Radikal ambivalent. Engagement und Verantwortung in den Künsten heute [1. ed.] 9783037344194


114 48 7MB

German Pages 270 [272] Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Radikal ambivalent
7 - Einleitung
15 - Anteil am Anderen
29 - Strategische Uneindeutigkeit
57 - Entschieden unentschieden
75 - Eine Linie wählen
89 - Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers
111 - Crystal of Resistance
129 - Bloss da, undurchschaubar
141 - Unklärbarkeit
159 - Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht
175 - Grenzgang Ambivalenz
195 - Satire als politisches Statement
209 - Formlos, wie Spucke
223 - Ambivalent aufgeklärt
Recommend Papers

Radikal ambivalent. Engagement und Verantwortung in den Künsten heute [1. ed.]
 9783037344194

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

rachel mader (HG.)

radikal ambivalent Engagement und Verantwortung in den Künsten heute

DIAPHANES

Band 12 der Schriftenreihe des Instituts für Gegenwartskunst, Zürcher Hochschule der Künste ZHDK, www.iFcar.ch Publiziert mit unterstützung des schweizerischen nationalfonds zur förderung der wissenschaftlichen forschung und der Hochschule Luzern, Design und Kunst.

1. Auflage ISBN 978-3-03734-419-4 © diaphanes, Zürich-berlin 2014 www.diaphanes.net Alle Rechte vorbehalten Layout und Druckvorstufe: 2edit, Zürich Druck: pustet, regensburg

Inhalt

Rachel Mader Einleitung

7

Konzeptualisierungen Helmut Draxler Anteil am Anderen Politik und strukturelle Ambivalenz

15

Verena Krieger Strategische Uneindeutigkeit Ambiguierungstendenzen »engagierter« Kunst im 20. und 21. Jahrhundert

29

Bernadett Settele Entschieden unentschieden Radikale Kunstvermittlung als eigenwillige Fortsetzung von Kunst

57

Positionierungen Gerald Raunig Eine Linie wählen Mannigfaltigkeit, Division, Eindeutigkeit

75

Peter J. Schneemann Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

89

Thomas Hirschhorn Crystal of Resistance

111

Operationen knowbotiq bloSS da, undurchschaubar Opake Teilhabe unter postmedialen Konditionen

129

Tim Zulauf Unklärbarkeit Zwölf Thesen und sieben Textausschnitte zur Radikalisierung der Ambivalenz

141

Uriel Orlow und Rachel Mader Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht Ein E-Mail-Austausch

159

Brigitta Kuster Grenzgang Ambivalenz

175

Auslegungen Barbara Lange Satire als politisches Statement Cosima von Bonin

195

Johanna Schaffer Formlos, wie Spucke

209

Nina Zschocke Ambivalent aufgeklärt

223

Die Autorinnen und Autoren abbildungsnachweise

265 271

Rachel Mader

Einleitung Ambivalenz und engagierte Kunst sind zwei der gleichsam populärsten und umstrittensten Topoi aktueller Debatten in Kunst, Kultur und Theorie. In ihrer Schnittmenge, der die Texte in dieser Publikation gewidmet sind, potenziert sich die bereits in der gegenwärtigen Ausprägung der einzelnen Begriffe angelegte Brisanz: Der latenten Omnipräsenz von Ambivalenz als Deutungsmuster gegenwärtiger gesellschaftlicher und kultureller Verfasstheit begegnet etwa eine harsche Kritik, die diese Erscheinung als modisches und entsprechend beliebiges, unverbindliches Gerede abtut.1 Die erhöhte Aufmerksamkeit, die politisch intendierte Kunst in den letzten Jahren auf sich zu ziehen vermochte, sah sich einem durchaus vergleichbaren Vorwurf ausgesetzt. Der künstlerische Einsatz zugunsten gesellschaftlicher Verhältnisse oder politischer Ideale wurde nicht selten als oberflächliches Scheinbekenntnis und  – angesichts der Popularität der Thematik – als eigennützige Karrierestrategie diffamiert.2 1

Als einer der Ersten hat Hal Foster das Phänomen der unentschiedenen Mehrdeutigkeit in Bezug auf die damals aktuelle Kunst als problematisch bezeichnet. Obwohl er nicht den Begriff der Ambivalenz benutzte, befasst sich sein Text aus dem Jahr 1982 mit dem Titel »Against Pluralism« mit den seines Erachtens fatalen Konsequenzen des Umstands, dass in der Kunst bezüglich Stil und Haltung Beliebigkeit herrsche: »[…] for in a pluralist state art and criticism tend to be dispersed and so rendered impotent«, vgl. Hal Foster: »Against Pluralism«, in: ders.: Recodings. Art, ­Spectacle, Cultural Politics, New York 1985, S. 13–32. Der Essay wurde erstmals 1982 in der Zeitschrift Art in America veröffentlicht. Foster verweist in seinem Text auf Autoren wie Lionel Trilling oder Herbert Marcuse, die in früheren Schriften Pluralismus problematisierten, allerdings ohne ihn ins Zentrum ihrer Überlegungen zu stellen. Vgl. hierzu Lionel Trilling: »On the Teaching of Modern Literature«, in: Beyond Culture, hsrg. von Lionel Trilling, New York und London 1965 und Herbert Marcuse: One Dimensional Man, Boston 1964. 2 Vgl. exemplarisch dazu etwa Bernhard Hummer, Therese Kaufmann, Raimund Minichbauer und Gerald Raunig im Intro zu dem von ihnen herausgegebenen Bericht republicart practices zum europäischen Forschungsprojekt »republicart«, einzusehen unter: http://republicart.net/art/practices.

8

Rachel Mader

Wenig ­erstaunlich, dass sich die polarisierende und verwirrende Debatte im Grenz­gebiet der beiden Phänomene kaum schärfer konturiert, vielmehr über eine noch größere »semiotische Unschärfe« verfügt, eine Wendung, die der Medienwissenschaftler Volker Wortmann jüngst für den ebenso schillernden Begriff der Authentizität herausgearbeitet hat.3 Lage und Status der Diskussion sind also ungeklärt und unübersichtlich, viele Voten dazu sind eher essayistischer Natur oder gleichen Glaubensbekenntnissen. Die Frage danach, wie sich unterschiedliche Konstellationen innerhalb dieses Diskursfeldes sinnvoll aufdröseln oder überhaupt fassen und benennen lassen, stellt sich umso dringlicher. Daran schließt denn auch die These, die der vorliegende Band in und mit seiner Zusammenstellung zu behaupten beabsichtigt, an: Gerade der schillernde und zugleich doch prekäre, da umstrittene Auftritt radikal ambivalenter Positionen ist Ausdruck einer Diagnose aktueller Verhältnisse, die als komplex und paradox verstanden und akzeptiert werden müssen und die sich gegen vorschnelle Vereindeutigungen zur Wehr zu setzen versuchen.4 Der bereits erwähnte Medienwissenschaftler Volker Wortmann pdf, 11/12. Oliver Marchart und Marion Hamm entwickeln in ihrem Artikel »Prekäre ­Bilder – Bilder des Prekären« just in Abgrenzung zu propagandistischen Bildstrategien das ­Konzept von prekären Bildern, die »Strategien der Verundeutlichung, Komplexitätssteigerung, Über-­Semantisierung, Theoretisierung, Diskursivierung, Irritation, Täuschung oder bloßen Andeutung« ­verfolgen. Dieses Bildkonzept lokalisieren sie aktuell gerade auch im Umfeld politischer Bewegungen wie etwa den Euro-Maydays. Vgl. Oliver Marchart, Marion Hamm: »Prekäre Bilder – Bilder des Prekären. Anmerkungen zur Bildproduktion post-identitärer sozialer Bewegungen«, in: Beate Fricke, Markus Klammer und Stefan Neuner (Hg.): Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie, München 2011, S. 376–398. 3 Volker Wortmann anlässlich seines Vortrags »Dark Side of Media. Ein medienwissenschaftliches Plädoyer für Authentizität«, im Rahmen der Tagung »Authentizität in der bildenden Kunst der Moderne«, Zürich, 27./28. Oktober 2011. 4 Nebst zahlreichen kulturwissenschaftlichen Studien, die allem voran Ambivalenz oder Ambiguität als Kennzeichen postmoderner Gesellschaften bezeichnen (vgl. dazu insbesondere Zygmunt ­Baumans Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992), existiert seit den Nachkriegsjahren eine beachtliche Menge an Literatur zum Potenzial von Ambivalenz in der Kunst. Vgl. dazu die Zusammenstellung der zentralsten Texte und Perspektiven bei Verena Krieger: »›At war with the obvious‹  – Kulturen der Ambiguität. Historische, psychologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen«, in: Verena Krieger und Rachel Mader (Hg.): Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln, Weimar, Wien 2010, S.  13–49. Die 2012 erschienene Publikation Eindeutigkeiten sprengen (hrsg. von Anke Hoffmann und Yvonne ­Volkart), mit der die beiden Herausgeberinnen und Kuratorinnen der Shedhalle zwischen 2009 und 2012 just ihre Arbeit an diesem Ausstellungsort dokumentieren und fundieren, macht die Schnittmenge von Ambivalenzen und politischem Engagement in der Kunst zur programmatischen Leitlinie sowohl ihres Schaffens als auch ihres gesellschafts- und wissenschaftskritischen Denkens.

Einleitung

hat in seiner Analyse zur Authentizität – in der Tat in seinem Benehmen ein der Ambivalenz nicht unähnliches Phänomen – nach Jahren ­dekonstruktiver Betrachtungen für eine Neubewertung plädiert und dabei vorgeschlagen, »Authen­tisierung als ein basales kulturelles Handlungsmuster zu verstehen«.5 In Anlehnung an diese Formulierung möchte ich vorschlagen, Ambivalenz ebenfalls als grundlegendes kulturelles Deutungsmuster zu behandeln, dies in Bezug auf Zeiten, in denen nicht nur eine offenbar breitenwirksame Unstetigkeit oder Dynamisierung gesellschaftlicher Verhältnisse wahrgenommen wird, sondern sich ebenso eine »Sehnsucht nach der Evidenz« – als Ausdruck eines anhaltenden Glaubens an ein Wissen, dass »ein stabiles Erfassen der Wirklichkeit sei« – an unterschiedlichsten Orten immer wieder manifestiert.6 Vor diesem Hintergrund ist radikale Ambivalenz zugleich Versprechen und Bedrohung, Haltung und Zeitdiagnose, Reflexions- und Möglichkeitsraum oder ­Postulat, verunklärt und leistet dezidierten Widerstand. Sie agiert also auf unterschiedlichen Ebenen, entwickelt vielfältige Wirksamkeit an diversen Orten, zeugt Eigengesetzlichkeiten und fordert auf zu widersprüchlichen Interpretationen. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes haben es sich zur Aufgabe gemacht, vor diesen komplexen und paradoxen Konstellationen nicht zu kapitulieren, sondern sie durch ihr genaues Hinschauen ernst zu nehmen. Die Zusammenstellung wiederum verfolgt die Absicht, die Einzelstudien in einer Weise zu ordnen, die den aktuellen Stand der Diskussion handhabbar und damit verhandelbar machen, ihn aber nicht vereinfachend und abschließend wiedergeben soll. Die dazu entworfenen Kategorisierungen (Konzeptualisierungen, Positionierungen, Operationen, Auslegungen) lokalisieren die Debatten entsprechend weniger über thematische Setzungen oder inhaltliche Thesen als vielmehr hinsichtlich eines Entwurfs von Parametern, mithilfe derer die Strukturen der Diskussion produktiv gefasst und für weiterführende Diskussionen eröffnet werden können. Die Nennung der Kategorien im Plural unterstreicht die Perspektive dieses Bandes, mit dem nicht nach Antworten, sondern nach möglichen Fragen gesucht wird. Das Kapitel Konzeptualisierungen widmet sich der paradoxen Frage, wie Ambivalenz zu fassen ist, ohne dass ihr die Ambivalenz abhandenkommt.

5 Zitiert nach dem Abstract zur erwähnten Tagung in Zürich vom 27./28. Oktober 2011. 6 So der Titel der von Karin Harrasser, Helmut Lethen und Elisabeth Timm herausgegebenen

­Ausgabe der Zeitschrift für Kulturwissenschaft 1 (2009).

9

10

Rachel Mader

Helmut Draxlers Text behauptet denn auch bereits im Titel eine ­»strukturelle ­Ambivalenz« und konturiert diese in seinen Ausführungen aber als strikt ­relationale Größe.7 Verena Krieger zielt mit ihrer exemplarischen Analyse von künstlerischen Ambiguierungsstrategien, wie etwa der subversiven Affirmation oder der mimetischen Indifferenz, auf eine historische Verortung der Diskussion und zeigt auf, dass der Ambiguität per se kein emanzipatorisches Potenzial innewohnt und eine Interpretation zwingend innerhalb der historisch-gesellschaftlichen Konstellation vorzunehmen ist. Bernadett Settele ­wiederum ­diagnostiziert jüngeren Bestrebungen in der Kunstvermittlung eine an sich schon ambivalente Konstitution, indem diese für sich in gleicher Weise beanspruchen, Kunst als auch Vermittlung – einst zwei strikt getrennte Be­reiche – zu sein. Unter Positionierungen werden theoretische und künstlerische Unternehmen diskutiert, die – trotz oder gerade gegen die allseits postulierte Offenheit, Rätselhaftigkeit oder Mehrdeutigkeit – eine gewisse Form der Eindeutigkeit einfordern. Gerald Raunigs Artikel muss gleichsam als Streitschrift gegen den »Imperativ der Ambiguität« und als Plädoyer für eine klar hörbare Stimme innerhalb einer politisch gefassten Mehrstimmigkeit verstanden werden. Entlang einzelner Beispiele (u.a. Artur Żmijewski, Marina Abramović) dechiffriert Peter Schneemann, wie sich partizipatorische Gesten von Kunstschaffenden in autoritäre Aufforderungen an die Betrachter und Betrachterinnen verwandeln und damit von einer scheinbaren Einladung in ihr Gegenteil umschlagen. In seinem Essay »Crystal of Resistance«, der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung an der Biennale Venedig im Jahr 2011 entstand, entwickelt Thomas Hirschhorn inhaltliche Schwerpunkte für sein künstlerisches Schaffen, das er dem widerständigen Agieren verpflichtet sehen will. Operationen versammelt Einschätzungen und Überlegungen zu Möglichkeiten und Rahmenbedingungen des Handelnden innerhalb der als dynamisch und widersprüchlich wahrgenommenen Gegenwart. Das Interesse gilt dabei Möglichkeiten und Rahmenbedingungen des Handelns innerhalb der als dynamisch und widersprüchlich wahrgenommenen Gegenwart. knowbotiq spricht

7 Claire Bishops in ihrem jüngsten Buch geäußerte These »perversity, paradox and negation, ope-

rations as crucial to aesthesis as dissensus is to the political«, kann in diesem Zusammenhang als Statement mit einer durchaus vergleichbaren Stoßrichtung gelesen werden. Claire Bishop: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London, New York 2012, S. 40.

Einleitung

von seinen Arbeiten als »performativen Testfällen im Realraum«, mittels derer Mechanismen der Kontrolle und Regulation von Bewegungen im öffentlichen Raum durch Irritation der Normalität offengelegt werden. Tim Zulauf beschreibt in seinem Text thesenhaft, wo und wie sich so etwas wie »radikale Ambivalenz« in seinem Schaffen als Theaterregisseur niederschlägt, sei es in einem künstlerischen Selbstverständnis, das allem voran an einem Nicht-Ich orientiert ist, oder etwa an Strategien der Veruneindeutigung, mithilfe derer er festgeschriebene Bedeutungen zu destabilisieren beabsichtigt. Im E-MailAustausch zwischen Uriel Orlow und Rachel Mader wird im Abgleich mit exemplarischen Arbeiten des Künstlers nachgezeichnet, wie eine emanzipative Absicht sich der Vieldeutigkeit bedient, um Komplexität nicht in einer Weise zu reduzieren, dass sie zur Propaganda wird. Brigitta Kuster wiederum seziert mit Bezug auf Homi K. Bhabhas Wendung der »kolonialen Ambivalenz« die Figur der Grenze, innerhalb derer das Trennende und Verbindende aufeinandertreffen, und fragt nach den Möglichkeiten, genau in diesem paradoxen Moment Klassifikationen ihrer Eindeutigkeit zu berauben. Ein letztes Kapitel widmet sich den Auslegungen, denen Susan Sontag in ihrem Essay »Against Interpretation« noch 1964 die Tendenz attestierte, dem Werk die »strukturelle Vieldeutigkeit« zu rauben, und dabei forderte, dass es diesen aber eigentlich gerade darum zu tun sein müsste, die Ambivalenzen eher nachzuzeichnen denn zu glätten.8 Den Versuch einer nicht reduktionistischen Deutung unternimmt Barbara Lange mit ihrer Analyse der monografischen Ausstellung »The Fatigue Empire« von Cosima von Bonin im Kunsthaus Bregenz und liest ihr Werk mit Rekurs auf die Satire nicht als postmodern gefärbte Übercodierung, sondern als politisches Statement. Johanna Schaffer setzt sich in ihrem Artikel mit der Idee der ästhetischen Entformung am Beispiel der Videoarbeit Boys from Town von Ivan Jurica auseinander, die sie als geeignetes Mittel zur Destabilisierung von Autoritäten erachtet. Dieses Argument setzt sie dem Topos der Unsichtbarkeit entgegen, der in den letzten ­Jahren in links­ aktivistischen Kreisen irreführenderweise, so Schaffer, zum Akt des Widerstands erhoben wurde. Nina Zschocke schließlich legt entlang einzelner künstlerischer Arbeiten aus der Op-Art dar, wie mittels mehrdeutiger Gesten der

8 Susan Sontag: »Against Interpretation«, in: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, München,

Wien 1980, S. 11–22.

11

12

Rachel Mader

Betrachter bzw. die Betrachterin doch zu eindeutigen Haltungen und Wahrnehmungen aufgefordert werden soll. Die Publikation zielt also auf eine erste Ausdifferenzierung eines diskursiven Settings, das Komplexität gleichzeitig behauptet und beansprucht. Sie soll belegen, dass Ambivalenz und Engagement sich weder ausschließen noch widersprechen, es aber für die Schnittmenge dieses Begriffspaares keine einfachen oder gar eindimensionalen Beschreibungen gibt. Umso wichtiger, so das abschließende Plädoyer, das Phänomen und seine Ausprägungen weiter zu beobachten und kritisch zu kommentieren.

Konzeptualisierungen

Helmut Draxler

Anteil am Anderen Politik und strukturelle Ambivalenz

Zur Ambivalenz habe ich ein ziemlich ambivalentes Verhältnis. Einerseits sah ich in ihr immer schon einen Akt der Selbstbehauptung gegenüber allzu for­schen Forderungen nach Eindeutigkeit  – vor allem politischer Natur  –, ­andererseits fühlte ich mich aber auch zunehmend vom übermäßigen Gebrauch des Wortes zurückgestoßen, wenn plötzlich in diversen kulturellen Jargons alles und jedes ambivalent zu sein schien und alle Konturen zu verwischen drohten. Wie aber wäre zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Ambivalenz, wie der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty diese beiden Erscheinungsformen genannt hat, zu unterscheiden? Und wie wäre mit der eigenen Ambivalenz der Ambivalenz gegenüber umzugehen? Im Folgenden möchte ich mir Klarheit über solche Fragen verschaffen. Doch mit der Klarheit, so fürchte ich, beginnen erst die Probleme.1 Ich will im Folgenden drei Probleme untersuchen, die der Begriff der Ambivalenz aufwirft: ein grundsätzliches oder logisches, ein historisches und ein politisches Problem. Das logische Problem betrifft nun genau das möglichst klare Sprechen über die Ambivalenz; das historische insbesondere jene für die Moderne typischen Aufteilungen zwischen Ambivalenz und Eindeutigkeit, etwa dass die Kunst dem Vieldeutigen, Wissenschaft und Politik eher dem Eindeutigen zugeordnet werden; das politische Problem ließe sich schließlich

1 Dieser Aufsatz entstand anlässlich der Tagung Radikal ambivalent, Engagement und Verantwortung in der visuellen Produktion heute, die vom 1. bis zum 2. Dezember 2011 an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK stattfand.

16

Helmut Draxler

auf die Frage beziehen, wie wir überhaupt politische oder auch ästhetische Entscheidungen treffen können, obwohl wir ständig in vielfältige Ambivalenzen, in die Unwägbarkeiten der jeweiligen situativen oder existenziellen ­Aussagepositionen, verstrickt sind. Kriterien zur Unterscheidung von guter und schlechter Ambivalenz zu gewinnen setzt daher voraus, den Begriff innerhalb des gemeinsamen Horizonts dieser drei Probleme zu situieren, das heißt, ihn innerhalb eines modernitätstheoretischen Zusammenhangs zu reflektieren. Erst von hier aus lässt sich die Frage nach seiner Radikalität bzw. nach der Ambivalenz des Radikalen stellen. Worin besteht nun überhaupt Ambivalenz: Handelt es sich hierbei um unklare Gedanken, vielfältige, gar einander widerstrebende Gefühle oder um eine Willensschwäche, die Unfähigkeit, sich hinsichtlich einer gegebenen Alternative entscheiden zu können? Geht es darum, solch unterschiedliche Sachverhalte eindeutig benennen zu können und damit ein evokatives Bedeutungsspektrum des Begriffs zu entfalten, oder besteht das Besondere nicht genau darin, solche Unterscheidungen erst gar nicht treffen zu können? Funken die Dimensionen des Denkens, Fühlens und Wollens nicht immer schon ineinander und verunmöglichen derart eindeutige Zuordnungen? Das grundsätzliche oder logische Problem ließe sich daher in Hinsicht auf die Frage bestimmen, wie eindeutig wir den Gegenstandsbereich der Ambivalenz überhaupt umreißen können. Braucht es klare und distinkte Kriterien, um sinnvoll über die Ambivalenz sprechen zu können? Oder geschieht dann nicht vielmehr das, was Zygmunt Bauman geschehen ist: dass er nämlich das »Ende der Eindeutigkeit« (so der Untertitel der deutschsprachigen Ausgabe von Moderne und Ambivalenz 2) ziemlich eindeutig verkünden muss. Wir haben es hier tatsächlich mit einem logischen Problem zu tun, das uns zu der Frage führt, wie eindeutig über Ambivalenz gesprochen werden kann bzw. ob sich der Gegenstand in seiner eindeutigen Bestimmung nicht vielmehr auflöst. Wenn dem so ist, wäre dann nicht ein ambivalentes Sprechen angemessen, müsste nicht ein anderes, fremdes, vieldeutiges Artikulieren – also all das, was Bauman vom Eindeutigkeitsanspruch der Moderne ausgelöscht sieht – Einzug halten, um den Gegenstand der Ambivalenz überhaupt zeigen, ausdrücken und erfahrbar machen zu können? Ich bezweifle, ob uns ein solches, letztlich hermetisches Raunen hinsichtlich einer Bestimmung der Ambivalenz weiter bringen würde, weil es wohl zu eindeutig uneindeutig 2 Zygmunt Bauman: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a.M. 1995.

Anteil am Anderen

wäre, aber allein die Frage verweist auf die Radikalität der Ambivalenz, die sich tatsächlich dem eindeutigen wie uneindeutigen begrifflichen Zugriff entzieht. Sie wäre deshalb weniger als Sinn-Ressource, sondern als Abgrund des Sinns zu konzeptualisieren. Wir sollten diesen Abgrund auch nicht vorschnell zu überbrücken versuchen, sondern Wege finden, wie wir angemessen diesen Abgrund thematisieren können, das heißt, den Gegenstand der Ambivalenz so bestimmen, dass er in dieser Bestimmung nicht verloren geht. Denn wie bei Hegel das Unendliche nicht durch den Gegensatz zum End­ lichen begrenzt werden kann, so kann auch das Uneindeutige nicht als eindeutig uneindeutig aufgefasst werden. Darin würde seine Uneindeutigkeit tendenziell aufgehoben sein. Es kann dem Eindeutigen nicht einfach gegenübergestellt werden; vielmehr durchdringen einander das Eindeutige und das Uneindeutige wechselseitig, ohne sich ineinander aufzulösen. An der Eindeutigkeit bleibt stets der Hauch eines Zweifels haften, ebenso wie die Uneindeutigkeit manchmal ziemlich eindeutig erscheinen kann. Die Ambivalenz als jene psychokulturelle Form, in der die Differenz von Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit erfahrbar wird, braucht diesen Spielraum. Statt daher nach einer Spezifik der jeweiligen Seite des Begriffspaares zu fragen – so etwa wie in der Mathematik mit dem Begriff des Eineindeutigen nach den Metakriterien für das Eindeutige gesucht wird und man entsprechend auch von einer »Ambi-Ambivalenz« hinsichtlich des hermetischen Raunens sprechen könnte –, wird mein Vorschlag sein, das Uneindeutige und das Eindeutige von Beginn an als ein dialektisch aufeinander bezogenes Begriffspaar zu thematisieren und dementsprechend die Ambivalenz eher in den spezifischen Verhältnisformen dieses Begriffspaares zu verorten als auf einer seiner beiden Seiten.3 Ambivalenz wäre in dieser Sichtweise daher nicht mit dem Uneindeutigen identisch, sondern konstitutiv auf jene logischen ebenso wie auf die konkreten, psychohistorischen Formen bezogen, in denen sich Eindeutiges und Uneindeutiges zueinander in Beziehung setzen und innerhalb der unterschiedlichen Dimensionen des Denkens, Fühlens und

3 Das »Ambi-Ambivalente« ließe sich auch als ein rein Ambigues im Sinne einer ontologisch-

e­ xistenziellen Kategorie beschreiben. Dies ließe sich als Möglichkeit begreifen, sich der schwierigen Unterscheidung zwischen Ambivalenz und Ambiguität anzunähern. Ambiguität läge in diesem Verständnis mehr in der Sache selbst und damit aufseiten eines einfach Uneindeutigen, während Ambivalenz stets nur zwischen mindestens zwei unterschiedlichen Sachverhalten (z.B. Hassliebe) zu verorten wäre. Ambivalenz wirft grundsätzlich ein Zuordnungsproblem auf und lässt sich daher besser auf die Dialektik zwischen Eindeutigem und Uneindeutigem beziehen.

17

18

Helmut Draxler

Wollens entfalten. Diese Formen sind nun keineswegs beliebig, sondern besonderen historischen Prozeduren unterworfen, in denen sie überhaupt erst fassbar werden. Dies führt uns zum zweiten Problem. Im Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Felder und Bereiche voneinander wurde seit der frühen Neuzeit die Kunst mehr und mehr dem Uneindeutigen – nach dem Muster eines »Je ne sais quoi« –, Wissenschaft und Politik mehr dem Eindeutigen zugeordnet. Diese Aufteilungen bestimmen bis heute die begrifflichen Vorstellungen von Kunst, Wissenschaft und Politik, aber auch die institutionelle Ausgestaltung des jeweiligen Feldes und noch die einzelnen Subjektpositionen und Praktiken. Auch hier wäre also statt nach dem inneren Wesen derart konstituierter Disziplinen – Was ist Kunst? Was ist Politik? Worin liegt die essenzielle Ambiguität der Kunst? Wie können wir unsere politische Praxis möglichst eindeutig definieren? – nach den Akten des Zu- und Abschreibens selbst zu fragen, um dabei die Logiken der Auf­teilungen und die Abhängigkeiten der Disziplinen voneinander ins Blickfeld zu bekommen. Entscheidend hierfür ist, dass die Ausdifferenzierung in zueinander komplementären Formen geschieht. Das Ästhetische konstituiert sich also genau als das, was das Wissenschaftliche, das Politische oder das Ökonomische nicht sind. Um diese Differenz überhaupt feststellen und aufrechterhalten zu können, ist jedoch ein gewisses Maß an Austausch notwendig. Das heißt, die ausdifferenzierten Felder der Moderne entstehen keineswegs rein autonom oder »emergent« aus sich selbst heraus, sie überlagern sich notwendigerweise, um gerade über den dadurch möglichen Austausch erst ihre »Autonomie« herstellen zu können. Das Problem für die avantgardistischen, künstlerischen oder politischen Praktiken besteht darin, dass sie, wenn sie diese Autonomie abstreifen wollen, nie genau sagen können, ob die eigenen Aktivitäten das jeweilige Feld nun tatsächlich überschreiten oder ob sie nicht vielmehr bloß jenen notwendigen Austausch bereitstellen, über den sich die Felder erst voneinander abzugrenzen in der Lage sind.4 In jedem Fall können wir festhalten, dass sich diese contact zones, die sich aus der Überlagerung der Felder ergeben, als Bereiche einer Ambivalenz verstehen lassen, die der Moderne selbst unhintergehbar eingeschrieben sind, und dass die Moderne daher gar nicht so ambivalenzfrei darzustellen wäre, wie es Bauman tut. Die Wiederkehr des Interesses 4 Vgl. Helmut Draxler: »A Culture of Division: Artistic Research as a Problem«, in: metroZones (Hg.):

Faith is the Place. The Urban Cultures of Global Prayers, Berlin 2012, S. 124–129.

Anteil am Anderen

an der Ambivalenz ließe sich eher dahingehend verstehen, dass die Zuordnungen zwischen Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit innerhalb der Felder zunehmend fragwürdig geworden sind, und ein starkes Drängen zur jeweils anderen Seite hin festzuhalten wäre. Dementsprechend werden von allen Seiten Formen der Vermittlung eingefordert, ohne damit jedoch die grundlegenden Orientierungen und Aufteilungen infrage zu stellen. Denn die Vermittlung beruht selbst auf bestimmten Aufteilungen, die sie in ihrem Vollzug nicht aufhebt, die sie vielmehr zur Voraussetzung hat und derart immer wieder reproduziert. Hinsichtlich der modernen Subjektivierungsweisen ließe sich etwa eine Form der Aufteilung zwischen den Positionen der künstlerischen oder politischen Unmittelbarkeit auf der einen Seite und des Mangels auf der anderen festhalten, zwischen denen sich die Vermittlung als spezifisch eigene Position einschreibt, mit dem Ziel, die Differenz der beiden anderen Positionen auszugleichen oder zu überwinden. Doch die intentionalen Akte der vermittelnden Subjekte gelingen nicht, sie bleiben strukturell genau von dieser Differenz abhängig. Umgekehrt sind auch die unmittelbaren Positionen auf diejenigen des Mangels und der Vermittlung angewiesen und können sich niemals autonom setzen. Moderne Subjektivierungsweisen scheinen sich also erst in der Rivalität um diese Positionen zu realisieren und nicht als freie Setzungen. Dies scheint mir gut zu den Präsentationen von Thomas Hirschhorn und über Marina Abramović5 zu passen. Denn sowohl Hirschhorn als auch Abramović nehmen ganz ungebrochen jene Unmittelbarkeitspositionen ein, die scheinbar jeder Vermittlung entzogen sind und direkt mit einem »undifferenzierten«, also nicht spezialisierten und daher »mangelhaften« Publikum interagieren. Und doch ist klar, dass es stets vermittelnde Instanzen sind, die ihnen erst dieses Forum bieten, im Falle von Abramović sogar ein äußerst rigides Setting installieren, innerhalb dessen sich erst ihre spezifische Fiktion einer unmittelbaren Begegnung mit ihrem Publikum inszenieren lässt. Der scheinbar direkte Kontakt zwischen Künstlerin und Publikum hat zur Voraussetzung, dass Künstlerin wie Publikum in ihren jeweiligen Positionen und deren hierarchischem Verhältnis zueinander schon anerkannt sind. Das heißt, auch in diesen Unmittelbarkeitsbehauptungen nistet das Virus des Kontexts und damit der Ambivalenz. Indem Hirschhorn nicht müde wird zu sagen: »Ich behaupte«, behauptet er nicht einfach, 5 Beide Arbeiten wurden im Rahmen der Tagung Radikal ambivalent, Engagement und Verantwortung

in der visuellen Produktion heute ausführlich gezeigt und besprochen, vgl. FN 1.

19

20

Helmut Draxler

vielmehr wird im Sprechakt bzw. in der PowerPoint-Präsentation bereits eine minimale Differenz zur reinen Behauptung sichtbar – es handelt sich letztlich um eine Behauptung der Behauptung. Umgekehrt macht auch die Vermittlung, etwa in Form kuratorischer Entscheidungen, nicht einfach ein Unmittelbares dem mangelhaften Publikum zugänglich; sie nimmt vielmehr zuallererst diese Zu- und Abschreibungen von Fülle und Mangel vor und bereitet ihnen eine Bühne. Vermittlung kann allerdings die einmal getroffenen Zuschreibungen auch durchaus wieder revidieren und erweist sich somit als unsichere, wenig vertrauenswürdige Position. Entscheidend ist, dass sie den sozialen Raum mit Wertsetzungen auflädt und damit erst jene Abgründe schafft, die sie zu überbrücken sich anschickt. Darin zeigt sie ihr eigenes Unvermitteltes und ihre grundlegende Ambivalenz.6 Am Beispiel der Vermittlung lässt sich zeigen, dass Ambivalenz nicht im rein subjektiven Denken, Fühlen oder Wollen aufgeht, sondern in konkreten Praktiken verwurzelt ist, in denen sich die intersubjektiv voneinander abhängigen Positionen des Denkens, Fühlens und Wollens erst artikulieren können. Dabei verkörpert Vermittlung sowohl die guten wie die schlechten Seiten der Ambivalenz. Sie hat auf fast schon unheimliche Art an den Zuordnungen der Moderne hin zu jenen polaren Gegensätzen Anteil, die als solche möglichst eindeutig erscheinen wollen; gleichzeitig verhindert sie deren Schließung zu wirklich autonomen Einheiten. Ihr Scheitern ist daher ihr Gutes. Darin liegen ihr Stachel und letztlich auch die Chance begründet, den selbst gewollten Aufteilungen und Zuordnungen auch wieder zu entkommen. Dies setzt freilich voraus, sich dem eigenen Unwillentlichen zu stellen. Daran lässt sich nun das dritte, das politische Problem der Ambivalenz festmachen. Wie können wir, das war die Frage, politische und wohl auch ästhetische Entscheidungen treffen hinsichtlich einer möglichst eindeutigen Positionierung, eines Willens zur Veränderung oder einer symbolischen Prägnanz, obwohl wir ständig in vielfältige Ambivalenzen verstrickt sind? Solche Ambivalenzen ließen sich am kategorial Situativen unserer Existenzweisen ebenso festmachen wie am sozialen Perspektivismus jeder Aussageposition oder auch an der Verstricktheit in Sprache und andere Ausdrucksmedien bzw. am hermeneutischen Zirkel jeder Welterschließung. 6 Vgl. Helmut Draxler: »The Drifting of Volition. A Theory of Mediation«, in: Maria Lind (Hg.):

Performing the Curatorial Within and Beyond Art, Berlin 2012, S. 89–113.

