe auch gute Tage, denke dann, ich kann wieder zur Arbeit gehen. Und am nächsten Tag ist er wieder so stark wie am Anfang.

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Psychologe: Sie haben bestimmt schon viel darüber nachgedacht und beobachtet. Haben Sie eine Vermutung, womit das zusammenhängt, dass der Schmerz so schwankt? Patient: Wenn ich das wüsste? Ich bin ja kein Arzt! Körperliche Belastung, denke ich. Psychologe fasst zusammen: Das heißt, der Schmerz schwankt ziemlich stark und Sie vermuten, körperliche Belastung führt zu einer Schmerzverstärkung. Aber ganz sicher sind Sie sich nicht. Seit wann sind Sie denn krankgeschrieben? Patient: Seit drei Monaten. Psychologe: Was machen Sie beruflich? Patient: Ich bin Hausmeister. Heißt ja jetzt wohl Facility Manager.

Auf Nachfragen berichtet der Patient, dass er vor zwei Jahren an ein anderes Objekt versetzt worden sei. Davor habe er selbstständig gearbeitet, jetzt müsse er mit Kollegen zusammenarbeiten. Von diesen fühle er sich ausgeschlossen, er bekomme wenig Unterstützung und es gebe viele Konflikte. Psychologe: Wenn Sie das so sagen… – könnte der ganze Stress auch mit Ihren Rückenschmerzen zusammenhängen? Patient: Kann schon sein. Aber Rückenschmerzen hatte ich schon vorher.

Das Beispiel verdeutlicht, wie Fragen zum Schmerz – fast schon automatisch – zum impliziten Krankheitskonzept und zur Arbeitssituation führen können. Für den Interviewer gilt deshalb, die verschiedenen thematischen Bereiche im Hinterkopf zu behalten, um dann im Gesprächsverlauf anhand der Patientenäußerungen flexibel die einzelnen Themenbereiche abarbeiten zu können (Tab. 2.7). Die Abklärung psychischer Komorbiditäten orientiert sich an den Eingangsfragen des diagnostischen Interviews für psychische Störungen (DIPS) [17]. Häufige Komorbiditäten bei Schmerzen sind depressive Erkrankungen und Angststörungen [18]. Seit einigen Jahren werden auch zunehmend die Bedeutung der posttraumatischen Belastungsstörung [19, 20] sowie eine stressinduzierte Hyperalgesie als Folge emotionaler Deprivation und psychischer Traumatisierung in der Kindheit [21] bei chronischem Schmerz diskutiert.

2.3.1.3 Gesprächsverlauf – Gesprächsgestaltung – Gesprächsende Zu Beginn des Gespräches geht es darum, beim Patienten Vertrauen und Offenheit herzustellen, um das subjektive Schmerzerleben und den Schmerzkontext zu erfragen. Unter dem Beziehungsaspekt wandelt sich das anfangs symmetrische Interaktionsverhalten („Was machen wir beide denn hier?“) zu einem asymmetrischen – im Sinne von Watzlawick [22] – komplementären Verhältnis (Therapeut fragt, Patient antwortet), um dann erneut zu einem symmetrischen Verhältnis gegen Ende zurückzukehren, in dem der Therapeut Informationen zum Programm gibt und beide Seiten ihre Ziele für die Behandlung darlegen. Ein Ziel der interdisziplinären multimodalen Behandlung besteht in der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit. Mögliche Zielkonflikte werden offen thematisiert. Das Ziel der Schmerzfreiheit – im Extremfall „Erst

2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik | 49

Tab. 2.7: Themenkomplexe und ihre mögliche Verschränkung. Schmerz

Familie/Soziales Netz/ Freizeitverhalten

Arbeit

Seit wann ist der Schmerz so stark, wie er zurzeit ist? Wo sind Sie eingeschränkt im Alltag (Arbeit, Familie, Freizeit)?

Lebenssituation (Partnerschaft, Kinder, Wohnsituation) Zufriedenheit mit Partnerschaft Kontakt innerhalb der Familie

Arbeitsunfähigkeitszeiten Erlernter/aktuell ausgeübter Beruf Aktuelle Arbeitssituation (Umgang, Schichtdienst, unbefr./befristetes Arbeitsverhältnis) Zufriedenheit mit der Arbeitssituation

Wie ist der Schmerzverlauf? Gibt es Schwankungen? Gibt es schmerzfreie Phasen? In welchen Situationen ist der Schmerz stärker oder schwächer?

Sorgen um Kinder, Partner, Eltern etc. Einfluss von Konflikten auf das Schmerzerleben Freizeitverhalten: Entspannung, Aktivität

Veränderungen am Arbeitsplatz (Umstrukturierung, Fluktuation) Leistungs-/Zeitdruck Konflikte mit Vorgesetzten, Kollegen

Können Sie den Schmerz beeinflussen? Wenn ja, wie? Oder einfacher: Was hilft Ihnen?

Reaktion der soz. Umgebung: Unterstützung durch den Partner, die Familie etc. Konflikte durch Erkrankung bedingt Bisheriger Umgang mit Belastungen, Ressourcen

Wahrgenommene Einflussgrößen und Spielräume Umgang mit Zeitdruck Engagement/Abgrenzung

Was brauchen Sie (an Behandlung), damit es Ihnen besser geht?

Hilfreiche Veränderungen innerhalb der Familie, im Freizeitleben

Hilfreiche Veränderungen am Arbeitsplatz Antrag auf GdB bzw. Erhöhung Renten- oder andere Entlastungswünsche Finanzielle Situation (Stundenreduktion?)

muss ich wieder gesund werden/schmerzfrei sein, dann kümmere ich mich um alles andere ...“ – ist für eine multimodale Behandlung, in der es vor allem um eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit und eine Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Arbeitsplatzes geht, geradezu eine Kontraindikation. Genau das sollten Patienten verstehen, damit sie gegen Ende des Gespräches oder aber beim dritten und letzten untersuchenden Kollegen diese Zielsetzung hinterfragen und im Idealfall ein alternatives Ziel zur Schmerzfreiheit formulieren können. Die Zielvorstellung verweist auf die zugrundeliegende Motivation. Ein aktives Behandlungsprogramm kann aus Behandlersicht für die Problematik des untersuchten Patienten perfekt sein. Wenn

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dieser jedoch für diese Behandlung oder für das damit verbundene Ziel aufgrund eines inneren Zielkonfliktes oder einer anderen Behandlungserwartung nicht motiviert ist, wird die Behandlung nicht erfolgreich sein. Der Patient wird damit zum Akteur seiner Behandlung, die Behandlung ist zu jeder Zeit freiwillig und keine „Einbahnstraße“. In der Gesprächsgestaltung sind in dieser Phase Wertschätzung und Respekt, aber auch das Aushalten von Zweifeln und Unsicherheiten seitens des Patienten wichtig. Ziel des Gespräches ist nicht, den Patienten zu überzeugen, und noch weniger, ihn zu überreden. Es geht auch nicht darum, ein Dilemma für ihn zu lösen. Aber es gibt ein klares Behandlungsangebot. Sowohl Patient als auch Untersucher brauchen Zeit, um zu überdenken, ob dieses Behandlungsangebot gegenwärtig erfolgversprechend ist. Für diese Entscheidung sollten gegen Ende des Gespräches auf beiden Seiten genügend Informationen ausgetauscht worden sein.

2.3.1.4 Überprüfung und Zusammenfassung – Wissen wir alles, was wir wissen sollten? Neben der Erhebung von Informationen zur Schmerz- und Lebenssituation geht es um die Einschätzung der Risikofaktoren für einen ungünstigen Verlauf (s. Yellow Flags [4]). Eine erste Einschätzung dieser Risikofaktoren erfolgt durch den aufmerksamen, den Patienten im Vorfeld behandelnden Arzt, der dann bei Vorliegen dieser Risikofaktoren ein interdisziplinäres Assessment empfehlen sollte. Innerhalb des interdisziplinären Assessments selbst wird die Relevanz der unterschiedlichen Risikofaktoren eingeschätzt, da dies dann einen Schwerpunkt für die Behandlung mit Beginn des ersten Tages setzen kann. Als Yellow Flags gelten die folgenden psychosozialen Faktoren: – Depressivität, – Distress (negativer Stress, vor allem berufs-/arbeitsplatzbezogen), – schmerzbezogene Kognitionen: z. B. Katastrophisieren, Hilf-/Hoffnungslosigkeit, Angst-Vermeidungs-Überzeugungen (Fear-Avoidance-Beliefs), – passives Schmerzverhalten: z. B. ausgeprägtes Schon- und Angst-Vermeidungsverhalten, – überaktives Schmerzverhalten: beharrliche Arbeitsamkeit (Task Persistence), – suppressives Schmerzverhalten, – schmerzbezogene Kognitionen: Gedankenunterdrückung (Thought Suppression), – Neigung zur Somatisierung. Die Yellow Flags beinhalten ungünstige Krankheitskognitionen und ein dysfunktionales Bewältigungsverhalten. Damit können Arbeitshypothesen für die Entstehung und Aufrechterhaltung des Gesamtproblems entwickelt werden, die dann Gegenstand der anschließenden Behandlung sein können. Die Behandlung richtet sich damit auch auf die Veränderung der Yellow Flags.

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2.3.1.5 Diagnostik und Diagnose Die Einordnung von Schmerzen im ICD-10 in Kapitel V (F Psychische Störungen) [23] und DSM-5 [24] ist überschaubar. Die in Kapitel F des ICD-10 dargestellten Diagnosen sind dabei wenig trennscharf und spiegeln unterschiedliche Schmerzkonzeptionen, da ätiologische Annahmen in die Beurteilung mit einfließen. Während bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.40) psychische Ursachen oder psychosoziale Belastungen maßgeblich für die Verursachung sind und der organpathologische oder pathophysiologische Befund wenig bis nicht relevant ist, gilt für die chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41), dass organpathologische Faktoren ursächlich sind. Psychische und psychosoziale Faktoren beeinflussen den Verlauf erheblich. Die Einführung der F45.41 2009 ermöglichte einen Ausweg aus der bisher reduktionistischen biomedizinischen Sichtweise zwischen entweder körperlicher oder psychischer Ursachenannahme [25]. Dieser Schritt ermöglichte damit erstmals die Erfassung von Schmerzen, die somatisch und psychisch bedingt sind. Differentialdiagnostisch ist die F45.41 der F45.40 vorzuziehen, wenn an der Auslösung auch körperliche Faktoren substantiell beteiligt sind [26]. Die F45.41 ist deshalb in den Rückenzentren die am häufigsten gestellte Diagnose, während die F45.40 kaum von Bedeutung ist. F45.41 Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (aus ICD-10, Kapitel V [23]) Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen seit mindestens sechs Monaten bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben. Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn. Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Der Schmerz wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht (wie bei der vorgetäuschten Störung oder Simulation). Schmerzstörungen insbesondere im Zusammenhang mit einer affektiven, Angst-, Somatisierungs- oder psychotischen Störung sollen hier nicht berücksichtigt werden.

Eine konkrete Operationalisierung der psychischen Faktoren ist nicht Bestandteil der Kriterien für das Vorliegen der F45.41, wird aber in der Literatur vorgeschlagen. Dazu gehören das Vorhandensein von mindestens zwei Faktoren aus den folgenden Bereichen [25, 26]: – Stress und Belastungssituationen, – Verhalten aufgrund schmerzbezogener Angst: Vermeidungsverhalten, Schonhaltungen, Durchhaltestrategien etc., – maladaptive Kognitionen: Schmerzfokussierung, Katastrophisierung von Körpersignalen und Krankheitsfolgen, Angst-Vermeidungs-Überzeugungen, Durchhalteappelle, Suche nach organischer Ursache etc., – emotionale Belastungen: Verzweiflung, Demoralisierung etc.,

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familiäre, soziale und existentielle Konsequenzen: Rückzugsverhalten, Probleme im Beruf etc.

Die chronische Schmerzstörung erfordert das Vorliegen des Zeitkriteriums von sechs Monaten. Ist dieses nicht erfüllt, oder aber die vorliegenden psychischen Faktoren sind in geringem Maße vorhanden, kann die F54 vergeben werden. F54 Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten Krankheiten (aus ICD-10, Kapitel V [23]) Diese Kategorie sollte verwendet werden, um psychische Faktoren und Verhaltenseinflüsse zu erfassen, die eine wesentliche Rolle in der Ätiologie körperlicher Krankheiten spielen, die in anderen Kapiteln der ICD-10 klassifiziert werden. Die sich hierbei ergebenden psychischen Störungen sind meist leicht, oft langanhaltend (wie Sorgen, emotionale Konflikte, ängstliche Erwartung) und rechtfertigen nicht die Zuordnung zu einer der anderen Kategorien des Kapitels V.

Als letzte Möglichkeit, psychische Faktoren von Schmerz zu verschlüsseln, gibt es die Diagnose „andauernder Persönlichkeitsveränderungen bei einem chronischen Schmerzsyndrom (F62.8)“. Die Persönlichkeitsveränderungen dürfen nicht Folge einer Schädigung oder Erkrankung des Gehirns sein. Diese Diagnose spielt im Behandlungsalltag der Rückenzentren keine Rolle und stößt insgesamt auf wenig Akzeptanz [25]. Die Vergabe einer Diagnose im F-Kapitel (psychische Störungen) ist behandlungsrelevant, da sie einen besonderen Behandlungsbedarf abbildet, der zur Entscheidung über die Programmintensität und -dauer führen kann. Sie ist deshalb auch für die Beschreibung der der Einrichtung zugewiesenen Patienten und zur Einordnung des Behandlungsergebnisses im Rahmen der Qualitätssicherung entscheidend. Nicht zuletzt rechtfertigt sie auch die Notwendigkeit einer multimodalen interdisziplinären Behandlung. Vorschläge für eine Neukonzeption der Klassifikation von Schmerzen im kommenden ICD-11 liegen bereits vor [27]. Chronische Schmerzsyndrome sollen systematischer nach dem Schmerzort bzw. nach den betroffenen Körpersystemen klassifiziert werden, und das Zeitkriterium soll von sechs auf drei Monate reduziert werden. Die beschränkte Möglichkeit, im ICD und DSM Schmerz differenziert nach Schmerzausdruck und Schmerzverhalten zu klassifizieren und psychosoziale Belastungsfaktoren zu berücksichtigen, führte zur Entwicklung von MASK (Multiaxiale Schmerzklassifikation), das sowohl eine somatische (MASK-S) als auch eine psychosoziale Dimension (MASK-P) berücksichtigt. Die psychosoziale Dimension umfasst elf Achsen, wobei Achse 11 die eigentliche MASK-P-Diagnose abbildet und die Einschätzung auf den anderen Achsen zusammenführt. Dabei können Einschätzungen zur motorisch-verhaltensmäßigen, zur emotionalen und zur kognitiven Schmerzverarbeitung ebenso wie zu krankheitsbezogenen Metakognitionen, aktuellen Stressoren, Traumata oder habituellen Personen-Merkmalen eingeordnet werden. Auch eine

2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik | 53

maladaptive Stressverarbeitung, eine auffällige psychophysische Dysregulation und ein dysfunktionaler Konflikt-Verarbeitungsstil können kodiert werden. Die einzelnen Ausprägungen innerhalb der Achsen sind operationalisiert [28]. MASK-P ist therapieschulenübergreifend konzipiert und kann im praktischen diagnostischen Alltag helfen, den Blick zu weiten und mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Die Klassifikation psychischer Erkrankungen nach ICD-10 oder DSM-5 basiert auf einem Prototyp-Ansatz, der Merkmale/Symptome zu Typen/Diagnosen beschreibt, die nicht alle zwingend vorhanden sein müssen. Die Einordnung erfolgt deskriptiv. Es gibt empirische Hinweise, dass sich klinische Psychologen und Psychotherapeuten weniger an den dort beschriebenen charakteristischen Symptomen und der für eine spezifische Diagnose relevanten Anzahl orientieren, sondern ihre diagnostische Einordnung theoriegeleitet, d. h. inwieweit kausal zentrale Konstrukte zutreffen, vornehmen. Auch spielen Merkmalskombinationen, die aufgrund der jeweiligen Erfahrung des Diagnostikers zu einer Diagnose gehören, eine Rolle [29]. Dies birgt die Gefahr von unzulässigen und oft diskriminierenden Zuschreibungen, mit denen sich Menschen mit andauernden Schmerzen konfrontiert sehen. Insofern sind psychische Diagnosen, die Patienten mitbringen, aber auch eigene Diagnosen kritisch zu hinterfragen, insbesondere dann, wenn sie nicht behandlungsrelevant sind.

2.3.2 Unterstützung durch Fragebogen 2.3.2.1 Rund um den Schmerz Die psychologische/psychosoziale Befunderhebung kann durch Fragebogen ergänzt, jedoch auf keinen Fall ersetzt werden. Bislang gibt es noch keinen standardisierten Fragebogenkanon für die Erhebung der Schmerzproblematik [30]. Die Schmerzintensität wird in der Regel über numerische Ratingskalen oder visuelle Analogskalen erfasst. Die Validität und Reliabilität dieser Ratingskalen werden kontrovers diskutiert, da Schmerz als subjektive Erfahrung das Resultat eines Verarbeitungsprozesses ist, der kognitive und affektive sowie situativ sehr variierende Komponenten einschließt (zur Vertiefung [31]). Einen Überblick über schmerzrelevante Instrumente geben Kröner-Herwig und Lautenbacher [32]. In der Literatur häufig verwendete Instrumente zum Schmerzerleben und -verhalten sind in Tab. 2.8 aufgeführt. Die meisten Instrumente sind im Internet frei zugänglich. Umfangreichere Verfahren wie der FESV [33], das KSI [34] oder der AEQ [35] sind kostenpflichtig. Auch zur Identifizierung von zur Chronifizierung neigenden Patienten gibt es noch kein Standardinventar. Bisherige Screeningfragebogen sind hinsichtlich ihrer diagnostischen und prognostischen Validität unzureichend. Dies gilt nicht nur deutschlandweit, sondern auch international [36].

54 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Tab. 2.8: Fragebogen zu Schmerzerleben, -verarbeitung und -bewältigung. Schmerzintensität -Aktuell -Stärkste Schmerzen -Durchschnittliche SZ

NRS (VAS)

X

Schmerzort Schemazeichnung

X

Schmerzempfindung, -verarbeitung Schmerzempfindungsskala Pain catastrophizing scale Fear-Avoidance-Beliefs Tampa scale of Kinesiophobia Pain Anxiety Symptoms Scale Pain Vigilance and Attention Questionaire

SES – 24 Items PCS – 13 Items FABQ – 16 Items TSK – 11 Items PASS – 40 Items PASS-20 – 20 Items PVAQ – 16 Items

[37] [38], dt. Übersetzung [39] [10], dt. Übersetzung [11] [40], dt. Übersetzung [41] [42], dt. Übersetzung [43]

CPG – 7 Items

[46], dt. Übersetzung [47]

ODI – 10 Items

[48]

RMDQ – 24 Items PDI – 7 Items

[49], dt. Übersetzung [50] [51], dt. Übersetzung [52]

FFBH-R – 12 Items

[53]

FESV – 38 Items FESS – 10 Items

[33] [54]

KSI – 117 Items AEQ – 49 Items FF-STABS – 17 Items

[34] [35] [55]

CPAQ – 20 Items PIPS – 12 Items

[56], dt. Übersetzung [57] [58]

HKF-R10 – 27 Items ÖMPSQ – 10 Items

[59] [60], dt. Übersetzung [61]

STarT-G – 9 Items

[62, 63]

X*

[44], dt. Übersetzung [45]

Schmerzbeeinträchtigung Chronic Pain Grade Schmerzstärke und Beeinträchtigung im Alltag (Beruf, Familie, Freizeit) Oswestry Disability Index Einschränkung bei verschiedenen Aktivitäten Roland Morris Disability Questionnaire Pain Disability Index

X

Funktionsniveau bei Alltagsaktivitäten Funktionsfragebogen Hannover Umgang mit Schmerz Fragebogen zur Schmerzverarbeitung Fragebogen zur Erfassung der schmerzbezogenen Selbstwirksamkeit Kieler Schmerzinventar Avoidance – Endurance Questionaire Freiburger Fragebogen zur Erfassung der Stadien der Bewältigung chronischer Schmerzen Chronic Pain Acceptance Questionaire Psychological Inflexibility in Pain scale Screening Fragebogen Heidelberger Kurzfragebogen Örebrö Musculoskeletal Pain Screening Questionaire Start-Back-Tool

X = Teil des Schmerzfragebogens; X* = Teile des Fragebogens sind im Schmerzfragebogen enthalten bzw. aus lizenzrechtlichen Gründen werden vergleichbare bereits evaluierte alternative Items verwendet.

2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik | 55

2.3.2.2 Der psychosoziale Kontext – Über den Schmerz hinaus und um den Schmerz herum Neben den eigentlichen Schmerzthemen können zusätzliche Instrumente für das Screening psychisch auffälliger Symptome, der Lebensqualität, aber auch der beruflichen Situation sinnvoll sein. In der Behandlungsevaluation gilt die Lebensqualität als wichtige Outcome-Variable. Durch ihre Erfassung wird explizit das biopsychosoziale Behandlungsmodell chronischer Schmerzen berücksichtigt, dessen Zielstellung die Verbesserung der Funktionsfähigkeit und des Wohlbefindens ist. Der Deutsche Schmerzfragebogen beinhaltet ebenfalls ein Instrument zur Erfassung der Lebenszufriedenheit (s. Kap. 2.3.2.3). Von Korrelationen im mittleren Bereich zwischen Lebensqualität, erhoben über EuroQoL [64], und Schmerzbeeinträchtigung an Patienten mit chronischem Rückenschmerz berichten Soer und Mitarbeiter [65]. EuroQuol besteht aus fünf dreistufigen Items (Beweglichkeit/Mobilität, Selbstversorgung, alltäglichen Aktivitäten, Schmerzen/körperlichen Beschwerden, Angst/Niedergeschlagenheit) und einer Einschätzung der Gesundheit auf einer Skala zwischen 0 und 100. Einen Überblick über Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität in der Versorgungsforschung geben Koller und Mitarbeiter [66]. Ein Aspekt der Lebenszufriedenheit ist die Arbeitszufriedenheit. In der Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität spielt diese allerdings nur in Bezug auf körperliche und seelische Beschwerden, die Probleme bei der Arbeit verursachen, eine Rolle. Auch im Deutschen Schmerzfragebogen fehlt die Frage nach der Arbeitszufriedenheit. Im Modul zur sozialrechtlichen Situation wird gefragt, ob der Patient glaubt, wieder an den alten Arbeitsplatz zurückkehren zu können. Diese Erwartung ist signifikant verbunden mit der tatsächlichen Rückkehr an den Arbeitsplatz nach längerer Arbeitsunfähigkeit (> 2 Monate) [67]. Heterogen ist die Befundlage zum Zusammenhang zwischen Arbeitszufriedenheit und Wiedereingliederung bzw. Rückkehr an den Arbeitsplatz. Wird Arbeitszufriedenheit mit einer Frage erhoben, ergibt sich kein relevanter Zusammenhang [67, 68]. Andere arbeitsplatzbezogene Faktoren wie eine hohe soziale Unterstützung am Arbeitsplatz sind hingegen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine Rückkehr an den Arbeitsplatz verbunden. Der Arbeitsbeschreibungsbogen von Neuberger und Allerbeck [69, 70] erfragt in neun Items auf einer 7-stufigen Skala (sehr zufrieden – sehr unzufrieden) die Zufriedenheit am Arbeitsplatz vor dem Hintergrund verschiedener Aspekte (Kollegen, Vorgesetzte, Inhalt, Bedingungen, Bezahlung, Vorwärtskommen etc.) sowie die subjektive Sicherheit des Arbeitsplatzes. Ein Instrument zur Erhebung der subjektiv eingeschätzten Arbeitsfähigkeit ist der Work-Ability-Index (WAI) [71]. Er fragt neben der subjektiv eingeschätzten Arbeitsfähigkeit die Anzahl der Krankentage der letzten zwölf Monate, vorhandene Erkrankungen, psychische Leistungsreserven und eine Einschätzung der Arbeitsfähigkeit in den nächsten zwei Jahren ab. Eine Untersuchung an Patienten verschiedener Rehabilitationseinrichtungen des deutschen Rententrägers konnte zeigen, dass der WAI die Wahrscheinlichkeit einer EU-Rente vorhersagen kann [72]. Ein weiteres

56 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Instrument zur Einschätzung der Arbeitssituation ist der umfangreiche Fragebogen zur Erfassung der arbeitsbezogenen Verhaltens- und Erlebensmuster (AVEM) (66 und in der Kurzform 44 Items), der gesundheitsbezogene Risikomuster (z. B. Selbstüberforderung, Neigung zur Resignation) erfasst [73]. Zur Orientierung über weitere psychische oder psychosomatische Komorbiditäten kann für Depressivität die Allgemeine Depressivitätsskala (ADS, [74]) eingesetzt werden. Für psychopathologische Symptome können die Langform oder die Kurzform des Brief Symptom Inventory (BSI-18) [75] und für psychosomatische Beschwerden die Beschwerdeliste (BL) von Zerssen und Koeller (1976) [76] verwendet werden.

2.3.2.3 Der Deutsche Schmerzfragebogen Der Deutsche Schmerzfragebogen (DSF, [1]) fasst verschiedene Instrumente zusammen und kann als Standardfragebogen eingesetzt werden [77]. Die dort enthaltenen Instrumente (u. a. NRS-Skala, Beeinträchtigung im Alltag und Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität) werden über den deutschen Sprachraum hinweg zur Diagnostik, aber auch zur Behandlungsevaluation eingesetzt [78]. Der DSF kann über die Homepage der Deutschen Schmerzgesellschaft eingesehen werden. Das Handbuch liefert ausführliche Informationen zur Entwicklung, Validierung und Auswertung des Fragebogens [1]. Der Fragebogen beinhaltet einen Kernfragebogen, der um Module erweitert werden kann. Der Kernfragebogen umfasst Patientendaten (Geburtsdatum, Größe, Gewicht, Geschlecht), eine ausführliche Schmerzbeschreibung, eine Schemazeichnung, eine Skala zur sensorisch vs. affektiv-emotionalen Schmerzbeschreibung (Schmerzbeschreibungsliste, SBL [79]), die Schweregrad-Einschätzung CPG nach von Korff [46], drei Fragen zu Kausalannahmen und Kontrollmöglichkeiten, sieben Items zum allgemeinen Wohlbefinden (Marburger Fragebogen zum habituellen Wohlbefinden, MFHW [80]), ein Screening zu Angst/Depressivität und Stress mit 21 Items (DASS [81]), Fragen zur bisherigen Behandlung, deren Wirksamkeit und zur Komorbidität aus unterschiedlichen Organbereichen sowie aus dem psychologischen/psychiatrischen Bereich. Die Bearbeitung des Fragebogens wird im Bereich einer Zeitdauer von einer Stunde angegeben, dies entspricht auch unseren Erfahrungen. Ergänzende Module sind Fragen zur allgemeinen und schmerzbedingten Einschränkung der Lebensqualität, zur Einschätzung von weiteren zusätzlichen Beschwerden sowie zur sozialrechtlichen Situation (Arbeitsunfähigkeit, Rentenverfahren etc.). Die Erfragung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfolgt über den VR-12 [82]. In Tab. 2.8 sind im DSF enthaltene Instrumente markiert.

2.3.2.4 Überlegungen zur Bedeutung von Fragebogen in der multimodalen Versorgung Fragebogen wie der Deutsche Schmerzfragebogen vereinfachen die Informationserhebung und sichern eine Standardisierung in der Befunderhebung. Dabei wird der

2.3 Zuhören – Die psychosoziale Diagnostik | 57

Fragebogen in Papierform zunehmend von digitalisierten Versionen abgelöst, was die Auswertung erheblich vereinfacht. Die deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) hat mit KEDOQ (Kerndatensatz zur Dokumentation und Qualitätssicherung) eine Datenbank bereitgestellt, die auf der Basis des Deutschen Schmerzfragebogens die Möglichkeit bietet, die Daten der eigenen Einrichtung einzugeben und mit denen aus anderen Einrichtungen mit dem Ziel der Qualitätssicherung zu vergleichen. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) hat die OnlineDokumentationsplattform iDocLive® initiiert, auf der der Deutsche Schmerzfragebogen von Patienten auf jedem mobilen Endgerät ausgefüllt werden kann. Der Behandler kann die Angaben des Patienten einsehen und bekommt eine automatisch generierte Auswertung. Die Patientenangaben werden in einem zentralen Schmerzregister der DGS gesammelt. Der Einsatz von Fragebogen im diagnostischen Setting ermöglicht auch den Abgleich von zwei Informationsquellen. Es können sich Hinweise für weitere Probleme aus dem Fragebogen ergeben, die im Gespräch nicht thematisiert wurden. Möglicherweise muss eine Einschätzung relativiert werden. Korrelationen zwischen klinischer physiotherapeutischer Einschätzung und Patientenangaben im ÖMSPQ-10 ergeben Korrelationen im mittleren Bereich für Besserungserwartung, Selbsteinschätzung der Arbeitsfähigkeit und Selbsteinschätzung des Schlafes und geringe Korrelationen bei Angst, Depression und Furcht. Dabei war die Stärke der Übereinstimmung abhängig von der Erfahrung der Therapeuten in der Einschätzung psychosozialer Variablen [83]. Es zeigte sich eine mittlere Korrelation zwischen der PCS und physiotherapeutisch eingeschätzter Fear-Avoidance, während die Übereinstimmung zwischen FABQ und physiotherapeutischer Einschätzung geringer war [84]. Gründe für diese Diskrepanz sind vielfältig und betreffen Patienten sowie Behandler und verweisen auf die „Begrenztheit“ von Fragebogen, aber auch vom Diagnostiker. In der Praxis ist der Einsatz von Fragebogen nicht nur unter dem diagnostischen Aspekt, sondern auch unter dem Verlaufsaspekt und zur Qualitätssicherung relevant. In einer eigenen Untersuchung zum Behandlungseffekt zeigten sich deutliche Verbesserungen in den Schmerzvariablen [85, 86]. Im einzelpsychotherapeutischen Setting werden umfangreichere Fragebogen zu diagnostischen Zwecken und zur Behandlungsfokussierung angewendet. Für das tagesklinische Setting mit nahezu ausschließlich standardisierter Gruppenbehandlung stellt sich vor dem Hintergrund begrenzter Zeit- und Kapazitätsressourcen von Behandlern und Patienten immer die Frage, welche Informationen für die Behandlung tatsächlich relevant sind.

58 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Katja Witter

2.4 Tasten – Die physiotherapeutische Untersuchung Der manualtherapeutische Befund in der ambulanten Praxis wird am Anfang einer Behandlung möglichst kurz und knapp durchgeführt. In der ärztlichen Verordnung steht z. B. „LWS-Syndrom“, und d. h. alles und gar nichts. Es beschreibt eine Region, aber nicht, welche Funktion oder Struktur betroffen ist. So geht der Therapeut also auf die Suche nach der betroffenen Struktur (Muskel, Nerv, Knochen) und dann wird diese – nach Erstellung einer Arbeitshypothese – behandelt. Durch die Probebehandlung bekommt der Therapeut Hinweise, ob er richtig liegt oder sich in eine andere Richtung orientieren muss. Beim Diagnostiktag im multimodalen Setting übernimmt der Physiotherapeut eine andere Rolle. Der Befund, in großen Teilen dem ärztlichen Befund ähnlich, soll eine Aussage zu folgenden Punkten treffen: – Besteht eine funktionelle Therapierbarkeit? – Gibt es Ausschlusskriterien wie zu geringe Belastbarkeit, sprachliche Beschwerden, motivationale Faktoren etc.? – Ist es wahrscheinlich, dass der Untersuchte innerhalb der Tagesklinik eine Belastbarkeit erreicht, die ihm eine Rückkehr an den Arbeitsplatz bzw. eine ausreichende Alltagsfähigkeit ermöglicht? – Sind weitere/andere funktionelle Interventionen notwendig? – Wo liegt der Fokus bei der Behandlung in der Tagesklinik (Kap. 2.5)? Aus den Antworten zu diesen Fragen bildet sich der Physiotherapeut eine Meinung in Form einer Handlungsempfehlung. Bei der Implementierung des multimodalen Behandlungskonzeptes wurden Gründe entwickelt, die für oder gegen die Teilnahme am Behandlungsprogramm sprechen. Dennoch bleibt es eine subjektive Einschätzung. Der Physiotherapeut nimmt natürlich auch psychische Faktoren wie depressive Verstimmungen, Nervosität, Unlust oder Motivation wahr, dies wird aber nicht im physiotherapeutischen Befund erfasst. Jedoch ist die Wahrnehmung dieser Faktoren wichtig, um sie im Gespräch später mit den Kollegen abgleichen zu können. Wenn der untersuchende Therapeut später nicht den Patienten in der Gruppe behandelt, muss dieser anhand seiner aussagekräftigen Dokumentation dem behandelnden Kollegen ein klares Bild vermitteln können. Er sollte ihn in die Lage versetzen, in der ersten interdisziplinären Teamsitzung innerhalb der MMST zusammen mit dem Psychologen, dem Arzt und dem Sporttherapeuten ein individuelles Konzept für den Patienten zu entwickeln. Für die Psychologen sind Hinweise wertvoll, die das patienteneigene Krankheitsmodell entweder untermauern oder ihm widersprechen. So kann beispielsweise die Aussage eines Patienten, sein ISG sei „total verkantet“, durch die

2.4 Tasten – Die physiotherapeutische Untersuchung |

59

Rückmeldung des Physiotherapeuten, das ISG sei untersucht und es sei keine Hypomobilität festgestellt worden, in der Visite aufgegriffen und korrigiert werden. Beobachtet werden auch Transfers, also die Übergänge während der Untersuchung in verschiedene Positionen, vom Sitzen zum Stehen oder zum Liegen, eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit in der Gruppe. Sind diese körperlichen Leistungen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, ist eine Teilnahme in der Gruppe problematisch, da eine individuelle Betreuung hier sinnvoller erscheint. Eine grobe Unterteilung im physiotherapeutischen Befund kann also wie folgt festgelegt werden [87, 88]: – Die funktionelle Anamnese des Patienten erfasst alle relevanten Informationen, um eine funktionelle Zielsetzung zu gewährleisten. Im Vordergrund stehen die Einschränkungen in der alltäglichen Tätigkeit des zu Untersuchenden. – Die funktionelle Untersuchung dient der Objektivierung der vorangegangenen Befragung. Die Bewegungsüberprüfung der aktiven und passiven Bewegung zusammen mit Krafttests, translatorischen Gelenktests, der Untersuchung der Neurodynamik und der Überprüfung der Bewegungskontrolle stützt oder widerlegt die Angaben des Patienten. Als Erweiterung des eigentlichen Assessments, welches die Basis für die anschließende Behandlung im motorischen Bereich darstellt, entsteht nach der ersten therapeutischen Einheit „Work Hardening“ ein ergänzendes Bild (Kap. 3.6.8).

2.4.1 Physiotherapeutische Anamnese 2.4.1.1 Schmerzanalyse Die Frage „Welche Beschwerden führen Sie zu uns?“ ermöglicht ein erstes Herantasten an den Patienten. Die Patienten reagieren unterschiedlich. Häufig wird einfach eine Diagnose genannt: „Ich habe einen Bandscheibenvorfall L4/L5.“ Damit weiß der Physiotherapeut zumindest, dass der Patient offensichtlich mit seinem Beschwerdebild schon beim Arzt vorstellig war und dass es eine Untersuchung wahrscheinlich in Form eines bildgebenden Verfahrens gab. Es ist also wichtig, die Frage anders zu stellen: „Bitte zeigen Sie mir an sich, wo genau die Beschwerden sind.“ Der Physiotherapeut nimmt die Beschreibung auf und notiert es sich in einem Bodychart. Aus den Schmerzangaben können erste Rückschlüsse auf beteiligte Strukturen gezogen werden. Im Gegensatz zu einem Beschwerdebild im akuten Stadium finden sich bei Patienten, die Wochen, Monate, teilweise schon über Jahre hinweg unter ihren Beschwerden leiden, häufig keine klar differenzierbaren Bilder. Dennoch sollte für eine mögliche physiotherapeutische Intervention ein Schwerpunkt gesetzt werden. Aus der Schmerzanalyse formuliert der Physiotherapeut für sich eine Arbeitshypothese in Hinblick auf Struktur und Funktionsstörungen.

60 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Stellt z. B. die Ausstrahlung in die linke untere Extremität zusammen mit dem Rückenschmerz eine fast gleichberechtigte Belastung dar, wird eine genaue Untersuchung der neuralen Gleitfähigkeit wichtig sein (Kap. 2.4.2). Gibt der Patient ein Durchbrechgefühl im Zusammenhang mit langanhaltender Belastung an, wird der Fokus u. U. mehr auf der Verbesserung der Stellungs- und Bewegungskontrolle (Kap. 2.4.2) liegen. Im Hinblick auf die weitere Untersuchung kann beispielsweise eine Aussage wie: „Der Muskel fühlt sich kraftlos an!“ zu einem expliziten Test der Muskelkraft führen. Oder die Bemerkung: „Der gesamte Lendenbereich ist ein Panzer!“ veranlasst zu einer intensiven Palpation der Muskulatur in der Region.

2.4.1.2 Therapieanamnese Im Wesentlichen werden hier Informationen zu den funktionellen Vorbehandlungen und den Eigenaktivitäten des Patienten erfasst. Wurden vorwiegend aktive oder passive Therapiemaßnahmen durchgeführt? Hat der Patient Eigenübungen erlernt und wendet diese an? Kann er schmerzhafte Funktionsstörungen selber beeinflussen und wie sieht sein Bewegungsverhalten im Allgemeinen aus? Weiterhin ist die Bewertung der einzelnen Therapiemaßnahmen durch den Patienten interessant und lässt Rückschlüsse auf das Krankheitsbild und die Erwartungen des Patienten zu. Zudem kann die bloße Wiederholung von vorherigen Therapiemaßnahmen vermieden werden.

2.4.1.3 Fragen nach der Funktion Anhand der „Patientenspezifischen Funktionsskala“ (PSFS) kann die vom Patienten wahrgenommene motorische Beeinträchtigung in Alltag und Beruf ermittelt werden [89, 90]. Dabei nennt der Patient bis zu fünf Aktivitäten, bei denen er im Alltag besonders eingeschränkt ist. Auf einer Skala von 0–10 gibt er an, inwieweit er diese Aktivität durchführen kann (0 – völlig unfähig, Aktivität kann nicht ausgeführt werden und 10 – Aktivität kann auf gleichem Niveau wie vorher durchgeführt werden). Dem Patienten wird die Skala anhand von Beispielen kurz erläutert, und die angegebenen Einschränkungen werden dann notiert. Diese Einschätzung kann im Verlauf und am Ende der Behandlung wiederholt werden. Die PSFS gilt als änderungssensitiv und ermöglicht dem Patienten eine Rückmeldung von Veränderungen in der Belastbarkeit über den Behandlungsverlauf hinweg. An den vom Patienten angegebenen Aktivitäten ist gut erkennbar, wie sich der Patient mit seiner Situation auseinandersetzt. Nennt er Aktivitäten, die am Arbeitsplatz notwendig sind? Werden dabei Sorgen und Ängste um seinen Arbeitsplatz deutlich? Ist er ganz froh, aufgrund seiner Erkrankung eine Auszeit zu haben? Hat er vielleicht aufgrund seiner Einschränkung andere Strategien zur Kompensation entdeckt, sich mal Hilfe geholt oder Grenzen gesetzt? Durch mehrere Tests werden in der späteren spezifischen Untersuchung diese Angaben hinterfragt. Wenn der Patient also angibt, dass er nicht lange stehen kann,

2.4 Tasten – Die physiotherapeutische Untersuchung |

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dann hat der Therapeut die Möglichkeit, dies sowohl anhand der aktiven Bewegungen im Stand in drei Ebenen als auch bei der Stellungs- und Bewegungskontrolle zu testen. Insgesamt ist es wichtig, genaue Aussagen herauszuarbeiten, die dann wiederum im Rahmen der MMST durch die Parcourstestung beim Work Hardening untersucht werden können. Beim Treppensteigen über drei Minuten wird die Angabe „Ich kann mein Bein nicht belasten!“ geprüft. Eine „klassische“ Einschränkung betrifft das Heben. Dies wird in der Parcourstestung mit dem PILE-Hebetest (Kap. 3.6.2) geprüft, bei dem von manchen Patienten wider besseres Wissen ohne weitere Einschränkung bis zu 20 kg gehoben werden können. Die gezeigte Leistung ist oft weniger limitiert durch die schmerzbedingte Einschränkung, sondern vielmehr durch die Einstellung des Patienten zum Heben („Heben hat mir der Arzt verboten!“).

2.4.2 Der spezielle physiotherapeutische Befund Physiotherapeuten sind dafür ausgebildet, Funktionen zu untersuchen. Hierbei ergeben sich durchaus Überlappungen zum ärztlichen Befund. Bestimmte Untersuchungen zu „doppeln“ kann aufgrund der unterschiedlichen Blickwinkel der Untersucher durchaus sinnvoll sein. Außerdem sind nicht alle ärztlichen Schmerztherapeuten in der Lage, einen funktionellen Befund zu erheben. In diesem Fall liegt die funktionelle Befunderhebung allein in der Hand des Physiotherapeuten. Um Dopplungen zu vermeiden, sei auch auf den „Ärztlichen Befund“ (Kap. 2.2.2) verwiesen. Für ein erstes Screening ist es unabdingbar, die Bewegungsprüfung aus dem Stand und dem Gang zu machen. Da besonders die Beschwerden relevant sind, die unter Belastung auftreten, beginnt die Untersuchung im Stand. Hier können genannte funktionelle Einschränkungen anhand einer aktiven Bewegungsprüfung getestet werden. Für die körperliche Untersuchung ist die Reihenfolge Stand/Gang, Rückenlage, Bauchlage und Sitz sinnvoll. Durch diesen Ablauf ist am ehesten eine funktionell entscheidende Einschränkung ersichtlich. In der liegenden Position können wiederum unterschiedliche Strukturen (Muskel, Nerv, Gelenk) auf ihre spezifische Provozierbarkeit besser getestet werden. Da die Behandlung im Bereich der Bewegungstherapie in der MMST häufig in verschiedenen Ausgangsstellungen wie Rücken-, Bauch- und Seitlage stattfindet, ist es für die Behandlungsempfehlung nicht unerheblich zu wissen, ob und wie zügig der Patient die jeweiligen Stellungen einnehmen kann und wie er sich dabei bewegt. Natürlich werden hier keine Übungen „geprobt“, aber schon der Wechsel der Positionen fließt in die Wahrnehmung des Therapeuten mit ein. Liegt eine zusätzliche Schmerzangabe im Bereich der Brust- und der Halswirbelsäule vor, werden diese Bereiche selbstverständlich mit untersucht. Für die aktive/passive Bewegungsüberprüfung dieser Bereiche ist die Untersuchung im Sitz vorzuziehen.

62 | 2 Interdisziplinäres Assessment

2.4.2.1 Exkurs: Tests der neuralen Gleitfähigkeit Im ärztlichen und physiotherapeutischen Diagnostiktag werden neurodynamische Tests durchgeführt [91]. In jedem Fall sollte die Untersuchung standardisiert und genau erfolgen, um eine länger anhaltende Schmerzzunahme zu vermeiden. Der Grad der Auslösbarkeit der bekannten Beschwerden hat unterschiedliche Konsequenzen für die Therapie in beiden Bereichen. Eine hohe Empfindlichkeit der Neuralstrukturen spricht für eine Infiltration (z. B. PRT/PDI) im Rahmen einer Vorbehandlung. Wird ein positiver Straight Leg Raise bei 60 Grad Hüftbeugung auf der rechten Seite festgestellt, kann die Symptomatik innerhalb einer physiotherapeutischen Vorbehandlung durch die positive Beeinflussung des mechanischen Interface oder durch eine Slider-Technik schnell verbessert werden. Dies ist abhängig davon, ob der Befund eher auf eine muskuloskeletale oder neurodynamische Problematik hinweist.

2.4.2.2 Statische Wirbelsäulenkoordination Der Körperstamm impliziert neben dem dynamischen Potenzial auch die Grundfunktion zur statischen Haltungskontrolle. Für eine harmonische Gesamtaufrichtung stehen die einzelnen knöchernen Teile dabei in einer konkreten qualitativen Beziehung zueinander (s. ausführlicher Kap. 3.6.4). Diese so genannte Neutralposition und grundsätzlich jede andere Haltung kann über das optimale zeitliche und räumliche Zusammenspiel von Muskelgruppen aktiv „gehalten“ werden. Für diese Grundfunktion hat sich der sehr weit gefasste und somit eher unpräzise Begriff „motorische Kontrolle“ durchgesetzt. Ein Unvermögen, dies durchzuführen, spricht für eine so genannte Beeinträchtigung der motorischen Steuerung („Motor Control Impairment“, MCI) und gilt in der Praxis als wichtiges Zeichen für eine klinisch relevante funktionelle Instabilität [92]. In Anlehnung an Luomajoki [93] wird zur Untersuchung eine sehr praktikable und stark standardisierte Testbatterie (Tab. 2.9) durchgeführt. Die Testaufgaben finden in definierten Ausgangsstellungen statt, wobei der Patient durch konkrete Anweisungen aufgefordert wird, bestimmte Bewegungen auszuführen. Der Untersucher beobachtet dabei potenzielle Ausweichbewegungen (Give) im Rumpf. Je nach Aufgabe und Position können unterschiedliche Richtungen (in Extension, in Flexion, in Rotation, in Lateralflexion) provoziert werden. Die Dokumentation ist binär, d. h., es wird schriftlich festgehalten, ob eine Auffälligkeit gegeben ist oder nicht. Eine Sensitivitätsuntersuchung [93] sowie die praktische Erfahrung zeigen, dass eine Ausweichrichtung erst nach mehrfacher Wiederholung ein relevantes Defizit bestätigt. Darüber hinaus wäre die konkrete Richtung des Give auch in einer Tätigkeit zu beobachten. Ein Beispiel: Der Patient gibt Beschwerden beim Gehen an, und die qualitative Ganganalyse deutet auf eine verstärkte lumbale Lordosebildung. Weiterhin kann in den Tests zur Haltungskontrolle mehrfach ein Give in Extension beobachtet werden. Auf diese Weise kann hier ein funktionelles Defizit in der ventralen Rumpfmuskulatur nachgewiesen werden.

2.4 Tasten – Die physiotherapeutische Untersuchung |

63

Tab. 2.9: Testbatterie Beeinträchtigung der motorischen Kontrolle (die Pfeile zeigen die potenziellen Ausweichbewegungen). Test 1: Gleichzeitiges Anheben der Arme über den Kopf

(a)

(b)

Abb 2.1: Anweisung: „Führen Sie langsam beide Arme nach oben in Richtung Decke und wieder zurück.“ Potenzielle Ausweichbewegungen: LWS in Extension, HWS in Extension. Test 2: Kniehub im Stand

(a)

(b)

(c)

Abb 2.2: Anweisung: „Heben Sie langsam die Beine im Wechsel an, das Knie geht dabei bis zur Hüfthöhe.“ Potenzielle Ausweichbewegungen: LWS in Flexion, Becken um die Sagittalachse. Test 3: Wechselseitiges Heben der Füße in der Rückenlage

(a)

(b)

Abb 2.3: Anweisung: „Heben Sie die Füße im Wechsel 10 cm nach oben (wie beim Treten auf der Stelle).“ Potenzielle Ausweichbewegungen: LWS in Extension, Becken in Torsion, HWS in Extension.

64 | 2 Interdisziplinäres Assessment

Tab. 2.9: (fortgesetzt) Test 4: Gleichzeitiges Absenken der Beine aus der Stufenlagerung

(a)

(b)

Abb 2.4: Anweisung: „Stellen Sie die Beine zusammen ab, Knie bleiben dabei in der 90-GradStellung.“ Potenzielle Ausweichbewegungen: LWS in Extension, HWS in Extension. Test 5: Wechselseitiges Beinheben in der Bauchlage

(a)

(b)

Abb 2.5: Anweisung: „Heben Sie abwechselnd das rechte und das linke Bein gestreckt ab.“ Potenzielle Ausweichbewegung: LWS in Extension, Becken in Torsion. Test 6: Kniestreckung im Sitzen

(a)

(b)

Abb 2.6: Anweisung: „Setzen Sie sich aufrecht hin, Strecken Sie im Wechsel die Beine nach vorne.“ Potenzielle Ausweichbewegungen: LWS in Flexion, Becken in Torsion.

Ein kurzer Versuch, das Defizit bewusst zu üben, kann die Hypothese darüber hinaus hinterfragen. So ist bei einem problemlosen Umsetzen der ursprünglichen Auffälligkeit nach weiteren funktionellen Zusammenhängen wie beispielsweise einer eingeschränkten Hüftbeweglichkeit zu suchen. Bleibt die Aufgabe für den Patienten weiterhin unlösbar, bestehen damit bereits erste Übungsideen für die Therapie (Kap. 3.6.6 und 3.6.7). Die Tests werden nicht zusammenhängend im Block durchgeführt, sondern fließend in die Untersuchung integriert.

2.5 „Sechs Augen sehen mehr als zwei“ – Die interdisziplinäre Handlungsempfehlung | 65

Marion Heinrich

2.5 „Sechs Augen sehen mehr als zwei“ – Die interdisziplinäre Handlungsempfehlung Der Erstkontakt mit dem Arzt, dem Psychologen und dem Physiotherapeuten dient nicht nur der jeweiligen Befunderhebung, sondern verdeutlicht auch das interdisziplinäre Prinzip. Dabei kommt es zwangsläufig zu redundanten Informationen („Das habe ich doch schon alles erzählt…“), die dann aber von der jeweiligen Fachdisziplin unterschiedlich gesehen werden können. Neben der Informationserhebung dient das Erstgespräch dem Beziehungsaufbau und dem Aufbau von Vertrauen („So gründlich bin ich noch nie untersucht worden!“). Es umfasst insgesamt ca. 3,5 Stunden. Unterschiede im Interaktionsverhalten zwischen den einzelnen Behandlern vermitteln auch ein Bild über bisherige Beziehungserfahrungen zu Behandlern und geben Aufschluss über die Motivation, an einem solchen Programm teilzunehmen. Während sich Befundung und Diagnose als ein Ergebnis der Befunde innerhalb der jeweiligen Berufsgruppe herausstellen, geht es in der Zusammenschau über die Einzeldiagnosen hinaus um das Entwickeln einer gemeinsamen Behandlungsperspektive. Das Ergebnis ist neben der Entscheidung für oder gegen eine Aufnahme in das tagesklinische Programm auch eine erste Fallkonzeption (Kap. 2.1).

2.5.1 Behandlungsbezogene Beurteilung Grundsätzlich ist das Assessment ergebnisoffen, es bewegt sich jedoch innerhalb der folgenden Kategorien, die den Austausch untereinander vereinfachen und das Resümee im Arztbrief (in der Regel die Behandlungsempfehlung) beschreiben. Beurteilt werden die physische und psychische Beeinträchtigung, psychosoziale und sozialmedizinische Aspekte und die Motivation des Patienten für ein belastungsintensives Behandlungsprogramm. Tab. 2.10 gibt einen Überblick über die Selektionskriterien [94]. Hinsichtlich der psychophysischen Beeinträchtigung sind folgende Einschätzungen möglich. Die Beeinträchtigung ist so gering, dass eine Behandlung in der ambulanten Regelversorgung ausreichend erscheint und eine zeitnahe Arbeitsfähigkeit erreichbar ist. Erscheint eine zeitnahe Rückkehr in den Arbeitsalltag nicht mit der Regelversorgung erreichbar, ein multimodales Programm jedoch erfolgversprechend, so wird die Schwere der Beeinträchtigung berücksichtigt, und je nach Beeinträchtigung wird der Patient einem 3- oder 4-Wochen-Programm zugeordnet. Das Beeinträchtigungserleben kann überwiegend physisch bedingt sein, aber ebenso psychisch, beispielsweise bei geringfügigem somatischem Befund, aber ausgeprägter Bewegungsangst. Ist die psychophysische Beeinträchtigung jedoch so ausgeprägt, dass sie den Anforderungen eines tagesklinischen multimodalen Programms nicht standhalten kann, wird eine alternative Behandlungsempfehlung gegeben. Dies

Ein isolierter alleiniger Hauptsymptombereich (LWS oder HWS)

Wenig ausgeprägte Beeinträchtigung

AU > 6 Wochen AU < 12 Wochen, AF

Geringe bis mäßige psychosoziale Belastungsfaktoren

Kein Bedarf an physiotherapeutischen Einzelbehandlungen oder ärztlichen Interventionen

Kein Bedarf an psychologischen Einzelgesprächen

Ausreichende Deutschkenntnisse

Chronifizierungsstadium 1–2

Möglich

Symptombereiche

Körperliche Ausprägung

Arbeitsfähigkeit

Psychosoziale Faktoren

Betreuungsbedarf (körperlich)

Betreuungsbedarf (psychologisch)

Sprache

Chronifizierung nach Gerbershagen

Gruppenarbeit

3-Wochen-Programm

Möglich

Chronifizierungsstadium 2–3

Ausreichende Deutschkenntnisse

Keine Gruppenfähigkeit

Chronifizierungsstadium 3

Chronifizierungsstadium 1

Keine ausreichenden Deutschkentnisse

Keine Notwendigkeit psychologischer Gespräche

Schwere psychische Komorbidität

Alle

Physiotherapeutische und/oder ärztliche Betreuung in geringem Umfang in externer Einrichtung ausreichend Hoher Bedarf an physiotherapeutischer und ärztlicher Einzelbetreuung

Bedarf an zusätzlicher physiotherapeutischer Einzelbetreuung + ärztlicher Intervention Bedarf an psychologischen Einzelgesprächen

In der Regel keine signifikanten Belastungsfaktoren

AF/kurzfristig AF zu erwarten

Gering

– Ein isolierter, gut abgrenzbarer Symptombereich mit nur geringer Beeinträchtigung, – Weiterempfehlung z. B. an externe Psychotherapiepraxis – Monomodale Therapie ausreichend

Anderes

Ausgeprägte psychosoziale Belastungsfaktoren

AU > 12 Wochen

Äußerste körperliche Beschwerden

– Mehrere Symptombereiche – Begleiterkrankungen, die die Belastbarkeit beeinträchtigen – generalisierte Schmerzerkrankung – Fahrtzeit > 1 h zu den ambulanten Programmen

Stationäre Schmerzbehandlung

Ausgeprägte psychosoziale Belastungsfaktoren

AU > 12 Wochen

Ausgeprägte Beeinträchtigung und Dekonditionierung

Über den Hauptsymptombereich hinaus bestehen weitere Symptombereiche (z. B. LWS + HWS, HWS + Schulter)

4-Wochen-Programm

Tab. 2.10: Selektionskriterien für die Behandlungsempfehlung

66 | 2 Interdisziplinäres Assessment

2.5 „Sechs Augen sehen mehr als zwei“ – Die interdisziplinäre Handlungsempfehlung | 67

ist der Fall, wenn die kardiopulmonale oder die muskuloskeletale Belastbarkeit (z. B. aktivierte oder akute Pathologien der peripheren Gelenke, immobilisierende Schmerzen) nicht ausreichend ist oder wenn Red Flags (s. Kap. 2.2) vorliegen. Dies gilt auch für eine schwere, im Vordergrund stehende psychische Komorbidität. Besteht hier eine diagnostische Lücke, sind die fehlenden Untersuchungen vor der Therapie nachzuholen. Sozialmedizinische und psychosoziale Aspekte spielen in der Beurteilung eine nahezu gleichwertige Rolle. Eine in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit deutlich gebesserte Symptomatik kann bei hohen berufsbezogenen Belastungen (z. B. Dachdecker, Verkäuferin) dennoch zur Empfehlung eines multimodalen 4-Wochen-Programms führen. Die berufsbezogenen Belastungen können auch psychischer Natur sein, beispielsweise bei hohem Arbeitsdruck und defizitären psychischen Abgrenzungsmöglichkeiten. Die mögliche Funktionalität von Schmerz im psychosozialen Kontext und eventuelle Zielkonflikte werden hier mitberücksichtigt. Dies sind überwiegend ungeklärte Arbeitsverhältnisse (z. B. Kündigung während der Krankschreibung) oder prekäre finanzielle Verhältnisse, wenn das ALG 1 ausläuft oder eine gewisse Zeit bis zum Beginn der Rente bei geringer Arbeitszufriedenheit oder hohem Druck des Arbeitgebers überbrückt werden muss. Die Identifikation der relevanten Informationen und Beobachtungen und deren Gewichtung sind die Aufgaben aller am Assessment beteiligten Untersucher. Diese Festlegung beeinflusst die Behandlungsplanung, aber auch das dem Patienten vermittelte Krankheitsmodell. Wenn keine Indikation für eine tagesklinische multimodale Behandlung besteht, werden alternative Empfehlungen ausgesprochen. Dies kann bei geringer Beeinträchtigung und fehlenden psychosozialen/sozialmedizinischen Problemen ein Verbleib in der bisherigen Versorgung sein. Bei hoher psychophysischer Komorbidität kann eine stationäre schmerztherapeutische oder psychosomatische Behandlung empfohlen werden. Es kann auch eine Operationsindikation gestellt werden, wenn eine konservative multimodale Behandlung bei bestehender Befundlage nicht möglich oder nicht erfolgversprechend erscheint. Bei unklarer Arbeitssituation können zunächst eine Klärung der beruflichen Situation und danach ggfs. eine Wiedervorstellung empfohlen werden. Für Patienten mit vielen erfolglosen auch stationären Behandlungen in jüngerer Zeit kann die Empfehlung einer Therapiepause sinnvoll sein.

2.5.2 Patientenverhalten Auch Patienten treffen eine Entscheidung über ihre Behandlung. Sie können ein Behandlungsangebot annehmen oder ablehnen. Dies kann verbal oder nonverbal, es kann direkt oder indirekt geschehen. Patienten passen ihr Verhalten in Abhängigkeit von der Untersuchungssituation an. Dies kann beabsichtigt, aber auch unbeabsichtigt

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geschehen. Bei der Einschätzung des non- und paraverbalen Schmerzausdrucks, des Schmerzverhaltens, aber auch des Bewegungsverhaltens oder des Gangs handelt es sich um eine offene Beobachtung des Untersuchten durch den Untersucher – das zu untersuchende Verhalten kann sich durch das Wissen, beobachtet zu werden, verändern [95, 96]. Neben dieser Reaktivität spielt das Konzept der sozialen Erwünschtheit eine Rolle. Wichtige damit verbundene Begriffe sind Dissimulation (beabsichtigt), Bagatellisierung (unbeabsichtigt), Simulation und Aggravation. Manche Patienten verhalten sich in Abhängigkeit von der Berufsgruppe sehr unterschiedlich. So kann sich das Interaktionsverhalten, aber auch das Schmerzverhalten stark unterscheiden. Die zeitnahe Abfolge der medizinischen, physiotherapeutischen und psychologischen Untersuchung am gleichen Tag erlaubt es, Diskrepanzen zu erkennen und den eigenen Eindruck zu relativieren. Nicht selten lassen sich aus dem gezeigten Verhalten Rückschlüsse auf die Behandlungsmotivation ziehen. Diese Beobachtungen fließen implizit oder explizit reflektiert ebenfalls in die Beurteilung darüber ein, ob die Behandlungsprognose günstig oder ungünstig ist.

2.5.3 Zum Ergebnis kommen Untersuchungen zu Entscheidungsprozessen zeigen, dass mathematische lineare Modelle oft zu treffenderen Urteilen kommen als Personen. Urteile von Personen sind zwischen unterschiedlichen Urteilern und auch zu verschiedenen Zeitpunkten nicht konsistent [97], damit ist jede Entscheidung subjektiv. Um den Einfluss von Vorurteilen der Behandler und die Diskriminierung bestimmter Patientengruppen zu minimieren, wird eine stärkere Berücksichtigung des Patientenverhaltens beispielsweise in Belastungstests als prognostischer Faktor für die Rückkehr an den Arbeitsplatz diskutiert [98]. Im gemeinsamen Entscheidungsprozess bewirken kohärente Informationen, dass die Entscheidung schneller getroffen werden kann als bei alleiniger Entscheidung. Bei heterogener Einschätzung zu einer gemeinsamen Entscheidung zu gelangen, erfordert einen Informationsaustausch und das Anhören der unterschiedlichen Begründungen. Im Idealfall reicht dies zur Konsensfindung aus. Es gibt feste Regeln für den Entscheidungsprozess. Die Behandlungsempfehlung wird bei Vorliegen mehrerer positiv vorhandener Kriterien getroffen (Tab. 2.10). Wenn jedoch bestimmte Hinweisreize nicht eindeutig mit dem Kriterium zusammenhängen, kommt es zu einem meist intuitiven Entscheidungsprozess, innerhalb dessen konfliktreiche Hinweise abgewertet und kohärente Informationen aufgewertet werden [97]. Beispiele für diesen Prozess sind die oft schwierige Einschätzung des sprachlichen Verständnisses von Patienten mit Migrationshintergrund oder die Einschätzung der Behandlungsmotivation. Um Letzteres geht es im Fall von Frau K., die sehr sympathisch und offen ist und bei allen drei Untersuchern betont, dass sie unbedingt wieder aktiver werden und endlich zur Arbeit zurückkehren möchte. Auffällig sind die lange Krankschreibung (> 3 Monate)

2.5 „Sechs Augen sehen mehr als zwei“ – Die interdisziplinäre Handlungsempfehlung | 69

und die erfolglose bisherige Behandlung, die Frau K. darauf zurückführt, dass sie erst seit wenigen Tagen genau wisse, was sie habe. Die sie am Empfang aufnehmende Arzthelferin schreibt in die Akte, dass Frau K. den Fragebogen und die Wartezeit zwischen den drei Terminen (ca. eine halbe Stunde) als Zumutung empfunden und sich lautstark beschwert habe. Das Voting von Frau K. bestand in der Aufnahme zu einem 3-Wochen-Programm. Ihr initialer Unmut wurde als situationsspezifischer „Ausrutscher“ eingeschätzt. Im Behandlungsverlauf zeigten sich erhebliche interaktionelle Schwierigkeiten zwischen sämtlichen Behandlern und der Patientin. Bei Thematisierung der Arbeitssituation und der Planung der Rückkehr fühlte sie sich massiv überfordert. Letztlich wurde gemeinsam mit der Patientin entschieden, die Behandlung vorzeitig abzubrechen. Das Beispiel verdeutlicht zum einen die Relevanz „beiläufiger“ Hinweise, aber auch die Chance, über den Verlauf eine Rückmeldung über die Angemessenheit des Urteils zu bekommen. Deshalb macht es Sinn, Voting-Kriterien hin und wieder auch zu übertreten, um sie korrigieren zu können – im Zweifelsfall für den Patienten. In der interdisziplinären Behandlung im Rahmen der Tagesklinik besteht durch den Austausch die Möglichkeit, durch Erfahrung und Rückmeldung zu lernen, inwieweit sich die Argumente für die getroffene Einschätzung bewährt haben.

2.5.4 Erfahrungen sammeln – Rückmeldungen über den Patienten und die Einschätzung – Wie ist es weitergegangen? Herr A. fühlte sich anfänglich im Programm wohl, die PRT bewirkte eine Linderung der Radikulopathie, so dass er die Bewegungseinheiten gut tolerieren konnte. In der Gruppe beschreibt er seine Schmerzen als schlimm und traumatisierend, wirkt aber sehr aktiv und hat seine selbstständige Tätigkeit teilweise wiederaufgenommen. Er wirkt getrieben und fällt durch seine vielen Fragen auch über die „Gruppengrenze“ hinweg anderen Kollegen auf. Wie erwartet, fordert er viel an Rückversicherung ein. Er kommt zu allen Einheiten zu spät, als Grund nennt er die Schmerzen und den Schlafmangel. Schließlich fehlt er ganze Tage. Die hohe Erwartungshaltung bei fehlender Compliance führte letztlich zum Abbruch der Behandlung. Fazit Die interdisziplinäre Diagnostik ermöglicht ein ganzheitliches Bild und bereitet die Behandlung vor. Sie ist Ausgangspunkt für die Beurteilung von Veränderungen im Behandlungsverlauf. Die konkrete Informationserhebung ist untrennbar mit der Behandler-Patient-Beziehung verknüpft. Gegenseitiger Respekt, Aufklärung und der Aufbau einer positiven Erwartungshaltung können bereits therapeutisch wirksam sein. Für die Behandler untereinander besteht die Herausforderung in der Abstimmung und gegenseitigen Einordnung der Relevanz unterschiedlicher Faktoren.

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Michael Hamel

3 Interdisziplinäre Therapie Vor jeder Therapie steht die Diagnose, auch vor der MMST! Wenn nach dem interdisziplinären Assessment ein multimodales Therapieprogramm empfohlen wird, erfolgt ein möglichst zeitnaher Therapiestart. Die Patienten werden chronologisch in die freien Therapieplätze der wöchentlich startenden und somit zyklisch seriell ablaufenden Gruppen eingeplant. In einer persönlichen schriftlichen Einladung wird der Teilnehmer über den Zeitraum des Programms, die Zeitfenster des Stundenplans und mitzubringende Materialien und Unterlagen informiert. Grundlage für die tagesklinische multimodale Therapie ist das Konzept der Functional Restoration, das mit dem „Göttinger Rücken-Intensiv-Programm (GRIP)“ erstmalig in Deutschland eingeführt wurde [1]. Das einleitende Fallbeispiel gibt einen ersten induktiven Einblick in das äußerst komplexe Therapieprogramm. Alle weiteren Abschnitte beschreiben die therapeutischen Elemente der MMST, die dann abschließend zu einem Ganzen zusammengefügt werden. So benötigt ein multimodales Programm mit verschiedenen Fachdisziplinen zunächst klare organisatorische Rahmenbedingungen („Spielplan“). Daneben sind auch disziplinübergreifende Therapieprinzipien („Spielregeln“) notwendig. Diese übergeordneten Strukturen sind noch kein Ausdruck von Interdisziplinarität, sondern bilden lediglich die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Die fachspezifischen Module Medizin, Psychologie und Motorik beschreiben ihre eigenen Methoden und Interventionen auf ihrem jeweiligen theoretischen Integrationsniveau. Darüber hinaus sind bereits Überschneidungen untereinander erkennbar. Der letzte Abschnitt hat diese Schnittstellen zum Hauptthema und fügt somit die Elemente im Sinne der Interdisziplinarität zusammen.

Marion Heinrich

3.1 4-Wochen-Therapie – Ein Fallbeispiel 3.1.1 Der „Diagnostiktag“ Herr K. berichtet über zunehmende Schmerzen im Bereich der HWS ohne dermatombezogene Fortleitung seit zwei Jahren. Er habe auch rezidivierende lumbale Beschwerden seit vielen Jahren, in letzter Zeit verstärkt. Weiter beklagt er eine seit einem halben Jahr bestehende Bewegungseinschränkung der Mittelgelenke in beiden Händen. Die bisher durchgeführte konservative Therapie (Massage) erbrachte keine anhaltende Beschwerdelinderung. Die durchschnittliche Schmerzstärke wird mit 0 bis 4–5/10 auf der NRS eingestuft. Eine Schmerzverstärkung tritt bei körperlicher Belastung auf, Bewegung wird als angenehm beschrieben. Eine medikamentöse Schmerztherapie wird https://doi.org/10.1515/9783110546200-005

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nicht durchgeführt. Die Miktion wird als gestört dargelegt und ein ungewollter Gewichtsverlust verneint. Eine Schmerzmodulation hinsichtlich psychologischer Faktoren wird nicht geschildert. Aufgrund der Schmerzen habe er keine Aktivitäten aufgegeben bzw. eingeschränkt, er vermeide aber schnelle Kopfbewegungen und bewege sich insgesamt langsamer und vorsichtiger. Im Vordergrund der Belastungen durch die Schmerzen stehe, nicht arbeiten zu können. An psychosozialen Belastungen benennt der Patient partnerschaftliche Spannungen und die berufliche Situation. In der physiotherapeutischen Untersuchung wird als funktionelles Hauptproblem die Kopfdrehung angegeben. In Kombination mit Heben stellt dies die entscheidende Einschränkung in Bezug auf die bestehende Arbeitsunfähigkeit dar. Herr K. ist 51 Jahre alt, ledig und lebt in einer festen Partnerschaft. Gemeinsam mit der Partnerin bewohnt er eine Mietwohnung. Das soziale Netz ist klein, zu seiner Herkunftsfamilie bestehe aufgrund von Konflikten zwischen seiner Partnerin und seiner Familie wenig Kontakt. Der gelernte Gas-Wasser-Installateur hat zuletzt vollschichtig und mit guter beruflicher Zufriedenheit als Maschineneinrichter gearbeitet, das Arbeitsverhältnis sei wenige Tage nach der Krankschreibung ausgelaufen und der Vertrag nicht verlängert worden. Aufgrund der Schmerzen ist er seit elf Wochen arbeitsunfähig. Es besteht ein GdB von 30 (LWS). Ein Rentenwunsch wird verneint.

3.1.1.1 Auszüge der orthopädisch-neurologischen Untersuchung und des physiotherapeutischen Befundes Der neurologische Befund ist unauffällig, es zeigen sich keine neurodynamischen Einschränkungen oder Bewegungseinschränkungen in den großen Gelenken. Die HWS-Rotation ist deutlich eingeschränkt, nach Einschätzung von Arzt und Physiotherapeut am ehesten aufgrund von Bewegungsangst. Der Schmerz des Patienten kann durch eine Kopfrückneige und Druck auf das Segment C5 ausgelöst werden. Weiterhin finden sich Triggerpunkte im M. levator scapulae und M. trapezius. Statisch fallen eine lumbale Hyperlordose, ein funktioneller Beckenschiefstand und eine Kopfvorhalte auf. Die ventrale Halsmuskulatur, die Bauch- und Rückenmuskeln global sowie die Scapulafixatoren sind abgeschwächt und die Segmentale Stabilisation insuffizient.

3.1.1.2 Psychologischer Befund Freundlich-zugewandtes Interaktionsverhalten. Herr K. ist bewusstseinsklar, voll und allseits orientiert bei grübelbedingt zeitweise herabgesetzter Konzentration und Merkfähigkeit. Die Stimmung ist ängstlich-deprimiert bei vermindertem Antrieb und angespannter Psychomotorik. Die vegetativen Funktionen sind durch nicht erholsamen Schlaf beeinträchtigt. Auf Ebene der motorisch-verhaltensmäßigen bzw. kognitiven

3.1 4-Wochen-Therapie – Ein Fallbeispiel | 79

Schmerzverarbeitung bestehen Hinweise auf Bewegungs- und Belastungsvorsicht und eine erhöhte Schmerzfokussierung. Darüber hinaus werden zukunftsbezogene Ängste bei Hinweisen auf eine erhöhte Neigung zu Sorgen und Ängsten und einer selbstunsicheren und gewissenhaften Persönlichkeitsstruktur deutlich.

3.1.1.3 Diagnosen – chronische Cervicobrachialgie mit funktioneller Instabilität (M99.0, M53.1), – chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41), – Haltungsinsuffizienz mit Steilstellung der HWS in den oberen Segmenten und beginnender Kyphosierung im CTÜ (R29.3), – muskuläre Dysbalance der Lenden-Becken-Hüftregion mit Insuffizienz der Rumpfmuskulatur insbesondere des tiefen stabilisierenden Systems (M62.99).

3.1.2 Behandlungsverlauf 3.1.2.1 Erste Woche Herr K. wirkt bei der Vorstellungsrunde in der Gruppe schüchtern. Er setzt sich auf einen Platz in der Mitte des zur Tafel hin offenen Sitzkreises. Diesen Platz wird er während der gesamten vier Wochen in den Schmerzbewältigungseinheiten, im Arztunterricht und in der Entspannung beibehalten. Bei der Zielbestimmung richtet er sich nach den Zielen der anderen, beschränkt sich aber auf Ziele, die sich auf die Arbeitsfähigkeit beziehen. Dabei orientiert er sich an den Anforderungen seines letzten Arbeitsplatzes, berichtet nicht, dass er entlassen wurde. Auf die Frage, was er als Erstes machen würde, wenn sich seine körperlichen Probleme gelöst hätten, nennt er spontan: Urlaub/Ausspannen. Mit therapeutischer Unterstützung werden als konkrete Ziele Kisten-Tragen (7–8 kg), Verbesserung der Beweglichkeit, Tolerieren von Zwangshaltungen (Drehbewegungen am Band) vereinbart. Herr K. ist still, wirkt aber interessiert. Während andere Gruppenteilnehmer zwischendurch miteinander reden und lachen, hält er sich zurück. In der Besprechung der Schmerzfolgen in der Gruppe nennt er eine gedrückte Stimmungslage und Schlafprobleme. Die Entspannung fällt ihm schwer, er sei sehr abgelenkt durch Außengeräusche. In den Bewegungseinheiten ist er unsicher und ängstlich. Die therapeutische Kontrolle gibt ihm Sicherheit. Er setzt die Anweisungen sehr konzentriert um. Insgesamt ist er abwartend und zeigt wenig Eigeninitiative. In der ersten Visite (Ende der ersten Woche) möchte er wissen, wie es nach dem Programm weitergeht. Über diese Frage grüble er viel, könne auch schlecht schlafen. Auf Nachfragen erklärt er, dass er während des Programms nicht, zu Hause aber ständig daran denke. Gemeinsam wird dann besprochen, dass er sich auf die Gegenwart fokussieren soll. Ein psychologischer Einzeltermin wird für die nächste Woche vereinbart. Insgesamt denke er, dass das Programm ihm helfen könne. Auch in der

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Gruppe komme er gut zurecht. In der Teambesprechung wird er von allen hinsichtlich seiner Zurückhaltung und des Bedürfnisses nach Sicherheit und Ermutigung ähnlich wahrgenommen. Therapeutische Ansatzpunkte sind Sicherheit vermitteln, Fokussierung auf die Körperwahrnehmung, Unterbrechung des dysfunktionalen Grübelns und Steigerung der Belastbarkeit.