Anteil am Anderen

Ich will dieses Problem der politischen Entscheidung nun kurz anhand von drei Denkfiguren deutlich machen. Alle drei reichen tief in die 1940er-Jahre zurück und liegen damit deutlich jenseits eines jeden Postmoderne-Verdachts. Die erste dieser Figuren geht auf einen Konflikt zurück, den Merleau-Ponty 1954 lostritt, indem er in Die Abenteuer der Dialektik seinen Freund, Kameraden aus Resistance-Zeiten und Partner bei Les temps modernes, Jean-Paul Sartre, offen angreift (und dabei auch mit eigenen früheren Positionen abrechnet.) Sartre, Simone de Beauvoir und Merleau-Ponty hatten seit den 1930er-Jahren um eine Definition des Situativen und der Ambivalenz gerungen. Dabei hatte es, bei aller Nähe, immer auch schon Unstimmigkeiten gegeben. Jetzt, unmittelbar nach Stalins Tod, bricht der Konflikt offen aus. Merleau-Ponty greift Sartre dafür an, die existenzielle Situation als »ekelig« zu konzeptualisieren, das heißt: eindeutig zu bewerten und damit deren grundlegende Ambivalenz zu leugnen. Durch einen einmaligen Akt der Entscheidung wolle Sartre die Situation und die Ambivalenz überwinden, und im Sinne eines solchen linken Dezisionismus sei er auch bereit, das Primat der kommunistischen Partei über die proletarischen Massen anzuerkennen.7 Merleau-Ponty lehnt einen solchen Dezisionismus kategorisch ab und versucht im Folgenden, einen anderen, durchaus auch politischen Umgang mit der Ambivalenz zu entwickeln. Das ist in den Abenteuern der Dialektik nicht unbedingt ausgeführt, seine Theorie des »Fleisches«, die nur wenige Jahre später entstanden ist, lässt sich jedoch als Konsequenz dieses Konflikts lesen. Im »Fleisch«, jenem »interkorporalen« Mit-Sein, das ein »formendes Milieu« jenseits von Subjekt und Objekt bildet, wird die Ambivalenz zu einem energetischen Element des Seins, das aus sich selbst heraus Offenheit und Differenz unendlich hervorbringt. Es handelt sich tatsächlich um ein Gegenmodell zu Sartres Konzept der Entscheidung. Hier ist keine Entscheidung mehr notwendig, weil das ambivalente Sein aus sich selbst heraus handelt und damit keiner übergeordneten Entscheidungsinstanz bedarf. Dies verweist über Gilles Deleuze noch auf die Multitude-Konzeption von Antonio Negri und Michael Hardt, die sich direkt auf die Theorie des ­»Fleisches« berufen.8

7 Die komplexe Diskussion, insbesondere Simone de Beauvoirs Antwort, kann hier nicht nach­

gezeichnet werden; es geht mir nur um die grundlegenden Positionen. 8 Vgl. Michael Hardt und Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M.,

New York 2004, S. 214ff.

21

22

Helmut Draxler

Wittgenstein hat nun, fast zur selben Zeit wie Merleau-Ponty, ein vergleichbares und doch geradezu konträres Konzept der Ambivalenz entwickelt. In seiner Theorie der Sprachspiele und des durch den alltäglichen Gebrauch der Sprache gewonnenen Sinnhorizonts betont er den symbolischen Charakter von Begriffen wie Welt, Realität, Sein, Natur, Leben oder Wirklichkeit, die allesamt als eine Art von Grenzbegriff auf eine »Realität« jenseits der Sprache, auf ein Vordiskursives der Existenz verweisen sollen. Merleau-Pontys »Fleisch« ist genau von dieser Art. Doch gerade dieser Verweis, dieses Zeigen, kann diesen Begriffen nicht gelingen, weil sie als solche notwendigerweise im Bereich der Sprache verbleiben und damit deren höchst ambivalenten Gebrauchsweisen und »Spielen« ausgesetzt sind. Das ist vor allem gegen die Vorstellung eines eindeutigen Referenten gerichtet, den die Sprache bloß abzubilden bräuchte. Peter Winch spricht im Anschluss an Wittgenstein deshalb von einer »systematischen Ambiguität« dieser Begriffe, die nicht aufzuheben sei.9 Nicht das situative Sein ist hier ambivalent wie bei Merleau-Ponty, sondern die Sprache, die uns dieses Sein erst zugänglich machen will, aber gewissermaßen in ihrem symbolischen Käfig gefangen bleibt. Das heißt, aus dieser Sicht kann weder der eine Akt der Entscheidung im Sinne Sartres gelingen, weil dessen Bedeutung in den vielen Akten des Sprachgebrauchs selbst immer schon vorgeformt ist, noch kann eine reine Praxis des Ambivalenten im Sinne Merleau-Pontys erreicht werden, weil auch sie auf die symbolische Struktur der Benennung angewiesen bleibt. Beide Ansätze würden daher die »systematische Ambiguität« der Begriffe aufheben. In einem ähnlichen Sinn wie Wittgenstein betont auch Roman Jakobson, dass die Veränderbarkeit der Sprache und damit der Welt gerade vom metaphorischen und metonymischen Charakter der Begriffe abhängt.10 Will ich nämlich Begriffe wie Praxis, Realität, Welt oder Leben wirklich eindeutig definieren, dann verlieren sie ihren metaphorischen, d.h. vieldeutigen Charakter und können deshalb keine Veränderbarkeit mehr leisten. Was sie buchstäblich anzeigen, das wäre nur als ein Zustand jenseits aller Veränderbarkeit zu denken, und das heißt nichts anderes als dass es gerade die verändernde Praxis wäre, die jede Veränderung unmöglich machen würde. Als Metaphern und Metonymien

9 Peter Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt a.M. 1974,

S. 29. 10 Roman Jakobson: Poesie und Sprachstruktur. Zwei Grundsatzerklärungen, Zürich 1970, S. 36ff.

Anteil am Anderen

verstanden, verlangen diese Begriffe jedoch nach Interpretation. Diese ist also immer schon auf Vieldeutigkeit hin angelegt und Susan Sontags Befürchtungen gegen die Interpretation als einer grundsätzlichen Vereindeutigung komplexer und ambivalenter Zusammenhänge daher unberechtigt.11 Dieses Argument hat auch Konsequenzen für jene berühmte 11. Feuerbach-These von Marx, die die Praxis als Lösung des Problems der Interpretation anbietet. Doch mit Wittgenstein, Winch und Jakobson gesprochen, kann die Praxis das Problem der Interpretation gar nicht lösen, weil sie selbst immer erst interpretiert werden muss. Das heißt, die Sprachspiele müssen angenommen, die Praxis historisch, kulturell und politisch umrissen werden, nur dann kann sie letztlich auch in einem emanzipatorischen Sinn wirksam werden. Deswegen würde ich auch keineswegs sagen, wir sollten, weil der Begriff der Praxis nicht das Problem der Interpretation lösen kann, einfach wieder zur Interpretation zurückkehren und die Frage der Praxis unter den Tisch kehren. Vielmehr geht es darum, das Verhältnis von Praxis und Interpretation zu denken und dabei die Interpretation als transzendentale Voraussetzung der Praxis bzw. umgekehrt zu begreifen. Praxis und Interpretation sind ebenso wie Behauptung und Kritik, Entscheidung und Werden notwendige Elemente des Politischen. Sie lassen sich nicht wechselseitig aufheben oder überwinden, sondern müssen in ihrem konstitutiven Zusammenhang, in ihrer »systematischen Ambiguität« oder besser, an die hier entfaltete Begrifflichkeit angepasst, in ihrer »strukturellen Ambivalenz« erfasst werden. Als strukturelle Ambivalenz können wir mithin jene Ambivalenz zweiter Ordnung bestimmen, die nicht dem Eindeutigen entgegengesetzt ist, sondern sich erst zwischen dem Eindeutigen und dem Uneindeutigen entfaltet. Entscheidend hierfür ist, dass Eindeutiges wie Uneindeutiges keine unerschütterlichen Gegebenheiten darstellen, sondern sich konkreten symbolischen Zuordnungsakten bzw. Vermittlungstätigkeiten verdanken und daher in ihren spezifischen Qualitäten weitgehend austauschbar sind. Die Interpretation kann sowohl für das Eindeutige wie das Uneindeutige stehen, ebenso die Praxis, die Behauptung, das Werden und sogar die Entscheidung selbst. Denn auch der gegen den willentlichen Akt der Entscheidung einer Bewusstseinsphilosophie gerichtete Automatismus des differenziellen Seins, wie ihn Merleau-Ponty, Deleuze und Negri/Hardt anbieten, bleibt von Entscheidungen und den entsprechenden Benennungen bzw. Sprachspielen 11 Susan Sontag: Against Interpretation and Other Essays, London 2009.

23

24

Helmut Draxler

abhängig. Es mag daher zwar kein Entkommen der Ambivalenz durch die eine Entscheidung geben, man kann aber auch nicht der Entscheidung generell entfliehen. Die strukturelle Ambivalenz betrifft gerade das Verhältnis von Praxis und Interpretation, metaphorischer Vielfalt und buchstäblicher Eindeutigkeit, willentlicher Entscheidung und unwillentlichem Tun, und sie konstituiert als solche den symbolischen Raum des Politischen. Dessen einzelne Elemente sind weder schicksalhaft gegeben noch zur freien Verfügung angeboten; sie beruhen vielmehr auf den immer schon getroffenen, historischen Vorentscheidungen hinsichtlich jener Aufteilungen, was als eindeutig und was als uneindeutig, was als Politik oder Wissenschaft und was als Kunst, was als aktiv und was als passiv verstanden werden kann, und was dementsprechend zu tun oder zu lassen wäre. Der Begriff der strukturellen Ambivalenz stellt daher sowohl eine konzeptuelle als auch eine politische Herausforderung dar, weil er auf der einen Seite die Frage nach den logischen und den historischen Verhältnisformen jener Gegensätze aufwirft, auf die er sich bezieht, und auf der anderen Seite, weil sich mit ihm nicht mehr die politische Aufladung eines der Pole gegen den anderen innerhalb solch gegensätzlicher Begriffsklaviaturen machen lässt. Als politisch wäre er erst dann zu begreifen, wenn er beide Seiten bzw. die vorentscheidenden Zuordnungsaktivitäten zwischen ihnen mit umfasst. Diese Vorentscheidungen wurzeln in einem, der individuellen Entscheidungsmacht vorgelagerten intersubjektiven, sprachlich bzw. symbolisch kodierten psycho- und soziodynamischen Bezug der einzelnen Akteure aufeinander. Darin entfaltet sich ein Modus des Umgangs mit Gefühlsambivalenzen, wie ihn im Anschluss an Melanie Klein die unterschiedlichen »relationalen« Konzepte der Psychoanalyse12 in dem Sinn beschrieben haben, dass die »bipolaren« Gefühlsregungen wie etwa Liebe und Hass, Autonomie und Abhängigkeit, Egoismus und Solidarität nicht voneinander abtrennbar und in einer bloß eigenen, spezifischen Qualität fassbar sind, sondern sich erst in besonderen Akten der Zuordnung und Aufteilung ausbilden. Sie müssen daher in ihrem Zusammenhang begriffen werden und zwar als »schizoide« Spaltungs- und Delegationsprozesse, die nur verdeckt hinter den stark vereinheitlichenden Inszenierungen der Gefühlsregungen und der daran festgemachten willentlichen Handlungsoptionen in Erscheinung treten. Das 12 Martin Altmeyer und Helmut Thomä (Hg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psy-

choanalyse, Stuttgart 2006.

Anteil am Anderen

heißt, wenn ich im Namen der reinen Liebe gegen den Hass in der Welt vorgehen will oder wenn ich nur autonom sein will, lagere ich meinen eigenen Hass oder meine eigenen Abhängigkeitsgefühle aus, delegiere sie meist an andere »Objekte« oder Personen und nehme derart Zuschreibungen in dem Sinne vor, dass der Hass oder die Abhängigkeit des Anderen nicht mehr als Anteile meiner selbst erscheinen müssen. Wenn jedoch der jeweilige Gegenbegriff abgespalten, delegiert und eindeutig dem Anderen zugeordnet wird, kehrt er leicht als unheimlicher Doppelgänger im Eigenen wieder. Das Eigene scheint dann plötzlich und unvermittelt ins Andere zu kippen. Das Aushalten der eigenen Ambivalenz wird in dieser Sichtweise zur Bedingung, auch die Ambivalenz des Anderen anerkennen zu können. Was Klein die »depressive Position«, nennt besteht im schuldhaften Gewahrwerden des eigenen Anteils an den Spaltungen und wird damit zur Voraussetzung jeder konstruktiven, intersubjektiven Strukturbildung. Entscheidend für unseren Argumentationsgang ist jedoch, dass sich die Gefühlsambivalenzen hier nicht mehr als zwischen eindeutig bestimmbaren Gegensätzen begreifen lassen; sie wären vielmehr stets auf beiden Seiten eines jeden Beziehungsverhältnisses zu verorten. Nur im Sinn einer solchen »doppelten Polarität«: des Autonomen im Abhängigen und des Abhängigen im Autonomen, des Eindeutigen im Uneindeutigen und umgekehrt können die Dynamiken struktureller Ambivalenz erfasst werden.13 Dies scheint mir nun auch Konsequenzen für die ambivalenztheoretisch wichtigsten politischen Begriffsbildungen seit den 1980er-Jahren – den Begriff queer und Homi Bhabhas postkolonialen Ambivalenz-Begriff – zu beinhalten. Denn diese scheinen nur auf den ersten Blick eindeutig gegen einen anderen Begriff gerichtet, etwa den straight mind, wie ihn Monique Wittig beschrieben hatte, oder die klassisch ideologiekritische Fassung von Edward Saids Diskurs-Theorie. Vor dem Hintergrund dekonstruktiver Ansätze sind sie vielmehr gegen ein bestimmtes Modell polaren Denkens entworfen worden, das in seinen strikten Gegenbesetzungen immer auch einschränkend und begrenzend wirke. Queer wäre in diesem Sinn nicht nur gegen die Heteronormativität gestellt, sondern gegen eine die Idee der Zweigeschlechtlichkeit insgesamt und somit auch gegen die identitäre und differenztheoretisch gedachte Dichotomie von hetero und homo; auf ähnliche Weise ließe sich auch Bhabhas AmbivalenzBegriff als gegen den eindeutigen Gegensatz von orientalistischem Diskurs und 13 Den Begriff einer »doppelten Polarität« verdanke ich Wolfgang Trauth.

25

26

Helmut Draxler

a­ uthentischem Sprechen gerichtet verstehen, wie er noch Saids Studie über den Orientalismus geprägt hatte. Dennoch scheinen mir beide Begriffe weiterhin von ihren Gegenmodellen abhängig zu bleiben, und gerade darin wäre auch ihre Stärke zu verorten. Denn wenn alles queer wird, dann ist eben auch gar nichts mehr queer; und wenn alles in die in-between-ness hybrider, dritter oder vierter Räume eintaucht, verliert die Ambivalenz ihre bestimmende, begriffliche Kraft. Umgekehrt kann queer jedoch auch allzu leicht ins »Straighte« kippen, oder das Ambivalente ins Eindeutige, wenn ich die Begriffe etwa wiederholend aneigne und somit identitär behaupte. Es kann also weder um die Auflösung der Ambivalenz ins Unbestimmte noch um deren Umkippen in eine neue Form der Eindeutigkeit gehen, sondern vielmehr darum, im Sinne der doppelten Polarität einer strukturellen Ambivalenz die Spannung zwischen dem »Straighten« im »Queeren« und dem »Queeren« im »Straighten« zu halten. Das heißt, die Begriffe queer und Ambivalenz können politisch sinnvoll weder rein antinormativ noch als neue Norm gefasst werden, sondern nur als etwas, an dem die Dialektik des Normativen als sowohl ermöglichend als auch verstellend sichtbar wird und damit der unmittelbare Zusammenhang, aber auch die Differenz zwischen ihren produktiven wie unproduktiven Facetten. Schlecht wäre in ­diesem Verständnis eine Ambivalenz, die sich  – radikal ambivalent  – im Nebulösen verliert, gut eine, die ihr eigenes Eindeutiges und ihre strukturelle Bezogenheit auf andere, wiederum eindeutig/uneindeutige Positionen und damit die kategorische Ambivalenz des Radikalen zu verstehen erlaubt. Diese Radikalität kann daher nicht in einer Zuspitzung einer ihrer polaren Möglichkeiten liegen. In dem Moment, wo ich etwa sage: »Occupy (oder Queer) Everything!«, entleere ich den Begriff und leiste unweigerlich seiner Entpolitisierung Vorschub. Erst die Anerkennung der potenziell eigenen Normativität, der immer schon getroffenen Entscheidungen und der eigenen Eindeutigkeiten kann aus der Ambivalenz »eine Waffe« machen. Die historische Leistung von Begriffen wie queer oder Bhabhas Ambivalenz in den 1980er- und 1990er-Jahren ließe sich dementsprechend nicht nur an den konkreten historischen Umständen, sondern eben auch an der Stärke ihrer Gegenmodelle festmachen, die ihnen erst erlaubten, sich zu spezifizieren und ihr politisches Potenzial zu entfalten. Diese Gegenmodelle differenztheoretischer Art sind durch sie nicht einfach überwunden, sondern im besten Fall in ihnen aufgehoben; sie können, wenn sich die Sprachspiele wieder ändern, erneut aufgerufen und mitgedacht werden als entscheidende Anknüpfungspunkte, die Dynamiken der Zu- und

Anteil am Anderen

­ bschreibungsprozesse und somit das Abspalten und Delegieren innerhalb der A eigenen Praxis mit zu reflektieren. Das Aushalten der strukturellen Ambivalenz und die Anerkennung des Konflikts, den sie mit sich bringt, lässt sich daher als konstitutive Voraussetzung begreifen, die konkreten Begriffe scharf und ihre Kontexte wach zu halten, um damit letztlich politische, aber auch ästhetische Entscheidungen hinsichtlich ihrer Positionierung und Behauptung wie ihrer symbolischen Prägnanz besser treffen zu können.

27

Verena Krieger

Strategische Uneindeutigkeit Ambiguierungstendenzen »engagierter« Kunst im 20. und 21. Jahrhundert *

In der zeitgenössischen Kunst spielen gesellschaftspolitische Themen wie ­Globalisierung, Ökologie, Migration und Rassismus eine bemerkenswert prominente Rolle, man könnte von einem regelrechten Boom engagierter Kunst sprechen – wobei jedoch auffällt, dass systematisch Strategien zur Vermeidung von Eindeutigkeit eingesetzt werden. Zwar handelt es sich um »engagierte Kunst« in dem Sinne, dass die KünstlerInnen damit durchaus ein soziales oder politisches Engagement verbinden, also weder eine gleichgültig-deskriptive noch eine rein ästhetische Haltung zu den verhandelten Gegenständen einnehmen, doch hat diese engagierte Kunst einen vollkommen anderen Charakter als frühere Beispiele engagierter Kunst, wie wir sie etwa von Käthe Kollwitz’ sozialem Realismus, El Lissitzkys trotz Gegenstandslosigkeit semantisch klar entzifferbaren Propagandaplakaten1 oder von Hans Haackes institutions­ kritischer Kunst her kennen: An die Stelle mühelos erschließbarer politi­scher Botschaften sind komplexe, ambivalente, übercodierte oder vollends un­bestimmbare Zeichenkonglomerate getreten, die den Rezipienten ein Höchstmaß an ­Auseinandersetzungsbereitschaft und -fähigkeit abverlangen und

* Dieser Text ist eine teils gekürzte, teils erweiterte Version des Aufsatzes »Ambiguität und Enga-

gement. Zum Problem politischer Kunst in der Moderne«, in: Cornelia Klinger (Hg.): Blindheit und Hellsichtigkeit. Künstlerkritik an Politik und Gesellschaft der Gegenwart, Berlin 2013, S. 163–192. 1 Vgl. Verena Krieger: »El Lissitzkys ›Roter Keil‹ – 4 Kontexte und 3 Bildlektüren. Die Semantik der Form in ikonologischer Perspektive«, erscheint in: Kristin Marek und Martin Schulz (Hg.): Kanon Kunstgeschichte. Einführung in Werke und Methoden, Bd. III, München 2014.

30

Verena Krieger

meist auch nach längerer Deutungsaktivität nicht auf eine bestimmte Aussage hin ­entschlüsselbar sind. Historisch betrachtet, sind beide Phänomene  – der politisch engagierte Künstler und die Ambiguität der Kunst  – Hervorbringungen der Moderne: Beide hängen unmittelbar zusammen mit der Autonomisierung der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Durch sie ist der Künstler frei geworden für eigenes gesellschaftspolitisches Engagement jenseits der Interessen von Auftraggebern. So entstand ab den 1840er-Jahren, als frühsozialistisches Gedankengut in die Künstlerbohème einsickerte, die Konzeption des engagierten Künstlers als Außenseiter, Kritiker und Revolutionär, den die Avantgarden des 20. Jahrhunderts radikalisierten. Der »kritische Künstler«, die »kritische« Funktion von Kunst ist seither zu einem Paradigma der Moderne geworden. Auch wenn Parteilichkeit und universeller Anspruch in der Kunst der letzten Jahrzehnte drastisch an Bedeutung verloren haben, sehen sich heute bemerkenswert viele KünstlerInnen in einer sozialen und politischen Verantwortung. Parallel zum engagierten Künstler entstand die moderne Konzeption der Ambiguität der Kunst. Seit dem ausgehenden 18.  Jahrhundert gelten Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit als Grundcharakteristikum des Ästhetischen, mehr noch: Die Kunst ist zur »Institution von Ambiguität« geworden.2 In der Kunsttheorie von Kant bis Adorno, von Novalis bis Eco, von Nietzsche bis Rancière gelten denn auch Offenheit, Rätselhaftigkeit und Uneindeutigkeit als essenziell für die Kunst. In der Kunstkritik ist die Ambiguität der Kunst längst zum Stereotyp herabgesunken – mit der einfachen Feststellung, ein Werk sei »ambivalent« oder »uneindeutig«, ist es bereits geadelt. Ambiguität ist also eine ästhetische Norm, die zwar kaum je als Norm explizit ausgesprochen wird, doch gerade daraus ihre Wirksamkeit bezieht.3 Eine Konsequenz dieses Aufstiegs der Ambiguität zum Signum des Ästhetischen besteht darin, dass politisches Engagement in der Kunst problematisch ist. Kunst mit eindeutiger politischer Aussage setzt sich dem Verdacht aus,

2 Frauke Berndt und Stephan Kammer: »Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur ant-

agonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit«, in: dies. (Hg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, Würzburg 2009, S. 7–32, hier S. 17. 3 Vgl. Verena Krieger: »›At war with the Obvious‹ – Kulturen der Ambiguität. Historische, psychologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen«, in: Verena Krieger und Rachel Mader (Hg.): Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 13–49.

Strategische Uneindeutigkeit

­ ropaganda zu sein, und geht damit potenziell ihres Kunstcharakters verlustig. P Es verwundert daher nicht, dass selbst ein so hochpolitischer Künstler wie Hans Haacke in einem Interview gesagt hat: »Mir ist es unangenehm, als ›politischer Künstler‹ ausgewiesen zu werden. Die Arbeit derart etikettierter Künstler ist in Gefahr, eindimensional verstanden zu werden.«4 Da Ambiguität erstens als das Qualitätsmerkmal von Kunst und zweitens als Garantin künstlerischer Autonomie gilt, stehen politisches Engagement und Kunst in einem strukturellen Widerspruch. In der gesamten Kunstgeschichte der Moderne haben beide widerstreitende Paradigmen eine konfliktuelle Koexistenz geführt. Die Antinomie von Ambiguität und Engagement ist daher auch ein zentrales Problem der Kunst­theorie. Einen Höhepunkt der diesbezüglichen Bewältigungsstrategien stellt die Ästhetik von Adorno dar. Adorno versuchte die Antinomie von Ambiguität und Engagement dialektisch aufzuheben, indem er postulierte, ein Kunstwerk sei aufgrund seines Kunstcharakters prinzipiell ambigue und gerade darin liege sein kritischer Gehalt gegenüber der Gesellschaft. Ambiguität ist demnach die höchste Form eines wahren Engagements der Kunst. Weil er im unauflösbaren »Rätselcharakter«, in der Unverständlichkeit des Kunstwerks ein kritisch­engagiertes Moment sah, galten für Adorno die Neue Musik und die Kunst der Klassischen Moderne als Statthalter einer radikalen Gesellschaftskritik.5 Allerdings musste er konzedieren, dass die Abstraktion nach 1945 ihren kritischen Charakter verlor, insofern die Dominanz der uneindeutigen Form im westlichen Diskurs ihrerseits ideologisch aufgeladen wurde. Eine wichtige Verschiebung der Parameter der Debatte brachte der Diskurs der Postmoderne, durch den die Ambiguität erneut eine Aufwertung erfuhr – sie füllt heute die Leerstelle, die die von der Klassischen Moderne ­verabschiedete Schönheit hinterlassen hat. Zugleich hat in den letzten Jahren das Ästhetische einen Bedeutungszuwachs erlangt  – freilich nicht im klassischen Sinne von Schönheit, sondern als Sinnlichkeit. Vor diesem Hintergrund stellt die Kunstphilosophie von Jacques Rancière einen neuen Ansatz dar, das Ambigue des

4 »Hans Haacke im Interview mit Gabriele Hoffmann«, in: Neue Zürcher Zeitung, 13.3.2004. Vgl.

auch Gabriele Hoffmann, Hans Haacke: Art into Society – Society into Art, Weimar 2011. 5 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1973, insbes. S. 335ff.; Theodor W. Adorno:

»Engagement«, in: ders.: Noten zur Literatur. Gesammelte Schriften, Bd.  11, Frankfurt a.M. 1974, S. 409–430.

31

32

Verena Krieger

Ästhetischen mit politischem Engagement theoretisch ­zusammenzudenken. Rancière konzediert der Kunst eine in ihrer »sinnlichen Differenz« fundierte Potenzialität »widerständig« zu sein6, womit er sich in Eintracht mit Friedrich Schiller bis hin zu Denkern der Frankfurter Schule befindet – man denke an Marcuses Auffassung des Ästhetischen als Statthalter einer »nicht-repressiven Ordnung« oder an Habermas’ Diktum vom »Eigensinn des Ästhetischen«.7 In Rancières Terminologie ist es die »Dissensualität« der Kunst, die sich gerade in spielerischer Nichtfestlegbarkeit, in »Ambivalenz« und »Mehrdeutigkeiten« sowie der Erzeugung und Aufrechterhaltung von »Spannung zwischen Gegensätzen« verwirklicht. Alles Spielarten der Ambiguität, die hier aber – das ist das Entscheidende  – an gesellschaftskritisches Engagement gekoppelt wird. Im Grunde hat Rancière in seiner Kunstphilosophie mit der »sinnlichen Differenz« einen altbekannten Topos der philosophischen Ästhetik wieder aufgenommen und diesen mit dem poststrukturalistischen Topos gekoppelt, wonach alle gesellschaftspolitische Veränderung durch die fortwährende Arbeit an Signifikanten zu leisten ist. Diese neu verschmolzenen Topoi hat er wiederum aktualisiert, indem er sie an Werken der zeitgenössischen Kunst diskutiert und damit für den aktuellen Diskurs verfügbar macht. Dies erklärt, weshalb Rancière in den letzten Jahren für ein kritisches künstlerisches Milieu zum theoretischen Bezugspunkt werden konnte. Ungeachtet solcher theoretischen Bemühungen, das Politische mit ästhetischer Ambiguität zusammenzudenken, agieren politische KünstlerInnen in ihrer Praxis weiterhin in einem antinomischen Feld. Sie entwickeln dabei mehr oder minder erfolgreiche Strategien, mit dem Konflikt zwischen Ambiguität und Engagement produktiv umzugehen, das Verhältnis der widerstreitenden Paradigmen neu auszuhandeln. Wie das Zusammenspiel von ambiguen Elementen und gesellschaftspolitischem Gehalt konkret funktionieren kann, möchte ich im Folgenden an einigen Exempla engagierter Kunst analysieren. Ambiguität kann in engagierter Kunst nicht nur auf unterschiedliche Weisen

6 Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig?, Berlin 2008; Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinn-

lichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008. 7 Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Schrif-

ten, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1979, S. 150–169; Jürgen Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze, Leipzig 1990, S. 32–54, insbes. S. 43ff.

Strategische Uneindeutigkeit

funktionieren, sondern auch unterschiedliche Funktionen einnehmen. Unter der Voraussetzung repressiver Regimes kann sie als Tarnung und Selbstschutz dienen8 (was entsprechende Entschlüsselungsprobleme mit sich bringt).9 Darauf gehe ich jedoch nicht ein, sondern konzentriere mich auf solche Varianten von Ambiguität in engagierter Kunst, die unter den Bedingungen der westlich-kapitalistischen Moderne und ihres Kunstbegriffs entstanden sind. Die elementarste Figur der Ambiguität ist die Zweipoligkeit bzw. der Widerspruch und ich werde im Folgenden einige Beispiele diskutieren, die auf dieser Grundfigur basieren bzw. damit arbeiten, also eine Arbeit am Widerspruch leisten. Ich werde dabei exemplarisch an einer Gattung, die für »engagierte« Kunst paradigmatisch ist,  – an der Plakatcollage  – verschiedene Varianten ­zeigen, wie Ambivalenz in einem »politisch engagierten« Kontext strategisch eingesetzt wird, um an ihnen zugleich nachzuvollziehen, wie sich die ästhetischen Formen der Ambiguierung im Verlauf der letzten Jahrzehnte zunehmend verändert haben. Davon ausgehend werde ich dann jene Modelle künstlerischer Ambiguierungsstrategien diskutieren, die in der Gegen­wartskunst eine prominente Rolle spielen: Subversive Affirmation und indifferente Mimesis.

8 Vgl. etwa den begleitend zur gleichnamigen Ausstellung erschienenen Reader: Iris Dressler und

Hans D. Christ (Hg.): Subversive Practices. Art under Conditions of Political Repression 60s–80s / South America / Europe, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 2009. 9 Ein Beispiel hierfür ist Goyas Gruppenbildnis der Familie König Karls IV. (1800/01) im Prado, das aufgrund der Hässlichkeit der dargestellten Personen und seit Théophile Gautiers ironischer Beschreibung »der Bäcker an der Ecke und seine Frau, nachdem sie in der Lotterie gewonnen haben« immer wieder als versteckte Kritik der Monarchie gedeutet wurde, was allerdings nicht belegbar ist. Vgl. Fred Licht: Goya. Beginn der modernen Malerei, Düsseldorf 1985, S. 69: »Beschreibung menschlichen Bankrotts«; Oto Bihalji-Merin: Goya. Glanz und Macht. Die Schrecken des Krieges, Stuttgart, Zürich 1985, S.  77: Goya zeigt »die Armseligkeit und Selbstgefälligkeit der Herrschenden« und das »Endspiel des überlebten Absolutismus«; Jutta Held: Francisco de Goya in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 78: Es »wäre abwegig anzunehmen, es hätte in Goyas subjektiver Intention gelegen, die königliche Familie dem Spott preiszugeben«, jedoch trug »auch Goyas eigenes Werk dazu bei, das Emissionsniveau dieses Bildes in Richtung auf eine kritische Rezeption hin zu bestimmen. Denn die modischen Typen, die Goya für seine höfischen Porträts studiert hatte, verwendete er ähnlich, nur karikiert oder ironisch, in seinen Caprichos. Letztlich belegen diese Kommentare, wie produktiv gerade solche Werke sind, die auch nur in die Nähe des Grenzbereichs zwischen Herrschaftsaffirmation und subversiver Kritik geraten.«

33

34

Verena Krieger

Verschiebungen

Ich beginne mit einem Klassiker der engagierten Kunst, John Heartfields Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech von 1932 (Abb. 1). Diese Collage spielt mit dem vexierbildhaften Wechsel zweier Perspektiven  – Inneres und Äußeres der Person Hitlers –, wobei der Blick nach innen auf die aus Münzen gebildete Wirbelsäule und das Hakenkreuz-Herz gewissermaßen sein »wahres Wesen« offenbart. Das Ganze ist wie ein Emblem angelegt, insofern ein Motto und ein Bild kombiniert und durch einen erklärenden Text am unteren Bildrand kommentiert werden. Während aber die Subscriptio im klassischen Em­ blem eine erklärende Meta-Information enthält, ist hier die Textzeile »Adolf, der ­Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech« ebenso ambivalent strukturiert wie die Bildcollage. Einerseits greift sie den vom Nationalsozialismus arisch umgedeuteten »Übermensch«-Mythos auf, aber nur, um ihn in der zweiten Satzhälfte zu desavouieren. Als weitere Sinnebene verweisen die ­Münzen darauf, dass Hitler vom deutschen Großkapital finanziert wurde, und stellen ihn ikonografisch in die Rolle des käuflichen Verräters. Dem korrespondiert der Text mit dem Verweis auf das geschluckte Gold. Die politische Botschaft ist also recht eindeutig, aber sie bedient sich dabei ambivalenter Wahrnehmungsangebote. Heartfields Vorbild wurde in den 1960er-Jahren aufgegriffen, etwa von ­Martha Rosler, die 1967–1972 in einer Collagenserie Bringing the War Home (Abb. 2) Kriegsbilder aus Vietnam in die Wohnraumidyllen amerikanischer Kleinbürger hineinmontierte. Sie verarbeitete dabei Bilder aus Massenmedien und publizierte ihre Fotomontagen wiederum in politischen Zeitschriften, also zunächst nicht im Kunstkontext. Vielfach wird, wie hier, die Vorhangperspektive eingesetzt, die den Blick aus einem harmlos-»hübschen« Innenraum in den trostlosen Außenraum lenkt, wobei Panzer und am Wegrand liegende Leichen erst auf den zweiten Blick erkennbar sind. Anders als bei Heartfield werden hier nicht gegensätzliche Perspektiven zusammenmontiert, damit diese sich wechselseitig kommentieren und erhellen, sondern die Kombination von Gegensätzen dient der Erzeugung eines Schockmoments. Es ist die einfachste, gleichzeitig auch sehr effektvolle Form bildlicher Ambiguität, die hier im Dienste einer klaren politischen Aussage steht. Trotzdem ist natürlich eine Entschlüsselung erforderlich, die vom Rezipienten zu leisten ist.

Strategische Uneindeutigkeit

In den 1980er-Jahren entstand demgegenüber im Zuge der Postmodernedebatte das Bedürfnis nach Reduktion der Eindeutigkeit und Entschlüsselbarkeit. Charakteristisch für diese Tendenz ist Barbara Kruger, die in ihren Plakatarbeiten Ambiguität regelrecht kultiviert. Bei Your gaze hits the side of my face (1981) (Abb. 3) haben wir es wieder mit einer Text-Bild-Collage zu tun, allerdings ist die Interpretationsleistung, die dem Betrachter zugemutet wird, wesentlich komplexer. Dabei sind Bild und Text und ihre Beziehung zueinander zunächst scheinbar eindeutig: »Your gaze hits the side of my face« ist ein grammatikalisch korrekter, klarer Satz. Die Profilansicht einer Frauenbüste ist ein klar identifizierbares Motiv. Und durch die Präsentation der seitlichen Ansicht der Büste wird eine direkte Beziehung zwischen Bild und Schrift hergestellt. Der Betrachter versteht, dass das Plakat beschreibt, was er gerade tut: seinen Blick auf das weibliche Antlitz richten. Mit dieser klaren Feststellung fängt die Unklarheit aber erst an, denn: Weshalb überhaupt wird ihm diese tautologische Mitteilung gemacht? Und: Weshalb wird seinem Blick durch die Aussage, dass er auf das Gesicht schlage, eine gewalttätige Dimension zugeschrieben? Das Plakat thematisiert die strukturelle Gewalt des männlich-voyeuristischen Blicks auf den weiblichen Körper, eines Blicks, der den Beschauer als Subjekt und die Beschaute als Objekt konstituiert. Es thematisiert dies aber nicht direkt, sondern in einer Weise, die den Betrachter anregen soll, seinen eigenen Blick und das, was er bewirkt, selbst zu beobachten. Die Ambiguität dieser Arbeit ist also Produkt einer Strategie der Verkomplizierung und deren erwünschte Folge ist wiederum eine Steigerung der Betrachteraktivität. Eine bekannte Arbeit vom Beginn des 21. Jahrhunderts operiert mit einer vergleichbaren Strategie: das Plakat Bosnian girl der bosnischen Künstlerin Šejla Kamerić aus dem Jahr 2003 (Abb. 4). Konfrontiert wird ein Graffito, das ein holländischer Soldat im Winter 1994/95 auf die Wand einer Armeebaracke bei Srebrenica gekritzelt hat, mit einem Porträt der Künstlerin selbst. Ausleuchtung und Make-up unterstreichen ihre ätherische Schönheit und mädchenhafte Fragilität, ihre Mimik ist ernst, fragend und vorwurfsvoll. Kleine, aber deutlich lesbare Unterzeilen fügen die Information hinzu, dass es sich beim Autor dieser Zeilen um einen Angehörigen eben jener Armee handelte, die als Teil der UNO-Schutztruppen verantwortlich für die Sicherheit der Umgebung von Srebrenica war. Die Botschaft dieser Arbeit ist mit einem relativ einfachen Entschlüsselungsakt zu entziffern: Der herabwürdigende Soldatenwitz wird einerseits durch die Konfrontation mit dem makellosen Frauenbildnis der

35

36

Verena Krieger

Abb. 1: John Heartfield: Adolf, der Übermensch: Schluckt Gold und redet Blech, 1932, Plakat.

Strategische Uneindeutigkeit

Abb. 2: Martha Rosler: Serie Bringing the War Home, 1967–1972, Fotomontage.

37

38

Verena Krieger

Abb. 3: Barbara Kruger: Your gaze hits the side of my face, 1981, Plakat.

Strategische Uneindeutigkeit

Unwahrheit entlarvt und gleichzeitig als Pflichtvergessenheit gegenüber dem Schutzauftrag desavouiert. Mehr noch als John Heartfields Plakat funktioniert diese Arbeit also ähnlich wie ein Emblem, denn hier hat der Text unten tatsächlich eine Erklärungsfunktion. Anders als beim klassischen Emblem treten hier aber Motto und Bild nicht in eine Beziehung wechselseitiger Erklärung und Bestätigung, sondern in einen Widerspruch – wobei die Konfrontation eindeutig darauf abzielt, das Motto zu denunzieren. Solche Über- und Gegeneinanderprojektion von Text und Bild bzw. von Bild und Bild ist allen vier bisher besprochenen Plakatarbeiten gemeinsam. In diesem ästhetischen Verfahren liegt ein doppelter Effekt: einerseits bewirkt es eine Aktivierung des ästhetischen Eigenwerts gegenüber dem zu vermittelnden Sinn, ermöglicht also eine intensive Wahrnehmungsarbeit – und gleichzeitig zielt es auf eine intensive Deutungsarbeit, also letztlich auf eine Anregung des Rezipienten zu Selbstaufklärung und kritischer Reflexion. Es findet insofern eine Ambiguierung statt, aber die Ambiguität steht im Kontext eines emanzipatorischen Programms und wird dabei als Mittel eingesetzt. Wenn, wie der Literaturwissenschaftler Klaus Weimar sagt, Ambiguität eigentlich nichts anderes ist als eine »Modifikation der Eindeutigkeit«,10 also lediglich ein etwas umständlicherer Weg zum Ausdruck einer letztlich entzifferbaren Botschaft, so trifft dies für diese Arbeiten zu. Einzig bei Barbara Krugers Plakat lässt sich dies in Zweifel ziehen. Die Künstlerin selbst meint, dass ihre Arbeit keine klar entschlüsselbare Bedeutung habe, sie könne »bis zu einem gewissen Grade verschiedenen Betrachtern verschiedene Bedeutungen nahelegen«. Und auf die Frage, für welche politischen Veränderungen sie mit ihrer Kunst kämpfe, antwortet sie trocken: »Ich kämpfe nicht.«11 Faktisch wie intentional produziert Kruger mit ihrer Plakatkunst zwar erschließbare Bedeutung, doch enthält diese in ihrer Komplexität einen nicht entzifferbaren, offen bleibenden »Rest«, sodass sie das Modell von Ambiguität als »Modifikation der Eindeutigkeit« ihrer Struktur nach überschreitet. Eine solche Überschreitung findet auch im fünften und letzten Beispiel dieser Reihe statt: Thomas Hirschhorns Ur-Collagen (2008) (Abb. 5 und 6), die eine

10 Klaus Weimar: »Modifikation der Eindeutigkeit. Eine Miszelle«, in: Berndt: Amphibolie – Ambi­

guität – Ambivalenz, a.a.O., S. 53–59. 11 »Barbara Kruger im Interview mit Erika Hoffmann Koenige«, in: Buchstäblich. Bild und Wort in der

Kunst heute, Wuppertal 1991, S. 76 (Kat. Ausst.).

39

40

Verena Krieger

Abb. 4: Šejla Kamerić: Bosnian girl, 2003, Plakat.

Strategische Uneindeutigkeit

ganz andere, geradezu entgegengesetzte Funktionsweise zeigen. Wieder gibt es eine Konfrontation, und zwar werden hier jeweils zwei Bilder nach einem festgelegten Schema miteinander in Relation gesetzt – konkret handelt es sich um jeweils eine Fotografie aus dem Mode- und Lifestyle-Kontext und eine aus dem Internet stammende Dokumentarfotografie, die Menschen mit entsetzlichen Verstümmelungen zeigt, wobei meist Accessoires auf Kriegshandlungen verweisen. Aufgrund der ähnlichen Thematik (Krieg) und des analogen Verfahrens, ein kleineres in ein größeres Foto zu integrieren, wobei das kleinere Bild das größere desavouiert, liegt ein Vergleich mit Martha Roslers Collagenserie auf der Hand. Tatsächlich tritt zunächst ein ähnlich schockierender Effekt ein, allerdings funktionieren die Ur-Collagen bei näherer Betrachtung doch ganz anders. Im Gegensatz zu Rosler wird nicht ein fensterartiger Durchblick innerhalb des Hauptbildes gewählt, in welchen dann das »Gegenbild« hineinmontiert ist, sondern die Kombination beider Fotografien geschieht viel einfacher, »roher« durch Integration in einen Winkel des Hauptbildes, offenbar ohne Rücksicht auf bildinterne Kompositionsverläufe. Dieses schlichte Verfahren erhält eine Systematik, wird aber zugleich in seiner »Rohheit« bestätigt durch den Umstand, dass im Verlauf der Serie alle vier Ecken im Wechsel besetzt werden. Dabei erweist sich bei genauerem Hinblicken (was nicht einfach ist, weil die Bilder so schlimm sind, dass sie das Hinblicken erschweren), dass es durchaus ästhetische Kriterien für die Kombination der beiden Bilder gibt: Es sind Farb- und Form-Assoziationen wie zum Beispiel eine blaue Handtasche, die im blauen Plastiksack ihren Widerhall findet, eine analoge Schräglage der Person, eine analoge Körperhaltung. Hirschhorn führt also einen ästhetischen Blick auf die Bilder des Grauens ein, der diese, von den Inhalten absehend, auf eine gemeinsame Ebene mit den Lifestyle-Bildern bringt. Solche ästhetische Indifferenz gegenüber dem Material mag man als ethisch verwerflich empfinden.12 Doch dies wird Hirschhorns Ansatz nicht gerecht; vielmehr lohnt es, die Funktionsweise seiner künstlerischen Konzeption genauer zu betrachten: Faktisch läuft das beschriebene Verfahren darauf hinaus, dass Gegenstandsinformation und ästhetische Gestalt gegeneinander in Frontstellung gebracht werden. Anders als bei Martha Rosler kollidieren also nicht nur Bild und Bild, sondern auch Bild und künstlerische Methode. Das heißt, der 12 Peter Geimer: »Was darf die Kunst? Thomas Hirschhorn redet über sein brutales Werk«, in:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Nov. 2011.

41

42

Verena Krieger

Abb. 5: Thomas Hirschhorn: Ur-Collage, Serie A 11, 2008, Collage.

Abb. 6: Thomas Hirschhorn, Ur-Collage, Serie B XXIV, 2008, Collage.

Strategische Uneindeutigkeit

hier eingeführte ästhetische Blick hat genau den entgegengesetzten Effekt wie in traditioneller »engagierter« Kunst, bei der die ästhetischen Mittel in den Dienst einer politischen Aussage treten. Während die Desavouierung des einen Bildes durch das andere bei Rosler darauf abzielt, dass der vorgeführte Widerspruch durch die Betrachterin eine gedankliche Auflösung erfährt, also ein aufklärerischer Effekt erzielt wird, bleibt bei Hirschhorn der Bruch zwischen dargestellten Gegenständen und künstlerischem Verfahren als solcher stehen und wird damit selbst zum Inhalt des Werks. Hirschhorn selbst erklärt, es gehe ihm darum, mit seinen Ur-Collagen eine »neue Wahrheit« zu schaffen, und diese sei konstituiert durch ein »Hinschauen« zu den Gegebenheiten der bestehenden Welt.13 Er wolle »positiv sein«, und dafür sei es erforderlich, »den Mut auf[zu]bringen, auch das Negative zu berühren«.14 Das heißt, ihm geht es nicht um ein Desavouieren des einen Bildes durch das andere, sondern um ein Zur-Kenntnis-Nehmen beider Bilder in ihrer jeweiligen (auch medialen) Spezifität, wobei erst beide zusammen die angestrebte »Wahrheit« produzieren. Faktisch zwingt er damit den Betrachter nicht nur zu einer Form von mehr oder weniger unfreiwilliger Zeugenschaft,15 sondern zugleich zu einer Reflexion der Bildebene. Auch darin liegt ein aufklärerisches Moment  – freilich um den Preis einer prinzipiellen Indifferenz, die den Widerspruch zwischen kritischer und affirmativer, verstörender oder versöhnender Tendenz unaufgelöst lässt. Die programmatische Indifferenz, mit der Hirschhorn auf Zeitgeschichtliches rekurriert, hat ihren Gründervater in Marcel Duchamp, der mit der von ihm als »Meta-Ironie«, »Bejahungsironie« oder »Ironie der Indifferenz« bezeichneten Haltung zur Welt das Prinzip der ironischen Bejahung in die Kunst eingeführt hat.16 Allerdings war Duchamp von einem Engagement in gesellschaftspolitischen Fragen weit entfernt, während Hirschhorn dezidiert sagt, dass er »für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit kämpfen« will.17 Die Spannung zwischen 13 Thomas Hirschhorn: »Ur-Collage«, in: Thomas Hirschhorn: Ur-Collage, anlässlich der Ausstel-

lung Galerie Susanna Kulli, Zürich, 5.12.2008–19.1.2009, S. 2. 14 Thomas Hirschhorn: »Kunst politisch machen: Was heißt das?«, in: Tobias Huber und Marcus

Steinweg (Hg.): Inaesthetik 1. Politics of Art, Zürich, Berlin 2009, S. 71–82, hier S. 74. 15 David Joselit: »Truth or Dare. On the Art of Witnessing«, in: Artforum (Sept. 2011), S. 313–317. 16 Herbert Molderings: Kunst als Experiment. Marcel Duchamps »3 Kunststopf-Normalmaße«, Mün-

chen, Berlin 2006, S. 130. 17 Thomas Hirschhorn, »›Bic‹ und politisches Engagement«, in: Tobias Huber und Marcus Steinweg

(Hg.): Inaesthetik 1. Politics of Art, Zürich, Berlin 2009, S. 83–85, hier S. 85.

43

44

Verena Krieger

den beiden Polen des Engagements und der Ambiguität teilt sein Werk mit den zuvor erörterten Plakatcollagen. Unterzieht man die vorgestellten fünf Beispiele einem Vergleich, so lassen sich jedoch zwischen diesen Polen allmähliche Verschiebungen konstatieren. Vor allem Thomas Hirschhorns Arbeit, tendenziell aber auch schon diejenige Barbara Krugers, repräsentieren trotz ihrer evidenten Bezugnahme auf gesellschaftspolitische und zeitgeschichtliche Phänomene eine Form künstlerischen Engagements, bei der die bildliche Organisation des Widerspruchs in eine strukturelle Ambiguität mündet. Anders als in der (hegelschen) Dialektik, die den Widerspruch synthetisch aufhebt, wird in der Ambiguität der Widerspruch nicht oder zumindest nicht restlos aufgelöst und bleibt folglich in dauernder Oszillation begriffen. Insofern Kruger und mehr noch Hirschhorn in ihren Collagearbeiten von der dialektischen zur ambiguen Organisation des Widerspruchs übergegangen sind, kann der in ihrem künstlerischen Werk zutage tretende Typus von Engagement nicht mehr als kritisch im klassischen Sinne linkshegelianischer Denktradition bezeichnet werden. Diese künstlerische Indifferenz ist eine historisch spezifische Erscheinung, ein Produkt der Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Von zentraler Bedeutung hierfür ist die Desavouierung klassisch (neo-)marxistischer Konzepte von Gesellschaftskritik durch poststrukturalistische Theoretiker, die nachhaltige Auswirkungen auf die Kunstproduktion seit den 1970er-Jahren erlangte.18 Einen weiteren Eckpunkt in dieser Entwicklung stellt der Situationismus dar, dessen semiologische Praktiken im Grenzbereich politischer Aktion und ästhetischen Avantgardismus bis heute für Kommunikationsguerillas tragend geblieben sind. Das strategische Konzept, in das diese Impulse mündeten, ist das Prinzip der Subversion.

Subversive Affirmation

Dieses Konzept wurde, durch eine Reihe von Epitheta bereichert, in verschiedenen Spielarten ausformuliert – als Subversive Affirmation, Überdetermination, Kritische Affirmation, Sub­versive Imitation etc. Subversionskonzepte erfreuen

18 Eine zusammenfassende Darstellung, bezogen auf den zentralen Aspekt des Verständnisses von

»Grenze« bzw. »Grenzüberschreitung« gibt Anna-Lena Wenzel: Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Ästhetische und philosophische Positionen, Bielefeld 2011.

Strategische Uneindeutigkeit

sich seit den 1990er-Jahren unverminderter Beliebtheit, sie dürften also hinreichend bekannt sein.19 Ich beschränke mich daher darauf festzustellen, dass der Begriff der Subversion eine Bedeutungstransformation erfahren hat: Ursprünglich war er gleichbedeutend mit »Revolution«. In den 1960er-Jahren hat sich das grundlegend verändert, indem die Situationistische Internationale und ähnliche Bewegungen das Handlungsfeld weg von den klassischen politischen Aktionsbühnen hin zur alltäglichen Lebenspraxis verschoben und an die Stelle des direkten Angriffs indirekte Handlungsstrategien setzten, also zum Beispiel durch Überklebungen oder Übermalungen von Plakaten dekonstruktive Effekte zu bewirken beabsichtigten. Theoretiker wie Umberto Eco, Jean Baudrillard und Roland Barthes begleiteten diesen neuen Typ von Politik mit der Auffassung, wonach politische Opposition einzig als Angriff auf die symbolische Ordnung mittels der Verfremdung bestehender Zeichen zu realisieren ist. Damit erfuhr der Subversionsbegriff sowohl eine Bedeutungserweiterung als auch eine Bedeutungsverschiebung: eine Erweiterung vom politischen auch auf das ästhetische Feld und eine Bedeutungsverschiebung, insofern er nicht mehr die große revolutionäre Umwälzung, sondern oppositionelle Umtriebe aus der Defensive und dem Verborgenen heraus charakterisiert. Subversion beinhaltet die Weigerung am herrschenden Konsens zu partizipieren und zugleich den ­Verzicht darauf, dieses prinzipielle Nicht-Einverstanden-Sein offen auszuagieren. Setzt Subversion eine Tarnung voraus, so realisiert sich diese in der (scheinbaren) Affirmation. Die beliebte Begriffskombination »Subversive Affirmation« ist insofern tautologisch, weil sie nur deutlicher zutage treten lässt, was dem Begriff der Subversion selbst ohnehin inhärent ist. Der Effekt Subversiver Affirmation ist seit den 1980er-Jahren unterschiedlichsten AkteurInnen der Hoch- und Populärkultur, von Andy Warhol bis Hans Haacke, von Madonna bis zur slowenischen Band Laibach ­zugeschrieben

19 Diedrich Diederichsen: »Subversion  – Kalte Strategie und heiße Differenz«, in: ders.: Freiheit

macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990–93, Köln 1993, S. 33–52; autonome a.f.r.i.k.a. gruppe, Luther Blissett und Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin, Hamburg 1998; Andreas Fanizadeh und Roberto Ohrt (Hg.): Die Beute. Neue Folge Nr. 1: Subversion des Kultur­ managements, Berlin 1998; Martin Hoffmann (Hg.): SubversionsReader. Texte zu Politik & Kultur, Berlin 1998; Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a.M. 2001; Thomas Ernst u.a. (Hg.): SUBversionen. Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik in der Gegenwart, Bielefeld 2008; Lisa Mazza und Julia Moritz (Hg.): Kritische Komplizenschaft / Critical Complicity, Wien 2010.

45

46

Verena Krieger

­ orden.20 Gemeinsam ist den ihnen zugeschriebenen Programmen, dass sie w auf einer Doppelstruktur von (scheinbarer) Affirmation und (tatsächlicher) Nicht-Affirmation basieren, wobei die affirmierende Präsentation vordergründig dominant ist und durch subtile Mechanismen ein de-affirmierender Effekt erzeugt wird. Dabei besteht eine grundsätzliche Problematik in der tendenziellen Unentscheidbarkeit ihres subversiven oder affirmativen Charakters. Die Strategie der Subversiven Affirmation ist also paradox strukturiert: Einerseits muss sie entschlüsselbar sein – denn nur so kann sie ihren subversiven Effekt entfalten – und andererseits darf sie nicht zu leicht lesbar sein – denn dann wäre sie schlicht Propaganda. Das eindrücklichste Beispiel für den bewussten Einsatz der Mechanismen Subversiver Affirmation ist Christoph Schlingensiefs Aktion Ausländer raus – Bitte liebt Österreich, die er im Jahr 2000 in Wien durchgeführt hat (Abb. 7).21 Zwölf als Asylbewerber mit fingierten Biografien verkleidete reale Asylsuchende lebten eine Woche lang öffentlich in Containern, die von einem großen Schild mit dem Schriftzug »Ausländer raus« bekrönt wurden, das Publikum konnte täglich per Abstimmung entscheiden, wer von ihnen abgeschoben wird. Die Container waren mit SS-Zitaten dekoriert, und Schlingensief selbst proklamierte mit dem Megaphon rassistische Sprüche. Die Aktion thematisierte also Fremdenfeindlichkeit, indem sie Fremdenfeindlichkeit ausagierte. In öffentlichen Erklärungen wurde der Sinn dieser Aktion – der österreichischen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten – bekanntgegeben. Die zugrunde liegende Idee war, mittels radikaler Kritik in Gestalt radikaler Affirmation einen kathartischen Effekt auszulösen, der idealiter letztlich wiederum einen Umschlag von Affirmation in Kritik hervorbringen sollte. Trotz dieser ambiguen Grundkon­ stellation schien die Aktion in ihrem drastisch vorgeführten Rassismus absolut 20 Walter Grasskamp: »Niemandsland«, in: Klaus Bußmann und Florian Matzner (Hg.): Hans Haa-

cke: Bodenlos, Biennale Venedig 1993, Deutscher Pavillon, Ostfildern 1993, S. 39–50, S. 47; Hans Haackes künstlerisches Verfahren als »Stil der subversiven Imitation«; Diedrich Diederichsen: »Offene Identität & zynische Untertanen«, in: ders. u.a.: Das Madonna Phänomen, Hamburg 1993, S. 6–25, hier S. 22; schrieb Madonna zu, »Popmusik als Subversionsstrategie einzusetzen«; Slavoj Žižek: »Neue Slowenische Kunst: ›Acting out‹ oder ›Passage à l’acte‹?«, sowie: »Warum sind Laibach und NSK keine Faschisten?«, in: Inke Arns (Hg.): Irwin Retroprincip. 1983–2003, Frankfurt a.M. 2003, S. 39–43, hier S. 49f.; erläutert unter Berufung auf Lacan, dass die Verwendung faschistischer Symbolik durch Laibach gerade nicht faschistisch motiviert sei. 21 Dokumentiert in: Matthias Lilienthal und Claus Philipp: Schlingensiefs »Ausländer raus. Bitte liebt Österreich«, Frankfurt a.M. 2000, sowie in: Ausländer raus! Schlingensiefs Container (Paul Poet, A 2002).

Strategische Uneindeutigkeit

Abb. 7: Christoph Schlingensief: Ausländer raus – bitte liebt Österreich, 2000, Aktion.

eindeutig zu sein – so eindeutig, dass Teile des Publikums begeistert einstiegen und tatsächlich über die Abschiebungen abstimmten, während andere moralisch empört reagierten und sogar eine Aktion zur Befreiung der Flüchtlinge starteten. Die »moralische Unabgeschlossenheit« (Georg Seeßlen)22 dieser Ambiguität nahm Schlingensief bewusst in Kauf. Woran aber konnte ­angesichts solch intensiv betriebener »Veruneindeutigung«23 die kritische Zeitgenossin, der kritische Zeitgenosse überhaupt erkennen, dass es sich um Subversive Affirmation handelte? Eine Antwort auf diese Frage findet sich in der antiken Rhetorik. Denn die scheinbare Affirmation ist bereits seit der Antike als taktisches Mittel in der politischen Auseinandersetzung geläufig. So reflektiert Quintilianus in seiner Redeschule eingehend die rhetorische Figur der »ironischen Simulatio«, bei der eine Meinung nur vorgetäuscht wird, um das Gegenteil davon zu erreichen.24 Laut Quintilianus ist dabei entscheidend, dass den Zuhörern der ironische Charakter der scheinbaren Affirmation ersichtlich gemacht wird, also zum Beispiel durch begleitende Gestik oder den »Ton, in dem gesprochen wird«.25 Die ambigue Rede erfüllt nur dann ihren Zweck, wenn sie vom Zuhörer entschlüsselt werden kann, und dies setzt voraus, dass also auf indirekte Weise genügend Information gegeben wird, um die Ironie als solche erkennbar zu machen. In

22 Georg Seeßlen: »Ausländer raus! Schlingensiefs Container«, in: epd Film 2 (2003). 23 Susanne Hochreiter: »›Den Skandal erzeugen immer die anderen‹. Überlegungen zu künst­

lerischen und politischen Strategien Schlingensiefs«, in: Pia Janke und Teresa Kovacs (Hg.): Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief, Wien 2011, S. 435–452, hier S. 447. 24 Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII/Ausbildung des Redners, Bd. 2, hg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1995. 25 Quint. VIII, 6, 54.

47

48

Verena Krieger

subversiver Kunst muss – damit sie subversiv wirkt – es immer beides geben: ein affirmierendes und ein die Affirmation störendes Element. Genau dies war bei Schlingensiefs Aktion der Fall: Zunächst einmal ahmte er den Rassismus nach; dabei machte er jedoch seine Ironie durch den Einbau von Brüchen kenntlich, so wechselte er ständig die Perspektive, aus der er argumentierte, indem er zwischen Affirmation und Kommentar pendelte. Die Rezipienten hatten also die Möglichkeit, den kritischen Sinn hinter der scheinbaren Affirmation zu erkennen. Dennoch gab es den bemerkenswerten Effekt, dass das Publikum in doppelter Hinsicht geteilt war. Es gab politische Gegner, die die Ironie nicht durchschauten und gerade deshalb mitspielten, also ihrem Ausländerhass freien Lauf ließen, es gab aber auch die rechte Presse, die die Aktion scharf ablehnte, gerade weil sie das Prinzip erkannt hatte. Umgekehrt fanden sich aufseiten der politischen Freunde nicht nur solche, die die Aktion begrüßten, sondern auch diejenigen, die die vermeintlichen Asylwerber aus ihrer misslichen Lage zu befreien suchten. Diese Segregation des Publikums nach seinem Vermögen zur Dechiffrierung ist im Verfahren der Subversiven Affirmation grundsätzlich mit angelegt, und folglich kommt die soziale Distinktion mittels kultureller Codes, welche nach Bourdieu das Feld der Kunst in der Moderne sozial konstituiert, in diesem Fall ebenso zum Tragen wie bei einer klassischen Museumspräsentation.26 Anders gesagt: Die dumpfen Rassisten, die auf Schlingensiefs Inszenierung hereinfielen und begeistert mitspielten, wurden dem gebildeten liberalen Bürgertum gewissermaßen zum Fraß vorgeworfen.27

Indifferente Mimesis

Eine Künstlerin, die zwar auch Mittel der Subversiven Affirmation einsetzt, diese hinsichtlich des Effekts aber überschreitet, ist Josephine Meckseper, die in Interviews erklärt, dass ihre Arbeit »grundsätzlich auf einer Kapitalismus-

26 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt

a.M. 1982. Kulturelle Ambiguität ist eng mit diesem Distinktionsmechanismus verbunden; vgl. ­Krieger: Ambiguität in der Kunst, a.a.O., S. 26. 27 Ausführlicher bespreche ich Schlingensiefs Aktion in meinem o.g. Aufsatz »Ambiguität und ­Engagement. Zum Problem politischer Kunst in der Moderne«, in: Klinger: Blindheit und Hell­ sichtigkeit, a.a.O.

Strategische Uneindeutigkeit

kritik« basiere.28 Meckseper arbeitet mit den Mitteln der Warenästhetik, sie installiert Objektassembla­gen nach dem Vorbild von Warenauslagen und produziert Installationen in Gestalt kompletter Schaufenster wie zum Beispiel Blow Up (Michelli) von 2006 (Abb. 8). Dabei setzt sie Verfremdungselemente ein: Verfremdend ist die groteske Mischung der Objekte  – Schaufensterpuppentorso in Dessous, Werbeplakate mit Damenstrümpfen in bizarrer Position, Stahlputzschwämme und eine Klobürste als minimalistische Skulpturen, das Foto einer Demonstration und schließlich ein Werbeschild »Endless deals«, das an Brancusis »unendliche Säule« denken lässt und diese Assoziation sogleich ins Kommerzielle umleitet – alle gemeinsam als Konsumartikel dargeboten in der jegliche funktionale und symbolische Differenzen hinweg bügelnden Glätte der Warenpräsentation. Doch das Verfremdungsmoment reicht nicht weit: Die Klobürste und das Demonstrationsfoto fungieren weniger als Störfaktoren einer glatten Inszenierung, als vielmehr umgekehrt die Mechanismen der Inszenierung diese Objekte ihrerseits zu ästhetischen Oberflächen werden lassen. Mecksepers Installationen zeigen, dass das Verfahren in beide Richtungen gleichzeitig funktioniert, dass also auch absurde oder widerständige Elemente warenförmig werden, sobald sie den Displays der Konsum- und Warenwelt eingefügt sind. Man kann darin eine Visua­lisierung des Prinzips der Rekuperation sehen, des schon von den Situationisten thematisierten Effekts der Aneignung subversiver Strategien durch die Kulturindustrie. Mecksepers Installationen unterlaufen diesen Mechanismus aber nicht, sondern sie vollziehen ihn nach und machen ihn auf diese Weise sichtbar. Damit funktionieren sie nicht mehr nach dem Prinzip der Subversiven Affirmation, sondern nach dem – wie ich es nenne – Prinzip der indifferenten Mimesis.29 Man könnte dieses Prinzip auch als den Wechsel von der gebrochenen zur ungebrochenen Affirmation bezeichnen. Auch dieses Verfahren geht bereits auf die 1960er-Jahre zurück; so hat Bazon Brock 1968 in einem kurzen Text »Affirmation als politische Strategie« eine »affirmative Praxis« als Gegenmodell zum »Widerstandsprinzip« vorgeschlagen und dies sowohl aufs politische wie aufs

28 »Josephine Meckseper im Gespräch mit Simone Schimpf«, in: Marion Ackermann (Hg.): Josephine

Meckseper, Kunstmuseum Stuttgart, Ostfildern 2007, S. 19–25 (Kat. Ausst.). 29 Eine frühe Kritik solcher kritisch intendierter appropriierender Verfahren formulierte Martha

Rosler: »Drinnen, Drumherum und nachträgliche Gedanken (zur Dokumentarfotografie)« [1981], in: Sabine Breitwieser (Hg.): Martha Rosler. Positionen in der Lebenswelt, Generali Foundation Wien, Köln 1999, S. 105–148 (Kat. Ausst.).

49

50

Verena Krieger

Abb. 8: Josephine Meckseper: Blow Up (Michelli), 2006, Installation

Strategische Uneindeutigkeit

ästhetische Feld bezogen.30 Zur Begründung berief er sich in einem späteren Kommentar31 auf das Marx-Zitat aus der Einleitung zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie: »Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt.«32 Auch wenn das Epitheton »subversiv« in Bazon Brocks »affirmativer Praxis« fehlt, ist dieser vom argumentativen Kontext also ein Subversionsanspruch eingeschrieben. Doch auch wenn sie eine Verwandtschaft zur Subversiven Affirmation aufweist, funktioniert sie völlig anders als diese, insofern sie auf Irritations- und Verfremdungsmomente ausdrücklich verzichtet, sich folglich indifferent verhält. Der angestrebte oder als möglich gedachte Effekt der indifferenten Mimesis ist die Sichtbarmachung und Selbstentlarvung von Strukturen, die gegen äußere Kritik immun sind oder zu sein scheinen, weil sie sich diese immer schon einverleibt und vermarktet haben, bevor sie wirksam werden konnte. Dieser Effekt muss nicht zwingend intendiert sein, er kann auch unbeabsichtigt zutage treten. Tatsächlich ist, bevor KünstlerInnen sich die Strategie der indifferenten Mimesis aktiv zu eigen gemacht haben, dieser Effekt KünstlerInnen zugeschrieben worden, zuvorderst gilt das für Andy Warhol. So glaubte Bazon Brock, Warhols Kunst sei »eine Form des Widerspruchs, eine Form der Abarbeitung, die sich darin versuchte, die Verhältnisse zum Kippen zu bringen, indem sie das ihnen innewohnende Prinzip auf den äußersten Punkt vorantrieb«.33 Rainer Crone sprach in seiner ersten deutschsprachigen Warhol-Monografie Anfang der 70er-Jahre gar von einer »revolutionären Ästhetik«.34 Anders als Crone35

30 Bazon Brock: »Affirmation als politische Strategie« [1968], in: Karla Fohrbeck (Hg.): Ästhetik als

Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Köln 1977, S. 157–160. 31 Bazon Brock: »Das Prinzip der Affirmation – Vorbemerkung als Nachwort« [1977], in: Fohrbeck:

Ästhetik als Vermittlung, a.a.O., S. 135–138. 32 Karl Marx: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, 1843/44, in: MEW 1,

S. 381. Hier auch: »Man muss den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewusstsein des Drucks hinzufügt […].« 33 Bazon Brock: Zusammenfassung des Vortrags zur Eröffnung der Warhol-Ausstellung in der Kestner-Gesellschaft, Hannover, 11.12.1981, zu finden unter dem Stichwort »Warhol« auf: www. brock.uni-wuppertal.de (aufgerufen: 22.1.11). 34 Rainer Crone: Andy Warhol, Teufen 1970; Rainer Crone: »Zur revolutionären Ästhetik Warhols« sowie: »Die Tafelbilder Warhols«, in: ders. und Wilfried Wiegand: Die revolutionäre Ästhetik Andy Warhols, Darmstadt 1972, S. 7–12, S. 25–87. 35 Rainer Crone und Alexandra von Stosch: »Stars zwischen Licht und Schatten. Warhols subversive Lesarten bildlicher Vergegenständlichungen, in: Klaus Albrecht Schröder (Hg.): Andy Warhol  – Popstars. Zeichnungen und Collagen, Albertina Wien, Wien 2006, S. 15 (Kat. Ausst.).