3.1.2.2 Zweite Woche Zu Beginn der zweiten Behandlungswoche berichtet er, dass er am Wochenende zur Ruhe gekommen sei, der Schmerz sei aber mehr geworden. Er sei froh, wieder hier zu sein, und freue sich auf die Woche. Herr K. wirkt weniger schüchtern und aufgeschlossener. Bei Beginn der Gymnastik muss er oft nochmals zur Toilette. In der zweiten Woche ist die wesentliche Aufgabenstellung in der Medizinischen Trainingstherapie die eigenständige Durchführung des erarbeiteten Trainingsplans und der in der ersten Woche gelernten Eigenübungen. In der dafür vorgesehenen Zeit von 1,5 Stunden führt er die Übungen durch, schafft dann aber nur den ersten Durchgang des Trainingsplans. Es fällt ihm schwer, sich zu entscheiden, welche Übung er als Nächstes durchführen möchte. Es entsteht der Eindruck, dass ihm das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Training und zu trainierender Funktion fehlt. Beim Thema Schmerzwahrnehmung und Verarbeitung fällt ihm die Differenzierung zwischen akutem und chronischem Schmerz schwer, ein plötzlicher starker Schmerz ist aus seiner Sicht auch ein akuter Schmerz. Als Schmerzursachen schätzt er für sich persönlich neben anatomischen Veränderungen die Belastungen in der Partnerschaft, wenig Schlaf und die unklare berufliche Situation ein. Eine unter diesen Bedingungen erhöhte Schmerzsensibilisierung kann er gut nachvollziehen. In der dritten PME-Einheit kann er etwas besser entspannen, merkt, dass er müde geworden ist. Im Einzelgespräch wird deutlich, dass er klare Strukturen, Vertrautes und Sicherheit schätzt. Die Partnerschaft, die Arbeit und die Gesundheit sind unkontrollierbar und unsicher geworden. Er schildert sich als unsicher und unbeholfen. Seine Partnerin sei oft genervt von ihm. Sie spreche von Trennung, das wolle er auf keinen Fall und es mache ihm Angst. Seine Ehefrau ist sechs Jahre älter, wegen Brustkrebs berentet. Sie habe sich von ihm zurückgezogen, sei oft gereizt. Sie habe sich psychisch und körperlich durch die Behandlung sehr verändert. Er thematisiert auch seine berufliche Situation. Er versuche von den Firmen, in die er teils über Jahre ausgeliehen werde, übernommen zu werden. Dies habe nun zum ersten Mal geklappt, aber sein Vertrag werde nicht verlängert. Er habe sich unter Druck gesetzt, alles richtig zu machen. Er habe schon geahnt, keine Verlängerung zu bekommen. Es sei kränkend für ihn, auch belaste ihn, dass er sich immer auf neue Leute und neue Situationen einstellen müsse. Er wolle irgendwohin gehören. Er wolle sicher sein, dass er gesund sei, damit er, wenn er eine neue Stelle antrete, nicht sofort wieder ausfalle. Eine Voraussetzung dafür sei Schmerzfreiheit. Dies kann problematisiert werden, und Herr K.

3.1 4-Wochen-Therapie – Ein Fallbeispiel | 81

räumt ein, dass er auch dann nicht sicher sein könne, er würde sich aber sicherer fühlen. Auf die Frage, was ihm noch Sicherheit und Vertrauen in seine Belastbarkeit geben könne, antwortet er, er müsse viel ausprobieren und schauen, ob ihm da was schade. Er wird ermutigt, das im weiteren Behandlungsverlauf zu tun. Er bekommt außerdem die Aufgabe, sich PME und Atementspannung aus dem Internet auf sein Telefon zu laden und einzuüben. Abends vor dem Einschlafen oder wenn er nachts wach wird, soll er dann eins von beidem durchführen. In der Visite gibt Herr K. gleichbleibende Schmerzen an, er nehme weiterhin keine Analgetika. Er merke aber trotz der gleichbleibenden Schmerzen, dass ihm die Bewegung guttue.

3.1.2.3 Dritte Woche Zu Beginn der 3. Woche sagt er, dass alles ruhiger geworden sei. Er habe am Wochenende gemerkt, dass er zwar müde sei, seine Laune sich aber gebessert habe. Er empfinde weniger Stress. Er habe das mit der PME ausprobiert und es habe funktioniert, er sei rascher als in den letzten Nächten wieder eingeschlafen. Im Bewegungsbereich zeigt er sich weiter abwartend. Beim Gerätetraining ist er unentschlossen, wenn das auf seinem Plan erste Gerät bereits besetzt ist. Nur unter 1:1-Betreuung schafft er den Trainingsplan. Bei konkreter Anweisung führt er die Übungen gut aus, auf sich gestellt wirkt er weiterhin schnell unsicher und hilflos. Auch die gleichmäßige Atmung fällt bei Konzentration auf die Übung noch schwer. In einer Aufmerksamkeitsübung (s. Kanäle putzen) kann er eine Fokussierung auf die verschiedenen Sinneskanäle erreichen und andere Störquellen ausblenden. Bei der Fokussierung von Schmerz berichtet er, dass er den Schmerz nur gering habe wahrnehmen können, und auch erst ab diesem Moment. Die dritte Behandlungswoche thematisiert die Rückkehr in die Arbeitswelt, dies durchzieht alle Einheiten. Herr K. wirkt sehr aufmerksam und interessiert. Erstmals thematisiert er auch in der Gruppe, dass ihm gekündigt wurde. Er möchte sich ungern arbeitslos melden. Aus eigener Initiative meldet er sich bei seiner früheren Leihfirma und bekommt positive Rückmeldung, ihm wird zugesichert, dass er zeitnah anfangen könne. Er ist einerseits erleichtert, andererseits aber auch unsicher, ob er der Belastung schon gewachsen ist. Im Gruppensetting werden seine Befürchtungen und die der anderen Teilnehmer thematisiert und er fühlt sich entlastet, dass er mit seiner Angst nicht alleine ist. Gleichzeitig kann er durch die Rückmeldungen der anderen Teilnehmer sein bisheriges Konzept, dass er nicht gut genug gewesen und deshalb der Vertrag nicht verlängert worden sei, infrage stellen. In der Visite sieht er sich selbst als noch nicht vollständig einsatzfähig an, kann aber unsere Einschätzung seiner Arbeitsfähigkeit nachvollziehen und möchte es probieren. Er kann selbst einen Unterschied zwischen Wochenende und Behandlungswoche in seiner Stimmung feststellen. Der Kontakt zu den anderen tue gut, Rückzug hingegen bewirke, dass er mehr grüble.

82 | 3 Interdisziplinäre Therapie

3.1.2.4 Vierte Woche Herr K. schildert, dass er ein schönes Wochenende erlebt habe, er habe mehr unternommen. Er versuche das Grübeln zu unterbrechen. Er sei zwar unruhig wegen der Arbeit, versuche aber, diese Gedanken zu unterbrechen und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Dies gelinge ihm unterschiedlich gut. Insgesamt fällt in der letzten Woche auf, dass er sich in der Gruppe angenommen fühlt. Er hat seine Bezugspersonen gefunden, unterhält sich viel. Er kommt mit dem Motorrad her und hat einen anderen Motorradfahrer in der Gruppe gefunden. Toilettengänge während der Einheiten sind kaum noch zu beobachten. Herr K. wirkt entspannter und gelöster. Die Eigenverantwortung im Trainingsbereich erscheint hingegen wenig verändert. Während andere sich Notizen machen, selbstständig ihr weiteres Programm planen, bleibt er abwartend und reagiert erst auf konkrete Anweisungen. Dies betrifft nicht nur die eigenverantwortliche Trainingsdurchführung und die weitere Planung, sondern auch einfache Handlungen wie das Anlegen des Brustgurtes oder das aktive Zugehen auf einen anderen bei einer Partnerübung. In den psychologischen Einheiten liegt der Schwerpunkt auf der Balance zwischen Aktivität und Ruhe, es geht um eigene Belastungsgrenzen, Selbstfürsorge und Abgrenzung mit dem Ziel, genügend Ressourcen (Zeit und Energie) für die Weiterführung des Trainings zu haben. Herr K. kann für sich erkennen, wie handlungsleitend, aber auch überfordernd sein Anspruch, alles richtig zu machen, ist. Deutlich werden aber auch Vermeidungswünsche hinsichtlich seiner beruflichen Situation. Er möchte über die Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit die Meldung beim Arbeitsamt und das Beantragen von Arbeitslosengeld umgehen. In der Gruppe entsteht eine Diskussion über den Zeitpunkt der Arbeitsfähigkeit und wie dieser auch von der beruflichen und finanziellen Situation abhängt. In der Visite gibt er auf Nachfrage an, dass sich sein Zustand um 50 % verbessert habe. Er habe noch Schmerzen, die vielleicht etwas weniger geworden seien. Auch habe er in der letzten Woche zwar eine Besserung im oberen Rücken erreicht, merke nun aber Beschwerden im unteren Rücken. Er sei sich aber sicher, dass er auf dem richtigen Weg sei, und er wolle weiter Sport machen. Seine Stimmung habe sich deutlich gebessert, er sei wieder zuversichtlicher geworden. Herr K. entscheidet sich gegen die Teilnahme an unserem Nachsorgeprogramm. Er möchte die gelernten Gymnastikübungen in Eigenregie durchführen, er habe sich bereits ein Theraband besorgt.

3.1.3 Beurteilung des Behandlungsverlaufs aus Behandlersicht Aus bewegungstherapeutischer Sicht konnte Herr K. sein Vermeidungsverhalten reduzieren. Dies zeigt sich insbesondere bei den anfänglich beeinträchtigten Kopfbewegungen, beim runden Bücken und Heben. Der Patient erlebt bei diesen Handlungen weiterhin dasselbe Schmerzniveau, empfindet sie aber als weniger anstrengend, er konnte inzwischen seine Bewegungsangst reduzieren und sein Vermeidungsver-

3.2 Spielplan – Die Rahmenbedingungen |

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halten abbauen. Die Bereiche der HWS und der Schulterblätter unterliegen einer etwas besseren Haltungs- und Bewegungskoordination. Die Inhalte der segmentalen Stabilität kann Herr K. gut umsetzen. Die Rumpfbeweglichkeit, gemessen über den Finger-Boden-Abstand, betrug anfangs 31 cm und verbesserte sich auf 17 cm. Die submaximale Hebekapazität verbesserte sich lumbal von 6,5 kg auf 21,5 kg und zervikal von 11,5 kg auf 16,5 kg. Jedoch erscheint Herr K. noch abwartend und unsicher in der eigenverantwortlichen Gestaltung eines gesundheitssportlichen Trainings. Aus psychologischer Sicht konnte Herr K. Ressourcen und hilfreiche Strategien entwickeln und reaktivieren. Hinsichtlich seiner psychosozialen Belastungsfaktoren nimmt er nur wenig Veränderungsspielraum wahr und fühlt sich dem Verhalten der anderen ausgeliefert. Misserfolg und Unstimmigkeiten oder neutral-negatives Verhalten anderer beim Kontakt mit ihm attribuiert er auf sich. Abwarten mindert die Angst, etwas falsch zu machen. Unverändert liegen psychosoziale Belastungsfaktoren durch die Erkrankung seiner Ehefrau und damit verbundene Partnerschaftskonflikte vor, deshalb besteht die Gefahr, dass sich bei fehlenden positiven Erlebnissen die ängstlich-depressive Stimmungslage erneut verstärkt. Aus ärztlicher Sicht traten keine Auffälligkeiten auf. Eine Zusatzmedikation oder lokale Injektionen waren während der gesamten Therapie nicht erforderlich. Herr K. wird aus orthopädischer und psychologischer Sicht wieder arbeitsfähig sein und sich bei der Agentur für Arbeit melden. Das Fallbeispiel von Herrn K. zeigt deutlich, wie sehr die Persönlichkeit und auch die psychosozialen Rahmenbedingungen den Behandlungsverlauf bestimmen. Der vorgegebene Behandlungsrahmen durch die geschlossene Gruppe ermöglicht die Entwicklung von Vertrauen und Offenheit. Herr K. bekommt Zuwendung und positive Rückmeldung. Dies führt neben den Erfahrungen und der Leistungssteigerung im Training zu einer Stimmungsaufhellung. Der Behandlungsverlauf zeigt aber auch, dass implizite Behandlungsziele der Behandler (z. B. Übernahme von Eigenverantwortung im Trainingsbereich, eine differenzierte Körperwahrnehmung) häufig nicht erreichbar sind. Sie können zu hoch sein, den Patienten überfordern oder aber diskrepant zu den Patientenzielen sein. Herr K. selbst berichtet, dass er seine Ziele erreicht habe.

Michael Hamel

3.2 Spielplan – Die Rahmenbedingungen 3.2.1 Das Team – Multidisziplinär und interdisziplinär Ein notwendiges biopsychosoziales Herangehen kann nur durch ein vielschichtig zusammengestelltes Therapeutenteam gewährleistet werden, dessen Mitglieder eine unterschiedliche Ausprägung hinsichtlich Ausbildung, Modellen, Methoden und Sozialisation mitbringen. Das Team des Rückenzentrums besteht aus Ärzten, Psychologen,

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Physiotherapeuten und Sporttherapeuten. Für jede Patientengruppe sind somit vier Therapeuten verantwortlich. Nur durch diese Art von Multidisziplinarität ergibt sich zwangsläufig die oft geforderte Multimodalität mit unterschiedlichen Inhalten. Die Interdisziplinarität (Kap. 3.8.3) entsteht schließlich erst durch Vernetzung auf therapeutischer und inhaltlicher Ebene mit folgenden Kriterien: Den Therapeuten sind eindeutige Module, Aufgaben und Rollen zugeordnet. Dabei gilt die Prämisse: „Interdisziplinär denken, spezialisiert handeln“. Während Kenntnisse über das Fachgebiet des Kollegen die Voraussetzung für eine gemeinsame Fachsprache und für die Reflexion des eigenen Handelns sind, ist es notwendig, gleichzeitig fachliche Grenzen einzuhalten. Dies gelingt durch die Nutzung der Methoden und des Könnens lediglich aus dem eigenen spezialisierten Fachbereich. Dabei unterliegen alle Fachbereiche der Heterarchie. Voraussetzung dafür ist eine gegenseitige Wertschätzung. Für die übergeordneten Ziele ergibt sich schließlich eine Teilung der Verantwortung. Die Aufgabenverteilungen und Rollendefinitionen sind ein dynamischer Prozess und müssen durch regelmäßige fachliche und patientenbezogene (Kap. 3.8.1) Austauschmöglichkeiten gefördert werden. Alle Therapeuten handeln nach gemeinsamen übergeordneten Prinzipien (Kap. 3.3) und vermitteln dieselben Botschaften (Kap. 3.8.3). Die Therapiemodule und der Therapieablauf erfolgen nach einem transparenten Wochenplan und sind durch eine klare Struktur gekennzeichnet. In den Modulen finden sich edukative Schnittstellen, d. h., verschiedene Therapeuten thematisieren in ihren Interventionen mit unterschiedlichen Methoden ein und dieselbe Fragestellung (Kap. 3.8.3). Die wöchentlichen Visiten sowie die gemeinsame Begrüßung und Verabschiedung machen die Teamstruktur für die Patienten transparent.

3.2.2 Die Inhalte – Module, Pläne, Abläufe 3.2.2.1 Die Vorbehandlung Verschiedene Bedingungen erfordern vor Programmstart zunächst eine Herstellung der Trainierbarkeit oder Gruppentauglichkeit: – Positiv getestete Neurodynamik: Der Arzt entscheidet über eine PRT oder auch physiotherapeutische Maßnahmen. – Das Körpergewicht beträgt mehr als 120 kg: Das Basisprogramm der Medizinischen Trainingstherapie (Kap. 3.6.7) wird in der Gruppe instruiert. Die Herstellerangaben einiger Trainingsgeräte limitieren die Nutzung bis zu einem Körpergewicht von 120 kg. Bei entsprechenden Patienten erfordert dies eine individuelle Zusammenstellung des Basisprogramms in maximal zwei Einzelterminen vor dem Programmstart.

3.2 Spielplan – Die Rahmenbedingungen |





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Komorbiditäten peripherer Gelenke: Starke schmerzbedingte Beeinträchtigungen in den Extremitäten können die Nutzung der Bewegungsmodule deutlich reduzieren. Bei funktioneller Therapierbarkeit kann eine entsprechende medizinische und physiotherapeutische Versorgung die Gruppentauglichkeit herstellen. Fragliche Gruppentauglichkeit: Die Teilnehmer benötigen ein Grundpotenzial an habituellen Bewegungen, die eine Teilnahme am Programm praktikabel machen. Kann der Diagnostiktag diese Frage nicht klären, wird der Patient in Einzelterminen mit weiteren motorischen Aufgaben konfrontiert: Gehen, Wechsel zwischen Stehen und Liegen, Treppensteigen, Heben. Dabei kommt es nicht auf eine quantitative Leistungsfähigkeit an, sondern auf die grundsätzliche Durchführbarkeit.

3.2.2.2 Das 4-Wochen-Programm Das Therapieprogramm beginnt mit einer gemeinsamen Begrüßung sämtlicher Gruppenteilnehmer durch alle zuständigen Therapeuten. Neben einer kurzen gegenseitigen Vorstellungsrunde mit einem freiwilligen Informationsaustausch zum privaten Leben (Wohnort, Familie, Hobbys) erhalten die Patienten einen kurzen inhaltlichen Einblick in das Konzept (Kap. 3.4.6). Das Therapieprogramm erstreckt sich über vier Wochen je fünf Tage. Der abgebildete Wochenplan (Tab. 3.1) findet wiederholend über den gesamten Zeitraum statt. Der tägliche Umfang beträgt 4,5 Stunden, der Gesamtumfang 90 Stunden. Zusammen mit einer Vorbehandlung und begleitenden Einzelinterventionen umfasst das Programm ungefähr 100 Stunden. Es finden täglich zwei bewegungsbezogene und Tab. 3.1: Exemplarischer Wochenstundenplan Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

08:00–09:30 Gymnastik

08:00–09:30 Gymnastik

08:00–09:30 Gymnastik

08:00–09:30 Gymnastik

08:00–09:30 Gymnastik

09:30–09:45 Pause

09:30–09:45 Pause

09:30–09:45 Pause

09:30–09:45 Pause

09:30–09:45 Pause

09:45–11:15 Schmerzbewältigung/ Progressive Muskelentspannung

09:45–11:15 Basisinformation

09:45–11:15 Schmerzbewältigung/ Progressive Muskelentspannung

09:45–11:15 Visite/ Ausdauertraining

09:45–11:15 Schmerzbewältigung/ Progressive Muskelentspannung

11:15–11:45 Pause

11:15–11:45 Pause

11:15–11:45 Pause

11:15–11:45 Pause

11:15–11:45 Pause

11:45–13:15 Medizinische Trainingstherapie

11:45–13:15 Work Hardening

11:45–13:15 Gymnastik/ Ausdauer

11:45–13:15 Medizinische Trainingstherapie

11:45–13:15 Work Hardening

86 | 3 Interdisziplinäre Therapie

Tab. 3.2: Organisatorische Einheiten und differenzierte Therapieinhalte. Modul

Organisatorische Einheit

Therapieinhalt

Einheiten

Medizin

Basisinformation

Medizinische Edukation Sozialmedizin 1. bis 4. Woche

4

Psychologische Edukation Progressive Muskelentspannung 1., 3. und 4. Woche

8 4 3

Wirbelsäulenkoordination Segmentale Stabilisation Funktionsgymnastik Kleine Spiele Gleichgewichtstraining Rückenschule Sporttheorie

22

Visitenteilnahme Psychologie

Schmerzbewältigung Visitenteilnahme

Motorik

Gymnastik

MTT Work Hardening Ausdauertraining Visitenteilnahme

Ergometertraining Sportberatung 1., 2. und 3. Woche

4

7 7 8 3

eine wissensvermittelnde und reflexionsfördernde Einheit statt. In der Programmmitte wird ein Tagesplan durch einen Wandertag (Kap. 3.6.7) ersetzt. Die Visiten (Kap. 3.8.1) werden mit jedem Patienten einzeln und mit wechselnder Teamzusammensetzung durchgeführt. Während der Visite führen die restlichen Teilnehmer eine Einheit im Ausdauertraining durch. Die im Stundenplan genannten Module bilden nur organisatorische raumgebundene Einheiten ab. Im Programmverlauf sind dann differenzierte Inhalte zugeordnet. (Tab. 3.2) Im motorischen Modul gibt es eine Besonderheit des Betreuungsschlüssels. Während grundsätzlich alle Einheiten von einem Therapeuten versorgt werden können, macht der hohe Instruktions- und Korrekturaufwand in der Medizinischen Trainingstherapie und im Work Hardening die Anwesenheit von zwei Therapeuten notwendig. Der insgesamt dichte und oft liebgewonnene Kontakt zwischen Therapeuten und Patienten lässt eine informelle gemeinsame Verabschiedung mit Glückwünschen und Anerkennungen selbsterklärend werden und verdeutlicht abschließend noch einmal den strukturierten Charakter der Therapie und die Vernetzung des Teams.

3.2.2.3 Cool-down, Nachsitzen oder Förderung? – Die Nachbehandlung Die MMST zielt auf eine nachhaltige eigenverantwortliche Umsetzung von Verhaltensänderungen. Die Patienten stehen somit nach dem Programm vor einer großen

3.2 Spielplan – Die Rahmenbedingungen |

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Herausforderung. Der Aufbau der dazu notwendigen Potenziale wie Selbstwirksamkeitserwartung benötigt teilweise einen Zeitraum über die Programmdauer hinaus. Veränderung braucht Zeit! In Abhängigkeit vom Kostenträger bestehen unterschiedliche Möglichkeiten, diesem individuellen Bedarf durch eine freiwillige Programmverlängerung gerecht zu werden. Die ein- bis zweimal wöchentlich stattfindenden Einheiten werden auf den Bereich mit dem größten Versorgungsbedarf ausgerichtet. So können Trainingseinheiten, psychologische Einzelgespräche oder ärztliche Visiten sinnvoll sein. Die Teilnehmer der Nachbehandlung sind bereits in den (Arbeits)alltag integriert. Der weiterlaufende vertraute therapeutische Kontakt ermöglicht somit eine Beratung bei konkreten Alltagssituationen. Die Nachbehandlung ist ein wirkungsvoller Übergang vom intensiv betreuten Programm zur eigenverantwortlichen Alltagsbewältigung.

3.2.3 Die Patientengruppe – Zusammensetzung und Stärke Die optimale Gruppenstärke beträgt sechs bis acht Patienten. Erfahrungsgemäß ist eine Gruppenstärke von vier Patienten oder weniger aus verschiedenen Gründen problematisch. Zum einen hängt es in diesen Gruppen sehr davon ab, inwieweit sich die Teilnehmer untereinander sympathisch sind. Je nachdem können diese Gruppen dann sehr gut oder auch sehr zäh verlaufen. Zum anderen ist die Möglichkeit, wechselseitig voneinander zu lernen, in sehr kleinen Gruppen deutlich eingeschränkter. Das tagesklinische Programm ist für Patienten anstrengend, oft schmerzverstärkend und widerspricht häufig deren intuitivem Wunsch nach Schonung und Schmerzvermeidung. Insofern nutzt die tagesklinische Behandlung im Gruppensetting die gegenseitige Unterstützung der Teilnehmer, die in der Gruppe vielfältigen Rückmeldungen und die Möglichkeit, über Beobachtungslernen (soziales Lernen) Bewältigungsverhalten zu erwerben. Somit bedarf es einer entsprechenden Mindestanzahl an Teilnehmern. Bei mehr als neun Personen liegen die Grenzen in der Versorgung individueller Fragestellungen. Die Gruppenzusammensetzung erfolgt in erster Linie in Abhängigkeit von der zeitlichen Reihenfolge der Assessments innerhalb einer Woche. So entsteht grundsätzlich eine gewisse fachliche Heterogenität. Aspekte wie Alter, Geschlecht, Persönlichkeiten usw. finden keine Beachtung und führen dementsprechend zu zufälligen Gruppenkonstellationen mit sehr unterschiedlichem Charakter. Dabei entstehen nur selten problematische Konstellationen für den Therapieablauf.

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Marion Heinrich

3.3 Spielregeln – Die Therapieprinzipien Neben den Rahmenbedingungen bestimmen übergeordnete Spielregeln und Therapieprinzipien die Ausgestaltung der Behandlung. Dies umfasst eine theoretischinhaltliche Dimension, eine Prozess- oder Verlaufsdimension sowie unter methodischem Aspekt die Ermöglichung neuer Lernerfahrungen.

3.3.1 Das biopsychosoziale Krankheits- und Behandlungsmodell als Basis Die inhaltliche Basis des Programms ist das biopsychosoziale Krankheitsverständnis, dementsprechend ist auch die Behandlung, soweit möglich, biopsychosozial. Im Kapitel „gemeinsame Botschaften“ wird die Vermittlung dieses Modells vertiefend dargestellt. Dieses ganzheitliche Krankheitsverständnis geht von einer Vielzahl verschiedener Systeme (intra- und interpersonell) aus, es kommt zu Wechselwirkungen innerhalb der Systeme und zwischen den Systemen. Unter dieser Systemperspektive definiert Egger [2] Gesundheit als: „…ausreichende Kompetenz des Systems ‚Mensch‘, Störungen auf beliebigen Systemebenen autoregulativ zu bewältigen“. Damit ist nicht der pathogene Ursprungsort entscheidend, sondern die dadurch bedingten Veränderungen auf verschiedenen Systemebenen. Ein Beispiel hierfür sind degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule. Diese treten mit zunehmendem Alter in der Bevölkerung häufiger auf [3]. Nur ein Teil davon entwickelt Rückenschmerzen, und bei einem geringeren Teil werden diese Schmerzen chronisch. Das Beispiel zeigt, dass degenerative Veränderungen von einem Teil der Betroffenen autoregulativ kompensiert werden können. Die Verschaltung zwischen und innerhalb der Systeme passiert parallel, oft auch zeitlich versetzt. Jedes Ereignis, das auf das Individuum Einfluss nimmt, wirkt biologisch und psychologisch. Auf der Behandlungsebene sind damit alle Interventionen (psychologisch-mental oder somatisch) in der Lage, Änderungen im Organismus zu erzeugen. Damit wirkt eine medizinische Intervention nicht nur auf den Körper, sondern auch auf das psychische Erleben ein. Umgekehrt beeinflusst eine psychische Intervention auch physiologische Mechanismen [2]. Eine Behandlung ist damit immer biopsychosozial in ihrer Auswirkung. Die Nichtberücksichtigung kann zu iatrogener Chronifizierung führen. Im oben genannten Beispiel haben der Anblick und insbesondere die Erklärung eines MRT-Bildes einen unmittelbaren psychischen Effekt auf den Patienten. Das Bild kann ängstigen oder entlasten. Im monomodalen Behandlungssetting im Bereich der Schmerzbehandlung sind die Berücksichtigung der verschiedenen Systeme sowie die Reflexion darüber oft beiläufig oder zumindest von der Person des Therapeuten abhängig. Die berufsspezifische Kompetenz des Arztes, des Physio-, Sport- oder Psychotherapeuten bestimmt, wie die Störung konzipiert wird und welche Bereiche mit den den jeweiligen Therapeuten zur Verfügung stehenden Interventionen behandelt werden. In vielen Fällen ist das ausreichend. Je

3.3 Spielregeln – Die Therapieprinzipien | 89

größer allerdings die funktionellen und psychischen Einschränkungen sind, desto mehr kommt der „Einzelbehandler“ an seine Grenzen. Ein biopsychosoziales Behandlungsmodell kann in letzter Konsequenz nur von einem interdisziplinären Team geleistet werden, das Patienten im Idealfall gleichzeitig beobachten und behandeln sowie sich darüber austauschen muss. Für die Mitglieder des Behandlungsteams bedeutet dies, zu wissen, welche Kompetenz der andere hat, aber auch zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen.

3.3.2 Prozessgestaltung – Wirkfaktoren Neben einer gemeinsamen inhaltlichen Basis gehören Regeln über die Gestaltung des Therapie-/Behandlungsprozesses zu den Therapieprinzipien. Die gesamte Behandlung innerhalb multimodaler Programme umfasst störungsspezifische und ressourcenorientierte Inhalte sowie ihre gegenseitige Verschränkung. Alles findet in Beziehung und Kommunikation statt. Wesentliches Ziel ist Einsicht in Problemzusammenhänge und die Vermittlung von Hilfe zur Selbsthilfe bei der Problemveränderung, im Idealfall der Problemlösung. Diese Ziele sind deckungsgleich mit psychotherapeutischen Zielen. Grawe [4] beschreibt schulenübergreifend zentrale Wirkfaktoren für die Psychotherapie, deren Realisierung mit dem Behandlungserfolg zusammenhängt. Diese Wirkfaktoren werden im Folgenden dargestellt und lassen sich auf das multimodale Behandlungsprogramm übertragen: – Beziehungsgestaltung – Ressourcenaktivierung, – Problemaktualisierung, – motivationale Klärung, – Problembewältigung. Viele Untersuchungen zeigen, dass eine positive therapeutische Beziehung mit einem besseren Behandlungserfolg verknüpft ist. Kommunikationstrainings für Ärzte haben einen positiven Einfluss auf die Compliance und die Zufriedenheit mit der Behandlung und dem Behandlungserfolg. Eine patientenzentrierte Gesprächsführung hat weniger Überweisungen und Laboruntersuchungen zur Folge [5]. Genaues Zuhören und Informieren des Patienten sind jedoch mit einem höheren Zeitaufwand verbunden, wenngleich dieser überschätzt wird [6]. Patienten mit langandauernden Schmerzen, frustrierenden Behandlungserfahrungen, einhergehend mit Kontrollverlusterleben und Verzweiflung, können sehr fordernd und frustrierend für den Behandler sein. Sind beide frustriert und verzweifelt, kommt es leicht zu gegenseitigen Schuldzuweisungen und Inkompetenzzuschreibungen. Die Behandlung von Schmerzpatienten im interdisziplinären Team realisiert unterschiedliche Beziehungsangebote. Patienten lernen unterschiedliche Vermittlungsweisen und Zugänge bei grundsätzlich gleichem Inhalt und bei Übereinstimmung der Kollegen im the-

90 | 3 Interdisziplinäre Therapie

rapeutischen Vorgehen kennen. Auf Behandlerseite gibt es die Möglichkeit, sich bei konflikthaften Interaktionen im Umgang mit bestimmten Patienten oder bei Übertragungsphänomenen zu entlasten oder sich ggf. zurückzunehmen. Distanz und Entlastung durch das Team sowie die Möglichkeit, sich im Kontakt zum Patienten, auch nur zeitweise, zurücknehmen zu können, fördern auf beiden Seiten Kontrollund Autonomieerleben. Die Nutzung dieser teaminternen Ressource setzt voraus, dass eine Reflexion über die eigene Therapeut-Patienten-Beziehung möglich ist. Patienten mit dysfunktionalen Interaktionsmustern bei Persönlichkeitsstörungen, aber auch bei Zielkonflikten, meist bezogen auf die Rückkehr in die Arbeitsfähigkeit, teilen das Team in „gute“ und „schlechte“ Therapeuten, versuchen auch, Therapeuten gegeneinander auszuspielen. Eine wichtige Regel ist deshalb Transparenz, d. h., alles, was der Therapeut für das Störungsverständnis und für die Behandlung für wichtig erachtet, wird im Behandlerteam besprochen. Darüber werden Patienten im Vorfeld informiert. In den Sporteinheiten kann dann der Sporttherapeut beispielsweise das in den psychologischen Einheiten vom Patienten thematisierte Überforderungsverhalten im Alltag und Sportbereich erkennen und den Patienten zu alternativem Verhalten (Pause/Dosierung) ermutigen. Trotz Vorabinformationen sind Patienten manchmal darüber zunächst befremdet, erleben es im Behandlungsverlauf aber als sehr positiv, dass „sich alle um einen kümmern“, und fühlen sich gut aufgehoben. Das InformiertSein spiegelt das Interesse sämtlicher Behandler am Patienten. Die Behandlung zielt auf Hilfe zur Selbsthilfe im Umgang mit den Schmerzen und auf die Rückgewinnung der Funktionsfähigkeit und Belastbarkeit ab. Ein Verständnis von Gesundheit, als Kompetenz „autoregulativ“ mit Störungen des Gesamtsystems umzugehen, beinhaltet zwingend eine Ressourcenorientierung und eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Im psychotherapeutischen Kontext zeichnen sich erfolgreiche Behandlungen durch eine erhöhte Ressourcenaktivierung zu Beginn und Ende der Therapiesitzung aus [7]. Die multimodale Behandlung im Gruppensetting ermöglicht eine Ressourcenaktivierung von Beginn an. Bereits in der Begrüßungsrunde zu Beginn des Programms stehen Hobbys im Zentrum. Erst zu einem späteren Zeitpunkt werden die Beschwerden unter dem Aspekt der Einschränkung mit Blick auf die Bestimmung von Therapiezielen thematisiert. Die auf Aktivität und Eigenverantwortung ausgerichtete multimodale Behandlung hat Anforderungen an den Patienten, dazu gehören seine volle Aufmerksamkeit, seine Bereitschaft, die Therapie aktiv mitzugestalten, und seine Anstrengungsbereitschaft. Zentrale Aufgabe in den edukativen Einheiten ist es, Interesse und Neugierde zu wecken. Freude an der Bewegung, Lust am Ausprobieren und Mut, sich mit Defiziten auseinanderzusetzen, sind Ressourcen, die in den Bewegungseinheiten aktiviert werden. Diese Aspekte bewirken eine positive Stimmungslage und eine Defokussierung vom Schmerzgeschehen. Viele Patienten haben sich immer mehr isoliert, das Gruppensetting jedoch ermöglicht Verständnis und Austausch. Die Gruppenzusammensetzung ist sehr heterogen, dennoch kommt es in der Mehrzahl der Fälle zu einer hohen Gruppenkohäsion. Gegenseitige Unterstützung, Rückmeldung und

3.3 Spielregeln – Die Therapieprinzipien | 91

Humor sind hilfreich in der Auseinandersetzung mit Grenzen, in der Förderung von Akzeptanz und der Einnahme alternativer Blickwinkel. Ressourcenaktivierung und Problemaktualisierung bilden eine wichtige Balance. Eine Schmerzbehandlung, die (wie der Patient) darauf ausgerichtet ist, das Risiko einer Schmerzverstärkung zu vermeiden, mag ressourcenorientiert sein, sie verhindert aber auch eine Problemaktualisierung und damit die Auseinandersetzung und Entwicklung von Bewältigungsverhalten. Vergleicht man eine Therapie, die eine schrittweise Anhebung der Aktivität (Graded Activity) vorsieht, mit einer Behandlung, in deren Fokus die Bewegungskonfrontation liegt, ist zu erkennen, dass beide Programme effektiv sind [8]. Die Nutzung dieses Wirkfaktors tangiert auch die Frage, inwieweit die Behandlung standardisiert werden kann. Eine hohe Standardisierung kann einhergehen mit einer geringeren Problemaktualisierung Einzelner, dies gilt insbesondere für heterogene Gruppen. Ein hohes Ausmaß an Problemaktualisierung realisiert die Arbeitsgruppe um O’Sullivan mit der Classification Based-Cognitive Functional Therapy für Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen. Es gibt Hinweise auf eine Überlegenheit dieses individualisierten Vorgehens, indem der spezifische funktionelle Problembereich unter Einbezug biopsychosozialer Faktoren behandelt wird, im Vergleich zu einer Manuellen Therapie kombiniert mit Krankengymnastik [8, 9]. Für den psychotherapeutischen Bereich sei auf Schulte verwiesen [10]. Aus praktischer Sicht bietet eine Standardisierung einen klaren Orientierungsrahmen für Patienten und Therapeuten, dies ist insbesondere wichtig für die Behandlung im Gruppensetting durch ein interdisziplinäres Behandlungsteam. Innerhalb dieses Spielfeldes und der Spielregeln entsteht eine für jeden Patienten individuelle Problemaktualisierung, welche nach Grawe eine unmittelbare Erfahrung darstellt und auch als prozessuale Aktivierung beschrieben werden kann ([11], S. 94). Die Unterstützung des Patienten bei der Bewältigung ist Kernpunkt der Behandlung. Damit ist die Behandlung innerhalb des standardisierten Rahmens individualisiert. Sämtliche Bausteine ermöglichen eine Problemaktualisierung. In den Bewegungseinheiten spielt die Konfrontation mit angstauslösendem Bewegungsverhalten eine zentrale Rolle. Je alltagsnäher diese gestaltet ist, desto effektiver ist sie [1]. Auch die Progressive Muskelentspannung (PME) kann als Konfrontation mit dem Schmerz oder der eigenen Unruhe begriffen werden. Die Anleitung zur interozeptiven Wahrnehmung ist dafür ein zentrales Therapieprinzip. Dies betrifft die Wahrnehmung für bestimmte Haltungen, für muskuläre An- und Entspannung und mündet in den Bereich der Übungsausführung. Dabei geht es weniger um die „korrekte“ Umsetzung als vielmehr um eine differenzierte Wahrnehmung des Körpers. Eine gute Körperwahrnehmung betrifft aber auch die Wahrnehmung von Gefühlen und Kognitionen und ihre wechselseitige Kohärenz. Eine Behandlung dient der Problembewältigung, im Idealfall und in der Wunschvorstellung von Patienten ist dies Schmerzfreiheit. Dies kann zur Falle werden. Erfolgserlebnisse in der Problembewältigung sind wichtig für die Stabilisierung der therapeutischen Beziehung. Die Problembewältigung hängt eng mit der Pro-

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blembestimmung und der daraus resultierenden Zielformulierung zusammen. Ein wichtiges Behandlungsprinzip zu Beginn der Behandlung ist deshalb die Formulierung von Zielen für den Zeitraum der Behandlung, so dass bereits früh eine Sensibilisierung für Zielkonflikte ermöglicht werden kann. Die Ziele sollten so formuliert sein, dass sie durch eigene Anstrengung im Behandlungszeitraum erreicht werden können. Damit ist Schmerzfreiheit als kurzfristiges Ziel bei einem chronischen Schmerzsyndrom nicht sinnvoll, auch wenn es als Wunsch verständlich ist. Die Bindung an ein Ziel hat tiefgreifende Auswirkungen auf Inhalte und Strukturen kognitiver Prozesse (s. Kap. 3.5.6). Zielrelevante Informationen werden vermehrt wahrgenommen, man erinnert sich eher an sie und kann sie besser aus dem Gedächtnis abrufen. Diese Veränderungen der Wahrnehmung und Verarbeitung sind unwillkürlich, werden häufig nicht einmal bemerkt. Insofern kommt der Zielformulierung, aber auch der Anpassung der Ziele an die multimodalen Behandlungsinhalte, eine zentrale Bedeutung zu. Eng mit der Zielerreichung verbunden ist die Selbstwirksamkeit nach Bandura [12], d. h. die subjektive Einschätzung darüber, dass das Ziel mit dem Einsatz der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen erreichbar ist. Die wahrgenommene Selbstwirksamkeit erhöht sich mit dem Erreichen von Unterzielen, und die Wahrscheinlichkeit, dieses Verhalten beizubehalten, erhöht sich. Daraus lässt sich als zentrales Therapieprinzip die Einsicht ableiten, dass sich Veränderung in kleinen Schritten vollzieht. Das Ausmaß der Zielerreichung nach einem Functional-Restoration-Programm erhöht die Zufriedenheit bezüglich des Behandlungsfortschritts [13]. Problembewältigung beinhaltet aber auch zur Verfügung gestellte therapeutische Kompetenz, die Techniken und Strategien anbietet und anleitet. Die Formulierung von Zielen geht oft auch mit Zielkonflikten einher. Eine motivationale Klärung ist an verschiedenen Punkten im Behandlungsverlauf relevant. Sie ist eng verbunden mit Behandlungswünschen und Zielvorstellungen, die explizit benannt werden, aber auch implizit sein können. Typische Beispiele für implizite Ziele sind die Realisierung eines Macht-, Anschluss- oder Leistungsmotivs. Explizite Ziele, wie beispielsweise die Wahrnehmung eigener Belastungsgrenzen, können mit impliziten Zielen kollidieren, die Erwartungen und Anforderungen der Umgebung zu erfüllen oder aber im Vergleich zu den anderen die gleiche oder eine bessere Leistung zu erbringen. Zielkonflikte treten auch auf, wenn eine unklare, konflikthafte Arbeitsplatzsituation besteht. Die Haltung „Ich will erst wieder ganz gesund werden, dann sehe ich weiter“ verhindert das „Gesund-Werden“, da „Gesund-Werden“ mit der dann notwendigen Auseinandersetzung mit der aversiven Arbeitssituation „bestraft“ wird. Eine Klärung ermöglicht eine Neubestimmung des Problems und eine veränderte Zielsetzung. Die Bearbeitung der Arbeitssituation trägt zum „Gesund-Werden“ bei.

3.3 Spielregeln – Die Therapieprinzipien | 93

3.3.3 Methodik – Über alle Berufsgruppen hinweg 3.3.3.1 Lernen Teil 1: Wissensvermittlung – Edukation Aufklärung und Wissen ermöglichen eine erweiterte oder veränderte Problemanalyse. Dadurch können Bewältigungsressourcen aktiviert und schmerzbezogene Emotionen direkt oder über ein verändertes Verhalten und die damit einhergehende neue Erfahrung indirekt verändert werden. Edukation ist ein wichtiger Therapiebaustein der MMST und spielt auch in der Schmerzpsychotherapie eine zentrale Rolle. Edukation ist in die Regelversorgung (Physiotherapie, Arztbehandlung) übertragbar. Die Schmerzedukation umfasst die Vermittlung des biopsychosozialen Modells, dabei liegt der Schwerpunkt auf den Folgen dysfunktionaler Copingstrategien (z. B. Vermeidung) und in der Information über hilfreiches Verhalten im Umgang mit Schmerz (z. B. Entspannung). Sehr konsequent mit Fokus auf neurophysiologische Sensitivierungsprozesse erfolgt die Schmerzedukation von Butler und Moseley [14]. Bei akuten/subakuten Schmerzen ist die Wirksamkeit von Edukation gut belegt. Für chronische Schmerzen hingegen bewirkt Edukation alleine keine relevanten Veränderungen [15]. Der Behandlungseffekt, der auf Edukation zurückgeht, ist im Rahmen multimodaler Programme kaum beurteilbar. Inwieweit alleine durch Edukation akute oder chronische Schmerzen verbessert werden können oder eine Chronifizierung verhindert werden kann, ist fraglich. Metaanalysen zufolge ist der Effekt gering [16] bis nicht nachgewiesen [17]. Allerdings wird Edukation dabei unterschiedlich realisiert hinsichtlich der Methode (Film, Broschüre, Face-to-face, Einzel- vs. Gruppensetting) und der Inhalte. Diese sind unterschiedlich spezifisch und können sich auch ganz allgemein auf Stressbewältigung oder die Notwendigkeit von Bewegung beziehen. Für die neurophysiologische Edukation werden positive Effekte berichtet, die Befundlage ist aber noch gering [18, 19]. Den Praktiker werden diese Ergebnisse kaum verwundern. Die erste Hürde ist überwunden, wenn der Patient wirklich verstanden hat, was erklärt wurde, die zweite, wenn der Patient dieses Wissen auf seine individuelle Situation übertragen kann (s. Problemaktualisierung).

Ein Dialog aus der Visite Patient etwas vorwurfsvoll: „Bislang konnte mir ja immer noch keiner sagen, was ich eigentlich habe.“ Arzt: „Wurde Ihnen das nicht bei der Eingangsuntersuchung ausführlich erklärt? Gestern im Unterricht habe ich das doch auch erklärt … Dann erkläre ich es Ihnen nochmal.“ Arzt greift geduldig zum WS-Modell und erläutert dem Patienten anhand des 3-D-Modells die Situation. Patient schaut interessiert zu und nickt. Danach geht es um die Einnahme der Medikamente, die Patientenschilderung hierzu ist etwas verworren und die Klärung dauert einige Minuten. Es kommt zu Missverständnissen.

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Am nächsten Tag in der Schmerzbewältigungsgruppe geht es um die Weiterleitung nozizeptiver Signale und die Schmerzwahrnehmung. Aus der regen Mitarbeit des Patienten wird deutlich, dass er die wesentlichen Teile versteht. In der letzten Visite äußert der Patient: „Ich weiß immer noch nicht, warum ich die Schmerzen habe und woran das genau bei mir liegt. Es muss doch einen Grund geben.“ Welche Gründe könnte es geben, dass der Patient nach vier Wochen Therapie mit insgesamt 23 Stunden Edukation noch die gleiche Einschätzung vornimmt? Denkbar ist, dass die Vermittlung nur passiv geschehen ist. Die Lerninhalte wurden möglicherweise abstrakt und ohne Bezug zur Situation des Patienten vermittelt. Aus gedächtnispsychologischer Sicht sind Interferenzeffekte zu vermuten. Die Klärung der Medikamente, bei der der Patient plötzlich verunsichert ist, überlagert den zuvor besprochenen abstrakten Inhalt. Außerdem behält man Unerledigtes oder Offenes besser als Erledigtes und Geklärtes (Zeigarnik-Effekt). Die Erklärung des Arztes in der Visite und die Erarbeitung der Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung könnten als verstanden und damit erledigt abgehakt worden und dadurch schlechter erinnerbar sein. Die Schmerzsituation hingegen ist trotz Therapie noch nicht erledigt. In obigem Beispiel macht es Sinn, den Patienten zu fragen, was er denkt, warum er die Schmerzen habe. Ein anderer Aspekt betrifft die Kontextabhängigkeit in der Erinnerung von Lerninhalten. Was im Gruppenraum in lockerer und entspannter Atmosphäre erarbeitet wird, ist nicht unbedingt im Visitensetting verfügbar, das andere Interaktionsmuster aktiviert. Nicht zuletzt limitiert auch die psychische Befindlichkeit die Aufnahme von Informationen beispielsweise bei Angst oder bei einer eingeschränkten Konzentration und Merkfähigkeit im Rahmen einer depressiven Erkrankung. Eine didaktisch günstige Wissensvermittlung berücksichtigt die psychologischen Grundlagen von Lern- und Gedächtnisprozessen und damit ganz konkret die Frage, wie Lehrende erreichen, dass das zu Lernende gelernt wird. Dazu gehört, dass Informationen nicht passiv vermittelt werden, der Lernprozess aktiv gestaltet wird, bildhafte Vorstellungen (auch multisensorisch) eingebaut werden. Neue Informationen sind mit bereits bestehendem Wissen zu verknüpfen. Eine Zusammenfassung der Inhalte durch Patienten oder auch die Nachfrage, was die gegebenen Informationen für den Patienten bedeuten, ermöglichen eine aktive Verarbeitung und damit eine bessere Erinnerung. Sie bieten eine wichtige Rückmeldung für den Behandler und die Gestaltung der weiteren Edukation. Der Dosierung von Lerninhalten und deren Verteilung über die Zeit kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Redundanz über die Berufsgruppen hinweg sowie die Vermittlung zentraler Botschaften, die von allen Behandlern geteilt werden, sind deshalb essentiell. Die dritte und vielleicht größte Hürde liegt darin, aus dem erworbenen Wissen heraus das Behandlungsvorgehen bzw. ein günstiges Bewältigungsverhalten abzuleiten und dann umzusetzen. Wissen und Verstehen sind nicht gleichbedeutend mit Verhalten und Handeln. Wissen und Verstehen für sich alleine mögen einen nur geringen therapeutischen Effekt haben, in jedem Fall sind sie aber die Voraussetzungen für eine multimodale, auf Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstwirksamkeit setzende Behandlung.

3.3 Spielregeln – Die Therapieprinzipien | 95

3.3.3.2 Lernen Teil 2: Konfrontation – Übung – Erfahrung Eine Definition der Allgemeinen Psychologie beschreibt Lernen als „Prozess, der als Ergebnis von Erfahrungen relativ langfristige Änderungen im Verhaltenspotential erzeugt“ ([20], S. 320). Damit wird deutlich, dass der Erwerb von Wissen im Kontext der Schmerzbewältigung neue oder alternative Erfahrungen im Umgang mit dem Schmerzproblem bahnen kann, diese Erfahrungen müssen dann jedoch auch gemacht werden, um eine Verhaltensänderung zu erreichen und zu konsolidieren. Innerhalb des Programms kommt dem Erfahrungslernen eine zentrale Bedeutung zu. Schmerz ist verbunden mit negativen Emotionen wie Unsicherheit, Wut, Angst, Resignation. Die individuelle Schmerzgeschichte ist bestimmt durch klassische und instrumentelle Konditionierungsprozesse, nicht immer sind die Verknüpfungen bewusst zugänglich. In der Sporttherapie können vermiedene Bewegungsmuster wieder bewusst gemacht werden, sie können ausprobiert und wiederholt werden, was die damit verbundene Angst im Idealfall reduziert [21, 22]. Bewegungsabläufe, die Durchführung und der Erwerb von neuen Übungen geschehen über Beobachtungslernen, Fokussierung der Körperwahrnehmung und Korrektur durch den Therapeuten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Wiederholung einiger weniger Übungen, bis ein automatisierter Bewegungsablauf entsteht. In den Sport- und Bewegungseinheiten werden aber auch dysfunktionale automatisierte Bewegungsmuster sichtbar. Die Reflexion dieser Muster („Aber das habe ich schon immer so gemacht …“) und ihre Bedeutung für das Schmerzerleben durch das Ausprobieren von Varianten im Bewegungsverhalten ermöglichen neue Erfahrungen. Im Idealfall wird dieses neue Verhalten unmittelbar verstärkt, indem die Übung länger durchgehalten werden kann, einfacher erscheint und insgesamt ein Kontrollerleben gefördert wird. Patienten erscheinen oft mit der Erwartung, die „richtigen Übungen“ zu bekommen, und dass die Therapeuten darauf achten, dass sie „nichts falsch“ machen. Dahinter steht die Angst, dass eine „falsche“ Übung dem Rücken dauerhaft schaden könne. Die Auflösung dieser Dichotomie und auch der Abhängigkeit vom Therapeuten erfordert ein therapeutisches Vorgehen, das den Patienten ermutigt, eigene Erfahrungen zu machen und Schlussfolgerungen aus der Wirkung einer Bewegung und Übung zu ziehen. Je sicherer sich der Patient in einem bestimmten Verhaltensmuster fühlt und je positiver die erlebten Konsequenzen sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass er dieses Verhalten beibehalten wird [20]. Umgekehrt wird eine häufige kleinteilige Korrektur, die vom Patienten in seiner Körperwahrnehmung nicht nachvollziehbar ist, Insuffizienzgefühle und Unsicherheit („Das bekomme ich alleine niemals hin!“) bewirken. Die Wahrscheinlichkeit, dass er diese Übungen weiter umsetzt, sinkt. Dies gilt nicht nur für die Fortführung bestimmter Übungen, sondern für das Bewegungsverhalten insgesamt. Die Vermittlung von Freude am Sport und an der Bewegung (s. auch Spielsport), die Erfahrung einer Stimmungsverbesserung oder einer angenehmen körperlichen Erschöpfung erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines veränderten aktiven Bewegungsverhaltens. Im Unterschied zum reinen Wissenserwerb sind beim Erfah-

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rungslernen mehrere Gehirnareale aktiviert, dies sind visuelle, akustische, sensorische und motorische Areale, aber auch Strukturen, die für Kognitionen und Gefühle zuständig sind. Im Schmerzkontext bedeutet das Lernen aus Bewegungserfahrungen auch das Ziehen von Schlussfolgerungen. Jeder Therapeut kennt die Situation, dass eine Schmerzverstärkung auf eine bestimmte Bewegung oder auf die körperliche Belastung im Training zurückgeführt wird. Selbst wenn es im Training Erfahrungen gibt, bei denen dieser Zusammenhang nicht aufgetreten ist, führt dies nicht immer zur Korrektur der Grundannahme, dass körperliche Belastung oder bestimmte Bewegungen Schmerz verursachen. Stattdessen werden Erklärungen konstruiert, warum diese Nicht-Verursachung von Schmerz in diesem Fall eine Ausnahme darstellt. Häufige Erklärungen für diese Ausnahme können sein, dass die Belastung nicht lange genug bestand, die Bewegungstherapeuten aufgepasst haben und dass im richtigen Leben/am Arbeitsplatz ohnehin alles ganz anders ist etc. … Menschen suchen nach Belegen zur Bestätigung für eine Hypothese, nicht nach Belegen, die die Hypothese widerlegen (Evans et al. 1993 nach [23]). In der empirischen Wissenschaft ist eine Hypothese so zu formulieren, dass sie widerlegt werden kann (Falsifikationsprinzip nach Popper [24]). Experimente sind derart durchzuführen, dass sie die Hypothese widerlegen können. Damit unterscheidet sich die wissenschaftliche Denkweise erheblich von der alltagspsychologischen Denkweise durch den Confirmation Bias (Bestätigungsfehler). Für die Behandlung bedeutet dies, dass Veränderung viele wiederholte Erfahrungen über längere Zeit braucht. Fazit „Spielregeln“ Der Erfolg einer Behandlung wird wesentlich mitbestimmt von der Realisierung unspezifischer Wirkfaktoren, auch wenn spezifische Behandlungsmethoden angewendet werden. Zentrale Therapieprinzipien, in denen diese Wirkfaktoren realisiert werden, sind Transparenz, Hilfe zur Selbsthilfe, eine ganzheitliche Betrachtungsweise und ein individualisiertes Vorgehen in einem standardisierten Setting, die Schulung der interozeptiven Wahrnehmung, die Zielorientierung und das Prinzip der kleinen Schritte. Neben den prozessgestaltenden Faktoren gehören Wissensvermittlung, konkretes Üben und die Ermutigung, auszuprobieren, zu den zentralen Methoden.

Ulrike Kippe-Sack

3.4 „Der Halbgott in Weiß“ – Modul Medizin Ziel der MMST ist neben Schmerzlinderung und Förderung eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses die Verbesserung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit. Dafür bedarf es des integrierten Zusammenwirkens verschiedener somatischer, psychotherapeutischer und bewegungstherapeutischer Behandlungsansätze. Der Arzt begleitet nach Feststellung von Diagnose, Belastbarkeit und Eignung im Assessment den Patienten während des Programms und ist für die zeitnahe diagnosti-

3.4 „Der Halbgott in Weiß“ – Modul Medizin |

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sche Abklärung und Behandlung unklarer neuer Beschwerden und akuter Schmerzexazerbationen zuständig [25].

3.4.1 Aufklärung, Behandlung, Begleitung, Verantwortung – Die Rollen der klassischen Medizin Auf Grund der traditionellen Rolle als erster Ansprechpartner bei Störungen des körperlichen und seelischen Befindens steht der Arzt für den Patienten im Rahmen der MMST zunächst im Vordergrund und übernimmt im Team die Moderation, die Koordination der Behandlung und die Aufgabe der Patientenführung. Um sich auf ein aktivierendes, interdisziplinäres Therapieprogramm im Gruppensetting einlassen zu können, brauchen Betroffene die Sicherheit, mit ihrem Schmerzproblem als Individuum wahrgenommen und behandelt zu werden. Das bedeutet auch, dass bei sich verstärkender Symptomatik oder beim Auftreten von Zusatzsymptomen zeitnah, in der Regel noch am gleichen Tag, ein Kontakt mit dem Arzt möglich ist. Auf der interventionellen Ebene stehen dem Arzt Gespräche, funktionelle Behandlungsmethoden (z. B. Manuelle Medizin), der Einsatz von Schmerzmedikamenten sowie die Gabe von Infiltrationen zur Verfügung. Er sollte auch einen Überblick über nicht genuin ärztliche Behandlungsansätze haben, um den Patienten umfassend beraten oder auf Interventionen der Bewegungs- oder Entspannungstherapie verweisen zu können. Im Rahmen der MMST beinhaltet eine zentrale ärztliche Aufgabe die Vermittlung von Wissen und die Erläuterung der Bedeutung der einzelnen Therapieinhalte. Durch die ihm zugeschriebene Kompetenz und Autorität kann er die Wertschätzung und Bedeutung der bewegungs- und psychotherapeutischen Inhalte bei Patienten entscheidend beeinflussen (Kap. 3.4.6). Damit umfasst die Aufgabe des Arztes einen bedarfsorientierten sowie einen inhaltlich-gestaltenden regelhaften Anteil.

3.4.2 Medikamente Die medikamentöse Therapie nichtspezifischer Kreuzschmerzen ist eine rein symptomatische Behandlung. Sie unterstützt im akuten Stadium die nichtmedikamentösen Maßnahmen, damit die Betroffenen frühzeitig ihre üblichen Aktivitäten wiederaufnehmen können. Bei chronischen Kreuzschmerzen besteht die Indikation einerseits, wenn zur Umsetzung der aktivierenden Maßnahmen eine medikamentöse Schmerztherapie als hilfreich erachtet wird, andererseits, wenn trotz regelrechter Durchführung dieser Maßnahmen eine für den Patienten nicht tolerable schmerzbedingte funktionelle Beeinträchtigung bestehen bleibt [26]. Analgetika können durch Entzündungshemmung, Abschwellung, Stabilisierung von Nervenmembranen und Dämpfung der Schmerzweiterleitung zur Schmerzlinde-

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rung mit Verbesserung der Leistungsfähigkeit und der Beweglichkeit, aber auch zur Chronifizierungsprophylaxe bei Rückenschmerzen beitragen. Auf der Basis einer systematischen, evidenzbasierten Literaturrecherche wurde die erste auf einer Leitliniensynopse basierende Auflage der NVL Kreuzschmerz aktualisiert. Dabei bestätigte sich die insgesamt nur mäßige Wirksamkeit medikamentöser Therapie für akute und mehr noch für chronische nichtspezifische Rückenschmerzen. Die Empfehlungsgrade in diesem Kapitel richten sich nach den aktuellen Versorgungsleitlinien [26]. Folgende Grundsätze sollten berücksichtigt werden: – Aufklärung darüber, dass Medikamente nur eine unterstützende Therapieoption bei Kreuzschmerzen darstellen, – Festlegung eines realistischen und relevanten Therapieziels auch unter Berücksichtigung der körperlichen Funktion (relevante Schmerzlinderung von > 30 %, Schlafverbesserung, Aufhebung von Schonung und Bewegungsangst, Ermöglichung einer ganzheitlichen Behandlung zur Funktionsverbesserung der Wirbelsäule), – individuelle Auswahl der Medikation unter Berücksichtigung der Begleiterkrankungen, Begleitmedikation, Unverträglichkeiten, Vorerfahrungen und Präferenzen des Patienten, – stufenweise Dosistitration der Medikation zum Erreichen dieses Effektes mit der geringsten effektiven Dosierung, – Überprüfung des Auftretens von Nebenwirkungen und des klinischen Effekts in regelmäßigen Intervallen (ca. vier Wochen), – bei akuten Schmerzen zeitiges Ausschleichen bzw. Absetzen der Medikation mit Besserung der Symptomatik, – Fortführung der Therapie nur bei guter Wirksamkeit und Verträglichkeit, Überprüfung in regelmäßigen Intervallen (alle drei Monate), – Ausschleichen/Absetzen der Therapie bei nicht ausreichender Wirksamkeit trotz angemessener Dosierung oder relevanter Nebenwirkungen. Für die medikamentöse Therapie wird ein gestuftes Vorgehen empfohlen. Beginnend mit Nichtopioidanalgetika kann bei nicht ausreichendem Therapieeffekt in der 2. Stufe ein schwaches Opioid ergänzt werden. Sollte auch das unzureichend sein, kann im Rahmen eines multimodalen Therapieprogramms mit der 3. Stufe der Übergang auf ein starkes Opioid erwogen werden. Opioide sollten bei unterschiedlicher Rezeptoraffinität, intrinsischer Aktivität und Halbwertzeit nicht miteinander kombiniert werden.

3.4.2.1 Nichtopioidanalgetika Zu den überwiegend peripher, teilweise aber auch zentral wirkenden Nichtopioidanalgetika gehören die sauren antipyretisch-antiphlogistischen Analgetika, im folgenden NSAR, nichtsteroidale Antiphlogistika/Antirheumatika genannt (im Englischen:

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NSAIDs, non-steroidal antiinflammatory drugs), sowie die nichtsauren, antipyretischen Analgetika und die Analgetika ohne antipyretisch-antiphlogistische Wirkung.

Nichtsteroidale Antiphlogistika/Antirheumatika (NSAR) Mehrere Übersichtsarbeiten haben die kurzzeitige schmerzlindernde und funktionsverbessernde Wirksamkeit der NSAR bei akuten und chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzen gegenüber Placebo belegt [26]. Die statistischen Effektstärken sind jedoch äußerst gering, so dass von einem zweifelhaften bzw. nur äußerst geringen klinischen Effekt auszugehen ist [27]. NSAR reichern sich besonders in Blut, Leber, Milz und Knochenmark und in Kompartimenten mit saurem extrazellulärem pH-Wert an. Zu letzteren gehören entzündete Gewebe, die Wand des oberen Gastrointestinaltraktes und die Sammelrohre der Nieren. Ihre wesentliche Wirkung beruht auf der Hemmung der Cyclooxygenasen 1 und 2 und damit der Prostaglandinsynthese. COX-1 wird in fast allen Zelltypen, unter anderem in der Niere, im Magen, in den Thrombozyten und im Gefäßendothel konstitutiv exprimiert und wirkt als so genanntes House-keeping-Enzym bei physiologischen Adaptationen mit [28]. Die analgetische und entzündungshemmende Wirkung der NSAR beruht auf der überwiegenden Hemmung der in entzündlichen Geweben exprimierten COX-2. Die Nebenwirkungen erklären sich teilweise aus der Hemmung von COX-1. Im Vordergrund stehen neben der ulcerogenen Wirkung vor allem Nierenfunktionsstörungen mit möglicher Blutdruckerhöhung, erhöhte Blutungsneigung bei Thrombozytenaggregationshemmung, mögliche Auslösung eines Asthmaanfalls, Überempfindlichkeitsreaktionen der Haut bis zum Lyell-Syndrom. Nach Marktrücknahme des spezifischen COX-2-Hemmers Rofecoxib zeigte sich auch bei den traditionellen NSAR ein erhöhtes Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko bei längerfristiger Einnahme, vermutlich infolge einer Dysbalance im Gerinnungssystem als Folge der COX-2-Hemmung [29, 30]. Zusätzlich vermindern die NSAR – sowie die spezifischeren COX-2-Hemmer – die Wirkung von Diuretika, ACE-Hemmern und ß-Blockern. Das Risiko gastrointestinaler Blutungen wird bei gleichzeitiger Corticoidgabe erhöht so wie die Blutungsneigung bei der Kombination mit anderen Antikoagulantien und Serotonin-ReuptakeHemmern [31]. Ibuprofen, Diclofenac und Naproxen sind die in Deutschland am häufigsten verwendeten NSAR. Sie zeigen in Studien eine ähnliche Potenz und sind in niedriger Dosis für leichte bis mäßige Schmerzen zugelassen und rezeptfrei erhältlich. Höherdosierte Präparate und weitere NSAR sind für rein nichtspezifische Rückenschmerzen nicht zugelassen. Bei fehlender Evidenz für die Wirksamkeit intramuskulär applizierten Diclofenacs soll dieses bei potenziellen Nebenwirkungen (anaphylaktischer Schock, Nicolau-Syndrom) nicht eingesetzt werden [26].Bei Thromboseprophylaxe mit ASS erfolgt die irreversible Thomboxan-A2-Synthese bei gleichzeitiger Ibuprofengabe nur reversibel und kurzzeitig, so dass das kardiale Risiko steigt. Ibuprofen sollte daher erst 2–3 h nach ASS eingenommen werden [29, 32].

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Coxibe Coxibe zeigen eine hohe Selektivität zu COX-2 mit dem Ziel geringerer gastrointestinaler Nebenwirkungen. Einige Zeit nach Markteinführung ließ sich ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko feststellen. Im Vergleich zu den klassischen NSAR gibt es keine Unterschiede in der Wirksamkeit bei akuten und chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzen bei lediglich einer Tendenz zu weniger Nebenwirkungen. Die Zulassung beschränkt sich auf aktivierte Arthrosen und die rheumatoide Arthritis. Lediglich bei Kontraindikation oder Unverträglichkeit der NSAR kann ihr Einsatz als Off-label-Präparat bei Kreuzschmerz empfohlen werden. Mit zunehmender Chronifizierung von Kreuzschmerzen steht eine entzündliche Veränderung als Hauptwirksubstrat der NSAR und der Coxibe nicht mehr im Vordergrund.

Nichtsaure antipyretische Analgetika Der Wirkmechanismus der nichtsauren antipyretischen Analgetika (Metamizol, Paracetamol) ist nicht komplett geklärt. Bei möglicher schwacher, eher COX-1-bezogener peripherer Wirkung mit folglich fehlender antiphlogistischer Wirkung steht eine zentrale Cyclooxygenasehemmung im Vordergrund. Metamizol hat neben seiner analgetischen und antipyretischen Potenz noch eine gute spasmolytische Aktivität. Es liegt in verschiedenen Zubereitungen, aber nicht in retardierter Form vor. Seine Hauptnebenwirkungen sind Blutdruckabfall (bes. bei parenteraler Applikation), allergische Reaktionen und die seltene, aber potenziell tödliche dosis- und applikationsunabhängige, immunologisch bedingte Agranulozytose. Die mediane Latenzzeit beträgt 7–14 Tage, bei Reexposition auch weniger. Konkrete Empfehlungen zur Häufigkeit von BB-Kontrollen gibt es nicht. Eine genaue Aufklärung über Risiken und Symptome wird empfohlen und das Ausstellen eines Notfallpasses zur Reexpositionsvermeidung nach einer metamizolassoziierten Agranulozytose [33]. Metamizol ist zugelassen für die Behandlung akuter und chronischer Schmerzen, wenn andere Analgetika kontraindiziert sind. Die NVL gibt eine offene Empfehlung dazu, obwohl keine Übersichtsarbeiten zur Wirksamkeit bei nichtspezifischem Kreuzschmerz gefunden werden konnten. Die Dosierung liegt bei 4 × bis maximal 6 × 1 g. Mit ASS zur Thromboseprophylaxe besteht eine Interaktion, so dass eine zeitversetzte Einnahme von drei Stunden erfolgen sollte [26]. Paracetamol zeigte in einer Metaanalyse keine Wirksamkeit bei Rückenschmerzen [34] und sollte daher nur als Therapieversuch in Einzelfällen angewandt werden.

Analgetika ohne antipyretisch-antiphlogistische Wirkung Flupirtin wirkt im Zentralnervensystem an den Kaliumkanälen und beeinflusst indirekt den NMDA-Rezeptor. Es hat neben dem analgetischen einen muskelrelaxierenden Effekt. Unerwünschte Nebenwirkungen sind Sedierung und asymptomatische Leberenzymanstiege bis zum Leberversagen. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA)

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hat daher 2013 die Zulassung auf akute Schmerzen eingeschränkt [35], d. h. nur bei Kontraindikationen anderer Analgetika (NSAR, schwache Opioide) für maximal zwei Wochen mit wöchentlicher Leberwertkontrolle. Die NVL rät daher bei Fehlen einer Überlegenheit von Flupirtin gegenüber Tramadol in randomisierten Studien von der Gabe ab.

3.4.2.2 Opioidanalgetika Opioide können bei akuten und chronischen Kreuzschmerzen und Unwirksamkeit bzw. Kontraindikationen von Nichtopioidanalgetika angewendet werden. Die Studienlage ist nach der NVL unzureichend. Aus den Daten ergibt sich nur bei 25 % der Behandelten ein Hinweis auf einen längerfristigen analgetischen Effekt. Mit hohem Konsens empfiehlt die Versorgungsleitlinie eine Langzeitanwendung bei chronischem nichtspezifischen Kreuzschmerz lediglich im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes [26]. Opioide wirken zentral durch Hemmung spinaler nozizeptiver Signale und Aktivierung des endogenen schmerzhemmenden Systems, aber auch über periphere μOpioidrezeptoren analgetisch. Die überwiegend durch zentrale Effekte zu erklärenden Nebenwirkungen sind abhängig von der analgetischen Potenz und der Dosis und zeigen eine Toleranzentwicklung bis auf die durch periphere Wirkung ausgelöste Obstipation. Die Hauptnebenwirkungen sind: Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Atemdepression, Obstipation, Miosis, Schwindel, Schwitzen, Harnverhalt, kognitive Leistungseinschränkung, Euphorie, psychische und physische Abhängigkeit. Bei längerfristiger Gabe kann sich durch eine Heraufregulierung des NMDA-Rezeptorsystems eine paradoxe Schmerzverstärkung, die opioidinduzierte Hyperalgesie, entwickeln. Eine Adaptation auf Rezeptorebene führt bei Opioideinnahme über einen längeren Zeitraum zu physischer Abhängigkeit und Entzugssymptomen (Hypertonie, Tachykardie, Unruhe, Schwitzen) bei abruptem Absetzen. Dies hat nichts mit Missbrauch oder Sucht zu tun und kann durch eine langsame Dosisreduktion vermieden werden. Das Risiko einer psychischen Abhängigkeit im Sinne von Sucht mit dem Ziel, ein Opioid wegen des euphorisierenden Effektes einzunehmen, ist bei Schmerzpatienten bei Beachtung sachgerechter Anwendung gering. Folgende Grundregeln gilt es dabei zu beachten: – Einnahme der Opoide in oraler, retardierter Form in regelmäßigen Zeitabständen zur Aufrechterhaltung eines gleichmäßigen Blutspiegels, – engmaschige Prüfung von Wirkung und Nebenwirkungen insbesondere im Hinblick auf eine relevante Schmerzlinderung, – Beginn mit niedriger Dosis und schrittweiser Steigerung in Abhängigkeit von Wirksamkeit und Verträglichkeit, – Aufklärung zu Nebenwirkungen, Suchtgefahr, Verkehrssicherheit.

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Die 2015 erneut aufgelegte S3-Leitlinie zur Durchführung einer Langzeitanwendung von Opioiden bei nichttumorbedingten Schmerzen (LONTS) empfiehlt weiterhin, bezogen auf die in Deutschland zugelassenen Opioide Buprenorphin, Fentanyl, Hydromorphon, Morphin, Oxycodon, Tapentadol, Tilidin, sowie Tramadol [36]: Dosis von > 120 mg/Tag orales Morphinäquivalent bei deutlicher Komplikationszunahme mit höheren Tagesdosen nur in Ausnahmefällen überschreiten, nur bei Kontraindikation ggf. transdermale Systeme anwenden. Bei Langzeittherapie ist Folgendes zu beachten: – keine Bedarfsmedikation mit nichtretardierten opioidhaltigen Analgetika, – bei Schmerzexazerbation keine initiale Erhöhung der Opioiddosis, zunächst zusätzliche Therapie mit NSAR, – in regelmäßigen Abständen auf NW, Hinweise für Fehlgebrauch der rezeptierten Medikamente und Erreichen der Therapieziele überprüfen, – nach sechs Monaten mit Therapieresponse Dosisreduktion und/oder Auslassversuch besprechen unter Prüfung der Indikation für Therapiefortsetzung bzw. des Ansprechens auf nichtmedikamentöse Therapiemaßnahmen. Die schwachen Opioide Tramadol und Tilidin/Naloxon unterliegen nicht der BTMVV (Ausnahme: Tilidin/Naloxon in nichtretardierter Tropfenform!) und sollten als erste Stufe der Opioidtherapie angewendet werden. Auch für sie gilt, wie für die starken Opioide, eine Potenzierung des Sedierungseffektes durch Alkohol oder andere zentraldämpfende Substanzen. Die Dosierung muss auf das Alter und je nach Opioid auf Leber- und Nierenfunktion abgestimmt werden. Für Opioide mit Cytochrom-P450 -abhängigen Stoffwechselwegen gibt es kritische Kombinationen mit einem Risiko für Nebenwirkungen oder Wirkverlust. Das Interaktionsrisiko ist von hoher klinischer Relevanz (Fentanyl, Oxycodon), von klinischer Relevanz (Buprenorphin, Codein, Tramadol) und ohne oder geringe Relevanz (Hydromorphon, Morphin, Tapentadol, Tilidin) [37]. Starke Opioide (WHO III) sollten bei chronisch-unspezifischem Kreuzschmerz nur im multimodalen Setting eingesetzt werden, in oraler retardierter Form und mit regelmäßiger Wirkungs- und Nebenwirkungsüberprüfung (s. o.).