51

52

Verena Krieger

hat sich Brock von dieser Einschätzung allerdings bald wieder verabschiedet.36 In den 80er-Jahren erhielt diese Argumentationsfigur eine neue Ausrichtung durch Benjamin Buchloh, der schrieb: »Warhols ganzes Werk durchdringt die Wechselbeziehung zwischen der auf das Spektakel verkürzten Kultur und dem gesellschaftlichen Zwangsverhältnis«, es bilde die Objektivierung und Verfremdung der kapitalistischen Konsumgesellschaft ab, ohne aber die »Dimension kritischen Widerstands« zu enthalten.37 Heute wird die Argumentation von Brock und Crone aus den 70er-Jahren beerbt durch Leonhard Emmerling, der Warhols »indifference as a subversive strategy« deutet38; und Buchlohs Argumentation aus den 80er-Jahren wird durch Tom Holert weitergedacht, der künstlerische Pop-Strategien von Warhol bis Sylvie Fleury auf den Begriff »Performing the System« bringt.39 Parallel zu dieser Relativierung und Neubestimmung des Prinzips der in­ differenten Mimesis von theoretischer Seite wurde dieses Prinzip in den 80erJahren von künstlerischer Seite zur Strategie gemacht. Ideengeschichtlicher Kontext war die poststrukturalistische Diskussion, wie sie vor allem im Umfeld der Kunsttheorie-Zeitschrift October geführt wurde, die verschiedenen Formen der Ambiguität, insbesondere auch der indifferenten Mimesis, ein verstecktes subversives Element zusprach. Am deutlichsten geschah dies bei der die Strategie der indifferenten Mimesis idealtypisch repräsentierenden Appropriation Art. Am Beispiel der Fotoarbeit Pink von Louise Lawler (1994/95)  – einer der ­Heldinnen von October – lässt sich die Problematik dieses Verfahrens exemplarisch zeigen (Abb. 9).40 Sie ist Teil einer Serie von Fotografien, die Kunstwerke

36 »Die erzwungene Umorientierung, mit der ich nun zu kämpfen habe, ist die, dass sich jetzt her-

37 38 39 40

ausstellt, dass auch Warhol nichts anderes war und ist als eben ein großartiger Bildererzeuger, Bilderhersteller. Ganz im traditionellen Sinne eines Malers, Grafikers, Siebdruckers. […] Das Ernüchternde daran ist, dass wir mit unseren damaligen Überlegungen zu einer anderen Art des Vorgehens unter dem Stichwort ›Affirmation‹ offensichtlich wenig ausgerichtet haben, obwohl sich in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zeigt, dass dieses Vorgehen, diese affirmative Strategie, offenbar zum Zuge kommt« (Brock 1981, a.a.O.). Benjamin H. Buchloh: »Andy Warhols eindimensionale Kunst 1956–1966«, in: Kynaston McShine (Hg.): Andy Warhol Retrospektive, München 1989, S. 37–57, S. 51, S. 54. Leonhard Emmerling: Warhol: Indifference as a Subversive Strategy, www.imageandtext.org.nz/ leonhard_warhol_01.html (aufgerufen: 25.4.2013). Tom Holert: »Performing the System«, in: Artforum (Sept. 2004), S. 249–252. Ausführlich zur Ambiguität der Appropriation Art und ihrer ambivalenten Deutungen durch October-AutorInnen vgl. Verena Krieger: »Der Blick der Postmoderne durch die Moderne auf sich

Strategische Uneindeutigkeit

in jeweils unterschiedlichen Kontexten zeigen, sei es Kunsthandel, ­private Wohnräume von Sammlern, Lagerung oder Transport. In Pink sehen wir ein Gemälde von Gerhard Richter und einen Warhol-Siebdruck, die bei Sotheby’s hängen. Beide Bilder sind nur ausschnitthaft sichtbar, geben aber genügend Information, um ihre Autorschaft auf den ersten Blick zu bestimmen. Die ganze Konstellation ist hochgradig ambivalent: Einerseits rücken die Schilder den kommerziellen Kontext in den Vordergrund, wird ein bestimmtes Setting präzise sichtbar gemacht, andererseits wird eine rein ästhetische Wahrnehmung ermöglicht, ja geradezu nahegelegt, nicht zuletzt durch den Titel, der das Augenmerk auf die farblichen Beziehungen lenkt. Lawlers Fotografie ist eine Reflexion über den ökonomischen Status von Kunst, insbesondere die Mechanismen ihrer Präsentation und ihrer sozialen, kulturellen und monetären Zuordnung – aber in einer rein wiederholenden Form ohne kritische Stellungnahme, vielmehr auf hochästhetische Weise. Einzige Funktion dieser indifferent wiederholenden Geste ist das Sichtbar-werden-Lassen  – die Bewertung bleibt dem Rezipienten überlassen. Dies führte in der Konsequenz zu höchst divergierenden Deutungen. Allein aus dem Umfeld von October erschienen mehrere gegensätzliche Interpretationen: 1985 stellte Andrea Fraser sie in die Tradition der Institutionskritik, indem sie schrieb, Lawler »zeigt den Platz der Kunst in der Marktwirtschaft auf und legt die Position des Künstlers in diesem Rahmen neu fest«. Ihre Arbeiten »reflektieren eine Strategie des Widerstandes und der Nicht-Konformität«.41 Sie schrieb Lawlers Fotografien also eine kritische Position zu. Dagegen äußerte sich Benjamin Buchloh 1988 äußerst kritisch gegen diese Form des Neokonzeptualismus, dem er die »Radikalität und Komplexität« der institutionskritischen Kunst der 60er-/70er-Jahre absprach.42 Anders als jene sei diese letztlich weder provokativ noch subversiv. Dazu Buchloh: Die »Passivität und die programmatisch vorgetragene Komplizenschaft erscheint mir problematisch«.43 Was Buchloh als problematisch sah  – Lawlers demonstrative Indifferenz  –, selbst. Zur Originalitätskritik von Rosalind Krauss«, in: dies. (Hg.): Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 143–161. 41 Andrea Fraser: »Louise Lawler. In and out of place«, in: Art in America (Juni 1985), erneut in: Peter Weibel (Hg.): Kontext Kunst. Kunst der 90er Jahre, Neue Galerie am Landesmuseum Johanneum Graz, Köln 1994, S. 384–395, hier S. 384, S. 394 (Kat. Ausst.). 42 »Benjamin Buchloh im Interview mit Isabelle Graw«, in: Wolkenkratzer Art Journal 4 (1988), erneut in: Isabelle Graw: Silberblick. Texte zu Kunst und Politik, Köln 1999, S. 13–25, hier S. 21f. 43 Ebd., S. 22f.

53

54

Verena Krieger

Abb. 9: Louise Lawler: Pink, 1994/95, Cibachrome.

Strategische Uneindeutigkeit

bewertete ­wiederum Rosalind Krauss in den 90er-Jahren gerade positiv. Krauss schrieb, Lawler halte sich »selbst so zurück, dass es schwer ist, in der Aufnahme Ärger oder Verachtung oder andere provozierende avantgardistische Aussageweisen zu finden«. Mit einer »seltsam gelähmten, aber sanften Neutralität« richte sich ihr Blick auf den »gegenwärtigen Warencharakter moderner Kunst«.44 Diesen Verzicht auf eine erkennbar kritische Perspektive deutete Krauss als eine postmoderne Haltung, die die Mechanismen des Kunstsystems lakonisch nutzt, um eben diese Mechanismen vorzuführen  – eine Kritik, die nicht als Kritik auftritt und gerade daraus ihre Stärke bezieht. Die widersprüchlichen Deutungen belegen: Je ambiguer und indifferenter künstlerische Kritik auftritt, desto wichtiger werden die Interpreten  – erst durch ihre Aktivität wird solchen Formen künstlerischer Praxis das kritische Moment eingeschrieben. Genauso verhielt es sich mit dem Neokonzeptualismus der 80er- und 90er-Jahre: Während die KünstlerInnen selbst in ihren Arbeiten eine demonstrative Indifferenz zur Schau stellten, schrieb die poststrukturalistische Kunstkritik ihnen eine besonders subtile Form der Kritik zu. Die von Arnold Gehlen45 beobachtete »Kommentarbedürftigkeit« der modernen Kunst und die daraus resultierende Arbeitsteilung zwischen Kunst und Kunstkommentar radikalisierte sich dahin, dass es zur Aufgabe der Kunst geworden ist indifferent zu sein, wohingegen der Kunstkritik die Aufgabe zugewachsen ist, diese Indifferenz aufzulösen. Damit erweist sich, dass das Verfremdungsmoment, das bei der Subversiven Affirmation Schlingensiefs den subversiven Effekt gewährleistet, indem es einen Ansatzpunkt zur Deutung bietet, bei der indifferenten Mimesis, sofern sie auf einen kritisch-subversiven Effekt abzielt, letztlich ebenso konstitutiv ist  – nur verlagert es sich hier vom Werk ganz auf Interpreten, wird also gewissermaßen »exterritorial«. Der Interpret übernimmt dann jene Funktion der klärenden Zusatzinformation mittels Geste oder Stimme, mittels derer laut Quintilian die Ironie dem Publikum verständlich wird. Der subversive Effekt entsteht folglich erst in dem Moment, wo eine entsprechende Interpretation zur Rezeptionsvorgabe geworden ist. Findet dies nicht statt, dann entfaltet die

44 Rosalind Krauss: »Louise Lawler: Souvenir Memories«, in: A spot on the Wall, Kunstverein Mün-

chen/Neue Galerie Graz/De appel Amsterdam, Köln 1998, S. 35–44, hier S. 39–41 (Kat. Ausst.). 45 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M. 1960.

55

56

Verena Krieger

indifferente Mimesis kein kritisches Potenzial, sondern bleibt affirmative Verdoppelung. Ein kurzes Fazit zum Schluss: Die gezeigten Beispiele zeigen meines Er­­ achtens, dass die Funktion von Ambiguität über die Repräsentation von Widersprüchen hinausgeht. Ambiguität hat vielmehr im gesellschaftspolitischen Kontext widersprüchliche Potenzen: Sie kann Brüche, Widerspruch und Verstörung evozieren, sie kann auch als Tarnung, Versteck dienen, dazu, Kritik wie ein Trojanisches Pferd einzuschleusen (Lucy Lippard)46, sie kann der Versöhnung von Widersprüchen dienen und ebenso ihrer Nivellierung, Verharmlosung und Ästhetisierung. Mit der Multivalenz geht offenbar die Multifunktionalität einher. Den ästhetischen Optimismus, den Rancière mit Adorno gemeinsam hat, kann ich daher nicht teilen. Die Auffassung, dass Ambiguität prinzipiell ein emanzipatorisches Moment eigne, scheint mir eher Ausdruck des Wunsches nach einem »absoluten« kritischen Moment der Kunst zu sein, denn Ergebnis konkreter Werkanalysen. Jedes Kunstwerk, auch das engagierte, wird immer gegensätzlich deutbar bleiben und damit auch affirmativen Lesarten offenstehen. Letztlich bleibt es eine Frage der konkreten historischen Zusammenhänge und Rezeptionsbedingungen, ob und wie die Ambiguität eines Kunstwerks eine kritisch-emanzipatorische Funktion einnimmt – oder eben auch nicht.

46 Lucy Lippard: »Trojan Horses: Activist Art and Power«, in: Brian Wallis (Hg.): Art After Modernism:

Rethinking Representation, New York, Boston 1984, S. 341–358, S. 341: »Maybe the Trojan Horse was the first activist artwork. […] Based in subversion on the one hand and empowerment on the other activist art operates both within and beyond the beleaguered fortress that is high culture or the ›artworld‹.«

Bernadett Settele

Entschieden unentschieden Radikale Kunstvermittlung als eigenwillige Fortsetzung von Kunst

Die Praxis der Kunstvermittlung – ein situatives Arbeiten im rezeptiven Bereich, von Kunst ausgehend, das sich an mehrere Personen richtet – sieht sich selbst als radikal und ambivalent an. Entschieden und aktivistisch zu handeln in Bezug auf Kunst und ihre Institutionen und dabei kunstnah und im positiven Sinne widersprüchlich vorzugehen, ist oft der Anspruch: Kunstvermittlung ag(it)iert mehrdeutig. Ihre Praxen sehen sich in engem Bezug zu Kunst, ohne selbst Kunst zu sein. Ihr Diskurs, auf den ich in diesem Beitrag zu sprechen komme, definiert sie gewissermaßen als das Andere der Kunst; ästhetische Urteile aufschiebend und doch Wirkungen und Wandel, Bildung, behauptend: auf individueller, insti­tutioneller und gesellschaftlicher Ebene. So schreibt sich Kunstvermittlung in einen Widerspruch ein, wie er auch diesen Band prägt. Um ein Missverständnis auszuräumen, sei vorausgeschickt, dass dieses spezifische Feld, über das ich hier spreche, auf ästhetische Bildung durch bzw. an Kunst abzielt, nicht auf die Erklärung von Kunst. Es wird dabei häufig mit Personen gearbeitet, die Laiinnen und Laien im Kunstfeld sind. Radikale Kunstvermittlung versteht ihre Tätigkeit, obschon seit Beginn eng mit der Institution Museum verbunden, jedoch nicht als Dienstleistung. Sie fordert vielmehr Autonomie und Handlungsmacht gegenüber künstlerischen und institutionellen Settings ein.1

1

Vgl. Wanda Wieczorek u.a. (Hg.): Arbeit mit dem Publikum. Öffnung der Institution, Berlin, Zürich 2009; sowie Carmen Mörsch und Forschungsteam der documenta 12 Vermittlung (Hg.): Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung, Berlin, Zürich 2009.

58

Bernadett Settele

Gerade bei diesen Charakteristika möchte ich ansetzen und eine Neubetrachtung der Praxis der »künstlerischen Kunstvermittlung« – wie sie in der Literatur öfter genannt wird2 – versuchen. Mit diesem Text sollen zunächst einige historische Linien des Felds beschrieben werden, in dem sich radikale Kunstvermittlung verortet, und er geht auf die Funktion ein, die sie übernimmt oder zu übernehmen bereit ist. Besondere Beachtung soll die Perspektive finden, die ich probeweise als radikale bezeichnet habe, weil sie sich als InsiderInnen-Position an der Kunst und ihren institutionalisierten Abläufen wie Kunstmarkt und Ausstellen reibt und schärft und damit oft genug mit Taktiken der Kunst gegen bestimmte Formen und Phänomene, die diese mit sich bringt, arbeitet. Im Anschluss will ich eine gängige und doch stets eher implizit bleibende Selbstdefinition von Kunstvermittlung, die an differenztheoretische und (autonomie-)ästhetische Argumente anschließt, ausführen und befragen und damit auch Überlegungen zur Bildungssituation angesichts von Kunst anstellen. Wie setzt Kunstvermittlung die Ambivalenz von Kunst fort? Worin besteht ihre eigene Ambivalenz?

Begründungslinien und Kontexte der Kunstvermittlung

»Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte«, formuliert der kunstaffine Erziehungswissenschaftler und Psychoanalytiker Karl-Josef Pazzini vor über einer Dekade.3 Dieser kämpferische, leicht paradoxe Ausspruch trifft den Nerv einer sich konstituierenden Bewegung der Kunstvermittlung, die sich damals wie heute für die Anwendung – und die Auswirkungen – von Kunst interessiert und deren AkteurInnen die Grenzen des Kunstbegriffs von der Bildung und vom Politischen her strapazieren, indem sie ambivalente Situationen produzie2 Der Terminus »künstlerische Kunstvermittlung« geht im deutschsprachigen Raum auf Pierangelo

Maset zurück und wird als Begriff u.a. von Eva Sturm mitgeprägt; dies in den späten Neunzigerjahren. Neben der strategischen Nähe zur Kunst ergibt sich eine Verbindung über die AkteurInnen dieser Praxis: Künstler_innengruppen [sic] wie KunstCoop© und trafo.K nutzen den Begriff als Bezeichnung für ihre experimentelle Praxis zwischen Kunst und Bildung. Im englischsprachigen Raum gibt es nur eine vage Entsprechung: AkteurInnen bezeichnen sich dort unter Umständen statt als Art Educators oder Gallery Educators als Artists and Educators oder Artists in Gallery Education o.Ä.; vgl. Emily Pringle: We Did Stir Things Up. The Role of Artists in Sites For Learning, London 2009. Da der Begriff problematisch als Affirmation bzw. Aufwertung des Künstlerischen sein kann, möchte ich im Folgenden radikal mit ihm arbeiten. 3 Karl-Josef Pazzini: »Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte«, in: Bauhaus-Universität Weimar (Hg.): Tatort Kunsterziehung, Weimar 2000, S. 9f.

Entschieden unentschieden

ren, die nahe an Kunst herankommen.4 Die leidenschaftliche Arbeit am Kunstbegriff sei »die eigentliche Vermittlungsarbeit«, schreibt Pierangelo Maset.5 Diese Aussage zielt weniger auf den Kunstbegriff ab, der sich rein an Objekten oder Prozessen und ihrer sinnlichen Wahrnehmung als Kunst festmacht, und mehr auf die Subjekte von Kunst und ihre Perspektive, auf ihr Gewordensein und ihr Werden durch Kunst. Hier werden Situationen der Rezeption gedacht und erzeugt, die sich emanzipieren vom kontemplativen Moment und der (rein) interpretatorischen Anstrengung; Situationen, die Teil der Revolte gegen instruktives Lernen und gegen vermittelte Erfahrung aus zweiter Hand sind. Rezeption wird dabei häufig selbst als ästhetisches Ereignis gedacht. In Opposition steht man, das zeigt Pazzinis obiges Zitat, auch zu der Behauptung, Kunst vermittle sich selbst oder sei sich in jedem Fall selbst genug. Diese neue Form des Arbeitens mit Kunst – Kunstvermittlung – bildete sich, so Maset, »im Sog der Projekt- und Kontextkunst der Neunziger«6 als eigenständige Praxis heraus und erstarkte kürzlich wieder mit dem educational turn der Kunst in den späten Nullerjahren und deren neuem, bildungsbezogenem Institutionsbegriff.7 Zu Beginn, in den späten Neunzigern, stellt die sich gerade ausformulierende Hinwendung der Kunst zu öffentlichen und kollektiven Arbeits-, Visualisierungs- und Kommunikationsformen wie im künstlerischen Aktivismus8 und in der (new genre) public art9 den Kontext des Diskurses um Kunstvermittlung dar. Einflussreich sind zudem die Kritik an institutionellen Konstanten und Machtverhältnissen der zweiten Welle der institutional ­critique10 sowie Diskussionen um die Definition von Partizipation und den Begriff des 4 Zunächst mit VertreterInnen wie Karl-Josef Pazzini, Pierangelo Maset und Eva Sturm. 5 Vgl. Pierangelo Maset: Ästhetische Operationen und kunstpädagogische Mentalitäten, Hamburg 2005,

S. 13. 6 Ebd., S. 22. 7 Vgl. dazu kritisch Irit Rogoff: »Turning«, in: e-flux, Nullnummer (November 2008), http://www.

e-flux.com/journals (aufgerufen: 2.5.2013). 8 Vgl. u.a.: Nina Felshin (Hg.): But is it Art? The Spirit of Art as Activism, Seattle 1995; Elisabeth Bronfen

und Misha Kavka: Feminist Consequences, New York 2001; Cornelia Butler und Lisa Mark (Hg.): WACK! Art and the Feminist Revolution, Los Angeles, Cambridge 2007 (Kat. Ausst.). 9 Vgl. u.a.: Mary Jane Jacob und Sculpture Chicago (Hg.): Culture in Action. A Public Art Program, ­Seattle 1995; Susanne Lacy: Mapping the Terrain. New Genre Public Art, Seattle 1995; Marius Babias (Hg.): Kunstvermittlung – Vermittlungskunst, Dresden 1995; Oliver Marchart: »Public Art als politische Praxis«, in: Christoph Schenker und Michael Hiltbrunner (Hg.): Kunst und Öffentlichkeit, Zürich 2007, S. 235–244. 10 Vgl. u.a. Rasheed Araeen und Christian Kravagna (Hg.): Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von Künstlerinnen und Künstlern, Bregenz 2001 (Kat. Ausst.).

59

60

Bernadett Settele

Relationalen in der Kunst.11 Auch eine Reflexion von Arbeitsbedingungen und der Normen und Formen des Umgangs mit Kunst fließt in die neue Praxis ein, die sich international unter dem Namen gallery education zu formieren beginnt. Die deutschsprachige Linie der Debatte um Kunstvermittlung als neue, kollektive Umgangsform mit Kunst nimmt dabei einen besonderen Verlauf: Sie argumentiert differenztheoretisch und aktivistisch; und auch meine Ausführungen dazu werden dem scheinbaren Widerspruch von Unverfügbarkeit und Verkettung einerseits und Positionsnahme andererseits nicht entgehen. Situationen der Kunstvermittlung, die selbst ja durch Kunst Erkenntnis erzeugen oder Sinn bilden, verwahren sich gegen die Vereinnahmung, Institutionalisierung und Kommodifizierung von ästhetischer Erfahrung und pochen damit auch auf die differenzielle Qualität von Kunst. Diese kann in Settings der Vermittlung den Gegenstand wie das Medium der Erkenntnis darstellen, sie ist zugleich ontologisch und ­epistemisch wirksam bzw. wird auf diesen Ebenen wirksam gemacht.12 Zugleich knüpfen sie selbst stark an Kunst an. Kunstvermittlung agiere, so Eva Sturm (auch sie eine Protagonistin der ersten Stunde), »aus Haltungen und Diskursen heraus, die […] aus der Kunst selber entwickelt sind«.13 Sturm bringt die Verwandtschaft und den mehrfachen Bezug zwischen beiden Praxen in ihrer neuesten Publikation sprachlich, über die Häufung von Präpositionen, zum Ausdruck: Kunstvermittlung arbeite durch Kunst, mit Kunst, an Kunst, von Kunst aus, und so fort. Wie stark die Nähe oder Analogie zwischen Kunst und Kunstvermittlung ist und wie genau gelagert, variiert denn auch in Sturms Aussagen, und ebenso in den Beispielen, die sie anführt, um ihre ­Ausführungen zu stützen und zu

11 Vgl. u.a. Nicolas Bourriaud: Relational Aesthetics, Dijon 2002; Nina Möntmann: Kunst als sozialer

Raum, Köln 2002; Claire Bishop: »Antagonism and Relational Aesthetics«, in: October 110 (Herbst 2004), S. 51–79; Claire Bishop (Hg.): Participation, London 2006. 12 Die Parallelität dieser Argumentationslinie zur aktuellen Diskussion um Designforschung und/ oder künstlerische Forschung als Forschung an und durch Design bzw. Kunst ist sicher kein Zufall; vielmehr bauen sie alle auf der gleichen Vorstellung der jeweiligen Disziplin als einem Wissensund zugleich Gegenstandsfeld auf, wie sie die Ästhetik (seit) der Moderne vertritt. Diese Künste und Praxen werden in einer gewissen Weise als selbstreferenziell angesehen, d.h. sie haben die Fähigkeit und die Pflicht, über sich selbst nachzudenken. Die Vorstellung von einer Autonomie der Künste bestimmt sich heute wohl durch die Annahme, sie seien Wissensfelder bzw. Felder der auch praktischen Wissensproduktion mit eigenen Gesetzmäßigkeiten (vgl. u.a. Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste«, UdK Berlin), die autonome und heteronome Charakterzüge zugleich haben und insofern Aussagen über ihren eigenen Bereich (die Kunst) wie auch andere Felder (die Welt) treffen können, die eine gewisse Gültigkeit haben. 13 Eva Sturm: Von Kunst aus. Kunstvermittlung mit Gilles Deleuze, Wien 2011, S. 11.

Entschieden unentschieden

kontextualisieren.14 Die Variation und Wiederholung des Verhältnisses selbst ist bestimmend für die (unmögliche) Identifizierung der Praxen als etwas – als das, was sie sind oder was sie darstellen.15 Sturm folgend, ließe sich der Zusammenhang mit dem Terminus »fortgesetzt« beschreiben. Kunstvermittlung bezeichnet sie als »Fortsetzung von Kunst«, eine Fortsetzung jedoch, die nicht getreu oder gar intentional ist, sondern vielmehr unvorhersehbare Fluchtlinien erzeugt.16 Der erste, im engeren Sinne aktivistische Teil des Diskurses insgesamt zielt auf die Veränderung (Transformation) hierarchischer Kontexte und Bewertungen ab, die die Kunst höher gewichten als andere Praxen und gewisse AkteurInnen besser stellen als andere. Sie steht gewissermaßen für die Emanzipation der Rezeption und der Bildung innerhalb der Kunst (samt der AkteurInnen, Orte und Tätigkeiten, die damit verbunden sind), als eine Bewegung im Dienst der RezipientInnen und des Rezipierens.17 Die zweite, differenztheoretische Perspektive auf Kunstvermittlung ist umfangreicher und ich möchte dazu einen kleinen Exkurs machen.

Exkurs: Differenzielle Kunstpädagogik

Das differenztheoretische Argumentarium in der Kunstvermittlung ist mehrschichtig und wird bisher häufig nicht trennscharf gehandhabt oder absichtlich »offen gelassen«.18 Umrissen sei es mit der Behauptung einer Unverfügbarkeit

14 Vgl. Sturm: Von Kunst aus, a.a.O., passim. 15 Für weitere Verwandtschaften als die zur Kunst, besonders die Verstrickung pädagogischer, poli-

tischer und sozialer Felder, vgl. auch Marius Babias (Hg.): Kunstvermittlung – Vermittlungskunst, a.a.O.; Marius Babias und Achim Könneke (Hg.): Die Kunst des Öffentlichen, Hamburg 1998; Eva Sturm und Stella Rollig (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum. Art – Education – Cultural Work – Communities, Wien 2002. 16 Sturm lässt dabei jedoch programmatisch offen, welche Praxis aus welcher folgt, bzw. stellt Vorgängigkeiten selbst infrage. Sie schlägt zwar vor, dass Kunstvermittlung die Produktivität der Kunst für offene Bildungsprozesse aufnehmen soll; ihre Produktivität unterscheidet sich jedoch nicht maßgeblich von der der Kunst. Zur Vermeidung des bei Deleuze negativ konnotierten Begriffs von »Vermittlung« als »Erfahrung zweiter Hand« setzt Sturm dem die Formulierung einer »Wiederholung von Kunst […] als ein Wiedererzeugen ihrer Wirk-/Sprengkraft« entgegen, vgl. Eva Sturm: Von Kunst aus, a.a.O., S. 11f. 17 Pazzinis eingangs genanntes Schlagwort »angewandt« ist gar als Existenzbedingung von Kunst formuliert. Ohne Anwendung – Rezeption, Referenzieren etc. – keine Kunst. 18 Ulrich Schötker: »Du hast mir mein Referendariat versaut. Danke.«, in: Pierangelo Maset: Ästhetische Bildung der Differenz. Wiederholung 2012, Lüneburg 2012, S. 16–19, hier S. 18.

61

62

Bernadett Settele

und Unabgrenzbarkeit von Praxen der Kunstvermittlung – und mit ihnen auch der Kunst – und zugleich einem Beharren auf der Produktivität von Kunst für Bildungsprozesse. Es scheint, als diene der Begriff (oder die Vorstellung) der Differenz bisweilen auch als Platzhalter für andere Begriffe wie Autonomie, das Ästhetische, etc., die in der Vergangenheit diskutiert und einbezogen wurden: Er markiert, dass an einen bestimmten Status quo angeschlossen wird.19 Zwei Schlaglichter sollen auf den aktuelleren Diskurs geworfen werden. In der neueren Literatur wird, etwa bei Pierangelo Maset, zum einen eine systemtheoretische Lesart nahegelegt, wie in der Einleitung zum Band Corporate Difference, der institutionelle Kontexte und Formate behandelt. 20 Differenz kann zum anderen aber ebenso sprach- oder zeichentheoretisch gefasst sein.21 Beide haben ihre Gültigkeit: Die erste, systemische Lesart weist auf die Reibung von Kunst und (künstlerischer) Kunstvermittlung als stete Annäherung an- und Abgrenzung voneinander hin; eine eher ontologische Frage (Was ist es?, und mit Eva Sturm/Stella Rollig: Was darf es?), die sich in einer real andauernden, definitorischen Diskussion um den institutionellen Status oder um die Anerkennung als autonome Praxis und/oder Kunst manifestiert.22 Trotz des schwierigen Abgrenzungsverhältnisses zur Kunst eignet sich Kunstvermittlung möglicherweise die Insignien oder den Status gewisser Kunstformen an, wenn sie die sogenannten »Taktiken der Kunst« bzw. künstlerische Strategien nutzt.23 Die Bemühungen um die genauere Definition der sprichwörtlichen und viel beschworenen »Zwischenposition« der Kunstvermittlung sind dabei freilich

19 Ausführlich nahm die jüngere Kunstpädagogik postmoderne Begriffe der Ästhetisierung der Welt

20 21 22 23

auf, u.a. über Wolfgang Welsch, vgl. ders.: Ästhetisches Denken, Leipzig 1990, sowie Vorstellungen von Produktivität und freiem Arbeiten im Projekt-Begriff, vgl. Gert Selle: Das ästhetische Projekt, Unna 1992. Pierangelo Maset: »Fortsetzung Kunstvermittlung«, in: Pierangelo Maset, Rebekka Reuter und Hagen Steffel (Hg.): Corporate Difference. Formate der Kunstvermittlung, Lüneburg 2006, S. 11–24. Pierangelo Maset: Ästhetische Bildung der Differenz – Kunst und Pädagogik im technischen Zeitalter (Dissertation), Stuttgart 1995. Zentrale Referenzen sind Derrida und Deleuze. Ebenso kann im umkämpften Dreieck von Kunst/Produzieren, Bildung/Rezipieren und Ausstellen/Institutionalisieren auch eine andere Form der Reibung im Zentrum stehen. Etwa, um das jeweilige Umfeld mit Mitteln der Kunst zu erforschen und einzubeziehen. Dazu existiert im Übrigen eine kunstpädagogische Debatte, deren Aufriss den Rahmen dieses Textes sprengen würde. Hingewiesen sei auf Masets Vorschlag, den Begriff »Taktiken« statt Strategien zu nutzen, sowie auf Anna Schobers kritische Revision des avantgardistischen Subversionsbegriffs; vgl. dies.: Ironie, Montage, Verfremdung. Künstlerische Taktiken und die politische Gestalt der Demokratie, München 2009.

Entschieden unentschieden

auch als Zeichen einer Territorialisierung und Disziplinwerdung zu sehen. Zu fragen wäre, inwiefern diese Auseinandersetzung heute noch produktiv ist.24 In einigen Schriften wird explizit auf Grundlagen aus der poststrukturalistischen und, genauer, der sprachtheoretischen Theoriebildung zurückgegriffen: die différance von (Re-)Signifizierungsprozessen. Da künstlerische Produktion, sei sie visuell oder performativ, als Verweisende stets auf der Differenz zwischen arbiträren Zeichen beruht, kann sie als epistemisches Instrument zur Analyse des Zustandekommens von Bedeutung angesehen werden. Das Scheitern der Signifizierung oder die Lücken darin machen die Mechanismen sicher, in denen zu sehen gegeben wird – und darin liegt eine bestimmte Produktivität und Anschlussfähigkeit für erweiterte Praxen der Rezeption. Ist Kunst als System der Bedeutungsproduktion bzw. Repräsentation schon ein komplexes, instabiles Verweissystem, so heißt Kunst anwenden, dieses System um weitere Ebenen zu erweitern: personell, zeitlich, räumlich, performativ, situativ, kommunikativ, medial, etc. Und, wie Kunst, können diese Prozesse scheitern oder Kunst scheitern machen und ihre Funktionsweise offenlegen. Rezeption oder Vermittlung wäre hier, in der ersten wie in der zweiten Lesart, nicht Fortsetzung im Sinne von Erfüllung, sondern im Sinne einer eigenwilligen Praxis.

Unbestimmt bestimmt Vorstellungen von ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Bildung

Ein Teil des Feldes geht von der Idee der ästhetischen Erfahrung als einer Art von Differenzerfahrung aus – mehr noch: anerkennt, dass sich daraus erst die Möglichkeit zur ästhetischen Bildung ableitet.25 Das Ästhetische, so die – hier zunächst einmal vereinfachte – Bestimmung ästhetischer Erfahrung, setze vom Sinnlichen her komplexe Denk-, Wirk- und Empfindungsprozesse in Gang, 24 Eventuell hilft sie, sich gegen Vereinnahmung durch die Institution zu wehren, die sich im Zeit-

alter des New Institutionalism selbst Themen der Bildung und Kooperation zuwendet. Vgl. u.a. schnittpunkt, Beatrice Jaschke und Nora Sternfeld (Hg.): educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung, Wien 2012. 25 Lacans struktureller Analogie zwischen Subjekt und (Kunst-)Lektüre folgend, wird das Spiel der Bedeutungen in der Kunst in einer Analogie zum Bildungsprozess des Subjekts definiert. Vgl. Hans-Christoph Koller: Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer ­Bildungsprozesse, Stuttgart 2011, besonders S. 45–54.

63

64

Bernadett Settele

die weder abschließbar noch eindeutig seien. Dies beruht mit auf der (autonomie-)ästhetischen Vorstellung, nach der sich die Ambivalenz, Flüchtigkeit und Dynamik der ästhetischen Erfahrung weder komplett »wegerklären« lasse noch ganz im Physisch-Sinnlichen aufgehe. Gleich, ob als Spiel des Bildens und Entgleitens spezifischer Begriffe (Adorno), als Wechsel von Immanenz und Distanznahme (García Düttmann) oder als Ausgangspunkt von Fluchtlinien des Denkens (Deleuze): Gemeinsam ist ihnen eine prozessuale Komponente, eine Mehrdeutigkeit und ein Changieren sowie eine Form von Intensität und Gegenwärtigkeit.26 Das traditionelle ästhetische Urteil oder die Schaffung normativer, bleibender Bezugsgrößen sind dagegen keine gültigen Aspekte mehr. Interessant ist nun, dass differenztheoretische Ansätze der Kunstvermittlung den Ansatzpunkt für ästhetische Bildung eben hier, im Unbestimmten, sehen. Gerade die Deutungsoffenheit der Kunst ermögliche das Einüben von Verhaltensweisen, die auch im Alltag relevant sind.27 Das Ästhetische wäre damit das Testfeld, auf dem Selbst- und Fremdbilder einer Überprüfung unterzogen werden können, ein Übungsterrain. Zugleich wird es zum Kulminationspunkt von Wirkungserwartungen. Der empirische Nachweis ästhetischer Erfahrung und ihrer Wirkung ist bisher, zum Glück, noch eine offene Frage. Kunstvermittlung kann den Anspruch der Kunst zu »wirken« vielleicht besser als Kunst, von der Seite der Rezeption und unter Einbezug unterschiedlicher Perspektiven, untersuchen – und vielleicht damit auch kenntnisreicher kritisieren.

26 Auffällig ist dabei die Figur des »Dazwischen«, die mehrere Väter bzw. Mütter in Kunst- und

­ ulturwissenschaft sowie Philosophie hat (und unter anderem psychoanalytisch und phänomeK nologisch grundiert sein kann). Z.B. sei, so Elisabeth Bronfen, in der Kunstbetrachtung Warburgs »entscheidend die Spannung zwischen Affiziertheit und Begreifen, ein Denkraum in der Spanne der Distanz zwischen ›erschwingender Fantasie‹ und ›aufschwingender Vernunft‹«; vgl. Elisabeth Bronfen: Crossmappings, Zürich 2011, S. 7. Mit Bernhard Waldenfels ist Erfahrung sowohl nichteindeutig als auch pathisch – und bildend: »Wandle ich also das, wovon ich getroffen werde, um in etwas, worauf ich antworte, dann ist dieser Umwandlungsprozess genau der Zwischenbereich, wo eine ästhetische (Selbst-)Bildung genuin einsetzt.« Vgl. Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt a.M. 2002, S. 102f.; vgl. auch Andrea Sabisch: Vom Sichtbarwerden ästhetischer Erfahrung, Bielefeld 2007, besonders S. 20f., 70ff. 27 So erklärt Roger M. Buergel die widersprüchliche und unmögliche Verhandlung über einen ästhetischen Common Sense zur politischen Dimension des Ästhetischen, vgl. Education, documenta Magazine 3 (2007). Für ein fundiertes Gedankenexperiment vgl. Paul Mecheril: »Ästhetische Bildung und Kunstpädagogik. Migrationspädagogische Anmerkungen«, in: Art Education Research 6 (2012), http://iae-journal.zhdk.ch/no-6/texte (aufgerufen: 2.5.2013).