3.4.2.3 Zentrale Muskelrelaxantien Auf Grund schwerwiegender Hautreaktionen wurde die Indikation für Tolperison vom BfArM 2013 auf Schmerzen bei Spastizität eingeschränkt und die Zulassung von Tetrazepam zurückgezogen. Zugelassen ist 5 mg Diazepam, welches bei den zentralen Nebenwirkungen Sedierung, Sturzgefahr und Abhängigkeitsproblematik allenfalls bei akutem Kreuzschmerz für ein paar Tage eingesetzt werden sollte. Auch Methocarbomol, Tizanidin, Orphenadrin und Pridinolmesilat haben einen zentraldämpfenden Effekt und in Studien nur eine kurzzeitige Wirkung, so dass ihr Einsatz allenfalls bei akutem Kreuzschmerz nach

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erfolgloser anderer Medikation und Maßnahmen für höchstens zwei Wochen empfohlen wird [26].

3.4.2.4 Antidepressiva Die Evidenzlage zur Anwendung von Antidepressiva bei chronischem nichtspezifischen Kreuzschmerz ist uneinheitlich. Die Versorgungsleitlinien 2017 empfehlen die Anwendung nur bei komorbider Depression oder Schlafstörung. Der analgetische Effekt von Antidepressiva beruht zu einem großen Teil auf der Verstärkung der absteigenden schmerzhemmenden Neurone durch Wiederaufnahmehemmung von Noradrenalin und Serotonin. Die NSMRI (nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren, früher TZA) Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin und Trimipramin sind im Rahmen eines Gesamtkonzeptes zur langfristigen Schmerzbehandlung zugelassen. Die Dosierungen liegen mit der Zieldosis 25–75 mg/d unterhalb der Depressionsbehandlung. Dabei fallen die typischen Nebenwirkungen wie Müdigkeit und anticholinerge Störungen (Mundtrockenheit, Obstipation, Gewichtszunahme, Schwindel, kardiale NW) etwas seltener auf. Eine einschleichende Dosierung beginnend mit 10–25 mg/d ist erforderlich. Die SSNRI (spezifische Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) Venlafaxin und Duloxetin haben ein geringeres anticholinerges Nebenwirkungsprofil. Venlafaxin kann Blutdruckerhöhungen auslösen und ist nicht zur Schmerztherapie zugelassen. Duloxetin hat in Deutschland eine Zulassung zur Schmerzbehandlung bei diabetischer Polyneuropathie. Dosis: 30 bis maximal 120 mg. Für die SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) Fluoxetin, Citalopram oder Paroxetin konnte in Studien keine Wirksamkeit nachgewiesen werden. Es besteht keine Schmerzzulassung. Das NaSSA (noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum) Mirtazapin ähnelt der Wirkung von SSNRI-Antidepressiva, hat jedoch deutlich stärkere antihistaminerge und daher sedierende Wirkung. Es besteht keine Schmerzzulassung.

3.4.2.5 Antiepileptika In Deutschland sind Gabapentin, Pregabalin, Carbamazepin und Topiramat zur Behandlung von nichtspezifischen Kreuzschmerzen bei fehlender Wirksamkeit nicht zugelassen [26]. Die neueren, aufgrund fehlender Interaktionen besser verträglichen Kalzium-Kanal-Modulatoren Gabapentin und Pregabalin zeigten nur geringe Hinweise für eine bessere Wirksamkeit bei chronischem Kreuzschmerz mit radikulärer Symptomatik. Die zentralnervösen Nebenwirkungen wie Müdigkeit mit Einschränkung der Verkehrssicherheit werden in Kombination mit anderen sedierenden Medikamenten potenziert. Für Pregabalin bestehen Hinweise auf ein Abhängigkeits-

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potenzial. Zur ergänzenden Behandlung bei akutem bis subakutem Kreuzschmerz mit neurogenen Schmerzen werden folgende Dosierungen empfohlen: – Pregabalin: beginnend mit 2 × 25 mg, bis maximal 2 × 300 mg, – Gabapentin: beginnend mit 2 × 100 mg, max. TD. 3600 mg.

3.4.3 Interventionelle Schmerztherapie Die interventionelle Schmerztherapie beinhaltet Infiltrationstechniken mit Lokalanästhetika und/oder Glucocorticoiden sowie mikrochirurgische Behandlungstechniken. Die mit dem Beginn der therapeutischen Lokalanästhesie (TLA) bestehende Vorstellung, mit wiederholter Regionalanästhesie durch Blockierung der Reizweiterleitung mit überwiegend spannungsabhängiger Natriumkanalblockade eine Unterbrechung der Schmerz-Verspannungs-Spirale und somit eine Desensibilisierung zu erreichen und damit eine Chronifizierung zu verhindern, hat sich nicht bestätigt. In Reviews und Übersichtsartikeln konnte gezeigt werden, dass es keine Evidenz für die Anwendung von Injektionstechniken bei subakuten und chronischen Rückenschmerzen gibt [38, 39]. Es wird allerdings vermutet, dass bei einer verbesserten Indikationsstellung die Ergebnisse möglicherweise positiver ausfallen. Auch die Evidenz bezüglich des Effektes von interlaminären epiduralen, transforaminalen oder caudalen Steroidinfiltrationen ist mäßig und maximal von kurzfristiger Dauer [40–43]. Neben der begrenzten Evidenzlage, den örtlichen, invasiv bedingten Komplikationen wie z. B. Verletzungen tiefer liegender Organe und Gewebe, Hämatomen mit Kompression nervaler Strukturen und Infektionen mit Abszessbildung bestehen weitere Gründe zur Zurückhaltung von Infiltrationen mit Lokalanästhetika (LA) und Corticoiden. Akute Komplikationen wie ausgeprägte Kreislaufreaktionen bei Sympathikusblockaden und LA-Intoxikationen mit zerebralen und kardialen Symptomen (periorales Kribbeln bis zu Krampfanfällen und Koma sowie Hypertension, HRST bis Asystolie) sind zwar sehr selten, erfordern aber Sicherheitsvorkehrungen mit Überwachungs- und Reanimationsmöglichkeit. Die Toxizität wird bei den in der Schmerztherapie häufig verwendeten, mittelschnell einsetzenden, aber langwirksamen (3–8 h) LA vom Amid-typ Bupivacain und Ropivacain u. a. von der Dosis und dem Applikationsort bestimmt. Durch Verdünnung mit NaCl 0,9 % können Dosis und Toxizität reduziert und über eine selektive Blockade der dünnen C- und A-δ-Fasern bei erhaltender Motorik dennoch eine suffiziente Analgesie erreicht werden [44]. Das deutlich weniger toxische Procain wird regelhaft in der Neuraltherapie verwendet. Als LA vom Ester-Typ hat es einen langsamen Wirkungseintritt mit kurzer Wirksamkeit (0,5–1 h) infolge schneller Plasmahydrolyse. Dabei entsteht das potenzielle Allergen Paraaminobenzoesäure.

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Glucocorticoide werden wegen ihrer immunsuppressiv und genexpressiv bedingten Entzündungshemmung appliziert. Ihre analgetische Wirkung ist gering und beruht auf der Entzündungshemmung. Wie das natürliche Cortisol wirken sie auf alle Organsysteme und den Stoffwechsel. Insbesondere bei mehrfacher pharmakologischer Anwendung resultieren daher zahlreiche systemische Veränderungen und Komplikationen. Die intramuskuläre Depotgabe und die Injektion kristalloider Corticoidsuspensionen subcutan oder in das Fettgewebe sollten wegen Abszessbildung und/oder Gewebeatrophie vermieden werden [45]. Auch wird die epidurale und perineurale Gabe kristalloiden Cortisons wegen möglicher chemischer Arachnitis/Meningitis kritisch gesehen [46]. Beim unspezifischen Rückenschmerz sollten daher Triggerpunktinfiltrationen, Injektionen in den iliosacralen Bandapparat oder an die kleinen Wirbelgelenke nur bei unzureichender physiotherapeutischer Schmerzlinderung oder oraler Medikationswirkung nach sorgfältiger Abwägung im Zusammenhang mit MMST zum Einsatz kommen. Der Patient muss darauf hingewiesen werden, dass die Infiltration wie ein Medikament nur eine passagere Schmerzlinderung bewirken kann und dazu dient, die entscheidende aktivierende Therapie zu ermöglichen. Die Injektionen mit LA können andererseits als so genannte diagnostische Blockaden zur Differenzierung der somatischen Schmerzgenese beitragen. Insbesondere bei der Diagnostik sind Placeboeffekte zu beachten. Akute und subakute Radikulopathien können zur Ermöglichung einer frühzeitigen muskulären Stabilisierung vor Beginn eines aktivierenden multimodalen Programms unter dem Aspekt der Entzündungshemmung durch epidurale Steroidinfiltration behandelt werden. Auch im Falle einer Reaktivierung einer Radikulopathie im Rahmen der MMST kann die epidurale Injektion hilfreich sein. Die Datenlage zu den zunehmend häufiger angewandten perkutanen Therapieverfahren wie Facettendenervierung ist uneinheitlich mit sehr heterogenen Gruppen, kleinen Fallzahlen und fehlender Ursachenspezifizierung. Die Autoren der NVL 2017 raten daher von diesen Therapieverfahren ab [26]. Eine aktuelle Studie zur Radiofrequenzdenervierung bei Facettengelenks-, ISG-Arthropathie oder Bandscheibendegeneration konnte keinen schmerzlindernden Effekt nachweisen [47]. Cave Bei Schmerzverstärkung gegebene Infiltrationen zum Programmende könnten dem Patienten als einzig wirksames Mittel erscheinen und zur Chronifizierung beitragen!

3.4.4 Nichtmedikamentöse Therapieverfahren In der Primärversorgung bei akutem und chronischem Rückenschmerz gleichermaßen häufig angewandte Therapieverfahren sind überwiegend passiver Natur und ohne anhaltende Wirkung.

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Auf Grund der wissenschaftlichen Evidenzlage [29] werden nicht empfohlen: – Bettruhe für mehrere Tage, – elektro- und elektromagnetische Therapie (Interferenzstrom, TENS, PENS, Kurzwellendiathermie, Laser, Magnetfeldtherapie), – medizinische Hilfsmittel (Orthesen, Schuheinlagen), – Ultraschall, – Traktion, – Kinesio-Taping: Trotz fehlender Wirksamkeitsstudien kann Kinesio-Taping im individuellen Fall in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen und bei fehlenden Alternativen dennoch angemessen sein. kann bei akutem Rückenschmerz empfohlen werden: – Bewegungstherapie mit edukativen Anteilen zur Reduzierung von Angst und Vermeidungsverhalten, – PME, – Manuelle Therapie, – Wärme, – Rückenschule. kann bei subakutem/chronischem Rückenschmerz empfohlen werden: – Akupunktur, – Manuelle Therapie, – Ergotherapie im Rahmen multimodaler Programme, – Klassische Massage (in Kombination mit aktivierenden Maßnahmen), – Rückenschule mit biopsychosozialem Ansatz. werden bei subakutem/chronischem Rückenschmerz ausdrücklich empfohlen: – Bewegungstherapie mit edukativen Anteilen, – Rehabilitationssport und Funktionstraining, – PME, – Verhaltenstherapie, – Edukation, – rasche Wiederaufnahme von Alltagsaktivitäten, – früher Einsatz multimodaler, interdisziplinärer Behandlungsprogramme.

Für die nicht ausdrücklich empfohlenen möglichen Therapieverfahren lagen oft widersprüchliche Wirksamkeitsbelege vor, und die Effekte bei alleiniger Anwendung waren nur kurzfristig. Die Autoren der NVL empfehlen, einige dieser passiven Verfahren (Akupunktur, Massage, Manuelle Therapie) mit weiteren aktivierenden Maßnahmen zu kombinieren. Sie verweisen aber auch darauf, dass durch diese Therapieformen die Passivität gefördert wird und dies im Widerspruch zu dem primären Behandlungsziel, die Betroffenen zu aktivieren, steht. Bei Selbstanwendung der so genannten passiven Therapiemaßnahmen kann jedoch die Selbstwirksamkeit gestärkt werden.

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3.4.5 Operative Verfahren Nichtspezifische Kreuzschmerzen sind nicht operationsbedürftig [26]. 90 % der Bandscheibenvorfälle können konservativ behandelt werden. Bei Konus-Kauda-Syndrom und Paresen mit Kraftgrad 3/5 oder schlechter besteht eine Operationsindikation [48]. Paresen mit Kraftgrad 4/5 haben bis zu einer präoperativen Symptomdauer von 120 Tagen eine gute Komplettremissionsrate [29]. Nach Ausschöpfen der konservativen Behandlung einschließlich einer MMST ist bei persistierenden Beschwerden auch ohne Parese an eine Operation zu denken. Prädiktoren für ein gutes Operationsergebnis sind: positive Nervendehnungszeichen, sequestrierte Bandscheibenvorfälle und eine Symptomdauer unter sechs Monaten. Das Risiko für ein Postdiskotomiesyndrom liegt bei 15 % und besteht besonders bei negativen psychischen Faktoren, psychischen Störungen und vorbestehender Schmerzchronifizierung. Goldstandard ist heute die mikrochirurgische Operationstechnik. Evidenzbasierte Aussagen darüber, welches Verfahren bzw. welche Technik von Vorteil ist, liegen nicht vor. Entscheidend sind die richtige Indikationsstellung und die Erfahrung des Operateurs [29, 46]. Ausgehend von der altersentsprechenden Bandscheibendegeneration kommt es vor allem bei Dysbalancen im muskulären Stützsystem der Wirbelsäule mit segmentaler Hypermobilität zu zunehmenden degenerativen Veränderungen. Osteochondrose, Spondylose und Facettengelenksarthrose mit möglicher Listhese führen ggfs. zu einer spinalen Stenose mit progredienter Claudicatio spinalis. Leichte bis mittelschwere Claudicatio-spinalis-Beschwerden sollten in jedem Falle konservativ behandelt werden. Die Indikation zu einer Dekompressionsoperation sollte sehr sorgfältig bei schwerer symptomatischer Stenose und erst nach einer mindestens 12-wöchigen konservativen Therapiedauer ohne zufriedenstellende Besserung erwogen werden. Bei Zweifel an der Ätiologie der Beschwerden und unrealistischen Erwartungen der Patienten sollte von einer Operation abgesehen werden. Welches Dekompressionsverfahren verwendet wird, hängt individuell von den Komorbiditäten des Patienten und vom Operateur ab. Es gibt keine randomisierten Studien, die die Überlegenheit einer bestimmten Vorgehensweise klar belegen. Die Studienlage bzgl. operativer versus konservativer Therapie zeigt langfristig eine gleiche Kreuzschmerzlinderung bei besserer Reduktion des Beinschmerzes durch Operation. Allerdings wurde eine große Heterogenität hinsichtlich Patienteneinschluss und Therapieoption bemängelt. Daher kann evidenzbasiert keine konservative oder operative Therapiemaßnahme besonders empfohlen werden [29, 46].

3.4.6 Feste Termine für den Arzt im Behandlungsprogramm Regelhafte ärztliche Termine sind für Patienten die Edukation und die Visite. Hinzu kommen zu Beginn die Begrüßung sowie die wöchentliche Teambesprechung ohne Patienten.

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3.4.6.1 Begrüßung Die Begrüßung der Teilnehmer einer Behandlungsgruppe erfolgt durch möglichst alle zuständigen Therapeuten unter ärztlicher Moderation. Dadurch kann das Behandlungsteam als gemeinsam agierend wahrgenommen werden. Die Therapeuten stellen sich mit ihren Programmbereichen kurz vor: – PME und Schmerzbewältigungstraining durch Psychologen, – Gymnastik, Medizinische Trainingstherapie, Work Hardening, Spielsport durch Physio- und Sporttherapeuten, – Unterricht mit medizinischen Informationen durch den Arzt. Dieser für Patienten und Therapeuten gemeinsame Termin ermöglicht neben dem ersten Kennenlernen auch eine Darstellung der Ziele und der Behandlungsregeln. Ziele sind: – Wiederaufbau der privaten und beruflichen Teilhabe und Leistungsfähigkeit, dazu gehört die Rückkehr an den Arbeitsplatz, – Abbau von Bewegungsangst, – Unabhängigkeit von medizinischen Einrichtungen, d. h. Experte der eigenen Erkrankung werden, – eine Schmerzverbesserung ist im Laufe des Programms wahrscheinlich, aber unser Ziel ist nicht Schmerzfreiheit! Wie wollen wir das erreichen? – Wiederaufbau der Leistungsfähigkeit unter intensiver Betreuung von vier Therapeuten für 8–9 Betroffene – wir kümmern uns um die Krankschreibung, Schmerzmedikation, evtl. Spritzen, und unterstützen die Patienten bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz (z. B. durch Gespräche mit dem Arbeitgeber). Regeln für die Behandlung sind: – Tägliche Anwesenheit ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Ausnahmen sind fieberhafte Infekte oder dringende Termine. Fehltage führen ggf. zum Therapieabbruch. – Wegen der Schmerzen sollen keine Zusatzbehandlungen außerhalb der Einrichtung wahrgenommen werden (z. B. externe Physiotherapie). – Arztkontakte erfolgen planmäßig zweimal in der Woche mit Unterricht und Visite. Ärztliche Einzeltermine sind bei Bedarf möglich, sollten aber nicht zum Ausfall anderer Therapieeinheiten führen. Bei einer Beschwerdeverstärkung im Programm sind Physio- oder Sporttherapeuten die ersten Ansprechpartner. Diese können viele Probleme gut lösen. Anschließend werden die Patienten gebeten, sich mit Namen, Wohnort und Hobbys vorzustellen. Dabei wird bewusst auf die Darstellung der Krankengeschichte und

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Beschwerden verzichtet. Dies findet in der ersten Einheit der Schmerzbewältigungsgruppe unter dem Aspekt der Funktionseinschränkung und der Zielbestimmung statt. Die grundlegende Botschaft an die Patienten, „die Funktion und nicht den Schmerz in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen“, beginnt mit der Begrüßung und würde durch eine schmerzbezogene Patientenvorstellungsrunde konterkariert werden. Mit der Aufforderung und Ermutigung zu aktiver Teilnahme endet die Begrüßungsrunde: – Nutzen Sie die Zeit hier mit vollem Einsatz! Sie dürfen sich voll belasten! – Der Schmerz kann bei Belastung zunächst zunehmen! Kommen Sie trotzdem her, damit wir sehen können, woran es liegt. – Fragen Sie alles, was Sie wissen möchten. – Versuchen Sie, sich dem Schmerz nicht unterzuordnen – konzentrieren Sie sich mehr auf das, was sie schon wieder besser können.

3.4.6.2 Teambesprechungen In der zu Beginn jeder Woche stattfindenden Teamsitzung berichten die einzelnen Therapeuten aus ihrem jeweiligen Bereich über den Patienten. Das Augenmerk richtet sich auf die Anstrengungsbereitschaft, die Motivation und Offenheit für ein biopsychosoziales Krankheitsmodell. Die Ergebnisse werden in der Krankenakte dokumentiert. Durch die Anwesenheit aller Therapeuten findet in den Teamsitzungen ein Teil des interdisziplinären Arbeitens statt. Die konkreten Inhalte werden in dem entsprechenden Kapitel (Kap. 3.8.1) beschrieben.

3.4.6.3 Visiten Die ebenfalls interdisziplinäre Visite (Kap. 3.8.1) erfolgt gegen Ende der Woche im Arztzimmer. Es empfiehlt sich, die Patienten am Vortag darauf hinzuweisen, wie viel Zeit für jeden vorgegeben ist (ca. 10 min), dass sie sich daher ihre Fragen vormerken und evtl. noch zu klärende Befunde, Tagebücher und Medikamente mitbringen sollen. Dennoch muss der Arzt mit seiner Moderation die Zeitabläufe steuern, da die Patienten sich oft endlich wertgeschätzt und ernst genommen fühlen und dies gern so lange wie möglich nutzen möchten.

3.4.7 Ärztliche Edukation – Die Basisinformationen Ziel der Edukation ist eine Veränderungsmotivation hin zu regelmäßiger körperlicher Aktivität, Stärkung der Eigeninitiative und Abbau von Ängsten und passiven Bewältigungsstrategien. Dabei helfen alltäglich Botschaften mit persönlichem Bezug, um die

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durch längerfristige erfolglose Behandlungen und psychosozialen Rückzug entstandene Verunsicherung zu reduzieren. Bereits ein multimodales Assessment konnte im Vergleich zur Routinediagnostik in verschiedenen Bereichen der Lebensqualität positiven Einfluss ausüben [49]. Die vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Krankheitsverlauf während des Assessments führt oft bereits zu einer Veränderung des meist somatisch geprägten Krankheitsbildes des Patienten zu mehr Offenheit für ein multifaktorielles biopsychosoziales Modell [50]. Dazu soll auch der medizinische Unterricht beitragen. Zur Förderung von Aufmerksamkeit und aktiver Mitarbeit auch in den Theorieeinheiten des Programms wird die medizinische Edukation wöchentlich im Gruppensetting interaktiv durchgeführt. Mit Hilfe eines Flipcharts erarbeitet der Arzt die Themen Anatomie, konservative Therapiemaßnahmen, Sozialsystem und operative Therapiemaßnahmen gemeinsam mit den Patienten. Zur Einführung wird den Patienten das Ziel der Edukation vermittelt: – Experte werden für den eigenen Körper, – konstruktiver Umgang mit der Krankheit, – funktionelles Verständnis für den Sinn der Übungen. Das im Folgenden beschriebene stichwortartige Vorgehen kann als praktischer Leitfaden für eine verständliche Edukation dienen. Das Ziel ist dabei, durch Fragen an die Patienten oder durch das Aufgreifen typischer Patientenfragen (kursiv gedruckt), zentraler Aussagen und Beispiele eine Gruppendiskussion anzuregen und die Integration neuer Informationen in die eigene Schmerzgeschichte zu ermöglichen. Einige Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen sollen zum Nachdenken anregen.

3.4.7.1 1. Woche: Anatomie und Biomechanik der Wirbelsäule Das Kennenlernen anatomischer Grundlagen soll die oft angstbesetzten Vorstellungen des Patienten über seinen Wirbelsäulenschaden relativieren und korrigieren. In der Regel besteht eine Fixierung auf eine monokausale, somatische Veränderung als Schmerzursache. In Unkenntnis der anatomischen Gegebenheiten und Funktionen der Wirbelsäule sind Informationen durch die Voruntersucher wie Bandscheibenvorfall mit drohender Querschnittslähmung, Verschleiß, verrutschter Wirbel usw. angstauslösend und fördern Schon- und Vermeidungsverhalten. Zentrale Informationen sind: – Die Wirbelsäule wurde für ein Leben als Jäger und Sammler entworfen, also für ein Leben in ständiger Bewegung. – Die Wirbelsäule hat mit ihrer Muskulatur eine hohe Stabilität. – Die Wirbelsäule bietet optimalen Schutz für die nervalen Strukturen. – Der muskuläre Schutz ist extrem wichtig und muss trainiert werden, unsere Alltagsbelastung ist dafür nicht ausreichend. – Schonung als vermeintlicher Schutz vor „Verschleiß“ führt zu Muskelabbau.

3.4 „Der Halbgott in Weiß“ – Modul Medizin |

– – – –

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Statische Belastungen sind anspruchsvoll für das Bewegungssystem. So führen „Schonarbeitsplätze“ mit sitzender Tätigkeit oft zu Rückenschmerzen. Psychische Belastungen spielen für das Auftreten von Rückenschmerzen eine größere Rolle als schweres Heben und Tragen. Degenerative Veränderungen sind wie Faltenbekommen ein normaler Alterungsprozess. Bewusste Einschränkung der natürlichen Bewegungsvielfalt führt zur Veränderung des Stützsystems: Muskelabbau, Verlust der Koordination und Stützfunktion und Angst vor Fehlbelastung mit Anspannung. Die Wirbelsäule (Bandscheiben und Wirbelkörper) wird erst stark durch Kraft und Koordination der Muskeln! – Gesund bleibt die langfristig natürlich belastete Wirbelsäule, – wichtig sind ein kontinuierlicher Aufbau und die „richtige“ Dosierung, – Wechseldruckbelastung, keine Dauerbelastung.

Erarbeitung des Teufelskreises mit den Patienten – Was machen wir bei akuten Schmerzen? Wenn wir uns schonen, was passiert dann? Schmerz (akut) → Schonung → Depression → Muskel-, Bandscheiben- und Knochenabbau → Leistungsabfall → Schmerz (chronisch) → mehr Schmerz soll vermieden bzw. unterbrochen werden In der Behandlung gilt es, diesen Teufelskreis umzukehren: Wir holen Sie dort ab, wo Sie mit Ihrer Leistungsfähigkeit stehen. Ergänzend kann an dieser Stelle eine schematische Darstellung der Schmerzchronifizierung im ZNS erfolgen. Diese orientiert sich an der Edukation innerhalb der psychologischen Einheiten (Kap. 3.5.1) und beschreibt neben Gedächtnisprozessen Veränderungen im ZNS, welche die Bereitschaft für eine schmerzhafte Verarbeitung von peripheren Reizen i. S. einer Schmerzsensibilisierung erhöhen. Selbst normale Berührungen können dann als schmerzhaft wahrgenommen werden.

Wie lange dauert die Behandlung? Wann wird es besser? Bei genauerer Überlegung ist den meisten Patienten klar, dass diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist. Sie ist u. a. abhängig von den individuellen Voraussetzungen und der Vorgeschichte. Die wichtige Botschaft ist, dass Patienten nach dem Programm das Erlernte in den Alltag integrieren müssen, um dann nach 3–6–9 Monaten einen belastbaren Anstieg der körperlichen und seelischen Leistungskurve und einen Abfall der Schmerzkurve zu erfahren.

3.4.7.2 2. Woche: Therapiemaßnahmen und Medikamente In dieser Einheit werden bisherige Behandlungserfahrungen von Patienten gesammelt. Dabei wird die „Fülle“ der Methoden deutlich und die Patienten haben Gelegenheit, gegenseitig ihre Erfahrungen auszutauschen. Ziel der Einheit ist zum

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einen die Erkenntnis, dass Therapiemaßnahmen in Abhängigkeit von der Dauer der Schmerzerkrankung unterschiedlich sinnvoll sein können, zum anderen, dass die Wirksamkeit einer Maßnahme nicht ausschließlich aufgrund ihrer kurzfristigen positiven Wirkung beurteilt werden kann. Ein weiterer Schwerpunkt dieser Einheit liegt darin, einen Überblick über die gängigsten Schmerzmedikamente zu geben.

Wer kümmert sich in der Primärversorgung um Rückenschmerzpatienten? – Ärzte (z. B. Hausarzt, Orthopäde, Neurochirurg, A. f. physikalisch-rehabilitative Medizin (PRM)), – Physiotherapeuten, Sporttherapeuten, – Psychologen, Psychotherapeuten, – Kostenträger sind Krankenkassen und Rententräger (Rehabilitation), – weitere Leistungsanbieter/Informationsquellen sind Heilpraktiker, Fitnessstudios, Medien (Internet) und Familie/Freunde. Systembedingt ist die Kommunikation untereinander oft unzureichend und es dauert regelhaft lange, bis Überweisungen oder Diagnostik stattfinden. Die dabei entstehenden langen Zeitintervalle und monodisziplinären Behandlungen erhöhen das Chronifizierungsrisiko. Insbesondere ab der 6. Woche der Arbeitsunfähigkeit steigt es erheblich an.

Welche Behandlungen haben Sie bislang erhalten, mit welchem Effekt? Oft haben die Patienten überwiegend passive Maßnahmen ohne anhaltende Wirkung erhalten, z. B. Manuelle Therapie und Osteopathie ohne aktiven Übungsteil. Das Behandlungskonzept nicht weniger Patienten sieht eine Lockerung oder Bearbeitung der Muskulatur durch Massage, Manuelle Therapie o. Ä. als Voraussetzung für Aktivierung. Diese Einheit bietet die Gelegenheit, diese Konzepte zu hinterfragen und die kurzfristige positive Wirkung der mittel- und langfristigen geringen bzw. fehlenden Wirkung dieser Maßnahmen gegenüberzustellen. Gemeinsam mit den Patienten kann eine Auflistung von Therapiemaßnahmen und dem zu erwartenden Effekt unter dem Aspekt der Differenzierung in akute und chronische Rückenschmerzen erarbeitet werden. (Tab. 3.3) Dabei sollte herausgearbeitet werden, dass mit zunehmender Chronifizierung die Maßnahmen aktiv werden müssen. Passive Therapiemaßnahmen (Massagen, Wärme) können allenfalls ergänzend gegeben werden, würden aber die Konzentration auf effektive Therapiemaßnahmen stören und im Widerspruch zu dem Konzept der aktiven Krankheitsbewältigung stehen.

3.4 „Der Halbgott in Weiß“ – Modul Medizin

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Tab. 3.3: Wirksamkeit von Interventionen – mit Patienten erarbeitete Beispiele. Therapieform

Akut

Chronisch

Massagen Fango Manuelle Therapie Entspannung (AT, PME) Bewegungstherapie

(+) + + + (+)

– – (+) + +

Welche Rolle spielen Schmerzmedikamente in der Behandlung, welche Schmerzmedikamente kennen Sie? Die Kenntnis über Schmerzmedikamente ist auch bei langer Einnahmedauer oft erschreckend gering, das Interesse an einer Information über Wirkung und Nebenwirkungen jedoch zumeist groß. Mit der Aufzählung der den Patienten bekannten Medikamente sollten die einzelnen Arzneimittelgruppen besprochen werden (Kap. 3.4.2). Infiltrationen haben bei chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzen einen nur geringen Stellenwert. Zusätzlich besteht das Risiko einer weiteren Schmerzchronifizierung (Kap. 3.4.3). Viele Patienten stehen der Einnahme von Schmerzmedikamenten kritisch gegenüber. Andere hoffen auf eine Spritze als einfache und schnelle Lösung. Bei dieser Thematik geht es deshalb immer auch um ihre Einordnung innerhalb des Behandlungskonzeptes als unterstützende kurzfristige Maßnahme. Sie ermöglicht die Teilnahme an den aktiven Bewegungseinheiten, die dann mittel- und langfristig eine anhaltende Verbesserung bewirken. Eine medikamentöse Reduktion des Schmerzerlebens ermöglicht schmerzärmere Bewegungserfahrungen oder/und erholsamere Ruhephasen, die für die Regeneration notwendig sind. Sie ist nicht „Lösung“ des Schmerzproblems.

3.4.7.3 3. Woche: Leistungen und Grenzen unseres Sozialsystems In der 3. Woche ist das Hauptthema die Wiedereingliederung in einen „normalen Alltag“, zu dem auch der Arbeitsalltag zählt. Eine Rückkehr an den Arbeitsplatz ist Ziel des Behandlungsprogramms, auch wenn noch Schmerzen bestehen. Thematischer Schwerpunkt dieser Einheit ist unser Sozialsystem mit seinen Leistungen für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit und den Möglichkeiten, die Rückkehr in die Arbeitsfähigkeit zu unterstützen. Die Vorstellung unseres Sozialsystems soll dazu beitragen, die finanziellen und zeitlichen Ansprüche der Patienten als großartige Errungenschaften des Sozialstaates verständlich zu machen. Obwohl es in jedem Sozialsystem viele Verbesserungen geben kann, ist das hiesige sicherlich eines der weltweit tragendsten. Dadurch wird das Ziel verfolgt, den Patienten aus der Opferrolle zu nehmen und in eine aktive Kämpferrolle für die eigene Gesundung zu überführen. Negative Auswirkungen einer längerfristigen Arbeitsunfähigkeit können gut in der Gruppe erarbeitet werden,

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wie beispielsweise die zunehmende Unattraktivität auf dem Arbeitsmarkt oder auch die Minderung der Rentenansprüche durch ein niedrigeres Einkommen. Die frühe Rückkehr in den Arbeitsalltag ist keine, wie von einigen Patienten vermutet, Sparmaßnahme der Krankenkasse, sondern ein therapeutisch notwendiger Schritt auf dem Weg zur Genesung. In dieser Einheit erhalten die Patienten die folgenden Informationen und können Fragen dazu stellen. Unsere Erfahrung zeigt, dass diese Informationen für viele Patienten neu sind. – Krankenversicherung (KV): vereinfachter zeitlicher und monetärer Ablauf der Arbeitsunfähigkeit: – sechs Wochen Lohnfortzahlung bei Angestellten durch Arbeitgeber: 100 % des Grundgehaltes (aber ohne Zuschläge wie beispielsweise bei Schichtarbeit), – 72 Wochen Krankengeld durch gesetzliche Krankenkassen (ca. 70 % des Einkommens, max. 90 % vom Nettogehalt), – die AU-Zeiten einer Erkrankung innerhalb der letzten drei Jahre werden zusammengezählt. (so genannte Blockfrist). Der Patient hat eine Mitwirkungspflicht zur Gesundung! Bei problematischen langandauernden Krankheitsverläufen kann die KK jederzeit eine Untersuchung durch den medizinischen Dienst (MDK) anordnen. Die Krankenversicherung kann den Versicherten auch auffordern, einen Antrag für eine Rehabilitation, die über den Rententräger finanziert wird, zu stellen. Wichtig ist ebenso, dass Arbeitsunfähigkeit nicht vor einer Kündigung schützt. In kleineren Betrieben kann der Arbeitgeber einem erkrankten Arbeitnehmer kündigen. Eine Wiedereingliederung kann innerhalb der Arbeitsunfähigkeit über ein Hamburger Modell schrittweise realisiert werden. Es kann ein Antrag zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben über den deutschen Rententräger gestellt werden. Diese Leistungen reichen vom höhenverstellbaren Schreibtisch bis zur Unterstützung und Finanzierung einer Umschulung, wenn eine Rückkehr in den alten Beruf aus medizinischen Gründen nicht indiziert ist. – Aussteuerung (Ende Krankengeld-Zahlung): Dann kann ein Antrag auf Überbrückungsgeld beim Arbeitsamt in Höhe des Arbeitslosengeldes 1 (63 % des Einkommens) gestellt werden. Bei älteren und schwerkranken Patienten muss auf Verlangen des Arbeitsamtes evtl. gleichzeitig bei der DRV ein Rentenantrag gestellt werden, mit dem Risiko einer deutlichen Minderung des zukünftigen Einkommens. – Arbeitslosenversicherung (ALV) – Überbrückungsgeld/Arbeitslosengeld 1: Höhe 60–67 %; Anspruch nach Einzahlung in die ALV über mindestens 12 Monaten in den letzten zwei Jahren; Anspruchsdauer: abhängig vom Lebensalter und Versicherungspflichtverhältnis: 6–24 Monate,

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Arbeitslosengeld 2 („Hartz IV“): Höhe bei Alleinstehenden ohne Kinder: zzt. 416 €/Mo + Wohngeld + Heizungsgeld; Anspruchsdauer: im Prinzip unbegrenzt, aber bei Abweisung nachgewiesener Arbeitsplätze sinkt der Satz. Fremdzuwendungen, auch Geschenke werden angerechnet, ebenso Partner mit eigenem Einkommen: Wenn der Anspruch auf ALG II dabei ganz erlischt, muss der KK-Beitrag selbst bezahlt werden! Rentenversicherung (RV): Eine Berufsunfähigkeitsrente gibt es bei der gesetzlichen Rentenversicherung nicht mehr. Ein Rentenantrag auf Erwerbsminderung sollte bei sehr langen Bearbeitungszeiten parallel zur AU gestellt werden, denn deren Bearbeitung kann lange dauern! Und die eines möglichen Widerspruchs noch länger! Bei einer Klage vor dem Sozialgericht vergehen bis zum Urteil oft Jahre. Die tatsächliche Anerkennung von Rente wegen Rückenschmerzen ist gering. Wichtig ist, wie lange zumindest leichte Tätigkeiten noch ausgeübt werden können: – > 6 h/d = voll erwerbsfähig, – 3–6 h/d = teilerwerbsfähig, – < 3–6 h/d = erwerbsunfähig. Die Erwerbsminderungsrente ist zeitlich befristet. Möglichkeiten beim Integrationsamt (Grad der Behinderung (GdB)): Für Rückenschmerzen ohne bleibende Paresen gibt es i. d. R. einen GdB von 20, das bedeutet: praktisch keine versorgungsrechtlichen Ansprüche. – GdB ≥ 30 %: Gleichstellungsantrag möglich (Kündigungsschutz bei entsprechender betrieblicher Größe), – GdB ≥ 50 %: bedeutet vereinfacht u. a. Kündigungsschutz, fünf Tage mehr Urlaub im Jahr, frühere Berentung ohne Abzüge. Bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen erfolgt eine Gesamteinschätzung der wechselseitigen Beziehung der vorliegenden Erkrankungen, keine Addition von Einzel-GdB.







3.4.7.4 4. Woche: Operationen an der Wirbelsäule In der vierten Woche werden Wirbelsäulenoperationen vorgestellt. Diese ausführliche Darstellung wird von den Patienten sehr interessiert aufgenommen. Im Kontext des Programms werden damit zwei Ziele verfolgt. Zum einen soll deutlich werden, dass nichtspezifische Kreuzschmerzen nicht operationsbedürftig sind [26, 48]. Patienten sollen in die Lage versetzt werden, eine Operationsempfehlung hinterfragen zu können und lieber eine Zweitmeinung einzuholen, statt vorschnell einer Operation zuzustimmen. Zum Zweiten soll auch deutlich werden, dass eine Operation Risiken hat, nicht rückgängig gemacht werden kann, und dass deshalb alle Möglichkeiten der Prävention oder der vorherigen konservativen Behandlung ausgeschöpft werden sollten. Es gibt aber auch Kriterien für eine Operation (Kap. 3.4.5). Deshalb ist die Besprechung der Operationen eine Gratwanderung, da dieses Thema auch Ängste

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verstärken kann. Die folgenden Informationen werden den Patienten gegeben. Dabei handelt es sich um Stichworte, die im Unterricht näher erläutert werden.

Beispiele für „häufige“ Operationen – Bandscheiben-Operation – Max. 5 % akuter Rückenschmerzpatienten haben zusätzliche Ischiasbeschwerden im Sinne einer Radikulopathie, aber nur 10 % von ihnen sollten operiert werden [29, 48]. – Bei entsprechender Indikationsstellung (Arm- oder Beinlähmung, Blasenlähmung, therapieresistenter Bein-(Arm-)Schmerz) sind die Operationsergebnisse mit heutiger Technik sehr erfolgreich bei geringem Risiko. – Dekompression – typische Indikation: Wirbelkanalenge und Kompression nervaler Strukturen, – sehr häufige Operation des älteren Menschen > 60. LJ., – klassische Stabilisierung und Entwicklung von Bandscheibenprothesen. Das Ende der Einheit mündet in einer klaren Empfehlung zur Schmerz- und Operationsprävention: Bauen Sie Ihr muskuläres Stützkorsett der Wirbelsäule funktionell auf und verhindern Sie durch Stabilität und Bewegung die täglichen Auswirkungen eines fortschreitenden Verschleißes! Fazit Modul Medizin Der Arzt übernimmt für den Patienten im Therapeutenteam die medizinische und rechtliche Verantwortung. Die wichtigsten Anteile ärztlicher Behandlung sind: Patientenführung, Empathie, Befunderläuterung mit Bewertung, Aufklärung, Edukation und Abbau medikamentenzentrierter Therapie zugunsten aktiver Schmerzbewältigung. Interventionelle, medikamentöse und nichtmedikamentöse passive Therapieverfahren haben bei chronifiziertem Schmerz nur kurzfristige Effekte, fördern eine passive Erwartungshaltung und eine somatische Fixierung des Patienten. Sie sollten nur zurückhaltend und in ein biospsychosoziales Gesamtkonzept integriert eingesetzt werden. Mit zunehmender Chronifizierung ändern sich die Verantwortlichkeiten des Arztes von den aktiven Behandlungsmöglichkeiten zur beratenden Begleitung mit dem Therapieziel der Patientenautonomie.

Marion Heinrich

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie Eine Behandlung jedweder Art unterliegt bzw. besteht aus psychologischen Prozessen, die bei allen beteiligten Akteuren stattfinden. Das sind Aufmerksamkeits-, Lernund Gedächtnisprozesse, Urteils- und Entscheidungsprozesse ebenso wie Motivation und Handlungsplanung. Sie bestimmen den Alltag von uns allen. Manche Prozesse

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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sind der Wahrnehmung zugänglich, die meisten finden außerhalb der bewussten Wahrnehmung statt. Psychotherapie zielte in ihrer Entwicklung zunächst auf die Behandlung psychischer Störungen ab, weitete sich dann auch aus auf die Behandlung von psychischen Folgen körperlicher Erkrankungen. Dabei wurde das zu behandelnde Verhalten als psychopathologisch kategorisiert. Therapieschulen lieferten eine Erklärung für dieses pathologische Verhalten. Je nach Blickwinkel des Therapeuten rückten unbewusste Konflikte, das Bindungsverhalten, systemische Prozesse, dysfunktionale Kognitionen oder Lernprozesse in den Vordergrund der Behandlung. Versuche, Menschen mit chronischen Schmerzen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit zu beschreiben, scheiterten [51]. Der Erfolg verschiedenster psychotherapeutischer Verfahren beruht vermutlich weniger auf der Spezifität und „Richtigkeit“ der zugrundeliegenden Theorie als vielmehr einerseits auf der Realisierung unspezifischer Wirkfaktoren [4], andererseits aber auch auf der spezifischen Beeinflussung der o. g. allgemeinpsychologischen Prozesse (s. a. [52]). Es gibt deshalb Vorschläge, die Therapierichtungen zu überwinden und eine psychologische Therapie zu etablieren. Dabei kann das Wissen über psychologische Prozesse Bezugsrahmen sein. Diese Vorüberlegungen sind von Bedeutung, da besonders in der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen häufig eine Psychopathologisierung stattfindet, oft aus Hilflosigkeit. Patienten ihrerseits erleben sich häufig als in die „Psychoecke“ abgeschoben. Deshalb ist ein zentraler Aspekt der interdisziplinären Behandlung die Berücksichtigung psychologischer Prozesse und der spezifischen biopsychosozialen Rahmenbedingungen von Anfang an. Insofern umfasst das Modul „Psychologie“ übergreifende implizite Aspekte der gesamten Behandlung, den Umgang mit Patienten sowie den Austausch der Behandler untereinander. Es beinhaltet aber auch einen expliziten Anteil, bei dem es um die psychologischen Inhalte im engeren Sinne geht. Die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie in der Behandlung chronischer Rückenschmerzen verglichen mit der Regelversorgung ist empirisch belegt [53]. Sie zielt auf maladaptive Einstellungs- und Verhaltensweisen bezogen auf das Schmerzerleben und die erlebte Beeinträchtigung ab. Schmerzedukation (Kap. 3.5.1), Schmerzmanagementstrategien (Kap. 3.5.2) und Stressbewältigungsstrategien (Kap. 3.5.4) sind wichtige Interventionen. Über das gesamte multimodale Programm hinweg sind eine realistische Zielsetzung mit zeitnah zu erreichenden Zwischenzielen (Kap. 3.5.5), eine schrittweise Belastungssteigerung, die Konfrontation mit aufrechterhaltendem Problemverhalten und eine Balance zwischen Belastung und Regeneration die Ansatzpunkte, um eine Stimmungsverbesserung, eine Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit und eine Verbesserung der Selbstwirksamkeit zu erzielen (Kap. 3.5.6). Eine geringe Selbstwirksamkeit ist ein wesentlicher Risikofaktor für Chronifizierung und Aufrechterhaltung einer hohen Schmerzbeeinträchtigung [54].

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3.5.1 Krankheitsmodell und Schmerzedukation 3.5.1.1 Was habe ich eigentlich? – Teil I – Das Problem benennen Die Erarbeitung eines Krankheitskonzeptes, mit dem sich der Patient identifizieren kann und aus dem sich die Behandlungsstrategien ableiten lassen, ist wesentliches Ziel der Edukation. Patienten haben unterschiedlich elaborierte Krankheitskonzepte. Meist dominieren somatische Ursachen. Dabei wird Ursache mit Schmerz gleichgesetzt i. S. von: „Meine Bandscheibe tut weh!“ Da ca. 80 % aller Rückenschmerzen nichtspezifisch sind, d. h., dass es kein somatisches Korrelat gibt, das diesem Schmerz eindeutig (!) zuzuordnen ist, kommen Patienten mit der Erwartung: „Ich will endlich wissen, was ich habe!“ in die Behandlung. Dabei geht es nicht alleine um eine Erklärung, sondern auch um den Wunsch, eine einfache und plausible Erklärung zu bekommen, die dann eine eindeutige Lösung erfordert. Die Ausweitung des Krankheitskonzeptes ist deshalb essentiell. Das heißt aber auch, dass der Patient die Bereitschaft entwickelt, sein „einfaches“ kausales Modell aufzugeben. Neben dem Wunsch nach Eindeutigkeit und Einfachheit bergen vor allem mechanistische Krankheitskonzepte den Wunsch nach Kontrolle. Dabei geht es vor allem darum, den Schmerz durch angemessenes Verhalten im Idealfall verhindern zu können. Ein damit verbundenes typisches Konzept ist das „der falschen Bewegung“. Kontrolle zu haben, auch wenn sie nur vermeintlich ist, erhöht das Sicherheitserleben und reduziert kurzfristig Angst. Mittel- und langfristig kommt es zu Kontrollverlusterleben, wenn Schmerzen weiterhin bestehen. Die Angst wird über das Vermeidungsverhalten verstärkt und aufrechterhalten. Gefühle, Bewertungsmuster und Bewältigungsverhalten sind wesentliche Bestandteile des biopsychosozialen Krankheitskonzeptes. „Das Problem benennen“ schließt deshalb dysfunktionales Bewältigungsverhalten und Folgeprobleme mit ein. Was hat sich verändert im Leben und im Alltag, seitdem der Schmerz da ist bzw. seitdem er stärker geworden ist? Ein Beispiel für eine Sammlung von Schmerzfolgen, die den Ebenen Körper, Gefühl, Gedanken, Verhalten und Reaktionen der Umgebung zugeordnet werden, zeigt Tab. 3.4. Eine Behandlung bezieht idealerweise die verschiedenen Ebenen mit ein. Eine Ausnahme sind die Reaktionen der Umgebung, die jedoch eine Entsprechung in den eigenen Bewertungen der Situation haben. Patienten sollten bereits hier verstehen, dass umgekehrt Bewegung nicht alleine dem Muskelabbau entgegenwirkt, sondern auch eine veränderte Einschätzung der eigenen Belastbarkeit ermöglicht, eine Besserung der Stimmung bewirken kann und Vermeidungsverhalten entgegenwirkt.

3.5.1.2 Was habe ich eigentlich? – Teil 2 – Die Ursache In Teil 1 geht es um die Folgen des Schmerzgeschehens. Hier an dieser Stelle sollen die Ursachenannahmen der Teilnehmer aufgegriffen werden. Typische Nennun-

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Tab. 3.4: Schmerzfolgen – Abschrift (in der Gruppe erarbeitetes Tafelbild). Gedanken Bewertungen

Gefühle

Körper

Verhalten

Pass’ auf, dass der Schmerz nicht schlimmer wird Keiner kann mir helfen Ich fühle mich so alt Die anderen denken, ich drücke mich Ich lasse die anderen im Stich Selbstzweifel Minderwertigkeitserleben Zukunftssorgen

Angst Ärger Trauer Niedergeschlagenheit Depressivität Wut Gereiztheit

Anspannung Muskelabbau Konditionsverlust Gewichtszunahme oder -abnahme Verspannungen Zusätzliche Schmerzen Konzentrationsstörungen Schlafprobleme Müdigkeit Antriebsminderung NW von Medikamenten …

Schonhaltung Vermeidungsverhalten Soz. Rückzug Kein Sport mehr Viel liegen Andere um Hilfe bitten müssen Arztbesuche …

Reaktionen der Umgebung Mitleid, Ratschläge, Verständnis, Unterstützung, Überfürsorge, Unverständnis, blöde Sprüche, … ↓↓ Reduktion der Lebensqualität

gen sind: „Die Bandscheibe ist rausgerutscht und drückt auf den Nerv!“ oder: „Bei mir ist es in der Wirbelsäule so eng, da wird dann der Nerv abgequetscht!“ Ähnlich wie in der diagnostischen Eingangsuntersuchung kann vertiefend exploriert werden, warum das zu diesem Zeitpunkt passiert ist. Das kann dann die anstrengende berufliche Tätigkeit sein oder das viele Sitzen oder dass man keinen Sport mehr gemacht hat. Durch die Diskussion in der Gruppe tauchen Ursachenannahmen auf, die auf die eigene Situation übertragen werden können. Entscheidend ist, dass mehr als ein Bereich genannt wird. Das Ziel liegt in der Aufweichung einer monokausalen Erklärung.

3.5.1.3 Was habe ich eigentlich? – Teil 3 – Leitfaden für eine geleitete Edukation zur Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung Warum haben wir überhaupt Schmerzen? Schmerzen sind Warnsignale dafür, dass irgendetwas nicht stimmt oder dass ein Schaden entstanden ist. Sie können auch eine drohende Gewebeschädigung anzeigen. Sie sind notwendig, damit wir reagieren und uns schützen können.

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Ausgangspunkt für die Erarbeitung der Schmerzwahrnehmung kann eine periphere Alltagsverletzung sein, die jeder kennt. Das kann der Schnitt in den Finger sein, das Stoßen an einer Tischkante oder der Hammerschlag auf den Daumen beim Aufhängen eines Bildes. Wie bekommen wir mit, dass eine Verletzung vorliegt? Patienten sammeln lassen. Typische Antworten sind: „Ich sehe erst das Blut, dann tut es weh!“, „Ich habe mir tief in den Finger geschnitten und gar nichts mitbekommen …“, „Ein kleiner Papierschnitt tut mehr weh als ein tiefer Schnitt …“ Die Antworten zeigen, dass es sehr unterschiedlich sein kann, ob und wann wir Schmerzen empfinden. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass eine Verletzung nicht gleichzusetzen ist mit Schmerzerleben. Wie erfahren wir von den Verletzungen, wer meldet sie als Erstes? Wir haben über den ganzen Körper verteilt Sensoren, die auf mechanische, chemische oder thermische Reize reagieren. Diese Sensoren geben bei Veränderung eine entsprechende Meldung an Neurone (Nervenzellen) weiter, im Rückenmark wird diese verschaltet und an das Zwischenhirn (Hypothalamus) und dann an das Großhirn weitergeleitet. Bereits auf der Ebene des Rückenmarks findet ein Rückzugsreflex statt. Was wissen wir sofort, wenn die Meldung im Gehirn eintrifft? Wir wissen sofort, wo es schmerzt, wie stark der Schmerz ist und was für eine Art von Schmerz es ist (drückend, ziehend, brennend etc.). Was passiert dann? Pat.: „Dann drücke ich den Finger, desinfiziere und mache ein Pflaster drauf ...“ Th.: „Noch bevor Sie das machen, machen Sie vermutlich etwas anderes – Sie müssen ja auch wissen, wie groß das Pflaster sein soll.“ Pat.: „Na, ich schaue mir das an …“ Th.: „Genau, und was denken Sie über die Verletzung?“ Pat.: „Ist nichts Schlimmes.“ Th.: „Wenn Sie gerade Gemüse schneiden, die Zeit knapp ist und Sie Gäste eingeladen haben, für die Sie gerade kochen … was geht Ihnen durch den Kopf, sobald Sie die Verletzung mitbekommen?“ Pat.: „Mist!“ Lernziel Schmerz entsteht erst im Gehirn. Erst dort findet eine Bewertung des nozizeptiven Signals statt. Diese Bewertung ist mit einem bestimmten Gefühl (meist Angst oder Ärger/Wut) verbunden und führt zu einem bestimmten Verhalten.

Wovon hängt es ab, ob und wie stark wir die eingetroffene Schadensmeldung als Schmerz empfinden? Eine typische Antwort ist, dass es von der Schwere der Verletzung abhängt. Am Beispiel des „Hammers auf dem Daumennagel“, das initial mit starkem Schmerzerleben verbunden ist, zu starkem Ärger führt, bei manchen nach kurzer Zeit humorvoll gesehen werden kann und in der Regel kaum zu einer Verhaltensänderung

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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führt (das Bild wird trotzdem aufgehängt), wird die Bedeutung der Bewertung und des damit einhergehenden Gefühls deutlich. Ein gleicher Schmerz, wahrgenommen im Rücken, würde sofort zu Angst führen. Im Beispiel des Hammers ist die Ursache nicht nur klar, sondern sie unterliegt auch meiner Kontrolle. Angst führt zu verstärktem Schmerzerleben, wohingegen das Erleben von Kontrolle mit einem reduzierten Schmerzerleben einhergeht. Warum sehe ich manchmal erst das Blut, noch bevor ich Schmerz wahrnehme? Patienten sammeln lassen. Gegebenenfalls Beispiele nennen: – Ablenkung (großes Hämatom nach einem Umzug), – Schockreaktion, – Stimmung, – Placeboeffekt bei Medikamenten und damit Bedeutung der Erwartung, – Sport (Bedeutung von Adrenalin und Endorphinen → körpereigener Medikamentenschrank), – Erfahrung, Wissen, – Entspannung, Trance, Hypnose, – Spiritualität. Das häufig genannte alltagsferne Beispiel des Fakirs für eine „gelungene“ Ausschaltung des Schmerzes verdeutlicht immerhin den Effekt von Trance, freier Entscheidung und Kontrolle auf Schmerzwahrnehmung und Verarbeitung. Lernziel Die nozizeptive Signalübertragung vom Schadensort an das Gehirn ist keine Einbahnstraße, es gibt Gegenverkehr. Das Signal kann je nach Bedeutung verstärkt oder gehemmt werden. Das Gehirn ist die Schaltzentrale und bestimmt, wie stark wir Schmerz empfinden.

Überleitung vom Alltagsbeispiel zum Rückenschmerz Th.: „Wenn wir uns nochmal das Beispiel mit dem Finger anschauen: Sie haben ein Pflaster draufgemacht, was machen Sie dann? Mit dem Gemüse …“ Pat.: „Ich schneide es weiter.“ Th.: „Was ist dann mit dem Schmerz?“ Pat.: „Da denke ich nicht mehr dran, höchstens, wenn heißes Wasser drüberkommt, oder ich dagegen stoße.“ Th.: „Was wissen Sie über diese Verletzung?“

Es wird herausgearbeitet, dass die Wunde gut heilt. Man schadet sich nicht, wenn man weitermacht. Es gibt nicht mehr zu tun, als abzuwarten. Das Wissen und die Erfahrung mit derartigen Verletzungen ermöglichen es uns, unseren Alltag wie geplant fortzuführen. Signale aus diesem Gebiet sind uninteressant geworden. Weiterführende Fragen lauten dann: „Wie ist das bei den Schmerzen im Rücken? Was wissen Sie darüber? Woher kommen sie? Wie lange halten sie an? Was heißt das für

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Ihren Alltag, für die Arbeit? Was können/sollten Sie tun, damit es besser wird? Womit schaden Sie sich?“ Fragezeichen bedeuten Unsicherheit bis hin zur Angst. Die Aufmerksamkeit ist auf das Schmerzerleben gerichtet, jede Information ist wichtig und hilft vielleicht, das Problem zu lösen und Kontrolle wiederzugewinnen. Die Wunde durch den Messerschnitt heilt innerhalb weniger Tage. Der Rückenschmerz bleibt länger. Was bedeutet das für die Signalweiterleitung? Es kommt zu Sensibilisierungsprozessen. Die Nervenbahn befindet sich in Dauererregung und produziert von sich aus – ohne Reizung aus der Peripherie – Schmerzen. Aber auch aus der Peripherie (der schmerzenden Stelle) kommende harmlose Reize (z. B. bei Bewegungen, Kälte, Druck) werden als Schmerzreize verarbeitet, da sie fälschlicherweise als bedrohlich interpretiert werden. Neben Sensibilisierungsprozessen spielen Lern- und Gedächtnisprozesse eine wichtige Rolle. Um den Zusammenhang zwischen Vorstellungen und physiologischen Reaktionen sowie den Prozess der klassischen Konditionierung zu verdeutlichen, bietet sich die Imagination einer Zitrone unter Einbezug aller Sinneskanäle an [55]. Der dabei auftretende Speichelfluss verdeutlicht, dass allein die Vorstellung eine physiologische Reaktion auslösen kann. Dies funktioniert nur dann, wenn es eine entsprechende Erfahrung mit einer Zitrone gegeben hat. Sämtliche Erfahrungen sind in unserem Gedächtnis abgespeichert, dies trifft auch für Schmerzerfahrungen zu. Je vielfältiger und länger andauernd die Schmerzerfahrungen sind, umso elaborierter und stabiler sind die Verknüpfungen von Schmerz mit Bewegungsreizen, situativen, aber auch interozeptiven Reizen, Gefühlen und Verhaltensweisen. Damit können Schmerzen über Gedächtnisprozesse in einem entsprechenden Bereich wahrgenommen werden, auch wenn die ursprüngliche Verletzung bereits geheilt ist. An diesem Punkt kommt von Patientenseite häufig der Einwand, dass das dann doch ein eingebildeter Schmerz sei. Ein weiterer Einwand betrifft die Kopplung bestimmter Bewegungen (z. B. Heben einer Kiste) mit Schmerzen: „Ich hebe die Kiste und es tut weh, ich denke nicht vorher, oh, es könnte gleich weh tun!“ Der Rückgriff auf die „Zitrone“ macht deutlich, dass der Speichelfluss real (und nicht eingebildet) war, und der Speichelfluss kam, ohne dass die betreffende Person dachte: „Jetzt denke ich an die Zitrone, jetzt fließt gleich mein Speichel.“ Hilfreich ist hier auch die Unterscheidung von explizitem und implizitem Gedächtnis. Das explizite Gedächtnis enthält unser Wissen (semantisches Gedächtnis) und Ereignisse (episodisches Gedächtnis). Das implizite Gedächtnis enthält assoziative Lernprozesse (klassische und operante Konditionierung), aber auch nichtassoziative Lernprozesse (Sensibilisierung, Habituation). Sämtliche Lern- und Gedächtnisprozesse sind bei Schmerz relevant. Dies sind das Wissen über Schmerz, die Erkrankung und Behandlung (Krankheitskonzept) und der bisherige Schmerzverlauf als Inhalte des expliziten Gedächtnisses. Verhaltensmuster (z. B. die Einnahme von Schonhaltungen), die Empfindlichkeit für Schlüsselreize und die Konditionierung von

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Körperreaktionen sind Inhalte des impliziten Gedächtnisses. Diese Verhaltensmuster sind nicht bewusst erinnerbar, sondern als unbewusste Reaktionen auf bestimmte Situationen beobachtbar. Mit der Schmerzerfahrung werden der Kontext, interozeptive Reize und die affektive Valenz des Erlebten abgespeichert. In der Folge versuchen wir die Aversivität zu vermindern, d. h., wir vermeiden den Reiz oder wir retten uns über die Zeit (halten durch), wenn eine Vermeidung nicht möglich ist oder sie uns nicht möglich erscheint. Im Falle der Vermeidung kommt es zur Reduktion von Angst oder zu einer Verhinderung von Schmerz. In der Folge wird dieses Vermeidungsverhalten häufiger gezeigt. Im Falle des Durchhaltens wird die Verbindung von Schmerz und Bewegung oder Körperposition (z. B. sitzen) mit Ausweglosigkeit und Anspannung, aber auch Angst davor, es nicht durchzustehen, immer wieder verstärkt. Alle diese Erfahrungen sind Teil des Schmerzgedächtnisses. Das Schmerzgedächtnis lässt sich vorstellen wie ein Netzwerk mit Schmerzknotenpunkten in verschiedenen Arealen des Gehirns (motorischer Kortex, sensomotorischer Kortex, Amygdala, limbisches System, Hypothalamus etc.). Das Schmerzgedächtnis entspricht dabei einem mit Schmerz verbundenen bestimmten Aktivierungsmuster. Für Patienten ist wichtig zu wissen, dass Schmerzinhalte ähnlich wie andere Lernprozesse verblassen können, vorausgesetzt, sie werden nicht immer wieder verstärkt. Lernziel Je länger der Schmerz andauert, desto mehr kommt es zu Veränderungen in der Signalweiterleitung aus der betroffenen Region (Sensibilisierung), und Lern- und Gedächtnisprozesse spielen eine immer größere Rolle. Das Schmerzgedächtnis entspricht einem Netzwerk, in dem aufgrund von Erfahrungen Verknüpfungen hergestellt und stabilisiert werden. Diese Veränderungen können Schmerzen bewirken, auch wenn die initiale Verletzung verheilt ist (Abb. 3.1). Inhalte des Schmerzgedächtnisses können sich durch neue Erfahrungen verändern.

Was bedeutet das bisher erarbeitete Wissen für die Behandlung? Wie müsste eine Behandlung aussehen? Vorschläge sammeln lassen. Typische Patientenantworten sind Ablenkung, aber auch Medikamente oder Bewegung und Sport. Etwas weniger Patienten kommen auf Entspannung. Wie lassen sich diese Maßnahmen im Modell einordnen? Was bewirken sie? An dieser Stelle zeigt sich sehr genau, wie Patienten das bisher Erarbeitete auf ihre Schmerzsituation übertragen und erkennen können, wie sehr sie gefordert sind und welche Schritte in ihrer Eigenverantwortung liegen. Es geht auch darum, das Behandlungskonzept nachvollziehbar zu machen. Die einzelnen Behandlungsanteile sind nicht beliebig (i. S. von: „Tut halt irgendwie gut!“), sondern folgen einer nachvollziehbaren Logik. Ablenkung bewirkt, dass andere Reize im Vordergrund sind. Vereinfacht gesagt, hat das Gehirn eine „Erholungspause“ (s. Ablenkung als Strategie). Je positiver die

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Abb. 3.1: In der Gruppensitzung erarbeitetes Modell zur Schmerzweiterleitung und Verarbeitung.

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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Ablenkung ist, desto mehr schmerzhemmende Botenstoffe werden ausgeschüttet. Bei Entspannung ist das parasympathische Nervensystem aktiv, Regeneration und Erholungsprozesse können stattfinden. Der Therapeut kann hier skeptische Äußerungen aufgreifen oder aber selbst formulieren und an die Gruppe zurückgeben. Wenn ich mich bewege und es schmerzt, dann „zementiere“ ich doch meine Schmerzerfahrung? Wie ist das hier im Programm? Was ist der Unterschied, wenn Sie das zu Hause für sich machen oder hier im Programm? Für Patienten sollte nachvollziehbar werden, dass es um korrigierende Bewegungserfahrungen geht. Mit Angst und Schmerz einhergehende Alltagshandlungen und damit verbundene Zwangshaltungen, die im Alltag vermieden werden, sollen im Work Hardening explizit eingenommen und durchgeführt werden. Im Idealfall tritt der erwartete Schmerz nicht oder deutlich geringer auf. Wesentlicher Unterschied ist aber auch, dass es „unter Aufsicht“ geschieht („Die Therapeuten werden schon wissen, was sie mit mir tun.“, „Es kann ja nicht so gefährlich sein, wenn ich das machen soll.“). Selbst wenn Schmerz auftritt, wird dieser als weniger gefährlich eingestuft. Angsterleben wird zusätzlich reduziert, wenn der Schmerz insgesamt nicht zunimmt oder die befürchtete komplette Blockade ausbleibt. Diese neuen Erfahrungen bewirken eine Veränderung des Schmerz-Gedächtnis-Netzwerks und damit der künftigen Verarbeitung des nozizeptiven Reizes. Viele Patienten denken: Wenn ich Schmerzmedikamente einnehme, dann bekomme ich nicht mit, wenn ich mich überlaste, und dann schade ich mir! Würden Sie dieser Äußerung zustimmen? Wenn nein, warum nicht? Diese Frage berührt erneut den Unterschied zwischen nozizeptivem Signal als Warnsignal und einer erhöhten Schmerzsensibilisierung im Sinne einer übervorsichtigen „Hab-Acht-Stellung“. Meldungen, bedingt durch das übervorsichtige Meldesystem, können übergangen werden. Dies betrifft auch die Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Schmerzen. Eine durch Medikamente unterstützte Hemmung des übervorsichtigen Warnsystems ermöglicht eine schmerzärmere Bewegungserfahrung und damit eine Veränderung im Schmerznetzwerk im Gedächtnis. Aus diesem Grund ergibt die Einnahme von Schmerzmedikamenten (wenn sie wirken und die Hauptwirkung auch die Nebenwirkungen überdeckt) psychologisch Sinn. Weitere Anregungen zur Edukation und Wissensvermittlung finden sich bei Butler und Moseley sowie bei Hildebrand und Nobis [1, 56, 57]. Eine Vertiefung zur Schmerzhemmung erfolgt bei Kirkpatrick [58]. Die Wissensvermittlung fokussiert außerdem den Kontext, innerhalb dessen Bewältigungsverhalten stattfindet. Auf der Beziehungsebene wird der Patient dabei dem Behandler gleichwertig. Er wird ermutigt, eine eigene Haltung zu entwickeln, Entscheidungen zu treffen und damit Verantwortung für seine Schmerzsituation zu übernehmen. Dieser Schritt löst nicht selten Widerstand aus. Er verlangt von den Patienten häufig einen regelrechten Paradigmenwechsel.

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Lernziel Die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung können über psychologische Prozesse beeinflusst und verändert werden. Dazu gehören Aufmerksamkeitslenkung, Entspannung und eine Veränderung im Schmerznetzwerk durch korrigierende Gegenerfahrungen.

3.5.1.4 Akute und chronische Schmerzen – Wiederholung und Verständnis – Eine Überprüfung Zum Abschluss der Schmerzedukation hilft ein Anwendungsbeispiel zur Klärung von Fragen oder zum Aufdecken von Missverständnissen. Der Therapeut bringt folgendes Beispiel: Im Work Hardening kommt es beim Heben der Kiste oder beim Über-KopfArbeiten mit der Malerrolle zu einem plötzlichen massiven Schmerz. Was ist das für ein Schmerz? Akut oder Folge des Sensibilisierungsprozesses und des Schmerzgedächtnisses (chronisch)? Von einigen Patienten wird dieser Schmerz als akut bezeichnet, oft auch umgangssprachlich akut im Sinne von sehr stark. Die Rückmeldung anderer aus der Gruppe, die diese Einschätzung infrage stellen und auch einen sehr starken Schmerz, vorausgesetzt, er ist bekannt, als chronisch einstufen, ist extrem hilfreich. Erschwerend lässt sich das Problem aufwerfen, dass ja der Schmerz bekannt, er aber auch akut sein kann (wenn es z. B. in diesem Moment zu einer Vergrößerung des Bandscheibenvorfalls kommt, der auf den Nerv drückt). Was machen Sie dann? Dazu gehört auch die Frage, warum die Unterscheidung überhaupt wichtig ist. Hier sollte zumindest ein Patient die Antwort nennen, dass die Behandlung unterschiedlich ist. Eine Gegenüberstellung von akutem Zahnschmerz und Rückenschmerz, der ein höheres Chronifizierungsrisiko birgt, kann klärend sein und auch bisherige Behandlungsstrategien einordnen. (Tab. 3.5) Die Unterscheidung von akut und chronisch ist dabei selbstverständlich nicht trennscharf, sondern fließend. Es sollte deutlich werden, dass bei den meisten von uns aufgrund bisheriger Krankheitserfahrungen die Erwartung einer klaren eindeutigen Ursache besteht, die dann von einem kompetenten Arzt oder Behandler beseitigt wird. Der eigene Anteil an der Genesung liegt, vereinfacht gesagt, darin, den Anweisungen des Arztes Folge zu leisten. Konzepte von Ruhe und Schonung sind uns vertraut. Dieses vertraute einfache Konzept führt bei Rückenschmerzen (nicht nur für Patienten, sondern auch für Behandler) in eine Sackgasse. Der Begriff „chronisch“ kann dabei durchaus sehr kritisch gesehen werden. Er impliziert eine Unumkehrbarkeit, dies sollte korrigiert werden. Da Patienten diesen Begriff aber oft im Hinterkopf haben („Ich muss alles tun und darf kein Zeitfenster verpassen, damit der Schmerz nicht chronisch wird!“), ist Aufklärung wichtig. Schwerpunkt der ersten Woche ist analog zur ärztlichen Edukation die Entwicklung eines biopsychosozialen Krankheitsmodells (Tab. 3.6).

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Tab. 3.5: Gegenüberstellung von akutem Schmerz und chronischem Schmerz (Abschrift). Akuter Schmerz (Zahnschmerz)

Unterscheidungsmerkmal

Chronischer/anhaltender Schmerz (Rückenschmerz)

Plötzlicher Beginn

Dauer

Dauerschmerz, Attackenschmerz, immer wiederkehrend Zeitraum von mind. 3–6 Monaten

Eindeutig Unterschiedliche Zahnärzte kommen in der Regel zum gleichen Ergebnis

Diagnose

Nicht eindeutig Verschiedene Ärzte verschiedene Meinungen Ursache multifaktoriell (Muskeln, Knochen, Nerven, Bänder, Sehnen, psychische Faktoren)

Ursache wird behandelt

Behandlung

Ausprobieren Schmerz wird behandelt über Schmerzmittel Folgen werden behandelt (Muskelanspannung, Funktionseinschränkung, Verlust an Kraft, Beweglichkeit etc.)

Schonung

Empfehlung

Bewegung, aktiv bleiben

Schmerzfreiheit

Behandlungsziel

Umgang mit Schmerz verbessern Funktionsfähigkeit wiederherstellen/erhalten Lebensqualität verbessern

Warnsignal einer Gewebeschädigung

Funktion des Schmerzes

Fragliche Funktion, Fehlalarm, Ergebnis von Gedächtnis- und Sensibilisierungsprozessen

Tab. 3.6: Zusammenfassung: Entwickeln eines biopsychosozialen Krankheitskonzeptes [55]. Edukation

Methode

Ziel

Folgen von Schmerz in den Ebenen (Kognitionen, Gefühle, Körper, Verhalten, Beziehungen/soziale Umwelt)

Gruppengespräch: Sammeln und den Ebenen zuordnen

Problemaktualisierung Problemausweitung

Subjektives Krankheitsmodell – Ursachenannahmen-Auslöser

Einzelarbeit, dann Gespräch in der Gruppe

Subjektives biopsychosoziales Krankheitsmodell

Schmerzwahrnehmung und Verarbeitung und Gedächtnis

Geleitetes Entdecken Zitronen-Übung [55]

Weg vom Schmerz hin zur Schmerzverarbeitung Differenzierung akuter und chronischer Schmerz

→ Ableitung eines Behandlungsmodells, welches Selbsthilfestrategien beinhaltet und Eigenverantwortung ermöglicht/erhöht

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3.5.2 Strategien im Umgang mit Schmerz zwischen Kontrolle und Akzeptanz Der überwiegende Teil der von Patienten genannten Schmerzcopingstrategien ist problembezogen, das zu lösende Problem wird auf den Schmerz und die Behandlung der vermeintlichen Ursache reduziert. Dabei wird interessanterweise die Behandlung der Ursache an den Behandler delegiert, während die eigenen Copingstrategien schmerzorientiert sind. Eine Behandlung durch Schmerzmedikamente wird von vielen Patienten als unbefriedigend erlebt, Medikamente werden häufig nicht wie angeraten eingenommen, sondern erst, „wenn es nicht mehr anders geht“. Die Copingstrategien sind überwiegend Kontrollversuche mit dem Ziel, den Schmerz direkt zu beeinflussen. Dazu gehören das Finden einer schmerzfreien Position oder die Verwendung einer Wärmflasche, um die Muskeln zu entspannen. Dazu zählen auch Fear-AvoidanceBeliefs. Die Vermeidung von vermeintlich den Rücken schädigenden Verhaltensweisen ist ein Versuch, Schmerzen zu kontrollieren und zu verhindern. Durchhaltestrategien und Durchhalteappelle hingegen versuchen, schmerzbedingte Einschränkungen zu minimieren, zu kompensieren und damit zu kontrollieren. Schmerzkontrollversuche sind funktional, aber oft nicht ausreichend und nicht selten frustrierend. Kontrollverlust macht Angst, aber Schmerz hinzunehmen, eine unangenehme Situation zu akzeptieren wird als Niederlage und Resignation gewertet. Ein konstruktiver Umgang mit Schmerz findet im Spannungsfeld zwischen Kontrolle/Einflussnehmen und Akzeptanz von Schmerz und Ungewissheit statt.

3.5.2.1 Aufmerksamkeitslenkung, Ablenkung und Genuss Eine zentrale Strategie der Schmerzbewältigung ist die Aufmerksamkeitslenkung. In zahlreichen experimentellen Untersuchungen konnte eine Reduktion der Schmerzintensität nachgewiesen werden [59]. Der in diesem Kontext verwendete Begriff „Ablenkung“ ist bei manchen Patienten negativ konnotiert. Er wird mit „Ablenkung von etwas Wichtigerem“ gleichgesetzt und als etwas, das beiläufig oft automatisch geschieht, betrachtet. Das „Wichtigere“ bleibt in dieser Sichtweise der Schmerz. Ablenkung als gezielte Aufmerksamkeitslenkung beinhaltet hingegen die bewusste Verlagerung der Aufmerksamkeit, dies beinhaltet aber auch, sich kognitiv für einen Zeitraum vom Schmerz zu lösen und diesen in den Hintergrund zu stellen. In diesem Sinne wird der Begriff Ablenkung weiterverwendet. Als Einstieg ist eine Sammlung von Situationen und Aktivitäten, in denen Patienten vom Schmerz abgelenkt sind, hilfreich. In einem weiteren Schritt geht es darum, die an einer erfolgreichen Ablenkung beteiligten psychischen Funktionen herauszuarbeiten. Je mehr psychische Funktionen beteiligt sind, desto effektiver wird die Ablenkung sein (Tab. 3.7). Ein häufiger Einwand lautet, dass Ablenkung „ja ganz okay“ sei, dass „sie aber das Problem nicht löse“. Das Problem sei „der Rücken“/„die Bandscheibe“. Für Therapeuten ist dies auch eine Überprüfung, ob Patienten das biopsychosoziale Krankheitsmo-

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Tab. 3.7: Ablenkende Aktivitäten und beteiligte psychische Funktionen. Situation/Aktivität

Psychische Funktion

Spazierengehen Lesen Musik hören Telefonieren Unterhaltung mit anderen Mit den Kindern spielen Den Hund streicheln Essen Kochen Sauna Heiße Badewanne …

Aufmerksamkeit Konzentration Gefühl (Aufregung, Spannung, Freude, Ärger) Unsere fünf Sinne Genuss Motivation, Antrieb Entscheidung zu Ablenkung Erfahrung/Gedächtnis (Erinnerung; Wissen, was tut gut) …

dell und die Informationen zur Schmerzweiterleitung und -verarbeitung verstanden haben und damit „arbeiten“ können. Dabei können drei Punkte verdeutlicht werden. Inwieweit die Ablenkungsstrategien funktionieren, hängt von der Schmerzstärke ab. Ablenkungsstrategien funktionieren zeitlich begrenzt, d. h. für den Zeitraum der Aktivitätsausführung, oft auch kürzer (Nach einer halben Stunde ist der Kinobesuch wegen Schwierigkeiten beim Sitzen problematisch, bis zu diesem Zeitpunkt hat es aber funktioniert. Das ist möglicherweise länger als beispielsweise während der Gruppensitzung). Für diesen Zeitraum ist die Schmerzweiterleitung aber im Sinne einer Pause gehemmt. Ein letzter Punkt betrifft den Zusammenhang zwischen Schmerz und Stimmung. So bewirkt mehr Schmerz in der Regel eine gedrücktere Stimmungslage. Eine positive Stimmung reduziert Schmerzerleben, der Schmerz wird als weniger unangenehm erlebt. Die Durchführung einer positiven Aktivität ruft eine Stimmungsverbesserung hervor und beeinflusst die Schmerzverarbeitung im Sinne einer Hemmung [59–61]. Zur weiteren Veranschaulichung von Aufmerksamkeitsprozessen sind Alltagsphänomene hilfreich, dazu gehören Beispiele zur „selektiven Aufmerksamkeit“, aber auch Übungen zur Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Sinneskanäle (s. Übung „Kanäle putzen“). Als zentrale Erkenntnis sollte herausgearbeitet werden, dass wir nicht alle Reize gleichermaßen wahrnehmen, wir können mit unserer Aufmerksamkeit wandern (s. a. Aufmerksamkeitsscheinwerfer). Wenn wir uns auf den eigenen Atem oder die Uhr im Raum fokussieren, können wir diese Geräusche deutlicher hören als sonst, vorher sind sie uns aber kaum aufgefallen. Ebenfalls hilfreich sind kurze Filme zur selektiven Aufmerksamkeit. Am bekanntesten ist das Ballspiel vor der Aufzugtür [62]. Tatsächlich nehmen wir nur einen sehr geringen Bruchteil an Informationseinheiten, die auf uns einströmen, bewusst wahr. Für den visuellen Bereich ist dies weniger als ein Tausendstel aller Reizinformationen [63]. Die Selektion findet zu einem

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Großteil bereits auf der Ebene der sensorisch-physikalischen Reizverarbeitung statt, zu einem weiteren Teil durch selektive Aufmerksamkeitsprozesse. Dies führt zu der Frage, wie ein Reiz beschaffen sein muss, damit wir ihn bewusst wahrnehmen. Typische Patientenantworten sind Intensität, Auffälligkeit, Besonderheit. Alltagsbeispiele wie Wohnen an einer lauten Straße oder in der Einflugschneise eines Flughafens zeigen unterschiedliche Reaktionen: Menschen, die sich an den Lärm gewöhnen, und andere, die nach kurzer Zeit wegziehen. Was unterscheidet diese Menschen? Was ist eine Voraussetzung für Gewöhnung? Was passiert, wenn ich wegen des Lärms nicht mehr schlafen kann? Es soll deutlich werden, dass nicht die Reizquelle als solche das alleinige Problem darstellt, sondern die Art und Weise der Bewertung. Je weniger Bedeutung ich der Störquelle gebe, desto weniger ist diese affektgeladen und umso leichter kann ich sie übersehen/überhören. Je mehr ich jedoch die Störquelle als Einschränkung wahrnehme, je mehr sie nervt und Angst macht, umso mehr Bedeutung bekommt das Störsignal, und ich werde es frühzeitiger und deutlicher wahrnehmen. Aus der Wahrnehmungspsychologie ist das „Cocktail-Party-Phänomen“ sehr anschaulich. Auf einer Party mit Musik werden die meisten von uns, selbst wenn wir gerade in einer interessanten Unterhaltung sind, merken, wenn am Nebentisch unser Name fällt. Andere Worte werden wir vermutlich nicht identifizieren, aber der eigene Name ist von hoher Bedeutung. Die Übertragung auf das Schmerzerleben ist für die meisten Patienten gut nachvollziehbar. Für die gezielte Aufmerksamkeitslenkung ergeben sich folgende Implikationen: Wenn unsere Kapazität begrenzt ist, kann durch Fokussierung auf alternative Reize die Schmerzwahrnehmung unterschiedlich stark (je nachdem, wie die Fokussierung gelingt) in den Hintergrund rücken. Je weniger Bedeutung dem Schmerz gegeben wird, desto besser gelingt die Ablenkung. Der Themenbereich „Aufmerksamkeitslenkung/Ablenkung“ ermöglicht eine hohe Ressourcenorientierung und Ressourcenaktivierung. Konkrete Übungen zur Sinneswahrnehmung und zum Genusserleben reaktivieren positive Erinnerungen, aber auch Kompetenzen und Interessen der einzelnen Teilnehmer. Dies kann realisiert werden, indem jeder Patient zu jeweils einem bestimmten Sinnesorgan „etwas“ mitbringt. Die anderen Teilnehmer dürfen dann den Gegenstand ertasten, einer Musik oder einem Geräusch zuhören, etwas riechen und/oder schmecken und etwas genau betrachten. Konkrete Fragen sollen eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Mitgebrachten fördern. Viele Patienten möchten den Gegenstand erraten, und sobald sie dies getan haben, verlieren sie das Interesse. Die Aufgabe besteht aber weniger im Erraten als in der genauen Beschreibung des Sinneseindrucks. Am bekanntesten ist die so genannte „Rosinenübung“, bei der es um den achtsamen Genuss einer Rosine geht [64]. Ein weiterer Aspekt betrifft die Valenz, die für jeden meist anders ist. Manche empfinden einen bestimmten Geruch als angenehm, bei anderen erregt er möglicherweise sogar Ekel. Oft ist ein Sinneseindruck auch mit einem bestimmten inneren Bild oder einer Erfahrung verbunden, diese kann die Valenz erklären. Die Bedeutung der einzelnen Sinne im Alltag und das Genusserleben sind wichtige Diskussionspunkte. Wann wird Genuss erlebt? Inwieweit wird das im Alltag eingebaut?

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Voraussetzung dafür ist, dass es ein Wissen darüber gibt, was einem guttut, dass es andererseits aber auch darum gehen muss, Hinderungsgründe zu erkennen und infrage zu stellen. Genusserleben fördert auch eine Gegenwartsorientierung, eine Schnittstelle zu Achtsamkeit und Entspannung. Im Kontext von Schmerz treten häufig dysfunktionale depressiogene Kognitionen auf, die auf die Vergangenheit konzentriert sind. Dies können Selbstvorwürfe, aber auch Schuldzuschreibungen an andere sein. Es kommt ebenfalls zu negativen Annahmen über die Zukunft bis hin zu Existenz- und Zukunftssorgen. Die Visualisierung dieser Kognitionen auf einem Zeitstrahl verdeutlicht, wie selten die meisten von uns ihre Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten. Dies führt bei vielen Patienten zu einer hilfreichen Selbsterkenntnis und Entlastung, da es auch einen Weg aufweist, dysfunktionales Grübeln zu erkennen und zu unterbrechen.

3.5.2.2 aber… – Einwände und kognitive Fallen – Achtsamkeit und Akzeptanz Ein häufiger Einwand von Patienten lautet, dass aufgrund der Schmerzen viele Interessen und Hobbys nicht mehr realisierbar seien. „Es macht keinen Spaß mehr, mit der Familie essen zu gehen. Ich muss dauernd aufstehen und kann so das Essen auch nicht genießen.“ „Ich will nicht auf eine Geburtstagsfeier von Freunden gehen, da ich dann gefragt werde, wie es mir geht. Tanzen geht auch nicht, das frustriert mich nur.“ Zugrundeliegende Einstellungen können dabei sein: „Erst, wenn es mir besser geht, kann ich mich um meine Freizeit kümmern.“ „Mit Schmerz macht das alles keine Freude.“ „Wenn man Schmerzen hat, muss man sich darum kümmern und alles andere hintenanstellen.“ „Wenn ich nicht mithalten kann, verderbe ich den anderen die Freude.“ Diese Einwände verdeutlichen das oben genannte Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Akzeptanz. Schmerzen müssen kontrolliert und dürfen nicht akzeptiert werden. Erfahrungsgemäß bewirkt die Vorstellung, „dass Schmerzen akzeptiert werden sollen“, großen Widerspruch. Therapeutisch geht es darum, eine Diskussion unter den Patienten anzuregen, in der Erfahrungen von Kontrollerleben und Einflussnahme auf Stimmung, Motivation, Aktivität und Zufriedenheit reflektiert werden und auf deren Grundlage sich die Lebensqualität in immer geringerem Maß von dem Schmerz und den schmerzbedingten Einschränkungen beeinflussen lässt. Letztlich handelt es sich um den Rückgewinn von Kontrolle über das eigene Leben (anstelle des Schmerzes, der den Alltag bestimmt und einschränkt), aber auch um die Akzeptanz von Unsicherheit, Veränderung, Leid und Begrenzung. Dabei ist das Leben nicht statisch, sondern stets im Fluss. Somit geht es auch um die Befürchtung vieler Patienten, dass der Schmerz immer bleiben wird, wenn man nicht etwas dagegen tut (Kap. 3.5.3 Frau L.). Lerntheoretisch bewirkt jedoch eine ständige unmittelbare Reaktion auf den Schmerz die Verstärkung des handlungsauslösenden Reizes. Wenn immer auf einen bestimmten Reiz reagiert wird, dann muss dieser wichtig sein. Je mehr Bedeutung aber ein Schmerz bekommt, umso schwieriger ist die Ablenkung davon. Achtsamkeits- und akzeptanzorientierte Ansätze zielen im Unterschied dazu auf eine

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Veränderung der Haltung gegenüber dem Problem bei grundsätzlicher Problemakzeptanz. Achtsamkeit meint, dass der augenblickliche Moment absichtsvoll und bewusst in einer nicht wertenden Weise wahrgenommen wird [65]. Da unsere Gedanken meist schweifen, können Achtsamkeitsübungen (z. B. Atemmeditation, Bodyscan) helfen, das Prinzip einzuüben: Achtsamkeit als Prinzip zur Entwicklung von Akzeptanz. Dabei wird die Fähigkeit der kognitiven Defusion gefördert (die Differenzierung zwischen Gedanken und Sein). Gedanken ihrerseits können zum Gegenstand der Beobachtung werden. Insbesondere in der ACT (acceptance and commitment therapy) geht es nicht darum, aversives Erleben und aversive Erfahrungen zu vermeiden, sondern darum, zu lernen, mit diesen ein erfülltes Leben zu leben [66]. Hilfreich zur Verdeutlichung, dass beide Sichtweisen nebeneinanderstehen können und sich nicht gegenseitig ausschließen, sind so genannte Kippbilder. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist das Bild der alten und der jungen Frau. Wir können den Fokus verlagern. Das Erkennen dysfunktionaler Bewältigungskognitionen und ihre Veränderung hängen sehr von der Gruppenzusammensetzung und dem Input der Teilnehmer ab. Therapeutisch besteht die Gefahr, dass man eine belehrende Rolle einnimmt und Patienten ihre Einstellung „verteidigen“ müssen. Für Anregungen zur Aufdeckung und Analyse dysfunktionaler Kognitionen und zur Entwicklung hilfreicher Einstellungsund Bewertungsmuster sei auf die zahlreiche Literatur verwiesen [67–69]. Die Entwicklung von Akzeptanz ist als Prozessvariable für den Therapieerfolg von Bedeutung, auch wenn dies nicht expliziter Ansatzpunkt der Behandlung ist [70]. Fazit Ablenkung ist ein komplexer Aufmerksamkeitsprozess, an dem unterschiedliche psychische Funktionen beteiligt sind. Neben der Aufmerksamkeitsverlagerung kommt es zu einer Stimmungsverbesserung. Sie gelingt umso besser, je weniger Bedeutung dem Schmerzerleben zugeschrieben wird. Eine schmerzakzeptierende Haltung fördert dies.

3.5.3 Körperwahrnehmung und Gegenwartsorientierung – Entspannung als Grundlage Die Progressive Muskelentspannung (PME) wurde Anfang des vorigen Jahrhunderts von Edmund Jacobson entwickelt [71]. Sie wurde für den klinischen Alltag reduziert und modifiziert [72], und es gibt mittlerweile zahlreiche Varianten und Anleitungen in der Selbsthilfeliteratur. Das Erlernen einer Entspannungstechnik ist Bestandteil sämtlicher multimodaler Behandlungsprogramme [1, 73]. Die nationale Versorgungsleitlinie zum Kreuzschmerz empfiehlt die Durchführung von PME als adjuvante Therapie [26] bei chronisch unspezifischen Rückenschmerzen. Als alleinige Behandlung ist sie komplexeren Behandlungen unterlegen. Die Progressive Muskelentspannung im Kontext der Schmerzbehandlung erfüllt im Wesentlichen folgende Funktionen:

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Körperwahrnehmung für An- und Entspannung schulen: Menschen mit Schmerzen haben sehr häufig schmerzbedingt eine erhöhte Anspannung. Viele versuchen durchzuhalten und bemerken dann in einer Ruhephase starke Schmerzen. Die Muskelanspannung wird gar nicht mehr bemerkt. Insofern geht es darum, differenziert wahrzunehmen, wie sich entspannte und angespannte Muskelpartien anfühlen, oder Unterschiede in der Entspannungsfähigkeit verschiedener Muskelpartien zu bemerken. Entspannung ist kein „Alles-oder-nichts“-Phänomen. Entspannung ist im Trainingskontext essentiell. Sie ermöglicht Regeneration und Erholung. Dies ist eine Voraussetzung für den Muskulaturaufbau. Fokussierung und Defokussierung von Schmerz. In der Entspannung geht es einerseits darum, den Schmerz im Idealfall wertfrei wahrzunehmen und da sein zu lassen, andererseits aber auch darum, den Körper als Ganzes wahrzunehmen und den Fokus im Sinne von gezielter Aufmerksamkeitslenkung auch auf andere Teile des Körpers, die Wohlbefinden signalisieren können, zu richten. Eine Förderung der Gegenwartsorientierung. Die Erfahrung, die eigene Befindlichkeit gezielt beeinflussen zu können, erhöht das Selbstwirksamkeitserleben. Entspannungstechnik zur Minderung von Stresserleben.

Viele Patienten haben Schlafstörungen. Die Durchführung einer Entspannungstechnik und der damit erreichte Entspannungszustand erhöhen die Wiedereinschlafwahrscheinlichkeit und unterbrechen dysfunktionales Grübeln und Ärgererleben über das „Nicht-Schlafen-Können“. Typische beobachtbare Veränderungen in der Entspannung sind Wärme, aber auch Kühle, angenehmes Kribbeln in den Extremitäten, Erleben von Schwere oder Leichtigkeit. Ruhiger werden, „weg sein“ und das Erleben von Traumsequenzen werden ebenfalls häufig genannt. Weniger angenehm erlebte Entspannungssingale sind ein plötzliches Muskelzucken am Körper (das kennen die meisten aber auch vom Einschlafen), ein Gefühl von Schwindel und starkes Müdigkeitserleben. Selten kommt es zu vermehrtem Tränenfluss.

„Bei mir funktioniert das nicht…“ – Umgang mit Widerstand Patienten haben häufig die Erwartung, dass etwas Bestimmtes, das sie nicht näher benennen können, geschehen muss. Viele nehmen ihren Körper wenig wahr und können nicht beschreiben, woran er/sie überhaupt merkt, dass der Körper entspannt ist (d. h. was wird eigentlich erwartet?). Insofern geht es primär darum, eine Neugier zu entwickeln, „passiv“ zu bleiben und nur zu beobachten. Deshalb sollte die Feedbackrunde nach der ersten Durchführung sehr ausführlich ausfallen, eine differenzierte Körperwahrnehmung und eine Neugierhaltung fördern. Wenn jemand nicht entspannen konnte, wie hat er die Zeit verbracht?

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„Ich konnte nicht liegen, mir tat alles weh…“ – Umgang mit Schmerz während der Entspannung In der Entspannung geht es um Körperwahrnehmung, deshalb ist es zu erwarten oder auch ganz normal, dass sich der Schmerz in den Vordergrund schiebt. Diese Entpathologisierung kann helfen, die dem Schmerz innewohnende Signalwirkung zu minimieren. Im Idealfall – das wäre dann auch das schwierigste Ziel – gelingt es, den Schmerz hinzunehmen und nicht mit ihm zu hadern. Vorstufen dafür können sein, dass eine Defokussierung auf andere Körperregionen gelingt. Eine weitere Vorstufe kann bedeuten, dass der Patient seine Position während der Entspannung wechselt. Häufig trauen sich Patienten nicht, sich zu bewegen, da sie die anderen Teilnehmer nicht stören wollen. Diese sollten ermuntert werden, sich dann eine angenehme Position zu suchen – auch wenn das Geräusche macht. Wichtig ist aber die Erfahrung, dass Schmerzfrei-Sein keine Voraussetzung für Entspannung ist und dass Schmerz nicht immer eine Reaktion, ein Gegensteuern, erfordert. Diese Erfahrung ist zentral, damit Schmerz seine Bedeutung als Signal, das mit einer Handlungsaufforderung die Situation zu verändern einhergeht, in der Entspannungssituation verlieren kann. Für andere aversive Körpersignale wie Unruhe, Herzwahrnehmung oder Tinnitus, aber auch für externe Geräusche gilt Vergleichbares. Diese Signale dürfen wahrgenommen werden, sollen die Aufmerksamkeit und Gedanken jedoch nicht beherrschen. Hilfreich ist auch, Druck rauszunehmen und auf kleine Fortschritte hinzuweisen.

3.5.3.1 Entspannung – Viele Fliegen mit einer Klappe: Achtsamkeit, Defokussierung und Konfrontation Frau L. ist 39 Jahre alt, hat seit acht Monaten Rückenschmerzen und ist seitdem arbeitsunfähig. Die Schmerzen sind durch eine Operation (2 BS-Prothesen vor sieben Monaten) und eine Anschlussheilbehandlung gelindert, mittlerweile bestehen Verspannungen im ganzen Rücken. Bewegung tut gut. Das Hauptproblem ist das Sitzen. Frau L. ist in einem kaufmännischen Beruf und sitzt 8 h/Tag mit drei Monitoren vor sich. In den psychologischen Einheiten und im ärztlichen Unterricht rutscht sie nach 10–15 Minuten auf dem Stuhl hin und her, sieht auf die Uhr. Frau L. bekommt die Aufforderung, rechtzeitig aufzustehen, sie darf sich auch zwischendurch hinlegen. Letzteres lehnt sie ab, sie komme sich dabei komisch vor. Frau L. steht in den folgenden Sitzungen oft auf und ist insgesamt unruhig. In der Visite betont sie, wie schwierig das Sitzen für sie sei. Im einzeltherapeutischen Gespräch zeigt sich, dass die Patientin Schmerz als Handlungsaufforderung sieht, diesen aversiven Zustand beenden zu müssen (= Kontrollversuch). Gemeinsam mit Frau L. wurden die aufrechterhaltende Bedeutung des Vermeidungsverhaltens (aufstehen) und eine wertfreie annehmende Haltung erarbeitet. In der darauffolgenden Progressiven Muskelentspannung entscheidet sich Frau L., diese

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im Sitzen durchzuführen, sie berichtet hinterher, dass sie sich überraschenderweise etwas habe entspannen können und das Sitzen besser gegangen sei als gedacht. Das Beispiel zeigt die Balance zwischen Veränderung durch Schmerzkontrolle und Veränderung des Schmerzerlebens durch eine verbesserte Schmerzakzeptanz. Letztlich geht es um Veränderung durch Nichtveränderung. Das ist bei geringer Kontrollierbarkeit und Beeinflussbarkeit die vielleicht größte Veränderung.

3.5.4 Stress und Schmerz – Die Balance im Alltag Ein weiterer wichtiger Baustein der psychotherapeutischen Behandlung ist die Ausweitung des Blickwinkels auf den Alltag mit seinen Aufgaben und Anforderungen. In der Edukation werden Sensibilisierungsprozesse des zentralen Nervensystems ausführlich besprochen. Untersuchungen zeigen, dass beispielsweise eine abweichende Aktivierung der Gliazellen bei Menschen mit chronischen Schmerzen verstärkt oder ausgelöst werden kann durch starken Stress und/oder durch Schlafstörungen. Schlafstörungen und starker Stress gelten als Risikofaktoren für die Entwicklung chronischer Schmerzen [74]. Insofern spielen Elemente der Stressbewältigung in der psychologischen Schmerzbehandlung eine wichtige Rolle. Stressbewältigungstrainings basieren auf Problemlösetrainings und zunehmend mehr auf Achtsamkeitsansätzen, wie das Mindfulness-Based-Stress-ReductionProgramm nach Kabat-Zinn [65]. Ein wesentlicher Teil sind Entspannungselemente [75, 76]. Im Rahmen des multimodalen Programms bietet die aus dem Sport- und Bewegungsbereich erfahrene Beziehung zwischen Anstrengung und Erholung einen hilfreichen Einstieg. – Wie wird im Alltag der Wechsel zwischen Aktivität und Ruhe gestaltet? – Wie sieht das Verhältnis im Urlaub aus? – Woran merken wir, dass es zu viel an Aktivität oder Ruhe ist? Diese Fragen ermöglichen eine Überleitung zum Überforderungs- und Unterforderungserleben. Aktivität wird zur Überforderung, wenn es keine Zeit zur Regeneration gibt, wenn Ressourcen fehlen etc. Ruhe wird zur Unterforderung, wenn aus verschiedenen Gründen eine Aktivität nicht mehr möglich ist. Langeweile als Zustand der Unterforderung geht oft einer Aktivitätsänderung voraus. Die hohe Anzahl von Ratgebern zu Stress und Stressbewältigung zeigt, dass diese Balance im Alltag eine Herausforderung darstellt. Wenn zu diesem Alltag „Schmerz“ gehört, dann ist die Balance oft noch schwieriger zu erreichen. Schmerzen bewirken bei den meisten, dass sie sich schneller überfordert fühlen. Sie bewirken aber auch, dass Ruhephasen weniger erholsam sind. Diese Balance ist in vielfältiger Weise von Bedeutung. Schmerz ist oft das einzige Signal, das es erlaubt, aus dem Alltag auszusteigen. Dem Schmerz kommt damit eine funktionale Bedeu-

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tung zu, die eine Entlastung ermöglicht, ohne dass es zu einem inneren oder äußeren Konflikt mit der Umgebung kommt. Ein weiterer Aspekt betrifft die Fortführung des Sports im Alltag. Innerhalb des Programms kommt dem Bewegungsbereich 2/3 der Behandlungszeit zu, Patienten erfahren den positiven Effekt von Sport auf ihr Wohlbefinden. Sie erhalten viele Informationen zum Training und eine umfangreiche Sportberatung mit dem Ziel, dass Bewegung und Sport künftig verstärkt in den Alltag integriert werden. Für viele Patienten bedeutet dies einen zusätzlichen Termin in dem ohnehin vollen Alltag. Dabei zeigen die zahlreichen Gruppendiskussionen zu diesem Thema, dass dies weniger ein Zeitproblem als vielmehr ein Motivations-, aber auch Energieproblem ist. Die Wahrscheinlichkeit, nach einem stressigen Arbeitstag ohne ausreichende Pausen Sport zu machen, ist für die meisten Menschen geringer als nach einem weniger anstrengenden Arbeitstag. Wichtige Fragen, die in der Gruppendiskussion zu diesem Thema behandelt werden, sind die Frage nach Anzeichen für Über- und Unterforderung, die Frage nach den auslösenden/verursachenden Bedingungen und schließlich die Frage der Gegensteuerung. Abb. 3.2 zeigt ein typisches Tafelbild einer Gruppendiskussion, das in ca. zwei Gruppensitzungen erarbeitet wurde. Anzeichen für eine fehlende oder nicht ausreichende Balance können sich in der Stimmung ausdrücken (z. B. Reizbarkeit, Niedergeschlagenheit), auf der Verhaltensebene (z. B. Rückzug von Freunden) und im körperlichen Befinden (z. B. Schlafprobleme, Verspannungen, Unruhe). Deutlich sollte werden, dass die psychophysischen Folgen umso stärker sind, je länger der Zustand der Dysbalance andauert. In den meisten Gruppen gibt es Patienten, die Erfahrung mit Erschöpfungserleben haben oder jemanden kennen, der einen Burn-out hatte. Es gibt auch Patienten, die in dieser Situation aktuell stehen. Diese Erfahrungen sind unter dem Aspekt, welche Zeichen wann und von wem bemerkt werden, sehr hilfreich. Vielfach werden die Zeichen bemerkt, aber die Betroffenen reagieren nicht darauf, sondern machen einfach weiter. Warum? Diese Frage leitet über zur Frage, welche Auslöser/Ursachen es für die fehlende Balance gibt. In der Gruppendiskussion finden sich spätestens an dieser Stelle viele Hinweise, wie man gegensteuern kann. Typische Vorschläge sind Prioritäten setzen, Pausen machen, Zeitplan, Nein-Sagen, sich Hilfe holen. Gruppendynamisch können für besonders von der Thematik Betroffene die von anderen Gruppenteilnehmern oft vehement vorgetragenen Ratschläge und Einschätzungen („Da musst du dich wehren und zum Betriebsrat gehen …“ oder „Das darf der gar nicht, da kannst du vor Gericht gehen!“) unterstützend, bisweilen aber auch als Angriff verstanden werden und in Rechtfertigungsversuche und Reaktanz münden. Schnell kann die Diskussion zur Erörterung der gesellschaftlichen Veränderungen oder der Inkompetenz von Vorgesetzten, die „keine Ahnung mehr haben“, führen. Dieser Diskussionsverlauf zeigt, dass die meisten Patienten wissen, was sie tun müssten, um eine bessere Balance zu erreichen. Sie nehmen aber ihrerseits wenig Veränderungsspielraum wahr. Die Frage nach den Auslösern für fehlendes Ausgleichsverhalten hängt unmittelbar zusammen mit der Frage, warum wir nicht das umsetzen, was wir eigentlich wissen, was wir tun

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

hohes Arbeitspensum familiäre Belastung (kleine Kinder, Pflege) Druck vom Vorgesetzten – hohe Erwartungen eigene hohe Erwartungen – Perfektionismus Wunsch nach Harmonie- Konfliktvermeidung Mobbing schlechtes Arbeitsklima es allen Recht machen alles erledigen müssen immer funktionieren keine Schwäche zeigen …

|

137

Kündigung – Arbeitsplatzverlust Rente Verlust durch Trennung, Scheidung, Tod Auszug der Kinder Erkrankung …

Ruhe

Aktivität Balance

Unterforderung

Überforderung

Müdigkeit gereizter lustlos, antriebslos aggressiv kein Sport mehr – keine Freizeit mehr sozialer Rückzug durchhalten, funktionieren trotz Schmerz Grübeln Schlafprobleme Unruhe, nicht mehr zur Ruhe kommen Alkoholkonsum Konzentration nimmt ab vergesslicher mehr Fehler Selbstwertreduktion Zukunftssorgen Suizidgedanken

Langeweile träge, faul lustlos, antriebslos kein Sport mehr – keine Freizeit mehr sozialer Rückzug Grübeln, Zukunftsgedanken Schlafprobleme (z.B. zuviel Schlaf) Konditionsabbau, Muskulatur und Belastbarkeit nimmt ab Schmerz rückt in den Fokus Alkoholkonsum Tagesstruktur fehlt vergesslicher Selbstwertreduktion Abstellgleis, werde nicht gebraucht Zukunftssorgen Suizidgedanken

Depression

Depression Gegenmaßnahmen: Prioritäten setzen (auf Gesundheit, Ausgleich) Abgrenzung – nein sagen etwas liegen lassen Wochenplan mit Freizeit und Sport erstellen kleine Ziele alles langsamer machen Entspannung (PME machen) …

Gegenmaßnahmen: kleine Ziele Tagesplan / Wochenplan erstellen mit Pflichten und positiven Aktivitäten ja sagen bei Vorschlägen anderer (z. B. Verabredungen) Belohnung sich selbst loben …

Abb. 3.2: Balance zwischen Aktivität und Ruhe (Abschrift Tafelbild).

sollten. Ziel ist es deshalb, neben den Belastungsfaktoren, die möglicherweise wenig änderbar sind, eigene überhöhte Ansprüche zu erkennen (Perfektionismus), Wünsche zu identifizieren (Gerechtigkeit, Anerkennung etc.), die unrealistisch geworden sind,

138 | 3 Interdisziplinäre Therapie

oder Ängste (Arbeitsplatzverlust) infrage zu stellen. Das Thema „Rückkehr in die Arbeitsfähigkeit“ macht diesen Themenkomplex besonders virulent.

Gruppensituation nach der sozialmedizinischen Visite in der 3. Woche: Die Therapeutin hört vom Flur aus, bevor sie den Gruppenraum betritt, die folgenden Gesprächsfetzen: Pat. 1, wütend: Seit gestern bin ich total fertig, ich habe heute Nacht kein Auge zugemacht. Wie soll ich so meine Arbeit machen, ich habe noch Schmerzen wie am ersten Tag. Mein Chef hat gesagt, ich soll erst wiederkommen, wenn ich wieder 100 % fit bin. Pat. 2, verständnisvoll und mitfühlend: Wie können die dich denn zur Arbeit schicken, wenn du noch Schmerzen hast – das geht doch nicht. Dann bist du eben weiter krank.

Die Therapeutin überlegt, ob sie das Thema sofort aufgreifen oder an die letzte Einheit anknüpfen soll. Sie entscheidet sich für Letzteres, da Patient 1 in der letzten Visite unzufrieden und in der Reaktion heftig war. Sie überlegt, dass es besser wäre, ihm weniger Raum in der Gruppe zu geben und nochmals einzeln mit ihm zu sprechen. Sie fordert deshalb die Patienten auf, das in der letzten Sitzung besprochene Thema (Be- und Entlastung, s. o.) zu rekapitulieren. Eine Patientin übernimmt dies für die Gruppe. Pat. 1 plötzlich: „Das ist doch alles Theorie, das funktioniert so nicht. Th.: Was meinen Sie denn genau? Pat. 1: Sie haben gut reden, die Realität sieht ganz anders aus. Ich muss funktionieren, ich muss voll belastbar sein, sonst schmeißt mich mein Chef raus. Der braucht Leute, auf die er sich 100 % verlassen kann. Pat. 3: Ich finde es unmöglich, wie sie uns wieder zur Arbeit schicken, obwohl wir noch Schmerzen haben, wie kann das sein?

Die Stimmung ist ziemlich angespannt, das Thema lässt sich nicht umgehen. Wichtige Aufgabe ist, die Diskussion mehr auf die Sachebene zu bekommen. Die Therapeutin überlegt, ob sie individuell auf Pat. 1 eingehen soll. Da andere Patienten auch ungehalten sind, entscheidet sie sich, alle einzubeziehen und weniger auf die „Wut“ einzugehen, sondern auf die dahinter vermutete Angst. Th.: Das hat bei einigen von Ihnen gestern ganz schön Druck ausgelöst, das kann ich gut verstehen. Pat. 3: Mir geht es jetzt richtig schlecht und bei Herrn L. (Pat.1) haben Sie auch was angerichtet, das sehen Sie doch, dass das nicht geht – Sie sind doch die Ärzte. Th.: Das habe ich verstanden und ich habe auch gestern in der Visite gemerkt, wie schwierig die Rückkehr für viele von Ihnen ist. Welche Befürchtungen haben Sie genau, wenn Sie an Ihre Rückkehr denken? Pat. 1 aggressiv: Ich habe keine Befürchtungen, das ist die Realität. Mein Chef schmeißt mich raus, wenn ich nochmal ausfalle. Der kann sich das nicht leisten, einen kranken Mitarbeiter durchzuschleppen. Ich muss 100 % fit sein. Th. an die ganze Gruppe: Wem geht es denn ähnlich, wer merkt den gleichen Druck?

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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139

Einige nicken. Th.: Lassen Sie uns sammeln, was Ihnen durch den Kopf geht, wenn Sie an den Tag X (Rückkehr zur Arbeit) denken.

Typische Antworten sind: Schaffe ich die Arbeit? Bin ich fit genug? Wie ist das mit den Schmerzen? Wie reagieren die Kollegen? Was hat sich geändert? Etc. Th.: Das sind viele Fragen/Fragezeichen. Was für ein Gefühl lösen diese vielen Fragezeichen aus?

Damit sind wir bei Unsicherheit und Angst. Dieses Gefühl wiederum geht mit Anspannung, Unruhe etc. einher. Der Vergleich mit Prüfungsangst, die größer wird, je näher der Prüfungstag rückt, und die bei Kenntnis der ersten Frage bei den meisten weniger wird, ist allen vertraut. Selbst eine gute Vorbereitung schützt nicht vor Prüfungsangst. Im Falle der Rückkehr an den Arbeitsplatz werden die Symptome der verstärkten Anspannung, oft auch eine Schmerzverstärkung, als Zeichen gewertet, noch nicht ausreichend fit zu sein. Es gilt zu erarbeiten, dass eine weitere Krankschreibung kurzfristig Entlastung bringt, mittel- und langfristig die Rückkehr aber schwieriger wird und die Erwartung, sich 100 % fit zu fühlen, unrealistisch ist. Gute Vorbereitung schützt nicht vor Prüfungsangst, kann sie aber minimieren. Übertragen auf die Schmerzsituation bedeutet dies, sich auf den Berufsalltag vorzubereiten mit der Idee, „etwas anders zu machen“. Etwas anders machen wir nur, wenn wir einen Leidensdruck haben und uns mit der Situation auseinandersetzen, nicht indem wir sie vermeiden. In der oben angeführten Situation kann der Therapeut auch fragen, was es für die anderen bedeuten würde, wenn sie wüssten, dass sie bei einem erneuten Ausfall ihren Arbeitsplatz verlören. Es ist äußerst wahrscheinlich, dass als Antwort „eine hohe Anspannung und Stress“ kommt. Die nächste Frage kann dann lauten: „Wenn ich jetzt schon genau weiß, dass ich alles geben muss und dass das vielleicht nicht reicht, wie sinnvoll ist es dann, so weiterzumachen wie bisher?“ Weitere wichtige Fragen sind: Wie zufrieden ist der Patient mit seiner Arbeitssituation vor seiner Krankschreibung gewesen? Wie gefährdet ist sein Arbeitsplatz? Aus welchen Gründen wird Leuten gekündigt? Die von Patient 1 vorgenommene Vereinfachung, dass der Schmerz das Problem ist, soll aufgeweicht werden. Es nicht zu tun, hieße, in einer Sackgasse sitzen zu bleiben. Die Thematisierung der Arbeitsfähigkeit löst bei manchen Patienten große Ängste aus – dies umso mehr, je größer der eigene Anspruch, die wahrgenommene Belastung oder das Konfliktpotenzial und je geringer die wahrgenommenen Veränderungsspielräume dort sind. Wut fühlt sich in der Regel besser an als Angst. Mit der Thematisierung der Arbeitsfähigkeit und dem Wunsch oder der Notwendigkeit, etwas zu verändern, erfolgt bei vielen Patienten eine Problemaktualisierung, d .h. aus der „Theorie“ (s. Patient 1) wird mehr Praxis. Konkrete belastende Situationen einzelner Patienten, in denen sie sich anders verhalten möchten, werden analysiert und hilfreiche Kognitionen werden dazu entwickelt, die die Patienten unterstützen,

140 | 3 Interdisziplinäre Therapie

ein verändertes Verhalten zu antizipieren und – je nach Motivation und Zeit – im Rollenspiel einzuüben [77]. Das ABC-Schema der rational-emotiven Therapie nach Ellis [78] bietet dabei eine wichtige Strukturierungshilfe. Die Bedeutung von Einstellungsund Bewertungskognitionen und ihre Veränderung, die bereits in der Schmerzedukation thematisiert wird, kann hier nochmals aufgegriffen und vertieft werden [79, 80]. Stressauslösende Ansprüche und Erwartungen werden gesammelt und auf ihre Effektivität hin untersucht und diskutiert. Dabei können auch Geschichten (z. B. der Mann mit dem Hammer von Paul Watzlawick) einen Wiedererkennungseffekt mit ähnlichen eigens erlebten Situationen hervorrufen [81]. Fazit Die Balance zwischen Be- und Entlastung, das Erkennen von Signalen der Dysbalance sowie die Gegensteuerung gehören zu einer gelingenden Schmerzbewältigung. Rechtzeitiges Gegensteuern erfordert auch die Reflexion dysfunktionaler Erwartungen an sich und die Umwelt. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach langer AU aktiviert Ängste und Vermeidungswünsche und braucht therapeutische Vorbereitung und Unterstützung.

3.5.5 Zielsetzung: nach dem Spiel ist vor dem Spiel – Der Anfang und das Ende Ziele werden als Diskrepanz zwischen einem Ist- und einem Soll-Zustand beschrieben. Je konkreter der Soll-Zustand definiert wird, umso erfolgreicher ist die Zielerreichung, aber auch die Einschätzung darüber, ob das Ziel erreicht wurde [82, 83]. Sonntag (2009) unterscheidet zwischen Ergebnis- und Richtungszielen [84]. Ergebnisziele sind aus seiner Sicht problematisch, sie zeigen einen Mangel an, ein Lebensgefühl der gegenwärtigen Unzufriedenheit, und sie können, wenn sie erreicht sind, eine Leere hinterlassen. Richtungsziele hingegen produzieren keinen Mangel, sondern repräsentieren einen Wert, mit dessen Verfolgung sofort begonnen werden kann. Die Zielsetzung spielt zu Beginn und zum Ende der Behandlung eine wichtige Rolle. Zu Beginn der Behandlung ist sie ein wichtiger Schritt, um die Problembewältigung zu überprüfen. Die Zielbindung beeinflusst auch kognitive Prozesse, wie die selektive Wahrnehmung und Verarbeitung von zielkohärenten Informationen (Kap. 3.3). Die Zielsetzung der Patienten zu Beginn des Programms besteht aus Patientensicht zumeist im Erreichen von Schmerzfreiheit. Dieses Ziel wurde bereits mehrfach als problematisch dargestellt. Diese Zielsetzung entspricht einem Ergebnisziel und seine Verfolgung hält den Schmerz im Fokus der Aufmerksamkeit. Insofern besteht die therapeutische Aufgabe zu Beginn vor allem in der Entwicklung von Zielen, mit deren Realisierung der Patient selbst unmittelbar beginnen kann. Manche Patienten nennen auch Arbeitsfähigkeit als Ziel. Es versteht sich von selbst, dass dieses Ziel genauer operationalisiert werden muss. Was muss gegeben sein, damit der Patient wieder arbeitsfähig ist? Welches Verhalten und welche Belastung müssen wieder toleriert und eingeübt werden?

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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141

Typische (Richtungs-)Ziele sind: Belastbarkeit steigern, beweglicher werden, Vertrauen in den Körper erhöhen, Übungen lernen, Wissen, was ich darf und was nicht, wieder mehr unternehmen, selber einkaufen können, im Haushalt weniger Pausen machen … Die mit dem Patienten vereinbarten Ziele werden schriftlich fixiert (für den Patienten auf einem Papier und für alle Behandler in der Patientenakte). Sie werden in den Teambesprechungen und in der ersten Visite thematisiert. Gegen Ende der Behandlung wird überprüft, inwieweit die gesetzten Ziele erreicht wurden. Dies geschieht in der letzten Visite und in der letzten Schmerzbewältigungseinheit. Die Zielbilanzierung in der Gruppe, oft auch spontane Rückmeldungen der Teilnehmer untereinander, machen die Fortschritte und Veränderungen bewusster und erhöhen das Vertrauen, möglichst viel in den Alltag mitzunehmen. Das Erreichen von Zielen oder Zwischenzielen erhöht die wahrgenommene Selbstwirksamkeit. Die Zielsetzung gegen Ende des Programms soll den Transfer des hilfreichen veränderten Verhaltens in den Alltag erleichtern. Untersuchungen zeigen, dass bis zu 70 % der Patienten nach einer physiotherapeutischen oder rehabilitativen Behandlung keine weiteren Übungen zu Hause machen [85]. Dies kann daran liegen, dass Patienten keine ausreichenden Kompetenzen für die Fortführung haben, dass sie es sich nicht zutrauen, mit inneren Widerständen umzugehen (z. B. den „inneren Schweinehund“ zu überwinden) oder dass die Veränderungsmotivation unzureichend ist. Das Transtheoretische Modell (TTM), adaptiert auf die Situation chronischer Schmerzpatienten, beschreibt vier Phasen. In der Phase der Absichtslosigkeit besteht keine Motivation zur Veränderung von Einstellungen oder Verhaltensweisen im Schmerzerleben und Verhalten. Entweder ist das Problem gar nicht bewusst oder der Patient fühlt sich nicht in der Lage, etwas zu ändern. In der Phase der Vorbereitung hingegen besteht schon die Absicht, innerhalb der nächsten Wochen etwas zu ändern. In der Phase der Handlung wird verändertes Verhalten sichtbar, Übungen werden erlernt, selbstständig erprobt. Erfahrungen werden gesammelt. Erfolgserlebnisse verändern Selbstwirksamkeitsannahmen und Kontrollannahmen. In der Phase der Aufrechterhaltung werden diese Erfahrungen in schwierigeren Alltagsbedingungen beibehalten, adaptiert und gefestigt [86]. Die Entwicklung einer Veränderungsmotivation und die Planung des Transfers in den Alltag erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass ein förderlicher Umgang mit Schmerz im Alltag implementiert und beibehalten wird [87]. Insofern beinhaltet die Zielsetzung am Programmende die Festlegung auf gut formulierte Ziele. Die Ziele sollen sinnhaft, messbar, aktiv durch eigenes Verhalten erreichbar, realistisch und terminorientiert sein (s. a. smarte Zielsetzung als Strategie aus dem Projektmanagement). Die Zielsetzung ist vorbereitet durch die individuelle Sportberatung, die im Rahmen des Programms erworbenen Übungskompetenzen und den Umgang mit den in den psychologischen Einheiten thematisierten inneren Widerständen. Die Methode des mentalen Kontrastierens greift diese beiden Aspekte auf, indem die positiven Konsequenzen der Zielerreichung den möglichen Schwierigkeiten bei der Zielerreichung gegenübergestellt werden. Dies fördert eine realistische

142 | 3 Interdisziplinäre Therapie

Zielsetzung, antizipiert schwierige Situationen und ermöglicht die Entwicklung von Strategien im Umgang mit diesen Schwierigkeiten. Eine kognitiv-behaviorale Intervention mit Fokus auf eine realistische Zielsetzung und der Entwicklung von Strategien im Umgang mit antizipierten Hindernissen erwies sich für den Zuwachs an physischer Kapazität effektiver als eine konventionelle Rückenschule [85]. Das Ausmaß der Selbstwirksamkeit, d. h. die Einschätzung darüber, ob man über die Fähigkeiten und Ressourcen verfügt, das gesetzte Ziel zu erreichen, bestimmt die Zielbindung und die Motivation für die Zielerreichung. Dies ist zentral für den Transfer in den Alltag. Einen Überblick über die Inhalte der psychotherapeutischen Einheiten gibt (Tab. 3.8). Tab. 3.8: Übersicht über die Inhalte der psychotherapeutischen Einheiten im Behandlungsverlauf. Einheit Woche 1

Woche 2

Woche 3

Woche 4

Inhalt

1

SBG

Ziele für die Behandlung festlegen Das Problem benennen

1

PME

Einführung in die Entspannung

2

SBG

Auslöser, Ursachen Psychosoziales Modell

2

PME

Durchführung der Langform

3

SBG

Schmerzedukation

4

SBG

Schmerzedukation

3

PME

Durchführung der Langform

5

SBG

Aufmerksamkeitslenkung, Ablenkung

4

PME

Durchführung der Langform

6

SBG

Aufmerksamkeitslenkung, Genuss

7

SBG

Be- und Entlastung/Balance

5

PME

Durchführung der Langform

8

SBG

Be- und Entlastung, Auslöser und Strategien

6

PME

Durchführung der Kurzform, Transfer

9

SBG

Individuelle Stresssituationen – konkrete Situationsanalyse

10

SBG

Individuelle Stresssituationen – konkrete Situationsanalyse

7

PME

Durchführung der Kurzform, Transfer

11

SBG

Schmerz und Rückkehr zur Arbeit

12

SBG

Zielbilanzierung und Ziele für die Zeit nach dem Programm

3.5.6 Indirekte psychologische Behandlungsanteile Während der psychologische Kollege innerhalb des Behandlungsprogramms keine ärztlichen, physio- oder sporttherapeutischen Tätigkeiten übernimmt, allenfalls im Bereich der Wissensvermittlung, unterliegen alle Therapeuten hingegen psychologischen Prozessen des Denkens, der Motivation, der Emotionsregulation und Handlungssteuerung und nutzen diese in der Anwendung ihrer Therapie. Therapie

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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143

findet in Beziehung und Kommunikation statt und Therapieerfolg definiert sich über Veränderung in eine meist zuvor definierte erwünschte Richtung. Das Ziel der schmerzpsychotherapeutischen Behandlung besteht in einer veränderten Einstellung gegenüber dem Schmerz und in der Entwicklung von unterschiedlich spezifischen Verhaltensstrategien mit dem Ziel, das Schmerzerleben günstig zu beeinflussen und dadurch auch zu lindern. Dies beinhaltet die Loslösung von dysfunktionalen Kognitionen über Schmerz und Bewegung, die Übernahme von Eigenverantwortung und den Aufbau neuen Verhaltens. Die Annahme, dass es die optimale, den Schmerz für immer beseitigende Intervention gibt, aufzugeben, kann entlastend, aber auch enttäuschend sein. Es ist mühsam, Gymnastikübungen möglichst korrekt durchzuführen, und es ist anstrengend, eine Regelmäßigkeit im Sport zu erreichen. Aus Sicht des Patienten ist es gefährlich, sich mit schmerzauslösenden Bewegungsmustern zu konfrontieren oder Belastungsgrenzen nach außen zu kommunizieren. Therapeuten verlangen viel von Patienten. Patienten brauchen dafür Vertrauen und Motivation.

3.5.6.1 Erwartungsinduktion (Nutzung des Placeboeffektes) – Vertrauen In der pharmakologischen Forschung ist der Placeboeffekt schon lange bekannt. Der Glaube eines Patienten, wirksame Hilfe zu erhalten, macht einen wesentlichen Effekt des Therapieerfolgs aus. Über Prozesse der klassischen Konditionierung der Tabletteneinnahme mit einer dann einsetzenden positiven Körperreaktion bauen sich Erwartungshaltungen auf [88]. Aber nicht nur der Glaube des Patienten, auch der Glaube des Therapeuten hat einen Effekt. Eine positive Erwartung i. S. von „mir wird geholfen werden“, geht einher mit Zuversicht, Vertrauen und Hoffnung. Diese Gefühle können aversive Gefühle wie Angst, Trauer und Niedergeschlagenheit minimieren und auf diese Weise die mit aversiven Gefühlen einhergehenden physiologischen Reaktionen wie Anspannung und Unruhe verringern. Viele Patienten schildern, dass sie „außer“ der Verschreibung von Medikamenten keine Behandlung bekommen haben. Ohne plausible Erklärung und Einbettung in eine für den Patienten sinngebende Behandlungsidee wird der Placeboeffekt verschenkt. Nicht selten passiert das Gegenteil. Patienten lesen zu Hause den Beipackzettel, die Kenntnis der Nebenwirkungen bewirkt dann den Noceboeffekt, d. h. die Bildung der Erwartung über das Eintreffen der Nebenwirkungen. Es gibt konkrete Vorschläge wie der Placeboeffekt genutzt, d. h. eine positive Placeboreaktion gefördert werden kann. Neben der Konditionierung spielen die Instruktion und soziale Lernprozesse in der Erwartungsmodulation eine wichtige Rolle [89]. In der tagesklinischen Behandlung im Gruppensetting werden die adjuvante Bedeutung von Medikamenten und ihr Stellenwert im Behandlungskonzept in der psychologischen Edukation unter dem Aspekt der Schmerzhemmung und in der ärztlichen Edukation unter dem Aspekt der verschiedenen Arten von Schmerzmedikation behandelt.

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Der Placeboeffekt im Sinne einer positiven Behandlungserwartung bezieht sich auf die gesamte Behandlung. Die allgemeine Erwartung einer Veränderung hinsichtlich Schmerzreduktion sowie Verbesserung des Funktionsniveaus und der Lebensqualität stellten sich in einer Untersuchung an Patienten mit chronischem Rückenschmerz als Prädiktoren für eine Besserung depressiver Symptome, für eine Schmerzlinderung sowie für eine Reduktion katastrophisierender Kognitionen heraus. Patienten mit hoher Veränderungserwartung waren zufriedener mit der Behandlung, und die Behandlung verlief erfolgreicher [90]. Allerdings gibt es auch Patienten mit einer überhöhten, unrealistischen Erwartung nach Schmerzfreiheit („Sie sind meine letzte Rettung!“), die oft genau Ausdruck des Gegenteils ist („Mir kann keiner mehr helfen!“). Insofern geht es zu Beginn der Behandlung – bereits mit dem Erstgespräch – darum, eine positive, aber auch realistische Behandlungserwartung in Abgrenzung vom „Wünschen“ zu entwickeln. Diese kann durch die Haltung des Therapeuten, der überzeugt ist von dem, was er tut, dies begründen kann und das Erreichbare und Mögliche aufzeigt, gefördert werden (Tab. 3.9). Viele Patienten berichten von einer Besserung ihrer Symptomatik nach wenigen Behandlungstagen (z. B. in der ersten Visite nach vier Behandlungstagen), nicht wenige bereits nach dem ausführlichen diagnostischen Screening. Diese Patienten gehen mit einer positiven Erwartungshaltung in die Behandlung bzw. entwickeln nach wenigen Tagen eine positive Behandlungserwartung. Während Einstellungen und Überzeugungen zeitlich stabil sind, sind Erwartungen situationsabhängig, sie können sich im Behandlungsverlauf ändern. Die Rückversicherung einer positiven Behandlungserwartung, insbesondere auch bei einer Verstärkung der Schmerzen im Rahmen der Bewegungstherapie, ist essentiell. Zweifel können dann hinterfragt werden, und der Patient fühlt sich wahrgenommen. Wesentliches Ziel der Behandlung, die mit der Eingangsdiagnostik beginnt, ist die Veränderung von Erwartungen (allgemein und störungsspezifisch), initial die Induktion einer Besserungserwartung und im Behandlungsverlauf dann die Förderung der Selbstwirksamkeitserwartung.

3.5.6.2 Motivation Die Hauptmotivation von Patienten ist der Leidensdruck und ein damit einhergehender Wunsch nach Veränderung. Neben dieser patientenspezifischen Motivation sind die drei wichtigsten soziogenen Motive (The Big Three), die in ihrer Ausprägung interindividuell sehr verschieden sein können, in der Schmerzverarbeitung interessant. Das Anschluss- und Intimitätsmotiv beschreibt den Wunsch nach positiven Beziehungen und die Vermeidung von Ablehnung. Die Realisierung dieses Motivs geht einher mit der Ausschüttung des Neuropeptids Oxytocin, welches die Ausschüttung körpereigener Opiate erhöht. Untersuchungen ergeben, dass Menschen mit einem hohen Intimitäts- und Anschlussmotiv in Situationen, in denen dieses Motiv realisiert

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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145

Tab. 3.9: Förderung einer positiven realistischen Behandlungserwartung. Kompetenz und Erfahrung

„Unsere Behandlung umfasst diejenigen Maßnahmen, von denen wir überzeugt sind, dass Sie Ihnen langfristig helfen.“ „Wir haben viel Erfahrung und unsere Behandlung orientiert sich am aktuellen Stand der Forschung.“ „Den allermeisten Patienten können wir helfen, so dass sie sich nach der Behandlung deutlich besser fühlen und im Alltag besser zurechtkommen bzw. eine höhere Lebensqualität haben.“ „Wir haben Sie zu Beginn ausführlich untersucht, wir nehmen Sie nur in Behandlung, wenn wir denken, dass wir eine gute Chance haben, dass wir Ihnen helfen können.“

Grenzen

„Wir haben drei/vier Wochen Zeit, unser Ziel ist nicht Schmerzfreiheit, aber Ihnen einen Weg aufzuzeigen, der eine Schmerzlinderung mittel- und langfristig möglich macht.“ „Wir können Ihnen keine Garantie geben, dass es besser wird, aber Sie haben sehr gute Chancen, dass es Ihnen allmählich besser gehen wird, wenn Sie diesen Weg mit uns gehen.“

Beziehung

„Wir unterstützen Sie darin, einen Weg zu finden, mit Ihrem Problem besser zurechtzukommen, neue Strategien zu entwickeln und wieder mehr Vertrauen und Sicherheit zu gewinnen.“ „Sie können nirgendwo so viel (bezieht sich v. a. auf den Bewegungsbereich) ausprobieren wie hier, da immer ein Therapeut und ein Arzt im Hintergrund da sind.“

Nachfragen

„Sie haben jetzt alle Behandlungsanteile kennengelernt, denken Sie, dass Sie hier richtig sind?“

Gegenseitige Rückversicherung im Behandlungsverlauf

„Sie berichten eine Schmerzverstärkung, das ist das Gegenteil von dem, was Sie erreichen wollen. Denken Sie dennoch, dass Sie hier richtig sind?“ „Die meisten Patienten haben eine Schmerzverstärkung, wir kennen das und wollen Sie da gut durchbegleiten.“

werden kann, eine erhöhte Schmerztoleranz zeigen. Umgekehrt führen Isolation und Ausgrenzung zur Aktivierung des anterioren gyrus cinguli, das auch bei Schmerzen aktiv ist [91]. Das Anschlussmotiv kann im Gruppensetting realisiert werden. Die therapeutische Aufgabe besteht deshalb in der Förderung der instrumentellen Gruppenbedingungen. Instrumentelle Gruppenbedingungen nach Fiedler [77] sind eine hohe Gruppenkohäsion, gegenseitiges Vertrauen und eine freiwillige, nicht verpflichtende Offenheit. Die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Teilnehmer, aber auch das gemeinsame Erleben (Training, Spiele, Wandertag) fördern die Gruppenkohäsion und die Motivation der Teilnehmer. Neben dem Anschlussmotiv ist im Schmerzkontext das Machtmotiv interessant. Sich durchzusetzen und Kontrolle zu erleben ist mit einer Reduktion des Stresshormons Cortisol verbunden, während eine Niederlage mit einem Anstieg einhergeht. Ein gehemmtes Machtmotiv ist insgesamt mit einer eher negativen Gesundheit ver-

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bunden [91]. Patienten beschreiben sich als hilflos und dem Schmerz ausgeliefert. Bei Menschen mit chronischen Schmerzen gibt es Hinweise auf Veränderungen in der Aktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse, über die die Cortisolausschüttung reguliert wird [92, 93]. Das Leistungsmotiv hingegen strebt eine Kompetenzerweiterung an, es wird nur dann wirksam, wenn die Person ein Handlungsergebnis selbst herbeiführen kann und dafür verantwortlich ist. Zielzustand ist das positive Gefühl beim Vergleich mit einer eigenen früheren Leistung oder im Vergleich mit anderen. Das Leistungsmotiv umfasst die Hoffnung auf Erfolg, trägt aber auch das Risiko des Scheiterns in sich, die Furcht vor Misserfolg. Erfolgsmotivierte Menschen setzen sich realistische Ziele, bevorzugen eine mittelschwere Aufgabe und attribuieren die erfolgreiche Bewältigung auf die eigene Kompetenz, während sie Misserfolg der fehlenden Anstrengung zuschreiben [94]. Durch Schmerzen kann das Leistungsmotiv gehemmt sein, aus Angst vor Misserfolg wird weniger an Bewegung versucht. Wird eine positive Veränderung auf das eigene Verhalten attribuiert, so wird das damit verbundene Verhalten beibehalten. Eine Kenntnis über diese grundlegenden Motivstrukturen macht die Bedeutung der Beziehung in der Behandlung, des Rückgewinns von Kontrolle und des schrittweisen Aufbaus der psychophysischen Belastbarkeit und der Eigenverantwortung verstehbar. Bei den beschriebenen Motivdispositionen handelt es sich um grundlegende Bedürfnisse, bestimmte Ziele zu erreichen. Diese sind häufig unbewusst und leiten implizit unser Handeln. Neben diesen impliziten Zielen setzen sich Menschen auch explizite Ziele. Dies gilt für Patienten wie für Behandler. Ein Behandlungsprogramm wird immer gemessen werden am Ausmaß der Zielerreichung, das im Wesentlichen in einer zu definierenden Beschwerdereduktion besteht.

3.5.6.3 Realisierung lerntheoretischer Prinzipien Die meisten Patienten gestalten ihren Alltag in Abhängigkeit vom Schmerzerleben. Plötzlicher Schmerz oder eine Schmerzverstärkung führen zu einer unmittelbaren Verhaltensänderung. Diese Verhaltensänderung bewirkt, wenn sie erfolgreich ist, ein Entlastungserleben bzw. eine Schmerzreduktion und wird in der Folge weiter ausgeführt (operante Konditionierung). Ähnliches gilt für die Interaktion: Je expressiver das gezeigte Schmerzverhalten ist, desto mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge bekommt der Betroffene. In beiden Fällen wird das Schmerzerleben und -verhalten positiv verstärkt bzw. belohnt. Die bewegungstherapeutische Behandlung orientiert sich oft am Schmerzerleben des Patienten. Eine Übung soll „so lange gemacht werden, bis es weh tut“. Oder: „Auf keinen Fall in den Schmerz reintrainieren!“ Schmerz ist ein Warnsignal, dem initial diskriminierende Bedeutung zukommt. Bei lange anhaltenden Schmerzen verliert Schmerz allerdings diese initiale Warnfunktion und ist Ausdruck einer erhöhten Schmerzsensibilisierung (Kap. 3.5.1). Für die Be-

3.5 „Das bilde ich mir doch nicht ein“ – Modul Psychologie

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147

handlung bedeutet dies, dass der Schmerz seine Bedeutung als Hinweisreiz zur Verhaltensänderung verlieren sollte. Auch die Einnahme von Medikamenten erfolgt oft nach Bedarf („Erst wenn es gar nicht mehr geht, nehme ich eine Tablette.“). Dieses Einnahmeverhalten ist lerntheoretisch ebenfalls ungünstig, da die Schmerzstärke das Einnahmeverhalten bestimmt und damit immer im Aufmerksamkeitsfokus steht. Eine regelmäßige Einnahme kann deshalb sinnvoller sein. In der Bewegungstherapie ist nicht der Schmerz Grundlage der Trainingssteuerung, sondern der Fokus liegt auf anderen Trainingsparametern. Ein wichtiges Instrument hierfür ist die Borg-Skala (Kap. 3.6.3). Auf einer Skala von 6–20 schätzen Patienten ihre Anstrengung bei einer Übung ein. Parameter für Anstrengung können Schwitzen, Atemfrequenz, Müdigkeit oder Zittern der Muskeln sein. Patienten fällt die Einstufung anfangs schwer, und das Schmerzerleben wird in die Skala miteinberechnet, mit zunehmendem Behandlungsverlauf und durch konsequentes Nachfragen gelingt diese Fokusverlagerung, und Fortschritte werden für Patienten erkennbar. Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Training nach Quote (Kap. 3.6.3). Damit Schmerz nicht zum diskriminierenden, verhaltenssteuernden Hinweisreiz im Training wird, ist es wichtig, auf einem geringen Niveau zu beginnen und sich langsam zu steigern [1]. Die anfangs engmaschige zeitkontingente Anleitung (Strukturierung, Motivierung und Feedback) in den Trainingseinheiten sollte dann im Behandlungsverlauf ausgeschlichen werden. Das Therapeutenverhalten sollte eine internale Attribution von Veränderungen fördern und eine externale Attribution vermeiden/korrigieren. Patienten, die eine positive Veränderung ausschließlich auf Medikamente oder die Übungskorrektur durch den Therapeuten zurückführen, erleben sich kaum in der Lage, mit der Rückenerkrankung zurechtzukommen, und bleiben abhängig von der Rückversicherung durch Therapeuten. Ein wesentlicher Aspekt der Behandlung ist die Konfrontation mit angstauslösenden Bewegungen (s. a. Erfahrungslernen) im Work Hardening (Kap. 3.6.8) [1]. Dieses wird vom Therapeuten und vom Patienten (nur er kennt seine Arbeitssituation) so gestaltet, dass es der Alltagssituation so weit wie möglich entspricht. Bei ausgeprägter Bewegungsangst orientiert sich das Vorgehen an dem der Behandlung von Angststörungen [95]. Die erfolgreiche Bewältigung zuvor vermiedener Bewegungsmuster erhöht das Selbstwirksamkeitserleben und fördert den frühzeitigen Transfer in die Alltagsumgebung.

3.5.6.4 Kognitive Strategien Von allen Therapeuten des Behandlungsteams werden einheitliche und plausible Informationen und ein gemeinsames Störungsmodell vermittelt. Entpathologisierung und Reframing von Schmerz sind zentrale kognitive Prinzipien, die von allen Behandlern geteilt und vermittelt werden (s. a. Botschaften Kap. 3.8.3). Entpathologisieren bedeutet im psychotherapeutischen Kontext eine therapeutische Haltung, die Symptome und Verhaltensweisen des Patienten als verständliche und logische

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Konsequenzen seiner Erkrankung betrachtet [96]. Patienten fühlen sich dadurch entlastet. Im Schmerzkontext bezieht sich dies auf die Besprechung der Befunde, aber auch auf die Rückmeldung von Therapeuten bezogen auf beobachtete Auffälligkeiten. Dabei können Informationen über die weite Verbreitung bestimmter Befunde in der Bevölkerung und die Relativierung eines auffälligen Befundes vor dem Hintergrund des Gesamtbefundes hilfreich sein und entängstigen. Reframing bedeutet eine Umbewertung, in der der Schmerz in einen anderen Kontext gesetzt wird. Ein Beispiel dafür ist, Schmerz nicht als Warnsignal, sondern als erste Maßnahme einer Schutzreaktion zu sehen (Kap. 3.5.1). Eine Schmerzverstärkung im Trainingsbereich kann als logische Konsequenz auf bisher vermiedene oder untrainierte Belastungsreize gesehen werden. Schwankungen in der Schmerzintensität oder erneute Schmerzattacken bedeuten keinen Rückfall, sondern treten häufig auf (s. a. Botschaften Kap. 3.8.3). Das Therapeutenverhalten, welches das geschilderte Schmerzverhalten als „normal“ und inhärente Begleiterscheinung des Muskelaufbaus oder der physischen Belastung durch das Training einordnet, wirkt dabei auch als Modell. Aus einem „Oh Gott!“ kann ein „Aha, interessant!“ werden. Fazit Psychische Mechanismen wie Erwartungsmuster und Motivation bestimmen das Patientenverhalten und können therapeutisch günstig beeinflusst werden. Eine Kenntnis über lerntheoretische Mechanismen ist Voraussetzung für eine gezielte Trainingstherapie und die Arbeit im interdisziplinären Team. Das darauf basierende Therapeutenverhalten verstärkt statt Schmerzverhalten funktionales Bewältigungsverhalten.

Michael Hamel

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik Für die praktische Gestaltung des Moduls Motorik im Rahmen eines multimodalen interdisziplinären Therapieprogramms stellen sich folgende Fragen: – Wie begründet sich die Anwendung von Bewegung bei Rückenschmerzen? Gibt es ein Modell zur Orientierung in der Komplexität der menschlichen Motorik (Kap. 3.6.1)? – Wie kann die motorische Handlungsfähigkeit bei Patienten mit Rückenschmerzen getestet werden (Kap. 3.6.2)? – Welche Trainingsprinzipien sind im Rahmen der Tagesklink zu beachten (Kap. 3.6.3)? – Welche motorischen Interventionen ergeben eine sinnvoll abgestimmte Zusammenstellung (Kap. 3.6.4 bis Kap. 3.6.9 und Kap. 3.6.12)? – Wie erfolgt eine Beratung für Tätigkeiten im Alltag (Kap. 3.6.10) und Sport (Kap. 3.6.11)?

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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3.6.1 Bewegen trotz Schmerzen? 3.6.1.1 Vermeiden oder Belasten Die bewegungsbezogenen Interventionen genießen in der Therapie von Rückenschmerzen einen sehr hohen und auch begründbaren Stellenwert [26, 97, 98]. Das war nicht immer so. Zurückliegend standen hohe körperliche Belastungen und wirbelsäulenaktiver Sport bei Rückenschmerzen auf der Verbotsliste. Körperliche Belastung galt als Ursache für pathologische Veränderungen von morphologischen Strukturen und als Hauptauslöser für Beschwerden. Die Aktivitätsberatung bei Rückenschmerzen war vorwiegend von Schonungs- und Vermeidungsempfehlungen geprägt. Demgegenüber wendet man in der Sportmedizin und Trainingswissenschaft seit längerem das Prinzip der bewegungsbedingten körperlichen Adaptation (Anpassungen) an [99]. Im weiten Sinne erfolgen im Organismus morphologische und funktionelle Adaptationen stets als Antwort auf Anforderungen, die mit den vorhandenen Potenzialen nicht bewältigt werden können. Der überschwellige Reiz wirkt durch die Störung der Homöostase. Die Adaptationen zielen dabei auf eine bessere Bewältigung der konkret wirkenden Belastungen durch eine aufgabenbezogene Funktionsverbesserung. Ein Wegfall der Reize führt zu einer Rückbildung dieser Anpassung. Adaptationsreize auf das Bewegungssystem erfolgen hauptsächlich durch die Nutzung der dreidimensionalen Bewegungspotenziale. Für eine Funktionsverbesserung werden die dafür notwendigen überschwelligen Reize durch motorisches Lernen und Trainieren gesetzt. Das Ergebnis ist eine Verbesserung der individuellen motorischen Handlungsfähigkeit. Wenn nun schmerzbedingt die Wirbelsäule in ihrer Bewegungsfunktion nicht genutzt wird, findet eine Rückbildung der Bewegungsfunktionen statt. Exemplarische Ausprägungen umfassen die Dekonditionierung von Basispotenzialen wie der Wirbelsäulenbeweglichkeit [100] und Rumpfkraftfähigkeit, insbesondere der Extensoren [101]. Das mögliche Defizitspektrum reicht dabei von einzelnen Muskelfunktionen (Kap. 3.6.5) bis hin zur Komplexität von Alltagsmotorik in Form der Hebekapazität [102]. Eine Rekonditionierung dieser betroffenen wirbelsäulenbezogenen Parameter kann gemäß dem Adaptationsprinzip nur durch das Ausführen der defizitären Funktionen und Handlungen, also durch ein aktives Bewegen und Belasten einschließlich der Wirbelsäule selbst, erwartet werden und findet in Studien [101, 103, 104] immer wieder eine – wenig überraschende – Bestätigung. Bewegung und Training wirken also auch bei Schmerzpatienten leistungssteigernd. Für die bewegungstherapeutische Praxis ist es dabei notwendig, die Prinzipien des sportlichen Trainings anzupassen. (Kap. 3.6.3) Dennoch wird der Wiederherstellung von motorischen Funktionen mehr Beachtung geschenkt als dem negativen Schmerz- und Symptomkomplex. Dieses elementare Prinzip der Functional Restoration [105] findet sich adaptiert in dem Defizitmodell der Chronifizierung wieder und liefert insbesondere der Bewegungstherapie

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im Rahmen der Behandlung von Rückenschmerzen eine belastbare konzeptionelle Basis. Auch wenn der Fokus der Functional Restoration nicht auf der Schmerzentwicklung liegt, hat die Evidenzforschung eine signifikant bessere schmerzreduzierende Wirkung im Vergleich zum Abwarten und zu passiven Maßnahmen umfangreich belegt [106, 107]. Dabei wirken sehr viele verschiedene Formen an bewegungsbezogenen Maßnahmen positiv, es gibt keinen direkten Hinweis darauf, welche konkrete Form zur Schmerzreduktion im Vorteil ist. Für eine erste Orientierung differenzieren die aktuellen Leitlinien [26] den Stellenwert des aktiven Anteils in Abhängigkeit von der Schmerzdauer. Während bei akuten Beschwerden noch das triviale Beibehalten von normaler Aktivität effektiv sein kann, bedarf es bei einer stagnierenden Genesung bereits einer Kombination aus Bewegungstherapie und Edukation im verhaltenstherapeutischen Sinne. Bei subakuten oder chronischen Beschwerden ist eine strukturierte Sporttherapie im Rahmen einer MMST unumgänglich. Dieselbe Systematik scheint für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu gelten. So reduzieren aktive Programme die Krankheitstage nicht im akuten, wohl aber im subakuten und chronischen Zustand unter der Voraussetzung des Arbeitsplatzbezuges [108]. Das häufig gemessene Wirkungsspektrum (Kap. 4.3) erstreckt sich neben Parametern der körperlichen Leistungsfähigkeit und des Schmerzempfindens weiterhin auf den Bereich der subjektiven Beeinträchtigung. Jedoch lassen sich keine direkten Zusammenhänge zwischen diesen Outcomes belegen [109–112]. Die Formulierung eines Wirkungsmechanismus fällt somit sehr schwer. Eine Begründung dafür liegt vielleicht in der Komplexität der Anthropomotorik. Die Forschung spiegelt immer nur einen Teil des Ganzen wider (s. Komplexität Kap. 3.8.4). Für die Erklärung der Wirklichkeit und Gestaltung der Praxis bedarf es schließlich einer universellen Tätigkeitskonzeption.