Entschieden unentschieden

Fortsetzen, aufschieben und erweitern Die kulturelle Praxis der Rezeption aufführen – Ein Beispiel

Berlin, Hamburger Bahnhof. Eine kleine Frau mit kurzen Haaren baut sich gegenüber dem Double Elvis von Warhol auf. Zitternd und mit verbundenen Augen, aber breitbeinig, steht sie fünf lange Minuten vor den beiden überlebensgroßen Siebdrucken, bereit zum Ziehen der Pistolen. Sie zieht nicht. Der als Cowboy verkleidete Elvis zieht auch nicht. Diese Performance ist ein Schlüsselbild der künstlerischen Kunstvermittlung, beschrieben 2005 von Eva Sturm.28 Als solches sei sie hier aufgegriffen und wiedererzählt. Die Performerin, Anna Zosik heißt sie, begibt sich in ein Experiment hinein, das mehr Kunst oder auch mehr Kunstvermittlung ist – je nachdem, worauf der Fokus der Betrachtung liegt. Zosik stellt sich nicht in den Dienst der Arbeit, sie erklärt sie nicht, sondern erweitert sie und schafft einen Raum, der der Performance nahesteht, einen Raum, in dem sie ihre eigene Reaktion zu sehen gibt. Der lange Moment im Angesicht des doppelten Elvis ist ein inszeniertes Verharren, ein aufgeschobener Affekt. Es passiert fast nichts, nahezu bewegungslos wird Rezeption aufgeführt  – Zosik hält der Arbeit ihr eigenes, von einer papierenen Maske bedecktes Gesicht entgegen, welche aus einer Kopie der Arbeit gefertigt ist. Sie doppelt ein ikonisches Image mit einer Kopie, einen Elvis über jedem Auge. Der Titel der Performance, »Sorry Andy, I’m Faster«, erhärtet den Verdacht, dass das Verweigern des Blicks, das Aufschieben der Reaktion, das Zeichen-Geben als Ausdruck der Selbstsicherheit gegenüber dem Ausgangspunkt zu lesen sind. Being faster wird zur Metapher des Wettstreits zwischen zwei künstlerischen Strategien, beide zeiträumlich kontextualisiert: Andy Warhols Nutzung des Siebdrucks (schneller malen, für die Massen malen, Icons der neuen Zeit schaffen) und die Nutzung der Performance bei Anna Zosik (die Intensität steigern, die Wirkungslosigkeit einstiger Icons vorführen, das ­Rückführen auf einen Moment und auf den Körper). Zosik, die die Affizierung verweigert, gewinnt das Duell, indem sie sich ihr stellt.29

28 Eva Sturm: Vom Schießen und vom Getroffen-Werden. Kunstpädagogik und Kunstvermittlung »von Kunst

aus«, Hamburg 2005, S.  24–34. »Hier wird eine künstlerische Reaktion auf eine künstlerische Arbeit exemplarisch zu einem Akt der Vermittlung, und der Akt der Vermittlung wird zum künstlerischen Akt. Etwas wird in Bewegung versetzt, obwohl scheinbar alles still steht.«, hier S. 33. 29 Hier sei auf Mieke Bals These, auch sie mit Warburg bzw. Deleuze formuliert, verwiesen, dass der Affekt einen Aufschub darstellt, eine Art von Innehalten und sich Gewahrwerden, bevor es zur

65

66

Bernadett Settele

Abb. 1: Anna Zosik, Sorry Andy, I’m Faster, 2003, Performance, Hamburger Bahnhof Berlin.

Entschieden unentschieden

Abb. 2: Anna Zosik, Sorry Andy, I’m Faster, 2003, Performance, Hamburger Bahnhof Berlin.

67

68

Bernadett Settele

Hier scheint zuerst (nur) Reaktion, nur Rezeption, oder eben: Nicht-Rezeption, Nicht-Reaktion, stattzufinden; im gleichen Augenblick ist da schon ein Vorgang des Referenzierens, der Aktion, der Produktion. Die Frage des künstlerischen Originals ist dabei auf produktive Art nichtig gemacht: Rezeption regt Produktion an, Rezeption ist Produktion, Rezeption-als-Produktion regt weitere (produktive) Rezeption an, usw. usf.30 Kunstvermittlung arbeitet in der Lücke zwischen Produktion und Rezeption, zwischen dem Gegebenen und dem, was daraus werden kann. Zosiks Verharren ist über die Buchstäblichkeit der Aktion hinaus (dastehen, spiegeln) auch ein Statement und das Einnehmen einer Position (widerstehen, entgegenstehen); und es hat dabei doch den Charakter einer Verweigerung. Die Performerin sucht ihren eigenen Worten nach einen Ausdruck dafür, dass dieses Bild, und überhaupt der ganze im Hamburger Bahnhof in Berlin ausgestellte Kanon, sie nicht mehr zu berühren vermögen.31 Tatsächlich ist das (aufgeführte) Verharren Zosiks – auch – eine Form von Vermittlung (oder, mit Sturm, mit-geteilte Rezeption), und es erzeugt oder provoziert weitere Reaktionen. »Sorry Andy, I’m Faster« führt von Warhol und seinem Ort und seiner Zeit fort: Zosik spiegelt und verschiebt die Arbeit auf der geschlechtlichen Achse und der medialen Achse, auf der zeitlichen Achse und im Raum und konfrontiert sie, zuletzt, mit dem Heute als dem Moment der Rezeption. Das macht dann den zweifachen Elvis sichtbar, der sich selbst in einer Doppelrolle, als doppeltes Klischee, als King of Rock’n’Roll und Cowboy zugleich, repräsentiert. Die Spannung, die sich aufbaut, kann denn auch verschieden gelesen werden: als Kräftemessen mit einem alten Idol, als Aushalten des Blicks oder gazes der Kunstgeschichte oder als verweigerte Rezeption. Ein Jetzt, der noch ungedeutete Raum der Performerin.

30 Mit Eva Sturm wäre die zu prüfende These »Rezeption ist Aktion«, vgl. Von Kunst aus, a.a.O., pas-

sim. Mir erscheint dagegen der Begriff der Produktion, unabhängig von der obsoleten Trennung in Produkte oder Prozesse, Original oder Kopie etc., prüfenswert, da er im Diskurs zu Kunstvermittlung wie auch zur Kunst auftaucht, und da Produktion stets in einer Kette von Referenzen und AkteurInnen steht und zudem die Rezeption (nicht erst) heute notwendig miteinschließt. Kunstvermittlung arbeitet, ebenso wie Formen der Kunst und des Ausstellens im Educational Turn, auf nichthierarchische Formen gemeinsamer Wissensproduktion hin, vgl. Bernadett Settele: ­»Common Subjects. ›Schöner Lesen‹ als Luxus der Kunstvermittlung«, in: Jutta Zaremba (Hg.): hedo/art/scenes. Hedonismus in Kunst und Jugendszenen, München 2013. 31 Eva Sturm, Von Kunst aus, a.a.O., S. 25f.

Entschieden unentschieden

Institutionen und Subjekte Ein Einwand und weitere Beispiele

Mit dem Ausdruck »Jetzt« ist damit beileibe keine ontologisierte oder kontextlose »Präsenz« gemeint, sondern eine Bewegung, in der sich die Anwesenden, bestenfalls gemeinsam, der Bedingungen gewärtigen, unter denen sie zusammenkommen. Gerade weil die Performance »Sorry Andy, I’m Faster« als Kunst beschrieben wurde, um ihre Ambiguität hervorzuheben, sollte doch die auratische Falle nicht über ihr zuschnappen. Um diese fünf Minuten genauer zu definieren, müsste denn vielleicht ein dritter Text geschrieben werden. Immerhin sei hier auf jene Ansätze der Neuen Phänomenologie verwiesen, die versuchen, solche Momente (auch) angesichts von Kunst und im Jetzt und Hier mit dem Gewordensein der an ihnen Beteiligten und den existenziellen Bedingungen der Subjektwerdung zusammenzudenken.32 Was ist zu tun? Wie kann Kunstvermittlung handeln, ohne zu vereindeutigen, zu institutionalisieren und zu auratisieren? Radikale Kunstvermittlung hat sich bereits der Frage nach ihrer eigenen Performativität bzw. ihrer Funktionalität für das Kunstsystem angenommen: Dadurch, dass sie Formen produktiver Rezeption institutionalisiert, schafft sie mit am System und etabliert gewisse Praxen (auch wenn sie sich als widerständig begreifen). Eine Perspektive ist, die Nähe zu Praxen des Aufführens sowie die unzweifelhafte Verwandtschaft zur Performance-Kunst, die als eine glückliche wie unglückliche Verbindung gesehen werden kann, zu nutzen, um die Situation selbst zu thematisieren. Jedes Handeln im Ausstellungsraum oder vor Kunst ist bereits vordeterminiert und mit Bedeutung aufgeladen. Situationen, die mehrere Personen in einem Ausstellungsraum versammeln, begünstigen Aufführungen, denn sie sind wirkmächtige kulturelle Äußerungen; und es mag der Anspruch radikaler Kunstvermittlung sein, ebensolche Aufführungen vorzuführen und auszuhebeln.33 Erinnert sei an die karikierte Vertreterin der Institution, als die Andrea Fraser 32 Für eine solche epistemologische Lesart von Maurice Merleau-Pontys phänomenologischem

Ansatz steht u.a. Judith Butler. Vgl. ausführlicher Linda Cassens Stoian: »Foregrounding Deconstruction. A Handbook for a Critical Methodology of Artwork«, in: Performance Research 11/1 (2006), S. 89–113. 33 Vgl. Bernadett Settele: »Performing the Vermittler_in«, in: Art Education Research 2 (2010), Kunst [auf]führen, http://iae-journal.zhdk.ch/no-2/texte (aufgerufen: 2.5.2013); sowie Sabine Gebhardt Fink, Nora Landkammer und Anna Schürch: »Quergelesen und zurückgesprochen. Ein Dialog zu Performancetheorie und Vermittlung«, in: Ebd.

69

70

Bernadett Settele

ihre »Museum Highlights« (alles von der Leinwand über die Infrastruktur bis zum Board of Trustees) vorführt und dabei beständig aus der Rolle fällt.34 An den rastlosen Ulrich Schötker, der vor jeder Arbeit der documenta 11 ein anderes Klischee der Museumspädagogik, der Kunstgeschichte oder Kunstkritik aufführt, bis die BesucherInnen der Führung ihn stoppen und eine Diskussion über das Wie in Gang kommt.35 An Charles Garoians Ansatz, MuseumsbesucherInnen dazu einzuladen, sich ihre eigenen Praxen, die performativen Praxen der Rezeption, bewusst zu machen und zu verändern, um sich eine Teilhabe an der Konstruktion des Museums zu sichern.36 Zuletzt sei an trafo.K aus Wien erinnert, die TeilnehmerInnen ihrer Projekte Fragen aus der politischen Bildung stellen: Wo stehe ich? Was stört mich dort? Was will ich verändern? Wie kommen wir (gemeinsam) dazu, die(se) Dinge zu verändern? Und die dann tatsächlich in die Anordnungen und Erklärungen eingreifen, die sie in und um Ausstellungen vorfinden.37 Aufgerufen sind damit Aktionen, deren AkteurInnen in einem gewissen Sinne selbst im Kunstfeld involviert sind und die sich der Sprache (aber nicht nur der Sprache) bedienen, um zu kommunizieren. Aktionen, die etwas Bekanntes vorführen und scheitern lassen (oder daran selbst scheitern); solche, die Kommunikation in Gang setzen wie bei ­Fraser und Schötker; und solche, die politische Ansätze verfolgen, die ermächtigen und eine Stimme zu geben versuchen wie Garoian oder trafo.K. Alle vier sind in einem gewissen Sinne selbstkritische Ansätze, die über die Schaffung gemeinsamen Wissens nachdenken und einer gemeinsamen Situation mit Dritten zuarbeiten, die die Aneignung des kulturell übercodierten Ausstellungsraums und seiner institutionellen Rituale bezwecken oder gar die Revolution. Diese Praxen beziehen Position, sie greifen aktiv in die Normen des Feldes ein und machen sie sichtbar: Sie sind radikal. Zugleich schieben sie dabei etwas auf; ein Begehren nach

34 Vgl. Andrea Fraser: »Museum Highlights. A Gallery Talk«, in: October 102 (Sommer 1991), S. 104–

122. 35 Die genannten BesucherInnen sind allesamt Mitglieder des Bundesverbands deutscher Kunstpä-

dagogen (BdK), die Quelle ist wiederum Eva Sturm, vgl. ihren Text »Kunstvermittlung als Widerstand«, in: Schöppinger Forum (Hg.): Transfer 2, Schöppingen 2002, S. 92–110. 36 Der Ansatz der performative pedagogy Garoians steht der critical pedagogy sowie der eigenen künstlerischen Praxis des als Hochschuldozent tätigen Performers nahe und zielt auf Selbstausdruck, Selbsterkenntnis und Ermächtigung, vgl. »Performing the Museum«, in: Studies in Art and Edu­ cation 42/3 (2001), S. 234–248. 37 Vgl. Nora Sternfeld: »Unglamorous Tasks. What Can Education Learn from its Political Traditions?«, in: e-flux 14 (März 2010), http://www.e-flux.com/journals (aufgerufen: 2.5.2013).

Entschieden unentschieden

­ lärung wird oft  – zunächst  – nicht erfüllt: Die Situation bleibt ambivalent. K Zuletzt aber liegt die Produktivität des Aufschubs oder des Aussetzens vielleicht gerade darin, dass die Situation selbst uneindeutig bleibt und die Handlungsmacht neu auf alle verteilt wird. Uneindeutig heißt jedoch nicht offen oder gleichgültig. In der Idee einer radikalen Kunstvermittlung ist nicht klar zu trennen zwischen kulturellen, künstlerischen, sozialen, pädagogischen und politischen Motiven und moves; und, weil sie in absoluter Nähe und in starkem Bezug auf Kunst und deren Räume steht, die hierarchisch (immer noch) höher ­bewertet werden, ist sie in gewissem Sinne systemisch ambivalent.38 Und, wie Janna Graham einmal sagte, sie kann ihre Halbsichtbarkeit ganz gut gebrauchen.

38 Es muss nicht mehr gefragt werden: Ist es Kunst? Ist es authentisch oder inszeniert? Ist es per-

sönlich oder professionell motiviert? Wodurch legitimiert oder begründet sich, was hier passiert? Dürfen wir das?

71

Positionierungen

Gerald Raunig

Eine Linie wählen Mannigfaltigkeit, Division, Eindeutigkeit

Ein Irrtum jagt um die Welt – oder sollte ich besser schreiben: durch die Kunstwelt? – die instrumentelle Fehldeutung von Vielheit und Mannigfaltigkeit. Im Kunstfeld häufen sich die Beschwörungen der Ambiguität und der Ambivalenz, und zugleich breitet sich eine panische Zurückweisung von Eindeutigkeit aus – gerade so, als wären wir kurz davor, dass eine ubiquitäre stalinistische Zensurbehörde die Macht über die Kunstproduktion übernähme. Die »Durch­setzung der Ambiguitätstoleranz«, wie diese Tendenz von Tom Holert bezeichnet wird,1 verwandelt einiges, was im poststrukturalen Denken der letzten fünfzig Jahre über Vielheit und Vieldeutigkeit verhandelt wurde, in eine Karikatur: Statt dem vielschichtigen und keineswegs gegensätzlichen Verhältnis von Mannig­ faltigkeit und Singularität wird eine ihrerseits zutiefst relativistische Figur kon­struiert, die selbst wiederum tyrannische Züge annimmt, der Imperativ der ­Ambiguität.2 Radikale Ambivalenz impliziert vor diesem Hintergrund vor allem eine Drohung: die weitere Durchsetzung des Topos, wie er im Mainstream des 1

Tom Holert: »Resonanzen, Streifen, Scherenschnitte. Formen und Funktionen von Ambiguität seit 1960«, in: Verena Krieger und Rachel Mader (Hg.): Ambiguität in der Kunst: Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln, Weimar, Wien 2010, S. 241–259, hier S. 243. 2 Zur Kritik dieses Imperativs vgl. meinen Aufsatz »More Than Two. The One as Singularity in Ambiguity«, in: Artemy Magun (Hg.): Politics of the One. Concepts of the One and the Many in Contemporary Thought, London 2012, S.  245–252, auf Deutsch erschienen als: »Sprengende Eindeutigkeiten. Das Eine als Singularität in der Vieldeutigkeit«, in: Anke Hoffmann und Yvonne Volkart (Hg.): Eindeutigkeiten sprengen / Subverting Disambiguities, Nürnberg 2012, S. 283–293, dessen Thesen dem vorliegenden Text vorausgehen.

76

Gerald Raunig

­ unstfelds gleichsam Norm geworden ist, bis an die Ränder des Feldes, auch in K jene Bezirke, die mit den unzureichenden Bezeichnungen »kritische«, »engagierte« oder »politische Kunst« gefasst werden. Mehrdeutigkeit wird zum Muss, und die Figur der stets ambiguen KünstlerIn, die sich selbst nicht enträtseln darf, sofern sie am Kunstmarkt reüssieren will, wird zum herrschenden Paradigma einer Vereinheitlichung im Namen der Ambiguität, der Ambivalenz, der Uneindeutigkeit. Schematisch wäre diesem Imperativ ein Durchgang durch potenziell drei Etappen entgegenzusetzen: Zunächst ist die Welt grundsätzlich als Zusammensetzung von Mannigfaltigkeiten zu verstehen, als mannigfaltige Abstufung von Stellungen, als Differenzgewimmel, als Differentes im Austausch mit dem Differenten, zugleich Differentes in Distanz zum Differenten: Konjunktionen und Disjunktionen auf einem Konsistenzfeld, das zugleich vollendet und unbegrenzt ist. Auf diesem Terrain der Mannigfaltigkeit geht es nun zweitens um die Teilung als singuläre Division, die Maß-Nahme als Haltung und Setzung, die Selektion einer Fluchtlinie.3 Diese Wahl einer Linie ist noch keineswegs schließend oder ausschließend, sie ist ein affirmativer Akt. Erst als tertiäre Bewegung kommen Vereinheitlichung, Vereindeutigung, Identifikation ins Spiel, als Verstetigungen, Einholungen, Stillstellungen der dividuellen Flüsse und Linien. In den Verfahren der organischen Repräsentation4 wird die Mannigfaltigkeit identifiziert, totalisiert, (ein/aus-)geschlossen. Auf die Kunstpraxis bezogen bedeutet diese Schematik der drei Etappen, fürs erste in aller Kürze und noch etwas schematisch formuliert: Kunstproduktion vollzieht sich auf der zweiten Stufe, der Auswahl von Linien auf dem Terrain der Mannigfaltigkeit. Radikal – zumindest in einem emphatischen Sinn – wäre hier nicht Ambivalenz oder Ambiguität, weil diese anstelle einer selektiven Prüfung, Setzung, Teilung, den einfachen Weg der differenzlosen Wiederholung geht. Wird die Mannigfaltigkeit schlicht als Mehrdeutigkeit gedoppelt, entsteht nichts als eine Form-Konserve, die den Exzess des Vielen in der Vieldeutigkeit

3 Vgl. Gerald Raunig: »Fluchtlinie und Exodus. Zu einigen offensiven Figuren des Fliehens«, in:

Stefan Nowotny und Gerald Raunig: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien 2008, S. 209–217. 4 Zur Entfaltung des Begriffspaars organische/orgische Repräsentation vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1992, passim, sowie Gerald Raunig: »eventum et medium. Ereignis und orgische Repräsentation im Medienaktivismus«, in: Nowotny: Instituierende Praxen, a.a.O., S. 71–84.

Eine Linie wählen

versenkt. Blinde Bejahung, leeres Gepäck, konservierende Wiederholung, die keinen Unterschied macht, nichts erfindet, nichts Neues in die Wiederholung einbringt. Radikal wäre dagegen ein möglichst hohes Maß an Eindeutigkeit: die eine Linie, der eine Würfelwurf, die eine risikoreiche Setzung. Das Ziehen der einen Linie ist eine Resingularisierung, keine Identifikation. Da sie auf einem unbegrenzten Konsistenzfeld operiert, kann die einzigartige Teilung gar nicht schließend wirken. Sie prüft, sie teilt, sie setzt, aber sie schließt nicht. Sie will das Umfeld der Teilung auch nicht loswerden, sondern im Verfahren der Teilung aktualisieren, neu situieren, reterritorialisieren. Die Linie ist eine Kette von affektiv-intellektuellen, sozial-maschinischen Setzungen, von Umleitungen, Brüchen, Stockungen, Richtungsänderungen, Kehren, Verwerfungen, neuen Anbindungen  – sie ist vielfach gebrochen, springend, hüpfend, keinesfalls der kürzeste Weg von A nach B. Die Wahl der Linie löscht nie die Mannigfaltigkeit aus, von der sie herkommt. Und auch die Rezeption derselben künstlerischen Arbeit geht von derselben Konfiguration aus, einer Fluchtlinie, die auf einem Konsistenzfeld gezogen wurde. Die Linie wird in der Rezeption nicht notwendigerweise vereindeutigt wahrgenommen, auf einen Punkt gebracht, festgemacht. Durch die Linie hindurch scheint die Mannigfaltigkeit. Wenn Rezeption wie ein sekundäres Konsistenzfeld fungiert, das von der künstlerischen Linie erzeugt wird, kann sie nicht anders, als die Mannigfaltigkeit zu affirmieren, damit selbst zum affirmativen, differenzierenden, vervielfältigenden, inventiven Akt zu werden. Radikal ist vor diesem Hintergrund aus der Perspektive der Produktion wie aus jener der Rezeption nicht die Ambivalenz, die Ambiguität, insofern sie das Viele in der Vieldeutigkeit versenkt, sondern das Ziehen der Linie, die singuläre Teilung, die Eindeutigkeit, die Affirmation der Linie wie der Mannigfaltigkeit und ihrer Verkettungen.

Distribution und Partizipation

Es gibt drei Weisen des Teilens: die Distribution, die Partizipation, die Division. Die erste Weise des Teilens ist die Distribution. Sie ist der Modus der Trennung, der Rasterung, der Kerbung, der Einteilung und Aufteilung der Teile. In ihr betreiben strukturalisierende Verfahren die Re-Produktion von Strukturen, die Bestätigung und Selbstbestätigung von Staatsapparaten. Im Modus der

77

78

Gerald Raunig

­ istribution werden die Teile an die gehörigen Plätze verteilt, die zweckmäßiD gen Stellen, die berechtigten BesitzerInnen. Die Distribution geht also aus von einer bestimmten Ordnung von Zeit und Raum, die immer wieder hergestellt wird. Sie ist eine Zuteilung der Teile, eine Verteilung der Anteile, die nach Besitz und Begrenzung vor sich geht. Zeit und Raum sind hier vorstrukturiert, um die Struktur immer wieder aufs Neue zu reproduzieren. Implizite und explizite Vorschriften, Bestimmungen, Gesetze halten die Teile fest, in ihrer Abtrennung und Begrenzung, hemmen ihre Verkettung, schneiden sie von all dem ab, wozu sie fähig sind. Die zweite Teil-Weise ist die Partizipation. Sie ist ein organisches Verfahren. Die Partizipation hat das Ganze als Ausgangspunkt und als Ziel. Organisches Teilen meint die ständige Produktion eines Ganzen. Das Ganze teilen heißt in diesem Modus nicht, ein Ganzes zu zerreißen, es in Stücke zu reißen, in voneinander unabhängige Teile zu teilen, sondern in ein bestimmtes soziales Verhältnis der Ganzheit einzutreten, das Ganze zu reproduzieren. Die Teile operieren wie Organe als abhängige Funktionen eines Organismus. Das ist die organische Logik der Ganzheit, der Gemeinschaft, der Totalität. Partem capere, den Teil nehmen, teilnehmen. Das klingt nach aktiver AnteilNahme, ja nach offensivem Kapern eines Teils. Aber die Teilnahme ist nie primär, sie geht nach dem Ganzen. Und das Ganze ist nicht zu haben. Das TeilHaben der Partizipation impliziert ein nachträgliches Haben eines Teils. Zuerst ist das Ganze, dessen Anteil genommen wird, um es aufs Neue zu produzieren. Der Teil bleibt aufs Ganze bezogen und regiert sich in Bezug auf das Ganze. Im Gegensatz zur Distribution operiert die Partizipation nicht durch Trennung und Einteilung. Die partes der Partizipation sind in ihrem Bezug aufs Ganze miteinander verbunden, überlappen einander und benötigen den Austausch und Verkehr untereinander unter der Ägide eines Ganzen, das sie in Dienst nimmt. Diese Logik der Beziehung, des ständigen Bezugs, der Unterordnung des Teils unter das Ganze lässt sich gut am Gebrauch des Begriffs Partizipation in heutigen medial-politischen Diskursen nachvollziehen, etwa an der Partizipationsrhetorik von aktuellen Stadtentwicklungspolitiken. Partizipation ereignet sich hier als graduelle Abstufung der Unterordnung unter das (ökonomische) Ganze. Damit ist nie allein Unterwerfung und Repression gemeint. Gerade in besonders begehrten städtischen Bereichen, in denen bestehende soziale Infrastruktur auf postindustrielle Nach-Nutzung und/oder bebaubare Brachen stößt, bedarf es einer komplexen Regierungsweise zwischen Unterwerfung

Eine Linie wählen

und Indienstnahme durch die jeweils unterschiedlichen AkteurInnen, um Aufwertungsprozesse in Gang zu bringen. Der Mailänder Stadtteil Isola scheint in den letzten Jahren ein exemplarischer Fall von solch »softer Gentrifizierung« geworden zu sein. Uneinheitliche Bevölkerung, starker proletarischer und ­migrantischer Anteil, kaum größere Durchgangsstraßen, kleine öffentliche Parks, in denen sich die Anwohnenden treffen, das sind Ingredienzien, die die Übernahme durch Immobilienkonzerne nicht einfach gestalten  – und deren Begehren zugleich ins Unermessliche erhöhen.5 Isola, Insel, heißt das Quartier, weil es seit dem 19.  Jahrhundert begrenzt und in gewisser Weise auch geschützt war durch zwei Kanäle und ausgedehnte Schienenanlagen, die es von der übrigen Stadt abtrennten. Diese topische Trennung (bei gleichzeitiger Nähe zum Zentrum) wurde immer wieder taktisch für widerständige Aktivitäten genutzt. In verschiedenen Abschnitten ihrer Geschichte bot die Insel-Lage der Isola Schutz für auf der Flucht befindliche KommunistInnen, Kleinkriminelle und PartisanInnen. Bis in die 1990er-Jahre war das Quartier der Isola noch wenig von größeren städteplanerischen Eingriffsvorhaben gestört. Die Stecca, eine riegelförmige frühere Siemens-­Fabrik, wurde als Stecca degli Artigiani von Handwerkern, Vereinen und Kultur­ produzentInnen in Nutzung genommen, die angrenzenden Gelände von den Anwohnenden in Parks verwandelt. Ab 2001 stellte die Stadtregierung erste größere Entwürfe der geplanten »Aufwertung« der Öffentlichkeit vor. Anstelle der Stecca und der Parks sollten Büros, Parkplätze und ein Einkaufszentrum entstehen. 2005 überließ die Stadt schließlich den Großteil des für die Isola zentralen Garibaldi-Repubblica-Areals der internationalen Immobilienfirma Hines und der Ligresti-Gruppe. Soft-Gentrification, nicht nur in der Isola, beruht auf weichen Faktoren wie soft-ökologischer Propaganda und der Anrufung von Innovation und Krea­ tivität. Zentral ist dabei die vereinnahmende Rhetorik der Gemeinschaft und der Bürgerbeteiligung: Die Investoren geben vor, die Teilnahme aller an der 5 Zur Entwicklung der Isola, zu den Aufwertungsversuchen und zu den Strategien des künstleri-

schen und politischen Widerstands gegen Gentrifizierung vgl. »Insel-Industrie«, das fünfte Kapitel von Gerald Raunig in: Industrien der Kreativität. Streifen und Glätten 2, Zürich 2012, S. 51–66, in dem ich die folgende Schematik der vier Partizipationsebenen entwickle, sowie Isola Art Center (Hg.): Fight Specific Isola. Art, Architecture, Activism and the Future of the City, den umfassenden Band über die Geschichte der Isola, der demnächst bei Archive Books erscheinen wird. Für die Infos und die Möglichkeit des Andockens an die soziale Maschine der Isola bedanke ich mich von Herzen bei subcuratore Bert Theis, Mariette Schiltz und allen AktivistInnen der Isola.

79

80

Gerald Raunig

Planung zu sichern. In Wahrheit vollziehen sich hier Top-down-Prozesse, gesteuert von geschultem Personal und kulminierend in einer herrschaftlich spaltenden Logik des Ein- und Ausschlusses. Hier sind auch Mechanismen der Distribution als Trennung und vielfacher Einteilung zugange, die dominierende Dynamik bleibt aber jene der Partizipation, der Anrufung des Ganzen, die eine »einfache« Spaltung als Ein- und Ausschluss betreibt. Die Nicht-Konformen werden als verhandlungsunfähig denunziert und ausgeschlossen, die Eingeschlossenen üben sich in Selbstregierung. In diesem Prozess können allerdings vier Ebenen der Partizipation differenziert werden, die sich weitgehend über­ lagern und ineinander übergehen: repressive Eskalation als offensiver Ausschluss aus der Partizipation, Pseudo-Partizipation als impliziter Ausschluss, aktivierende Partizipation als einschließende Indienstnahme, mitentscheidende Teilhabe von Eliten als den »wahrhaft Partizipierenden«.6 Die erste Ebene ist eine Form der Eskalation, die auch gerne vermieden wird, weil sie unerwünschte mediale Bilder der Repression erzeugen kann. Und dennoch gab es auch im Fall der Isola ein Beispiel für die repressive Unterwerfung durch das in solchen Situationen oft komplizische Gefüge von Staatsapparat und kapitalistischer Maschine. Die Aktivitäten in der Stecca und um sie herum hatten für ihre transversale Praxis zwischen Kunst und avancierter Sozialität lokales, aber auch ein wenig internationales Aufsehen erregt. Deswegen mussten der Stürmung der Stecca durch Polizei und Hines-Bedienstete im Jahr 2007 massive mediale Kampagnen gegen die Projekte auf der Isola insgesamt vorausgehen, vor allem mithilfe der klassischen Aufhänger Drogenhandel und Kriminalität. Sofort nach der martialischen Stürmung des Gebäudes begann auch dessen Abriss, um damit ein für alle Mal die private Herrschaft der Immobilienfirma über das gesamte Gelände zu verdeutlichen. Wesentlich intensiver, offensiver und anhaltender betrieben als die repressive Strategie wurde und wird jene der Pseudo-Partizipation, die unter der Marke des community-building schon von Beginn an als Teil des Übernahmeprojekts verstanden wurde. In größeren Meetings, die für alle »offen« waren, warf Hines seine Propagandamaschine für einen Konsens zu den Bauvorhaben an. Der Mensch steht im Zentrum, l’uomo al centro, lautete 2008 einer der Slogans von Porta Nuova, wie das Gesamtprojekt sich nunmehr nennt. Diese Ebene ist 6 Zum Begriff des »wahrhaft Partizipierenden« vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung,

München 1992, S. 90.

Eine Linie wählen

besonders zynisch, weil sie Teilhabe an der Planung der Zukunft vorgaukelt und die pseudopartizipierenden »Teilhabenden« in Wahrheit jene Gruppe sind, die in Zukunft Gefahr laufen, durch erhöhte Mietpreise schnell aus ihrem Viertel vertrieben zu werden. Die dritte Ebene ist jene der Partizipation als Indienstnahme im engeren Sinn. Zivilgesellschaftliche Gruppen, Vereine und engagierte Einzelpersonen werden dabei animiert, »aktiver Teil« des Planungs- und Realisierungs­ prozesses zu werden, teilzunehmen an einem Prozess der Transformation ihres eigenen Umfelds. Ausgezeichnet vorbereitete RepräsentantInnen der Immobilien-Multis und der öffentlichen Verwaltung legen das Terrain des Handlungsspielraums und vor allem die Grenzen fest, innerhalb derer dann kleinere Diskussionen über eher nebensächliche Fragen geführt werden dürfen. Diese Vorentscheidungen über die Grenzen des Diskurses bedingen die Spaltung in Gut und Böse, in Integration der Dienstbaren und Ausgrenzung der Unbelehrbaren. Auch auf dieser Ebene zeigt sich die rhetorische Funktion der Partizipation, aber statt um die Alternative zwischen Resignation und Rebellion geht es hier um aktive Beteiligung an der Verschlechterung der Sozialität des Quartiers. Als aktiv Involvierte dürfen die »guten« Gruppen, die sich in Dienst nehmen lassen (von ArchitektInnen über FahrradhandwerkerInnen, Critical Gardeners und grüne DesignerInnen bis zu Umweltgruppen, die meisten von ihnen sicher mit guten Absichten), gute Miene zum bösen Spiel machen. Am Ende verspricht man ihnen die Unterbringung im glänzenden »Incubatore dell’Arte«, dessen Heizkosten sie sich allerdings aufgrund der schlechten Isolierungen nicht werden leisten können. Erst auf der vierten Ebene ereignet sich Partizipation im wahrhaften Sinn des Wortes, also mitentscheidende Teilhabe an den wichtigsten Fragen der Planung und Entwicklung: Das Studio Boeri – am Anfang noch auf der Seite der KritikerInnen des Bauvorhabens – erhält 2006 den Auftrag von Hines, die Planung für das Areal der Stecca und der Parks, die Porta Nuova Isola, durchzuführen. Das intellektuelle und mediale Kapital des lokalen Ex-documentaTeilnehmers Stefano Boeri (der im Herbst 2011 schließlich zum Kulturstadtrat von Milano aufsteigt) ist in der Entwicklungsphase Gold wert. Boeri übernimmt zugleich auch die Aufgabe, dem Projekt jenen ökologischen Touch zu geben, der die Creative Class anziehen soll. Ein »vertikaler Wald«, also ein paar ins Haus gepflanzte Bäumchen, soll eines der Hochhausprojekte behübschen und exakt

81

82

Gerald Raunig

auf dem vorher öffentlichen Terrain der alten Parks um die Stecca Hochpreiswohnungen unter dem Label Öko-Quartier zur Verfügung stellen. Neben Boeri ist noch ein anderer »wahrhaft Partizipierender« in der Isola sehr präsent: Manfredi Catella, der Direktor des italienischen Zweigs von Hines. Er ist nicht nur in die Bauprojekte involviert und am Kapital des Immobilien-­Multis beteiligt, sondern auch Gründer der Fondazione Catella. Die Stadt­verwaltung stellte der Stiftung als Sitz für 99 Jahre das einzige erhaltene Indu­striegebäude der Isola, ein ehemaliges Lagerhaus der Eisenbahn, zur Verfügung. Das aufwendig renovierte Gebäude dient heute als Propaganda-Zentrum für die Bauprojekte, von dem aus die Fondazione Catella sich als Instrument von Hines für die partizipative Befriedung, Aktivierung und Spaltung der Anwohnenden über das Quartier ausbreitet. Neben einem teuren Restaurant, einer selten benutzten Boccia-Bahn und einem Minipark mit Kinderspielplatz, dem Parco dei Diritti dei Bambini, beherbergt das Areal ein großes Modell der Bauprojekte mit Filmen und Info-Material. Im Entreé prangt der Slogan, der Catellas Vater ­Riccardo Catella zugeschrieben wird: »Partecipare è condividere.« So poetisch anmutend und salbungsvoll das Motto klingen mag, die Gleichsetzung von Partizipation und Condividualität ist grundfalsch. Das Studio Boeri und die Fondazione Catella sind die »wahrhaft Partizipierenden«, sie haben Anteil und ökonomische Vorteile, der partizipative Rest ist die Staffage für die massive Transformation eines Quartiers. con-dividere meint etwas grundsätzlich anderes.