3.6.1.2 Motorik ist mehr als Bewegung – Ein tätigkeitskonzeptioneller Ansatz Die menschlichen motorischen Tätigkeitsformen sind von einem beeindruckenden Spektrum geprägt: Man lernt sich die Schuhe zu binden, wir spielen Schach oder ein Musikinstrument, bedienen Küchengeräte, Fortbewegungsmittel oder einen Computer, das Handwerk reicht von Holz- bis Goldbearbeitung, wir drücken uns im Theater und in Gemälden künstlerisch aus, wir treiben Sport in 600 angemeldeten Formen. Lernen, Arbeiten, Gestalten, Trainieren, Therapieren, Spielen, Experimentieren und Kommunizieren gelten als Haupttätigkeitsfacetten. Der Grundlagenforschung fällt es schwer, diese scheinbar unendliche Liste an psychomotorischen (Lern)aufgaben zu klassifizieren und in ein tragkräftiges Modell zu ordnen. Betrachtet man motorische Tätigkeit als ein Vermittlungselement bei der Veränderung der Umwelt, der Nutzung von Geräten und zwischenmenschlichen Kommunikation, so liegt der motorischen Tätigkeit auch eine Subjekt-Objekt-Dialektik zugrunde. Dabei sind die Relationen zwischen Biologischem, Psychischem und Sozialem (Kap. 3.8.3) wesentlich und erlau-

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik |

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ben eine Differenzierung der menschlichen Motorik in verschiedene Sozialisationsebenen: [113] – Die Sensomotorik umfasst reine physiologisch-reflektierte, programmierte Bewegungsakte. – Die Psychomotorik beschreibt die wechselseitige Auseinandersetzung von Subjekt und Objekt. Über Antriebs-, Orientierungs- und Koordinationsprozesse wird Motorik reguliert und regulierbar. – Die Soziomotorik entfaltet sich primär auf der Persönlichkeits-GesellschaftsEbene. Die Handlungen werden durch die Beziehungen der Persönlichkeit zu sich selbst, zu anderen Personen oder zu Personengruppen bestimmt. Interaktion, Kommunikation und soziales Lernen stehen im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund könnten totale Bewegungsarmut (schmerzbedingt oder nicht), verödete Bewegungslust, aber auch ein übertriebener Körper- bzw. Fitnesskult und sinnentleerter Extremfunsport als soziomotorische Pathologie diskutiert werden. Motorische Handlungen sind die Bausteine körperlicher Tätigkeit und zielen auf das Lösen spezieller motorischer Aufgaben, die wiederum einem höheren Zweck (der Tätigkeit) dienen. Ein und dieselbe Handlung (z. B. Ballwerfen) kann im Rahmen unterschiedlicher Sozialisationsebenen ablaufen und von diesen geprägt werden: – Prellen eines Balles auf den Boden zur Überprüfung seines Sprungpotenzials, – paarweises Passen beim Warmspielen, – Werfen und Fangen im Rahmen von „Großen Spielen“ wie Basketball. Schmerzen wirken auf den gesamten biopsychosozialen Kontext und beeinträchtigen somit in jeder Tätigkeitskategorie das Bewältigen körperlicher Aufgaben. Die dazu notwendigen Handlungen werden dabei generalisiert oder nur auf einzelnen Tätigkeitsebenen beeinflusst. Für die Zusammenstellung der motorischen Tests, der Interventionen und Beratungen gilt es grundsätzlich, die motorischen Handlungen in Abhängigkeit von den verschiedenen Tätigkeitsstufen zu sehen. Dieses Prinzip ist wesentlich und kann mit den unterschiedlichsten materiellen, räumlichen und personellen Bedingungen erfolgreich umgesetzt werden.

3.6.1.3 Was will, was kann Motorik bei Rückenschmerzen? – Eine Aufgabenbestimmung Aus diesen Vorüberlegungen ergeben sich für das motorische Modul im Rahmen eines multimodalen interdisziplinären Programms folgende spezielle Aufgaben und Ziele: [114] – Diagnostik und Abbau von Defiziten in der körperlichen Leistungsfähigkeit, – Verbesserung der motorischen Handlungskompetenz für Alltag und Beruf, – Förderung körperlicher Gesundheitsressourcen, – Vermittlung von positiven Bewegungserfahrungen,

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– – –

Konfrontation mit symptomauslösenden Bewegungen oder Handlungen, Förderung der bewegungsbezogenen Selbstwirksamkeitserwartung, Beratung und Hinführung zu einer dauerhaften gesundheitssportlichen Aktivität.

3.6.2 Wo sind die Defizite? – Motorische Diagnostik als Grundlage und Prozess 3.6.2.1 Motorische Fähigkeiten als Checkliste für die Testbatterie Motorische Fähigkeiten sind Leistungsvoraussetzungen für ein anforderungsgerechtes, situationsadäquates und persönlichkeitsbezogenes Lösen motorischer Aufgabenstellungen. Sie entstehen durch das Ausüben von körperlicher Tätigkeit auf der Basis biologischer Adaptationsprozesse und werden für die Bewältigung von ganz konkreten Klassen motorischer Handlungen ausgeprägt [115]. Der Mensch kann das, was er macht, und macht das, was er kann. So produziert ein Betreiben von Sport wie Laufen oder Fahrradfahren eine gute Ausdauerleistungsfähigkeit. Diese ist in ihrer energetischen Grundfunktion auch auf andere Handlungen mit ähnlichem Anforderungsprofil wie Fußballspielen, Gehen oder Treppensteigen übertragbar. Jedoch für Tätigkeiten, bei denen eine andere Fähigkeitsklasse dominiert, wie beim Klettern oder schweren Heben, ist die Ausdauer nicht leistungsbestimmend. Als Qualitäten motorischer Handlungen werden die Fähigkeiten stets aus einem Komplex aus psychomotorischen, energetischen, kognitiven und emotionalen Grundfunktionen generiert. In der Praxis lassen sich somit sportliche Handlungen oft nicht eindeutig mit Fähigkeiten beschreiben. In der Forschung und theoretischen Konzeptionierung hat sich eine Unterteilung nach der dominanten Grundfunktion etabliert: – Konditionell-energetische Fähigkeiten werden vorrangig durch energetische Faktoren determiniert (Kraft, Ausdauer und deren Spezifikationen). – Koordinativ-psychomotorische Fähigkeiten werden vorrangig durch regulatorische Faktoren determiniert (Koordination, Kombination, Reaktion, Rhythmus, Ausdruck, Antizipation, Vorstellung, Kooperation, Entscheidung, Gleichgewicht, Orientierung, Differenzierung, Speicher, Anpassung, Umstellung). – Die Beweglichkeit und die Schnelligkeit sind aufgrund gleichrangiger konstitutioneller, konditioneller und koordinativer Komponenten Sonderfälle unter den motorischen Hauptfähigkeiten. Der Einfluss der kognitiven und emotionalen Komponente wird dabei schnell vergessen, sie bilden aber bei Beschwerden die Brücke zur körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Bewegungstherapie versteht Defizite in den motorischen Fähigkeiten als Risikofaktoren für das Auftreten von Schmerzen. Im Sinne der Functional Restoration gilt es somit, über geeignete Tests potenzielle Defizite zu definieren und abzubauen. Ein motorischer Test überprüft die Ausprägung einer motorischen Fähigkeit mit einer Handlungsaufgabe stets auf der entsprechenden konkreten Tätigkeitsebene. So ist z. B. bei Krafttests das Umsetzungsproblem zu beachten. Auch wenn ein Proband

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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153

gute Kraftfähigkeiten in dem isolierten Test zeigt, können Defizite beim Heben von schweren Lasten gegeben sein. Eine aussagekräftige Testbatterie thematisiert somit vordergründig die alltagsrelevanten Tätigkeiten. In Anbetracht der Vielzahl und Komplexität an motorischen Fähigkeiten und Tätigkeiten kann eine realistische Testbatterie stets nur einen beschränkten Einblick in die menschliche Motorik bieten. Dennoch kann über eine geeignete Auswahl ein lösungsorientierter Schwerpunkt gesetzt werden. Die Eingangsanalyse (Kap. 2.4) wird durch den Therapieprozess im Laufe der Zeit ergänzt, und es entsteht nach und nach ein klareres Bild von der motorischen Handlungskompetenz des Patienten. Die Zusammensetzung einer Testbatterie hat folgende Kriterien zu erfüllen: – Die Testauswahl macht eine orientierende Beurteilung aller motorischen Hauptfähigkeiten und der relevanten individuellen Tätigkeitsebenen möglich. – Im Sinne der Problemaktualisierung (Kap. 3.3) konfrontieren die motorischen Tests den Patienten mit seinen subjektiv beeinträchtigenden Tätigkeiten. Außerhalb der problematischen Anforderungen können Schmerzpatienten sehr gut leistungsfähig sein. Tests, die somit problemferne Aussagen treffen, sind nicht zielführend. Dieses Prinzip wird insbesondere beim Umsetzungsproblem der Kraftfähigkeiten und der Spezifität von Ausdauertests deutlich. – Die einzelnen Tests unterliegen grundsätzlich der Ökonomie, der Praktikabilität, der Nützlichkeit, der Normierung und den organisatorischen Möglichkeiten (Zeitfenster, zeitliche Nähe zur Intervention, Relation von Test- und Trainingsumfang). – Objektivität, Reliabilität und Validität bestimmen schließlich die Anwendungsund Interpretationspotenziale der Tests.

3.6.2.2 Organisation der Motodiagnostik in der Tagesklinik Die Funktionsdiagnostik des Bewegungssystems beginnt bereits mit dem physiotherapeutischen Teil im Rahmen des interdisziplinären Assessments (Kap. 2.4). Der Hauptfokus liegt zu diesem Zeitpunkt noch auf der Einschätzung des Schweregrades der Beeinträchtigung, der Belastbarkeit und der Gruppentauglichkeit des Patienten. Das Ergebnis aus dem physiotherapeutischen Befund ist eine funktionsorientierte Hypothese als adaptierbare Arbeitsgrundlage. Weiterhin finden sich bereits Tests und anamnestische Fragen, deren Werte eine individuelle Programmgestaltung unterstützen. Während des Programms erfolgen dann weitere Tests mit unterschiedlichem Zweck und Erhebungszeitpunkt. (Tab. 3.10) Die Auswertung und Rückmeldung an den Patienten erfolgen im Rahmen der Sportberatung (Kap. 3.6.11).

3.6.2.3 Die Testbatterie Ein Fragebogen zur Erfassung der habituellen körperlichen Aktivität [116] kann zunächst einen guten Überblick über das habituelle motorische Anforderungsprofil

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Tab. 3.10: Übersicht motorische Tests und Erhebungszeitpunkte in der MMST. Motorischer Test

Diagnostiktag

Fragebogen zur Erfassung der körperlichen Aktivität

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MCI: statische Wirbelsäulenkoordination (Kap. 2.4.2)

x

Patientenspezifische Funktionsskala (PSFS) (Kap. 2.4.1)

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Programmbeginn

Programmverlauf

Programmende x

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Finger-Boden-Abstand

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x

Progressive Isoinertial Lifting Evaluation

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x

Biering-Sörensen

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x

Partial-Curl-up

x

x

Qualitative Handlungsanalyse

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x

x

x

des Patienten geben. Der hier verwendete Fragebogen differenziert in den Kategorien „Arbeit“, „Sport“ und „Freizeit“. Jeder Index kann für unterschiedliche Beratungsfelder herangezogen werden. Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass Freizeitsport unabhängig von dem beruflichen Anforderungsprofil die Rückenschmerzprävalenz gegenüber sportlich inaktiven Menschen deutlich senkt. Innerhalb der aktiven Gruppe kann sogar noch der Umfang hinsichtlich des Effektes differenziert werden: Zwei bis vier Stunden Freizeitsport in der Woche senken das Schmerzauftreten am effektivsten [117]. Die Aussagen in den Feldern Beruf und Freizeit helfen bei der Beratung zur Gesamtaktivität im Leben. Ein körperlich anstrengender Beruf oder viel Aktivität in der Freizeit ersetzen nicht den Sport, können aber eine in der Intensität und im Umfang moderatere Gestaltung sinnvoll machen. Der Finger-Boden-Abstand (FBA) bestimmt das Bewegungspotenzial in der Oberkörpervorneige mit gestreckten Beinen. Gemessen wird das Lot von den gestreckten Fingerspitzen bis zum Fußboden. Der Test ist äußerst praktikabel und schnell. Die Intratester-Reliabilität bei Patienten mit Rückenschmerzen ist mit r = 0.99 sehr gut. Ab einer Reduktion des FBA von mehr als 8 cm kann von einer nichtzufälligen Verbesserung ausgegangen werden [118]. Exkurs Beweglichkeitstests: Die so genannte Neutral-Null-Methode liefert standardisierte Techniken für die Beweglichkeitsmessung der meisten Gelenke. Zur Dokumentation des Therapieverlaufs wäre die Messung der individuellen Beweglichkeitseinschränkung an unterschiedlichen Gelenken sinnvoll (Kap. 2.2.2). In der motorischen Testung kommen quantitative Beweglichkeitstests in Verbindung mit der qualitativen Bewegungsbeobachtung zu sehr praxisrelevanten Aussagen. Insbesondere die Bewegungsharmonie kann äußerst aufschlussreich sein. So ist bei der Ex-

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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tension und Flexion der Wirbelsäule ein gleichförmiger Bogen zu erwarten. Bestehen in den Endpositionen weiterhin gerade Abschnitte oder übermäßige Kurven, ist von entsprechenden Dysbalancen in der Wirbelsäulenbeweglichkeit auszugehen. Die Progressive Isoinertial Lifting Evaluation (PILE) ist ein submaximaler Hebetest mit zwei Teilaufgaben. Der lumbale Teil fordert das wiederholte Heben einer Kiste vom Fußboden auf eine Höhe von 76 cm. Der zervikale Teil thematisiert das Heben zwischen den Abstellhöhen von 76 cm und 137 cm. Die ursprüngliche Standardisierung sieht keine Einstellung in Abhängigkeit der Körpergröße vor. Dies entspricht der alltäglichen Realität. Bei sehr kleinen oder großen Personen kann aber eine Anpassung vorgenommen werden, wenn die Hubhöhe und somit die physikalischen Bedingungen beibehalten werden. Ein Hebezyklus besteht aus vier Wiederholungen und beginnt immer am unteren Absetzpunkt. Die maximale Zeit für einen Zyklus liegt bei 20 Sekunden. Nach erfolgreichem Absolvieren einer Belastungsstufe innerhalb der Zeitgrenze erfolgt jeweils eine geschlechtsspezifische Gewichtssteigerung. Neben dem subjektiven Wunsch des Patienten gibt es weitere objektive Abbruchgründe. Dokumentiert werden das Endgewicht, die Herzfrequenz, die RPE-Zahl (Kap. 3.6.3), die Schmerzintensität und der Abbruchgrund. Besonders hilfreich ist die visuelle Beurteilung der Hebetechnik zum Aufdecken koordinativer Defizite für das weitere Training. So kann eine beinbetonte Technik auf eine mangelnde Beweglichkeit im Rumpf oder auch auf ein Vermeidungshalten bezüglich der aktiven Wirbelsäulennutzung hindeuten. Der Test benötigt Material (Kiste, Gewichte, Regal mit verstellbaren Abstellflächen). Mit etwas Einarbeitung ist eine sehr gute Praktikabilität gegeben. Die Intra- und Interrater-Reliabilität liegen sehr hoch [119–121]. Die PILE thematisiert mit dem Heben ein häufiges und problemanfälliges Muster aus dem Alltag und erlaubt dadurch die Beurteilung der motorischen Handlungsfähigkeit des Patienten auf einer höheren Tätigkeitsstufe als die üblichen Tests. Insbesondere können emotionale, motivationale und kognitive Muster transparent werden. Aber auch koordinative Fähigkeiten wie die Hebetechnik haben einen Einfluss auf die Hebeleistung [122]. Der Biering-Sörensen ist ein statischer Kraftausdauertest für die dorsale Kette. Er ist sehr praktikabel und bietet differenzierte Referenzwerte [123]. Die IntraraterReliabilität reicht von r = 0.39 (passive Schmerzpatienten) bis r = 0.96 (aktive Patienten) [124]. Der Proband liegt bauchwärts auf einer Fläche, wobei sich der Oberkörper frei in der Luft befindet. Die Beine sind fixiert. Gemessen wird die freihändige horizontale Haltedauer. Für die ventrale Kette bietet sich der statische Partial-Curl-up an. Der Proband liegt auf dem Rücken, die Füße sind aufgestellt. Es wird eine Flexion der Wirbelsäule vom Kopf beginnend durchgeführt und eine standardisierte Position gehalten. Auch hier wird wieder die maximale Haltedauer gemessen. Der Test ist sehr praktikabel. Die Intrarater-Reliabilität ist sehr gut (r = 0.9) [125]. Es liegen ebenfalls Referenzwerte vor [126]. Exkurs Krafttests: Krafttests finden in der Rückentherapie eine häufige Anwendung. Die Wahl liegt zwischen statischen oder dynamischen und gerätegebundenen

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oder funktionellen Tests. Grundsätzlich werden statische oder isometrische Varianten von Schmerzpatienten besser toleriert. Gerätegebundene (isometrische) Maximalkrafttests sind bei nichtspezifischen Rückenschmerzen sehr gut praktikabel, besitzen eine sehr gute Reliabilität, und es liegen differenzierte Referenzwerte vor. Eine umfangreiche detaillierte Beschreibung findet sich bei DENNER [127, 128]. Die Nachteile liegen in dem großen materiellen und zeitlichen Aufwand. Die Durchführbarkeit kann aufgrund von Kontraindikationen bei verschiedenen klinischen Bildern beeinträchtigt werden. Schließlich kann die eindrucksvolle visuelle Feedbackmöglichkeit einen ungünstig engen Blick auf die eigene Motorik bewirken. Schließlich ist die Übertragung der Testaussage auf kraftdominierte alltagsmotorische Handlungen nicht zuverlässig. Funktionelle Kraft(ausdauer)tests wie der Biering-Sörensen sind sehr schnell durchführbar, kostengünstig und ausreichend stabil. Sie messen das Potenzial von Muskelketten und bilden somit den Alltag näher ab. Die Testhaltung unterliegt standardisierten Kriterien, deren Beurteilung stets überwacht werden muss und eine entsprechende Erfahrung des Therapeuten voraussetzt. Beide Formen des Krafttests sind zulässig, entfalten ihre Vorteile aber erst in einer geeigneten Kombination mit anderen Tests. Die Testergebnisse sind insbesondere im Bereich der Kraft hinsichtlich der abgeleiteten Inhalte differenziert anzuwenden und beim Feedback an den Patienten sorgfältig zu interpretieren. Die qualitative Handlungsanalyse umfasst die visuelle Beurteilung der koordinativen Verhältnisse in Statik und Dynamik bei sport- und alltagsmotorischen Handlungen. Den Testcharakter gewinnt sie nur durch standardisierte Qualitätskriterien der Bewegungstechnik. Als ständig begleitendes Kontrollinstrument hat die Beobachtung den größten Einfluss auf die Trainings- und Übungssteuerung. Neben dem bereits erwähnten Beispiel des Hebens findet die Analyse eine Anwendung bei allen sportmotorischen und alltäglichen Grundmustern wie Sitzen, Stehen, Gehen, Tragen, Bücken und auch Schieben und Ziehen. Die Handlungsanalyse ergänzt somit die PSFS (Kap. 2.4) um den praktisch gegenständlichen Status im Rahmen des Work Hardenings (Kap. 3.6.8). Exkurs Koordinationstests: Koordinative Verhältnisse sind auf dem qualitativ visuellen Weg schwer zu objektivieren und erfordern eine gute Erfahrung des Therapeuten. Eine hilfreiche Orientierung findet man darin, dass sich defizitäre koordinative Muster nicht widersprechen und zuverlässig auftreten. So gilt es, verschiedene motorische Aufgaben mit derselben Frage zu beurteilen. Hat der Therapeut z. B. den Eindruck, dass eine defizitäre BWS-Rotation vorliegt, wird dies beim Gehen, in ausgewählten Gymnastikübungen oder beim Arbeiten im Stehen mit Körperdrehung beobachtbar sein. Exkurs Ausdauertests: Zur Messung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Fahrradergometertests wie bei der Physical Working Capacity (PWC) [129] werden aufgrund ihrer universellen Einsetzbarkeit, Praktikabilität und gut ausgeprägten Gütekriterien in Europa sehr häufig angewendet. Jedoch sind sportmotorische ausdauerdominierte Handlungen wie Fahr-

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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radfahren nur von einer kleinräumigen wirbelsäulenbezogenen Bewegung geprägt. Somit empfinden Schmerzpatienten derartige Tätigkeiten nicht als Beeinträchtigung, können diese gut ausführen, und das Defizit fällt in diesem Fähigkeitsbereich geringer aus [130]. Die Fahrradergometrie wird also der Defizit- und Problemkonfrontation meistens nicht gerecht [131]. Alltagsnähere Bedingungen finden sich bei Step- und Gehtests. Bei den Steptests besteht die Aufgabe im wiederholten Auf- und Absteigen eines Steppers. Der 3-Minuten-Stufentest [132] weist jedoch nur eine ungenügende Zuverlässigkeit auf, ist somit nicht für einen Prä-post-Vergleich geeignet, genügt aber zur Beurteilung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit [133]. Der ChesterStep-Test ist dagegen stabiler, jedoch aufwändiger [134]. Der 6-Minuten-Gehtest ist ebenfalls zuverlässig, thematisiert eine alltagsrelevante Anforderung, benötigt jedoch eine zusammenhängende Gehstrecke von 20 Metern [135]. Die Laufbandergometrie wird von einem vergleichsweise höheren Anforderungsprofil geprägt. So findet sich die hauptsächliche Anwendung in der sportmedizinischen Leistungsdiagnostik. Bei einer klinischen Klientel führen diese Tests seltener zu einer Aussage über die Leistungsfähigkeit, sondern gelten als „Stresstest“ [136]. Alternativ zu standardisierten Ausdauertests kann über die systematische Leistungsbeurteilung der ausdauerdeterminierten Trainingsinhalte (Treppensteigen, Spielsport, Ergometer) mit Hilfe der RPE-Zahl (Kap. 3.6.3) das Fähigkeitspotenzial für eine Schwerpunktbildung im Training ausreichend eingeschätzt werden. Letztendlich gehört die Messung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit zu einer vollständigen Beurteilung des motorischen Handlungspotenzials dazu. Die potenziell geringere Defizitausprägung in der Ausdauerfähigkeit erlaubt an dieser Stelle bei Bedarf eine Reduktion der Tests (siehe auch Ausdauertraining Kap. 3.6.7).

3.6.3 Regeln für das „Trainingslager“ – Trainingsprinzipien 3.6.3.1 Diagnosen-unabhängig, funktionell behandeln – Functional Restoration Schmerzen und Diagnosen können meistens konkreten Körperregionen zugeordnet werden. Die Lokalität der dazugehörigen funktionellen Beeinträchtigung kann jedoch davon abweichen. Der Körperstamm ist als geschlossene Koordinationseinheit zu betrachten. Die Funktionen der einzelnen Abschnitte beeinflussen und ergänzen sich gegenseitig. Eine Bewegungseinschränkung z. B. in der Brustwirbelsäule kann in der Lendenwirbelsäule durch Hypermobilität ausgeglichen werden. Die behandlungswürdigen motorischen Auffälligkeiten sind somit unabhängig von der Diagnoselokalität zu suchen. Eine Checkliste für Funktionen findet sich im weiten Sinne in der Dreidimensionalität von Bewegung (Kap. 3.6.4) und in den Komponenten der habituellen motorischen Leistungsfähigkeit (Kap. 3.6.2).

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3.6.3.2 Bewegungsmuster – Ganzheitlich, wirbelsäulenaktiv und defizitorientiert Schmerzbedingtes Vermeidungsverhalten kann sich konkret auf den betroffenen Körperbereich beziehen und sekundär funktionell zusammenhängende oder auch weiter entfernte Koordinationseinheiten beeinflussen. Die zu übenden Bewegungsmuster sind somit ganzheitlich für das gesamte Bewegungssystem anzubieten (Kap. 3.3). Die Realisierung erfolgt dabei durch generelle Basisprogramme, die einen präventiven Charakter beinhalten. Weiterhin gilt es, im Sinne der Problemaktualisierung einen Schwerpunkt auf die wirbelsäulenbezogenen Bewegungen und Belastungen zu setzen. Im Wesentlichen findet sich dies in der Rotation um die Transversalachse (Extension und Flexion), um die Sagittalachse (Lateralflexion), um die Longitudinalachse (Torsion) sowie um deren Kombinationen. Die Übungen haben dabei sowohl statischen als auch dynamischen Charakter. Die Individualität der Trainingsprogramme erfolgt schließlich durch die Versorgung der motorischen Auffälligkeiten mit spezifischen Übungen (Kap. 3.6.7).

3.6.3.3 Trainingssteuerung – Symptomunabhängig nach Quote und RPE-Zahl Die zu einer Funktionsverbesserung notwendigen Trainingsreize erfordern ein adäquates Maß an Umfang und Intensität. Aufgrund von Schmerzen kann es verständlicherweise auch zu einem frühzeitigen Abbruch der entsprechenden Übung kommen und der funktionsverbessernde Trainingsreiz bleibt aus. Die Vorgabe von Quoten z. B. durch eine Wiederholungszahl kann dem Patienten eine Orientierung für die optimale Belastungsdauer geben. Dagegen lässt sich die Belastungsintensität aufgrund der stark subjektiven Komponente insbesondere für azyklische Bewegungsmuster nur schwierig steuern. Eine sehr praktikable Hilfestellung ist die so genannte RPE-Skala (Rating of Perceived Exertion) nach Borg. Auf einem Zahlenspektrum von 6 bis 20 bewertet der Patient seine subjektiv wahrgenommene Anstrengung. Der Gebrauch wird dabei wie folgt empfohlen: – „9“: z. B. wie bei einem Gesunden das normale Gehen im eigenen Tempo, – „13“: etwas anstrengend, man kann bei der Belastung aber gut weitermachen, – „15“: schwer, aber das Fortfahren ist noch möglich, – „17“: sehr anstrengend, die Belastung ist noch tolerierbar, jedoch muss aufgrund von Erschöpfung bald abgebrochen werden. Auf dieser quantifizierbaren Basis lassen sich konkrete Intensitätsempfehlungen geben. (Kap. 3.6.11) Die RPE-Skala ist sehr praktikabel, zuverlässig und altersunabhängig einsetzbar [137].

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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3.6.3.4 Trainingsformen – Weiterführbar und selbstbestimmt Ein wesentliches Ziel des Programms ist das Fortführen gesundheitssportlicher Aktivität. Ein nachhaltiges Dranbleiben am Training gelingt am besten über die Erfüllung selbstbestimmter Ziele (Selbstkonkordanz). Die Trainingsplangestaltung wird also von eigenen Interessen dominiert. Genauso belastbar sind Inhalte, denen gegenüber eine ausreichende Selbstwirksamkeitserwartung besteht. Die Auswahl an Interventions- bzw. Bewegungsangeboten ist somit in Abhängigkeit ihrer Praktikabilität, Finanzierbarkeit, Verfügbarkeit und Vielseitigkeit zu treffen.

3.6.4 Brust raus? – Eine Frage der Haltung 3.6.4.1 Wirbelsäulenkoordination in Statik und Dynamik Wirbelsäule, Becken, Schädel und Brustkorb bilden die Koordinationseinheit Körperstamm. Alle Elemente stehen miteinander in Beziehung und kompensieren sich gegenseitig. Ein Bewegungsimpuls in einem Abschnitt löst eine Folgebewegung im Nachbarbereich aus. Bewegungseinschränkungen werden durch die Hypermobilität anderer Abschnitte ausgeglichen. Es kommt zu funktionellen Dysbalancen und strukturellen Überlastungen. Ein harmonisch verteiltes Bewegungspotenzial ist die Voraussetzung für ein strukturelles Gleichgewicht und somit für eine physiologische Belastbarkeit. Die harmonische Gesamtaufrichtung des Körperstammes durch eine Orientierung von Kopf und Becken entlang der Longitudinalachse wird in verschiedenen Bewegungskonzepten als die mittlere Körperhaltung definiert. Dabei gelten in der Statik folgende Beziehungen anatomischer Referenzpunkte [138]: – Kopf und Becken zentriert und ausgerichtet, – atlantooccipitaler und lumbosacraler Übergang offen, – Wirbelsäule mit gestreckt geschwungenem Verlauf, – Brustbein vertikal und konvex, – Breite des Thorax größer als Tiefendurchmesser, – knöcherne und muskuläre Symmetrie. Ein Flach- oder Rundrücken, ein eingesunkenes Brustbein, ein thorakaler Überhang oder ein Fassthorax sind Beispiele für eine unkoordinierte Statik. Grundsätzlich handelt es sich bei den Kriterien der Gesamtaufrichtung um ein orientierendes Leitbild. In der Praxis werden individuelle Schwerpunkte gesetzt. Die Wirbelsäulenaufrichtung findet ihre Anwendung in allen Trainingsübungen, die eine statische Kontrolle des Körperstammes erfordern (Kap. 3.6.6 und 3.6.7). Aber auch zum Bewältigen von Tätigkeiten im Alltag, insbesondere beim Sitzen und Stehen, bietet die mittlere Haltung eine ergonomische Lösung (Kap. 3.6.10). Jedoch sind statische Haltungen trotz physiologischer Ausführung ermüdend und somit zeitlich zu begrenzen. Statik ist immer das Ergebnis eines dynamischen Prozesses. Je größer

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das dynamische Potenzial, desto einfacher ist die Mitte zu finden und zu halten. Für die Dynamik der Wirbelsäule als Ganzes gelten folgende koordinative Eigenschaften: – ventrale und laterale Flexion: harmonische Beugung von Kopf bis Becken, – Extension: harmonische Konkavität, – Torsion: Verschraubung von Kopf bis Becken mit Integration des Thorax und Gleitbewegungen der Rippen. Die Übungsinhalte umfassen somit nicht nur statische Haltungsaufgaben, sondern thematisieren die dreidimensionalen Bewegungspotenziale der Wirbelsäule.

3.6.4.2 Was? – Übungsinhalte der Wirbelsäulenkoordination – aktives Bewegen einzelner Rumpfabschnitte (Becken, Thorax, Kopf) um alle Raumachsen, – Kombinationsbewegungen von Wirbelsäulenabschnitten und im Ganzen, – statische Kontrolle der Wirbelsäule in Teilen und im Ganzen, – Kombination mit den Inhalten der Segmentalen Stabilisation (Kap. 3.6.5), – eine spezielle Form der statischen Haltungskontrolle findet sich in der Übungsreihe der globalen motorischen Kontrolle (Kap. 2.4.2 und 3.6.6), – Ergänzung durch Kleingeräte zur Versorgung spezieller Fragestellungen, – Integration in verschiedene Übungen.

3.6.4.3 Wie? – Übungsmethodik – grundsätzlich lockeres, unverkrampftes Üben, – Unterstützung der Wahrnehmung durch taktile Reize, anatomische Modelle, visuelles und fremdes Feedback, – Üben in verschiedenen Ausgangstellungen (Rücken-, Seit- und Bauchlage, Sitzen, Stehen an der Wand, Stehen frei, 4-Punkt-Stütz), – Ausprobieren und Vergleichen von krummer/aufrechter Körperhaltung, entspannter/angespannter Muskulatur.

Michael Richter 3.6.5 Bauch rein? – Die Segmentale Stabilisation 3.6.5.1 Ein Blick zurück – Der Ursprung der Segmentalen Stabilisation (SegSta) Australische Wissenschaftler an der University of Queensland konnten Mitte der 90er Jahre darstellen, dass die tiefliegende Muskulatur des Rumpfes einen stabilisierenden Einfluss auf die Lendenwirbelsäule hat [139]. Als muskuläre Stabilisatoren für die LWS-Region sind neben dem Beckenboden und Zwerchfell auch der Musculus transversus abdominis (TA) und die Musculi multifidi (MF) zu nennen, denen eine

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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besondere Bedeutung zukommt. Als ko-kontrahierende Einheit bilden sie einen abdominalen Ballon um die LWS. In der Bewegungsplanung und -durchführung wird diese Muskulatur frühzeitig in die Bewegung integriert [140] und sorgt somit für optimale Belastung und funktionelle Stabilität. Bei Menschen mit Beschwerden im Bereich der LWS konnte im Weiteren belegt werden, dass die muskuläre Stabilität verändert ist und es zu einer verzögerten Aktivierung der Muskeln kommt. Verzögert impliziert, dass die frühzeitige Integration der Stabilisatoren in die Bewegungsausführung, d. h. der Feedforward-Mechanismus [141], verloren geht. Hides et al. [142]. konnten u. a. nachweisen, dass sich nach einer ersten Kreuzschmerzepisode die MF nicht automatisch regenerieren kann und es bei einer persistierenden Dysfunktion zu Fetteinlagerungen kommt [143]. Das Konzept bietet den vielen Menschen mit Rückenschmerzen [144] eine innovative und evidenzbasierte Behandlungsmethode. Die Studienlage zur SegSta ist seit Mitte der 90er Jahre beachtlich gewachsen und führte zur Monographie von Hides et al. [145], die das komplette Wissen zum Thema zusammenfasst und gleichzeitig ein fundiertes Handbuch zur klinischen Anwendung ergibt. Das Konzept findet in verschiedensten Bereichen Anwendung, wie in Fitnessstudios und Sport, Physiotherapiepraxen, Pilates und Multimodaler Schmerztherapie. Die von Hides et al. postulierte Behandlungsstrategie von einer isolierten Aktivierung der segmentalen Stabilisatoren bis hin zu einer globalen Integration im gerätegestützten Krafttraining und in Alltagsfunktionen ist sowohl praxistauglich als auch wissenschaftlich fundiert. In den publizierten Handlungsempfehlungen [145] wurde nicht nur ein stringenter Behandlungsaufbau publiziert, sondern es wurden auch für die Physiotherapie neue diagnostische Möglichkeiten aufgezeigt. Mittels Ultraschall können die Patienten in der isolierten Aktivierung des TA (Abb. 3.3) sowie der MF als Biofeedbacktraining geschult werden [146] und zudem

Abb. 3.3: Ultraschalldarstellung des TA der linken Seite.

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kann die Kontrolle der LWS-Stabilität durch eine Pressure-Biofeedback-Unit quantifiziert werden. Die PBU ist eine Blutdruckmanschette und wird in den Bereich der LWS-Lordose positioniert. Im aufgepumpten Zustand kann lumbale Bewegung durch die Druckveränderung dargestellt werden.

3.6.5.2 Die praktische Umsetzung der SegSta Die SegSta ist Teil der Gymnastikeinheiten mit der gesamten Gruppe. Der Übungsaufbau erfolgt methodisch im Sinne vom Einfachen zum Komplexen. Die Patienten erlernen zunächst eine isolierte Aktivierung des TA und der MF. Im nächsten Schritt wird die Ausdauer- und Kokontraktionsfähigkeit trainiert. So werden die Patienten aufgefordert, regelmäßig die tiefliegende Muskulatur für 10 × 10 Sekunden zu aktivieren. Hierauf aufbauend soll die Muskulatur integriert werden in die Gymnastik (Kap. 3.6.6), die MTT (Kap. 3.6.7) und das Work Hardening (Kap. 3.6.8) und schließlich in den Alltag und Sport. Kognitiv-edukativ wird den Patienten die stabilisierende und entlastende Bedeutung der tiefliegenden Muskulatur vermittelt. Diese Information wird von Patientenseite als motivierend und angstreduzierend wahrgenommen. Hamilton [147] schreibt, dass hierdurch zeitnah mit einer Therapie begonnen werden kann, die Aktivität im Fokus hat. Die alleinige therapeutische Instruktion „Ziehen Sie den Bauchnabel zur Wirbelsäule!“ muss vermieden werden, da dies dem umfassenden Konzept der SegSta keinesfalls gerecht wird.

3.6.5.3 Kritik am Konzept Nach internationaler Implementierung der SegSta für die Therapie LWS-bedingter Beschwerden gibt es Publikationen, die die Modelle und Überlegungen der ursprünglichen Entdeckungen in Frage stellen [148–151]. Während propagiert wurde, dass die Aktivität der LWS-Stabilisatoren richtungsunspezifisch sei, konnte die Annahme durch Allison et al. [150] widerlegt werden. Auch konnte in einer Studie von Gubler et al. [149] der Feedforward-Mechanismus nicht bestätigt werden. Mannion und Kollegen [148] bewiesen in ihrer Untersuchung, dass bei chronischen Kreuzschmerzen ein gutes Behandlungsergebnis nicht mit einer Wiederherstellung des FeedforwardMechnismus einhergeht. Andere Tatsachen, die die Rolle des TA in Frage stellen, sind z. B. die Nutzung des TA im Rahmen eines Brustersatzes oder die Durchtrennung des TA bei Leistenhernienoperationen. Nach dem ursprünglichen Modell würden die genannten Schädigungen des TA eine Stabilitätsveränderung bewirken. Lederman [151] bezweifelt einen Zusammenhang zwischen den genannten Pathologien und Kreuzschmerzen und bewertet schließlich das Konzept der SegSta als Mythos. Auch Nugus [152] diskutiert die fraglichen Nebenwirkungen durch den therapeutischen Fokus auf die SegSta. So postuliert er, dass das Konzept den Kontext eines biomedizinischen Ansatzes nicht verlässt und somit den Kriterien der aktuellen Rahmenempfehlungen nicht gerecht wird, nach biopsychosozialen Kriterien zu be-

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handeln. So wird durch den Fokus der Therapeuten auf die schmerzhafte Region ein isoliertes, pathoanatomisches Modell suggeriert. Hierdurch entsteht ein falsches und zu einseitiges Krankheitsmodell für den Patienten, welches z. B. bei einem Schmerzrezidiv zu Angst und Katastrophisierung führen kann. 2012 postulierte O’Sullivan [153], der Begriff Instabilität solle lediglich für das Krankheitsbild Spondylolisthesis und instabile Frakturen genutzt werden. Die komplexen Geschehnisse beim CRS auf den Pathomechanismus Instabilität zu reduzieren, ist falsch. Je stabiler, umso besser ist eine Annahme, der bisher jede Grundlage fehlt. Im Gegenteil, denn bei Patienten mit CRS gibt es Belege für einen erhöhten, maladaptiven Tonus der Muskulatur und eine Unfähigkeit, die Lendenwirbelsäulenmuskulatur zu entspannen, sowie gesteigerte Kokontraktion und eine zeitlich verfrühte Aktivierung des TA [153].

3.6.5.4 Aktueller Stand Die Menge an Übersichtsarbeiten zum Thema spiegelt die Menge an wissenschaftlichen Veröffentlichungen wider [154–157]. Smith et al. [156] postulieren, dass es eine überzeugende Evidenz dafür gibt, dass die SegSta keiner anderen aktiven Übungsbehandlung überlegen ist und weitere Forschung diese Erkenntnis nicht beeinflussen wird. Auch Brumitt et al. [155] unterstützen diese These und schreiben, dass Aktivität den Fokus der Behandlung bei Patienten mit subakutem RS darstellen sollte; allerdings gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass die Übungen isolierte Muskeln wie TA und MF in den Fokus stellen müssen. In dem 2016 publizierten Cochrane Review [157] findet sich eine identische Schlussfolgerung: „Da es keinen wissenschaftlichen Beleg dafür gibt, welche Übungen die effektivsten sind, sollte die Entscheidung, welche Übungen am Patienten genutzt werden, nach Vorlieben des Therapeuten entschieden werden.“ Der Cochrane Review [157] liefert die Evidenz bis zum Zeitpunkt der Publikation im Jahre 2016. Die SegStab ist weiterhin Bestandteil der Wissenschaft und wird intensiv beforscht [157, 158]. In Konklusion kann Hamilton [147] zitiert werden, die postuliert: „15 Jahre später überblicken weder Wissenschaftler noch Kliniker das Thema. Wen wundert das?“ O’Sullivan [153] reflektiert über die Ursache der ambivalenten Evidenzlage und stellt fest, dass sowohl wissenschaftlich als auch im Bereich der Praxis die frühen Forschungsergebnisse zum Thema SegSta, die bei rezidivierenden Kreuzschmerzen Gültigkeit haben, auf CRS übertragen wurden.

3.6.5.5 Schlussfolgerung Wie dargestellt gibt es neben der Monographie [143] andere Arbeiten, die die SegSta als effektives Konzept propagieren; gleichzeitig zeigen sich weitere Veröffentlichungen sehr kritisch gegenüber der Umsetzung und Effektivität der SegSta. Diese ambivalente Forschungslage bietet ein Fundament für Verwirrung – eine Tatsache, die insbesondere bei der Behandlung von Patienten mit chronischen LWS-Beschwerden wenig hilfreich ist. Die applizierten Interventionen müssen von den Therapeuten mit Überzeu-

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gung kommuniziert werden, um eine fundierte Beziehung zum Patienten aufbauen zu können. Hamilton [147] schreibt, dass die SegSta eine der wissenschaftlichsten Methoden in der Physiotherapie darstellt und dass insbesondere Patienten mit belastungsabhängigen Beschwerden zeitnah an eine aktive Rehabilitation herangeführt werden können. Didaktisch ist die Technik ein Konzept, welches über Kommunikation eines „inneren Korsetts“ dazu beitragen kann, dem Patienten Sicherheit bei Belastungen und Funktionen des Alltags zu geben. Hierbei muss die strukturelle Beteiligung relativiert und der Patient davor geschützt werden zu denken, dass eine Schmerzverstärkung oder aber ein Wiederauftreten der Beschwerden eine erneute Muskeldysfunktion darstellt. Dieser Fokus kann zu einem Teufelskreislauf führen, insbesondere unter der Berücksichtigung, dass chronische Beschwerden häufig von Rezidiven geprägt sind. Es besteht somit die Gefahr, dass bei falscher Kommunikation der Fokus des Patienten zu sehr auf die SegSta gelegt und somit der biopsychosoziale Kontext übersehen wird. Als roter Faden für den Einstieg in eine aktive Behandlung und Bewältigung gutartiger CRS bietet sich das Konzept der SegSta an, wobei die Wahl der aktiven Behandlungsstrategie den Vorzügen der Therapeuten unterliegt. Die SegSta ist aus der Welt der Physiotherapie nicht mehr wegzudenken und hat diesen Status auch verdient. Es liegt an den Therapeuten, die richtigen Worte zu wählen und adäquate entängstigende Erklärungsmodelle zu nutzen. Unter Berücksichtigung der Bedeutung psychosozialer Komponenten im Schmerzerhalt bei chronischen Beschwerden und der weniger bedeutsamen strukturellen Komponente muss der alleinige Nutzen der SegSta auf der angepassten Belastungssteigerung und Reaktivierung der Patienten liegen. Der Fokus auf einer vorliegenden Muskeldysfunktion der tiefliegenden Muskulatur des Rumpfes hat in den letzten 20 Jahren nicht dazu geführt, die Epidemiologie von Kreuzschmerzen positiv zu beeinflussen. Diese Erkenntnis muss akzeptiert werden und sollte Behandler dazu motivieren, ihr Handeln zu hinterfragen. Die Inhalte stellen aber eine nebenwirkungsfreie methodische Heranführung an Aktivitäten mit enormen therapeutischen Potenzialen dar.

Michael Hamel 3.6.6 Die Vielseitige – Funktionsgymnastik 3.6.6.1 Was ist, was kann Funktionsgymnastik? Gymnastische Bewegungsformen finden sich in vielen Kulturen verschiedener Zeitepochen in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Das Spektrum reicht dabei von therapeutischen Zielstellungen (z. B. Beckenboden- oder Krankengymnastik), tänzerischen (Aerobic) oder kämpferischen Motiven (Tai Chi) bis hin zu einem weltanschaulichen funktionalen Hintergrund (Yoga). Bei isolierter Betrachtung des reinen Bewegungsaktes liegt die Gemeinsamkeit in der Nutzung vielfältiger natürlicher Bewegungspotenziale weitgehend ohne Unterstützung von Materialien. Gymnastische Tätigkeiten zielen auf Elemente oder die Gesamtheit der generellen motori-

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schen Leistungsfähigkeit. Wirbelsäulenbezogene Gymnastik verbessert insbesondere die Beweglichkeit und Kraft, reduziert Schmerzen und steigert die sportbezogene Selbstwirksamkeitserwartung [159–162]. Die Vorteile für den Patienten sind eine überzeugende Praktikabilität, ein sehr geringer materieller Aufwand, die Flexibilität des Ortes und der hohe Grad an Individualisierbarkeit durch umfangreiche Varianten.

3.6.6.2 Die Übungsprogramme Das Gymnastikprogramm in der Tagesklinik beinhaltet Übungselemente aus der Krankengymnastik, aus dem Pilates, aus dem Yoga u. v. m. Dabei liegt der Schwerpunkt der Übungsauswahl auf dem rumpfbezogenen Charakter. Übungen mit einem gemeinsamen übergeordneten Trainingsziel können in einer praktikablen Übungsreihe zusammengefasst werden. Entscheidend ist die vollständige Versorgung aller Bewegungsrichtungen der Wirbelsäule in statischer oder dynamischer Form.

„Aktivierung“ Das Aktivierungsprogramm wird fließend dynamisch ohne Widerstand ausgeführt und zielt somit auf die Förderung der Beweglichkeit und der dynamischen Wirbelsäulenkoordination. Die Anwendungsmöglichkeiten finden sich im Rahmen von Frühsport, als Bewegungspause im Alltag oder als Aufwärmelement vor Trainingstätigkeiten. Jede Übung wird 10- bis 20-mal durchgeführt. Die Übungsbeispiele (Abb. 3.4 bis 3.6) zeigen Möglichkeiten, die Wirbelsäule um die drei Raumachsen zu bewegen. In der Anwendung als Aufwärmtraining sind weitere drei bis sechs Übungen auch für die Extremitäten zu ergänzen.

Globale statische Rumpfkontrolle Neben der Dynamik des Aktivierungsprogramms gehört zur Wirbelsäulenkoordination die Kontrolle der Statik. Die Überprüfung dieser Funktion erfolgt bereits beim interdisziplinären Assessment (Kap. 2.4.2). Die entsprechenden MCI-Testaufgaben werden teilweise in der Gymnastik als Übungen (Abb. 3.7 und 3.8) aufgegriffen, variiert und weiterentwickelt. Die Aufgabe besteht darin, die mittlere Gesamtaufrichtung des Körperstamms (Kap. 3.6.4) trotz beeinflussender Extremitätenbewegungen in verschiedenen Ausgangsstellungen aufrechtzuhalten. Die Übungen basieren auf Konzepten der Kontrolle von aktiven Bewegungen [163] und sprechen damit effektiv eine Subgruppe von Patienten an [164]. Die Haltedauer bestimmt sich durch die qualitative Ausführung. Die zunächst moderaten Aufgabenstellungen können mit zunehmender Anforderung schließlich einen methodischen Übergang zum statischen Krafttraining bilden. Eine sehr aufwändige Überblicksarbeit fasst die Wirksamkeit von Übungen zur Bewegungskontrolle (Motor Control Exercise – MCE) bei CRS auf die Schmerzintensität und Beeinträchtigung zusammen: Im Vergleich zu Placebo, Edukation, Infor-

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Abb. 3.4: Aktivierung: Beugen und Strecken in der Sagittalebene.

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Abb. 3.5: Aktivierung 2: Lateralflexion in der Frontalebene.

mation, Elektrotherapie und keiner Behandlung sind die Übungen überlegen. Die Wirkung von MCE im Vergleich mit anderen Übungen ist gleichrangig. Es sind keine Nebenwirkungen bekannt [157].

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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Abb. 3.6: Aktivierung 3: Rumpfrotation um die Longitudinalachse.

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Abb. 3.7: Rotationskontrolle des Beckens um die Longitudinalachse bei wechselseitigem Heben des Fußes.

(a)

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Abb. 3.8: Rotationskontrolle des Beckens um die Transversal- und Longitudinalachse bei wechselseitiger Hüftextension.

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Statisches und dynamisches Krafttraining ohne Zusatzgewicht Unter konkreten Bedingungen können gymnastische Übungen einen Ermüdungsreiz wie das Krafttraining mit Zusatzgewicht setzen. Dabei wird das eigene Körpergewicht gegen den Widerstand der Schwerkraft bewegt. Das Training nach Quote (Kap. 3.6.3) ist hierbei nicht immer umsetzbar. Praktikabler ist die Trainingssteuerung über die Borg-Zahl. Die Vorgabe lautet dabei 13 bis 15 für Anfänger, 15 bis 17 für Fortgeschrittene. Die Übungsmuster (Abb. 3.9 bis 3.12) entspringen dem Pilates, Yoga und weiteren Gymnastikformen.

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Abb. 3.9: Kraft 1: Dynamische Kräftigung der ventralen Rumpfkette.

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Abb. 3.10: Kraft 2: Dynamische Kräftigung der dorsalen Rumpfkette.

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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Abb. 3.11: Kraft 3: Dynamische Kräftigung der lateralen Rumpfkette.

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Abb. 3.12: Kraft 4: Dynamische Kräftigung der ventral-diagonalen Rumpfkette.

Entlastung Statisch gehaltene Gelenkpositionen können die Muskulatur dehnen, den Tonus kurzfristig senken und somit zur Verbesserung der Beweglichkeit, zur Gelenkentlastung und auch zur allgemeinen Entspannung beitragen. Die Übungen (Abb. 3.13 bis 3.16) werden moderat ausgeführt und 15 bis 20 Sekunden gehalten. Der häufigste Anwendungsbereich ist das Beenden sportlicher Aktivitäten. Entscheidend ist die Gestaltung regenerations- und entspannungsfördernder Bedingungen in Form von gleichmäßiger Atmung, innerer Ruhe und kraftarmen Impulsen.

Abb. 3.13: Entlastung 1: „Päckchen“.

170 | 3 Interdisziplinäre Therapie

Abb. 3.14: Entlastung 2: Strecken in Rückenlage.

Abb. 3.15: Entlastung 3: Drehdehnlage.

Abb. 3.16: Entlastung 4: „Halbmond“.

3.6.6.3 Wie? – Methodische Einführung Die Gymnastikübungen können hinsichtlich ihres Koordinationsanspruches und Anstrengungspotenzials hierarchisch geordnet werden. Daraus ergibt sich eine methodische Reihe: – Aktivierungs- und Entlastungsprogramm, – Übungen zur Segmentalen Stabilisation, – Übungen zur globalen statischen Rumpfkontrolle, – statisches Krafttraining ohne Zusatzgewicht, – dynamisches Krafttraining ohne Zusatzgewicht. Individuelle Beeinträchtigungen können die Ausführung einzelner Übungen verhindern. Durch Variationen oder Alternativen kann das Thema dennoch bearbeitet wer-

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den. Dies führt bei der Gymnastik meistens zu positiven Erfahrungen. Das Gefühl der Mitbestimmung ist sehr hoch. Neben dem wirbelsäulenbezogenen ganzheitlichen Charakter der Übungsprogramme ist es sinnvoll, die individuellen Defizite mit zusätzlichen Übungen zu versorgen (Kap. 3.6.7). Auch die Erweiterung um Übungen für die Extremitäten ist insbesondere bei entsprechenden Komorbiditäten zu berücksichtigen. Schließlich sind noch die zahlreichen „Kleingeräte“ (Bänder, Bälle, Kreisel etc.) zu nennen. Diese sind nicht zwingend erforderlich. Jedoch halten sich auch dabei die Kosten gering und können für den Faktor Abwechslung sorgen, der die Motivation zur Regelmäßigkeit des Übens aufrechterhalten kann.

3.6.7 Der Klassiker – Medizinische Trainingstherapie 3.6.7.1 Was ist, was kann die Medizinische Trainingstherapie (MTT)? Die MTT zielt auf die Verbesserung der allgemeinen motorischen Leistungsfähigkeit und den Abbau körperlicher Defizite unter Bedingungen von Pathologien des Bewegungssystems. Dazu werden Kenntnisse aus der Medizin mit Erfahrungen aus der Trainingslehre kombiniert. Die pathologische Fragestellung erfordert meistens ein Anpassen der sportmotorischen Trainingsprinzipien. Die große Vielfalt an Methoden und Materialien ermöglicht eine sehr individuelle Versorgung. Die Materialien umfassen „große Geräte“ für das Krafttraining, Seilzüge, freie Gewichte (Hanteln), Schlingen- oder Suspensionstrainer, große und kleine Gymnastikbälle, instabile Unterlagen (u. a. Kreisel, Matten, Schaukelbretter) und auch Materialien zur Eigenmassage. Aber ebenso ein geräteungebundenes Üben mit Funktionsgymnastik findet seine Anwendung [165]. Die vielen Gestaltungsmöglichkeiten der MTT stellen ein Standardisierungsproblem für die Forschung dar. Der untersuchte Hauptfokus liegt auf dem gerätegebundenen Krafttraining. Meistens kombiniert mit Aufwärmen, Koordinations- und Dehnungsübungen lassen sich signifikante Steigerungen in den konkret trainierten Kraft-, Beweglichkeits-, Gleichgewichts- oder Ausdauerleistungen nachweisen [109, 166]. Im Fitnesstraining ist zwar nicht der hohe Betreuungsschlüssel der MTT gegeben, jedoch liegen sehr ähnliche Trainingsbedingungen vor, welche ein selbstständiges Weiterführen des Trainingsplans über die Zeit der Tagesklinik hinaus ermöglichen. Exkurs „Faszienrolle“: In den letzten Jahren drängen verstärkt Kleingeräte zur Eigenmassage auf den Markt, deren Anwendung stark individuell indiziert ist und somit im Rahmen der MTT einen geeigneten Platz hat. Meist in zylindrischer Form ermöglichen die Geräte durch Rollen unter Druck des eigenen Teilkörpergewichtes eine massageähnliche Eigenintervention. Dies führt zu einer kurzfristigen Verbesserung der Beweglichkeit [167]. Die subjektive Wahrnehmung wird mit einem Gefühl der Entspannung oder „Deblockierung“ beschrieben. Während der Benutzung ist der Patient

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scheinbar sehr aktiv und gefordert, die Rollbewegung selbst zu initiieren. Der Zielbereich der Massage bleibt allerdings passiv. Wenn also z. B. in der BWS ein Streckdefizit vorliegt, bedarf es Übungen, die eine gegenständliche bewusste Extension fordern. Durch die Rollmassage bleibt es aber wahrscheinlich bei der hyperkyphotischen Situation. Insgesamt liefert die Eigenmassage eine gute Vorbereitung für verspannte Bereiche mit einem schlechten Bewegungszugang. Die Bewegungsübungen selbst dürfen aber nicht vergessen werden.

3.6.7.2 Was? – Trainingsinhalte Der Trainingsplan setzt sich aus zwei Kategorien zusammen. Der Basisplan bildet zunächst die Grundstruktur und fördert das Bewegungssystem in der Gesamtheit (Rumpf, Arme, Beine) mit unterschiedlichen Komponenten (Kraft, Beweglichkeit, Koordination). Als präventives Grundlagentraining ist der Basisplan für alle Gruppenteilnehmer gleichermaßen sinnvoll und enthält folgende Elemente: – zehn bis 15 Minuten kardiovaskuläres Aufwärmen mit Ergometern (individuelle Wahl zwischen Fahrrad, Crosstrainer, Rudern oder Laufband), – wirbelsäulenaktives Mobilisieren unter Berücksichtigung aller drei Raumachsen (Paarübungen siehe Abb. 3.17 und 3.18, Einzelübungen siehe Aktivierungsprogramm (Kap. 3.6.6)), – einbeiniges Gleichgewichtstraining mit instabiler oder wackeliger Fläche: Die Gruppensituation setzt eine einfache, gut abgesicherte Anforderung z. B. über Möglichkeiten zum Festhalten oder in der Ecke des Raumes voraus, – moderat gestaltete statische Ganzkörperkoordination z. B. an der Kletterwand (Abb. 3.19), – gerätegebundenes Krafttraining für alle Bewegungsrichtungen der Wirbelsäule (Abb. 3.20 bis 3.23), – Krafttraining der Extremitäten (u. a. „Ruderzug“, „Latzug“, „Beinpresse“), – Abwärmen durch Ergometer oder Entlastungsübungen (Kap. 3.6.6). Die zweite Kategorie beinhaltet die Versorgung individueller Fragestellungen. Diese ergeben sich zum einen aus der Notwendigkeit, Übungen aufgrund von starken Schmerzprovokationen, Umsetzungsproblemen oder bei stark abweichenden Körperproportionen auszutauschen. Zum anderen bringt jeder Patient individuelle motorische Defizite mit. Die Übungsideen können je nach Therapeutenerfahrung aus den unterschiedlichsten Konzepten abgeleitet werden. Die klassischen gerätegebundenen Übungsreihen zur Mobilisation, Kräftigung und Koordination finden sich in den Konzepten der MTT selbst [165, 168]. Dabei werden sämtliche Materialien aufgegriffen.

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(a) Abb. 3.17: Ballerwärmung I: Beugen und Strecken.

Abb. 3.18: Ballerwärmung II: Rumpfdrehung.

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Abb. 3.19: Rotationskontrolle beim wechselseitigen Lösen der Hände an der Kletterwand.

(a) Abb. 3.20: Kraftgerät: Rumpfextension.

(b)

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Abb. 3.21: Kraftgerät: Rumpfflexion.

(a) Abb. 3.22: Kraftgerät: Rumpfrotation am Seilzug.

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(a)

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Abb. 3.23: Kraftgerät: Rumpfseitneigen in der Schrägbank.

Die MCI- und Gymnastikübungen (Kap. 3.6.6) werden bereits in den Gymnastikeinheiten durchgeführt, steigern aber durch eine persönliche defizitorientierte Wiederholung in der MTT ihre Wirksamkeit. Eigenübungen, basierend auf dem „Mulligan“-Konzept, sind sehr effektiv und entsprechen durch den dynamischen Charakter den übergeordneten Therapieprinzipien. Die Voraussetzungen für die Anwendung sind ein sauberer Befund und Indikationen wie Hypomobilität [169]. Die Mobilisation neuraler Strukturen kann ebenfalls eigenverantwortlich durchgeführt werden, benötigt aber zwingend eine fachliche Indikationsstellung, umfangreiche und präzise Anleitung und hochfrequente Nachkontrolle [170]. Das „Therapeutische Klettern“ [171] setzt eine gewisse Erfahrung und Kreativität des Therapeuten voraus. Jedoch bietet es schnell zu vermittelnde Übungen in der oft vorteilhaften geschlossenen Kette. Es trainiert den Körper ganzheitlich, hat aber auch das Potenzial zur Schwerpunktsetzung. Im Vergleich zu gerätegebundenem Krafttraining sind mit Therapeutischem Klettern in der Beweglichkeits- und Kraftsteigerung vergleichbare Ergebnisse zu erzielen. Insbesondere die schwer zu trainierende Rotation um die Longitudinalachse kann sehr gut erreicht werden [172]. Schließlich ist es äußerst nebenwirkungs- und kostenarm. Die sehr breite Auswahl an bewegungsbezogenen Interventionen erfordert ein umfangreiches therapeutisches Können, welches insbesondere an dieser Stelle durch

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eine abgesprochene Aufgabenteilung und Zusammenarbeit der Physio- und Sporttherapeuten realisiert wird.

3.6.7.3 Wie? – Methodik In den vier Wochen der Tagesklinik stehen sechs bis acht MTT-Einheiten zur Verfügung. Die Instruktion des Trainingsplans erfolgt in zwei Phasen. Zunächst absolvieren alle Gruppenteilnehmer gemeinsam den Basisplan. Aufgrund der geringen koordinativen Anforderungen der Übungen sind nach zwei bis drei Einheiten nur noch kleine Hilfestellungen notwendig, und es entstehen mehr Zeitfenster für das Erarbeiten individueller Übungen. Der Korrekturumfang der bekannten Übungen kann sich üblicherweise reduzieren. Das Krafttraining erfolgt mit der Methode der submaximalen Kontraktion von 2-mal 20 Wiederholungen bei einer stufenweise steigenden Intensität von Borg 13 bis 15.

3.6.7.4 Ausdauertraining und Wandertag Interventionen mit Inhalten des Kraft- und Koordinationstrainings scheinen im Vergleich zu kardiorespiratorischen Schwerpunkten signifikant effektiver in der Schmerzreduktion zu sein [173, 174]. In der Prävention von internistischen und kardiologischen Krankheiten ist das Ausdauertraining jedoch ein unabdingbarer Bestandteil des Gesundheitssports und hat im Sinne einer umfassenden Gesundheitsberatung schließlich auch seinen Platz in der MMST. So wird man mit dem Ausdauertraining sicherlich nicht der Problemaktualisierung gerecht, wohl aber der Ressourcenaktivierung (Kap. 3.3). Das Ergometertraining mit einem Zeitfenster von 45 Minuten findet zweimal pro Woche statt. Grundsätzlich stehen wie beim Aufwärmen verschiedene Ergometer zur Verfügung. Der Patient hat die Wahl. Der Therapeut rät zur Abwechslung. Darüber hinaus bringt jedes Ergometer spezielle Eigenschaften mit. (Tab. 3.11) Für den Therapiezeitraum wird eine moderate Intensität von Borg 11 bis 13 angeraten. Die Belastungsdauer wird stufenweise gesteigert. Die organisatorischen Bedingungen erlauben dem Therapeuten eine parallele Erhebung von Fragebögen (Kap. 3.6.2) und eine Beratung zur weiterführenden sportlichen Aktivität (Kap. 3.6.11). In der Mitte des Programms wird ein vollständiger Therapietag durch einen Wandertag ersetzt. Je nach Zusammensetzung wird die Gruppe von einem oder zwei Therapeuten begleitet. Auch wenn während einer derartigen Gruppentätigkeit keine individuelle Belastungssteuerung möglich ist, kann das Anforderungsprofil durchschnittlich in den Bereich des moderaten Ausdauertrainings (Borg 12–13) eingeordnet werden. Das Potenzial der Ausdauerleistungsfähigkeit reicht zu diesem Zeitpunkt in der Regel für zwei bis drei Stunden aus. Die absolvierte Strecke beträgt 6 bis 7 km. Eine häufige Beeinträchtigung stellen gehbedingte Schmerzverstärkungen dar. Die Gehstrecke ist bei Bedarf anzupassen oder über Entlastungspausen zu dosieren. Auch

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Tab. 3.11: Vor- und Nachteile der Ergometer. Ergometerart

Vorteile

Nachteile

Fahrrad

Breite Dosierbarkeit Sehr gute Tolerierbarkeit

Rumpf und obere Extremität statisch Selten Problembezug Limitiert durch Sitzdauer

Laufband

Breite Dosierbarkeit Hoher Alltagsbezug Nethodische Vorbereitung zum Laufen möglich

Gleichgewicht überraschend anspruchsvoll

Crosstrainer

Ganzkörperaktivität mit Betonung der Rumpfrotation um die Longitudinalachse

Hohe Einstiegsbelastung Häufig schmerzprovozierend

Ruderergometer

Ganzkörperaktivität mit Betonung der Rumpfflexion und -extension Symmetrische Beinbelastung

Seltener weiterführbar

das Nordic Walking findet als Variation seinen Platz. Der Wandertag bezweckt die Vermeidung der Stagnation von körperlichen Reizen („Trainingslager“), die Förderung der Gruppendynamik und auch die Ermöglichung der Klärung umfangreicher individueller Fragen.

3.6.7.5 Gleichgewichtstraining Als psychomotorisch-koordinative Fähigkeit reguliert das Gleichgewicht die Körperposition im Raum. Es ist das Ergebnis einer komplexen Zusammenarbeit von Sensorik (propriozeptiv, visuell, vestibulär) und Muskelreflexen. Die Anforderungen an das ausführende Bewegungssystem variieren dabei sehr stark. So erfordern z. B. der einbeinige Stand, das Gehen im Dunkeln, das Stehen in einem fahrenden Bus, das Fahrradfahren oder das Surfen stets eine andere Ausprägung der Gleichgewichtsfähigkeit. In der Therapie gilt es auch wieder, die primär beeinträchtigten Tätigkeiten zu versorgen. Die MTT bietet Materialien in Form von wackeligen oder instabilen Standflächen (u. a. Kreisel, Weichschaummatten, Ballkissen, Trampolin) mit verschiedensten Freiheitsgraden für eine optimale individuelle Versorgung. Das Gleichgewichtstraining ist aber auch in der Gruppensituation der Gymnastikeinheiten sehr praktikabel. Dabei kann es spielerisch verpackt werden. Einen Erlebnischarakter bekommt das Training beim Balancieren auf der Turnbank oder Slackline. Die meisten Gleichgewichtsaufgaben werden im Stand gefordert. Die Koordinationseinheit Bein ist vom Zusammenspiel von Fuß und Hüfte geprägt und von der Einheit Rumpf beeinflusst. Funktionelle Defizite in der Wirbelsäule haben somit auch eine Wirkung auf die Bewältigung von Gleichgewichtsaufgaben. Zur positiven Ent-

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wicklung bedarf es zunächst der wirbelsäulenbezogenen funktionellen Verbesserung und schließlich der Integration in das Gleichgewichtstraining.

3.6.8 Das Unabdingbare – Work Hardening 3.6.8.1 Was ist, was kann Work Hardening? „Work Hardening“ (WH) – in der Kommunikation mit den Patienten wird hauptsächlich von „Alltagstraining“ gesprochen – ist ein hochstrukturiertes, zielorientiertes und individualisiertes Trainingsprogramm zur Rekonditionierung der im Beruf konkret geforderten motorischen Verhaltensfunktionen und zielt damit auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ab [175]. Dieses Zielniveau erfordert stets eine Einbettung in einen multimodalen Handlungsrahmen [176]. In den Trainingsaufgaben werden simulierte oder echte Alltags- oder Arbeitsaktivitäten absolviert. Dabei kommt es zwangsweise auch zur Konfrontation mit beeinträchtigten oder schmerzprovozierenden Bewegungsmustern. Das WH nutzt als einzige bewegungsbezogene Intervention die Problemaktualisierung (Kap. 3.3) auf soziomotorischer Tätigkeitsebene. Wie für viele motorische Therapieformen lassen sich zunächst auch für das WH Verbesserungen in den Komponenten der Leistungsfähigkeit belegen [122, 177, 178]. Ein umfangreiches Review zeigt die Tendenz zur Reduktion von Krankheitstagen bei CRS unter der Voraussetzung des konkreten Arbeitsplatzbezuges [108]. Schließlich betonen die Erfahrungen des GRIP [179] das WH als einen der wenigen Erfolgsparameter, die zu einer Optimierung der Behandlungsergebnisse beitrugen [180]. Als Teil eines multimodalen Programms ist die Wirksamkeit von WH schwer zu beurteilen [181] und auch fraglich notwendig. WH hat das größte Potenzial, die übergeordneten Wirkfaktoren zu unterstützen. Für die Therapeuten birgt es nicht ersetzbare Chancen zur Diagnostik und Beratung. Die Patienten sind in keinem anderen Bereich so gefordert und gefördert. WH ist somit ein unabdingbarer Bestandteil der MMST. Organisatorisch kann das WH in folgende Einheiten unterteilt werden: – Testeinheiten (Eingang und Abschluss), – Trainingseinheiten (Zirkeltraining), – berufsspezifisches Training und Beratung.

3.6.8.2 Die Testeinheiten Die erste und die letzte Einheit des WH weisen einen stark standardisierten Charakter mit dem Potenzial für einen subjektiven und objektiven Prä-post-Vergleich auf. Die sieben Test- und zwei Pausenstationen sind in der Reihenfolge kreisförmig organisiert. Jeder Patient startet an einer anderen Stelle und arbeitet alle Aufgaben in einer festgelegten Reihenfolge ab. Die Stationsdauer beträgt jeweils drei Minuten. Die Dokumentation direkt nach jeder Station beinhaltet:

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Herzfrequenz (gemessen mit einem Brustgurtsystem), Wiederholungszahl, Schmerzintensität: Die Reliabilitäten von NRS (r = 0.963) und VAS (r = 0.937) [182] und deren Korrelation untereinander (r = 0.95) erlauben in der mündlichen Befragung eine praxistauglich freie Wahl zwischen den Skalen (s. a. Kap. 2.3.2), RPE-Zahl (Kap. 3.6.3).

Die Steuerung der Belastungskomponenten durch Bewegungsgeschwindigkeit, Technikvarianz, Pausennutzung bis hin zum Stationsabbruch liegt in der Hand des Patienten. Das heißt, es gibt keine Quotenvorgaben. Der Patient interpretiert die offenen Aufgaben auf der Basis seines Bewältigungsmodells (vermeidend, durchhaltend oder leistungsorientiert). In der konkreten Durchführung wird dies dann für den Therapeuten transparent. Da jedoch ein sehr ausgeprägtes Überforderungsverhalten unter Umständen zusätzliche Beeinträchtigungen für die folgenden Therapietage auslösen kann, ist dem Patienten ein wettkampffernes Herangehen anzuraten. Während Ablauf, Inhalte und Dokumentation der Eingangs- und Abschlusseinheit identisch gestaltet werden, können subjektive Faktoren wie Medikamentenkonsum oder trainingsbedingte Ermüdung des Vortages die Ergebnisse beeinflussen und sind bei der Interpretation zu berücksichtigen. Die Testergebnisse fließen mit in die abschließende (sportmotorische) Beratung ein (Kap. 3.6.11).

3.6.8.3 Die Teststationen An der Steckwand (Abb. 3.24) gilt es, durch wiederholtes Bücken leichte Gegenstände aus einer Kiste zu entnehmen und an einer Wand zu platzieren. Die Kiste wird auf eine individuelle Höhe gestellt, die das Bücken mit gestreckten Kniegelenken ermöglicht. Diese erzwungene Technikvorgabe erlaubt so die Beurteilung des Verhaltens bei einer oft vermiedenen Bewegung. Ohne diese Bedingung würde das Bücken nur zufällig genutzt werden. Die Leistungsdeterminante ist das Bewegungsausmaß der Hüft- und Rumpfbeugung. Auf dem Stepper wird im Wechselschritt auf und ab gestiegen. Die Blickrichtung bleibt gleich. Der Stepper simuliert das Treppensteigen. Als zyklisches Bewegungsmuster ist hierbei eine vorrangige Ausdauerleistung zu erwarten. Jedoch ist die kurze Dauer nicht aussagekräftig genug und ein Einfluss von Kraftanforderung gegeben. Die zervikale PILE (Abb. 3.25) (Kap. 3.6.2) findet an einem Regal mit zwei verstellbaren Einlegebögen statt. Für den Test werden standardisierte Höhen genutzt. Bei Teilnehmern mit sehr kleiner Körpergröße oder starker Beeinträchtigung in der Schulteranteversion kann eine Anpassung zur Durchführbarkeit notwendig sein. Der Retest ist dann identisch durchzuführen. Der mental und körperlich ermüdende Testcharakter der PILE macht im Anschluss eine Pausenstation sinnvoll. Neben erholsam gestaltetem Gehen können Entlastungsübungen im Sitzen oder Liegen angeboten werden (Kap. 3.6.6).

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Abb. 3.24: Bücken und Strecken an der Steckwand.

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Abb. 3.25: PILE (zervikal).

Beim Tragen besteht die Aufgabe darin, einen Kasten mit selbstgewähltem Gewicht und freier Technik über die Stationsdauer hinweg zu transportieren. Um einen Rhythmus beim Gehen aufbauen zu können, ist für den Therapieraum eine Strecke von mindestens 10 m anzubieten.

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Abb. 3.26: PILE (lumbal).

Mit Hilfe einer Malerrolle wird ein Sternmuster an der Wand nachgezeichnet. Der Patient entscheidet über das Bewegungsausmaß. Dabei werden sehr verschiedene Bewegungsmuster des Rumpfes und der oberen Extremität abgerufen. Das standardisierte Zeitfenster für die Messung des FBA (Kap. 3.6.2) liegt direkt vor der lumbalen PILE. Die lumbale PILE (Abb. 3.26) (Kap. 3.6.2) wird an einem zweiten Regal mit entsprechender Höhe des Einlegebodens durchgeführt. Jeweils nach einer PILE hat der Patient eine Station Pause. Auch nach der lumbalen PILE findet eine Pausenstation statt. An der Sprossenwand gilt es, wiederholend seitlich aufwärts, quer und wieder seitlich abwärts zu steigen. Diese Aufgabe ist eine Basistechnik beim Klettern, bedient somit eine anthropologische Grundbewegung und fördert motorische Grundfunktionen wie z. B. das diagonale Muskelsystem (Kap. 3.6.7). Der zyklische Charakter lässt eine Parallelität zum Treppensteigen zu. Jedoch wird an der Sprossenwand der gesamte Körper, insbesondere die obere Extremität, gefordert. Die Belastung liegt oft im submaximalen Bereich, so dass Pausen notwendig sein können. Als so genanntes „Stair Climbing“ hat das Klettern einen etablierten Platz in der sportmedizinischen Ergometrie und im Fitnesstraining.

3.6.8.4 Die Trainingseinheiten – Zirkeltraining Die Grundanforderungen für die Trainings- bzw. Arbeitsstationen lauten [181]: – Konfrontation mit Basistätigkeiten wie Bücken, Heben, Tragen, Gehen, Stehen, Sitzen, Über-Schulter-Arbeiten, Handaktivität,

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festgelegte Arbeitsausführungen und klare Arbeitsbeschreibung, die Leistung ist definiert und quantifizierbar (z. B. Menge, Zeit, Arbeitshöhen).

In den Trainingseinheiten bleibt die Struktur des Testparcours grundsätzlich erhalten. Jedoch werden alle Stationen im Laufe der Einheiten an die individuellen Zielstellungen angepasst. Die Hebetests werden durch Übungen ersetzt, die über drei Minuten toleriert werden können. Auch die anschließenden Pausen sind dann durch Bewegungsaufgaben ersetzbar. In Abhängigkeit von den persönlichen Zielstellungen, beruflichen Anforderungen, subjektiven Beeinträchtigungen, motorischen Defiziten und dem Programmverlauf ist der Trainingsparcours sehr unterschiedlich zu gestalten. An dieser Stelle seien einige Beispiele genannt: Steckwand: Die Aufgabe des Bückens mit gestreckten Beinen bleibt bestehen. Die Anpassungen werden dann den Veränderungen des Bewegungsausmaßes im Beugen (Abb. 3.27) und der Überkopfarbeit gerecht. Die Station kann auch mit dem Rücken zur Wand, im Sitzen oder im Stehen auf instabilen Flächen gestaltet werden.