Division

Die dritte Weise des Teilens ist die Division. Das lateinische dividere geht wahrscheinlich zurück auf eine indoeuropäische Wurzel *vidh- für »trennen«. Die Division ist in unserem Zusammenhang keine mathematische Operation, die einfach ein bestehendes Ganzes in gleiche Teile zerteilt. Sie ist keine Einteilung wie die Distribution, und sie ist auch keine Partizipation, kein Teilen als in Dienst nehmende Beziehung, als ständige Bezugnahme auf eine Totalität, auf ein umgrenztes Ganzes. Viel eher ist sie eine Teilung, die eine unbestimmt­verworrene Mannigfaltigkeit trennt und zugleich affirmiert. Diese Mannig­ faltigkeit muss weder als vorgängig noch als zukünftig Ganzes verstanden

Eine Linie wählen

­ erden, sie formt das ungeformte Immanenzfeld, auf dem Divisionen ihre w Linien ziehen. Die Teil-Weise der Division ist die Resingularisierung. In der Trennung setzt sie eine Singularität, die sich vom Mannigfaltigen abhebt und es zugleich affirmiert. Die Division nimmt Maß an der Mannigfaltigkeit, sie ist Maß-Nahme, kon- und disjunktive Verkettung von Maßnahmen. Die Division ist die Selektion einer Linie, sie wählt eine Linie aus. Sie ist das platonische Verfahren der Teilung.7 Platons Dialog Politikos ist nicht nur eine grundlegende Schrift über die politiké techne, die Regierungsweisen und die Verfassungsformen der griechischen polis, sondern auch implizite Demonstration und mehrfache Unterweisung in die platonische Methode der Teilung. Die Teilung, die dihairesis, ist keine einmalige Setzung, sondern vielmehr ein langer und gewundener Pfad. Der atrapos Platons (258c), der Weg, die Linie, die zu einer klaren Idee vom geeignetsten Staatskünstler führen soll, ist selbst nicht unbedingt gerade. Verwinkelt und bisweilen sprunghaft geht der Dialog der Frage nach, wie man aus der Vielheit der Erkenntnis und ihrer unterschiedlichen Geltungsbereiche eine Figur küren kann, die am geeignetsten für die Aufgabe, die Technik, die Kunst der Regierung erscheint. Auch wenn das Verfahren der Teilung nicht über einheitliche Regeln verfügt, so gibt es im Politikos einige explizite Anweisungen zu seiner Anwendung. Das Teilen dient zur Unterscheidung von Ideen, und das geht am besten durch klares Durchschneiden (témnein): »Schnitzeln ist hier nicht sicher«, lautet die Devise, »sondern weit sicherer, mitten durchschneiden!« (262b). Etwa die Teilung in Menschen und Tiere ist falsch, oder jene in Hellenen und Barbaren, weil sie die Unterscheidung von Art und Teil nicht treffen (262–263). Die Teilung in möglichst wenige Teile wird als beste Teilung beschrieben: Wenn es unmöglich ist, in zwei Teile zu teilen, soll in die nächstgrößere Zahl zerschnitten werden. (287c) Ein weiterer Ratschlag in Sachen guter Teilung geht dahin, nicht vom Ende her zu denken, »dass wir auf das Ende sehen oder eilen, um nur geschwind zur Staatskunst zu kommen«. (264a) Mit offenem Ergebnis und 7 Zur Teilung bei Platon vgl. den Aufsatz »Den Platonismus umkehren« von Gilles Deleuze, der 1967

zuerst auf Französisch in der Revue de métaphysique et de morale erschienen ist, von dem wesentliche Argumentationslinien in Differenz und Wiederholung aufgenommen wurden (hier vor allem S.  87–98) und der 1969 in überarbeiteter Form unter dem Titel »Platon und das Trugbild« im Anhang von Deleuzes Logik des Sinns (Frankfurt a.M. 1993, S. 311–324) veröffentlicht wurde.

83

84

Gerald Raunig

ohne Perspektive auf ein zu eng bestimmtes télos wird die Teilung am besten weitergetrieben, ohne Umwege zu scheuen, Sackgassen in Kauf nehmend, geduldig weiter prüfend. Das stärkste Bild der Teilung im Politikos, der Vorgang der Goldreinigung, führt in Sachen Ergebnisoffenheit eher in die gegenläufige Richtung: Es dürfte wohl untypisch für die Goldgewinnung sein, das Ende nicht im Blick zu haben. Bei Platon lesen wir dazu: »Erde und Steine und vieles andere sondern auch jene Arbeiter zuerst aus. Nach diesem aber bleibt ihnen noch in der Mischung das dem Golde verwandte, auch kostbare, nur im Feuer abzusondernde Erz und Silber, bisweilen auch Stahl, welches durch wiederholte Schmelzungen und Läuterungen mit Mühe abgesondert uns endlich das reine Gold an und für sich sehen lässt.« (303d/e) Goldgewinnung hat definitiv das reine Gold im Blick, scheint also der methodischen Forderung zu widersprechen, nicht auf das Ende zu sehen und nicht einfach geradlinig auf es zuzugehen. Platon will hier allerdings auf etwas anderes hinaus. Er benutzt das Bild der abgestuften Kon- und Disjunktion, der »wiederholten Schmelzungen und Läuterungen« hauptsächlich, um zu unterstreichen, dass das Verfahren der Teilung umso schwieriger und mühevoller wird, je weiter sie fortgeschritten ist. Verwandte Künste, Nachbarschaftszonen, Ähnlichkeiten bedürfen größerer Mühen der Teilung als die ersten, eher groben Richtungsentscheidungen. Das Schema der platonischen Teilung ist im Bild der Goldgewinnung dennoch gut wiedergegeben: »Den einen Teil davon lassen wir liegen, den anderen nehmen wir auf, und nachdem wir ihn aufgenommen, teilen wir ihn wieder in zwei Teile.« (261c) Die Teilung scheint ihren Weg als Kette von Setzungen zu gehen, als vielstufige Selektion, möglichst bis zum Ende des atomon eidos, eines nicht mehr ein- und unterteilbaren Begriffs, der keine Unterbegriffe hat. Doch diese Bewegung der Spezifizierung eines Begriffs von der größeren Art zur nächstkleineren ist nur oberflächlich im Zentrum des platonischen Verfahrens. Durch die scheinbar rigide Kette von Entscheidungen scheint eines immer hindurch: die Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten. Wenn es Platon im Politikos um die Frage nach dem besten Hüter der Menschenherde geht, dann tritt eine ganze Reihe von Anwärtern auf, die es sorgfältig zu unterscheiden gilt: Kaufleute, Bauern, Köche, Vorturner, Ärzte, Steuermänner, dann Söldner, Herolde, Wahrsager, Priester, schließlich Redner, Feldherren, Richter. Und es ist lange noch nicht gesagt, dass nicht unendlich viele weitere Anwärter auf ihren Auftritt warten, es bleibt offen, ob nicht hinter der nächsten Biegung der Linie

Eine Linie wählen

neue, überraschende Anwartschaften erfunden werden, die quer zu den Identifikationen einzelner Berufsgruppen stehen. Die unbestimmte Mannigfaltigkeit ist Voraussetzung und ständige Begleiterin der Teilung, und die Heterogenese wird im gewählten Pfad, in der einen, noch so diskontinuierlichen Linie affirmiert und resingularisiert. Dies ist nicht die aristotelische Form der Teilung einer Gattung in entgegengesetzte Arten. Sie spezifiziert nicht, sie wählt aus vor dem Hintergrund einer Vielheit von wählbaren Linien, die sich in der Verworrenheit der Mannigfaltigkeit zur Wahl stellen. Die Division ist weder Distribution, Einteilung, noch Partizipation, Bezug der Teile aufs Ganze. Sie ist nicht eine Aufspaltung in die eine und die andere Art, vor dem Hintergrund einer bestimmten Gattung. Kategorien, Gattungen, Arten sind hier nicht weiter unterschieden. Die Teilung ist als Division vielmehr die Auswahl einer singulären Linie aus dem mannigfaltigen Material. Teilung bedeutet die Setzung einer Linie, nicht zwei, duo, ambo. Im platonischen Verfahren steht das Ziehen der Linie selbst im Vordergrund, nicht die Zweiheit, nicht die Ambivalenz, die durch Zwiespaltung, Faltung oder Gabelung entsteht, oder das Dazwischen zweier Punkte. Die Linie wird nicht zwischen zwei Möglichkeiten gezogen, die Teilung affirmiert die eine Linie von mehreren, sie stellt Eindeutigkeit her. Platons Verfahren der Teilung kommt von der Mannigfaltigkeit, aber im Voranschreiten scheint es, als ob dieses Verfahren zusehends Teile abschneidet, ausscheidet. Lässt sich wirklich sagen, die Wahl der Linie löscht die Mannigfaltigkeit nicht aus, von der sie herkommt? Die Division ist bei Platon zweifelsohne (und ganz im Gegensatz etwa zum späteren Verständnis der divisio als Einteilung in Begriffspyramiden, vor allem im 12. und 13. Jahrhundert) ein launisches Verfahren, nicht vorherzusagen in ihrer Bewegung, ihren Brüchen und Sprüngen. Im Zustand der Unentschiedenheit und des unsicheren Ausgangs ist es auch einfach, die wilde, ungefügige und ungestüme Art der platonischen Teilung herauszustreichen. Und doch ist das Wilde mit Platon auf dem Weg der Domestizierung: Das Gold will gereinigt werden, der Staatskünstler/politikos gekürt, und aus der Fluchtlinie wird eine Stammlinie geworden sein, immer schon ihrer Genealogie gewiss. Im Politikos gibt es allerdings auch eine bemerkenswerte, kleine Ermächtigung, das Wilde zu denken, und zwar in Form einer Verwerfung. Ex negativo bringt sie uns auf die Spur jener Subjektivierung, die die Staatskunst nicht

85

86

Gerald Raunig

umfasst, nicht umfassen kann oder will, die der Teilung, insofern sie doch vom Ende her an das Ende als Ganzes denkt und in die Logik der Partizipation zurückfällt, noch etwas hinzufügt. Hier, in diesem Rest, verwandelt sich die Division in ein Potenzial der Dividualität, des Geteiltseins, das sich nicht auf die Linie als Stammlinie zurückzieht, sondern aus der Linie einen Strom macht und das in der Trennung nicht grundsätzlich der Verkettung entbehren muss. Noch relativ am Anfang des Dialogs, nach der Teilung in Unbeseeltes und Beseeltes, »Apsychisches« und »Empsychisches«, wird die Staatskunst dem Lebendigen zugewiesen, denn »die königliche Kunst hat ja nicht etwa Unbeseeltes anzuordnen wie die Baukunst, sondern edlerer Art besitzt sie an dem Lebendigen und über dieses immer ihre Macht« (261c). Der für uns relevante, darauffolgende Schnitt soll das Beseelte, das Empsychische, Lebendige ein weiteres Mal teilen: Die Sorge des politikos gilt nicht der Entstehung und Ernährung von Vereinzelten, sondern nur dem Gemeinsamen (koinos), der Herde (agele) (261d). Die monotrophia, die »Einzelfütterung«, die Betreuung des eigentümlichen Lebens, die Zuwendung zum Singulären, ist nicht Sache des Staatsmanns. Auch in der zusammenfassenden vorläufigen Definition wird die Funktion der politiké techne so beschrieben: Die Staatskunst ist die selbstgebietende Kunst über die Lebenden, und zwar nicht als Sorge für Einzelne, sondern für das Gemeinsame (275c). Während die Regierung der Gemeinschaft das Gebiet der Staatskunst umschreibt, ist das singuläre Leben Vereinzelter ihr extraterritoriales Anderes. An einer weiteren Stelle, in der das Thema wiederaufgenommen wird, gewinnt die Argumentation an Deutlichkeit in unserem Sinn, verschiebt sich die Einteilung in Gemeinschaft und Vereinzelte auf tithasoi/hémeroi (Zahme/ Menschen) und agrioi (Wilde): »Denn die es in der Art haben, sich aufziehen und bändigen zu lassen, nennen wir zahme, die es nicht haben, wilde« (264a). Diese Spaltung erinnert zunächst an die Regierungstechnik des Ein- und Ausschlusses, die wir als Komponente der Partizipation beschrieben haben. Die Herde der Zahmen ist hier die eingeschlossene, einschließende und umgrenzte Totalität, das Kollektiv-Objekt der Staatskunst, das den Ausschluss der vereinzelten Wilden, der Ungefügigen, der Unbelehrbaren nach sich zieht. Inhaltlich geht Platon hier also den Weg der organischen Repräsentation, der Gemeinschaft, der Partizipation. Doch auf der Ebene des Verfahrens bleibt die platonische Methode der Division durchaus von den Regierungsweisen der Partizipation unterscheidbar. Es

Eine Linie wählen

liegt an uns, eine immanente Umkehrung der Figur des Unregierbaren zu vollziehen, statt eines Ausschlusses die Affirmation dieser Figur zu betreiben: Es gibt Lebensweisen, die sich als agrioi der Staatskunst entziehen, sich nicht bändigen lassen, nicht der Sorge des politikos unterliegen wollen. Ungefügig, unerzogen, ungezähmt wollen sie nicht zur Gemeinschaft der Regierten gehören. Sie leben unter der Devise der Dividualität, geteilt, getrennt, als Vereinzelte. Dass diese Ungefügigen vereinzelt, aber nicht vereinheitlicht, vergemeinschaftet, verherdet leben, muss allerdings nicht jede Verkettung unmöglich erscheinen lassen. In den Nachbarschaftszonen von Division als Verfahren der Teilung und Dividualität als geteiltem Leben blitzt gerade eine vierte Kategorie des Teilens auf, ein orgisches Sich-Verteilen, das die prä-existierende Ordnung, den Besitz, die ökonomische Perspektive und die herrschaftliche Spaltung in Normale und Anormale in Unordnung bringt. Springend, sprunghaft, monströs, und dennoch in der Potenzialität der Verkettung. Partecipare è condividere? Nein, eben gerade nicht. In einer Mannigfaltigkeit von Einzelnen muss nichts mehr oder weniger am Ganzen partizipieren. Orgische Weisen der Teilung durchwehen die Spaltungsmechanismen der organischen Teilung, eine wilde Condividualität verstört die wahrhaft Partizipierenden. Nichts wird aufs Ganze bezogen, die Mannigfaltigkeit bezieht sich auf die Singularitäten. Nichts ist distributiv, die Teile begrenzend und abtrennend, der Condividualität wohnen Dis- und Konjunktion inne.

Orgische Verteilung und Condividualität

Ringsum schießen schon die Wolkenkratzer aus dem Boden, sie stülpen sich über die alten Wohnanlagen und begradigen die überraschenden Perspektiven in der Isola. Der Fetisch der Transparenz glättet die Straßen, Piazzette und Sackgassen, er setzt sich durch bis in die letzten Ecken, und die Putzwut der Neo-Bourgeoisie verdrängt die gestreiften Terrains der Anwohnenden. Doch es gibt in diesem Spiel nach wie vor auch Wilde, die nicht teilhaben, sich nicht in Dienst nehmen lassen, die Unregierbaren, die SpielverderberInnen, die keinen vertikalen Wald wollen, dafür einen pepe verde. In der Nachfolge des 2001 gegründeten Isola Art Project, der Isola d’Arte und des nomadischen Isola Art Center, das seit 2007 in der Diaspora die Geschäfte, Buchläden, Gemeinschaftszentren und Rollläden der Isola mit künstlerischen Arbeiten, politischen und

87

88

Gerald Raunig

diskursiven Veranstaltungen bespielt und seine kämpferische Praxis als fightspecific bezeichnet, gerät nun ein grüner Fleck an der Via Pepe in den Fokus der Wunschproduktion im Quartier. Isola Pepe Verde ist der Name des neuen Projekts derer, die sich der Partizipation, dem Gehorsam, dem Mitmachen an den »tavoli di partecipazione«, der (Selbst-)Domestizierung in den Inkubatoren der Kreativindustrie weiterhin verweigern. Die wahrhafte Condividualität gibt es nur für jene, die die Division als prüfende Selektion vollziehen, als Dividuen geteilt leben, zugleich aber als Condividuen ihre Assoziation betreiben: Teilung und Verkettung, Disjunktion und Konjunktion jenseits von distributiver Einteilung und partizipativem Einschluss. Wenn Catella und Boeri die wahrhaft Partizipierenden der Isola sind, dann wird die Praxis von Isola Pepe Verde eine wahrhafte Condivision. Die Grünfläche ist zwar nur ein Bruchteil der früheren Fläche der Stecca, an deren Stelle inzwischen wirklich schon die Bäume auf die Hochpreis-Terrassen montiert worden sind. Doch pepe verde, »der grüne Pfeffer«, verspricht, den neuen ProtagonistInnen der Porta Nuova die Übernahme nicht leicht zu machen. Auf die Räumung der Stecca, auf die Jahre der Deterritorialisierung des Isola Art Center, der Ausbreitung auf das ganze Viertel, folgt nun die Besetzung der Isola Pepe Verde als neuerlicher Akt der Reterritorialisierung. In den nächsten Jahren soll an diesem kleinen grünen Fleck am Eingang zur neuen Isola der »kreativen Klasse« ein Prozess der kollektiven Planung und Wunschproduktion die zerstreute Mannigfaltigkeit der Isola verdichten und aus dem Grünraum einen sozialen Raum der Condividualität machen. Vielleicht gelingt es den AktivistInnen der Isola zuletzt sogar, die Grenze zwischen den Wilden und den Gezähmten zu verschieben und ein paar von den Hinzugezogenen in ihr condividuelles Geschäft hineinzuziehen. Jedenfalls ist die eindeutige und wilde Fluchtlinie der Isola noch lange nicht an ihr Ende gelangt – pepe verde spricht eine eindeutige Sprache und lässt eine lange Zeit offene Baustelle erhoffen, eine unbegradigte, unordentliche, unsaubere, auf Dauer unfertige Störzone. Möge die Creative Class vor der revolutionären Eindeutigkeit zittern. Die Mannigfaltigkeit hat nichts in ihr zu verlieren, auch nicht ihre Verkettungen. Sie hat eine Welt zu gewinnen.

Peter J. Schneemann

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers   1

Im Rahmen der documenta von 2007 konnten die Besucher einen Film betrachten, den man als Kommentar zum Verhältnis von Kunst und Politik unter dem Aspekt des Rezipienten und seiner Rollen begreifen möchte. Er zeigt das Aufeinandertreffen von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. So gegenläufig ihre Überzeugungen und Interessen sind, zeigen sie doch eine Gemeinsamkeit: Jede der vom Künstler eingeladenen Gruppen, ob Katholiken, Juden, Nationalisten oder Linke, operiert mit Bildern. Es sind Symbole, mit denen sie ihre Identität kundtun. Die Zeichen sind eindeutig, gut lesbar und die Relation zwischen Aussage und Bild ungebrochen. Das bildliche Vokabular ist determiniert durch eine starke geschichtliche Dimension, verbindliche Ikonografien. Die Tradition, die in der Identifikation mit den visuellen Gesten liegt, schreibt sich in ihrem repetitiven Einsatz fort, gebunden an agierende Personen, die den ersten bildlichen Entwurf ihrer politischen Überzeugung als T-Shirt-Druck überziehen. Die 27-minütige Videoarbeit Them (2007) des polnischen Künstlers Artur Żmijewski lässt die Interaktion innerhalb der Gruppe zu einer Versuchs­ 1

Der Aufsatz stellt Ergebnisse des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützten Forschungsprojektes »Konstellationen der Kunstbetrachtung in der Moderne und der Gegenwart« vor. Einige der Überlegungen wurden auch im folgenden Essay vorgelegt: »Spielräume. Die Ausstellung als Bühne für das Publikum – zwischen Entmündigung und Ermächtigung«, in den Akten des Kolloquiums »Les lieux d’exposition et leurs publics«, Université de Neuchâtel 2012.

90

Peter J. Schneemann

Abb. 1: Artur Żmijewski: Them, 2007, Filmstill.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

anordnung werden  – welche Kommunikation ist möglich? Können die visuellen Manifestationen Grundlage sein für Prozesse der Annäherung, der Toleranz, des Verhandelns? (Abb. 1) Die Zuschauer des Films werden zu Zeugen eines Experiments, so wie Żmijewski bereits in früheren Arbeiten nicht nur die ästhetischen Qualitäten von Humanexperimenten in den Kunstraum verschob, sondern auch den situativen und performativen Charakter künstlerischer Wirkungsmodelle mit dem Beobachtungsmodus eines wissenschaftlichen Versuchsaufbaus verknüpfte.2 Die Spielregeln schienen minimal zu sein und zeigten ihre Radikalität nur implizit: Jede der vier Gruppen produzierte ein bildliches Werk, das ihre Überzeugungen, Werte und Ziele verkörpern sollte. In weiteren, sich steigernden Schritten durften die Gruppen wechselseitig die Werke der anderen verändern, sie in ihrem Sinne korrigieren. Die vier Begegnungen, verteilt über mehrere Wochen, sind geprägt von einer immer stärker werdenden, persönlicheren Abgrenzung gegenüber den Überzeugungen des Kollektivs der Anderen. Das Setting spiegelt tradierte Erwartungshaltungen an Kunst und Kreativität wider. Über den kreativen Ausdruck, so antizipiert der Betrachter des Films, beginne eine Selbstreflexion, die Wahrnehmung des Anderen im Zeichen der Toleranz werde möglich. Der Film unterläuft jedoch eine solche vermeintliche Botschaft. Die Auseinandersetzungen, die er aufzeichnet, werden im Verlauf der Sitzungen immer aggressiver und münden in ikonoklastischen Akten. Die Symbole werden verbrannt, die Bildträger aus dem Fenster befördert, die T-Shirts zerschnitten; zurück bleibt Asche. Die Eindeutigkeit der von den Teilnehmern verwendeten Bildsprache behindert jede konstruktive Auseinandersetzung und führt zu einem Dokument des Scheiterns. Denn die Bilder werden zum Medium von Stereotypen, sie halten die Protagonisten in ihren Rollen gefangen. Werden wir also Zeugen der Dekonstruktion einer Erwartungshaltung, die geprägt ist von der verbindenden und pazifistischen Wirkung der Kunst? 2 Artur Żmijewski realisierte 2005 für die Biennale in Venedig die Arbeit Repetition, die das Stanford-

Prison-Experiment zwischen den Gefangenen und Wärtern (1971 vom amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo an der Stanford Universität durchgeführt) reinszenierte. Vgl. dazu den hervorragenden Text von Elisabeth Fritz: »Reality Art«, in: Susanne Knaller und Harro Müller (Hg.): Realitätskonzepte in der Moderne. Beiträge zu Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft, München 2011. Vgl. auch Elisabeth Fritz: Real Life – Real People. Mediale Experimente mit ›echten Menschen‹ in der zeitgenössischen Kunst zwischen Authentizität, Partizipation und Spektakel (Dissertation), Graz 2012.

91

92

Peter J. Schneemann

Der Film zeigt eine beunruhigende Macht der visuellen Sprache; über sie entladen sich Ideologien und Aggression, Glaube und Hass. Zum Ende hin wird ihre Übersetzung in Slogans und Parolen unausweichlich. Das Werk von ­Żmijewski geht damit weit über eine Analyse der spezifischen Situation in Polen hinaus und adressiert zentrale Diskurse um die unmittelbare gesellschaftliche Involviertheit der Kunst, ihrer Wirkungen, ihrer Utopie-Produktion. Der Künstler und Kurator äußert sich in seinen Texten und in Gesprächen explizit zu Fragestellungen des Wirkungsanspruchs von Kunst. Żmijewski be­ zieht sich auf die Diagnose von Peter Bürger, dessen 1974 vorgelegte Schrift Theorie der Avantgarde die Aufgabe des gesellschaftlichen Wirkungsanspruchs der Kunst zugunsten des Autonomieprinzips beschreibt.3 In Żmijewskis ­Aufsatz »Angewandte Gesellschaftskunst«, der 2007 erstmals auf Polnisch erschien, heißt es: »Die Autonomie der Kunst realisierte sich somit als ­›Mangel an Effekten‹. Seitdem zeigt das Wirken der Kunst keine verifizierbaren oder ­sichtbaren Effekte. Der Mangel, den Peter Bürger in Bezug auf die bürgerliche Kunst formulierte, übertrug sich auf die Hochkultur.«4 Dezidiert setzt er sich gegenüber einer Begrifflichkeit der Ambivalenz ab. Ebenso kritisch betrachtet er die Inanspruchnahme eines Autonomiebegriffs für den Rückzug der Kunst aus der gesellschaftlichen Realität. Er pocht auf die Verbindlichkeit von ­Künstler und Kunst: »Either you present a message so ambiguous that the viewer gets ­confused, or the thing is so precisely told, so openly critical about some element of reality, that it can be comprehended.«5 Żmijewski reflektiert extensiv über die Bildmacht und ihre »realen Situationen«.6 Es ist dieser Wirkungsanspruch an die Kunst, der sein Werk für mein Interesse am Entwurf der Rolle des Betrachters durch Künstler und Institution, durch Kunstwerk und Situation so bedeutsam werden lässt. Wir verfolgen Prozesse der Ermächtigung wie auch der Entmächtigung. Die Bildakte sind ­eingebunden in ein Zeigen und Deuten, in Aneignung, Instrumentalisierung 3 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, S. 78. 4 Artur Żmijewski: »Angewandte Gesellschaftskunst«, in: Kathrin Becker (Hg.): Artur Żmijewski.

Ausgewählte Arbeiten, Neuer Berliner Kunstverein, Berlin 2007, S. 126 (Kat. Ausst.). 5 Artur Żmijewski im Interview mit Michal Wolinski: »Artur Żmijewski on Them«, in: Metro­-

polis 5 (2007), http://metropolism.com/magazine/2007-no5/beeldenstorm/english (aufgerufen: 5.11.12). 6 Żmijewski: »Angewandte Gesellschaftskunst«, in: Artur Żmijewski. Ausgewählte Arbeiten, a.a.O., S. 135.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

und Verweigerung. Alle Gesten der Kommunikation sind eingeschrieben in Machtkonstellationen, die geprägt sind von Rollenverhalten. Welche Rolle geben wir den Kunstbetrachtenden zwischen Freiraum und Regelwerk? Welche Möglichkeiten bestehen, die Kunstbetrachtung als kollektive Leistung zwischen Instrumentalisierung und freier Verhandlung in der Kunst der Gegenwart zu beschreiben?7 Im Experiment haben die aufzeichnende Kamera und der Beobachter eine konstitutive Rolle; mich interessiert die Doppelung: In der Videoarbeit von Żmijewski beobachten wir Menschen in ihrem gemeinschaftlichen Umgang mit Bildern. Das Kunstpublikum schaut auf Protagonisten und Rollen, die in großer Distanz zum Kunstbetrieb zu situieren sind. Die Realität der Auseinandersetzung, die Handgreiflichkeiten und die Rollenzuschreibungen, die aus der Benennung der jeweiligen Interessensgruppe hervorgehen, stehen diametral den neuen Ideen entgegen, die in sogenannten Blicklabors in Regensburg oder Wien im Rahmen von eyetracking-Projekten8 die Kunstbetrachtung auf anthropologische, physiologische und psychologische Konstanten hin überprüfen möchten. Was sehen wir also? Die Dokumentation eines therapeutischen Modells? Betrachten wir ein Schauspiel, das für uns inszeniert wurde? Handelt es sich beim Setting um eine Bühne oder werden wir zu Zeugen, deren anonymer Blick von den Handelnden nicht realisiert wird? Und der Künstler – ist er der Therapeut? Der Zeigende und Weisende? Welche Rolle hat die Empathie gegenüber der distanzierten, analytischen Lektüre einer grausamen Intensität? Kameraführung und Organisation werden nicht offengelegt. Die aufzeichnenden Geräte werden nur am Rande sichtbar – ihre Position aber ist in keiner Weise geklärt. Die Zusammenkunft wird unter dem Begriff des Spiels, »the game«, mit einem Regelwerk inszeniert, dessen Abwesenheit behauptet wird, sich aber als radikal erweist. Mich interessieren Entwürfe des Betrachters, und ich misstraue der großen Narration von seiner Befreiung, Aktivierung und Emanzipation. Das­

7 Vgl. für eine Diskussion des kollektiven »Wir« und die Vorstellung des Kunstraums als Erschei-

nungsraum Irit Rogoff: »We. Collectives, Mutualities, Participations«, in: I promise it’s political. Performativität in der Kunst, Museum Ludwig Köln, Köln 2002, S. 126–133 (Kat. Ausst.). 8 Christoph Wagner, Mark W. Greenlee und Christian Wolff (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmungsprozesse und Visualisierungsformen in Kunst und Technik, Regensburg 2012.

93

94

Peter J. Schneemann

Politische der Kunst, das politische Potenzial der Kunst, soll in meinem Beitrag im ­Entwurf des Kunstrezipienten durch den Künstler verstanden werden.9 Mit welchen Blickführungen und welchen Gesten schreibt das künstlerische Subjekt die Rolle des idealen Publikums, des individuellen Betrachters fest? Ob es sich um die Formulierung einer Botschaft handelt, wie sie Żmijewski fordert, ob der Entwurf eines Freiraums in der Lektüre geleistet werden soll, ob wir den Imperativ zur Interaktion betrachten, der Museumsinstallationen zunehmend beschildert – immer muss die künstlerische Strategie Stellung beziehen zu der Frage nach dem imaginierten Rezipienten und dessen Lenkung. Selten wird erörtert, welche Positionen die Betrachter einnehmen dürfen, jenseits von Regieanweisungen durch Künstler und Institution.10

Wirkungsansprüche und Publikum

Kunst, die sich im gesellschaftlichen Kontext verortet, kommt nicht umhin, sich mit dem Anspruch auf realitätsbildende Wirkung auseinanderzusetzen. Wenn Künstler wie Żmijewski, Santiago Sierra, Thomas Hirschhorn oder auch Gregor Schneider eine breite öffentliche Resonanz erleben, die eine eigene, sich verselbstständigende mediale Aufmerksamkeit generiert, so sind sie mit den Regelwerken ihrer Rhetorik konfrontiert. Werkformat und Wirkungsstrategie sind meines Erachtens nicht mehr sinnvoll zu trennen. Sowohl Reaktionen des Schocks, der Überwältigung, der Empathie und Aggression als auch Strategien der Täuschung, der Provokation, der Verführung und Einladung, des Befehls oder der Anklage verweisen auf die Möglichkeiten einer Kunst, die sich zu ihrem appellativen Charakter bekennt.11 Dabei wird gleichzeitig deutlich, dass Kommunikationsmodelle zur Anwendung kommen, die eine eigene politische Dimension besitzen. Sie scheint auf, wenn es um Disziplinierung und Erziehung des Publikums geht. Oliver Marchart hat diese Strukturen insbesondere

9 Vgl. zur Debatte Tobias Huber (Hg.): INAESTHETIK – Nr. 1. Politics of Art, Zürich, Berlin 2009. 10 Ich greife im Folgenden einige Beispiele und Überlegungen auf, die ich 2011 bei der VKKS-Tagung

»Ausstellungsorte und ihr Publikum«, organisiert von Valérie Kobi und Thomas Schmutz, entwickelt habe. 11 Vgl. zum Begriff des Appells unter Berücksichtigung der Sprechakttheorie Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a.M. 1994, S. 413.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

im Zusammenspiel von Kunst und Institution mit dem Schwerpunkt auf den Machtverhältnissen im Kunstfeld analysiert.12 Wirkung misst sich an der Reaktion und diese wird auf das Werk zurückgeführt. Sehr gut kann dies in den Bezeugungen von Bildmacht nachvollzogen werden. Den Erscheinungsformen, dem Sichtbarwerden dieser Wirkung kommt eine validierende und konstitutive Funktion zu; dies ganz besonders im Falle der sogenannten engagierten Kunst. Im Vollzug der Wirkung schlägt das Symbolische ins Authentische und Reale um. Man muss noch einen Schritt weitergehen, denn dieser Status der Wirkungsbezeugung durchläuft ein weiteres Stadium und wird in gewissem Sinne zurückverwandelt in eine deutlich geformte und symbolische Qualität. Oder – anders beschrieben – sie löst sich vom Werk, verselbstständigt sich, wird zum Dokument, das darauf wartet, wiederbelebt zu werden, indem es nachgelebt wird. Beispiele finden sich im sogenannten culture war in den Vereinigten Staaten,13 der die öffentliche Diskussion um die zeitgenössische Kunst bis heute immer wieder prägt. Dabei rückt die Nachricht von der individuellen Wahrnehmung des Werks, der Bericht über Situationen an die Stelle des realen Kunstobjekts. Besonders interessant scheint dabei zu sein, dass sich Informationen über die Beschaffenheit des jeweiligen Werks, etwa seine Materialität, verschieben. Auf der einen Seite beruht nicht selten der Skandal in einer Auflösung der Differenz zwischen Darstellung und dargestelltem Gegenstand, auf der anderen erfolgen Zensurmaßnahmen, ohne dass das konkrete Werk im Original betrachtet wurde. In dieser Dimension der Wirkmacht als einer Referenz auf fremde Handlungen und Berichte werden höchst komplexe Konstellationen deutlich. Man mag dabei auch an Gregor Schneiders Biennale-Arbeit Cube Venice von 2005 denken. Hier war es die Präsentation des Konzepts, in dem der Künstler Hinweise auf mögliche Lesarten gab, die ein Wirkungspotenzial versprachen, das zur Zensur führte. Der schwarze Kubus, das minimalistische, referenzlose Vokabular der Moderne wurde plötzlich als mögliches Ziel für Terrorakte

12 Oliver Marchart: »Die Institution spricht. Kunstvermittlung als Herrschafts- und als Emanzipa-

tionstechnologie«, in: Beatrice Jaschke u.a. (Hg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien 2005, S. 34–58. 13 Vgl. zum Begriff des culture war Roger Chapman: Culture Wars. An Encyclopedia of Issues, Viewpoints, and Voices, New York 2010; Bruno Latour und Peter Weibel (Hg.): Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art, Karlsruhe 2002; James Davison Hunter (Hg.): Culture Wars. The Struggle to Define America, New York 1991.