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Abb. 3.27: Höhenanpassung an die individuelle Beweglichkeit beim Bücken.

Stepper: Die Grundaufgabe ist bereits ein wichtiges Element und kann für eine ganzheitliche Konditionierung beibehalten werden. Variationsmöglichkeiten sind durch Höhenverstellungen, Schrittkombinationen, labile Flächen oder zusätzliche Trageaufgaben gegeben. Regal: Die zervikale PILE wird durch Handlungen ersetzt, bei denen Gegenstände zwischen Flächen unterschiedlicher Höhe umgepackt werden. Ein zusätzlicher Stapel aus Steppern als Ablagefläche erfordert ein dreidimensionales Bewegen. (Abb. 3.28)

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Abb. 3.28: Komplexes Bücken und Heben.

Diese Station kann methodisch bis hin zum schweren Heben mit Körperdrehungen, z. B. auch zum Patiententransfer, ausgebaut werden. Einfädeln: Die ursprüngliche Pausenstation nach der zervikalen PILE kann durch das so genannte Einfädeln ersetzt werden. Dabei handelt es sich um eine feinmotorische Aufgabe in einer definierten Höhe. Je nach Zielstellung kann diese eine Oberkörpervorneige (Haushaltstätigkeit) oder eine Überkopfarbeit (KFZ-Reparatur) erzwingen. Aber auch Arbeiten in der Rückenlage (z. B. Schachtarbeiten, Abb. 3.29) oder Sitzen (Schreibtisch) sind möglich. Derartige statische Zwangshaltungen erfordern nicht nur die Kontrolle einer ökonomischen Haltung, sondern auch das Potenzial zum Variieren dieser. Schließlich kann ein Dosierungsverhalten durch Pausen ausprobiert und antrainiert werden. Tragen, Schieben und Ziehen: Das Transportieren von Lasten ist ebenfalls eine elementare Alltagsaufgabe. Neben Haltungskorrekturen sind Gewichtsanpassungen, verschiedene Gegenstände oder Tragevarianten anzubieten. Da für diese Station eine gewisse Gehstrecke erforderlich ist, kann an dieser Station auch eine Aufgabe zum Schieben und Ziehen (Abb. 3.30) gestellt werden. Der Materialaufwand ist dazu etwas größer, aber inhaltlich sehr wertvoll. Die berufsspezifische Anwendung findet sich in Pflege- oder Lagerberufen. Malerrolle: An dieser Station liegt der Schwerpunkt in der Beweglichkeit. Dabei kann durch die Ausgangsstellung (frontal oder seitlich zur Wand) und Richtungsvorgabe ein konkreter Körperabschnitt gefordert werden. Die Wiederholungszahl ist dabei in hohem Umfang tolerierbar und ermöglicht die Verbesserung der Bewegungsharmonie. (Abb. 3.31)

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Abb. 3.29: Statische Arbeit in Rückenlage.

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Abb. 3.30: Simulation Schieben und Ziehen.

Heben: Das Heben schwerer Gegenstände ist eine oft verunsichernde und meist umstrittene Tätigkeit hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen auf körperliche Strukturen. So findet sich bei Gewichthebern im Leistungsbereich eine vermehrte Degeneration der gesamten Wirbelsäule bei gleichzeitig weniger häufigen Rückenschmerzen im Vergleich zu Nichtsportlern [183]. Ein Transfer dieser Erkenntnis auf das alltägliche Heben ist vor dem Hintergrund u. a. von Umfang, Intensität und Technikvarianz zu diskutieren. Grundsätzlich ist es ein realistisches Ziel, die Belastbarkeit für notwendige Hebeaufgaben über Training zu erreichen. Ein Weg dahin liegt im differenziellen Üben verschiedener Hebetechniken: – Beinbetonte Technik (Abb. 3.32): Die Hubarbeit wird hauptsächlich durch eine Bewegung in den Sprung-, Knie- und Hüftgelenken geleistet. – Rumpfbetonte Technik (Abb. 3.33): Die Hubarbeit wird hauptsächlich durch eine Hüft- und Rumpfbewegung geleistet. – Kombinationstechnik (Abb. 3.34): Die Hubarbeit wird auf den gesamten Körper verteilt.

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Abb. 3.31: Beweglichkeitstraining mit der Malerrolle.

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Abb. 3.32: Beinbetonte Hebetechnik – WS gestreckt oder gebeugt.

Diese Grundmuster finden im Alltag jeweils noch einmal in Abhängigkeit von internen und externen Faktoren (Kap. 3.6.10) mit zahlreichen Variationen statt. So ist jede Technik auch mit gestreckter oder gebeugter Wirbelsäule möglich und erlaubt. Die optimale biomechanische, ergonomische und bewegungsökonomische Technik ist immer individuell, situationsadäquat, anforderungsgerecht und belastbarkeitsabhängig. Erfahrung, Körpergefühl und Wahrnehmungsfähigkeit sind weitere erfolgsbestimmende Faktoren für eine bewusste Durchführung auch

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Abb. 3.33: Rumpfbetonte Hebetechnik – WS gestreckt oder gebeugt.

von dreidimensional und quantitativ fordernden Aufgaben. So setzt ein schweres Heben von unhandlichen Gegenständen eine hohe Koordinationsleistung und somit auch mehr Wahrnehmung voraus. Stresserzeugende Umstände können die Handlungsfähigkeit einschränken. Neben der ursprünglichen Hebetestaufgabe können Varianten in der Abstellhöhe oder über Zwangsbewegungen genutzt werden. Das Trainingsgewicht für die erste Einheit kann in der Regel bei 50 % des Testgewichts angesetzt werden.

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Abb. 3.34: Kombinierte Hebetechnik – WS gestreckt oder gebeugt.

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Gehen: Das Gehen ist eine der häufigsten Tätigkeitsformen im Alltag und erfolgt weitgehend unbewusst. Eine bewusste Wahrnehmung und Steuerung derartig komplexer Bewegungsabläufe sind ohnehin nur zeitweise und in Teilen realisierbar und notwendig. Exkurs Gangschulung: Gehen ist eine zyklische Bewegungsform mit einem hohen Grad an komplexen und unbewussten Abläufen. Hier seien nur ein paar Elemente genannt: Der Hirnstamm organisiert die aufrechte Körperstellung im Raum über Haltungs- und Stellreflexe. Sogenannte Funktionsgeneratoren (Klein- und Zwischenhirn, Basalganglien) generieren die rhythmischen Bewegungen von Synergisten über reziproke Hemmung oder Kokontraktion. Als Endstrecke bedarf es schließlich koordinierter muskulärer Aktivitäten aus Impulszentren wie Vorfuß und Becken in der Abstoßphase. Sämtliche Prozesse unterliegen dem Regelkreisprinzip. Eine praktizierbare Ganganalyse und -schulung berücksichtigt diese Komplexität und die eingeschränkte Beeinflussbarkeit des vorrangig unbewusst ablaufenden Musters. Korrigierende Anweisungen sind knapp und klar formuliert, beschränken sich zunächst auf eine Körperseite, auf einen Zeitpunkt einer Gangphase und umfassen meistens lediglich Impulsaufgaben. Beschwerden beim Gehen stellen eine große Beeinträchtigung dar. Koordinative Verbesserungen können eine gute Wirkung zeigen. Der notwendige Übungsumfang ist sehr hoch. Die in der Gangschulung erarbeiteten Metaphern lassen sich sehr gut in den Alltag integrieren, können als „Hausaufgabe“ mitgegeben werden und erhöhen so nebenbei den Übungsumfang. Im Rahmen des WH können auch weitere Fragestellungen eingebaut werden: – dynamisches Gleichgewicht durch Balancieren auf einem niedrigen Balken, – Gesamtaufrichtung (Autoelongation) durch Tragen eines Sandsacks auf dem Kopf, – Vermitteln von sportlicher Tätigkeit in Form von Nordic Walking. Sprossenwand: Eine Kletterbewegung findet sich im Alltag meistens beim Leiterund Gerüststeigen. Die Sprossenwand kann aber auch zur Vorbereitung von Schiebeund Ziehtätigkeiten genutzt werden. Schließlich ist diese Station in den Trainingseinheiten inhaltlich offen. So können ebenso individuelle Fragestellungen (z. B. BWS-Mobilisation) ohne direkten alltagsmotorischen Bezug versorgt werden.

3.6.8.5 Berufsspezifisches Training Jede konkrete sportliche oder berufliche Tätigkeit hat ihr spezifisches psychomotorisches Anforderungsprofil. Die psychischen und motorischen Grundfunktionen der Leistungsfähigkeit werden zur Bewältigung dieser Aufgaben konkret ausgeprägt. Sind die entsprechenden Potenziale dekonditioniert, bedarf es zur Wiederherstellung zunächst einer allgemeinen Grundkonditionierung und schließlich eines spezifischen Trainings. Das gilt nicht nur für den Sport, sondern auch für berufliche Handlungen,

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insbesondere mit körperlich höherer Anstrengung. Der Tischler wird im allgemeinen Trainingsparcours durch Heben und Tragen bereits eine gewisse Ähnlichkeit mit beruflichen Teilanforderungen finden, jedoch sind zusätzlich sperrigere Gegenstände (Türblätter) zu bewältigen und erfordern variabel ausgeprägte Hebe- und Tragetechniken. Das berufsspezifische Training im WH greift sehr spezifische individuelle Anforderungen auf. Die dabei notwendigen Beratungen und Zeitfenster lösen dann die Struktur des Zirkeltrainings auf. Dies erfordert eine vorherige Absprache (s. Motorikteam, Kap. 3.8.1) und eine gute Organisation der Therapeuten. Je mehr die Arbeitssimulation der Wirklichkeit entspricht, umso effektiver ist sie für die Problemaktualisierung (Kap. 3.3). Der Spezifitätsgrad hängt von einigen Faktoren ab: Mitarbeit des Patienten, Kreativität des Therapeuten, Materialien, Räumlichkeit.

Frauke Dölp 3.6.9 Nur ein Spaßfaktor? – Von großen und kleinen Spielen 3.6.9.1 Zum Spiel im Allgemeinen In den meisten industriellen Gesellschaften werden spielerische Tätigkeiten nicht mit Arbeit, sondern mit Freizeit verbunden. Spielen hat einen zwanglosen Charakter und dient in erster Linie dem Zeitvertreib, der Zerstreuung und der Entspannung des Menschen. Gleichwohl kann Spielen auch als berufliche Tätigkeit ausgeübt werden und Einnahmequelle sein, etwa im Profisport, beim Theaterspiel oder beim Spielen eines Instruments. Das Spielen ist eines der Grundbedürfnisse des Menschen – Neugier und Lust zum Spielen gelten als angeboren und werden entwicklungspsychologisch als die Haupttriebkräfte der frühkindlichen Selbstfindung und späteren Sozialisation angesehen. Nicht zuletzt findet ein Großteil der kognitiven und motorischen Entwicklung beim Kind durch Spielen statt. Und selbst wenn Kinder im Allgemeinen eher als Erwachsene zum Spielen animiert werden können und Spiele vor allem im schulischen Bereich als Mittel zur Erziehung eingesetzt werden, so hat doch das (Bewegungs-)Spiel aufgrund seines Zerstreuungs- und Erholungseffekts auch im Bereich der Multimodalen Schmerztherapie einen wichtigen Stellenwert erhalten. Der Begriff des Spiels ist vielschichtig, demnach gibt es weder eine bestimmte Spieldefinition noch eine allgemeingültige Klassifizierung von Spielen. Eine mögliche Einteilung der Spiele ist beispielsweise folgende [184]: – das Regelspiel (Brett-, Karten- oder Sportspiel), – das Rollenspiel (Theaterschauspiel), – das Objektspiel (Jo-Jo, Diabolo).

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3.6.9.2 Kleine Spiele und Bewegungsspiele in der Multimodalen Schmerztherapie Innerhalb der bewegungsbezogenen Interventionen der MMST wird den Bewegungsspielen eine besondere Bedeutung beigemessen. Hier sei in erster Linie der Bereich der so genannten Kleinen Spiele zu nennen. Kleine Spiele zeichnen sich durch einfache Bewegungsformen mit geringen Anforderungen an motorische Fertigkeiten wie Laufen, Hüpfen, Springen, Werfen sowie Fangen aus. Zumeist gibt es einfache Spielregeln, unkomplizierte Handlungsabläufe und einen nur geringen organisatorischen Aufwand. Auf diese Weise können Kleine Spiele in der Regel spontan zu Beginn im Rahmen der Erwärmung, am Ende für die Entspannung oder auch mitten in der Kursstunde zur Auflockerung eines Themas eingeflochten werden. Bisweilen haben Kleine Spiele Wettkampfcharakter, zumeist stehen aber Freude an der Bewegung, Entspannung, Kommunikation und Kooperation im Vordergrund. Dementsprechend grenzen sich die Kleinen Spiele auch von den großen Sportspielen ab, die oft auf einem komplexen Regelwerk aufbauen und bei denen es letztendlich um Sieg oder Niederlage geht. Kleine Spiele lassen sich je nach Aufgaben- und Zielstellung in folgende Gruppen einteilen [185]: – Kennenlernspiele, – Laufspiele, – Wahrnehmungsspiele, – Kreativspiele zum Thema „Haltung“, – Kooperativspiele, – Koordinationsspiele, – Staffelspiele, – Bewegungsspiele mit Kleingeräten.

3.6.9.3 Bedeutung der Kleinen Spiele für chronische Rückenschmerzpatienten Die oben genannten Charaktereigenschaften der Kleinen Spiele erlauben gerade Rückenschmerzpatienten, während des Spiels die genormten Bewegungsmuster zu verlassen, um sich spielerisch ein natürliches Bewegungsverhalten anzueignen und somit Bewegungsfreude zu erlangen. So dienen die Kleinen Spiele zwar zunächst als methodische Unterstützung, beispielsweise um Körper- und Selbstwahrnehmung zu fördern, um Spielfähigkeit zu entwickeln, um Alltagsbewegungen zu ökonomisieren oder um Stabilisationsfähigkeit, Ausdauer und Koordination zu verbessern. Ihr Einsatz trägt aber auch dazu bei – und das ist das Entscheidende –, Bewegungsängste abzubauen, Selbstvertrauen zu stärken, vom Schmerz abzulenken, die Stimmung zu verbessern und eine positive Gruppendynamik zu schaffen. Im freudvollen Spielen können Rückenschmerzpatienten quasi nebenbei gegenwartsbezogen lachen, Spaß haben und somit ihre Genussfähigkeit verbessern, ihre Rückenschmerzen vorübergehend vergessen, spüren, dass ihnen Bewegung nicht schadet, ihren Körper auf andere Weise wahrnehmen, kooperativ Aufgaben lösen, Fantasie und Kreativität

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erfahren sowie realisieren, dass nicht mehr geglaubte Bewegungen oder Leistungen möglich sind [185].

3.6.9.4 Schnittstelle Sportberatung In diesem Zusammenhang kann es beispielsweise für diejenigen Patienten, die in der Vergangenheit regelmäßig Spielsport getrieben und „ihre“ Sportart unter Umständen schmerzbedingt aufgegeben haben, entscheidend sein zu erfahren, dass die einmal im Spielsport erworbenen Fertigkeiten des Springens, Werfens oder Fangens wider Erwarten durchaus noch abgerufen werden können. Aufgabe der Bewegungstherapeuten ist es nun, den betreffenden Patienten diese positiven Bewegungserlebnisse zu spiegeln und ihnen Anregungen zu geben, wie sie ihre aktuellen Fertigkeiten ausbauen können und welche Ausgleichsaktivitäten sie dafür brauchen. Das Aufzeigen dieser Perspektiven wirkt oft ungemein motivierend und sorgt im Idealfall dafür, dass die betreffenden Patienten im Rahmen ihres zukünftigen Trainings die bereits vorhandenen Fertigkeiten und Fähigkeiten verbessern, um sich schließlich den komplexen Anforderungen der Sportspiele stellen zu können und zur gewünschten Ballsportart zurückzufinden.

3.6.9.5 Voraussetzungen und Schwierigkeiten Das Angebot an Kleinen Spielen in der Literatur ist geradezu überbordend. Nichtsdestotrotz eignen sich nicht alle Spielformen für die Therapie von chronischen Rückenschmerzpatienten, so dass bei der Planung gewisse Auswahlkriterien beachtet werden sollten. So bestimmen beispielsweise Gruppenstärke und aktueller körperlicher Leistungszustand der jeweiligen Patienten das Angebot an möglichen Spielformen. Dementsprechend sollten die Spiele hinsichtlich einer möglichen Überforderung oder Verletzungsgefahr im Vorfeld bewertet werden. Des Weiteren limitieren die Beschaffenheit der Räumlichkeiten und das Materialangebot die Auswahl der für die Therapie geeigneten Spiele. Viele Materialien wie Bierdeckel, Luftballons, Tischtennisbälle, Tücher oder Zeitungspapier sind jedoch günstig und einfach in der Anschaffung und machen nicht zuletzt die Bewegungsspiele abwechslungsreicher und interessanter. Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt, den es bei der erfolgreichen Durchführung von Bewegungsspielen mit Rückenschmerzpatienten zu erwähnen gilt. Denn nicht selten trifft man als Gruppenleiter auf das Phänomen einer gewissen Scheu seitens der Patienten, wenn es um die Darstellung des eigenen Körpers oder um die direkte Kontaktaufnahme mit dem Körper der anderen Gruppenteilnehmer geht. Spielsituationen können prekär sein, weil der einzelne Teilnehmer immer der sozialen Kontrolle, dem Erwartungsdruck und schließlich der Bewertung durch die Gesamtgruppe ausgesetzt ist [184]. Vor allem weil viele Erwachsene den Wert des Spielens geringschätzen und Spielen als kindisch erachten, fühlen sich Patienten mitunter bloßge-

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stellt oder empfinden den durch den Gruppenleiter auferlegten plötzlichen Zwang zum Spielen und zur Ausgelassenheit als Zumutung. Der jeweilige Therapeut sollte angesichts dieser Problematik fähig sein, durch eine den Bedürfnissen der Gruppe angepasste Spielauswahl, genügend Einfühlungsvermögen und Flexibilität eine Atmosphäre des Vertrauens innerhalb der Stunde zu schaffen. Spielerfahrung und Beobachtungsgabe erlauben es ihm, bei Problemen lenkend einzugreifen, gegebenenfalls eine Variante des Spiels anzubieten oder eben dieses Spiel durch ein anderes zu ersetzen. Patienten, die am Spiel nicht teilnehmen wollen, sollten sich zurückziehen können. Nicht zuletzt sollte der Therapeut selbst gerne spielen. So ist er am ehesten in der Lage, Patientengruppen für die Durchführung von Bewegungsspielen zu gewinnen.

3.6.9.6 Ein Praxisbeispiel An dieser Stelle soll nun das Spiel Tunnelball vorgestellt werden. Es lässt sich bezüglich der „Zumutungen“ für die Gruppe erfahrungsgemäß so gut dosieren, dass es den meisten Teilnehmern gleichermaßen akzeptabel erscheint und obendrein noch Spaß macht. Bei diesem Spiel stellen sich alle Teilnehmer mit etwas Abstand zueinander in einen Innenstirnkreis. Dabei werden die Beine so weit auseinandergegrätscht, bis die eigenen Füße die des rechts und links stehenden Nachbarn berühren. Die Teilnehmer beugen sich nun nach vorne und falten ihre Hände. Jetzt gilt es, einen vom Gruppenleiter in die Kreismitte geworfenen Schaumstoffball mit den gefalteten Händen durch die Beine der anderen Mitspieler zu schießen. Gelingt dies, bekommt man einen Punkt. Zunächst einmal trägt der Spielaufbau dem Sicherheitsbedürfnis der Teilnehmer Rechnung: Man fühlt sich im Kreis ganz gut aufgehoben und ist nicht als Einzelner, der womöglich gegen alle anderen antreten muss, in einer exponierten Stellung. Meistens gewinnt dieses Spiel schnell an Fahrt, zumal der Ball, der ohnehin einen hohen Aufforderungscharakter aufweist, in der Regel von jedem Teilnehmer gerne ins „gegnerische Tor“ geschossen werden möchte. Das Risiko, sich als derjenige lächerlich zu machen, durch dessen Beine der Ball rollt, bleibt gering, denn dafür geht das Spiel einfach zu schnell weiter. Bei Bedarf lässt sich das Spiel ohne weiteres durch den Einbau konkurrenzorientierter Regeln reizvoller gestalten: Durch wessen Beine der Ball rollt, dessen eine Hand kommt auf den Rücken. Bei Wiederholung wird das gefallene Tor dadurch sanktioniert, dass sich der Teilnehmer rücklings zur Kreismitte drehen muss. Fängt er sich schließlich ein drittes Tor ein, muss er ausscheiden. Übrig bleiben somit diejenigen, die am reaktionsstärksten waren. Dass sich die Teilnehmer auf diese Weise über längere Zeit in Oberkörpervorneige gehalten und den Spielregeln folgend schnelle Arm- und Rumpfbewegungen durchgeführt haben, wird den meisten schließlich erst hinterher bewusst. Eine sehr umfangreiche Sammlung von Spielideen hat Aehnelt [186] zusammengestellt.

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3.6.10 Beratung für den Alltag – Rückenschule und Ergonomie 3.6.10.1 Von der Klassischen zur Neuen Rückenschule Die Rückenschule ist seit Mitte der 80er Jahre das am häufigsten angebotene und bekannteste Programm zur Prävention von Rückenschmerzen. Sie zielt darauf ab, den Menschen zu einem eigenverantwortlichen gesundheitsbewussten Handeln hinzuführen und ihn damit zu befähigen, seine (Rücken-)Gesundheit, sein Wohlbefinden und seine Lebensqualität zu verbessern. Zu Beginn lag der Schwerpunkt eines Rückenschulkurses vor allem darin, bei den Teilnehmern Verhaltensmuster zu verändern, um für die Wirbelsäule Entlastung zu schaffen. Speziell ausgebildete Rückenschullehrer informierten im Rahmen von Vorträgen über Anatomie und Physiologie des Rumpfes und seiner Strukturen, über vermeintlich wirbelsäulenbelastende und wirbelsäulenschonende Bewegungen sowie biomechanische Wirkungsfaktoren. Man bediente sich dabei des biomedizinischen Modells, mit dessen Hilfe Kausalzusammenhänge zwischen bestimmten Bewegungsmustern und Wirbelsäulenschädigungen wie beispielsweise Bandscheibenvorfällen erklärt wurden. Das Modell der Klassischen Rückenschule ist in den letzten Jahren aus mehreren Gründen in die Kritik geraten. Neben dem Vorwurf, es fehlten wissenschaftliche Beweise für eine Wirksamkeit der Rückenschule, waren es vor allem die „Falsch-RichtigDichotomie“, das mechanistische Erklärungsmodell von Rückenschmerzen sowie die Risiko- und Defizitorientierung, die als nicht mehr zeitgemäß erachtet wurden. Neue Erkenntnisse über die Chronifizierung von Rückenschmerzen machten dementsprechend eine Überarbeitung der vorhandenen Rückenschulprogramme notwendig. So schlossen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts viele der Anbieter von Rückenschulprogrammen zu einer „Konföderation der deutschen Rückenschulen“ (KddR) zusammen, um neue Inhalte festzulegen und zu evaluieren. Es entstand die so genannte Neue Rückenschule, deren Richtlinien nunmehr von den Krankenkassen akzeptiert wurden [187]. Innerhalb der Neuen Rückenschule unterscheidet man zwischen der Präventiven und der Therapeutischen Rückenschule. Der Interventionsansatz der Präventiven Rückenschule erfolgt im Rahmen von Rückenschulkursen, die in erster Linie auf den Menschen und sein Verhalten ausgerichtet sind und die individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten einer gesunden, Störungen und Erkrankungen vorbeugenden Lebensführung aufzeigen. Der Interventionsansatz der Therapeutischen Rückenschule – welche in konservative oder operative Maßnahmen integriert ist – zielt auf ein verbessertes Krankheitsselbstmanagement, auf die Reduzierung von Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen sowie auf die Erhöhung der Lebensqualität ab. Trotz dieser Bestrebungen zur Systematisierung scheint es der Rückenschule als Intervention für die Forschung noch an Standardisierung zu mangeln. Zumindest sind die Studien inhaltlich sehr heterogen und von mäßiger Qualität. Vor diesem Hintergrund verwundern die widersprüchlichen Ergebnisse nicht. Für die Evidenzforschung

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lassen sich folgende Erfolgskriterien zur kurz- und mittelfristigen Schmerzreduktion, zur Funktionsverbesserung und zum Return to Work durch die Rückenschule bei rezidivierenden und chronischen nichtspezifischen Rückenschmerzen benennen: [26, 188, 189] – biopsychosoziales Grundkonzept, – Einbettung in die MMST, – Integration in ein berufsbezogenes Setting (wie z. B. Work Hardening), – Kombination mit intensiven Übungen und Schmerzedukation (Kap. 3.5). Eine langfristige Nachhaltigkeit kann durch gymnastische Varianten (z. B. Pilates, [190]) erfolgen, wobei hier die Aktivität der Wirbelsäule im Vordergrund stehen muss (Kap. 3.6.3 und Kap. 3.6.6) [191].

3.6.10.2 Die Rückenschule in der MMST In der Multimodalen Schmerztherapie ist die Rückenschule im Rahmen von Gymnastikeinheiten organisiert. Hier soll über Körperwahrnehmung sowie Haltungsund Bewegungsschulung eine Sensibilisierung für haltungs- und bewegungsförderliche Verhältnisse erreicht werden, und zwar konkret in den alltagsmotorischen Bereichen Sitzen, Stehen, Gehen, Bücken, Heben, Tragen, Ziehen und Schieben. Zentral ist dabei die Reduktion des angstbedingten Vermeidungsverhaltens. Schließlich können Rückenschmerzen sämtliche körperliche Tätigkeiten beeinträchtigen und somit die Lebensqualität verringern. Viele Patienten, die am multimodalen Schmerztherapieprogramm teilnehmen, haben bereits in mehreren erfolglosen Therapieversuchen kontroverse Konzepte kennengelernt und sind – insbesondere in klassischen Rückenschulkursen – durch Schonungsempfehlungen, Sport- oder Tätigkeitsverbote verunsichert worden. Daraus resultieren nicht selten Bewegungsangst und -vermeidung. Bei der Behandlung der typischen „Rückenschulthemen“ wie Heben, Tragen und Bücken greifen die eingespielten Sport- und Physiotherapeuten die ihnen bekannten Inhalte (z. B. funktionelle Anatomie, „Schmerzen verstehen“) aus den ärztlichen und psychologischen Einheiten nun bewusst auf, um bei den Patienten eine Reduktion des Angst-Vermeidungs-Verhaltens zu erreichen. Es erfolgt dementsprechend eine Bewegungsberatung, bei der die Motortherapeuten mit eher induktiven Methoden biomechanische Erkenntnisse und trainingswissenschaftliche Erfahrungen vermitteln, diese in Bezug zu medizinischem Basiswissen und zu verhaltenstherapeutischen Grundlagen setzen, während die Patienten in erster Linie Bewegungen ausprobieren, vergleichen, reflektieren und schließlich üben. Folgende übergreifende Prinzipien zur Bewältigung alltäglicher motorischer Handlungen sind zu vermitteln: Abhängigkeit von internen Faktoren: Je nach Trainingszustand, schmerzbedingter Beeinträchtigung sowie psychischer Prädisposition gestalten sich die Bewegungsmuster unterschiedlich. Somit ist eine grundsätzliche Wertung der Bewegungs-

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ausführungen in richtig oder falsch obsolet. Vielmehr können die verschiedenen Bewegungsmuster auch als individuelle Bewegungslösungen betrachtet werden und sorgen für Abwechslung. Abhängigkeit von externen Faktoren: In der Alltagswirklichkeit machen die verschiedenen äußeren Verhältnisse eine ökonomische Bewegungsausführung oft unmöglich. Dazu gehören Zwangssituationen wie das Heben hoher Gewichte, eine ungünstige Lastenverteilung, hohe Umfänge, schlechter Untergrund oder auch Zeitdruck. Dementsprechend situationsangepasst und individuell ist die Wahl der Technik. Auch die Möglichkeit der Teamarbeit ist zu bedenken. Entdogmatisierung: Die Vielzahl interner und externer Faktoren macht die häufig angewendete Kategorisierung in richtiges oder falsches Bewegen unmöglich. Das Beherrschen von Technikvarianten ist unabdingbar für ein anforderungsgerechtes, situationsadäquates und individuelles Lösen von Alltags- und Arbeitsbedingungen. Die Notwendigkeit einer Dogmatisierung von Bewegung ist nicht belegt. Belastbarkeitssteigerung durch Training (Kap. 3.6.1): Die Trainingswissenschaft kennt viele Prinzipien zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit. Diese Methoden verbessern nicht nur die sportliche Kompetenz. Auch die schmerzbedingten motorischen Defizite können reduziert werden. Ein adäquater Trainingszustand ist die Voraussetzung für eine gute Belastbarkeit im Alltag. Umgekehrt bietet der Alltag selbst mit seinen Adaptationsreizen in Form von unbequemen Situationen genügend Trainingsmöglichkeiten. Nicht zuletzt erhöht ein guter Trainingszustand das motorische Potenzial, Zwangsbelastungen jenseits der Ökonomie zu kompensieren. Wechsel von Belastung und Entlastung: Muss eine bestimmte Tätigkeit im Alltag besonders oft wiederholt oder über einen langen Zeitraum gehalten werden, rückt die Dosierung oder Abwechslung in den Vordergrund. Über den Einbau von Positionsveränderungen oder kurzen Entlastungspausen wird der gewünschte Ausgleich erreicht. Widerlegung der Kausalität von Schmerzerleben, körperlicher Belastung und Degeneration: Abnutzungserscheinungen sind auch ohne Schmerzerleben möglich und ebenso bei Berufen mit geringer körperlicher Belastung gegeben. Im Gegensatz dazu können Schmerzen gleichfalls bei geringen körperlichen Belastungen auftreten und korrelieren selten mit einer diagnostizierbaren körperlichen Schädigung. Schließlich kann die Durchführung von Bewegungen trotz Schmerzassoziationen zu positiven Erfahrungen (Problemaktualisierung) führen und somit Bewegungsangst reduzieren.

3.6.10.3 Konkrete Handlungsanweisungen für den Alltag Bücken und Heben In Abhängigkeit von den äußeren (Lastvolumen, Griffigkeit, Gewicht, Lastverteilung, Arbeitsumgebung, Kleidung) und inneren (körperliche Eignung, Trainingszustand, Kenntnisse, Vorerfahrungen) Gegebenheiten werden verschiedene Bück- und Hebe-

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varianten angeboten und getestet. Sie gelten als Orientierung und müssen aufgrund der individuellen Eigenschaften der Person und der Umgebungsbedingungen abgewandelt werden: – mit vermehrt flektierter Wirbelsäule, flektierten Hüftgelenken und gestreckten Kniegelenken, – mit der Wirbelsäule in Neutralposition, flektierten Hüftgelenken und flektierten Kniegelenken, mit dem Einsatz der tiefen segmentalen sowie der stabilisierenden globalen Rumpfmuskulatur sowie mit Berücksichtigung möglichst günstiger Hebelverhältnisse, – Mischformen mit Ausfallschritt, mehr oder weniger Oberkörpervorneige oder Kniegelenksbeugung, mehr oder weniger Seitneige oder Rotation sowie aus dem Kniestand sind Alternativen, wenn beispielsweise durch Komorbiditäten wie bei einer Kniegelenksarthrose das tiefe Beugen nicht möglich ist oder bei schmerzhaften Wirbelgelenksstörungen die Neutralposition eher Schmerzen provoziert. Gleichwohl ist eine Vermeidung der Wirbelsäulenflexion aufgrund von Rückenschmerzen häufig selbst beim Heben leichter Gegenstände zu beobachten. Hier gilt es, den Betroffenen aufzuzeigen, dass diese beinbetonte Hebetechnik (s. a. Kap. 3.6.8) zwar kurzfristig als optimale Lösung anzusehen ist. Mittel- und langfristig sollte jedoch durch die rasche Wiederaufnahme der Beugung beim Heben die Flexionsfähigkeit und somit die Möglichkeit, variantenreich zu heben, erhalten bleiben.

Oberkörpervorneige – Steter Wechsel von Neutralposition und gebeugtem Oberkörper zur Entlastung der für die Haltearbeit verantwortlichen Muskulatur, – Durchführen von kurzen Pausen durch komplettes Aufrichten des Oberkörpers, – Positionswechsel über das Einnehmen der Schrittstellung oder die Veränderung der Beckenstellung.

Tragen – Steter Wechsel der verschiedenen Tragemöglichkeiten: einarmig, beidarmig, mit Abstützen auf die eigenen Körperpartien wie Beckenkamm (Hosenbund/Gürtel) oder Oberschenkel, – Unterbrechung des Tragevorgangs durch kurze Pausen bei weiten Wegen, – ökonomische Verteilung der Last.

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Sitzen – konsequentes Einhalten des dynamischen Sitzens mit ständigem Wechsel der Sitzposition sowie der Haltungsänderung von Becken, Wirbelsäulenabschnitten, Schulterblättern und Beinen, – steter Wechsel von entspanntem Sitzen unter Nutzung der Rücken- und Armlehnen und aktivem, lehnenfreien Sitzen mit erhöhter Körperspannung, – Nutzung von Sitzmöbelalternativen oder Sitzunterlagen wie Ballkissen, – Unterbrechung der Sitzphasen durch Aufstehen und Gehen sowie durch Bewegungspausen, bei denen Mobilisationsübungen für die Wirbelsäule, für die Beine und die Füße durchgeführt werden.

Stehen – steter Wechsel der Stehpositionen durch Veränderung der Fußbelastung, durch Veränderung der Beckenstellung oder der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte, – Unterbrechung der Stehphasen und somit Entlastung des Halteapparates durch den Einsatz von Stehhilfen oder Fußbänken sowie durch die Nutzung von Anlehnmöglichkeiten wie Wände oder Tischkanten.

3.6.10.4 Vom rückengerechten Verhalten zu rückengerechten Verhältnissen: wichtige Ergonomietipps für den Arbeitsplatz Die Ergonomie als Lehre um den arbeitenden Menschen umfasst grundsätzlich zwei große Maßnahmenbereiche: die Verhaltensprävention sowie die Verhältnisprävention. Des Weiteren wird zwischen technischen, organisatorischen und personellen Interventionen unterschieden. In der Multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie nehmen Sport- und Physiotherapeuten in erster Linie im Bereich der personellen Intervention Einfluss, indem sie mit den Patienten individuelle Haltungs- und Bewegungsmuster erarbeiten und üben, ihnen Ausgleichsmaßnahmen anbieten sowie verhaltenstherapeutische Inhalte vermitteln. Darüber hinaus stehen den Therapeuten technische Interventionsmöglichkeiten im Bereich der Ergonomieberatung zur Verfügung. Gemeinsam mit den Patienten wird über eine Um- bzw. Neugestaltung der Arbeitsmittel und Arbeitsumgebung diskutiert, um auf diese Weise die Arbeitsplatzverhältnisse für die Patienten zu optimieren und somit die physikalischen Risikofaktoren zu minimieren. In diesem Zusammenhang dient auch eine Reihe von gesetzlichen Vorgaben und Verordnungen als Grundlage und Orientierungshilfe für Gestaltungsempfehlungen. Über das Verwenden unkomplizierter Regeln und das Umsetzen einfacher Lösungen erfahren die Patienten, dass sie ohne großen Aufwand bestimmte Verhältnisse am Arbeitsplatz verändern können. Dies kann den psychischen Druck, der allzu oft bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz besteht, im Idealfall erheblich reduzieren.

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Im Folgenden sollen die Gestaltungsempfehlungen in Bezug auf verschiedene berufliche Tätigkeitsbereiche dargestellt werden:

Stehende Arbeitsplätze – elektrisch höhenverstellbarer Arbeitstisch, – Fußbank oder Stehhilfe, – bequeme Kleidung und passendes Schuhwerk.

Sitzende Arbeitsplätze/Bildschirmarbeitsplätze – ergonomischer Bürodrehstuhl mit Synchronmechanik der Sitzfläche und Rückenlehne, – höhenverstellbarer Schreibtisch, – ausreichend großer, neig- und drehbarer sowie reflexionsarmer Bildschirm, – flache Tastatur, – der Handgröße entsprechende Maus, – alternative Eingabemittel wie Trackball, Eingabestift oder Ergomaus, – ausreichende Beleuchtung ohne störende Blendungen oder Reflexionen, – genügend Bewegungsfreiheit.

Arbeitsplätze mit schwerem Heben und Tragen – Mechanisierung der Arbeitsvorgänge durch den Einsatz von Hebekränen oder Liftern, – mechanische Hilfsmittel wie Tragegurte, Sackkarren oder Hubwagen [192], – persönliche Schutzausrüstung, – sichere Arbeitsumgebung mit Bewegungsfreiheit, stabilem Untergrund und ausreichenden Sichtverhältnissen. Das Analysieren der Arbeitsplatzbedingungen sowie eine damit verbundene präzise Gefährdungsbeurteilung für den Patienten finden innerhalb des multimodalen Programms nicht statt. Dementsprechend müssen die Möglichkeiten, Gestaltungsempfehlungen für den Arbeitsplatz zu geben, letztendlich begrenzt bleiben. Hinsichtlich der eingangs erwähnten organisatorischen Interventionen können schließlich die im Team arbeitenden Psychotherapeuten aktiv werden, wenn es beispielsweise darum geht, den Patienten bei der Verbesserung des Betriebsklimas, bei der Optimierung der Arbeitsabläufe oder bei der Erhöhung der Handlungsspielräume am Arbeitsplatz zu unterstützen. Im Idealfall führt dies mittel- und langfristig zu einer Verminderung der psychosozialen Belastung am Arbeitsplatz und damit zu einer Erhöhung der Arbeitszufriedenheit.

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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Michael Hamel 3.6.11 Welcher Sport ist gut für den Rücken? – Sportberatung Die so genannte Sportberatung umfasst wissensvermittelnde Unterrichts- und Beratungseinheiten. Sie beinhalten zum einen Informationen für ein besseres Verständnis der Trainingsprinzipien und -methodik während der Tagesklinik (Kap. 3.6.3). Zum anderen werden Kenntnisse vermittelt, die das selbstständige Durchführen eines gesundheitsorientierten Sportverhaltens in der Freizeit unterstützen. Das Ziel ist ein konkreter Trainingsplan für den wöchentlichen Zyklus unter Berücksichtigung der individuellen beruflichen, sozialen und organisatorischen Bedingungen.

3.6.11.1 Was? – Inhalte der Wissensvermittlung – Transparenz der Ziele, Inhalte und Wirkung der Tagesklinik, – körperliche Adaptationspotenziale und -prinzipien (auch unter Schmerzen), – Wirkungsvergleich von Schonung und Belastung, – Zusammenhang von Bewegung und Schmerz, – Komponenten der motorischen Handlungsfähigkeit und ihre Trainingsmethoden, – Wechselwirkung des Aktivitätspotenzials bei beruflicher, alltäglicher und sportlicher Tätigkeit als Einheit, – Beratung zu einer gesundheitsorientierten Gestaltung des Freizeitsports, – Klärung von Fragen und Dogmen, – Motivationshilfen.

3.6.11.2 Wie? – Methodik der Trainingsplangestaltung Die Wissensvermittlung erfolgt zum großen Teil in Form eines theoretischen Unterrichts. Da die Patienten in dem Programm zeitnahe praktische Erfahrungen zu den Themen sammeln, können die Themen induktiv erarbeitet werden. Die individuelle Beratung ist während des moderaten Ausdauertrainings (Kap. 3.6.7) sehr praktikabel und produktiv. Bei der Wiederheranführung an den Sport ist zu beachten, dass den meisten Patienten von sportlicher Belastung unter Beschwerden abgeraten wurde. Die Gestaltung des persönlichen Trainingsplans bedarf somit einer vertrauensbildenden Herangehensweise über das Programm verteilt. Epidemiologische Cluster definieren bis zu 20 Lebensstilgruppen, die einen Einfluss auf das Sportverhalten in der Freizeit haben [193]. Der Therapeut ist auf die eigenverantwortliche Mitarbeit des Patienten bei der Berücksichtigung der persönlichen Faktoren nicht nur angewiesen. Die Bedeutung von selbstkonkordanten Zielen für die kontinuierliche Aufrechterhaltung einer Sportart [194] macht eine selbstbestimmte Gestaltung des Trainingsplans sogar unverzichtbar. Zunächst sind die Vorerfahrungen und Interessen des Patienten zu erfragen. Eventuell lassen sich Risikofaktoren im früheren Sportverhalten erkennen. Weiterhin

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werden aber auch Trainingsformen benannt, die ohne Schmerzprovokation sind und nur aus Unsicherheit eingestellt wurden. Viele der bekannten Sportarten lassen sich mit Adaptation wiederaufnehmen. Die Vielfalt der Trainingsformen im Programm macht es wahrscheinlich, dass der Patient positive Erfahrungen sammelt. Dadurch steigt die Selbstwirksamkeitserwartung und liefert eine neue Basis für die Sportberatung. In der Regel ist der Patient zum Ende des Programms weitgehend selbstständig in der Lage, einen persönlichen Trainingsplan auszuarbeiten. Die sporttherapeutische Hilfestellung orientiert sich dabei an den folgend beschriebenen Trainingsprinzipien im weiten und engen Sinne.

3.6.11.3 Checkliste für den Trainingsplan – Trainingsprinzipien im weiten Sinne Aus den individuellen Wochenabläufen mit entsprechenden Arbeitszeiten und anderen Verpflichtungen ergeben sich die unterschiedlichsten Zeitfenster für den Freizeitsport. Die folgenden Prinzipien sind universell und ermöglichen die Integration von sportlicher Aktivität in den Alltag unter verschiedensten Bedingungen. Sport darf Spaß machen. Die Erfahrung eines qualifizierten Therapeuten kann eine gute Orientierung in der Auswahl der Aktivitätsform geben. Die konkrete Auswahl erfolgt jedoch in Abhängigkeit der Präferenzen des Patienten und seiner Selbstwirksamkeitserwartung gegenüber der jeweiligen sportlichen Tätigkeit. Das Verhältnis zwischen der individuellen motorischen Handlungskompetenz und dem Anforderungsprofil der gewählten Sport- oder Trainingsart ist zu beachten. Epidemiologen unterscheiden eine große Vielzahl von Lebensstilen. Für die Sportberatung ist es hilfreich, eine Dreiteilung in Beruf, Sport und Freizeit (Alltag) anzunehmen (Kap. 3.6.2). Der Aktivitätsumfang der Ebenen ist aufeinander abzustimmen. So ist z. B. einem Patienten mit Sitzberuf ein deutlich umfangreicheres Aktivitätsverhalten zu empfehlen. Es darf aber auch keine Ebene weggelassen werden. So benötigt ein körperlich schwerer Beruf dennoch einen sportlichen Lebensinhalt, aber dann mit moderatem Charakter. Ein durchschnittlicher Umfang von mindestens zwei bis vier Stunden pro Woche Sport in der Freizeit kann das Risiko, an Rückenschmerzen zu leiden, am deutlichsten reduzieren [117]. Regelmäßigkeit stellt eine vorteilhafte Grundvoraussetzung für trainingsbedingte langfristige Effekte dar [195]. Aber auch Abwechslung ist hinsichtlich der Übungsart, der Trainingsform (Kraft, Ausdauer etc.), der Tätigkeitsform (Walken, Gymnastik etc.) und auch der Saisonabhängigkeit zu suchen. Wirbelsäulenaktive Bewegungsmuster z. B. in Form des Aktivierungsprogramms (Kap. 3.6.6) bilden ein wichtiges Element. Insbesondere die individuellen motorischen Auffälligkeiten im Körperstamm erfordern eine gewisse Aufmerksamkeit (Kap. 3.6.7). Die Integration von Freunden und Familie ist motivationsfördernd. Ein wohnungs- oder arbeitsplatznaher Trainingsort ermöglicht ein realistisches Zeitmanagement.

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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Eine allgemeine Grundversorgung mit geringem zeitlichem, räumlichem und materiellem Aufwand steht mit den Gymnastikprogrammen zur Verfügung (Kap. 3.6.6).

3.6.11.4 Aus dem Lehrbuch – Trainingsprinzipien im engen Sinne Für das Training der Komponenten der habituellen motorischen Leistungsfähigkeit im Rahmen des Gesundheitssports sind folgende Prinzipien zu benennen: „kurz und knackig“ – Krafttraining: – 2- bis 3-mal wöchentlich, – zwei Sätze zu je 15 bis 20 Wiederholungen, – Umfang: sechs bis zwölf Übungen, – Intensität: Anfänger Borg 13 bis 15, Fortgeschrittene Borg 15 bis 17, – gerätegebundene oder gymnastische Formen sind gleichwertig. „locker und lange“ – Ausdauertraining: – 1- bis 3-mal wöchentlich (abhängig von der Alltagsbelastung), – Umfang: progressive Steigerung auf 30 bis 45 Minuten, – Intensität: Borg 11 bis 13. „entspannt und oft“ – Beweglichkeitstraining: – Umfang geht vor Intensität, – dynamisch (zehn bis 20 Wiederholungen) sowie statisch (zehn bis 20 Sekunden) sind erlaubt, aber zweckgebunden (Übungsbeispiele siehe Kap. 3.6.6). „kniffelig und bewusst“ – Koordinationstraining: – Wahrnehmung (Kap. 3.6.4 und 3.6.5), – Gleichgewichtstraining, – Spiele (Kap. 3.6.9).

3.6.11.5 Exemplarische Trainingspläne In der konkreten Ausprägung ist jeder Trainingsplan anders. Die exemplarischen Trainingspläne zeigen drei verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten für eine allgemeine sportmotorische Grundversorgung, einen aktiven Ausgleichsplan bei Sitzberufen und für Arbeiter im Baugewerbe. (Tab. 3.12) Die Trainingsprinzipien im weiten Sinne können prospektiv als Checkliste für die Qualität des Plans dienen. Je mehr Kriterien berücksichtigt sind, umso wahrscheinlicher ist eine erfolgreiche und wirksame Durchführung.

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Tab. 3.12: Exemplarische Trainingspläne. Plan Grundversorgung Für Sitzberufe

Montag

Dienstag

Mittwoch

Funktionsgymnastik 45 min Funktions- Aktiviegymnastik rung 10 min 30 min

Entlastung Yoga Für 60 min körperlich 10 min dominierte Berufe

Donnerstag

Freitag

Funktionsgymnastik 45 min Fitnesstraining 120 min

Aktivierung 10 min

Entlastung Tisch10 min tennis 90 min

Samstag

Sonntag

Walken 45 min Fitnesstraining 120 min Entlastung 10 min

Aktivierung 10 min

Gesellschaftstanz 90 min Schwimmen 45 min

3.6.11.6 Wer hat gewonnen? – Testauswertung und ableitende Empfehlungen Bei der Auswertung der motorischen Tests (Kap. 3.6.2) mit dem Patienten sind grundsätzliche Überlegungen zu beachten. Die Schmerzentwicklung kann nicht über die Leistungsfähigkeit erklärt werden. Patienten mit deutlicher Schmerzreduktion sind unter Umständen nicht in der Lage, auch eine bessere Leistungsfähigkeit zu demonstrieren. Die Rolle der Testergebnisse als Erfolgsmaß ist somit fraglich und ein negatives Feedback ist sorgfältig zu formulieren. Positive Entwicklungen können in jedem Fall die Selbstwirksamkeitserwartung steigern und dürfen betont werden. Die zeitliche Nähe der Tests zur Intervention verhindert eine adäquate Regeneration. Trainingsbedingte Adaptationsprozesse brauchen Zeit. Die getestete Leistungsfähigkeit kann somit zum Therapieende noch nicht reell abgebildet sein. Referenzwerte sind ebenfalls nur unter den ermittelten Zeitdimensionen nutzbar. Die Gesamtheit der Tests lässt dennoch eine orientierende Einschätzung von Stärken und Schwächen in der individuellen Handlungsfähigkeit zu. Die Rekonditionierung, also der Abbau von (messbaren) körperlichen Defiziten ist zwar ein Therapieziel, bedarf jedoch zunächst Entwicklungsvoraussetzungen. Insbesondere die Eigenwahrnehmung des Patienten wird durch das Feedback gefördert. Der Patient weiß schließlich, was er nicht kann, und rückt somit bereits auf eine höhere Stufe des Körperbewusstseins. Auf dieser Basis ist den Patienten eine eigenverantwortliche Rekonditionierung über das Therapieprogramm hinaus möglich. Der erarbeitete Trainingsplan hat dem aktuellen motorischen Potenzial gerecht zu werden. Er darf die Ressourcen nutzen und wird die Probleme thematisieren.

3.6 „Bauch rein, Brust raus“ – Modul Motorik

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Fazit: Welcher Sport ist denn nun gut für den Rücken? Grundsätzlich reduziert ein aktives sportliches Freizeitverhalten wirksam das Auftreten von Rückenschmerzen. Während für den therapeutischen Einsatz die Auswahl an Trainingsformen differenzierten Prinzipien unterliegt, kann für die präventive Wirkung keine Sportart als vorteilhaft definiert werden [117]. Auch leistungsorientiert ausgeübte Sportarten zeigen oft eine geringere Prävalenz für Rückenschmerzen im Vergleich zu Nichtleistungssportlern [183]. Die Belastungsintensität ist somit auch kein zuverlässiges Kriterium, um Sportarten auszuschließen. Schließlich sind die Zusammenhänge von körperlicher Belastung, strukturellen (physiologischen und pathologischen) Adaptationen und Schmerzauftreten nicht eindeutig. Insgesamt scheinen Bewegung und somit alle Sportarten geeignet zu sein, eine positive Wirkung bei Rückenschmerz zu erzielen. Dennoch sind sportbezogene Beschwerden reell und verunsichernd. Die Interpretation und die daraus abgeleiteten Verhaltensweisen erfordern eine komplexere Sichtweise als bei einem biomedizinischen Modell. Eine Orientierung geben die Trainingsprinzipien im weiten und engen Sinn. Die Wiederaufnahme der „Lieblingssportart“ ist ein realistisches Therapieziel, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind.

3.6.12 „Hands on”? – Was ist mit Manueller Therapie? Im monomodularen Sinne beinhaltet die Manuelle Therapie ein sehr breites Spektrum an Methoden. Diese reichen von so en „Hands-on“-Techniken bis zu aktiven Elementen aus der Bewegungstherapie. Leitlinien [98] empfehlen bei CRS die Anwendung von Manueller Therapie nur als Therapieergänzung für einen kurzen Zeitraum. Unter folgenden Fragestellungen sind programmbegleitende Zeitfenster für die physiotherapeutische Einzelintervention sinnvoll: Der physiotherapeutische Diagnostiktag kann oft nur einen Überblick zum funktionellen Status geben, oder die für den Zeitpunkt vordergründige Fragestellung ist Gegenstand der Untersuchung. Befundlücken, neue Symptome, Widersprüche von ärztlichen und physiotherapeutischen Befunden oder notwendige Befundaktualisierungen können auch während des Programms bearbeitet werden. Hypomobilität ist bei Schmerzpatienten eine der häufigsten funktionellen Auffälligkeiten. Die meisten Bewegungseinschränkungen lassen sich über aktive Maßnahmen positiv beeinflussen. Der Erfolg verbessert entsprechend die Selbstwirksamkeitserwartung gegenüber eigenverantwortlichem Üben. Der aktive Weg ist also stets zu bevorzugen. Steht jedoch die Hypomobilität in Zusammenhang mit einer Stagnation der Beweglichkeitsentwicklung, ist auch eine „Hands-on“-Behandlung indiziert. Dies betrifft häufig Körperabschnitte mit physiologisch geringen Bewegungsamplituden, wie sie z. B. im Thorax zu finden sind. Taktile Hilfestellungen unterstützen beim Bewegungslernen die notwendige Wahrnehmung, insbesondere bei koordinativ stark beeinträchtigten Patienten. Im Rahmen der Gruppenbetreuung ist diese betreuungsintensive Methode oft nicht umsetzbar, sondern erfordert den Einzelkontakt.

204 | 3 Interdisziplinäre Therapie

Der teilweise passive Charakter der Manuellen Therapie bedarf einer sorgfältigen Auswahl des Patienten und der Fragestellung. Die potenziell direkte positive Wirkung kann ein passives Krankheitsmodell verstärken und die Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung gegenüber aktivem Bewegen verhindern. Es ist deshalb notwendig, dem Patienten den Zweck der Manuellen Therapie als kurzfristige Herstellung der Trainierbarkeit zu erklären. Im Anschluss an die Intervention sollte als Möglichkeit gleich eine Eigenmobilisationsübung gezeigt und erarbeitet werden. Ideen für den Übergang von „Hands on“ zu „Hands off“ finden sich z. B. beim „Mulligan“-Konzept. Der Patient geht aus der Behandlung mit einer Verbesserung der Beweglichkeit und einer selbstständig durchführbaren Behandlungsoption.

Marion Heinrich

3.7 Wenn nicht alles glatt läuft – Erfolgsdruck und Praxis Praktische Probleme im Behandlungsverlauf wurden themenspezifisch in den verschiedenen Modulen bereits aufgeführt. An dieser Stelle sollen typische Probleme zusammenfassend benannt werden. Die Implementierung von Behandlungsprogrammen, die in ihrer Wirksamkeit unter bestimmten Bedingungen in durch Forschungsmittel geförderten Studien empirisch belegt sind, in die Behandlungsrealität erfordert eine oft mit Kompromissen verbundene Anpassung an die Gegebenheiten einer Einrichtung, insbesondere auch ihre wirtschaftlichen Voraussetzungen. Dies betrifft beispielweise die Frage nach den Kontraindikationen für eine interdisziplinäre multimodale Behandlung (Kap. 2.5). In der Literatur werden Radikulopathien als Ausschlusskriterium (Red Flag) beschrieben [180, 196]. Unserer Erfahrung nach lassen sich diese Patienten mit entsprechender Vorbehandlung dennoch zeitnah sehr erfolgreich multimodal behandeln. Im Programm selbst können medizinische oder manuelle Techniken, die den Patienten in die Lage versetzen, sein Problem aktiv anzugehen, notwendig werden. Ein wesentliches Therapieprinzip ist Hilfe zur Selbsthilfe, d. h. das Nutzen patienteneigener Ressourcen in der Problembewältigung. Das bedeutet ebenfalls, so wenig wie möglich an passiven Interventionen durchzuführen, notwendige hilfreiche Interventionen aber auch nicht zu versäumen. Diese Gratwanderung wird schwieriger, je früher Patienten mit erhöhtem Chronifizierungsrisiko in ein multimodales Programm kommen. Als relative Ausschlusskriterien werden eine Suchtproblematik (nicht: Abhängigkeit von Schmerzmitteln), eine den Therapieverlauf erheblich erschwerende psychische Störung, ein latenter/manifester nicht auflösbarer sekundärer Krankheitsgewinn sowie nicht ausreichende sprachliche oder intellektuelle Fähigkeiten genannt [196]. Die Einschätzung dieser Parameter kann in Abhängigkeit von der Erfahrung, der Fragetechnik und dem Menschenbild des Untersuchers differieren. Da sich Patienten auch auf sozial erwünschte Weise verhalten, kann es zu Fehleinschätzungen kommen.

3.7 Wenn nicht alles glatt läuft – Erfolgsdruck und Praxis

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Während man in klinischen Studien die Indikationen eher eng auslegen und dementsprechend kritisch beurteilen wird, um möglichst homogene Gruppen zu erhalten, sind die Gruppen in der klinischen Versorgung meist heterogener. Schwerer Betroffene mit weniger Ressourcen werden im Gruppensetting mitbehandelt, erreichen jedoch im standardisierten Zeitrahmen (4-Wochen-Programm) nicht bzw. noch nicht das Behandlungsziel einer deutlichen Verbesserung der Funktionsfähigkeit bzw. der vollständigen oder schrittweisen Rückkehr in den Arbeitsalltag. Neben dem einzelnen Patienten betrifft dies auch die Gruppenzusammensetzung als Ganzes, nämlich die Frage, inwieweit die Teilnehmer einer Gruppe eher von einer homogenen oder einer heterogenen Gruppe profitieren (Kap. 1). Während die Gruppen hinsichtlich ihrer Problematik (Kreuzschmerzen) homogen sind, fallen sie hinsichtlich ihrer psychosozialen Umstände und ihrer Persönlichkeitsmerkmale oft ausgesprochen heterogen aus. Die Aufnahme auch schwer Betroffener mit eingeschränkten kognitiven oder sprachlichen Ressourcen darf dabei nicht zu Lasten der anderen Gruppenteilnehmer gehen. Die besondere Herausforderung auf therapeutischer Seite besteht dann in der Förderung eines positiven Gruppenklimas, um die Ressourcen innerhalb der Behandlungsgruppe (gegenseitige Unterstützung und gegenseitiges Lernen) nutzen zu können. Wenn dies nicht gelingt und sich die Teilnehmer gegenseitig in destruktiven Verhaltensweisen verstärken, kann auch ein vorzeitiger Behandlungsabbruch einzelner Teilnehmer notwendig werden. Ein weiteres Problem stellen psychophysische Dekompensationen im Behandlungsverlauf dar. Eine Subgruppe von Patienten erscheint im Assessment schmerzbedingt beeinträchtigt, zeigt insgesamt aber ein ausgeprägtes Durchhalteverhalten. Diese Patienten sind oft trotz starker Schmerzen arbeitsfähig. Sie organisieren ihren Arbeitsplatz für die Zeit ihrer Abwesenheit und sehnen den Beginn des Programms als Entlastung und „endlich Zeit für sich“ herbei. Im Programmverlauf werden dann Erschöpfungserleben, eine abnehmende Belastbarkeit im Training und depressive Symptome deutlich. Diese Patienten brauchen mehr Erholungsphasen, ein der Erschöpfung angepasstes Training, mehr psychotherapeutische Unterstützung und eine Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeit über das 4-Wochen-Programm hinaus. Für diese Patienten entsteht erst im Laufe des Programms ein Problembewusstsein, das über den Schmerz (Spitze des Eisberges) hinaus die Gesamtproblematik (den gesamten Eisberg) erfasst. Für die Behandler stellt sich hier das Problem der fehlenden Vernetzung in der ambulanten Regelversorgung mit Wartezeiten für Facharzttermine und Psychotherapeuten. Neben der Beurteilung der Ausschlusskriterien und ihrer inhärenten Relativität stellt sich auch die Frage der Erfolgsparameter. Aus Sicht der Kostenträger ist eine Behandlung dann erfolgreich, wenn eine weitere Arbeitsunfähigkeit verhindert wird. Aus therapeutischer Sicht ist ein Behandlungserfolg eine Verbesserung der Lebensqualität, die eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit und psychophysischen Belastbarkeit einschließt. Die Verhinderung weiterer Arbeitsunfähigkeit gilt als problematischer Indikator für den Therapieerfolg, da diese auch von therapeutisch nicht

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oder nur begrenzt beeinflussbaren Variablen, wie z. B. arbeitsplatzbezogenen Faktoren, Persönlichkeitsstruktur und der gesamtwirtschaftlichen Lage, abhängt [197]. Im Behandlungsverlauf kann sich eine problematische Arbeitssituation klären oder verschärfen. Das hängt dann auch wesentlich vom Arbeitgeber ab, ob er einem Hamburger Modell zustimmt, ob eine Umbesetzung möglich oder zumindest eine zeitlich begrenzte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit realisierbar ist und auch durchgehalten werden kann. In letzter Konsequenz ist damit der Erfolg des Behandlungsprogramms, wenn Arbeitsfähigkeit als Erfolgskriterium gilt, abhängig vom Arbeitgeber. Arbeitgeber, aber ebenfalls Betriebsärzte können auch Entlastungswünsche des Patienten verstärken und die Behandlungsziele konterkarieren, indem sie dem Patienten etwa vorschlagen, dass dieser „erstmal richtig gesund werden solle“ oder am besten gleich „die Rente einreichen solle“. Mit der Frage nach den Erfolgsparametern ist auch der Zeitraum relevant, innerhalb dessen Veränderungen erwartet werden können. Dieser Zeitraum ist nicht zwingend identisch mit dem Ende des Behandlungszeitraums. Veränderungen brauchen Zeit und eine therapeutische Behandlung kann noch lange nachwirken. Eine weitere Verbesserung nach Behandlungsende innerhalb des ersten Jahres bezogen auf Beeinträchtigungserleben und Depressivität oder zumindest das Beibehalten der Verbesserung nach Behandlungsende bei der überwiegenden Zahl der Patienten konnte in Untersuchungen gezeigt werden [198, 199]. Die Phase des Transfers des veränderten Verhaltens (u. a. Beibehalten des Trainings, Durchführung von Entspannung) wird auch mitbestimmt vom Verhalten der Umgebung (Partner, Familie, Kollegen), von den Anforderungen und Alltagsbelastungen. Inwieweit der Transfer gelingt, zeigt sich erst nach Behandlungsende und ist über die Erhebung psychometrischer Variablen und der Funktionsfähigkeit hinaus wenig untersucht. Dabei können sich die Programmwirkungen nachhaltig auf die verschiedensten Bereiche des Lebens erstrecken, wie diese schriftliche Rückmeldung einer Patientin sechs Monate nach dem Programmende zeigt: „... mir geht es inzwischen eigentlich ganz gut. Ich habe nach wie vor immer wieder Schmerzen, aber ich nehme nur noch sehr selten Schmerzmittel. Seit drei Monaten praktiziere ich wieder regelmäßig Yoga sowie ab und zu Pilates, und vor allem laufe ich ca. dreimal die Woche. Ich bin nicht schnell (38 Minuten für 6,5 km), aber die Bewegung tut mir unheimlich gut. Während des Laufens und der Stunden danach habe ich meistens überhaupt keine Schmerzen. Außerdem habe ich mich für den Berliner Halbmarathon im April 2016 angemeldet. Das ist ein großes Ziel, aber ich mache einfach locker weiter wie bisher. Im Moment habe ich das Gefühl, dass es funktionieren könnte. Diese Vorbereitung tut mir auch gut, da ich mich inzwischen von meinem damaligen Partner getrennt habe, und das Laufen hilft mir, mich auf mich zu konzentrieren. Dass dieser Sport meinem Asthma enorm guttut, ist natürlich ein zusätzlicher willkommener Nebeneffekt.

3.8 Die Verschmelzung der Module – Interdisziplinäres Arbeiten | 207

Im Beruf hat sich inzwischen die Lage auch entspannt, aber ich glaube, das liegt einfach daran, dass ich es anders wahrnehme und vor allem negative Stimmungen im Büro lasse. Zugegebenermaßen habe ich vor einem halben Jahr nicht geglaubt, dass ich jetzt schon wieder so fit sein würde. Nach wie vor vermeide ich einige sportliche Aktivitäten, die ich früher gerne gemacht hätte (z. B. Reiten), aber dennoch kann ich nicht behaupten, dass ich mich irgendwie von irgendetwas ‚ausgeschlossen‘ fühle. Ich hatte auch zwischendurch tatsächlich geglaubt, dass das Programm im Rückenzentrum mir nicht wirklich viel gebracht hat, aber das war nur so, da die Besserung nicht so und vor allem in dem Moment eintraf, wie ich das wollte. Mir hat das Programm letztlich sehr viel geholfen, vielleicht nicht die einzelnen Übungen, sehr wohl jedoch die breite Aufstellung der Inhalte. Ich höre nun bewusster auf mein Inneres (Körper und Geist) und gehe achtsamer mit mir um.“

Marion Heinrich und Michael Hamel

3.8 Die Verschmelzung der Module – Interdisziplinäres Arbeiten In einem monomodalen Therapierahmen würden die jeweiligen Fachgruppen in den bisher vorgestellten Modulen mit ihren eigenen Methoden handeln. In der Summe kann soweit zunächst nur von Multimodalität oder Multidisziplinarität gesprochen werden. Die übergeordneten Rahmenbedingungen (Kap. 3.2) und Therapieprinzipien (Kap. 3.3) vernetzen die Therapeuten und Module im interdisziplinären Sinne. Am deutlichsten wird das in Einheiten, bei denen die verschiedenen Therapeuten zusammentreffen. Das betrifft die Teambesprechungen und die Visiten. Wesentliche Voraussetzungen für interdisziplinäres Arbeiten sind eine feste Verankerung in der eigenen Profession, dazu gehören auch die Grenzen dieser Profession, ein Wissen um das, was Gegenstand der anderen Professionen ist, und die Entwicklung eines Kooperationswissens, das nur unter Beteiligung aller zusammenarbeitenden Professionen entwickelt werden kann. Hierfür sind einrichtungsinterne Fortbildungen und gegenseitige Hospitationen notwendig.

3.8.1 Kaffeeklatsch oder Expertenrunde – Interpersonelle Vernetzung 3.8.1.1 Die Teambesprechungen Der therapeutische Austausch ist ein Erfolgsfaktor. Die Teambesprechungen finden einmal pro Woche statt. Es nehmen alle Therapeuten daran teil. Für acht Patienten kann ein Zeitfenster von 45 Minuten die wichtigsten Punkte klären.

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Erste Woche – der IST-Zustand Zu diesem Zeitpunkt haben die Therapeuten die Gruppenteilnehmer nur kurz kennengelernt. Der Informationsaustausch lebt somit hauptsächlich von den Dokumentationen aus dem interdisziplinären Assessment. Folgende Punkte werden gesammelt: – soziales Umfeld, Beruf, – Diagnosen, Befunde, Gutachten, Auffälligkeiten, – fehlen Befunde?, – kurze Krankheitsgeschichte, – Gewichtung von Komorbiditäten, – Benennung der subjektiven Ziele des Patienten, – kurze Einschätzung des Schweregrades und der Belastbarkeit, – könnten Einzeltermine notwendig werden? Ziel ist es, eine erste Vorstellung von den einzelnen Patienten zu bekommen. Verhaltensbezogene Informationen aus dem Assessment erlauben eine gezieltere Beobachtung des Patienten in den ersten Tagen. Dazu gehören beispielsweise motivationale Einschätzungen oder zusätzliche Belastungsfaktoren, die die Konzentration oder Belastbarkeit beeinträchtigen können.

Zweite Woche – Das Bild wird deutlicher Zu Beginn der zweiten Woche hat eine Problemaktualisierung auf verschiedenen Wegen stattgefunden. Oft sind dann auch Schwerpunkte in der Zielstellung definierbar. Die Kommunikationsbereitschaft, Aufgeschlossenheit und Differenzierungsfähigkeit der Patienten sind sehr unterschiedlich. Entsprechend heterogen können die Patienten zu diesem Zeitpunkt eingeschätzt werden. Mögliche Inhalte der 2. Teambesprechung: – gegenseitiges Feedback zu dem Verlauf und der Aktualisierung des Befindens, – Definition oder Aktualisierung der therapeutischen Ziele, – gegenseitige Anregungen für inhaltliche Schwerpunkte. Ziel ist auch die Einschätzung, ob und inwieweit die Behandlung inhaltlich verstanden und physisch toleriert wird und ob aus Therapeutensicht zusätzliche Interventionen notwendig sind. Erfahrungsgemäß erweisen sich Infiltrationen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt als günstiger für den Behandlungsablauf als in der letzten Woche. „So viel wie nötig und so wenig wie möglich“ beschreibt die Gratwanderung zwischen unmittelbarem Handeln und Abwarten/Zeit geben. Die Teambesprechung ermöglicht ein gemeinsames Abwägen und eine konsistente Haltung gegenüber dem Patienten.

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Dritte Woche – Der SOLL-Wert In der dritten Visite werden die Schritte zur Wiedereingliederung in die Arbeitsfähigkeit mit dem Patienten besprochen. Dies erfordert eine vorherige Abstimmung unter den Therapeuten in ihrer Einschätzung des Patienten. Besprechungsinhalte sind: – Entwicklung der Leistungsfähigkeit im bisherigen Verlauf, – Flexibilität in den Verhaltensmustern (fordert sich der Patient, macht er Pausen?), – Belastbarkeit unter Berücksichtigung seiner beruflichen Tätigkeit, – Bestimmung des weiterführenden Arbeitsstatus aus therapeutischer Sicht, – Diskussion über potenzielle Unterstützungen (Attest) und die Notwendigkeit einer Therapieverlängerung oder auch erst stufenweisen Wiedereingliederung („Hamburger Modell“, Kap. 3.4). Ziel der Besprechung ist eine erste Abschätzung der Arbeitsfähigkeit des Patienten nach Programmende. Sie fokussiert noch zu bearbeitende arbeitsbezogene Schwerpunkte im bewegungs- und im psychotherapeutischen Bereich. Arzt und Psychologe brauchen eine möglichst differenzierte Rückmeldung aus dem Bewegungsbereich, da die Visite der dritten Behandlungswoche ohne Bewegungstherapeuten stattfindet.

Vierte Woche – Letzte Fragen und Lösungen Zum Zeitpunkt der vierten Teamsitzung haben die meisten Behandlungsinhalte bereits eine auf die einzelnen Patienten zugeschnittene Ausprägung erhalten. Des Weiteren ist es in der Regel möglich gewesen, weiterführende Verhaltensweisen zu skizzieren und zu planen. Durch eine gemeinsame Zusammenfassung der weiterführenden Inhalte (z. B. Wiedereingliederung in den Arbeitsalltag, ergänzende therapeutische Interventionen, geplante gesundheitssportliche Aktivitäten) können potenzielle Unklarheiten erkannt und bearbeitet werden. Verbesserungen und Veränderungen aus therapeutischer Sicht, Ressourcen sowie offene Fragen werden zusammengetragen und können dann dem Patienten in der letzten Visite rückgemeldet werden.

Physio- und Sporttherapeuten an einem Tisch – Das „Motorikteam“ Zusätzlich zu den eben beschriebenen „großen“ Teamsitzungen besprechen der Physio- und der Sporttherapeut in den ersten zwei Wochen die inhaltliche Gestaltung der Bewegungseinheiten für den einzelnen Patienten. Das betrifft insbesondere die Einheiten von MTT und WH. Im Rahmen der MTT gilt es, den Bereich der defizitorientierten Übungen (Kap. 3.6.7) zu füllen. Für das WH umfasst es das berufsspezifische Training (Kap. 3.6.8). Diese zusätzlichen so genannten „Motorikteams“ begründen sich aus verschiedenen Notwendigkeiten. Zunächst basiert ein Großteil der für die Gestaltung der individuellen Trainingsinhalte erforderlichen Informationen auf der qualitativen Handlungsbeobachtung in den Bewegungseinheiten. Dabei entwickeln die Therapeuten durch unterschiedliche Anwesenheiten einen jeweils anderen Kenntnisstand von den einzelnen Patienten in verschiedenen Bereichen. Die Besprechung

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gibt die Möglichkeit für einen Informationsausgleich. Weiterhin bedienen die zwei Therapeuten durch ihre Ausbildung verschiedene Aspekte der motorischen Bereiche und gewährleisten so eine vollständige Versorgung des Patienten.

3.8.2 IST und SOLL – Die Visiten Die Behandlung findet im Gruppensetting statt. Einzeltermine werden nicht regelhaft, sondern nur bei Bedarf vergeben. Die einzige regelhafte Ausnahme sind die wöchentlichen Visiten. Analog zu den Teambesprechungen und Behandlungsinhalten stehen bestimmte Themen im Vordergrund. Je nach Behandlungswoche ist die Zusammensetzung der behandelnden Therapeuten unterschiedlich. Der Zeitumfang für die Visite einer Gruppe (N = 8) beträgt 90 Minuten. Damit entfallen auf jeden Patienten durchschnittlich zehn Minuten. In der Praxis variiert die Zeit von fünf Minuten, wenn der Behandlungsverlauf positiv verläuft, bis zu deutlich mehr Zeit bei Problemen, Zuspitzungen und offenen Fragen. Die Gesprächsstrukturierung bildet deshalb eine Herausforderung, sie wird überwiegend ärztlich moderiert, in Abhängigkeit vom Themenbereich wird sie dann auch von den beteiligten Therapeuten übernommen. Neben den inhaltlichen Schwerpunkten bietet die Visite die Möglichkeit, die Relevanz aller Therapeuten an der Behandlung des Patienten durch die ärztliche Autorität zu stärken. Die Visiten sind für Patienten das sichtbarste Zeichen der gemeinsamen interdisziplinären Problem- und Lösungsorientierung. In der Visite werden vor und mit dem Patienten Optionen besprochen und Absprachen getroffen. Er sieht, dass alle beteiligt sind und über die relevanten Informationen verfügen.