95

96

Peter J. Schneemann .

gewaltbereiter Islamisten identifiziert. Als später doch noch an einem anderen Ort ausgeführtes Werk, präsentiert im Kontext eines Museums, blieb es nicht nur diese Wirkmächtigkeit schuldig, sondern erschien als Rekonstruktion seiner selbst. Diese wurde selbstverständlich begleitetet von der Erzählung seiner Projektgeschichte und dem Konzept der ursprünglichen Rezeptionssituation.14 Der Diskurs um die Wirkung entwarf die Vorstellung einer spezifischen Gruppe, der das Potenzial radikaler Reaktionen zugesprochen wurde – einen terroristischen Anschlag auf Venedig zu verüben. Die verallgemeinernde Identifikation solcher Gruppen von Rezipienten verrät sich immer wieder dadurch, dass sie die Qualität einer kunstfremden, unwissenden, authentischen Position erfüllen müssen. Die Unmittelbarkeit und Intensität der Reaktion mag man also in gewisser Weise als Missverstehen der konzeptuellen Geste begreifen. Der Verweis auf die Bedeutung des schwarzen Quadrates in der Geschichte der Abstraktion scheint sich dagegen an eine andere Zielgruppe zu richten, informiert über die Selbstreferentialität der Kunst und der distanzierten Narration. Mit dieser Beobachtung stellt sich die Frage der weltkonstituierenden Wirkung des Bildaktes, als Moment der Interaktion zwischen Kunstwerk und Rezipient, wie sie etwa von Sybille Krämer in ihrem erhellenden Text »Gibt es eine Performanz des Bildlichen? Reflexion über ›Blickakte‹« diskutiert wurde, noch einmal neu.15 Eine Reaktion, die nicht mehr zwischen Bild und Realität unterscheidet, wird als zentraler Moment der Bildmacht diskutiert.16 Die Aufhebung dieser Grenze durch das Rezeptionsverhalten des Betrachters könnte man sicher auch in den von Żmijewski dokumentierten Szenen herausarbeiten. Gleichzeitig wird jedoch das situative gesellschaftliche Regelwerk deutlich, in dem sich diese Wirk­erzählung vollzieht. Der kunsthistorische Diskurs um die Bildmacht 14 Gregor Schneiders Arbeit Venice Cube wurde in der internationalen Presse besprochen. Vgl. dazu:

»Kunst im Zeitalter des globalen Terrorismus. Eine Chance zur Verständigung wurde vertan. Amine Haase im Gespräch mit Gregor Schneider«, in: Kunstforum International 177 (2005), S. 318; Ludwig Seyfarth: »Gregor Schneider – Strategie eines Kubus. Schöner Grössenwahn«, in: artnet. com, 2.4.2007, http://www.artnet.de/magazine/gregor-schneider-strategie-eines-kubus/ (aufgerufen: 6.11.2012); R. Jay Magill: »For Gregor Schneider’s Cube, a Long Pilgrimage«, in: The New York Times, 16.04.2007, http://www.nytimes.com/2007/04/16/arts/16iht-cube.1.5303319. html?pagewanted=all (aufgerufen: 6.11.2012). 15 Sybille Krämer: »Gibt es eine Performanz des Bildlichen? Reflexion über ›Blickakte‹«, in: Ludger Schwarte (Hg.): Bild Performanz. Die Kraft des Visuellen, München 2010, http://userpage.fu-berlin. de/~sybkram/pages/de/downloads.php (aufgerufen: 5.11.2012). 16 Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno Vorlesungen 2007, Frankfurt a.M. 2010.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

bezieht sich allerdings häufig auf eine Interaktion, die auf neurophysiologische, anthro­pologische Konstanten hinausläuft. David Freedberg stellte 1991 die These auf, die Bildmacht wirke jenseits aller kontextueller Bedingtheiten: »However much we intellectualize […]. Here still remains a basic level of reaction that cuts across historical, social and other contextual boundaries.«17 Bei Żmijewski rücken Protagonisten ins Blickfeld, die ohne einen Kunstbegriff operieren. Ihr Verhältnis zu den entstehenden Bildern ist ungebrochen, ihre Handlungen sind reale, persönliche, emotionale Interaktionen. Aus der Distanz heraus, etwa im Kontext einer documenta, verschiebt sich die Perspektive völlig. Im wechselseitigen Eingreifen in die Bildproduktion der anderen scheinen die künstlerischen Gesten der Avantgarde auf, die Möglichkeiten der Selbst­befragung der Kunst: die Übermalung der Symbole, ihr Ausschneiden, die Zerstörung der Bildfläche, die Collage und Assemblage, das Spiel mit Wort und Bild, die Erweiterung in den Raum, der Einbezug der Körper, die Zerstörung – der Kunsthistoriker entziffert ein dichtes Referenzsystem, das von Arnulf Rainer bis Yoko Ono reicht. Die Überlegungen zur Position des gut unterrichteten Kunstpublikums, das die ungebrochenen Gesten der Protagonisten als symbolische Akte, als Kommentar zu den Möglichkeiten der Kunst deuten kann, führt mich zur Frage nach den Handlungen und Anweisungen im Museumsraum, in dem durch die Aktivität der Besucher ein selbstbestimmter politischer Akt versprochen wird. Der Freiraum zeigt sich plötzlich als minimales Regelwerk, dessen Anweisungen fast zynisch wirken. Die Sprechakte der Institution bilden einen Kontext, der im autoritären Gestus Rollenzuweisungen vornimmt. Durch die Handlungen der aktivierten Rezipienten sollen beschränkte Konzepte der Relevanz validiert werden: Das autonome Kunstwerk der Moderne, als großer minimalistischer Block, wird in der gesellschaftlichen Realität zu verankern versucht, indem es durch seine Farben und den Titel auf die Umwälzungen in Ägypten verweist. Darüber hinaus lässt uns die US-amerikanische Künstlerin, die unter dem Pseudonym Norma Jeane auftritt, wissen, dass eine Beteiligung am Kunstwerk ausdrücklich gewünscht sei.18 (Abb. 2) Das Schild an der Wand erteilt die

17 David Freedberg: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1991,

S. 22. 18 Norma Jeane, #Jan25 (#Sidibouzid, #Feb12, #Feb14, #Feb17…), 54. Biennale Venedig 2011. Die Stadt

Sidi Bouzid war der Ausgangspunkt der Revolution in Tunesien und des »Arabischen Frühlings«.

97

98

Peter J. Schneemann

Erlaubnis, die Arbeit zu berühren, man dürfe auch »spielen«. Diese Aufforderungen stehen für eine programmatische Erweiterung des Regelwerks, das uns heute anspricht. Es ist ein Versprechen, das Zeigen, das Ausstellen der Kunst als »Disziplinierungsmaschine«19 zu einer Bühne der Selbstermächtigung umzudeuten. Die Liste der verbotenen, ausgegrenzten Verhaltensweisen ist uns bekannt und zeigt nicht selten eine ganz eigene Qualität: keine kommerziellen Tätigkeiten, kein Betteln, keine körperliche Ertüchtigung und, natürlich ganz wichtig: nicht benutzen, nicht berühren. Diese Rhetorik des Verbots hat sich inzwischen radikal gewandelt in eine Aufforderung zu performen, sich auf den Rücken zu legen, zu singen, zu schreien, sich in Gruppen zu bewegen oder zu vereinzeln. Es lohnt sich, die Sprache der Einladung, der Anweisung, der Warnung und gleichzeitigen Einschränkung genauer zu lesen. Die Bitte, das Ausrufezeichen, die Bedeutungszuschreibung der Haltung, die bildliche Vorlage, die Beschränkung der Haftung – die kommunikativen Akte, mit denen das Publikum angesprochen wird, folgen autoritären Gesten.20 Die letzte große Aktivierungsausstellung Move, die zunächst in der ­Hayward Gallery gezeigt wurde, dann nach München reiste und schließlich in der Kunstsammlung NRW das Publikum ansprach, versammelte Positionen partizipativer Kunstpraxis seit den sechziger Jahren.21 Der Untertitel beschrieb das programmatische Ziel: »Choreographing You«. Hier konnte man eine beeindruckende Kakophonie der Anweisungen verfolgen. Die künstlerischen Anleitungen fanden sich ergänzt durch hilflos wirkende, von Hand auf schwarze Tafeln geschriebene Anweisungen des Aufsichtspersonals: »Hängen Sie sich in die Seile, aber bitte nicht schaukeln«. Der großzügigen Knet-Einladung im Zentralpavillon in Venedig 2011 musste selbstverständlich gleich auch eine ganz pragmatische Regel folgen. Der Durchgang möge bitte verschont werden

Am 25. Januar 2011 begannen die Proteste in Ägypten; vgl. Bice Curiger (Hg.): Illuminations. La Biennale di Venezia, 54. Esposizione Internationale d’Arte, Mailand 2011, S. 212f., S. 512. 19 Marchart: »Die Institution spricht. Kunstvermittlung als Herrschafts- und als Emanzipationstechnologie«, in: Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, a.a.O. 20 Sandra Umathum und Stefanie Rentsch: »Vom Gehorchen. Über das Verhältnis von Handlungsanweisungen und ästhetischer Erfahrung«, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006, http://www.sfb626.de/veroeffentlichungen/online/aesth_erfahrung/aufsaetze/umath_rentsch.pdf (aufgerufen: 5.11.2012). 21 Stephanie Rosenthal (Hg.): Move. Choreographing You. Art and Dance Since the 1960s, Haus der Kunst München, Köln 2010 (Kat. Ausst.).

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

Abb. 2: Norma Jeane, #Jan25 (#Sidibouzid, #Feb12, #Feb14, #Feb17…), 54. Biennale Venedig 2011.

99

100

Peter J. Schneemann

von der mächtigen kreativen Geste der solcherart aktivierten Betrachter. Die Wochen zogen dahin und das internationale Biennale-Publikum griff freudig zum Plastilin, um seiner politischen Position Ausdruck zu verleihen. Das Ergebnis der Knetorgie ist als relativ ernüchternd zu beschreiben: Was sah man vor sich? War man etwa mit dem Beleg konfrontiert, dass es, zumindest bei diesem Publikum, am Potenzial einer politischen Formgebung mangelt? Kann man die erstaunliche Homogenität im harmlosen Kleben als Scheitern eines Kindergartenexperiments deuten? Claire Bishop hat in überzeugender Art und Weise über die Schwierigkeiten reflektiert, die realen Betrachter, ähnlich einer soziologischen Studie, zu befragen und daraus Schlussfolgerungen über das Funktionieren eines Kunstwerks abzuleiten.22 Im Falle des Plastilin-Angebots schwärmen die Blogger und Foristen im Netz von einem selten starken Werk: »One of the most powerful – and fun – exhibits I encountered at the 2011 Venice Biennale was by the alias Norma Jeane. It’s an interactive installation meant to break down and transform over time as visitors engage with it. […] The result is overwhelming and moving.«23 Jenseits der Evidenz dieser konkreten Besuchererfahrungen ist es der Entwurf des plakativen und beinahe zynischen Skripts für die Besucher, das für mich diesen Beitrag zum Beispiel des nightmare of participation werden lässt, um sich an den Titel der Essaysammlung von Markus Miessen anzulehnen.24 Die politische Dimension entfaltet sich weniger im Verweis auf eine Revolution als auf einen Partizipationsbegriff, der von jeder Parkbank mit eingeschnitzten Herzchen an Radikalität übertroffen wird. Beim Herausgehen fällt übrigens der Blick auf eine Kamera, die das bunte Treiben dokumentiert oder überwacht. Unmittelbar fühlt man sich an die Modelle von Gruppen des Publikums erinnert, die in der Geschichte der Diskussion um die Position der Kultur in der Gesellschaft die fragwürdigsten Festschreibungen erhielten und in den Modellen der Kunstvermittlung ebenso wie in der Marketing-Sprache der Institutionen ein problematisches Revival erleben. Unter dem Titel The Tastemakers

22 Claire Bishop: »Who Are the Participants? Why Do They Get Involved? What Do They Think?«, in:

Claire Bishop u.a. (Hg.): Thomas Hirschhorn. Establishing a Critical Corpus, Schweizer Pavillon, 54. Biennale Venedig 2011, S. 48–51 (Kat. Ausst.). Vgl. auch Claire Bishop: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London 2012. 23 Blog von Joe Pagetta: http://www.joepagetta.com/blogjoepagetta/?p=511 (aufgerufen: 5.11.2012). 24 Markus Miessen: The Nightmare of Participation, Berlin 2010.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

wurde im Amerika der fünfziger Jahre der berühmte Chart von Highbrow und Lowbrow eingeführt.25 Die abstrakte Vorstellung vom Betrachter differenziert sich damit aus. Die Interaktion mit dem Kunstwerk schreibt sich in eine gesellschaftliche Realität ein, die durchzogen ist von Klassenzugehörigkeit, ethnischer Identität und weiteren Gruppenbildungen. Dies ist nicht zuletzt deshalb für die hier angestellten Überlegungen von Bedeutung, da das unterschiedliche Rollenverhalten in den Partizipationsstrategien als ein Auseinanderfallen zwischen Teilnehmenden und Beobachtenden evident wird. Anlässlich des Skandals um die Ausstellung Eyegoblack verteidigte Marco Evaristti seine interaktive Installation Helena (mit dem tödlichen Ausgang für die Goldfische im Mixer) mit dadurch initiierten Gruppenbildungen.26 Sein eigentliches Interesse hätte der Typologisierung der Gruppen unter den Ausstellungsbesuchern gegolten: dem Typus des Idioten, der den Schalter betätigt, des Voyeurs, der die Szene beobachtet und schließlich des Moralisten, der den Tierschutz rufen muss: »I was successful. There was the idiot who pressed the button, the media and the art public played the role of the voyeur and the animal right groups were the moralists.«27 Damit wird ein Modell radikalisiert, das von einer anderen Seite her kommend die Ausdifferenzierung von Verständnis­ ebenen für die zeitgenössische Kunst erlaubt. Im Gespräch zwischen Ilja ­Kabakov und Boris Groys wird die Referenz auf ein altes hermeneutisches Modell bemüht – je nach sozialer Schicht erschließe sich eine andere Deutungsebene.28 Die Referenz der einen Rezeption auf eine andere, vermeintlich authentischere Rezeption, fand sich bereits in der »vecchiarella-Anekdote«.29

25 Vgl. dazu Russell Lynes: The Tastemakers. The Shaping of American Popular Taste, New York 1954; zur

26

27

28 29

älteren Diskussion in Amerika vgl. Russell Lynes: »Highbrow Lowbrow Middlebrow«, in: Harper’s Magazine, Februar 1949, S. 19–28 und zuletzt David Halle: »The Audience for Abstract Art. Class, Culture and Power«, in: Michèle Lamont und Marcel Fournier (Hg.): Cultivating Differences. Symbolic Boundaries and the Making of Inequality, Chicago 1993, S. 131–151. Die Installation wurde erstmals im Jahr 2000 im Kunstmuseum Trapholt in Kolding, Dänemark ausgestellt und 2006 in leicht modifizierter Form im Kunstraum Dornbirn, Österreich, http:// www.evaristti.com/marco/helena.html (aufgerufen 5.11.2012). Dieter Buchhart und Anna Karina Hofbauer: »›Sollen wir alle Menschen verklagen, die Meeresfrüchte essen?‹ Ein Gespräch mit Marco Evaristti«, in: Kunstforum International 162 (2002), S. 270–279, hier S. 273. Vergleiche das Gespräch zwischen Kabakov und Groys in: Ilja Kabakow und Boris Efimovič Groys: Die Kunst der Installation, München 1996, S. 84–99. Felix Thürlemann: »Betrachterperspektiven im Konflikt. Zur Überlieferungsgeschichte der ›vecchiarella‹-Anekdote«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 21 (1986), S. 136–155.

101

102

Peter J. Schneemann

Bühnen und Regelwerke

In einem zweiten Versuch der Annäherung an den Entwurf des Betrachters als die eigentliche politische Dimension der Kunst muss nach dem Setting gefragt werden, das für den Rezipienten bereitsteht. Wenn die Problematisierung von Ermächtigung und Entmündigung diskutiert wird, dann kann und muss man nach der Definition des Raumes fragen, der als Rahmung dient. Hier erkennt man eine erstaunliche Flexibilität der Kunstinstitution, wie sie es vermag, Regelwerke etablierter gesellschaftlicher Räume zu zitieren. Die Künstler zeigen Interesse an einem Raum, dessen Vokabular dem Publikum vertraut ist. Stuhl und Tisch, Tafel und Bank, Buch und Stift sind die Requisiten, mit denen die Ausstellung als Bühne entworfen wird. Der Rezipient bewegt sich nicht gegenüber einem Kunstwerk, sondern wechselt die Seiten des Parergons und begibt sich in das Regelwerk einer Installation. Auf der Biennale 2011 tauchte das Modell der Bühne immer wieder auf, das die Frage nach dem Dispositiv des Zeigens in Bezug auf die Rolle der Rezipienten formulierte. Mit der Anleihe an das Vokabular des Theaters wird die Reflexion über die symbolische Handlung ebenso wie das Spektrum der hier interessierenden Problematik deutlich, von Rolle und Skript, von Aufführendem und Betrachtendem und Deuten versus Angebot zur Handlung. Im spanischen Pavillon, 2011 bespielt von Dora García unter dem Titel Lo Inadecuado, stand das Publikum um ein Bühnenpodest herum, verfolgte die Erarbeitung von Aufführungen in der Situation der Probe, wurde immer wieder von den Schauspielern angesprochen und wechselseitig als Performer beschrieben. Im dänischen Pavillon thematisierte die Kuratorin Katerina Gregos unter dem Titel Speech Matters die politische Dimension der freien Rede und bot dem Publikum eine Plattform mit Megafon an. Unter dem referenzstarken Titel Opera Aperta gestaltete eine Gruppe von Künstlern den niederländischen Pavillon zu einem Theaterraum aus, in dem alle Elemente auf einen großen Leerraum verwiesen.30 In Anlehnung an die gestalterische Sprache von De Stijl und an die modernistische Pavillonarchitek-

30 Niederländischer Pavillon, 54. Biennale in Venedig 2011, Opera Aperta/Loose Work; Kurator: Guus

Beumer; Künstler und Künstlerinnen: Barbara Visser, Herman Verkerk, Johannes Schwartz, Joke Robaard, Maureen Mooren, Paul Kuipers, Sanneke van Hassel, Yannis Kyriakides. Vgl. Curiger: Illuminations, a.a.O., S. 404f.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

tur entstand ein Theaterraum mit Foyer und Bühne von bestechender Schönheit. Das Bühnenbild zeigte die Aussparung in der Wandfarbe des Museums, die sich in dem Moment gezeigt hatte, als das nationale Identitätsbild, Rembrandts Nachtwache, abgehängt worden war, im Sinne eines metaphorischen Angebots einer Projektionsfläche. In den Kulissen des 1:1-Modells fanden sich leinengebundene Bücher, die nur noch als schöne Dummies funktionierten; die Suche nach dem Text musste hier vergeblich sein. Das Zeugnis der unmittelbaren ikonischen Kraft der Moderne, Barnett Newmans zerschnittenes Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue III, fand sich neben anderen Verweisen als mögliches bereitgestelltes Szenenbild.31 Eine Aufführung fand hier, abgesehen von einer Performance zur Eröffnung, keine statt. Der Bühnenboden war makellos verspiegelt. Ratlos beging man Bühne und Beleuchtungsbrücke und schaute in sein Spiegelbild. Das glänzende Versprechen einer großen Aufführung erinnerte an den letzten Raum von Bice Curigers Arsenale-Ausstellung, in der Monica Bonvicini ihre fragilen Schautreppen als Moment der Dekonstruktion von Display und Ereignis inszenierte. Auch hier erkundete man das Werk, indem man sich sowohl in die Rolle des Regisseurs versetzen konnte, über die Möglichkeit des Zeigens oder die Absenz einer Botschaft nachdachte, als auch hinter der Schauseite die Fragilität der Konstruktion des Als-ob erblickte. Eine besondere Aktualität erhielt die niederländische Gemeinschaftsproduktion durch die momentane Krise der Kulturförderung in den Niederlanden. Im Foyer ausgehängte Kritiken gaben fiktive Kommentare dazu ab. Die Präsenz der leeren Bühnenräume, das Spiel mit der Rhetorik von Kulisse und Display führt zur Frage, ob die von Żmijewski geforderte Überwindung der Scham vor der Wirkung mit einer neuen Selbstreferentialität in Verbindung gebracht werden muss, nämlich derjenigen des reinen Zeigens, dessen Skript verloren gegangen ist.32 Der Gestus des Zeigens, die Ausstellung eines Objekts, ist besonders im Kontext ethnografischer Institutionen problematisiert worden. Dieses Hadern mit Momenten des Staunens, der Kritik an Prozessen der Aneignung und das Misstrauen gegenüber der Kategorie der Fremdheit steht 31 Vgl. die Arbeit von Barbara Visser in den Seitenflügeln des niederländischen Pavillons: »Opera

Aperta/Theatre Wings: The Story of Art I, II, III«, in: Opera Aperta, Bd. 2, S. 23. 32 Vgl. Giorgio Agamben: Nacktheiten, übers. von Andreas Hiepko, Frankfurt a.M. 2010; vgl. auch den

Vortrag von Beatrice von Bismarck auf der Tagung »Künste und Regelwerke«, 20.–23.10.2010, Gerzensee, Bern (unpubliziert; 2013 im Verlag Silke Schreiber vorgesehen).

103

104

Peter J. Schneemann

in interessantem Bezug zur Idee der Bühne und der neuen Rolle des Besuchers. Der versprochene Freiraum des Betrachters bietet sich vermehrt als entleerter Raum an, der nur noch Anweisungen enthält. Spätestens mit Hans-Ulrich Obrist setzte eine kuratorische Idee zum Siegeszug an, die den aktivierten Betrachter aufwertete, indem darauf verzichtet werden konnte, ihm einen anderen Gegenstand der Erfahrung gegenüberzustellen als sich selbst: Do it.33 Im Frühjahr 2011 zeigte die Kunsthalle Bern die Ausstellung Physique Of Consciousness der MadeIn Company. 34 Die Wände des Hauptsaals waren bedeckt mit Direktiven, welche die Besucher zu einer Art Yogaübung bewegen sollten. Fotografierte Bewegungsfolgen und die Ausstattung mit blauen Matten waren diesen Anweisungen zugeordnet. Der Rezipient folgt ihnen und erfreut sich daran, dass seine eigene Handlung im leeren Galerieraum zum hinlänglichen Kunst-Konstitutivum aufgewertet wird: Do it. (Abb. 3) Die Traditionslinien, auf welche die Ausstellungsmacher dabei zurückgreifen, liegen auf der einen Seite in der Entwicklung der Performance-Kunst. Der Betrachter wird aufgefordert, Körpererfahrungen des Künstlers selbst nachzuleben. Die andere Tradition führt zurück zu den Überlegungen von Allan Kaprow, Gesten des Alltäglichen zu isolieren und zu intensivieren. Hier tritt das wesentliche Element der sozialen Interaktion gegenüber der Vereinzelung in den Vordergrund. Auffallend ist jedoch, dass eine Ausstellung für uns in dem Moment zu funktionieren beginnt, in dem wir die anderen beim Yoga beobachten. Hier findet etwas statt, das ich als Beobachtung der Anderen bezeichnen möchte. Der Besuch vieler zeitgenössischer Ausstellungen, wie etwa von Olafur Eliasson oder Pipilotti Rist, vermag den Blick auf spezifische Gruppierungen innerhalb des Publikums zu lenken, die in unterschiedlicher Weise den Raum der Kunst und die existierenden Regieanweisungen für ihre eigene Performance nutzen. Andere schauen distanziert zu und zeigen Hemmungen, ihre beobachtende Position aufzugeben.35 33 Hans-Ulrich Obrist und Christian Boltanski (Hg.): Do it. Christian Boltanski, Maria Eichhorn, Hans-

Peter Feldmann, Paul-Armand Gette, Felix Gonzalez-Torres, Fabrice Hybert, Ilya Kabakov, Mike Kelley, Alison Knowles, Bertrand Lavier, Jean-Jacques Rullier, Rirkrit Tiravanija, Paris 1995. 34 Alexia Dehaene u.a.: Physique Of Consciousness. MadeIn Company, Kunsthalle Bern, Bern 2011 (Kat. Ausst.). 35 Vgl. Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping, Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation, Köln 2008. Vgl. den von ihm geprägten Begriff der »spektakulären Partizipation«, mit dem er die künstlerische Strategie als aktuelle Spielart des »Spektakels«, wie es Guy Debord als Begriff in die Kulturkritik eingeführt hat, analysiert, a.a.O., S. 279.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

Abb. 3: MadeIn Company, Physique of Consciousness, 2011, Exhibition view Kunsthalle Bern.

105

106

Peter J. Schneemann

Der Künstler als Verbindlichkeit

In meiner letzten Annäherung an die Problematik des Entwurfs des Publikums komme ich auf die Rolle des Künstlers zurück, die ich eingangs mit der Frage nach den Haltungen von Regisseur und Therapeut angezeigt habe. Während im niederländischen Pavillon auf der Biennale 2011 die Rolle des individuellen Künstlers zurückgedrängt ist, erlebt er doch als Referenz für den Betrachter eine erstaunliche Aufwertung. Ich spreche hier nicht vom Bezug auf die Intention, vielmehr verweise ich auf die Gegenwart einer Künstlerrolle, die in ihrer Haltung Verbindlichkeit einfordert. Den Kunstrezipienten wird eine Orientierung geboten, die auf Anleihen an den Duktus des Lehrers, des Sehers und Propheten, des Bezeugenden beruht. Die Selbstdefinition des Künstlers als Krieger ist etwa bei Thomas Hirschhorn gebunden an einen Forderungskatalog, den er an sich selbst stellt. Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit, Verbindlichkeit bilden Werte, die er sowohl den Mitwirkenden seiner Projekte wie auch dem Kunstrezipienten als Garantien anbietet. Die politischen Implikationen dieses Referenzangebots der Künstlerfigur könnte man nun weiterentwickeln, indem man sich die exzessiven Manifest-Performances von Jonathan Meese vor Augen führt oder die Überzeugung Schlingensiefs, der Künstler würde dort seine größte Wirksamkeit entfalten, wo er in homöopathischer Dosis das Unterdrückte, das Böse und Banale, die Scham real werden ließe, als großes Schauspiel inszenierte. Der in diesen Künstlerrollen vollzogene Entwurf des Betrachters, seiner Freiräume und Statistenaufgabe möchte ich an einem anderen Beispiel zur Diskussion stellen, dessen Deutung als politische Geste ebenso angebracht wie schwierig erscheint: Marina Abramovićs Performance The Artist Is Present, vom 14. März bis zum 31. Mai 2010 während der regulären Öffnungszeiten des Museum of Modern Art, New York durchgeführt. Mit mehr als 700 Stunden Präsenz der Künstlerin wird ein Format der Superlative gewählt; Obrist würde von einem »Marathon« sprechen. Wiederum handelt es sich um ein Werk, dessen allgemeine Wirksamkeit ebenso unumstritten ist wie sein konkretes Funktionieren, zu belegen durch die Berichte von Teilnehmern. Das Konzept ist schlicht und ganz auf das Selbstvertrauen der Künstlerin ausgerichtet. Die Eindeutigkeit der Botschaft und die Offenheit der Struktur, beides ist durch die Unmittelbarkeit, aber auch das Unbestimmte der emotionalen Ebene gegeben. Marie-Luise Angerer hat die zahllosen aktuellen Diskurse um Affekt und Affektivität in der Problematik der Auflösung der Souveränität des Subjekts

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

a­ nalysiert und spricht von einer »Affektivizierung als Machtstrategie«.36 Die Kritik, die etwa Hal Foster an Olafur Eliassons Installation mit der Frage nach dem Status des »Immersiven« geübt hat, zeigt meines Erachtens auch den Problemhorizont der aktuellen Arbeit von Abramović an.37 In der fotografischen Dokumentation von The Artist Is Present ist zunächst ein Setting zu beschreiben, in dem die Künstlerin das Publikum durch das ritualisierte Regelwerk einer Audienz adressiert, formt und kontrolliert. Abramović sitzt im Zentrum des gigantischen Atriums des MoMA, einer der mächtigsten Institutionen der modernen Kunst. Ein Quadrat ist abgeklebt und fünf Aufsichtspersonen in dunklen Anzügen wachen über die Einhaltung der Distanz. Einzeln dürfen Besucher aus der wartenden und beobachtenden Menschenmenge hervortreten und auf einem Stuhl Platz nehmen, welcher der im einfarbigen, langen Gewand – mal Rot, mal Weiß, mal Dunkelblau  – gehüllten Künstlerin frontal gegenübersteht. (Abb. 4) Die Besucher sind angewiesen, ihr schweigend gegenüberzusitzen; sie bestimmen den Zeitraum selbst, meist sind es um die fünf Minuten, manchmal siebzig Minuten und mehr. Einige Gesichter zeigen ein Lächeln, die meisten schauen streng, und einige weinen. Die Szene ist von allen Seiten ausgeleuchtet mit grellen Scheinwerfern, wie sie auf einem Filmset verwendet werden. Mehrere hundert Menschen drängen sich um die Intimität der Begegnung. Die Tränen werden vor Publikum geweint, dessen zahlreiche Anwesenheit zur Psychologie der Performance beiträgt. Mehr noch, von allen Richtungen werden die Regungen der Protagonisten während der Begegnung dokumentarisch aufgezeichnet.38 Die Bildwerdung des Publikums durch den Entwurf, den es mittels des Kunstwerks als Inszenierung erfährt, ist wörtlich zu nehmen. Signifikanterweise sind es Fotografien und Video-Aufzeichnungen, die im Prozess der in Aussicht gestellten Befreiung und Aktivierung (um ein Unwort neuerer Ausstellungsprosa zu verwenden) eine Konnotation von Überwachung und Auswertung erhalten. Ich spreche von der Unerbittlichkeit, mit der die aufzeichnende Kamera auf den 36 Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Berlin, Zürich 2007, S. 25–30. Vgl. auch Tom

Holert: »Am Ende des Subjekts«, in: Texte zur Kunst 67 (2007), S. 212–221. 37 Hal Foster: »Polemics, Postmodernism, Immersion, Militarized Space«, in: Journal of Visual­

Culture 3 (2004), S. 320–335. 38 Blog zur Ausstellung The Artist Is Present: http://marinaabramovicmademecry.tumblr.com/

(aufgerufen: 5.11.2012) und fotografische Dokumentation von Marco Anelli: Portraits in the Presence of Marina Abramović, 2012, http://www.marcoanelli.com/716_book_e.html (aufgerufen: 5.11.2012).

107

108

Peter J. Schneemann

Abb. 4: Marina Abramović, The Artist is Present, 2010, Performance MoMA.

Der Entwurf des Rezipienten als politische Geste des Künstlers

Betrachter gerichtet bleibt. Dabei wird in höchst autoritärer Art und Weise das Recht an diesem Bild eingefordert. Das Gesicht, die Tränen und der Blick des Rezipienten werden Teil eines Vertrags, der zwischen Künstlerin und Publikum, zwischen zeigender Institution und Rezipienten geschlossen wird. Eine Hinweistafel des Museum of Modern Art anlässlich der Groß-Performance von Abramović mag stellvertretend für das Dilemma stehen. In diesem Rahmentext wird geklärt, wie die sogenannte Partizipation das Recht am eigenen Bild verwirkt. Künstlerin und Institution fordern dieses ein, doch umgekehrt dürfen die Besucher keine Bilder anfertigen. Die Besucher finden ihre Gesichter der emotionalen Überwältigung dann in der internationalen Presse und den Dokumentationen wieder. Es sind perfekte Bilder, die im Internet abgerufen werden dürfen. Die Dokumentationen jeden Tages beginnen mit dem Bild der Künstlerin. Ihr Blick wird dann als der abwesende Gegenstand des Blicks in den Gesichtern der Teilnehmenden gespiegelt. Deren Blick konstituiert immer wieder neu die Macht des Blicks der Künstlerin. Wir lesen in ihnen dasjenige, was sie sehen. Es ist höchst signifikant, dass das »Gesicht«, als höchster Wert der Individualität, für Entwicklungen wie etwa Facebook eine ökonomische Macht des Zugriffs auf die emotionalen Bindungen des Individuums beschreibt. Wir sehen also eine Konstellation, in welcher der agierende, partizipierende Betrachter zum Teil einer Aufführung wird. Wir werden zu them. Und gleichzeitig erinnern wir uns daran, dass wir bei Żmijewski, vor seiner Dokumentation des Scheiterns, zwischen Scham, Voyeurismus und Verzweiflung hin- und her gerissen wurden. Die Dokumentation der Realität der Akteure als Werkform oder Teil einer Werkkonstruktion zeigt noch einmal die Ebenen einer Geste des Künstlers an, die ich als eine politische deuten möchte. In Jay Rubys Analyse des dokumentarischen Films heißt es: »The documentary film was founded on the western middle class need to explore, document, explain, understand and hence symbolically control the world. It has been what ›We‹ do to ›Them‹. The ›They‹ in this case are usually the poor, the powerless, the disadvantaged and the politically suppressed and oppressed.«39

39 Jay Ruby: »The Image Mirrored: Reflexivity and the Documentary Film«, in: Alan Rosenthal (Hg.):

New Challenges for Documentary, Berkeley 1988, S. 34–47, hier S. 41.