Erste Visite – Passung und realistische Zuversicht In der ersten Behandlungswoche liegt der Schwerpunkt in der Rückversicherung, darauf, dass der Patient seine Diagnose begriffen hat und sich mit seinem Problem verstanden fühlt. Zum Zeitpunkt der ersten Visite haben die Patienten alle Programmbausteine kennengelernt. Wie zuversichtlich sind sie, dass die Behandlung helfen kann, und wie hat sich das Befinden bislang entwickelt? Weitere Themen umfassen die Medikation, die Regeneration und besondere Probleme (z. B. zusätzliche Schmerzen und Einschränkungen, Konzentrationsprobleme). Zu diesem Termin sind Arzt, Physiotherapeut und Psychologe anwesend. Dies verdeutlicht den ganzheitlichen Ansatz und stellt sicher, dass alle Beteiligten die gleichen Informationen haben und gemeinsam Interventionen planen. Die erste Visite bezieht sich auf die Informationen des Assessments (s. Kap. 2) im Vorfeld der Behandlung und auf die Erfahrungen der Therapeuten in den ersten Behandlungstagen. Besonderheiten, die im Assessment aufgefallen sind und die Teilnahme an der Behandlung erschweren können, werden hier nochmals erfragt. Das können organisatorische Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung, die Bewältigung

3.8 Die Verschmelzung der Module – Interdisziplinäres Arbeiten | 211

des Fahrtweges bei Panikerleben, aber auch Befürchtungen hinsichtlich des Gruppensettings sein. Vor allem bei unklarer Motivation und Zielkonflikten am Assessment-Tag dient diese Visite auch dazu, die Zielsetzung nochmals explizit abzugleichen. Die gilt vor allem dann, wenn eine Probewoche mit dem Patienten besprochen wurde. Ein Abbruch nach der ersten Behandlungswoche und damit der ersten Visite passiert erfahrungsgemäß sehr selten. Dies liegt u. a. daran, dass Patienten die engmaschige Behandlung als sehr positiv und den Austausch in der Gruppe als entlastend erleben und sich zugehörig fühlen, d. h., Zielkonflikte rücken in den Hintergrund und werden erst in der dritten Behandlungswoche aktualisiert. Dennoch ist die Thematisierung der Probewoche hilfreich, da die Behandlung keine Zwangsverpflichtung darstellt, sondern eine Selbstverpflichtung, und die Entscheidung des Patienten bedeutet, die Zielvereinbarung mitzutragen.

Zweite Visite – Wenn der Schmerz schlimmer wird… In der zweiten Woche stehen die körperlichen Beschwerden und Einschränkungen unter der Trainingsbelastung im Vordergrund, deshalb findet diese Visite mit dem Arzt und dem Physiotherapeuten statt. Bei einer Beschwerdeverstärkung überlegen die Beteiligten, wie der Patient unterstützt werden kann, ob Einzelinterventionen notwendig sind. Auch Beobachtungen zum Verhalten im Training können rückgemeldet werden. Überforderungsverhalten, Ausweichverhalten, Engagement, häufige Rückversicherung oder Unpünktlichkeit können angesprochen werden. Neben den Funktionseinschränkungen und dem Schmerzerleben kann ein trainingsbezogenes Problemverhalten definiert werden, welches der Patient unmittelbar und direkt angehen kann. Im Unterschied zur ersten ist die zweite Behandlungswoche deutlich belastender und oft auch für Patienten ernüchternder. Die erste Woche wird als sehr positiv erlebt („Endlich passiert etwas!“) und eine zuversichtliche Erwartungshaltung entwickelt sich. Auch wird in der ersten Woche im Trainingsbereich noch viel erklärt, so dass die physische Belastung zwangsläufig in der zweiten Woche höher liegt. Patienten werden mehr mit ihren Grenzen und Defiziten konfrontiert, was verständlicherweise auf die Stimmung schlagen und Zweifel wecken kann. Die Herausforderung der zweiten Visite besteht deshalb in der Entpathologisierung und Umbewertung von Schmerz- und Beschwerdeverstärkung als eine normale Reaktion auf die vermehrte Belastung. Dabei spielen konkrete Rückmeldungen (s. Botschaften Kap. 3.8.2) eine Rolle, aber auch eine therapeutisch zugewandte Haltung, die Beschwerden und Bedenken ernst nimmt und nach Hilfestellungen sucht. Dabei wird nicht das Training infrage gestellt oder grundsätzlich verändert, sondern es geht um Unterstützung, damit das Training „beschwerdeärmer“ durchgeführt werden kann. Hierbei ist die Anwesenheit des Physiotherapeuten oder auch Sporttherapeuten zwingend notwendig. Er ist direkter Beobachter des Patienten im Trainingsverlauf und durch seine Kompetenz in der Lage, die Schilderungen des Patienten zu präzisieren

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und durch relevante Beobachtungen zu ergänzen. Gemeinsam können dann zügiger Arbeitshypothesen entwickelt und Interventionen abgeleitet werden. Für den Patienten ist dies eine wichtige Hilfestellung und Entlastung, da er nicht befürchten muss, dass er etwas Wichtiges vergisst oder sich nicht richtig verständlich machen kann. Insofern bietet die Visite immer eine Chance, das Vertrauen in die Behandlung und damit auch die Compliance zu erhöhen.

Dritte Visite – Planung der Rückkehr in den Alltag Hauptthema der dritten Visite ist die Gestaltung der Rückkehr an den Arbeitsplatz. Diese Thematik wird durch den ärztlichen Unterricht (Sozialmedizin), in der Schmerzbewältigung (Be- und Entlastung im Alltag) und durch die individuellere arbeitsbezogene Gestaltung im Work Hardening vorbereitet. Mehr noch als vor den anderen Visiten werden Patienten aufgefordert, sich vor der Visite Gedanken zu machen, wie sie sich eine Rückkehr an den Arbeitsplatz vorstellen können und welche Unterstützung sie brauchen. Erfahrungsgemäß ist diese Visite für viele Patienten belastend, dies gilt insbesondere dann, wenn die Arbeitszufriedenheit gering, die Erwartungshaltung des Arbeitsumfeldes oder des Patienten selbst an seine Leistungsfähigkeit sehr hoch ist oder das Schmerzerleben und die Funktionseinschränkung aus Sicht des Patienten als noch nicht ausreichend gebessert eingeschätzt werden. Für die Gesprächsführung bedeutet dies eine Zentrierung auf die konkrete Frage des Wiedereinstiegs trotz der noch bestehenden Problemlage. Vorstellungen, Vorschläge, aber auch Befürchtungen des Patienten werden aufgegriffen, direkt geklärt, oder es wird eine zusätzliche Unterstützung im Rahmen eines psychotherapeutischen Einzeltermins angeboten. Bis auf wenige Ausnahmen steht aus Therapeutensicht nicht der Wiedereinstieg zur Disposition, wohl aber die Art und Weise. Wenn Patienten hier Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume erkennen, entsteht meist eine deutlich höhere Handlungsorientierung, und eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Problemfeldern und Konfliktsituationen am Arbeitsplatz kann beginnen. Der Einstieg kann über ein Hamburger Modell geschehen, das dann gemeinsam geplant wird. Hilfreich kann auch ein Attest sein, das eine zeitlich begrenzte Einschätzung der Belastbarkeit empfiehlt (z. B. Heben nicht über 15 kg für ca. drei Monate oder das Aussetzen von Überstunden für einen begrenzten Zeitraum). Vor- und Nachteile von Attesten können besprochen werden, letztlich trifft der Patient die Entscheidung, welche Unterstützungsmöglichkeiten er in Anspruch nimmt. Für viele Patienten ist die Empfehlung eines höhenverstellbaren Schreibtisches oder anderer Hilfsmittel unterstützend. Die Problemaktualisierung, die gleichzeitige Ressourcenaktivierung und Handlungsorientierung wirken manchmal direkt, oft auch erst mit zeitlicher Distanz zur Visite entlastend für den Patienten. Für behandelnde Therapeuten heißt dies aber auch, Frustration, Angst und Ärger des Patienten auszuhalten. In Anbetracht der zeitlichen Begrenzung kann diese Visite deshalb für beide Seiten unbefriedigend verlaufen (s. auch Beispielsituation Kap. 3.5.4). Insofern ist sie eine Herausforderung für die Therapeut-Patient-Beziehung,

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sie wird vom Arzt und vom Psychologen gestaltet. Dies ermöglicht einerseits ein Wiederaufgreifen der Thematik im psychologischen Einzelgespräch, andererseits ist mit den in dieser Visite abwesenden Sport- und Physiotherapeuten ein „unbelastetes“ Beziehungsangebot gewährleistet.

Vierte Visite – Wertschätzung und Ermutigung In der vierten und letzten Visite findet eine Bilanzierung der Veränderungen statt. Die letzte Visite wird vom Arzt und vom Psychologen gestaltet. Es geht um den aktuellen Stand nach dem Programm und die Reflexion dessen, was erreicht wurde. Schmerz ist dabei ein Aspekt von vielen, der Fokus liegt auf Veränderungen im Bereich der Belastung, der Funktion und der Veränderungen im Verhalten. Die Rückmeldungen aus dem Trainingsbereich (Abschlusstestung) können die Selbsteinschätzung des Patienten ergänzen. Eine zentrale Rolle spielen das Gesamtbefinden und die Einschätzung der erarbeiteten Bewältigungsstrategien sowie der Selbstwirksamkeit insgesamt. Es können auch wichtige in der Behandlung erarbeitete Punkte zusammengefasst werden, die im Alltag weiterhin besonders berücksichtigt werden sollten. Mit Beginn des ersten Tages wird Schmerzfreiheit oder eine deutliche Schmerzlinderung als Ziel und Voraussetzung für die Rückkehr in den Alltag vom Behandlungsteam nicht akzeptiert. Gegen Ende der tagesklinischen Behandlung mit dem Wissen und der Erfahrung des multimodalen interdisziplinären Vorgehens versteht die überwiegende Mehrheit der Patienten, dass Schmerzfreiheit als Ziel und Bedingung für eine Rückkehr in eine Sackgasse führt. Patienten haben verstanden, dass sie mit dem Gelernten im Alltag weiterarbeiten müssen, um eine nachhaltige Verbesserung zu erreichen. Dies ohne weitere Betreuung und Unterstützung tun zu müssen, macht Angst. Hier können Nachsorgeprogramme wie eine regelmäßige Trainingsgruppe oder die Chance, während des Hamburger Modells den Patienten weiterhin interdisziplinär zu unterstützen, extrem hilfreich sein. Auch das Angebot für einen Folgetermin bei Bedarf beim Arzt oder Psychologen wird als unterstützend wahrgenommen. Die Erfahrung zeigt, dass ein solches Angebot nicht sehr häufig angenommen wird, den Abschied aber leichter macht. Es wird in der letzten Visite auch besprochen, an wen der Abschlussbrief gesendet und welcher Arzt der Regelversorgung damit weiter für den Patienten zuständig sein soll. Dies alles sind hilfreiche Brücken vom beschützten Behandlungssetting in den Alltag.

3.8.2.1 Im Hintergrund: Teaminterne Fortbildungen Als Team wird ein Zusammenschluss mehrerer Personen verstanden mit der Aufgabe, ein bestimmtes Problem zu lösen. Im klinischen Setting ist dies die Patientenbehandlung. Jeder Mitarbeiter mit Patientenkontakt im Rückenzentrum gehört verschiedenen Teams an. Neben den einzelnen Behandlungsteams, die jeweils eine Gruppe betreuen und sich interdisziplinär aus Arzt, Physiotherapeut, Sporttherapeut und Psychologe

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zusammensetzen, gibt es berufsbezogene Teams sowie das gesamte Team der Einrichtung, das sich aus allen Mitarbeitern zusammensetzt. Für unterschiedlich zusammenarbeitende Disziplinen ist eine gemeinsame theoretische Grundlage von zentraler Bedeutung. Im hier vorliegenden Kontext ist es das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Die Verständigung darauf und die Auseinandersetzung damit gehen über die reine Inhaltsebene hinaus. Dies betrifft auch den Umgang untereinander. Viele Therapeuten sind sozialisiert in hierarchischen Krankenhausstrukturen mit biomedizinischer Prägung. In reduktionistischer Sichtweise geht es darum, den einen strukturellen oder biochemischen Defekt zu finden und diesen zu beheben. Dies bestimmt auch auf der Beziehungsebene die Bedeutung der beteiligten Berufsgruppen an der Gesamtbehandlung. Vereinfacht gesagt steigt diesem Modell zufolge die Wichtigkeit der Berufsgruppe mit der Defektnähe. Engel hat bereits 1977 eine systemtheoretische Konzeption von Krankheit als Gegenmodell zum biomedizinischen Modell vorgeschlagen [200], bei dem psychische Faktoren und der unmittelbare, aber auch übergeordnete soziale Kontext gleichwertig beteiligt sind. Dies impliziert eine gleichwertige Zuständigkeit. In der Zusammenschau können dann Schwerpunkte gesetzt werden. Der bis heute historisch tief verwurzelte Dualismus zwischen Körper und Seele – „wenn es keinen Befund gibt oder der Befund das Leid nicht erklärt, dann ist es psychisch“ – führt zu getrennten Zuständigkeiten, die eine Zusammenarbeit erheblich erschweren. Insofern ist die Etablierung des biopsychosozialen Modells nicht allein eine Wissensfrage, sondern auch eine therapeutische Haltung, die entwickelt werden muss. Dies geschieht in der direkten gemeinsamen Arbeit, aber auch im Austausch darüber im Rahmen interner Fortbildungen, die eine wichtige Gelegenheit sind, Problemstellen zu reflektieren und Ideen zur Bewältigung zu entwickeln. Interne Fortbildungen finden regelmäßig fachspezifisch und fachübergreifend statt und werden aus dem Team heraus von einzelnen Mitarbeitern gestaltet. Themenvorschläge kommen von den Mitgliedern der jeweiligen Teams. Die Themenwünsche können sehr konkret sein (z. B. Gewebeheilung nach Verletzungen, Operationen), aber ebenso die gemeinsamen Schnittstellen/Botschaften oder die Gestaltung der Zusammenarbeit betreffen. Sie bieten damit auch eine Chance, gegenseitige Rollenzuschreibungen zu korrigieren und unterschiedliche berufliche Sozialisierungen zu verstehen und zu respektieren. Voraussetzung dafür, dass dies gelingt, sind eine Offenheit aller Beteiligten und die grundlegende Akzeptanz der Unterschiedlichkeit der Einzelnen. Tab. 3.13 zeigt beispielhaft eine Sammlung von Wünschen und Werten an die Zusammenarbeit, die im Gesamtteam erarbeitet wurde. Praktische Probleme der Zusammenarbeit sind gegenseitige Kompetenzüberschreitungen. Beispiele hierfür sind eine Sportberatung oder Übungsempfehlungen durch den Arzt, eine Beratung des Physiotherapeuten zu Infiltrationen oder die Empfehlung für Medikamente durch den Psychologen. In der unimodalen Regelversorgung kann es durchaus angemessen sein, dass der Arzt ein Handout mit Rückenübungen aushändigt. In der multimodalen interdisziplinären Behandlung

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Tab. 3.13: Ergebnisse einer internen Fortbildung. Werte/Wünsche in der Zusammenarbeit Verantwortung teilen Klare Zuständigkeiten Eigene Grenzen erkennen Sich einlassen und beschränken können Klare Struktur Vertrauen Wertschätzung Gleichberechtigung Austausch-Kommunikation Abgeben können Gemeinsame Sprache Respekt Interdisziplinär denken – spezialisiert handeln

Wo sind wir noch ausbaufähig? – Gegenseitige Kenntnisse der Fachtermini – Möglichkeiten der Nachbesprechung/Manöverkritik – Lösungsorientierter Fokus in den Teambesprechungen und Visiten – Visitenthemen und Gestaltung optimieren

erfolgt dies gezielter und fundierter durch den Bewegungstherapeuten. Hingegen ist es unterstützend, wenn der Arzt die Bedeutung von Sport und Bewegung betont und die Sicherheit vermittelt, dass die Wirbelsäule dies aushält. In der Zusammenarbeit heißt dies, zurückzutreten und an den anderen abgeben zu können. Letztlich geht es darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit der Kollege der anderen Fachdisziplin den Patienten gut behandeln kann. Das ist auch eine Frage der Wertschätzung, die vor dem Patienten gegenüber der anderen Disziplin ausgedrückt wird. Neben der Kompetenzüberschreitung („Schuster, bleib’ bei deinen Leisten“) stellen auch die Begrenzung der Möglichkeiten des eigenen Fachbereichs und die Einordnung in das gemeinsame Behandlungskonzept Schwierigkeiten dar. Interdisziplinär multimodal zusammenzuarbeiten bedeutet nicht selten gleichfalls, dass nicht jede mögliche Intervention des eigenen Behandlungsrepertoires in der interdisziplinären Behandlung sinnvoll ist. In der unimodalen Behandlung kann das Anlegen eines Tapes oder eine spezielle Triggerpunktbehandlung sinnvoll sein. Im multimodalen interdisziplinären Behandlungskonzept jedoch sind diese Maßnahmen mitunter kontraproduktiv, da sie übergeordneten Zielen wie der Übernahme von Eigenverantwortung und dem Fördern des Selbstwirksamkeitserlebens entgegenstehen. Das zu verstehen setzt ein Verständnis des biopsychosozialen Modells und der biopsychosozialen Auswirkung von Interventionen voraus. Neben teaminternen Fortbildungen sind auch interprofessionelle Hospitationen, insbesondere in der Einarbeitungsphase, eine wichtige Möglichkeit, den eigenen Blickwinkel zu erweitern, andere Therapeutenmodelle kennenzulernen und auch gegenseitige Vorbehalte abzubauen. Das alles kostet Zeit, wird aber von nahezu allen Kollegen als hilfreich und motivationsfördernd erlebt. Es entsteht ein positives

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Behandlungsklima, das u. E. entscheidend mit dem Behandlungserfolg zusammenhängt.

3.8.3 Kooperationswissen und inhaltliche Vernetzung Das Potenzial der interdisziplinären multimodalen Behandlung besteht in der Nutzung der Schnittstellen. Erst dadurch kann eine Behandlung ganzheitlich gestaltet werden. Dies setzt voraus, dass alle Beteiligten wissen, welche Schwerpunkte zu welchem Zeitpunkt im Behandlungsverlauf gesetzt werden. Je besser sich das Team kennt, umso mehr können die Therapeuten gegenseitig einschätzen, wie sie die Herangehensweisen des anderen im Verlauf nutzen und sich darauf beziehen können. Zentrale Themenbereiche im Behandlungsverlauf sind deshalb wichtige Schnittstellen für alle Berufsgruppen. Tab. 3.14 stellt die Themen im Behandlungsverlauf und deren Bearbeitung in den einzelnen Modulen gegenüber. Dabei zeigen die Themen „Aufklärung über die Diagnose“ und „Rückkehr in die Arbeitsfähigkeit“ in zeitlicher Hinsicht den Behandlungsverlauf am deutlichsten. Andere Themenbereiche hingegen ziehen sich über den gesamten Behandlungsverlauf.

3.8.3.1 Aufklärung – Antworten aus drei Blickwinkeln Zu Beginn der Behandlung stehen die Frage nach der Diagnose und die Entwicklung eines Krankheitsverständnisses, das alle Behandler und der Patient teilen, im Vordergrund. Das Krankheitsverständnis ist primär handlungs- und veränderungsorientiert. Der Patient sollte die ihn betreffenden Diagnosen und Störungsmechanismen einerseits einordnen, andererseits aber auch Behandlungsperspektiven ableiten können. Hierzu braucht er entsprechendes Wissen. Der Arzt vermittelt anatomisches Wissen über beteiligte Strukturen und Prozesse, verweist auch auf zentrale Verarbeitungsprozesse und die Bedeutung des Gehirns. In den psychologischen Einheiten werden die zentralen Verarbeitungsprozesse aufgegriffen und vertieft und um kognitive und affektive Aspekte erweitert. Auch die Lebenssituation und frühere psychophysische Schmerzerfahrungen sind von Bedeutung. Das schmerzbezogene Belastungs- sowie Bewegungsverhalten ist Folge der kognitiven und affektiven Verarbeitung und kann über erhöhte Muskelanspannung, Ausweichverhalten etc. die Aufrechterhaltung der Gesamtproblematik wesentlich mitbedingen. In den Sport- und Gymnastikeinheiten werden dysfunktionale Verhaltensweisen bewusstgemacht und verändert. Damit wird die Beteiligung bestimmter Muskelgruppen und Bewegungsmuster verdeutlicht. Dies kann eine bestimmte anatomische Struktur zwar nicht verändern, aber die Chance bieten, dadurch bedingte Veränderungen zu kompensieren. Die Struktur jeder motorischen Handlung impliziert neben koordinativen und konditionellen Leistungsdispositionen stets auch emotionale, motivationale, perzeptive, kognitive und mnemische Grundfunktionen. Das erfolgreiche Lösen einer

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Tab. 3.14: Themen im Behandlungsverlauf und ihre Verankerung in den Modulen. Medizin

Motorik

Woche 1: Aufklärung

Anatomie (alte und neue Rückenschule) Belastbarkeit Teufelskreis Schmerz, Schonung, Dekonditionierung

Leistungsfähigkeit

Woche 2: Entwicklung von Strategien Schmerzgedächtnis und Ablenkung

Schmerzgedächtnis Konservative Therapiemöglichkeiten bei akutem und chronischem Schmerz Medikamente Infiltrationstechniken

Psychologie

Visite/Team

Zielsetzung

Einschätzung des Pat., ob das Programm für ihn passt Diagnose

Körperwahrnehmung, Biopsychosoziales Belastungsempfinden Krankheitsmodell (Borg), SegSta Ermutigung zu Bewegung insgesamt

Schmerzentstehung, -weiterleitung, -verarbeitung

Verhaltensbeobachtung – Auffälligkeiten (Vermeidungsverhalten, Durchhaltestrategien) Einführung in Geräte, Eingangstestung Entlastungsübungen

Schmerzgedächtnis Bedeutung neuer Bewegungserfahrungen

Erhöhung der Trainingsbelastung

Schmerzgedächtnis (akut – chronisch)

Heimprogramm Problembezogene Übungen zusammenstellen (MTT, AT) Feedback zu Auffälligkeiten Koordinationsübungen Partnerübungen, Spiele

Ableitung von Strategien, Reflexion der Konfrontation mit vermiedenen Bewegungsmustern

Reaktion unter der Belastung des Programms, Medikation, Befinden

Einführung in die Entspannung

Ablenkung, Genuss, Aufmerksamkeitsfokussierung, Entspannung

Belastung durch das Trainingsprogramm, sind Änderungen (Medikation, Infiltration) sinnvoll

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Tab. 3.14: (fortgesetzt) Medizin Woche 3: Eigenverantwortung Selbstwirksamkeit Rückkehr zur Arbeit

Sozialmedizin: Abwehr einer sozialen Abwärtsspirale Handlungsmöglichkeiten, Mitwirkungspflicht, Gesundungsverantwortung Hausaufgabe für die Visite, Rückkehr an den Arbeitsplatz planen

Motorik

Umgang mit Rückfällen

Visite/Team

Be- und Entlastungsverhalten im Alltag Heimübungsprogramm in Eigenverantwortung: individuelle Vertiefung

Überlastungssignale erkennen

Arbeitsbezogene Bewegungsmuster

Dysfunktionale kognitive Muster erkennen, die Balance erschweren Strategien für eine bessere Balance

Individuelle Ausrichtung auf Alltagsbelastung Woche 4: Transfer in die Selbstständigkeit

Psychologie

Operative Therapiemöglichkeiten 4-Säulen-Modell

Selbstständiges Training bei zurückhaltender therapeutischer Korrektur

Motivation für weiteres Training als Prävention

Sportberatung

Entlastungsübungen

Abschlusstestung

Vorbereitung auf kritische Situationen im Alltag – Entwicklung von Strategien Ausblick – Befürchtungen Selbstmotivierung Balance überprüfen Hilfreiche Kognitionen und Verhaltensweisen Zielbilanzierung

Gestaltung der Rückkehr an den Arbeitsplatz

Offene Fragen Rückversicherung über die Arbeitsrückkehr

Rückversicherung über das geplante weitere Training Bedarfsmedikation Eigenübungen

Bilanzierung

motorischen Aufgabe – auch jeder noch so trivialen Übung – hängt von dem Potenzial des psychomotorischen Fähigkeitskomplexes ab. Die Umsetzung jeder Übung als individuell geprägtes Verhalten bietet die Gelegenheit, psychologische Lerninhalte zu vermitteln. Umgekehrt finden psychologische Themen eine konkrete Anwendung im körperlichen Handeln. Damit sind Medizin, Motorik und Psychologie in der Beschreibung, Erklärung und Aufklärung untrennbar miteinander verbunden.

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3.8.3.2 Änderungen erreichen – Handlungsvorstellungen (The body in the mind) Die Annahmen, dass Kognition in körperlichen Prozessen und Handlungen verankert ist und Körper und Handlungen zentral für kognitive Prozesse sind, sind im Schmerzbereich evident und werden auch therapeutisch, z. B. in der Spiegeltherapie bei Phantomscherzen, genutzt [201]. Handlungsvorstellungen sind mentale Simulationen über Handlungs-/Bewegungsmuster, ohne dass diese tatsächlich ausgeführt werden [202]. Es gibt Hinweise darauf, dass sich Menschen mit Rückenschmerz rückenbezogene typische Bewegungsabläufe (Rotation, Beugung) weniger gut vorstellen und an anderen einschätzen können als schmerzfreie Probanden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie sich in einer Schmerzphase befinden [203]. Auch in der Funktions-MRT zeigen sich Aktivierungsunterschiede von Rückenschmerzprobanden und schmerzfreien Probanden bei der Vorstellung von Bewegungsmustern. Die Vorstellung von Alltagsbewegungen ist dabei mit mehr Schmerz verbunden im Vergleich zur Vorstellung des Gehens [204], zur Vertiefung s. a. [205]. Unter dem Aspekt der Problemaktualisierung (Kap. 3.3) wurden bereits Individualisierung/Standardisierung und Konfrontation mit vermiedenem Verhalten thematisiert. Neben der emotionalen Komponente, die ebenso wie situative Faktoren mit dem Schmerzerleben verknüpft ist, sind auch Bewegungsvorstellungen an sich aufgrund bisheriger Erfahrungen durch Schmerz verändert. Dies betrifft nicht nur die Vorstellung eigener Bewegungen, sondern ebenfalls das Zusehen einer anderen Person bei der Durchführung einer bestimmten „gefährlichen“ Bewegung. Im WH geht es explizit um die Realisierung von Bewegungsmustern, einerseits um Angst abzubauen und das Skript einer vermiedenen oder gehemmten Bewegung wieder zu aktivieren. Andererseits handelt es sich auch darum, leicht veränderte funktionalere Bewegungsmuster zu entwickeln, die am Arbeitsplatz etc. umgesetzt werden. Dies wird dann funktionieren, wenn sich (wieder) eine Bewegungsvorstellung etabliert. Insbesondere das oft mit Angst besetzte Heben oder Bücken erfährt durch den methodisch gesteigerten Aufbau eine Problemaktualisierung, und über eine wachsende Wiederholungszahl werden diese Handlungen wieder zur Gewohnheit. In der Regel wächst die positive Bilanz und führt zu Bewegungssicherheit, Selbstvertrauen und Angstabbau. Die psychische Komponente bei Bewegungen wird in Testsituationen wie bei der PILE (Kap. 3.6.2) deutlich. Die anstrengenden und konfrontierenden Testaufgaben können die subjektive Belastbarkeitsgrenze tangieren und somit auch emotionale, motivationale und kognitive Muster und Modelle transparent werden lassen. Umgekehrt ist die körperliche Haltung stark mit der inneren Balance und dem emotionalen Befinden verbunden. Die Haltungskoordination (Kap. 3.6.4) wird somit direkt von psychologischen Themen tangiert. Grundsätzlich besteht mit einer koordinierten bewussten Gesamtaufrichtung bei gleichzeitig ökonomisch entspanntem Tonus das Potenzial für eine positive Grundstimmung. Das differenzielle Üben der Wirbelsäulenstatik kann den Patienten aber auch aus einer vertrauten Haltung und Emotion herausholen und schließlich im Einzelfall zu Unsicherheit und Angst führen.

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Die Thematisierung von Bewegungsabläufen durchzieht alle Einheiten des Programms und bildet eine wichtige Schnittstelle. Damit wird Schmerz vor allem unter dem Aspekt der Funktionsbeeinträchtigung behandelt. Bewegungsmuster werden in den Arztedukationseinheiten unter anatomischem Aspekt behandelt. Es gibt Informationen zur Belastbarkeit der Wirbelsäule und ihrer Flexibilität. Der Körperstamm mit seinem dreidimensionalen Bewegungspotenzial und hohen Maß an Freiheitsgraden liefert dem Arzt eine Vielzahl funktioneller Hypothesen als Alternative zu den strukturellen Befunden (Kap. 2.2). Die Segmentale Stabilisation (Kap. 3.6.5) ist eine aktive Intervention bei gleichzeitig äußerst geringer Nebenwirkung. Sie fördert eine Handlungsorientierung und ermöglicht Kontrollerleben. Dabei spielt die Alltagsnähe der Belastungen eine zentrale Rolle. In den psychologischen Einheiten geht es in konkreten Situationsanalysen (z. B. bei einer Schmerzverstärkung im Programm, aber auch bei Schmerzerleben am Arbeitsplatz) um die Aufdeckung dysfunktionaler Kognitionen, die mit diesen Bewegungsmustern verbunden sind, sowie um ihre Hinterfragung und Überprüfung durch die Erfahrungen im Sportbereich. Handlungsvorstellungen differenzieren sich durch ihre tatsächliche mehrfache Ausführung aus. Sie werden bestimmt durch sensomotorische Rückkopplungsprozesse, die größtenteils unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle verlaufen. Dadurch findet die tatsächliche Ausführung immer automatisierter statt. Eine Veränderung erfordert einen erheblichen Aufwand. Die Realitätsnähe der Handlung und das Üben mit Alltagsgegenständen sind unter dem Aspekt Handlungsvorstellung als Teil des Gedächtnisses erforderlich, um einen Transfer in das gewohnte Umfeld des Patienten und die dortigen Belastungsfaktoren zu unterstützen. Die Einnahme einer Körperhaltung, die mit der Handlungsvorstellung kompatibel ist, erleichtert die Handlungsvorstellung [206]. Handlungsvorstellungen und Handlungsausführung weisen sowohl auf Verhaltensebene als auch auf neuronaler Ebene viele Gemeinsamkeiten auf [207] und sind deshalb ein wichtiges Bindeglied zwischen Behandlung und Transfer in den Alltag (s. WH, Kap. 3.6.8). Im Übrigen ist hier auch die Gruppenbehandlung gegenüber einer Einzelbehandlung von Vorteil. Die Beobachtung von Bewegungsmustern der anderen Gruppenteilnehmer (= Handlungsbeobachtung), die Rückmeldung der Therapeuten an diese, aber auch das Nachvollziehen eines Handlungsmusters können das eigene verändern. Dabei geht es nicht nur um die Ausführung eines vermiedenen, sondern auch um die Entwicklung eines variantenreicheren Bewegungsmusters (z. B. Positionswechsel, Pausen). Die Wahrscheinlichkeit, das beobachtete Verhalten selbst auszuführen, erhöht sich, je mehr Gemeinsamkeiten zwischen beobachtender und beobachteter Person bestehen [208].

3.8.3.3 Entspannung Die Bedeutung von Entspannung als Gegenpol zur Anstrengung, aber auch als Voraussetzung für Regeneration und damit für Leistung, und eine Leistungssteigerung innerhalb des Programms bilden ebenfalls wichtige Schnittstellen. Weiterhin sorgt

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die Entspannungsfähigkeit für eine bessere Wahrnehmung und begünstigt so Bewegungslernen und die Ausführung koordinativer Aufgaben. Aber auch bei konditionellen Anforderungen ist ein Verkrampfen zu vermeiden. In Ausdauerleistungen tragen locker schwingende Bewegungen zum Bewältigen des Ökonomisierungsproblems bei. Entlastungsübungen, Dehnung und Entspannungsmomente finden in den Bewegungseinheiten und in der in unserer Einrichtung von Psychologen durchgeführten Progressiven Muskelrelaxation statt (s. Kap. 3.5.3). Thematisiert wird es in den Visiten (Wie ist der Schlaf? Stimmt das Ausmaß der Belastung im Programm?), in der Sportberatung (Trainingsprinzipien) und in den psychologischen Einheiten (Be- und Entlastung). Unter dem Aspekt der Handlungsvorstellung wurde die Bedeutung des Modelllernens kurz angerissen. Im Bereich Entspannung sind auch Therapeuten relevante Modelle. Eine wichtige Voraussetzung für Entspannung ist Zeit.

3.8.3.4 Rückkehr zur Arbeit Dieser Bereich wird ebenfalls von allen Berufsgruppen in der zweiten Programmhälfte thematisiert. Im Bewegungsbereich betrifft es die schrittweise Steigerung der Belastbarkeit in die Richtung, die am Arbeitsplatz gefordert wird. Sie betrifft auch die Konfrontation mit und die Modifikation von Handlungsmustern. Im psychologischen Bereich geht es um die psychischen Belastungsfaktoren (Kap. 3.5.4). Es handelt sich aber auch um die „Hürde“ des ersten Tages, d. h. um den Umgang mit Bemerkungen von Kollegen, Vorgesetzten, um die Abgrenzung im HH-Modell etc. An dieser Schnittstelle spielt die Autorität des Arztes eine entscheidende Rolle. Der Arzt entscheidet letztlich über die Arbeitsfähigkeit und das Leistungsbild. Hierfür ist er auf Informationen der Körpertherapeuten und die psychologische Einschätzung angewiesen.

3.8.3.5 Ganz konkret: Gemeinsame Botschaften in der Kommunikation mit dem Patienten In der täglichen Kommunikation mit Schmerzpatienten sind alle Therapeuten gefordert, Empfehlungen und Orientierung in den Grundsatzfragen zum Schmerz hinsichtlich Bewältigung, Verlauf und Prognose zu geben. Diese Botschaften greifen nicht in die Methoden des therapeutischen Kollegen ein, sondern setzen auf einer gemeinsamen übergeordneten Ebene an.

Prognosen – Ernsthafte oder anhaltende Schädigungen sind selten! – Rückenschmerzen sind in der Regel nicht bedrohlich! Rückenschmerzen werden aber sehr oft falsch bewertet. – Es gibt keine sichere und dauerhafte Patentlösung. Sie werden immer wieder gute und schlechte Phasen haben.

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Schmerzveränderungen im Programm – Was lange kommt, das braucht auch lange, bis es weggeht. – Manchmal kommt es zu Beginn zu einer deutlichen Schmerzreduktion oder auch zur Schmerzzunahme – muss aber nicht. Die Schmerzen können auch wiederkommen. Die Schmerzentwicklung ist nicht gleichmäßig. Die Schmerzentwicklung im Programm nimmt keinen Einfluss auf den langfristigen Erfolg. Es darf noch „wehtun“. – Der Schmerz hat vielfältige Verstärker. Wir sehen Sie nur fünf von 24 Stunden am Tag. Deshalb können Sie die Verstärker am besten selbst erkennen. Sind z. B. Be- und Entlastung im Gleichgewicht? Aktivität findet in einem Optimum statt. „Viel hilft nicht viel.“ Umfangreiche Vermeidung oder auch hohe Leistungsanforderungen kommen in der Realität immer wieder vor und sind entsprechend zu kompensieren. – Häufig kommt es zu einem so genannten Anpassungsschmerz aufgrund der ungewohnten Bewegungsreize. Mit steigender Differenzierungsfähigkeit erkennt man dabei Veränderungen des Schmerzortes, der Schmerzintensität oder der Schmerzqualität. Dies können bereits erste Anzeichen sein, dass Sie selbst etwas in positiver Richtung ändern.

Aktivieren und Motivieren – Bleiben Sie im Alltag und in der Freizeit in Bewegung! – Vertrauen Sie auf Ihre eigenen Fähigkeiten! – Vermeiden Sie längeres Kranksein! – Setzen Sie sich aktive Ziele! Schmerzen haben eine positive (überlebenswichtige) Funktion. Warten Sie also nicht auf Schmerzfreiheit, sondern versuchen Sie aktiver zu werden. Chronische Schmerzen stellen ein Signal dar, welches eine aktive Verhaltensänderung erfordert. – Definieren Sie realistische Ziele: nicht den Zustand vor der Rückenerkrankung anstreben, sondern eine Verbesserung der Situation vor dem Programm.

Selbstwirksamkeit fördern – Es gibt vieles, was Sie selbst tun können! – Nutzen Sie die Selbstwahrnehmung und Selbstdifferenzierung, denn nur Sie können am besten selbst wissen, was gut für Sie ist. – Ziel ist es nicht, gleich etwas Neues zu lernen, sondern neue Lernerfahrungen zuzulassen. Denn Schmerzen zu beeinflussen heißt, Gewohnheiten zu ändern. Aber Veränderungen sind schwer, und der Versuch ist schon ein kleiner Erfolg. (Der erste Schritt ist der schwerste.)

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3.8.4 Wie sich alles zusammenfügt – Ein wissenschaftstheoretisches Fazit Die Grundkonzeption der Therapie von Rückenschmerzen und insbesondere die MMST werden mit Hilfe von abstrakten Begriffen (Komplexität, Interdisziplinarität) und Modellen (biopsychosozial) erklärt und begründet. Dies erfolgt jedoch oft ungenau und führt so zu widersprüchlichen Therapiekonzepten und Teamkonstellationen. Das für eine präzise Definition notwendige „vorwissenschaftliche“ Denken fällt in den Bereich der Philosophie und Wissenschaftstheorie. Deren Sichtweisen liefern eine belastbare Orientierung, decken Fehler in der Grundkonzeption auf und ermöglichen auf induktivem Weg ein Fazit für die MMST.

3.8.4.1 Linear, komplex, chaotisch – Wie erklären wir die Welt? Während vor 200 Jahren die Natur noch als ein lineares System beschrieben wurde, sind heute komplexe oder chaotische Modelle alltagsgeläufig: die Unvorhersehbarkeit des Wetters, das Auf und Ab an der Börse, das Auftreten viraler Infekte etc. Die geläufige Bezeichnung derartiger Prozesse und Ereignisse schwankt zwischen komplex und kompliziert. Gibt es eine klare Differenzierung? „Komplizierte“ Systeme gelten mit etwas Anstrengung als überschaubar und erklärbar. Genaugenommen beschreibt dies dann so genannte lineare Systeme. Ein erster Besuch in Venedig kann ohne Stadtplan einem Herumirren in einem undurchdringbaren „komplexen“ Labyrinth ähneln. Mit zunehmendem Begehen der Wege wird die Orientierung besser. Ein Ortskundiger erklärt dem Touristen schließlich den Weg mit Selbstverständlichkeit. Lineare Prozesse sind aufgrund ihrer vorhersehbaren Prozesse leichter verstehbar. Deshalb werden lineare Erklärungsmuster bevorzugt, auch wenn sie die Wirklichkeit nicht korrekt abbilden können [209]. Komplexe Systeme dagegen können trotz zunehmender Aufschlüsselung nie vollständig vorhergesagt werden. Die Unterteilung eines komplexen Systems in seine Elemente ist für das Verstehen sogar unbrauchbar. Denn die Vernetzung und das Zusammenspiel der Teile erzeugen über spontane Selbstorganisation neue Eigenschaften des Gesamtsystems (= Emergenz). „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ [210] Die Erklärung derartiger Systeme ist entsprechend schwieriger. Für die Forschung und Praxis bedarf es schließlich geeigneter Modelle zur methodischen Orientierung. So ist nicht nur der „Hexenschuss“ überraschend, jede Form von Rückenschmerz ist in seinem individuellen Verlauf nur vage zu prognostizieren und gilt somit zu Recht als ein komplexes Problem. Für die Strukturierung von umsetzbaren Therapiekonzepten hat sich bei Rückenschmerzen das biopsychosoziale Krankheitsmodell durchgesetzt.

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3.8.4.2 Biopsychosozial: Der Mensch erklärt sich selbst Die MMST basiert auf der theoretischen Grundlage des biopsychosozialen Modells (s. Kap. 1, Kap. 3.3. und Kap. 3.8.4). Die damit verbundene theoretische Konzeption geht über die bloße Erweiterung eines somatischen Krankheitskonzeptes um psychische und soziale Komponenten hinaus. Sie beinhaltet im Kern einen Paradigmenwechsel in der Medizin von einer reduktionistischen auf die Krankheitsursache hin orientierten zu einer systemorientierten Sichtweise. Trotz häufiger Verwendung des Begriffs ist dieser Wechsel kaum Bestandteil der Behandlungsrealität [211]. Historisch betrachtet basiert die Aufteilung in Geistes- und Naturwissenschaften auf der Descartes‘schen Trennung zwischen einer subjektiv-psychischen und einer objektivkörperlichen Welt. Die Medizin entwickelte sich als Naturwissenschaft mit dem Ziel, das Objekt „Organismus“ und die darauf einwirkenden Noxen zu untersuchen [212]. Das Subjekt Mensch und seine Beziehung zur Umwelt blieben außen vor. Im Weiteren entwickelten sich Unterdisziplinen der Medizin, die sich auf die einzelnen Organsysteme konzentrieren. Eine Verbindung zwischen Körper und Seele wird in psychosomatischen Theorien (z. B. durch Freud) beschrieben. Die psychosomatische Medizin wird jedoch kritisiert, da sie in ihrer Konzeption und Begrifflichkeit den Dualismus zwischen Psyche/Seele und Körper/Leib widerspiegelt und dem reduktionistischen Ansatz verhaftet bleibt [211, 213]. Hingegen betonen andere Autoren, dass Psychosomatik nicht mit einer linearen Kausalität in dem Sinne, dass psychische Störungen körperliche Krankheiten verursachen, gleichgesetzt werden dürfe [214]. Psychosomatische Erkrankungen werden auf eine primär psychische Ursache zurückgeführt und in Klassifikationssystemen neben den Erkrankungen anderer Organsysteme aufgeführt. Dieser gleichermaßen horizontalen Betrachtungsweise lässt sich das biopsychosoziale Modell als vertikale Konzeption gegenüberstellen. Das biopsychosoziale Modell nach Engel [211] beschreibt die Natur als hierarchische Anordnung von Systemen (subatomare Teilchen, Atome, Moleküle, Organellen, Gewebe, Organe, Person, 2-Personen-Beziehung, Familie, Gemeinde/Gemeinschaft, Kultur, Gesellschaft/Nation, Biosphäre), die auf ihrer Ebene und zwischen den Ebenen vernetzt sind. Dabei ist ein wesentliches Kriterium für Komplexität gegeben: Phänomene der Makroebene sind dabei nicht aus den „Elementen“ und „Vorgängen“ der Mikroebene ableitbar, sondern haben eine neue Qualität (= Emergenz). Ein psychologisches Konstrukt wie etwa „Selbstunsicherheit“ ist auf physiologischer Ebene nicht auffindbar. Was wir dort davon finden, sind z. B. biochemische Erregungsmuster, die nur mit Kenntnis der übergeordneten Funktion in ihrer psychologischen Bedeutung verstehbar sind. Dies gilt insbesondere auch für Schmerzen. Moseley [215] beschreibt Schmerz als emergentes Output-System, das durch eine individuelle spezifische Schmerzmatrix aktiviert wird. Diese Neuromatrix wird immer dann aktiviert, wenn unser Gehirn beschließt, dass sich Körpergewebe in Gefahr befindet. In dem entsprechenden anatomischen Areal im virtuellen Körper wird dann Schmerz ausgelöst.

3.8 Die Verschmelzung der Module – Interdisziplinäres Arbeiten | 225

Eine zentrale Konsequenz des biopsychosozialen Krankheitsmodells liegt darin, dass jedes Ereignis und jeder Prozess, der an der Krankheitsentwicklung beteiligt ist, nicht entweder biologisch oder psychisch, sondern biologisch und psychisch ist [211, 213]. Neben dieser ganzheitlichen Betrachtungsweise setzt insbesondere die emergente Charakteristik Verständnis und Akzeptanz voraus. Unvorhersehbarkeit und Selbstorganisation beschränken die Analyse und Beeinflussbarkeit. Der Therapeut kann nicht alles wissen oder auch messen, sondern ist gefordert, das „Kochrezept“ an den jeweiligen Patienten und die aktuelle Behandlungssituation anzupassen. Eine weitere Konsequenz dieser Ausweitung ist die dann notwendige Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen. Eine disziplinäre Kooperation bringt verschiedene Perspektiven mit sich, ermöglicht so das Entstehen von Ideen und fördert Entwicklungen, die überraschen können, das System lebendig halten und Behandler wie Patienten zufriedener machen. Wie ist nun die Zusammenarbeit unterschiedlicher therapeutischer Berufsgruppen so zu gestalten, dass „das Ganze“ mehr ist als die Summe seiner Teile?

3.8.4.3 Interdisziplinarität als (personelle) Schlüsselqualifikation Interdisziplinarität gewinnt in der Forschungs- und Fachwelt zunehmend an Bedeutung. Seit Mitte der 1980er Jahre werden in wissenschaftlichen Publikationen zunehmend Arbeiten aus anderen Fachgebieten zitiert. Die Häufigkeit der Erwähnung von „Interdisziplinarität“ im Titel der Veröffentlichung erreichte in den letzten Jahren sogar einen Spitzenwert [216]. Das lässt den Begriff als Modewort erscheinen. Im medizinischen Sektor nimmt dies darüber hinaus inflationäre Merkmale an. Das heißt, der Begriff wird immer seltener klar in seiner Bedeutung verwendet. Wissenschaftstheoretiker bieten sehr hilfreiche Definitionen für Interdisziplinarität und ihre meist unbekannten „konkurrierenden“ Begriffe und Binnendifferenzierungen (Multi-, Pluri-, Cross- und Transdisziplinarität) an: [217] „Multidisziplinarität“ beschreibt zunächst lediglich ein disziplinäres Nebeneinander in der Bearbeitung eines Themengebiets, jedoch widmet sich jeder nur seinem Teilaspekt ohne Synthesebemühungen der einzelnen Ergebnisse. Gegenüber einer reinen monodisziplinären Forschung besteht zumindest eine gegenseitige Kenntnisnahme. „Interdisziplinär“ betitelte Sammelbände z. B. vereinen Beiträge verschiedener Disziplinen zu einem Problemfeld. Die einzelnen Autoren sind dabei in der Kenntnis über die Nachbarbeiträge. Es finden aber keine ernsthaften gegenseitigen Bezugnahmen statt. Die „Pluridisziplinarität“ beschreibt die nächste feine Stufe von Zusammenarbeit. Das bloße Nebeneinander wird um die Absicht ergänzt, die Beziehungen untereinander zu verbessern. Man findet diese Form bei verwandten Fächern, die mit ihren

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Methoden an demselben Thema arbeiten und ihre Ergebnisse austauschen, jedoch noch ohne gegenseitige Gestaltung und Beeinflussung der theoretischen Identitäten. Bei der „Crossdisziplinarität“ werden fremde Methoden für die eigenen Aufgaben genutzt, man verbleibt aber in den vorhandenen Fächergrenzen. So greifen z. B. die Therapeuten eines Teams passende theoretische Modelle der Kollegen auf, erklären damit die eigenen Theorien oder Hypothesen und stellen somit die eigene fachliche Identität auf eine breitere Basis. Wahrscheinlich ist es diese Form, die oft in der (therapeutischen) Praxis von vermeintlichen interdisziplinären Konzepten anzutreffen ist. „Interdisziplinarität“ fordert ein gemeinsames Forschen oder Handeln an einem Problem, welches mit einem Fachbereich allein nicht ausreichend erklärbar („komplex“) ist. Während die bisherigen Formen des Zusammenarbeitens von kleinen formellen Schnittmengen oder schwacher gegenseitiger Wahrnehmung geprägt sind, steht nun die fachliche Kooperation im Vordergrund. Die Anwesenheit verschiedener Fächer, die Einbeziehung sämtlicher Perspektiven, die Nutzung derselben Methoden oder das gegenseitige Ergänzen der Grenzgebiete sind zunächst nur einzelne Kriterien. Darüber hinaus verschmelzen bei einer hochwertigen Interdisziplinarität die theoretischen Integrationsniveaus und Modelle verschiedener Disziplinen. Als Binnendifferenzierung wird diese fortgeschrittene Ausprägung als „vereinigende Interdisziplinarität“ bezeichnet. Ein Beispiel für Verschmelzung ist die Durchführung derselben funktionellen Tests von Ärzten und Physiotherapeuten. Was auf den ersten Blick wie eine unwirtschaftliche Dopplung aussieht, erhöht durch verschiedene Perspektiven die Chance, die Komplexität des Bewegungssystems wenigstens in Teilen zu verstehen. Abschließend sei noch erwähnt, dass mit dem dauerhaften Zusammenwachsen von Disziplinen und einer entsprechenden Umorientierung letztendlich neue wissenschaftliche Fächer entstehen und die wissenschaftssystemische Ordnung umgestaltet wird. Es wird dann von „Transdisziplinarität“ gesprochen. Zusammenfassend erklären diese Begriffsvarianten von Disziplinarität qualitative Niveaustufen von fachlicher Zusammenarbeit in der Gewinnung neuer Erkenntnisse, Erschließung neuer Fachgebiete oder Lösung von Problemen. Entscheidend dabei ist der komplexe fachübergreifende Charakter des Problems. An dieser Stelle wird auch die Abgrenzung von Disziplinen untereinander deutlich: Es ist der spezifische Umgang eines Faches mit ein und demselben Problem oder Gegenstand, also die Unterscheidung des theoretischen Integrationsniveaus. Je kleiner die theoretische Schnittmenge der kooperierenden Fachgebiete dabei ist, desto größer ist der zu erwartende Erkenntnisgewinn, umso schwieriger ist aber auch die interdisziplinäre Umsetzung. So sind in der gemeinsamen Versorgung derselben Patienten durch psychologische und physiotherapeutische Kollegen Kontroversen vorprogrammiert. Wenn aber beide Perspektiven vereint werden können, entsteht eine deutlich höherwertige Lösung als mit dem monomodalen Ansatz. Dagegen ist

3.9 Eine Patientin erzählt – Teil 2

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der Erkenntnisgewinn nur klein, aber möglich und sehr wahrscheinlich bei ähnlichen theoretischen Schnittmengen wie bei Orthopädie und Neurologie. Schließlich ist noch eine wichtige Ebene für Interdisziplinarität zu erwähnen: Kooperation findet immer zwischen Personen unter den konkreten Arbeitsbedingungen von Institutionen statt. Wahrscheinlich ist diese Ebene entscheidend für eine erfolgreiche Arbeit in der Therapie. So zeigte eine qualitative Analyse von RehaEinrichtungen folgende Ergebnisse [218]: – Grundsätzlich findet in erfolgreichen Institutionen mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit statt. Insbesondere die Möglichkeiten zur Besprechung sind umfangreicher. Dieser kommunikative Mehraufwand setzt kurze Wege („alles unter einem Dach“) voraus. – Die fachliche Hierarchie ist durch eine geringere Arztdominanz reduziert. – Auf Leitungsebene erfährt die Teamarbeit eine höhere Wertschätzung. Ausbildung und Sozialisation der Beteiligten prägen die persönlichen Grundwerte und Weltbilder. Deren Veränderung stellt eine große Hürde dar und erfordert eine hohe Bereitschaft und Offenheit zur Kooperation. Interdisziplinarität ist also eine Frage der Haltung und Einstellung aller Beteiligten. Gegenseitiges Vertrauen, Anerkennen und Wertschätzen sind unabdingbar. Fazit Die Behandlung von CRS hat sich von der monomodalen biomedizinischen Dominanz abgewandt und des komplexen Charakters des Problems angenommen. Das biopsychosoziale Krankheitsmodell liefert eine adäquate Orientierung zur Gestaltung entsprechend komplexer Therapiekonzepte. Die MMST hat sich als eine wirksame Form herausgestellt. Ein disziplinübergreifendes Zusammenarbeiten ist dabei das wichtigste personelle Kennzeichen. Die Ausprägung von (Inter)disziplinarität bleibt dabei variabel. Interdisziplinarität ist nicht immer von Vorteil. So steht sie in der Grundlagenforschung dem Erkenntnisgewinn oft entgegen. Auch in der Diagnostik bedarf es für Teiluntersuchungen eines spezialisierten Blicks. Aber bereits in der Interpretation von Befundergebnissen und schließlich in der Therapie ist ein interdisziplinäres Handeln unumgänglich für die Behandlung und Wertschätzung des Patienten/Menschen in seiner Individualität und Vielfalt.

3.9 Karoline Uphoff: Eine Patientin erzählt – Teil 2 Schon in den ersten Wochen meiner Krankheitsgeschichte habe ich mich gefragt, warum psychische Komponenten bei der konventionellen Behandlung von Rückenerkrankungen so wenig Beachtung finden. Auch empfand ich es als problematisch, dass ich die tatsächlichen Behandlungseinheiten bei Physiotherapeuten erhielt, die in keiner Verbindung mit meinen Ärzten standen. Wussten die Therapeuten denn, was zu tun war? Die ärztlichen Verordnungen, die ich an sie weiterreichte, enthielten – soweit ich es beurteilen konnte – lediglich Standardempfehlungen. Hatte ich alle wichtigen Informationen korrekt weiter-

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gegeben? Meine Sorge, dass mir die physiotherapeutischen Behandlungseinheiten eher schaden als nützen, nahm mehr und mehr zu. In den Monaten nach dem Erlebnis in der Notaufnahme ging es mit meinem Zustand bergab, bergan – und steil wieder bergab. Ich wechselte den Physiotherapeuten, geriet im Zuge der sommerlichen Urlaubszeit an Vertretungsärzte, hörte weitere Meinungen, erhielt neue Medikamente und wieder andere Empfehlungen. Schließlich hatte ich meinen letzten Kunden verloren. Dank einer freiwilligen Arbeitslosenversicherung konnte ich in einer Phase, in der es mir besser ging, Arbeitslosengeld I beantragen. Für mich kam das einem Gefühl des Scheiterns gleich, aber immerhin war ich finanziell erstmal abgesichert. Rund vier Wochen nach meiner Arbeitslosmeldung stürzte ich völlig ab. Der neue Physiotherapeut hatte mit mir ausschließlich statische Übungen gemacht, mein Rücken war steif wie ein Brett, ich bekam wieder stärkere Schmerzen, litt unter Panikattacken und Depressionen. Ich wusste schon längst nicht mehr, was „falsch“ und was „richtig“ war, und geriet in eine immer stärkere Vermeidungshaltung. Ich lag die meiste Zeit des Tages im Bett, weinte viel und verzweifelte an der Vorstellung, dass ich mich mit diesem Zustand würde abfinden müssen. Erst ein halbes Jahr nach Beginn meiner Erkrankung erfuhr ich von einer Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin, die ich auf Empfehlung eines Freundes aufgesucht hatte, von einem Reha-ähnlichen Programm namens „Integrierte Versorgung Rückenschmerz“, kurz IVR. Meine Krankenkasse würde dieses Programm für drei Wochen unterstützen, ich müsste dafür in eine Tagesklinik gehen, dort würde ich intensiv medizinisch, physiotherapeutisch und psychologisch behandelt. Ich kontaktierte meine Krankenkasse, die mich, seit ich von einem Orthopäden krankgeschrieben worden war, sowieso schon „auf dem Schirm hatte“ – und dann ging alles ganz schnell. Bereits wenige Tage später stellte ich mich im „Rückenzentrum“ für das sogenannte „Screening“ vor, ein mehr als drei Stunden dauerndes Diagnoseverfahren, das dem Programm vorgelagert ist. Am darauffolgenden Tag bot man mir einen Platz an, und ich sagte zu – auch wenn mir die Tatsache, dass ich das Programm dort in einer Gruppe durchlaufen würde, einige Bauchschmerzen verursachte. Eine knappe Woche später begann ich mit der Therapie. Nach der Begrüßung und einer Führung durch die Räumlichkeiten starteten wir mit einfachen Aktivierungsübungen. Wir sollten uns strecken, bücken, mit den Hüften und den Schultern kreisen, uns zu den Seiten beugen, Oberkörper und Köpfe drehen. Jede Bewegung fiel mir schwer, meine Muskeln fühlten sich starr und krank an, aber ich machte tapfer mit. Jeden sorgenvollen Gedanken darüber, ob nicht diese oder jene Bewegung irgendeinen Schaden anrichten könnte, schob ich beiseite. Denn da stand die Physiotherapeutin, die würde schon wissen, was sie tat, die hatten hier doch Erfahrung mit Leuten wie mir, und wenn doch mal etwas schiefgehen sollte, dann wäre ich hier umgeben von qualifizierten Ärzten, die das Desaster ausbaden müssten. Vor dem zweimal wöchentlich stattfindenden Krafttraining machten wir in Zweiergruppen die so genannte „Ballerwärmung“, bei der man sich aus unterschiedlichen

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Haltungen heraus einen Gymnastikball übergibt – keine leichte Übung für mich, da man sich, was das Tempo und den Umfang der Bewegungen angeht, auf den jeweiligen Partner einstellen muss, und ich dabei aus meiner gut kontrollierbaren „Bewegungskomfortzone“ herausgezwungen wurde. Ebenfalls zweimal wöchentlich ging es an die Ausdauergeräte. Wir sollten zunächst alles ausprobieren. Das bedeutete, dass ich bereits am zweiten Tag der Therapie auf ein Laufband, ein Fahrrad, einen Crosstrainer und an eine Rudermaschine musste – unvorstellbar! Die waren hier eindeutig verrückt. Aber der „Wenn-was-schiefgeht-müsstihr-es-wieder-richten-Deal“, den ich insgeheim am Vortag mit dem „Rückenzentrum“ geschlossen hatte, stand nach wie vor, also ergab ich mich in mein Schicksal und es passierte … nichts. Alles fühlte sich ungewohnt und merkwürdig an, aber ich bekam keine Schmerzen, schon gar keinen weiteren Bandscheibenvorfall und auch sonst nichts Beunruhigendes – ganz im Gegenteil: Ich fühlte mich super und war stolz wie Bolle. Schon in der ersten Woche wurde damit begonnen, ein Heimprogramm einzuüben, damit wir im Anschluss an die Therapie in Eigenregie weiter trainieren konnten. Vom Grundprinzip her war mir keine der sechs Kraftübungen unbekannt. Neu war für mich, dass sie größtenteils in einer dynamischen Variante ausgeführt wurden, und das machte mir Probleme. Besonders schwierig waren alle Übungen, bei denen ich die Wirbelsäule „einrollen“ musste. Zu jeder Kraftübung gab es verschiedene Entlastungs- beziehungsweise Dehnübungen, die man zwischendurch machen sollte. Zusammen mit dem mobilisierenden Aktivierungsprogramm, mit dem wir auch das Krafttraining an den Geräten einleiteten, nahm mir das endgültig die Sorge, dass ich mir hier ein neues „Rückenbrett“ heranzüchten würde. Tatsächlich ist das nie wieder passiert. Dreimal pro Woche ging es in die „Schmerzbewältigungsgruppe“, in der uns anschaulich aufbereitete Hintergrundinformationen und verschiedene Techniken zur Schmerzreduzierung vermittelt wurden, allen voran die „Progressive Muskelentspannung“. Da ich schon beim zweiten Versuch einen positiven Effekt wahrnahm, trainierte ich die Technik auch zu Hause – phasenweise bis zu zweimal täglich. Noch heute nutze ich die Methode regelmäßig und halte sie tatsächlich für ein wirksames Instrument, um körperlichen und psychischen Anspannungszuständen entgegenzuwirken. Beim „Alltagstraining“, das mittwochs und freitags auf dem Programm stand, wurden an verschiedenen Stationen lebensnahe Tätigkeiten ausgeführt. Meine „Angststationen“ waren diejenigen, bei denen man etwas tragen oder heben musste. Zwar wurde das Gewicht individuell angepasst und gesteigert, trotzdem war ich dabei extrem ängstlich und übervorsichtig. Die Physiotherapeutin stellte fest, dass ich am Diagnostiktag gar nicht angegeben hätte, dass mir das Heben Probleme bereiten würde. Das stimmte, aber genau genommen hatte ich auch keine Probleme beim Heben, ich machte es schlichtweg nicht. Auch wenn hier einiges für mich eine mentale Höchstleistung bedeutete, war ich schon nach dem ersten Durchgang erklärter Fan des Alltagstrainings. Ich konnte mich in einem „geschützten Raum“ und unter fachlich versierter Betreuung langsam wieder an die Tätigkeiten herantasten, die mir im Alltag schwerfielen oder die ich aus Angst komplett vermied – und das war für mich Gold wert.

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Nach dem ersten Alltagstraining, das am dritten Therapietag stattfand, war ich so euphorisch, dass ich entschied, nicht mit dem Bus nach Hause zu fahren, sondern zu laufen. Das bedeutete einen Marsch von rund 50 Minuten. Währenddessen bekam ich plötzliche, stechende Schmerzen im unteren Rücken, die ersten seit Wochen – da hatte ich mich wohl übernommen. Im weiteren Verlauf des Tages sank meine Stimmung ins Bodenlose, ich war frustriert und hoffnungslos. Nachdem es in den ersten Tagen des Programms überraschend gut für mich gelaufen war, hatte ich nun meinen ersten Einbruch. Am nächsten Tag stand „Medizinische Trainingstherapie“ an Geräten auf dem Plan, und nach der Aufwärmphase bekam ich erneut Schmerzen. Was tun? Am ersten Tag hatte man uns gesagt, wir sollten nicht in den Schmerz hineintrainieren, aber es würde schon darum gehen, unsere Grenzen zu erweitern. Aber was hieß das im konkreten Fall? Ich legte mich erstmal auf die Gymnastik-Freifläche, dann kam der Sporttherapeut in den Raum. Ich erklärte ihm mein Problem und auch, dass ich nicht wirklich wüsste, wie ich damit umgehen sollte. Er fragte mich, was ich denn zu Hause in solchen Fällen täte. „Da würde ich mich jetzt mit einer Wärmflasche ins Bett legen.“ – „Und wohin hat Sie das gebracht?“ Mir gefiel der Subtext in dieser Frage nicht, der Typ hielt mich für eine Memme. Aber irgendwie hatte er ja Recht, und als meine Gruppenkollegen nach und nach eintrafen, raffte ich mich auf und griff mir einen Partner für die Ballerwärmung. Zunächst führte ich nur Übungen durch, die den unteren Rücken nicht direkt mit einbezogen. Das ging erstaunlich gut, und am Ende machte ich dann doch alles. Damit hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Schmerzen einen nicht per se von der ursprünglichen Planung abhalten müssen. Meine Meinung zur Einteilung in Gruppen hatte ich bald revidiert. Ich mochte meine Gruppe und fand es schön, endlich wieder in einen engen sozialen Kontext integriert zu sein. Auch in den Pausen hatte ich Bezugspersonen, und dass ich das Programm zusammen mit „Leidensgenossen“ absolvieren konnte, half mir, aus meinem stark nach innen gerichteten Fokus herauszukommen. Ich hatte dadurch weniger Raum, bei jeder Bewegung in mich hineinzuhorchen, ich nahm mich und meine Beschwerden schlichtweg weniger ernst. Schon in den ersten Tagen der Therapie hatte ich mich dabei „erwischt“, wie ich mir aus dem Stand heraus einen Schuh zuband. Während ich mich im Pausenraum mit einem meiner Gruppenkollegen unterhielt, merkte ich plötzlich, dass ich dabei schräg und seitlich angelehnt auf einem Stuhl saß – so etwas hatte ich seit einem halben Jahr nicht mehr getan und: Es ging, ich konnte das ganz offensichtlich! Ich traute mir hier, in diesem geschützten Umfeld, „normale“ Bewegungen wieder zu. In der ersten Woche des Programms haben wir eine Menge einzelner Bausteine an die Hand bekommen, die sich für mich erst erheblich später zu einem schlüssigen Ganzen zusammensetzen sollten. Dennoch hatte ich erste Erfolgserlebnisse gehabt, Bewegungsängste abgebaut, Kontrolle abgegeben. Und ich hatte alternative Wege gefunden, mit erneut auftauchenden Schmerzen umzugehen. Schmerz gehörte für mich zwar nicht zu den schlimmsten Beschwerden – der ruhelose Zustand des „Nicht-sein-Könnens“ und die gefühlte Ohnmacht im Umgang mit der Erkrankung waren deutlich bedrückender –,

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aber er war doch immer ein Alarmsignal gewesen, das Angst auslöste und mich zurück in die Vermeidungshaltung brachte. Die Frage „Und wohin hat Sie das gebracht?“ sollte mich noch eine ganze Weile handlungsleitend begleiten. In der donnerstäglichen Visite, bei der die Gruppenärztin und unsere Behandler anwesend waren, wollte ich vor allem eine Frage klären, die sich mir nach der Lektüre von zuvor ausgehändigtem Informationsmaterial aufgedrängt hatte: Würde ich infolge der monatelangen Schonhaltung möglicherweise für immer behindert bleiben? Eine eindeutige Prognose erhielt ich nicht, doch schließlich erklärten mir die Ärztin und die Physiotherapeutin, dass sie davon ausgingen, dass die Wiederherstellung meiner Beweglichkeit vor allem lange dauern würde. Ich nahm aus diesem Gespräch etwas für mich sehr Wichtiges mit: Wenn die sich selbst hier – trotz aller Spezialisierung und Erfahrung – bezüglich des weiteren Verlaufs nicht festlegen wollen, dann müsste ich wohl oder übel damit leben, dass es keine definitive Prognose gibt. Es würde besser werden, denn das wurde es bereits. Wie viel besser und ob ich jemals wieder an die körperliche Verfassung herankäme, in der ich mich vor dem Bandscheibenvorfall befunden hatte, das bliebe – so unbefriedigend ich das auch fand – abzuwarten. Im Zuge dieser Visite hatte ich einen ersten Schritt in Richtung Akzeptanz eines langwierigen und manchmal eben auch ungewissen Heilungsprozesses gemacht. Trotz aller Professionalität war die allgemeine Stimmung im „Rückenzentrum“ entspannt und humorvoll. Bei allen unseren Behandlern hatte ich den Eindruck, dass sie sich auf die Patienten individuell einstellten. Aber die Art und Weise, auf die die Physiotherapeutin mit mir und meinen Ängsten umging, hätte für mich nicht passender sein können. Sie nahm meine Beschwerden und Sorgen ernst, kämpfte mit mir gemeinsam um jeden Millimeter mehr Beweglichkeit, vermittelte mir aber auch deutlich, wenn sie die eine oder andere Angst für ausgemachten Blödsinn hielt. Beim vierten Alltagstraining fragte sie mich, ob ich nicht ein wenig mehr Gewicht aus einer etwas tieferen Position heben wollte – mit rundem Rücken, versteht sich. Ich guckte sie skeptisch an und erklärte, dass ich es versuchen, mich dabei aber nicht wohl fühlen würde. Sie fragte: „Und wieso jetzt noch ’mal gleich?“ Ich: „Sploing?“ Das wollte sie so nicht stehen lassen und baute drei verschieden hohe Podeste auf, auf denen ich die Kiste mit den Gewichten abstellen und von denen aus ich sie wieder anheben könnte – wenn ich denn wollte. Ich probierte schlussendlich jede Höhe mehrmals durch, „rausgesploingt“ ist aus meiner Wirbelsäule dabei nichts. Der Sporttherapeut machte mit uns in der morgendlichen Gymnastikeinheit viel Spielerisches. Wir liefen kreuz und quer durch den Raum und sollten uns dabei auf verschiedene Arten Bälle unterschiedlicher Farbe zuwerfen. Über die Koordination solcher auf schnellen Bewegungen basierenden Spiele vergaß ich immer häufiger meine Körperkontrolle. Wir balancierten auf Bänken, mit offenen und geschlossenen Augen, mit und ohne Gymnastikball, wir spielten auf improvisierten Feldern Tischtennis. Jedes Mal kam der Therapeut mit neuen Ideen, und selbst die größten Sportmuffel in unserer Gruppe hatten Spaß daran. Wir machten kleine Beweglichkeits-, Geschicklichkeits-

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und Koordinationsübungen und trainierten das zukünftige Heimprogramm. Während des Ausdauertrainings erfragte der Sporttherapeut unsere sportlichen Vorlieben, in der donnerstäglichen Theorieeinheit besprachen wir die optimale Gestaltung von Trainingsplänen für die Zeit nach der Therapie. Auch von ihm fühlte ich mich bald als die Person erkannt, die ich zu sein glaubte: ein in Angst erstarrter Bewegungsjunkie, der Hilfestellung braucht, um in seine eigentliche Bestimmung zurückzufinden, den man in seiner Leistungsorientierung und Euphorie aber manchmal auch ein wenig bremsen sollte. In der zweiten Woche des Programms erhielt ich die Nachricht, dass ich einen Job, der mir bereits zugesagt worden war, aus organisatorischen Gründen nun doch nicht bekäme. Da auch unsere berufliche Situation im Rahmen der Therapie besprochen wurde, ging ich damit am nächsten Tag zu unserer Psychotherapeutin. Sie bot mir sofort ein persönliches Gespräch an. Natürlich konnten wir mein grundsätzliches berufliches Problem währenddessen nicht lösen, dennoch fühlte ich mich wahrgenommen und unterstützt. Ich redete mir meine Enttäuschung von der Seele, und obwohl ich gedacht hatte, ich hätte mich bereits am Vorabend hinlänglich ausgeheult, fing ich doch wieder an zu weinen. Die Psychologin klopfte ab, ob es Möglichkeiten der Einflussnahme gab, um den Job doch noch zu bekommen, fragte, ob ich der Meinung sei, dass ich die Absage irgendwie mit verursacht hätte, und als ich verneinte, sagte sie: „Dann lassen Sie es los.“ Manchmal sind die Dinge tatsächlich so einfach – ich ließ es los. Ebenfalls in der zweiten Programmwoche fühlten sich die äußeren Zehen meines linken Fußes plötzlich wieder „wattig“ an. Dies war ein Symptom aus der Akutphase des Bandscheibenvorfalls und beunruhigte mich ziemlich. Ich besprach das Problem mit der Physiotherapeutin, sie untersuchte mich, erklärte mir, wie ich das Training entsprechend anpassen könnte, und zeigte mir eine Übung, die helfen sollte, den Nerv auf den Trainingsreiz vorzubereiten. Also habe ich weiter trainiert, manchmal – wenn die Symptome stärker waren – mit leicht angezogener Handbremse, manchmal mit einem etwas mulmigen Gefühl. Aber ich war nicht bereit, auch nur einen Millimeter meiner gerade erst zurückerkämpften Beweglichkeit wieder herzugeben. Und ich hatte mittlerweile genug Vertrauen: Auch wenn sie mir hier nicht sämtliche Symptome erklären konnten, würden sie mich nicht weitermachen lassen, wenn die Symptomatik wirklich alarmierend wäre. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Therapie für mich war, dass meine Symptome, wenn ich sie nicht mehr als unbedingte Alarmsignale betrachtete, etwas waren, womit ich umgehen lernen konnte. Noch für eine ganze Weile sollte die größte Herausforderung sein, heilungsbegleitende Symptome von alarmierenden zu unterscheiden. Während einer der Ausdauereinheiten fragte mich der Sporttherapeut, ob ich es denn nicht ’mal wieder mit Laufen versuchen möchte. Ich hatte mächtig Muffe davor, Joggen ist „draußen“ etwas, wovon man dem gemeinen Bandscheibenpatienten in der Regel abrät, aber ich wollte mir diese Möglichkeit keinesfalls entgehen lassen, also stimmte ich zu – zumal uns der Therapeut in einer der Theoriestunden erklärt hatte, dass natürliche Stoßbewegungen der Wirbelsäule eher nützen als schaden. Er holte ein Pulsmessgerät

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und ermittelte gemeinsam mit mir die Zeiteinheiten, in denen ich auf dem Laufband abwechselnd laufen und gehen sollte. Ich kam auf rund eine Viertelstunde, in der ich unter Beobachtung des Sporttherapeuten je zwei Minuten lang ging und lief – ein für mich spektakuläres Erlebnis. Ich hatte nicht gedacht, dass ich jemals wieder laufen würde. Zum Zumba sagte der Therapeut: „Gehen Sie ’mal wieder hin, ich würde es einfach ausprobieren.“ Am letzten Tag des Therapieprogramms brachte die Psychotherapeutin die Übersichten aus der ersten Sitzung wieder mit, auf denen sie damals unsere Beschwerden, Probleme und Ziele notiert hatte. Wir gingen alles noch einmal durch. Es gab niemanden, bei dem sich nicht schon einiges zum Positiven verändert hatte. Als Hauptwunsch hatte ich damals recht pauschal formuliert, dass ich mein Leben zurückwollte. So weit war es nun noch nicht, aber ich war überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Im Anschluss an die dreiwöchige Therapie ging es für mich für weitere vier Wochen in die „Ebene 2“. In dieser Behandlungsphase nahm ich zweimal wöchentlich am physiotherapeutisch betreuten Krafttraining im „Rückenzentrum“ teil, erhielt noch zwei Termine bei der Psychologin aus dem Programm und konnte weiterhin einmal pro Woche mit einem der Ärzte sprechen. Ich machte weitere Fortschritte, was meine körperliche Belastbarkeit anging. Zwar musste ich meine Kraft immer noch planvoll einteilen, brauchte im Tagesverlauf mehrere Pausen, wurde in meinem Alltag aber langsam wieder selbstständiger. Meine Beweglichkeit nahm weiter zu, auch zu Hause machte ich dafür täglich Übungen, die ich während des Therapieprogramms erlernt hatte. Einer der Physiotherapeuten zeigte mir eine Methode, mit der ich meine Rückenstrecker selber massieren konnte, und nach rund drei Wochen in der „Ebene 2“ löste sich der gefühlte Stein, den ich seit Monaten in meiner Wirbelsäule umhertrug und der mir bis zum Schluss Sorgen bereitet hatte, mit einem Mal in Wohlgefallen auf – ein Moment, in dem ich hätte weinen können. Ich war frei. Nach der Zeit in der „Ebene 2“ fühlte ich mich einigermaßen gewappnet für eine Rückkehr ins Alltagsleben. Seit der Diagnose „Bandscheibenvorfall“ waren fast acht Monate vergangen. Da ich jetzt nicht mehr krankgeschrieben war, ging ich wieder zur Arbeitsagentur und stellte einen neuen Antrag auf Arbeitslosengeld I. Das war in Ordnung für mich, diesmal begleitete mich dabei kein Gefühl des Scheiterns – im Gegenteil: Ich war in Aufbruchstimmung, denn ich plante, mich beruflich umzuorientieren, und brauchte in dieser Phase Unterstützung. Ich recherchierte, hörte mich um, bot mich an, ließ mich beraten und nahm alte Kontakte wieder auf. Das war nicht immer einfach, ich geriet dabei in Krisen, stieß häufig an Grenzen des Möglichen und haderte mit meinem bisherigen Lebenslauf. Schon früher hatte ich nach beruflichen Alternativen gesucht und mich jedes Mal entmutigen lassen. Doch diesmal wollte ich um keinen Preis zurück in meine prekäre Freiberuflichkeit, ich wollte meine Fähigkeiten sinnstiftender einsetzen als bisher, keinen Raubbau an mir selber mehr betreiben, und so kämpfte ich mich durch, bis sich schließlich Optionen ergaben. Unterstützung erhielt ich dabei von der Psychotherapeutin, die ich mir vor der IVR selber gesucht hatte, und bei der ich gleich nach Abschluss der „Ebene 2“ mit einer Therapie begonnen habe.

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Im „Rückenzentrum“ habe ich gelernt, nicht mehr in „Rückfällen“ zu denken. Auch zuvor hatte man mir immer ’mal wieder gesagt, dass der Heilungsprozess nach einem Bandscheibenvorfall nicht stringent verläuft. Doch in dem Moment, in dem wieder Beschwerden auftauchten, war ich aufgrund der vielen und manchmal widersprüchlichen Informationen so verunsichert, dass ich aus Angst vor weiterer Verschlechterung meines Zustands sofort in den Schonmodus umgeschaltet habe. Während des Therapieprogramms konnte ich unter intensiver fachlicher Betreuung ausprobieren, was auch bei akuten Beschwerden möglich oder vielleicht sogar hilfreich ist. Ich habe erlebt und mit der Zeit auch verinnerlicht, dass neu auftauchende Symptome nicht in einer Katastrophe münden, wenn ich mich weiter moderat bewege. Ich war am Ende des Therapieprogramms nicht „rundum geheilt“, aber ich war gerüstet für den kommenden Kreuzzug durch mein eigenes Leben: Sukzessive erobere ich mir einen Bereich nach dem anderen zurück – bis heute, weitere acht Monate nach Beendigung der Therapie. Auch im „Rückenzentrum“ habe ich nicht auf alle meine Fragen Antworten erhalten. Aber rückblickend war das vielleicht auch gar nicht wichtig: Sie haben mir zurück ins Leben geholfen, und dafür bin ich dankbar.

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Kay Niemier

4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug Evidence Based Medicine (EBM) bestimmt schon seit vielen Jahren die Medizin, die Diskussion um die effektivsten und nebenwirkungsärmsten Behandlungsverfahren sowie die Finanzierung medizinischer Verfahren. EBM ist aber auch in der Kritik. Die Fokussierung auf doppel-verblindete, randomisierte und kontrollierte Studien (RCTs, A-Level-Evidenz) zeigt durchaus ihre Probleme. Da große RCTs mit hohen Kosten verbunden sind, braucht man für deren Durchführung finanzstarke Partner. Die Pharmaindustrie ist durchaus finanzstark, und somit kommen viele RCTs direkt von der Industrie oder sind von der Industrie gesponsert. Daraus ergeben sich zumindest drei Probleme. Industrieforschung ist immer zielgerichtet, d. h., nur der Erfolg (z. B. das untersuchte Medikament wirkt) ist interessant. Negative Ergebnisse werden nicht publiziert (Publikationsbias), bzw. Ergebnisse werden vorteilhaft dargestellt. Zum Zweiten werden nicht pharmakologische Interventionen nicht von der Pharmaindustrie beforscht (Selektionsbias). So gelangen effektive Verfahren, wie z. B. Bewegung und Sport bei Herzerkrankungen, Hypercholesterinämie oder Osteoporose in den Hintergrund. Das beeinflusst entsprechende Leitlinien und die klinische Praxis. Zum Dritten haben Außenseiterdisziplinen oft keine Chance, ausreichende Forschungsmittel zu bekommen, so dass auch interessante Diagnostik- und Therapieansätze nicht verfolgt werden. Des Weiteren lassen sich bestimmte Methoden wie beispielsweise die Multimodale Schmerztherapie nicht doppelverblinden. Ein weiteres Problem betrifft die (Un-)Menge an Forschungsergebnissen auf dem Markt. Der hohe Druck, publizieren zu müssen, hat zu einer wahren und zum Teil unübersichtlichen Flut an Daten geführt, viele davon falsch [1]. Es gibt zahlreiche Gründe, warum selbst statistisch signifikante Ergebnisse trotzdem nicht der Realität entsprechen. Zum einen kann das Studiendesign zu Verzerrungen führen. Nicht verblindete und nicht kontrollierte Studien zeigen oft höhere Effekte als RCTs, RCTs wählen häufig ihre Studiengruppen genau aus, haben extrem viele Ausschlusskriterien, so dass die Ergebnisse nicht unbedingt auf den medizinischen Alltag anzuwenden sind. Studien werden mit einem hoch selektierten Patientengut (Studienein- und Ausschlusskriterien, durchführende Einrichtung etc.) durchgeführt (z. B. Schmerzzentrum) und lassen daher keine Verallgemeinerung der Ergebnisse zu. Einflussfaktoren, die das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung (ungewollt) beeinflussen, werden Bias genannt. In der Bewertung von wissenschaftlichen Daten sollte man immer auf den möglichen Bias achten. In hochwertigen Publikationen werden eventuell beeinflussende Faktoren benannt. Hochwertige wissenschaftliche Arbeit sollte verschiedenen Ansprüchen genügen (Tab. 4.1).

https://doi.org/10.1515/9783110546200-006

248 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

Tab. 4.1: Ansprüche an hochwertige wissenschaftliche Arbeit [1]. Problemstellung

Das medizinische Problem sollte groß und bedeutend genug sein, um eine entsprechende Forschung zu rechtfertigen.

Wissenschaftlicher Kontext

Die vorliegende wissenschaftliche Evidenz sollte geprüft worden sein, um die Notwendigkeit der neuen Forschung zu rechtfertigen (Gibt es (noch) Fragen zu beantworten?).

Informationsgewinn

Ist die Studie groß genug, um die gewünschte Information erhalten zu können?

Pragmatismus

Ist die Studie repräsentativ für das reale Leben? Falls nicht, ist dies problematisch?

Patientenzentriertheit

Reflektiert die Studie Prioritäten von Patienten/Patientengruppen?

Kosten-Nutzen-Verhältnis

Ist die Studie ihr Geld wert?

Durchführbarkeit

Ist die Studie (mit den vorhandenen Möglichkeiten) durchführbar?

Transparenz

Methoden, Daten und Datenanalyse müssen offen gelegt, Bias möglichst ausgeschlossen oder benannt.

Bei aller Kritik und allen Problemen der EBM – betrachtet man Forschungsergebnisse hinsichtlich der medizinischen Praxis, ist zu sehen, wie relevant Forschung und kritisch erstellte evidenzbasierte (nicht berufspolitisch orientierte) Leitlinien sind. So erfolgen die Diagnostik und die Therapie von Rückenschmerzen (wissenschaftlich belegt) nicht befundabhängig, sondern in Abhängigkeit von der aufgesuchten medizinischen Fachrichtung. Diese beeinflusst nicht nur die Behandlungsstrategie, sondern auch das Vorgehen hinsichtlich der Krankschreibungen und Beratung (z. B. Ruhe statt Aktivität). Die persönlichen Einstellungen der Behandler beeinflussen die Befolgung von Guidelines signifikant. Durchgeführte, auf der aktuellen Evidenz beruhende Weiterbildungen beeinflussen die Behandlung von Rückenschmerzen sowie die Befolgung von Guidelines positiv, während hohe Fear-Avoidance-Werte bei den Behandlern die Therapie und Beratung der Patienten negativ beeinflussen [2–4]. Weiterhin beeinflusst eine Vielzahl nicht medizinischer Faktoren die Behandlung von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen [5]:

4.1 MMST auf dem Prüfstand |







249

Gesundheitspolitik – keine interdisziplinäre Behandlungsmöglichkeit, – verzögerter Zugang zu relevanten Fachdisziplinen. Angst vor Klagen – Patienten mit Potenzial für eine Klage oder mit anamnestisch bekannten Klagen werden schneller (weg)überwiesen. Patientenfaktoren – Erwartete Befolgung von Beratung entscheidet über die Managementstrategie („Machen die sowieso nicht!“), – Patienten Sicherheit geben zu wollen (z. B. durch Röntgen), auch ohne klinische Hinweise auf relevante Pathologien, führt zu nicht indizierten Untersuchungen.

Die Vielfalt der Meinungen und Therapiestrategien mag vielleicht als positiv erscheinen, wenn nicht die Ergebnisse der Therapie von chronischen Rückenschmerzen so schlecht wären [6]. Die Behandlungsprinzipien der hier dargestellten Therapiekonzepte sind heterogen, beruhen jedoch in der Regel auf dem Konzept des Functional Restoration.

4.1 Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie auf dem Prüfstand Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie (MMST) ist der Goldstandard in der Behandlung von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. In den deutschen Nationalen Versorgungsleitlinien Kreuzschmerz (NVL) ist diese Behandlungsform in der Akutmedizin und der Rehabilitation festgeschrieben [7]. Probleme zeigen sich jedoch in der Umsetzung der Leitlinien, insbesondere in der zeitnahen multimodalen interdisziplinären Diagnostik und Therapie in dieser Patientengruppe [8]. Im aktuellen Cochrane Review [9] zur Multimodalen Schmerztherapie für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen gibt es Evidenzen, dass MMST: – Schmerz und Beeinträchtigung im Vergleich zur Standardversorgung reduziert (16 Studien, moderate Evidenz), – Schmerz und Beeinträchtigung im Vergleich zu Physiotherapie reduziert (moderate Evidenz von geringer Qualität, 19 Studien), – im Vergleich zu Physiotherapie die Wahrscheinlichkeit der Arbeitsaufnahme (ein Jahr nach Behandlung) erhöht (moderate Evidenz, acht Studien); sieben Studien konnten hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Arbeitsaufnahme keine Verbesserung feststellen.

250 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

In einem älteren Cochrane Review [10] mit 18 eingeschlossenen RCTs konnte gezeigt werden, dass durch eine intensive Behandlung mit physischer Rekonditionierung (Ausdauer, Kraft, Kraftausdauer, Koordination) und kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlung bei Patienten mit chronischen Nacken- und/oder Rückenschmerzen im Vergleich zur Standardbehandlung (Beratung, Allgemeinmedizin) die Arbeitsunfähigkeiten deutlich reduziert werden konnten (um 45 Tage in zwölf Monaten). Für ein alleiniges arbeitsspezifisches oder arbeitsunspezifisches Training ohne eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung fand sich keine Evidenz. Für ein weiteres Cochrane Review, das sich mit der MMST bei subakuten Rückenschmerzen beschäftigt, wurden neun RCTs eingeschlossen [11]. Für alle Studien wurde das Bias-Risiko als hoch eingeschätzt. Im Vergleich zur Standardbehandlung ergaben sich für die MMST ein Jahr nach der Therapie folgende Vorteile: – bessere Schmerzreduktion (vier Studien, Evidenzqualität moderat), – verminderte Beeinträchtigung (drei Studien, Evidenzqualität niedrig), – vermehrte Wiederaufnahme der Arbeit (drei Studien, Evidenzqualität sehr niedrig), – verminderte Arbeitsunfähigkeitstage (zwei Studien, Evidenzqualität niedrig). Die Effektstärken für die Schmerzlinderung und die Verminderung der Arbeitsunfähigkeitstage waren gering, für die Arbeitswiederaufnahme moderat. Im Vergleich zu anderen Therapien konnte in diesem Review kein Vorteil der MMST gezeigt werden. Eine Langzeitauswertung von drei klinischen Studien mit im Mittel 11-JahresFollow-up-Zeit konnte keine Unterschiede zwischen Stabilisierungsoperationen an der Wirbelsäule (Fusion) und der MMST darstellen. Die MMST hatte jedoch geringere Komplikationsraten [12]. Ein wichtiger Outcome-Parameter bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen ist die Wiedererlangung bzw. der Erhalt der Arbeitsfähigkeit. In vielen Studien sind deshalb die Return to Work Rate und die Work Retention Rate Zielgrößen für die Untersuchung. In einigen Studien ist die Arbeitsfähigkeit der primäre Zielparameter. So werden trotz zum Teil langfristiger Arbeitsunfähigkeiten über 50 % der Patienten nach einer MMST wieder arbeitsfähig und können ihre Arbeitsfähigkeit langfristig erhalten [13]. Auch in Deutschland konnte in mehreren Studien die Effektivität der MMST gezeigt werden. Die meisten Studien waren nicht kontrollierte Kohortenstudien. In einer Untersuchung wurde eine Wartelistenkontrollgruppe geführt. Das bekannteste MMST-Programm in Deutschland ist das Göttinger RückenIntensiv-Programm (GRIP). In einer nicht kontrollierten Kohortenstudie zeigten sich sechs und zwölf Monate nach der Therapie statistisch signifikante Verbesserungen bei den behandelten Patienten hinsichtlich Schmerz, Depressivität, Beeinträchtigung, lumbaler Beweglichkeit und allgemeiner Performance [14]. In einer nicht kontrollierten Kohortenstudie aus der Tagesklinik des DRK Schmerzzentrums Mainz [15] konnten ein Jahr nach einer MMST eine signifikante

4.1 MMST auf dem Prüfstand |

251

Reduktion der Schmerzstärke und der Beeinträchtigung sowie eine Verbesserung des psychischen Status gezeigt werden. Der Schweregrad der Schmerzerkrankung (von Korff-Skala) wurde statistisch signifikant, klinisch und ökonomisch relevant reduziert (Kostenersparnis von 3329,50 €/Patient/Jahr). In einer Studie aus der Tagesklinik der Universitätsklinik Jena [16] konnte die MMST im Vergleich zur Warteliste eine signifikante Reduktion hinsichtlich Schmerz (1,45 Punkte NRS; Effektstärke (ES) 0,76), Angst (ES 0,46), Depressivität (ES 0,79) sowie eine Erhöhung des Wohlbefindens (ES 0,92) aufweisen. Nach drei Monaten verschlechterten sich diese Werte, blieben jedoch weiterhin bei allen Variablen statistisch signifikant. Nach zwölf Monaten ergab sich kein klinisch relevanter Unterschied mehr hinsichtlich der Schmerzintensität und psychologischen Variablen, jedoch für das allgemeine Wohlbefinden (ES 0,61). In der Schmerztagesklinik Heidelberg wurden 395 Patienten in einer prospektiven Kohortenstudie ohne Kontrollgruppe untersucht [17]. Die Follow-up-Zeit betrug sechs Monate. Nach sechs Monaten waren die Schmerzen, die psychosozialen Parameter, die Lebensqualität und die physische Kapazität mit moderaten bis guten Effektstärken verbessert. Physiotherapie wird in den NVL Kreuzschmerz in der Behandlung chronischer Rückenschmerzen als ergänzende Maßnahme verstanden. So erzielt Physiotherapie nur in Kombination mit aktiven intensiven Methoden gute Effekte. Derartige aufwendige Trainingsprogramme sind dann nicht mehr mit Versorgungsrealität zu vergleichen. Die motorischen Effekte sind aber mit der Functional Restoration der MMST vergleichbar. Zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit reichen jedoch reine Trainingsprogramme nicht aus [18–20]. Fazit MMST ist in der Behandlung von Patienten mit chronischen und subakuten Rückenschmerzen effektiv. Dies trifft für die Arbeitsfähigkeit, Schmerzen, ökonomische sowie psychosoziale Parameter zu. Zum Teil ist die Qualität der Evidenz nicht ausreichend. Im Vergleich zu anderen Therapien fällt die Datenlage weniger eindeutig aus. So sind operative Verfahren (Fusionsoperationen) im Vergleich zur MMST gleich effektiv. Die Fragestellung, welche Patienten vorrangig intensiv funktionell, operativ oder auch mit anderen Behandlungsverfahren und welche mit einer MMST therapiert werden sollten, lässt sich mit der aktuellen Datenlage nicht beantworten.

252 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

4.2 Für wen? Wann? Wie viel? – Die Frage der differenziellen Indikation 4.2.1 Wer profitiert am meisten? – Die Bedeutung von Patientenmerkmalen In zahlreichen Studien wurde untersucht, welche Variablen die Therapieergebnisse einer Multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie beeinflussen. Ein untersuchter Faktor war die Schmerzlokalisation. Etwa 23 % der Patienten, die einer MMST zugeführt werden, erfüllten die Kriterien einer Fibromyalgie bzw. eines Chronic Wide Spread Pain (CWSP). Diese Patienten zeichnen sich im Vergleich zu Patienten mit regional begrenzten Schmerzen durch deutlich erhöhte psychosoziale Belastungen aus. Ein Jahr nach einer MMST war bei Patienten mit CWSP im Vergleich zu Patienten mit regionalen Schmerzen die Wahrscheinlichkeit wieder zu arbeiten (Return to Work) 9,3-mal und nach erfolgter Rückkehr zur Arbeit diese Arbeit weiterzuführen (Work Retention) 4,3-mal geringer. 59 % der behandelten Patienten erfüllten auch nach der MMST die Kriterien einer Fibromyalgie. Diese Patienten hatten im Vergleich zu den Patienten, welche diese Kriterien nicht mehr erfüllten, ein schlechteres Outcome [21, 22]. Frauen mit CWSP profitierten in einer Studie im Vergleich zur Standardbehandlung mit einer höheren Arbeitswiederaufnahme und weniger Arbeitsunfähigkeitstagen von einer hochintensiven MMST [23]. Für Patienten mit Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich ergeben sich nach MMST im Wesentlichen ähnliche Ergebnisse wie für Patienten mit chronischen Lendenwirbelsäulenschmerzen. Die Patienten sind häufiger weiblich, häufiger in Büroarbeit, haben mehr Voroperationen an der Wirbelsäule und waren vor dem Assessment zur MMST länger krank. Hinsichtlich der Arbeitswiederaufnahme und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nach MMST zeigen sich keine Unterschiede zu Rückenschmerzpatienten [24, 25]. Auch Patienten mit Bein- und Armschmerzen haben im Vergleich zu Rückenschmerzpatienten nach MMST die gleichen Resultate hinsichtlich der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, der Arbeitswiederaufnahme und Work Retention. Nur Patienten mit neuropathischen Schmerzen konnten in geringerem Maß von der MMST profitieren [26–28]. Hohe Werte im Central Sensitization Inventory (CSI) korrelieren mit einer fortgeschrittenen neurophysiologischen Schmerzchronifizierung. CSI-Werte konnten durch die MMST signifikant reduziert werden. Das heißt, auch bei Patienten mit fortgeschrittener neurophysiologischer Schmerzsensitivierung kann die MMST einen positiven Effekt im Sinne einer Schmerzdesensibilisierung bewirken [29]. Vergleicht man an der Wirbelsäule voroperierte und nicht voroperierte Patienten, profitieren beide Gruppen von der MMST hinsichtlich Return to Work und Work Retention gleich gut [30].

4.2 Die Frage der differenziellen Indikation | 253

Eine Studie [31] untersuchte Patienten, die hinsichtlich einer wirbelsäulenchirurgischen Intervention verschiedene Merkmale aufwiesen: – Indikation für WBS-Chirurgie durch Chirurgen gestellt, aber Ambivalenz des Patienten gegenüber der OP, – unterschiedliche Einschätzung der OP-Indikation von mindestens zwei Chirurgen, – Patient möchte wirbelsäulenchirurgische Intervention, Indikation wurde jedoch vom Chirurgen nicht bestätigt. Bei allen Patienten wurde eine MMST vorgenommen. Nach der Hälfte der Behandlung wurde ein erneutes Gespräch hinsichtlich der chirurgischen Therapieoption geführt. Folgende Entscheidungen wurden getroffen: – 73 % der Patienten wollte keine Operation. – 18 % wollten eine OP, aber es bestand aus chirurgischer Sicht keine Indikation. – 9 % wurden an der Wirbelsäule operiert. Allen Patienten wurde die Weiterführung der MMST entweder direkt (Patienten ohne OP-Indikation) oder nach der OP angeboten. 50 % der Patienten, die eine wirbelsäulenchirurgische Intervention wollten, aber aus chirurgischer Sicht keine Indikation hatten, brachen die MMST ab. Diese Patientengruppe hatte im Vergleich zu den anderen Patienten ein deutlich schlechteres Outcome (höhere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, geringere Return to Work Rate und höhere Rezidivraten). Patienten mit lumbaler Stabilisierungsoperation und Ansprüchen an Versorgungssysteme haben geringe Return to Work Rates (26–36 %), hohe Raten an Zweitoperationen (22–27 %) und hohe Raten von permanenter postoperativer Opiatmedikation (85 %). Ähnliche Probleme ergeben sich auch für andere wirbelsäulenchirurgische Verfahren. Im Vergleich zu anderen wirbelsäulenchirurgischen Verfahren zeigen Patienten mit vorhergehender Fusionsoperation deutlich häufiger psychische Komorbiditäten. Eine Kombination von Fusionsoperation und anschließender Weiterbehandlung mit einer MMST führte zu hohen Return to Work Rates (80 %), geringen Zweitoperationen und geringer Opiatmedikation. Nach einer MMST unterschieden sich operierte und nicht operierte Patienten nicht mehr hinsichtlich der Return to Work Rate, Work Retention und der Zahl der Wiederholungsoperationen (1,2–3,7 %). In der Gruppe nach Wirbelsäulenstabilisation zeigten sich weiterhin ein erhöhter Opiatgebrauch und eine höhere Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen [32–36]. Psychiatrische/psychische Diagnosen sind bei Patienten mit chronischen Schmerzen im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich erhöht. 77 % der Patienten erfüllen die Lifetime-Kriterien für psychiatrische/psychische Erkrankungen, zum Untersuchungszeitpunkt weisen 59 % eine entsprechende aktuelle Symptomatik (Punktprävalenz) auf. Die häufigsten Diagnosen sind Depression, Angststörungen

254 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

und Substanzfehlgebrauch. 51 % der Patienten erfüllen die Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung. 54 % der Patienten mit einer Depression, 94 % der Patienten mit Substanzfehlgebrauch und 94 % der Patienten mit Angststörungen zeigten diese Symptome vor der Schmerzentstehung [37, 38]. Patienten mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit lassen im Vergleich zu anderen Schmerzpatienten eine erhöhte psychische Belastung erkennen. Des Weiteren sind in dieser Patientengruppe nach MMST die Return to Work Rates und Work Retention Rates erniedrigt und die Quantität operativer Interventionen erhöht [39]. In einigen Untersuchungen haben vorhandene psychiatrische Diagnosen keinen Einfluss auf die Arbeitswiederaufnahme nach MMST. Durch die MMST kam es zu einer signifikanten Prävalenzminderung psychiatrischer Komorbiditäten, insbesondere von somatoformen Störungen und Depressionen [40, 41]. Andere Studien bestätigten diese Ergebnisse jedoch nicht. Hier waren psychiatrische und psychische Diagnosen negative Prädiktoren hinsichtlich der Arbeitswiederaufnahme und der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Patienten mit Panik- und Persönlichkeitsstörungen zeigten höhere Raten an Programmabbrüchen, Patienten mit Opiatabhängigkeitserkrankung hatten geringere Return to Work Rates und eine höhere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nach MMST. Patienten, die die Behandlung abgebrochen haben, hatten 7-mal häufiger chirurgische Interventionen und eine deutlich höhere Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (7-mal häufiger, mehr als 30 therapeutische Kontakte). Bei den Therapieabbrechern sind die Return to Work und Retention Rate deutlich reduziert [42–45]. Hohe Fear-Avoidance-Werte vor der MMST sagten geringere Hebeleistungen voraus, hohe Werte zur Entlassung eine geringere Return to Work Rate [46]. Chronische Schmerzen im Bewegungssystem zeichnen sich durch hohe Rezidivraten aus [47]. Innerhalb eines Jahres nach einer MMST zeigten nur 1,3 % der Patienten ein Schmerzrezidiv in der gleichen Schmerzregion, und ca. 4 % entwickelten Schmerzen in einer anderen Schmerzregion. 64 % dieser Patienten wurden aufgrund der Schmerzrezidive wieder arbeitsunfähig [48, 49]. Diverse Studien [14, 16, 17, 50–64] befassten sich mit positiven wie negativen Prädiktoren zur Vorhersage des Behandlungsergebnisses einer MMST. Folgende Faktoren beeinflussten das Behandlungsergebnis (Return to Work, Work Retention, die Schmerzstärke und die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nach MMST) positiv: – junges Lebensalter, – regelmäßige sportliche Aktivitäten, – kürzere Arbeitsunfähigkeitszeiten vor der MMST, – positive Erwartung, die Arbeit wieder aufnehmen zu können, – verminderte subjektive Beeinträchtigung nach MMST, – höhere psychische Stabilität, – Einschätzung durch Physiotherapeuten – gute Prognose, – geringere Erschöpfung/mehr Energie,

4.2 Die Frage der differenziellen Indikation | 255

– –

weniger allgemeine Gesundheitsprobleme, rückenfreundliche Arbeitsbedingungen.

Folgende Faktoren beeinflussen das Behandlungsergebnis (Return to Work, Work Retention, Schmerzstärke, Programmabbrüche und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen nach MMST) nach einer MMST negativ: – hohe Schmerzwerte vor und nach MMST, – höheres Lebensalter, – subjektives Beeinträchtigungsgefühl vor der MMST, – negative Erwartung, die Arbeit wieder aufnehmen zu können, – gestellte Anträge auf Erwerbsminderungs- oder Unfähigkeitsrenten, – hohe Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen vor MMST, – Opiatmedikation, – negative Glaubenssätze hinsichtlich Rückenschmerzen, – Ruheschmerz nach MMST, – Schmerz während (Arbeits-)Belastung nach MMST, – hohe allgemeine Anspannung, – negative Zukunftserwartungen, – geringere physische Aktivität, – persistierende Fear-Avoidance-Beliefs nach MMST, – rückenunfreundlicher Arbeitsplatz, – weibliches Geschlecht. Weitere Faktoren wurden in einzelnen Studien untersucht. So waren nur 22 % der Patientenpopulation (Nordamerika) normalgewichtig (BMI ≤ 25), 43 % hatten einen BMI über 30. Vor der Behandlung zeigten sich keine weiteren statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Übergewichtigen und Normalgewichtigen hinsichtlich psychosozialer oder schmerzrelevanter Parameter. Im Behandlungsergebnis unterschieden sich übergewichtige und normalgewichtige Patienten nicht [65]. Ein oft diskutierter Faktor ist der Einfluss des sozioökonomischen Status von Patienten auf das Behandlungsergebnis. Es konnten Unterschiede zwischen den Patientengruppen mit fraglicher klinischer Relevanz (kleine Effektstärken) gezeigt werden. Patienten mit einem hohen ökonomischen Status hatten vor der MMST höhere Beeinträchtigungs- und Depressionswerte, nach der MMST stärkere Verbesserungen hinsichtlich Lebensqualität, Beeinträchtigung und Depressivität. Patienten mit einem niedrigen ökonomischen Status hatten ein Jahr nach der Behandlung geringere Return to Work und Work Retention Rates. Frauen sind öfter von chronischen Schmerzen betroffen. Männer haben mehr lumbale, Frauen mehr zervikale Schmerzen. Männer kehren nach der MMST häufiger zu ihrer Arbeit zurück und die physischen Parameter waren für Männer besser. Männer zeigten insgesamt weniger Beeinträchtigung und Depressivität. Frauen nahmen auch nach der MMST mehr medizinische Leistungen in Anspruch [66].

256 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

Alleinerziehende zeigten vor der Behandlung höhere Depressivitätswerte und mehr Nackenschmerzen. Programmabbrüche waren bei Alleinerziehenden nicht häufiger. Nach der MMST zeigten sich keine Unterschiede in Work Return, Work Retention, Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, Rezidivraten und psychischen Parametern [67]. Ein höheres Lebensalter war verbunden mit längerer schmerzbedingter Beeinträchtigung und höheren Operationsraten vor MMST. Nach MMST nahmen die Return to Work und Work Retention Rate mit zunehmendem Lebensalter ab. Ältere Arbeitnehmer blieben häufiger beim selben Arbeitgeber, während jüngere öfter wechselten. Physische Parameter waren altersadaptiert für ältere Patienten vor und nach MMST schlechter [68]. Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungssystems haben oft Schlafstörungen. Im Gegensatz zur allgemeinen Annahme konnten Schlafstörungen bei chronischen Schmerzen als ein von dem Schmerz und/oder der Depressivität unabhängiger Faktor identifiziert werden [69]. Nach einer MMST verminderten sich die Schlafstörungen bei der Mehrzahl der Patienten, trotzdem hatten auch nach der MMST nicht wenige Patienten Schlafstörungen. Patienten mit weiterbestehenden Schlafstörungen hatten nach der MMST schlechtere Therapieergebnisse hinsichtlich Schmerz, subjektiver Beeinträchtigung, Analgetikaverbrauch und Return to Work Rates [70].

4.2.2 Zeitpunkt und Intensität als Programmvariablen Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie ist teuer, steht nicht in unbegrenzter Quantität zur Verfügung und sollte somit für Patienten mit einer entsprechenden Bedürftigkeit und Aussicht auf Therapieerfolg bereitstehen. Daher sind Fragen nach unterschiedlichen Programmintensitäten, Diagnostik- und Therapiezeitpunkten sowie Inhalten für verschiedene Patientengruppen medizinisch und ökonomisch interessant. Zur Frage nach dem richtigen Zeitpunkt einer MMST wurden mehrere Untersuchungen durchgeführt. Eine Studie zeigte bei Patienten mit akuten Rückenschmerzen und einem hohen Risiko für die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms einen guten Effekt der MMST im Vergleich zur Standardbehandlung hinsichtlich der Reduktion von Schmerzstärken, Beeinträchtigung, Analgetikaverbrauch und Entwicklung chronischer Schmerzsyndrome. Die Gesamtkosten (direkte und indirekte Kosten) waren bei den Patienten mit einem hohen Risiko für eine Schmerzchronifizierung geringer im Vergleich zur Standardbehandlung. Patienten mit niedrigem Risiko für eine Schmerzchronifizierung hatten keinen Nachteil von der Standardbehandlung [71]. Werden Patienten mit einem chronischen Rückenschmerz frühzeitig einer MMST zugeführt (4–8 Monate Erkrankungsdauer), ergeben sich im Vergleich zu später mit MMST behandelten Patienten (9–14 Monaten Erkrankungsdauer) die gleichen

4.2 Die Frage der differenziellen Indikation |

257

Behandlungsergebnisse, jedoch eine Reduktion der primären und sekundären Gesundheitskosten um 56 % [72]. In verschiedenen MMST-Programmen variiert die Intensität der Behandlung. Die Multimodale Schmerztherapie zeigte sich in Studien unabhängig von der Behandlungsintensität im Vergleich zur Standardbehandlung besser hinsichtlich Reduktion von Arbeitsunfähigkeiten, subjektiver Beeinträchtigung und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Vergleicht man die verschiedenen Intensitäten, haben die hoch intensiv behandelten Patienten bessere Behandlungsergebnisse hinsichtlich der Reduktion von Schmerz, Arbeitsunfähigkeit, Beeinträchtigung, Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, körperlicher Aktivität, aber nicht bezogen auf Beinschmerz und Analgetikaverbrauch [73–75]. Ein direkter Dosiseffekt lässt sich jedoch nicht nachweisen [76]. In einer norwegischen Untersuchung zeigten sich paradoxe Ergebnisse. Männer mit einer niedrig intensiven MMST erzielten höhere Return to Work Rates im Vergleich zur Standardbehandlung, die Patienten, die mit einer hoch intensiven MMST behandelt wurden, jedoch nicht. Für Frauen ergaben sich keine Unterschiede zwischen allen Behandlungsintensitäten [77, 78]. Ein zusätzlich im Rahmen einer MMST durchgeführtes Motivational Interviewing zeigte einen zusätzlichen positiven Effekt hinsichtlich der Work Return Rate. Die Bedeutung der Änderungsmotivation von Patienten und der Zusammenhang mit Therapieergebnissen konnten in einer Studie zu einem anderen Behandlungsprogramm dargestellt werden [79–81]. Fazit Es gibt verschiedene patientenbezogene Faktoren mit einem relevanten Einfluss auf die Therapieergebnisse nach einer MMST. Am besten untersucht sind psychosoziale Einflussfaktoren und schmerzbezogene Faktoren. Für die Indikationsstellung zur MMST ist das Wissen um diese Faktoren wichtig, auch um Patienten ggf. anderen Therapieformen zuzuführen oder gänzlich von medizinischen Behandlungen abzusehen. Weitere wissenschaftliche Untersuchungen zum Einfluss von Befundmustern unter Einbeziehung körperlicher, psychosozialer, schmerzbezogener und motivationaler Parameter könnten eine entsprechende Subgruppenbildung und gezielte Therapiesteuerung ermöglichen. Die Entwicklung spezieller Therapieprogramme für spezielle Patientengruppen (z. B. Fibromyalgie, ältere Patienten) wäre wissenschaftlich und medizinisch interessant. Ein weiterer wichtiger wissenschaftlicher Ansatz ist die Frage nach der Vor- und Nachbehandlung von operativen Interventionen bzw. deren Platz in der Behandlung chronischer Schmerzen des Bewegungssystems. Die dargestellten Daten geben Hinweise, dass die Einbindung der MMST in die OP-Planung und Nachbehandlung möglicherweise die Therapieergebnisse deutlich verbessern könnte. Die Frage des richtigen Zeitpunktes einer MMST und der richtigen Intensität kann aus der vorliegenden Datenlage nicht beantwortet werden. Die frühzeitige Behandlung von Patienten mit einem hohen Risiko für eine Schmerzchronifizierung sowie von bereits chronifizierten Patienten erscheint ökonomisch und medizinisch sinnvoll. Das gilt auch für wissenschaftliche Untersuchungen zu Programmbestandteilen und die Notwendigkeit zu Programmalterationen in Abhängigkeit von der behandelten Patientengruppe (Subgruppenbildung).

258 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

4.3 Wird der Trainingsansatz überschätzt? – Was können wir messen? Für Patienten mit chronischen Schmerzen des Bewegungssystems konnten in vielen Untersuchungen eine Dekonditionierung, Störungen von Koordination und Stabilisation, Kraftdefizite etc. gezeigt werden [82–86]. In einem aktuellen Cochrane Review [87] wurden die Effekte von Training und Übungen auf chronische Schmerzen untersucht. Aufgrund der geringen Fallzahlen und kurzen Follow-up-Zeiten wurde die Evidenz als qualitativ gering eingeschätzt. Die Schmerzintensität konnte durch Training nicht konsistent vermindert, der physische Zustand jedoch verbessert werden (geringe Effektstärken). Hinsichtlich psychischer Parameter und Lebensqualität zeigten Studien unterschiedliche Ergebnisse. Studien mit Verbesserungen hatten geringe bis moderate Effektstärken. Ein älterer Cochrane Review [88] konstatierte ebenfalls nur geringe Effekte eines Trainings auf Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Mannion et al. [89–94] haben sich in verschiedenen Untersuchungen mit den Effekten von Training und chronischen Schmerzen des Bewegungssystems auseinandergesetzt. Es konnte gezeigt werden, dass folgende Parameter durch Bewegung/Training verbessert werden: – Schmerzstärke, – Schmerzhäufigkeit, – Beeinträchtigung durch Schmerz, – dysfunktionale Kognitionen. Es wurden verschiedene Trainingsformen (gerätegestütztes Krafttraining, aktive Physiotherapie, kardiopulmonales Ausdauertraining) miteinander verglichen, ohne dass sich klinisch relevante Unterschiede zeigten. Drei Monate nach den durchgeführten Therapien ergaben sich auch hinsichtlich physiologischer Parameter keine Unterschiede: – Muskelfunktion (Aktivierbarkeit, Ermüdbarkeit und Kraft), – Muskelmorphologie (Muskelgröße, Faserzusammensetzung/-verteilung. Ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Behandlungsgruppen zeigte sich nur bei der Verbesserung der isokinetischen Kraft nach dem Gerätetraining. Bei genauerer Betrachtung der einzelnen Therapiegruppen ist jedoch festzustellen, dass alle Trainingsformen das breite Spektrum der motorischen Fähigkeiten (Kap. 3.6.2) fördern, so dass auf Prinzipienebene kein großer Unterschied in den Interventionsgruppen vorliegt. Sind physische Parameter relevant für das Therapieergebnis?

4.3 Wird der Trainingsansatz überschätzt? – Was können wir messen? |

259

Vor der Therapie bestimmt die Kombination aus Schmerzstärke, psychologischen und physischen Parametern die subjektive Beeinträchtigung der Patienten. Nach der Behandlung spielten die gemessenen physischen Parameter keine Rolle für das Behandlungsoutcome. Auch andere Studien konstatierten, dass die Verbesserungen in den physiologischen Parametern nicht im direkten Zusammenhang mit den Effekten auf Schmerz und subjektiver Beeinträchtigung stehen [95]. Das Flexion-Relaxation-Phänomen wurde im Zusammenhang mit chronischen Rückenschmerzen mehrfach untersucht. Maximale lumbale Anteflexion führt bei Rückengesunden zur myoelektrischen Ruhe des M. erector spinae (flexion-relaxationphenomenon). Dies ist bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen nicht der Fall [96, 97]. Patienten mit chronischen lumbalen Schmerzen, die in zwei Studien [98, 99] untersucht wurden, zeigten eine verminderte LWS-Beweglichkeit (92 %) und ein gestörtes Flexion-Relaxation-Phänomen (69 %) vor MMST. Nach der MMST waren die lumbale Beweglichkeit bei 63 % und das Flexion-Relaxation-Phänomen bei 74 % der Patienten normalisiert. Patienten, die beides verbessern konnten, hatten ein besseres klinisches Outcome hinsichtlich Schmerz und Funktion. Patienten, die vor einer MMST Voroperationen im Bereich der Lendenwirbelsäule angaben, hatten häufiger gestörte Flexion-Relaxation-Phänomene als nicht operierte Patienten. Patienten nach lumbaler Fusion hatten mehr Schmerzen bei der Vorbeuge und schlechtere Werte als Patienten nach alleiniger Dekompression. Nach der MMST waren die Werte von allen drei Gruppen (ohne Voroperation, Dekompression, Fusion) angeglichen und entsprachen denen von gesunden Probanden. Es ergaben sich keine Gruppenunterschiede hinsichtlich des Outcomes: – Arbeitsfähigkeit, – Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, – Rezidivrate, – Rezidivoperationen. Nach einer MMST zeigen sich statistisch signifikante Verbesserungen der – lumbalen Beweglichkeit in alle Bewegungsrichtungen, – isokinetischen Kraft, – Hebekapazitäten [100–102]. Untersuchungen, ob diese Verbesserungen im Zusammenhang mit der subjektiven Verbesserung der Schmerzen und Beeinträchtigung einhergehen, ergaben, dass 80 % der Patienten nach MMST ihre lumbale Beweglichkeit und isometrische Kraft verbessern konnten. 79 % der Patienten gaben nach der MMST eine Schmerzreduktion an. Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung waren fast immer bei den gleichen Patienten zu beobachten, die statistische Korrelation fiel jedoch gering aus (0,22). Die Kraft und die Mobilitätswerte vor der Behandlung und das Ausmaß der Funktionsverbesserung nach MMST unterschieden sich nicht zwischen responder und non responder (gemessen an Schmerzreduktion, [103]).

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Wenige Studien beschäftigten sich noch mit anderen physischen Parametern im Zusammenhang mit der MMST. In einer Untersuchung konnte eine statistisch signifikante Verbesserung der posturalen Stabilität nach MMST gezeigt werden [104]. Des Weiteren konnten bei Patienten mit lumbalen Schmerzen vor einer MMST Störungen der Körperwahrnehmung (taktile Wahrnehmung) dargestellt werden. Diese war nach einer MMST verbessert [105]. In einer Studie wurde auf den Zusammenhang zwischen kardiopulmonaler Ausdauer und Muskelkraft (Rückenbeuger und -strecker) aufmerksam gemacht. Vor und nach einer MMST war dieser Zusammenhang nachweisbar [106]. Fazit Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen lassen sich Defizite hinsichtlich Kraft, Kraftausdauer, kardiopulmonaler Kondition, Gleichgewicht, Koordination, Stabilisation und Körperwahrnehmung zeigen. Durch das intensive körperliche Training verbessern sich zum Ende der Behandlung alle Parameter. Zu diesem Zeitpunkt sind die Adaptationen noch nicht von strukturellen Prozessen dominiert. So können neuronale (Koordination), kognitive (Wahrnehmung) und psychische Prozesse (Angstabbau etc.) als Erklärungsmodell angenommen werden. Die Literatur bringt keine effektivste Trainingsform für Schmerzpatienten hervor. Dennoch ist es nicht ganz egal, welche Trainingsform angeboten wird. Sämtliche untersuchten bewegungsbezogenen Interventionen stellen zunächst eine praktikable Auswahl dar. Eine Gewichtung nach der effektivsten Art würde spätestens in der Praxis an den individuellen Interessen der Patienten scheitern. Den Therapeuten bleibt zunächst nur die Gestaltung eines passenden Rahmens unter Berücksichtigung der grundlegenden Trainingsprinzipien (Kap. 3.6.3).

4.4 Ergebnisse aus den Rückenzentren Die interdisziplinäre Diagnostik und Therapie in den Rückenzentren (MMST-RZ) wird im Rahmen der Qualitätssicherung und wissenschaftlichen Untersuchungen regelmäßig evaluiert. Die Behandlungskonzepte in allen Zentren beruhen auf dem Prinzip des Functional Restoration. Die Patientenpopulation ist die einer hochspezialisierten Einrichtung und gekennzeichnet durch Zusteuerungsmechanismen. Patienten werden durch Vertragskrankenkassen zugesteuert, wenn sie mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig sind, oder es erfolgt eine Zuweisung zum Zweitmeinungsverfahren vor Gelenkersatz- bzw. Wirbelsäulenoperationen. Die Verträge zwischen den Rückenzentren und einzelnen Krankenkassen wurden im Rahmen der Integrierten Versorgung geschlossen. Für die Krankenkassen sind die ökonomischen Rahmenbedingungen sehr wichtig (Wirtschaftlichkeitsgebot). Daher werden Verträge außerhalb der Regelversorgung über Diagnostik- und Behandlungsprogramme fast nur geschlossen, wenn ein ökonomischer Nutzen für die Krankenkasse resultiert, z. B. durch eine Verkürzung der Krankengeldzahlung oder eine Verminderung der Operationszahlen. Grundsätzlich sind diese Ziele auch im Interesse der Patienten, so dass eine Winwin-Situation besteht. Für die Bewertung der Daten sind diese Vorkenntnisse jedoch wichtig (Selektionsbias).

4.4 Ergebnisse aus den Rückenzentren |

261

4.4.1 Versorgungspraxis transparent machen Die Rückenzentren sind in erster Linie in der Patientenversorgung tätig. Zusätzlich werden jedoch zur Verbesserung der Qualität regelmäßig Daten erhoben und wissenschaftlich publiziert. In mehreren Untersuchungen wurde die ökonomische Effizienz der MMST-RZ untersucht. Es wurden Patienten aus der MMST-RZ (Kostenträger Krankenkasse) mit Patienten nach einer Rehabilitationsbehandlung (Kostenträger Rentenversicherungsträger) verglichen. Zielparameter war die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit. Patienten aus der MMST-RZ-Gruppe wurden im Vergleich zur Rehabilitation nach der Behandlung doppelt so schnell wieder arbeitsfähig. Die Anzahl der Schmerzrezidive und die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage waren in den ersten 18 Monaten nach der jeweiligen Behandlung gleich. Beide Patientengruppen hatten vergleichbare soziodemographische Daten [107]. In einer zweiten Untersuchung wurden je 257 Patienten nach MMST-RZ und nach Standardbehandlung nachuntersucht. Die Kosten für die Patienten im Jahr der MMSTRZ lagen mit etwas über 10.000 € um 3.000 € unter der Standardbehandlung. Die meisten dieser Kosten entfielen auf indirekte Kosten [108]. Im Rahmen eines Pilotprojektes mit der AOK wurden ökonomische Effekte der MMST-RZ für die Krankenkasse evaluiert. Durch die Intervention konnten Krankenhauskosten, Arzneimittelkosten sowie Krankengeld gespart und damit die Behandlungskosten mehr als refinanziert werden [109]. Des Weiteren konnte im Rahmen einer gezielten Diagnostik und Therapiesteuerung ein verminderter Anstieg der Arbeitsunfähigkeiten durch ein multimodales Assessment und MMST-RZ nachgewiesen werden [110]. Im Rahmen des Berlin-Brandenburger Rückennetzes (BBR) wurden Patienten mit einer ICD-10-Diagnose Rückenschmerz und Arbeitsunfähigkeiten von über sechs Wochen einem multimodalen interdisziplinären Assessment zugeführt. Nach diesem Assessment konnten mehrere Therapieoptionen gewählt werden: – kleines multimodales interdisziplinäres Programm (RIP 1), – großes multimodales interdisziplinäres Programm (RIP 2), – stationäre Multimodale Schmerztherapie, – monomodale Therapie (Chirurgie, Psychiatrie, o. Ä.), – keine weitere Behandlung notwendig. Die Patienten wurden von der Krankenkasse über die entsprechenden ICD-10-Ziffern und die Länge der Arbeitsunfähigkeit identifiziert und dem Assessment zugewiesen. 18,9 % der Versicherten kamen trotz bestehender Indikation nicht zum Assessment. Gründe hierfür waren z. B. Sprachschwierigkeiten oder mangelnde Motivation der Patienten. Nach dem Assessment wurden folgende Empfehlungen ausgesprochen:

262 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

– – – –

16 % RIP 1, 56 % RIP 2, 8 % stationäre Schmerztherapie, 21 % eine andere Empfehlung (monomodale Therapie, keine Behandlungsnotwendigkeit o. Ä.).

Vor der Behandlung hatten Patienten in der stationären Schmerztherapie die höchsten, die Patienten im kleinen Rückenprogramm (RIP 1) die geringsten Schmerzwerte. In allen drei Behandlungsgruppen kam es zu einer signifikanten Schmerzlinderung (sechs Monate nach Behandlung). Auch die Patienten, die eine andere Empfehlung bekommen hatten, wiesen eine Schmerzreduktion auf. Das Wohlbefinden ergab ein ähnliches Verhalten. Hinsichtlich der psychischen Parameter (Angst und Depression) zeigten die stationär behandelten Patienten und die Patienten mit einer alternativen Empfehlung Werte über dem Cut-off. Diese Werte wurden in beiden Gruppen durch die Therapie nicht beeinflusst. Die körperliche Lebensqualität (SF 12) konnte in allen Gruppen positiv beeinflusst werden, die psychische Subskala mit fast normalen Ausgangswerten wurde in keiner Behandlungsgruppe beeinflusst. Die schmerzbedingte Beeinträchtigung im Alltag und die Arbeitsunfähigkeit nahmen in allen Gruppen ab [111].

4.4.1.1 Patientenversorgung in Zahlen Den Rückenzentren in Berlin und Hamburg wurden 2016 1556 Patienten zugewiesen. Hauptgrund ist eine Arbeitsunfähigkeit von über sechs Wochen aufgrund einer Rückenschmerzdiagnose. Dies betrifft 80 % der Patienten, der Anteil schwankt zwischen den Zentren zwischen 73 und 90 %. Der zweite wesentliche Grund liegt im Rahmen des Zweitmeinungsverfahrens bei einer Operationsempfehlung, dies betrifft ca. 20 % der Patienten, der Anteil zwischen den Zentren schwankt dementsprechend zwischen 27 und 10 %. Von allen Patienten, die das interdisziplinäre Assessment (Kap. 2) durchlaufen haben, nehmen ca. 66 % an einem Programm teil, das sind in Hamburg 61 % und in Berlin 69 %. Die Zahlen zeigen deutlich, dass das interdisziplinäre Assessment ergebnisoffen ist und nicht zwangsläufig zu einem Programm führt. Bei einer Empfehlung können sich Patienten auch gegen eine teilstationäre Behandlung im Rückenzentrum entscheiden. Einen Überblick über Gründe und Empfehlungen bei Nichtteilnahme am Therapieprogramm gibt Tab. 4.2. Die überwiegende Zahl der Patienten (90 %), die in die teilstationäre multimodale Therapie aufgenommen werden, beenden das Programm. Gründe für Abbrüche sind vielfältig, interkurrente Erkrankungen sind ein häufiger Grund.

4.4 Ergebnisse aus den Rückenzentren |

263

Tab. 4.2: Gründe für Nichtdurchführung einer teilstationären multimodalen Therapie und alternative Therapieempfehlungen (in %). Patientenbezogene Gründe Ambulante Regelversorgung Operationsempfehlung Stationäre Schmerztherapie Rehabilitation

27.2 58.1 5.3 5.7 3.7

4.4.2 Patienten aus den Rückenzentren im Vergleich Alle Patienten der Techniker Krankenkasse, die aufgrund eines chronischen Rückenschmerzes und einer längeren Arbeitsunfähigkeit in den Rückenzentren behandelt werden, füllen zu Beginn und am Ende der Behandlung einen Schmerzfragebogen aus. Die Daten werden mit iDocLive (https://info.idoclive.de) erhoben und ausgewertet. Die im Folgenden dargestellten Daten entstammen der iDocLive-Datenbank. Eine Schwierigkeit in der Einordnung von Behandlungsergebnissen ist die Wahl der Vergleichsgruppe. Unterscheiden sich die Patientengruppen voneinander, sind Behandlungsergebnisse (Studienergebnisse) nur eingeschränkt vergleichbar. Des 80 70

Anteil in Prozent

60 50 40 30 20 10

0 v. Korff 1 v. Korff 2 v. Korff 3 v. Korff 4

Praxis 4,3 5,8 39,5 50,5

Klinikambulanz 4,3 6,7 34,8 54,3

Tagesklinik 3,7 10,4 38,5 47,4

stationär 2,7 2 27 67,6

Rückenzentrum 2 1,7 18,2 78

gesamt 3,4 5,32 31,6 59,56

Abb. 4.1: Verteilung der Schweregrade der chronischen Schmerzerkrankung nach von Korff im Vergleich der Behandlungssettings.

264 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

Weiteren ist durch die Zuweisung der Patienten (Selektion durch die Krankenkasse, Kriterium Arbeitsunfähigkeit) ein Selektionsbias vorhanden. Um die vorgestellten Daten transparent zu gestalten, wurden die Daten der Rückenzentren (N = 1597) vor der Behandlung mit den Patientendaten der Evaluationsstichprobe des Deutschen Schmerzfragebogens (N = 1013; DSF, [112]) verglichen. Knapp 80 % der in die Rückenzentren zur MMST-RZ überwiesenen Patienten waren im höchsten Schweregrad der Schmerzerkrankung (von Korff; Abb. 4.1, [113, 114]). Damit weisen die Patienten der Rückenzentren im Vergleich zur Evaluationsstichprobe des DSF eine höhere Beeinträchtigung auf. Dies liegt daran, dass aufgrund des Zuweisungskriteriums der Arbeitsunfähigkeit eine Selektion vorliegt. Im Schnitt waren die Patienten aus den Rückenzentren im Vergleich mehr als doppelt so lange arbeitsunfähig (Abb. 4.2). Die Arbeits- und Alltagsfähigkeit fließen in die Bestimmung des von Korff-Schweregrades mit ein.

mittlere Dauer der Arbeitsunfähigkeit in Tagen

70 60

57,8

50 40 30

24,7

20 10

0

Schmerzpatienten DFS-Evaluation (n = 1013)

Rückenzentren (n = 1597)

Abb. 4.2: Mittlere Arbeitsunfähigkeitszeiten.

Vergleicht man die Schweregrade der in den Rückenzentren behandelten Patienten (Rückenschmerzpatienten, Patienten mit HWS/Nackenschmerzen) mit den Daten von Patienten mit anderen Schmerzlokalisationen, so ist zu sehen, dass nur Patienten mit generalisierten Schmerzen schwerer betroffen waren (Abb. 4.3). Die Lebensqualität von chronischen Schmerzpatienten ist im Vergleich zu einer deutschen Bevölkerungsstichprobe [115] vermindert. Von den Patienten wird insbesondere eine Einschränkung der physischen Lebensqualität beschrieben (Abb. 4.4). Vergleicht man die Lebensqualitätsdaten der Patienten aus den Rückenzentren mit denen der DSF-Stichprobe und denen anderer Schmerzpatienten (N = 3294; [116]) zeigen sich außer zu den Kopfschmerzpatienten keine Gruppenunterschiede (Abb. 4.5).

4.4 Ergebnisse aus den Rückenzentren |

265

90 80 70

Anteil in Prozent

60 50 40 30 20 10

0

v. Korff 1 v. Korff 2 v. Korff 3 v. Korff 4

Kopf

Rücken/ Kopf

Rücken

andere Lokalisation

generalisiert

Rückenzentrum

gesamt

19,6 26,1 15,2 39,1

5,4 14,7 22,8 51,7

5,1 9,9 20,7 63,9

5,8 9,1 20,8 64,3

0 0 17,5 82,4

2 1,7 18,2 78

6,3 10,25 19,2 63,2

Abb. 4.3: Verteilung der Schweregrade der chronischen Schmerzerkrankung nach von Korff im Vergleich zur Schmerzlokalisation.

60

SF 12-Mittelwert

50 40 30 20 10

0

Kopf

Rücken/ Kopf

Rücken

andere Lokalisation

generalisiert

SF 12 körperliche Summenskala

40,82

31,83

28,38

30,54

27

30,6

30,53

49,6

SF 12 psychische Summenskala

43,75

43,16

45,86

44,47

45,3

44,9

44,71

52,3

alle Rückenzentren Schmerzpatienten

Abb. 4.4: Lebensqualitätsunterschiede in Abhängigkeit der Schmerzlokalisation.

Normstichprobe

266 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

SF 12-Mittelwert

50 40 30 20 10

0

Schmerzpatienten

Evaluation DSF

Rückenzentren

SF 12 körperliche Summenskala

31

30,5

30,6

SF 12 psychische Summenskala

43,3

44,7

44,9

Abb. 4.5: Lebensqualität im Vergleich der verschiedenen Patientenpopulationen.

Obwohl die Patienten der Rückenzentren hinsichtlich des Schweregrades und der Lebensqualität schlechtere Werte bzw. keine Unterschiede zur DSF-Population zeigen, haben die Patienten aus den Rückenzentren geringere Schmerzwerte (Abb. 4.6). Im Anschluss an die Behandlung konnten 1343 Datensätze ausgewertet werden. 93 % der Patienten, die die Behandlung abgeschlossen haben, waren nach der MMSTRZ wieder arbeitsfähig. Bezieht man die Therapieabbrecher mit ein, waren 84 % der Patienten arbeitsfähig.

4.4.3 MMST in den Rückenzentren – Behandlungsergebnisse Zum Messzeitpunkt nach vier Wochen, also direkt im Anschluss an die Behandlung, waren knapp 60 % der Patienten arbeitsfähig, acht Wochen nach der Therapie knapp 90 %. 36 % der Patienten wurden zur Erreichung des Therapieziels (Arbeitsfähigkeit) über vier Wochen hinaus behandelt. Die Schmerzstärken konnten durch die Behandlung deutlich gesenkt werden. Der durchschnittliche Schmerz sank um 50 % (−23 Punkte auf der VAS) und der maximale Schmerz um 57 % (−30,6 Punkte auf der VAS). Die Lebensqualität (SF 12) wurde in der physischen Subskala um zehn Punkte verbessert (von 30,6 auf 40,2), die psychische Subskala blieb unbeeinflusst (Mittelwert 45,1). Die Verbesserungen der Lebensqualität (physische Subskala) und der Schmerzstärken sind statistisch signifikant und zeigen hohe Effektstärken.

4.4 Ergebnisse aus den Rückenzentren |

267

9 8 7

NRS (0–10)

6 5 4 3 2 1

0

Praxis 6,6 8,19 6,86

Klinikambulanz 6,69 8,28 6,93

Tagesklinik 6,44 8,2 6,88

stationär 6,92 8,51 7,22

Rückenzentrum 4,36 7,11 4,59

gesamt 6,26 8,06 6,5

Abb. 4.6: Schmerzstärken im Vergleich der Behandlungssettings (PIX = Mittelwert aus maximaler, durchschnittlicher und momentaner Schmerzstärke).

Fazit Die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit ist für die Kostenträger ein entscheidender Zielparameter. Arbeitsunfähigkeit verursacht hohe Kosten. Hinzu kommen direkte medizinische Kosten durch z. B. Krankenhausaufenthalte und Analgetikaverschreibungen. In den publizierten Daten der Rückenzentren lassen sich eine Verringerung der Kosten/Patienten insbesondere aufgrund der verminderten Arbeitsunfähigkeiten zeigen. Die Patientenpopulation der Rückenzentren unterscheidet sich von denen in anderen schmerzmedizinischen Einrichtungen. Durch die gezielte Zuweisung von arbeitsunfähigen Patienten erfolgt eine frühzeitige Selektion verschiedener Risikogruppen. Die letztendlich behandelten Patienten zeichnen sich durch einen höheren Schweregrad der Schmerzerkrankung, jedoch durch geringere Schmerzstärken aus. Die Behandlungsergebnisse zeigen beim Hauptzielparameter der Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit, aber auch bei der Schmerzreduktion eine hohe Effektivität der Programme. Auf der anderen Seite werden trotz gezielter Zuweisung nach der multimodalen Diagnostik 30–40 % der Patienten nicht behandelt und bei 9 % der in die Behandlung eingeschlossenen Patienten wird die Therapie vorzeitig abgebrochen. Andere Patienten zeigen einen protrahierten Verlauf mit verzögerter Wiederaufnahme und/oder benötigen Behandlungsverlängerungen. Somit ergibt sich viel Potenzial für die weitere Entwicklung von Selektionskriterien für Behandlungen und differenzierte Behandlungsverfahren für unterschiedliche Behandlungsgruppen.

268 | 4 Wissenschaftliche Datenlage – Ein Auszug

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Abkürzungsverzeichnis AOK AU BBR BMI CPG CRS CSI CTÜ CWSP DGSS DIPS DMP DSF DSM EBM FBA GdB GRIP HWS IASP ICD 10

Allgemeine Ortskrankenkasse Arbeitsunfähigkeit Berlin-Brandenburger Rückennetz Body Mass Index Chronic Pain Grade chronische nichtspezifische Rückenschmerzen Central Sensitization Inventory cervicothorakaler Übergang Chronic Wide Spread Pain Deutsche Schmerzgesellschaft Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen Disease-Management-Programm Deutscher Schmerzfragebogen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders Evidence Based Medicine Finger-Boden-Abstand Grad der Behinderung Göttinger Rücken-Intensiv-Programm Halswirbelsäule International Association for the Study of Pain International Classfication of Diseases (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) ISG Iliosakralgelenk KddR „Konföderation der deutschen Rückenschulen“ KEDOQ Kerndatensatz zur Dokumentation und Qualitätssicherung LA Lokalanästhetika LWS Lendenwirbelsäule MASK Multiaxiale Schmerzklassifikation MCE Motor Control Exercise MCI Motor Control Impairment MF Musculi multifidi MMST Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie MMST-RZ interdisziplinäre Diagnostik und Therapie in den Rückenzentren MPSS Mainz Pain Staging System MRT Magnetresonanztomographie MTT Medizinische Trainingstherapie NRS Numerische Rating-Skala NSAR Nichtsteroidale Antiphlogistika/Antirheumatika NVL Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz Pat. Patient PBU Pressure Biofeedback Unit PILE Progressive Isoinertial Lifting Evaluation PME Progressive Muskelentspannung PRT Periradikuläre Therapie PSFS Patient specific functional scale (Patientenspezifische Funktionsskala) RCT Randomized Controlled Trial

https://doi.org/10.1515/9783110546200-007

276 | Abkürzungsverzeichnis

RIP 1 RIP 2 RPE SegSta SF-12 SLR TA Th. TLA TLÜ VAS WH

kleines multimodales interdisziplinäres Programm großes multimodales interdisziplinäres Programm Rating of Perceived Exertion (nach Borg) Segmentale Stabilisation Short-Form (12 items) Gesundheitslebensqualitätsfragebogen Straight Leg Raise Transversus abdominis Therapeut Therapeutische Lokalanästhesie thorakolumbaler Übergang Visuelle Analogskala Work Hardening

Stichwortverzeichnis Achtsamkeit 131 Adaptation, körperliche 149 Akzeptanz 131 Alleinerziehende 256 Alltagsmotorik 182, 195 Analgetika 97 Anamnese – ärztliche 32 – physiotherapeutische 59 – psychologisch 27 Angst-Vermeidungs-Überzeugungen (Fear-Avoidance-Beliefs) 45, 50 antezendente Bedingungen 45 Antidepressiva 103 Antiepileptka 103 Arbeitsfähigkeit 47 Arbeitshypothese 58 Arbeitssituation 47 Arbeitsunfähigkeit 8 Arbeitszufriedenheit 47, 55 Ätiologie 5 Aufmerksamkeitslenkung 128 Aufwärmen 172 Ausdauertest 156 Ausdauertraining 177, 201 – Ergometer 177 Ausschlusskriterien 58, 204, 205 Beeinträchtigung 249, 251 Befund – neuro-orthopädisch 78 – physiotherapeutisch 78 – psychologisch 78 Befundbesprechung 42 Begrüßung 85, 108 Behandlungsabbruch 205 Behandlungsangebot 67 Behandlungsempfehlung 68 Behandlungserwartung 50 Belastung, körperlich 149 Berlin-Brandenburger Rückennetzes (BBR) 261 Berufsspezifisches Training 188 Betreuungsschlüssel 86 Bewältigungsverhalten 44 Beweglichkeitseinschränkung 39 Beweglichkeitstest 154

Beweglichkeitstraining 201 Bewegungsprüfung 61 Beziehung 48 – Beziehungserfahrungen 65 – Therapeut-Patient 21 Beziehung, Therapeut-Patient- 89 Bias 247, 250 Bildgebung 40 biopsychosoziales (Krankheits-) Modell 11, 88, 151, 224 Bodychart 59 Botschaften 221 Brustwirbelsäule (BWS) 39 Chronic Wide Spread Pain (CWSP) 252 Chronifizierung 53 Coxibe 100 Dekonditionierung 149 Deutscher Schmerzfragebogen (DSF) 33 Diagnostik – apparative 40 – ärztliche 31 – psychische 51 – psychosoziale 43 dysfunktionale Kognitionen 45 Edukation 93 – ärztliche 109 – psychologische 119 – sporttherapeutische 199 Elektro- und elektromagnetische Therapie 106 Entlastungübungen 169 Entscheidungsprozess 68 Entspannung 220 Epidemiologie 7 Erfolgsparameter 206 Ergonomie 197 Erstgespräch 43 Erstkontakt 65 Evidence Based Medicine (EBM) 247 Faszienrolle 171 Fibromyalgie 252 Finger-Boden-Abstand (FBA) 154, 182 Fitnesstraining 171

278 | Stichwortverzeichnis

Flexion-Relaxation Phänomen 259 Fortbildungen, intern 214 Fragebogen 53 Fragebogen zur Erfassung der habituellen körperlichen Aktivität 153 Functional Restoration 11, 150, 152, 157, 249, 260 Funktionsfähigkeit 55 Funktionsgymnastik 164 Gangschulung 188 Gedächtnisprozess 122 Gesamtaufrichtung 62, 159 Gesprächsführung 43 Gleichgewicht 178 Göttinger-Rücken-Intensiv-Programm (GRIP) 9, 250 Grading 6 Gruppentauglichkeit 84 Halswirbelsäule (HWS) 39 Haltungskoordination 219 Handlungsanalyse, qualitativ 156 Handlungsempfehlung, interdisziplinäre 65 Handlungsvorstellung 219 Hands on 203 Hebekapazität 259 Hebeleistung 254 Iliosakralgelenk (ISG) 40 Inanspruchnahme medizinischer Leistungen 252–254, 256, 257 Instabilität, funktionelle 62 Integrierte Versorgung 9, 260 Intensität der Behandlung 257 Interaktionsverhalten 68 Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie in den Rückenzentren (MMST-RZ) 260, 266 – ökonomische Effizienz 261 Interdisziplinarität 11, 13, 84, 207, 226 International Association for the Study of Pain 5 Interventionen, bewegungsbezogen 149 Körperwahrnehmung 260 Katastrophisierung 42 – Katastrophisierungskognitionen 45 Kinesio-Taping 106 Klassische Konditionierung 122 Klassische Medizin 97

Kognitive Strategien 147 Kompetenzüberschreitung 214 Konfrontation 95 Kooperationswissen 216 Koordinationstest 156 Koordinationstraining 201 Kraft, isokinetische 259 Krafttest 155 – Biering-Sörensen 155 – isometrisch maximal 156 – Partial-Curl-up 155 Krafttraining 201 – gerätegebundenes 172 – ohne Zusatzgewicht 168 Krankheitskonzept/-modell 44, 48, 67 Krankheitsmodell – biopsychosoziales 126 Kreuzschmerz 5 Lebensalter 256 Lebensqualität 46, 55, 56 Leitlinien 248 Lendenwirbelsäule (LWS) 36 lerntheoretische Prinzipien 146 Mainz Pain Staging System 7 Manuelle Therapie 203 mechanisches Interface 62 Medizinische Trainingstherapie (MTT) 171, 258 Motivation 49, 65, 144, 222 motivational interviewing 257 motivationale Klärung 92 Motor Control Exercise (MCE) 165 Motor Control Impairment (MCI) 62 Motorische Fähigkeiten 152 – konditionell-energetisch 152 – koordinativ-psychomotorisch 152 Motorische Handlungen 151 motorische Kontrolle 62 Motorische Tests 152 – Testauswertung 202 – Testbatterie 153 Mulligan 176, 204 Multidisziplinarität 84, 225 Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie (MMST) 10, 12, 249, 252 – Gruppenstärke 14, 87 – Rahmenbedingungen 83 – Team 14

Stichwortverzeichnis

– Umfang 16, 85 – Zeitpunkt 256 Multimodalität 13, 84 Musculi multifidi (MF) 160 Musculus transversus abdominis (TA) 160 Muskelmuster (nach Janda) 36 Muskelrelaxantien 102 Nachbehandlung 86 Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz (NVL) 18, 98, 249 neurale Gleitfähigkeit 60 Nichtmedikamentöse Therapieverfahren 105 Nichtopioidanalgetika 98 Nichtsaure antipyretische Analgetika 100 Nichtsteroidale Antiphlogistika/Antirheumatika (NSAR) 99 Operationsindikation 67 Operative Verfahren 107 Opioidanalgetika 101 Patientenbeispiel 25, 69, 77, 206, 227 Patientenspezifischen Funktionsskala (PSFS) 60 Physiotherapie 251 physische Parameter 258 Placeboeffekt 143 posturale Stabilität 260 Prädiktoren 254 Problemaktualisierung 91 Problembewältigung 91 Progressive Isoinertial Lifting Evaluation (PILE) 155 Progressive Muskelentspannung (PME) 106, 132 psychiatrische/psychische Erkrankungen 253 psychophysische Dekompensationen 205 psychosoziale Faktoren 50 Psychotherapie 117 Qualitätsmanagement 262 Qualitätssicherung 57 Rating of Perceived Exertion (RPE)-Skala (nach Borg) 158 Red Flags 31, 67 Ressourcenaktivierung 90 return to work 58, 221 return to work (rate) 250, 252, 254, 255, 257 Rezidivraten 253, 254, 256

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Rückenschmerz 5, 6, 10 – Chronifizierung 6 – chronisch nichtspezifisch 6, 10 – Einflussgrößen 8 – Klassifikation 6 – spezifisch 6 Rückenschule 106 – Klassische 193 – Neue 193 Schlafstörungen 256 Schmerz 5 – -coping-Strategien 128 – -edukation 118 – -erfahrung 123 – -folgen 118 – -fragebogen 56 – -klassifikation 52 – -problemanalyse 44 – -sensibilisierung 146 – -umgang 128 – -verhalten 68 – -wahrnehmung 130 – akut 127 – chronisch 127 Schmerzchronifizierung, neurophysiologische 252 Schmerzen, neuropathische 252 Schmerztherapie – interventionelle 104 – medikamentöse 97 Segmentalen Stabilisation 160 Selbstkonkordanz 159, 199 Selbstwirksamkeitserwartung 159, 202, 222 Selbstwirksamkeitsüberzeugung 45 Selektionsbias 260, 264 Selektionskriterien 65 Sensibilisierungsprozess 122 Slider-Technik 62 Sozialsystem 113 sozioökonomischer Status 255 Spiele, kleine 189 Sportberatung 191 Staging 6 Standardisierung 56 Straight Leg Raise 62 Stress 135 Systemtheorie 223

280 | Stichwortverzeichnis

Teambesprechungen 109, 207, 209 Therapeutisches Klettern 176 Therapieprinzipien 88 Trainingsmethoden 199 Trainingsplan 201 Trainingsprinzipien 157, 200, 201 Trainingssteuerung 158 Transtheoretisches Modell 141 Untersuchung – körperliche 61 – Labor 42 – neuro-orthopädische 25, 33 – neurodynamische 62 – neurologische 39 – physiotherapeutische 26, 58 Untersuchungsroutine 35 Untersuchungssituation 67 Verhältnisprävention 197 Verhaltensprävention 197

Verhaltenstherapie, kognitive 117 Versorgungsformen 16 Versorgungslandschaft 8 Visiten 109, 210 von Korff-Skala 264 Vorbehandlung 84 Wahrnehmung 44 Wirbelsäulenkoordination 159 – statische 62 Wirkfaktoren 89 Wochenstundenplan 85 Work Hardening 179 work retention (rate) 250, 252, 254, 255 Yellow Flags 50 Zieldefinition 92, 140 Zielkonflikt 48, 67 Zweitmeinung – -verfahren 260

Weitere empfehlenswerte Titel Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems Multimodale interdisziplinäre Komplexbehandlung Kay Niemier,Wolfram Seidel, Matthias Psczolla, Wolfgang Ritz, Jan H. Holtschmit, erscheint April 2018 ISBN 978-3-11-049524-9, e-ISBN 978-3-11-049524-9 Weißbuch Konservative Orthopädie und Unfallchirurgie Matthias Psczolla et al. (Hrsg.), 2017, OPEN ACCESS ISBN 978-3-11-053433-7, e-ISBN 978-3-11-053565-5

Unfallbegutachtung, 14. Auflage Friedrich Mehrhoff, Axel Ekkernkamp, Michael K.-H.Wich (Hrsg.), erscheint Mai 2018 ISBN 978-3-11-052927-2, e-ISBN 978-3-11-053005-6

Die wachsende Wirbelsäule Ralf Stücker, Carol Hasler (Hrsg.), 2017 ISBN 978-3-11-046187-9, e-ISBN 978-3-11-046268-5

NEUESTE ERKENNTNISSE AUS DER SCHMERZFORSCHUNG SCANDINAVIAN JOURNAL OF PAIN Editor-in-Chief: Harald Breivik 4 Hefte pro Jahr Die Schmerzforschung in den skandinavischen Ländern blickt auf eine lange Tradition zurück. Aus dieser Tradition heraus wurde das Scandinavian Journal of Pain (SJPAIN) zur Veröffentlichung international relevanter wissenschaftlicher Beiträge über die Grundlagen und die Therapie von Schmerzen im Jahr 2010 ins Leben gerufen. Die englischsprachige Zeitschrift ist das offizielle Organ der Scandinavian Association for the Study of Pain und dient als Forum für Wissenschaftler, Ärzte und Psychologen. ISSN 1877-8860 eISSN 1877-8879

Schwerpunkte: f

Klinische Forschung und Epidemiologie

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Neurophysiologie und neuropathischer Schmerz

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Neurobiologie und Pharmakologie

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Schmerzmessung, Experimente, Statistik und Bildgebung

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Psychologie

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