109

Thomas Hirschhorn

Crystal of Resistance   1

Crystal of Resistance ist der Titel meiner Arbeit für den Schweizer Pavillon auf der Biennale von Venedig 2011. Mit Crystal of Resistance will ich drei Fragen an meine Arbeit stellen. Erstens: Kann meine Arbeit einen neuen Begriff der Kunst erschaffen? Zweitens: Kann meine Arbeit einen »kritischen Körper« aufbauen? Drittens: Kann meine Arbeit ein »nicht exklusives Publikum« implizieren? Ich will diesen Fragen, diesen Zielen und diesem Anspruch an mich als Künstler – in und mit meiner Arbeit – eine Antwort geben. Ich glaube, dass Kunst universell ist, ich glaube, dass Kunst etwas Autonomes ist, ich glaube, dass Kunst einen Dialog oder eine Konfrontation auslösen kann – eins zu eins – und ich glaube, dass Kunst jeden Menschen einschließen kann. Wenn ich schreibe »glaube«, so mache ich das, weil ich es nicht nur denke, weil ich nicht nur davon überzeugt bin, sondern ich schreibe »glaube«, weil es nicht darum geht, es zu wissen, weil es nicht darum geht, es nachzuweisen und weil es nicht darum geht, es zu beweisen. In der Kunst geht es darum zu glauben. Ich will mit Crystal of Resistance eine unwiderstehliche Arbeit machen. Gelingen kann das nur, wenn ich es schaffe – von mir aus –, eine Arbeit zu machen. Aber nicht, indem ich mein Selbst – das immer auch allgemein gültig ist – mit dem »Persönlichen« verwechsle. Ich kann das Universelle nicht mit dem »Persönlichen« erreichen. Das »Persönliche« interessiert mich nicht, weil es nicht widerständig an sich ist, weil es immer schon eine Erklärung, wenn nicht sogar eine Entschuldigung ist. Erst wenn meine Arbeit imstande ist, die Grenzen des »Persönlichen«, des Akademischen, des Imaginären, der Umstände, des 1

Integrierter Text zu Crystal of Resistance von Thomas Hirschhorn, gedruckte Gratisbroschüre, verteilt im Schweizer Pavillon auf der Biennale di Venezia, 2011.

112

Thomas Hirschhorn

Abb. 1: Thomas Hirschhorn, Spectre of Evaluation, 2008.

Crystal of Resistance

­ ontextes und der Beschaulichkeit zu überschreiten, kann sie Wirkung haben. K Mit Crystal of Resistance will ich ein Fenster, eine Tür, eine Öffnung oder einfach ein Loch in die Realität schneiden. Das ist der Durchbruch, der alles mit sich reißt.

KINDER BEIM RHONE-GLETSCHER

Auslöser, Kristalle zum Thema meiner künstlerischen Auseinandersetzung zu machen, war ein Erlebnis vor etwa fünfzehn Jahren. Damals sah ich auf dem Autoparkplatz an der Furkapass-Straße unterhalb des Rhone-Gletschers ein paar Kinder, die, auf Kartonstücken ausgebreitet, Kristalle – bestimmt selbst gefundene Kristalle – zum Kauf anboten. Das war ein einfaches, wundervolles und universelles Bild, es hat sich mir eingeprägt. So etwas hätten auch Kinder in China, in Russland, in Mexiko oder überall auf der Welt machen können. Seit damals wollte ich einmal etwas mit Kristallen machen.

KRISTALL ALS MOTIV

Ich will mit meiner Arbeit Crystal of Resistance eine Form geben, die die Bedingungen schafft, etwas Neues zu denken. Es soll eine Form sein, die »Denken« ermöglicht. Hier sehe ich die Aufgabe der Kunst: Eine Form zu geben, die die Bedingungen erschaffen kann, etwas noch nicht Dagewesenes, etwas Neues und etwas Unerwartetes zu denken. Ich will mit dieser Form eine Wahrheit schaffen, die den Fakten und den Gegebenheiten, den Meinungen und den Kommentaren widersteht. Es geht nicht um »meine Wahrheit«, sondern es geht um die Wahrheit an sich. Um mit der Wahrheit in Berührung zu kommen, um mich mit der Wahrheit auseinanderzusetzen und mit ihr in Konflikt zu treten – Konflikt heißt in der Kunst: etwas zu erschaffen –, brauche ich ein Motiv. Bei Crystal of Resistance ist dieses Motiv der Kristall. Der Kristall ist das Motiv der Form Crystal of Resistance, der Kristall ist »nur« das Motiv der Form, der ganzen Form. Der Kristall ist nicht das Thema, nicht das Konzept und nicht die Idee zu Crystal of Resistance. Das Motiv ist Behauptung, Setzung und Liebe. Als Motiv ist der Kristall die Dynamik, er verbindet und überstrahlt alles, er leuchtet über seine Bedeutung, seine eigene Zeit,

113

114

Thomas Hirschhorn

Abb. 2: Thomas Hirschhorn, Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011.

Crystal of Resistance

Abb. 3: Thomas Hirschhorn, Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011.

115

116

Thomas Hirschhorn

s­ einen eigenen Grund hinaus. Das Motiv »Kristall« hilft mir, nur eine Facette oder Facetten zu beleuchten, denn nur so kann man mit der Wahrheit in Berührung kommen. Der Kristall ist das Motiv, für das ich mich aus Liebe zu seiner Schönheit, Strenge, Strahlkraft und Offenheit entschieden habe. Ich muss selbst offen sein für seine Grazie und seine Universalität. Ich werde mit dem Motiv »Kristall« meine Form festigen und fixieren.

WIDERSTAND

Kunst widersteht Politischen, kulturellen, ästhetischen Gewohnheiten. Kunst widersteht der Moral und der Aktualität. Kunst ist – weil sie Kunst ist – Widerstand. Kunst ist aber nicht Widerstand gegen etwas, Kunst ist Widerstand an sich. Kunst ist widerständig, weil sie allem schon Dagewesenen und Bekannten widersteht. Als Behauptung, Bewegung, Glauben, Intensität ist Kunst »positiv«. Sie widersteht der Tradition, der Moral und der Tatsachenwelt. Kunst widersteht jeder Argumentation, jeder Erklärung und jeder Diskussion. Ich habe keine Angst vor Widerstand, Konflikt, Widerspruch oder Komplexität. Widerstand ist immer verbunden mit Reibung, Konfrontation, Zerstörung, aber auch mit Kreativität. Widerstand ist Konflikt zwischen Kreativität und Zerstörung. In Crystal of Resistance will ich diesen Konflikt konfrontieren. Ich selbst bin der ­»Konflikt«, und ich will, dass meine Arbeit in der Konfliktzone steht, dass sie sich im ­Konflikt aufrichtet und dass sie darin widerständig ist.

VIERTEILIGES FORM- UND KRAFTFELD LIEBE, PHILOSOPHIE, POLITIK, ÄSTHETIK

Ich habe – von Beginn meiner künstlerischen Arbeit an – entschieden, meine Arbeit in das viergeteilte Form- und Kraftfeld von Liebe, Philosophie, Politik, Ästhetik zu stellen. Ich habe beschlossen, dass meine Arbeit dabei nicht alle vier Teile des Form- und Kraftfeldes gleichmäßig abdecken muss, aber immer muss jeder Teil darin berührt werden. Liebe, Philosophie, Politik, Ästhetik sind die Teile des Feldes, in dem sich meine Arbeit behauptet und in dem sie sich bewegt.

Crystal of Resistance

Abb. 4: Thomas Hirschhorn, Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011.

Abb. 5: Thomas Hirschhorn, Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011.

117

118

Thomas Hirschhorn

Abb. 6: Thomas Hirschhorn, Wo Stehe Ich? Was Will Ich?, 2007.

Abb. 7: Thomas Hirschhorn, Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011.

Crystal of Resistance

Ich habe von Anfang an entschieden, dass die beiden »Licht-Teile« Liebe und Philosophie zu meinem Kraft- und Formfeld gehören, gleichzeitig wie die beiden »Schatten-Teile« Politik und Ästhetik. Meine Entscheidung ist eine Entscheidung für die »Licht-Teile« und für die »Schatten-Teile« zugleich. So wie ich in einer Welt lebe, die ich als »eine«, als eine ungeteilte, einzige Welt verstehe, als eine Welt mit dem Negativen und mit dem Positiven, aber auch mit dem »Nicht-nur-Positiven« und dem »Nicht-nur-Negativen«  – deshalb »Licht« und deshalb »Schatten« –, so stelle ich meine Arbeit in das Form- und Kraftfeld von Liebe, Philosophie, Politik, Ästhetik.

LIEBE

In der Arbeit Crystal of Resistance ist der Kristall der Teil Liebe meines Form- und Kraftfeldes. Der Kristall steht für das Universelle, das Endgültige und er steht für das Absolute. Der Kristall steht für Schönheit an sich. Ich denke tatsächlich auch an jemanden dabei. Ich denke an ein Kind, ich denke an ein Mädchen, das »ihren Kristall«  – vielleicht ihren Ersten  – selbst findet oder geschenkt bekommt, und ich denke daran, dass dieser dann – für dieses Mädchen – der schönste Kristall ist, und ich denke daran, dass er für sie immer der »Schönste« bleibt! Deshalb ist für mich jeder Kristall der »Schönste«. Das ist der Teil Liebe meines Form- und Kraftfeldes. Obwohl ich weiß, dass es Qualitätsunterschiede gibt, und obwohl ich weiß, dass man diese Qualitätsunterschiede erklären kann. Mich interessiert »Schönheit« – ich bin nicht auf »Qualität« des Kristalls aus. »Qualität« hat mich nie interessiert, für mich ist das ein leeres Wort, denn als Künstler habe ich seit Jahren – für meine Arbeit eine »Schlagrichtung« oder eine »Richtlinie« bestimmt, die heißt: »Qualität = Nein! Energie = Ja!«. Es ist klar, dass Schönheit nicht subjektiv ist – Schönheit ist absolut und universell.

PHILOSOPHIE

Der Teil Philosophie in Crystal of Resistance steht für die Überzeugung, dass Kunst Widerstand ist. Andere Begriffe für Widerstand sind: Kopflosigkeit, Hoffnung, Wille, Wahnsinn, Mut, Risiko, Kampf. Diese Begriffe sind der Teil Philosophie meines Form- und Kraftfeldes – und dem will ich eine Form geben. Eine Form,

119

120

Thomas Hirschhorn

die nur ich geben kann und die nur ich so sehe und die nur ich verstehe, eine Form, die nur ich kenne, und eine Form, die nur ich verteidigen kann. Crystal of Resistance will eine Form sein, die Widerstand an sich ist. Das Wichtigste in der Kunst ist die Formfrage. Das zu erkennen ist Philosophie. In Crystal of Resistance – wie immer – ist die Frage der Form das Zentrale. Die Form ist das Wesen und die Setzung dieser Arbeit. Crystal of Resistance ist Form an sich, die Wahrheit an sich, Crystal of Resistance ist das Wirkliche. Crystal of Resistance wird das Neue sein − etwas, was einen eigenen Körper geschaffen hat. Ich frage mich: Wie kann ich eine Form geben, die historischen Fakten widersteht? Wie kann ich eine Form geben, die über das Hier und Jetzt hinausgeht? Wie kann ich eine transhistorische Arbeit machen, in meiner Zeit, in meiner Geschichte, im Jetzt? Mein Problem als Künstler ist: Wie kann ich eine Position beziehen und dieser Position eine Form geben? Und wie kann diese Form – über die Gewohnheiten hinaus – eine Wahrheit schaffen? Wie kann ich eine universelle Wahrheit schaffen?

POLITIK

In Crystal of Resistance stellt der Teil Politik die Fragen: Wie agieren? Wie arbeiten? Mit welchen und in welchen Konditionen arbeiten? Ich will in Notwendigkeit, in Dringlichkeit und in Panik arbeiten. Was verstanden werden muss ist: Panik ist die Lösung! Das ist als das Politische zu verstehen. Denn Kunst berührt über eine Lösung hinaus, Kunst ermöglicht das Problem zu konfrontieren, Kunst ist das Problem und Kunst kann dem Problem eine Form geben. Kunst braucht keine Lösung zu finden, denn das Problem muss ausgehalten werden. Und das ist nur möglich in Panik. Dem Problem wird – mittels Panik – eine Form gegeben. Es ist die Panik, die dem Problem seine Form gibt und diese Form ist Kunst. Deshalb ist Panik eine Notwendigkeit in der Kunst. Ich will überhastet und kopflos arbeiten. Ich will mit dem Prekären und im Prekären arbeiten. So muss man den Teil Politik meines Form- und Kraftfeldes verstehen. Das Politische ist, dass es sich beim Prekären nicht um ein Konzept, sondern eine Bedingung handelt. Eine Bedingung, die gewählt oder die aufgezwungen ist, eine Bedingung die es – frenetisch und bewusst – anzunehmen gilt.

Crystal of Resistance

Abb. 8: Thomas Hirschhorn, Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011.

121

122

Thomas Hirschhorn

Abb. 9: Thomas Hirschhorn, Crystal of Resistance, 2011, Schweizer Pavillon der 54. Biennale von Venedig.

Abb. 10: Thomas Hirschhorn, Crystal of Resistance, 2011, Schweizer Pavillon der 54. Biennale von Venedig.

Crystal of Resistance

Abb. 11: Thomas Hirschhorn, Crystal of Resistance, 2011, Schweizer Pavillon der 54. Biennale von Venedig.

Abb. 12: Thomas Hirschhorn, Crystal of Resistance, 2011, Schweizer Pavillon der 54. Biennale von Venedig.

123

124

Thomas Hirschhorn

Das Prekäre muss bejaht werden und dem Lager der Prekären gilt es beizutreten, weil in dieser Bejahung die Änderung, das Neue und das Revolutionäre liegt – das ist das Politische. Das Prekäre ist eine Dynamik, ein Weg, eine Möglichkeit oder eine Bedingung, die dem Menschen geboten wird. In der Bejahung dieses Prekären, dieses Nichtgesicherten, dieses Nichtgarantierten, dieses Nichtstabilisierten und dieses Nichtetablierten kann die Zukunft liegen. Die Zukunft darum, weil das Prekäre immer kreativ ist, weil das Prekäre immer erfinderisch ist, weil das Prekäre immer in Bewegung ist, weil das Prekäre immer zu neuen Formen führt, weil das Prekäre immer eine neue Geografie bildet, weil das Prekäre immer von einem neuen Austausch zwischen den Menschen ausgeht und weil das Prekäre immer neue Werte schöpft. Und könnte es nicht so sein, dass, statt sich vor dem Prekären zu schützen, statt das Prekäre nicht wahrhaben zu wollen und statt sich vor dem Prekären abwenden zu wollen, das Gegenteil – seine Bejahung – das Universelle wäre? Könnte es nicht sein, dass im Prekären – das heute von so vielen Menschen geteilt wird – die Gerechtigkeit, das Verbindende und das Gleichheitliche liegt? Und liegt es nicht da, das Politische?

ÄSTHETIK

Der Teil Ästhetik des Form- und Kraftfeldes stellt die Fragen: Wie sieht die Arbeit aus? Welchen visuellen Aspekt hat die Arbeit? Welche Materialien und welche Farben kommen vor? Ich will davon ausgehen, dass meine Arbeit Crystal of Resistance die Ästhetik eines unzerstörbaren und irdischen Domizils der Götter haben wird – wie es die mexikanische Riesenkristallgrotte der NaicaMine sein könnte. Ich will davon ausgehen, dass ich einen Ort schaffen kann, der so fremd ist, so eigenwillig und so eigenständig – von mir selbst aus –, dass er dadurch universell wird. Ich will eine dichte, geladene, leuchtende Arbeit machen. Es wird viele Elemente zu sehen geben, es wird »zu viel« geben. Es muss »zu viel« sein, nicht weil es wichtig ist, alles zu sehen oder viel Zeit zu verbringen, sondern »zu viel«, damit die Dinge nicht lügen. Nur eine Facette kann berührt werden, denn die Wahrheit kann nur aus Facetten gebildet werden, aus Facetten, deren Maßstab – zusätzlich – gebrochen ist. Der Teil Ästhetik des Form- und Kraftfeldes ermöglicht es mir, eine frontale Arbeit zu machen. Eine Arbeit, die das »Zurücktreten« nicht ermöglicht.

Crystal of Resistance

Ich will mit dem Entscheid für meine Ästhetik keinen Überblick schaffen. Ich will keine Distanz und keinen Abstand vortäuschen. Das ist, was die Ästhetik schafft, das ist was die Ästhetik kann. Das ist, was ich – in aller Blindheit und Beschleunigung – nach vorne katapultieren und hochhalten will. Mit Ästhetik will ich insistieren, ich will eine Arbeit machen, die an die Ästhetik einer Filmdekoration eines Science-Fiction-B-Movies erinnert, eine Arbeit, die sich an die Ästhetik eines selbst gemachten Bergkristall-Museums anlehnt, eine Arbeit mit der Ästhetik eines Crystal-Meth-Labors und eine Arbeit, die der Ästhetik einer billig verzierten Provinzdiskothek gleicht.

SCHWEIZER PAVILLON

Ich will, dass die Arbeit Crystal of Resistance als etwas Autonomes erfahren werden kann. Dazu muss es in einem Gefäß oder einer Hülle sein, die klarmacht: Da wurde etwas – zeitlich begrenzt und prekär – entfaltet. Ich denke an etwas Feines und etwas Dünnes, eine Haut, an eine Schale oder an eine Geode. Mir geht es nicht darum, den zur Verfügung stehenden Ausstellungsraum zu verändern. Nie geht es mir darum, »gegen« oder »für« die bestehende Architektur des Schweizer Pavillons zu arbeiten. Ich arbeite mit dem bestehenden Raum. Nie geht es mir darum, einen Ausstellungsraum zu »verneinen« – immer geht es nur um die sich im Raum behauptende Arbeit. Es geht darum, den zur Verfügung stehenden Ausstellungsraum als Gefäß für meine Arbeit zu benutzen. Ich muss die Bedingungen zum Verständnis schaffen, dass der Raum eine Schale ist, die meine Arbeit aufnimmt. Crystal of Resistance ist eine Arbeit, die auch an einem anderen Ort, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land oder auf einem anderen Kontinent gezeigt werden kann. Ich will, dass meine Arbeit – geistig und körperlich – transportierbar ist. Ich glaube an »Universalität« und an »Autonomie« der Kunst – nie geht es mir um den Kontext. Die Hülle oder das Gefäß, das ich machen werde, ist die Behauptung »Autonomie« meiner Arbeit. Denn es ist die Autonomie, die dem Kunstwerk seine Schönheit verleiht und es ist die Autonomie, die das Kunstwerk zu etwas Absolutem macht.

125

Operationen

knowbotiq

bloSS da, undurchschaubar Opake Teilhabe unter postmedialen Konditionen 1

Kommunikative Transparenz und Sichtbarkeit standen in einer modernen Gesellschaft für demokratische Offenheit, nun werden sie zunehmend zur Bedingung für ein technisches Gesteuert-Werden und für eine administrative Verfügbarkeit. Nahezu unbemerkt werden Räume transparenten Handelns und sozialer Reibung in die Oberflächenwelten technisch gesteuerter Prozesse absorbiert. Im Kontext dieser virtuellen Aneignungen arbeitet knowbotiq an performativen Testfällen im Realraum, bei denen eine Kultur des allzu Augenfälligen und Ereignishaften in ein zuwiderlaufendes, ambivalentes Wechselspiel von Sichtbarwerden und Verschwinden, in ein temporäres Entziehen ins Opake ­übersetzt wird. Es sind Dinge und Momente des Unkalkulierbaren, des NichtErwartbaren, für die knowbotiq über längere Zeiträume hinweg experimentelle Situationen er/findet.2

1

Die postmediale Kondition reflektiert nicht das Medium selbst (Medienspezifität), sondern die Faktoren, die zu seiner Individuierung beitragen: Diskurse, Institutionen, physische Trägerstrukturen und ihre technologischen Implikationen – also sprachliche und nichtsprachliche Elemente, ein maschinisches Gefüge. Siehe auch differenzielle Medienspezifizität bei Rosalind Krauss: »Sinn und Sinnlichkeit« [1973], in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1998. 2 Isabell Lorey, Roberto Nigro und Gerald Raunig: Inventionen 1, Zürich, Berlin 2011. Anmerkung: Während die Intervention bestehende Kräftefelder des Gesellschaftlichen unterbricht und innerhalb des Gegebenen modifiziert und daher in Verlängerung auch aufs Neue affirmiert, verdichtet eine Invention die Wahrscheinlichkeit der Findung einer differenten (Lebens-)Form.

130

knowbotiq

Abb. 1: knowbotiq, MacGhillie - Just a Void, 2009, Intervention Amsterdam Bigi Spikri (Parade zum Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei).

��������������������������

Abb. 2: knowbotiq, NEWBORN, undeliverable, 2008, Intervention Eröffnung UEFA EURO, Fanmeile Zürich.

131

132

knowbotiq

Abb. 3: knowbotiq, MacGhillie – Just a Void, 2008, Intervention Airport Zurich.

��������������������������

Abb. 4: knowbotic research, be prepared! tiger!, 2006, Intervention Donau Auen.

133

134

knowbotiq

Abb. 5: knowbotic research, Blackbenz Race, 2007, Intervention UN Jugoslawien Tribunal Den Haag.

Abb. 6: knowbotic research, Blackbenz Race, 2006, Intervention UNMIK Zentrale Priština.

��������������������������

In mehreren Arbeiten der letzten Jahren initiierte knowbotiq außerhalb traditioneller Ausstellungsräume unangekündigte Vorkommnisse oder setzte Dinge im Alltag aus, z.B. ein technologisch »unsichtbares« Boot (be prepared! tiger!), eine nicht zustellbare Lastwagenlieferung (NEWBORN, undeliverable) oder einen in verschiedenen urbanen Situationen hinterlassenen Tarnanzug (MacGhillie). Es wurden keine Interventionen inszeniert, sondern Dinge in alltäglichen Situationen testend für sich gelassen. Publikum im klassischen Sinne existierte nicht,3 die Testfälle aktivierten zufällige Passanten über opake, nicht decodierbare Zeichen und Materialitäten. knowbotiq entwirft eine künstlerische Praxis, die mit dem Undurchschaubaren und dem kybernetisch Nicht-Greifbaren den politischen Raum des Öffentlichen verhandelt.

Testfall 1

In MacGhillie – Just a Void konnten über einen längeren Zeitraum urbane Orte mit einem öffentlich hinterlegten, frei verfügbaren Tarnanzug aufgesucht werden. Der so bekleidete Träger wurde zur »Figur« MacGhillie, die weder als Individuum noch als Person auffiel: Der »Ghillie Suit«, ein Tarnanzug des 19. Jahrhunderts, ursprünglich erfunden für die Jagd und später im Ersten Weltkrieg eingesetzt, verbarg einerseits die darunter befindliche Person, machte andererseits die Figur MacGhillie selbst hyperpräsent. Der nicht mehr tarnende Tarnanzug sorgte durch seine Opazität für eine auffallende Anonymisierung. Die Auffälligkeit solcher urbaner »Figuren ohne Eigenschaften« wie MacGhillie, Bloom oder Bartleby wird zur ambivalenten urbanen Eigenschaft – uneindeutig kippend zwischen Affirmation des Spektakulären, visueller Beliebigkeit, Neutralisierung und Entzug.

Testfall 2

Das Blackbenz Race, ein Nacht-Autorennen quer durch den kosovarischeuropäischen Migrationsraum, scheint bis heute nicht gestartet worden zu 3 Erika Fischer-Lichte: Kunst der Aufführung, Aufführung der Kunst, Berlin 2004, S. 22.

135

136

knowbotiq

sein – blieb es nicht-ereignet? Wollte knowbotiq ursprünglich eine Autoüberstellung quer durch den Balkan in eine mediale Semi-Fiktion eines Rennens verwandeln, wurde stattdessen die Fiktion des Blackbenz Race in konkrete lokale Testfälle übersetzt, welche die möglichen Bedingungen für das Rennen an spezifischen Orten untersuchten: an einem Londoner hand car wash, vor der UNMIK-­Zentrale in Priština, im Korridor Schiphol–Den Haag auf dem Weg zum UN-Jugoslawien-Tribunal, auf einer Burn-out-Party vor dem Fußball­ stadion in Priština und an einer Gletscherstation der Schweizer Alpen. In diesen als Filmsets getarnten Testfällen oszillierten die Grenzen zwischen unerwartbaren Aufeinandertreffen, abtauchenden künstlerischen Inszenierungen, Schein-Ereignissen und politischen Fiktionen – ein Gerücht von regelwidrigem Verhalten (illegale Autorennen) zu verbreiten, die sozialen Muster so umzusortieren, dass sie auch von denjenigen genutzt werden können, die nicht die richtigen (Schengen-)Papiere haben, schuf an den verschiedenen Orten Freiräume für die Erzeugung von mehr als einer Art von Erzählung.4 Die Testfälle des sozialen Ein- und Abtauchens ermöglichen Überschreibungen bestehender Verhaltensweisen mit undurchschaubaren Verhaltensformen (MacGhillie-Werden, semifiktive Nachtrennen). Bestehende soziale wie kulturelle Codes und Grammatiken (illegale Rennen, Auto-Burn-out-Partys), legistische Skripts (Vermummungsverbot), Protokolle (Sicherheitsdispositive der KFOR-Truppen in Priština), Narrative (schwarze Limousinen im Migrationskontext) und Ordnungen (die Forderung, ein Gesicht im öffentlichen Raum zu haben) können in diesen künstlerisch initiierten öffentlichen Situationen temporär verlassen werden. Die Teilhabenden treten, ob der Opazität der Situation, testend neben das vordergründige Ereignis, teilen es aktiv in singuläre Sub­ereignisse mit anderen erweiterten Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten. Die Personen »hinter« den MacGhillies hinterlegten ihre eigenen Kleider in öffentlichen Schließfächern, Fast-Food-Buden, Booten, Hinter­ höfen. Sie waren oft tagelang als MacGhillie unterwegs, äußerst fragil und verletzlich in der bloßen »Hülle« der eigenen Wahrnehmung und Körperlichkeit: neue Räume in der Stadt auslotend, zwischen den normierten Wahrnehmungs­ 4 Diese Formen unfassbarer Präsenzen im Gemisch von gelebten Alltagswirklichkeiten, physischen

Transportsystemen und elektronischen Netzen und Kommunikationsmitteln hat knowbotiq unter dem Begriff der Translokalen Praxis untersucht. Forschungsprojekt mit Felix Stalder am Institut für Gegenwartskunst Zürich: »Translokale Praktiken, Künstlerische Praktiken in ­vernetzten ­Räumen«, 2009.

��������������������������

mustern, manchmal ungehindert Kontrollen passierend bei Konzerten, in Museen, ignoriert an den Theken der Bars, mitunter von anderen Passanten nicht gesehen werden wollend, hin und wieder archaische Ängste auslösend, ungehindert sich bewegend zwischen dem Security-Personal in einer Bank, dann wieder im Schatten ihrer Aktion einen polizeilichen Einsatz am Flughafen auslösend.

Begrifflichkeiten

Im Folgenden sollen künstlerische Erfahrungen aus diesen Testfällen »blind tastend« im Sinne Heiner Müllers (»Solange eine Kraft blind ist, ist sie eine Kraft. Sobald sie ein Programm, eine Perspektive hat, kann sie integriert werden und gehört dazu.«)5 als experimentelle Begriffsbildungen untersucht werden. Performativität im Kontext dieser Testfälle meint nicht jene Praktiken einer Kunst des Öffentlichen, die sich in der Aneignung, Wiederholung und Aufführung medialer Zeichensysteme und Bedeutungen erschöpfen, sondern solche, die den semiotisch übercodierten urbanen Raum durch zu erfindende opake Verkörperungen, Materialitäten und Präsenzen unterwandern und auch erweitern. opak verkörpernd

Das Opake lässt sich hinsichtlich seiner Materialität und Medialität entwerfen: als undurchsichtig, die Passage von Energie- oder Lichtströmen blockierend, und als undurchschaubar, schwierig zu verstehen und zu decodieren. Im Opaken verbirgt sich potenziell das, was sich dem systematischen Denken entzieht. Es eröffnet sich Unkenntliches, ein Entziehen aus dem kybernetischen Theorem der Sichtbarkeit, das danach trachtet, gesellschaftliches Zusammen­leben kontinuierlich aufzuzeichnen, zu analysieren, vorherzusagen und so all ihre Risiken vollständig durch Prognosen auszuschließen. Einher geht dieses Theorem mit einem positivistischen Glauben an eine Wissensproduktion, gestützt auf Berechenbarkeit, Kalkül und Individualisierung. »Indem die Kybernetik geistige Störungen und gesellschaftliche Pathologien 5 Heiner Müller: Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 2005, S. 245.

137

138

knowbotiq

als ­Information denkt, begründet sie eine neue Politik der Subjekte, die auf der Kommunikation sowie auf der Transparenz für sich selber und für andere beruht.«6 unerwartbar vermengend

Das Wichtige wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.7 In den vorherrschenden Vorstellungen von Urbanität sind mediale Unterbrechungen und Abwesenheiten von Ereignissen und Identitäten nicht angelegt: Welche Formen des Da-neben, neben dem Ereignis, können durch künstlerische Praxen virulent werden, wenn die Zwänge zur kybernetischen Sichtbarkeit unterwandert werden? Alle Teilnehmer einer kybernetisch konzipierten Gesellschaft werden im Sinne des aktuellen Marlboro-Imperativs »Don’t be a maybe« angehalten, kontinuierlich zu kommunizieren und sich so ständig individuell auszudifferenzieren. Unsicherheiten und Unkalkulierbarkeiten im gesellschaftlichen Gefüge, verstärkt durch die erweiterten medialen Freiheitsgrade der Akteure, sollen reduziert und deren Erkennbarkeit und Sichtbarkeit erhöht werden. »Die Kybernetik ist das Projekt einer Neu-Schöpfung der Welt durch die unendliche Rückwirkung dieser beiden Momente – trennende Repräsentation, wieder verbindende Kommunikation – aufeinander. Die erstere tötet das Leben ab, die zweite imitiert es.«8 In medial codierten Räumen ist man tendenziell immer sichtbar – am CCTVMonitor, im Radar-Scanner, im Filter der Suchmaschine, im Sucher des Mobiltelefons, in der Matrix des RFID-Empfängers. Öffentliche, private und socialmedia-Räume nähern sich topologisch an, aber es mehren sich auch klandestine Zwischenzonen9 innerhalb dieser hybriden Raumkonstruktionen. Die Virtualitäten des Dazwischen kann man aktivieren: »[…] als Riss ohne etwas, das

6 Tiqqun: Kybernetik und Revolte, Zürich, Berlin 2007. 7 Gilles Deleuze: »Kontrolle und Werden«, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a.M.

1993, S. 252. 8 Tiqqun: Kybernetik und Revolte, a.a.O. 9 Michèle Sinapi: »The Displacements of the ›Shadow Line‹«, in: Social Science Information 47

(2008), S. 529–539.

��������������������������

z­ erreißt, als Spalt, ohne etwas, das sich aufspaltet, als Pause, ohne etwas, das aufhört und wieder beginnt, als Abweichung ohne etwas, das abweicht […]«.10 klandestin findet statt, was (noch) nicht situation ist

Die Herausforderung des Unwahrnehmbar-Werdens durch opake, undurchschaubare Präsenzen fordert eine zärtliche, unmerkliche Verbindung ein zwischen dem, was als ungesehen existiert, und dem, was noch blind dafür ist.11 Eine solche Verbindung im Unwahrnehmbar-Werden beschwört jedoch auch ein Paradox herauf: Man muss auf das, was unsichtbar ist, sichtbar aufmerksam machen, um das Unsichtbare wirksam werden zu lassen. Eine künstlerische Geste kann in diesem Sinne darauf aufmerksam machen, dass ein Betrachter sieht, was er nicht sieht. zwischen ungesehenem und noch blindem

In den künstlerischen Situationen, wie sie von knowbotiq aktiviert werden, werden mögliche Formen des Entzugs aus der wissbaren Situation skizziert: knowbotiq sieht im Entzug eine nur scheinbare Untätigkeit, ein nur schein­bares Nicht-Ereignis. Das Sich-Entziehen ist eine aktive Teilung und Verlagerung der Situation und ihrer bestehenden Grammatiken. Der Entzug öffnet Optionen, z.B. Formen des Abfallens, des Eintauchens, des »Erblindens« und damit Möglichkeiten, andere Qualitäten und bisher widerstrebende Kräfte in der Situation, auch zusammen mit anderen Akteuren, Dingen, neu zu verbinden. Teilhabe wird in diesem taktischen Sinne als ein Geteilt-Sein realisiert, welches für die Verschiedenheit der Teilhabenden sensibilisiert und diese Differenzen offenhält. Die Testfälle sieht knowbotiq als Sensibilisierungen für Nicht-Wissbares,12 ohne dies in Mechanismen der Wissensproduktion überführen zu wollen. Der Bereich des Nicht-Wissbaren formiert sich auch innerhalb der kybernetischen Überwachungs-, Kontroll- und Prognoseapparate: Je mehr sich die Protokolle des Analysierens, Profilbildens, der Anspruch des Alles-wissen-Könnens

10 Bernhard Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung, Frankfurt a.M. 2002, S. 174. 11 Matthew Fuller: »The Cat Seemed to Think There was Enough of it Now in Sight«, in: Andreas

Broeckmann und Knowbotic Research (Hg.): Opaque Presence. Manual of Latent Invisibilities, Zürich 2011, S. 44. 12 Godfried Engbersen: »The Unknown City«, in: Berkeley Journal of Sociology 40 (1995/96), S. 87– 111.

139

140

knowbotiq

v­ erdichten und glätten, umso mehr wird das jederzeit zu Berechnende zum Unberechenbaren, umso mehr kann neben diesen Verdichtungen das Ununterscheidbare, Ungreifbare, Ununterdrückbare präsent werden. Nicht-Wissbares ist keine Abtrennung/Einschließung von Bestehendem, sondern das, was immer noch da ist, wenn alle Analyseprotokolle angewendet worden sind: diffundiert vollständig sichtbar und gleichzeitig vollständig unsichtbar eingetaucht in teil von gesellschaft das was nicht angeeignet werden kann bloß da, undurchschaubar

Tim Zulauf

Unklärbarkeit Zwölf Thesen und sieben Textausschnitte zur Radikalisierung der Ambivalenz

Was entsteht, wenn ich mehreres gleichzeitig tue? Wenn ich nicht wertend zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten wähle oder gewichte, sondern in der Gleichzeitigkeit eines Sowohl-als-auch unterschiedliche Denkweisen, Empfindungen oder Arbeitsansätze nebeneinander in der Schwebe halte? Diese Fragen haben nicht nur eine thematische Relevanz. Denn hier, am Text, versuche ich zwar, an Thesen zur möglichen Bedeutung »radikaler Ambivalenz« in Kultur und Gesellschaft zu arbeiten. Dabei schieben sich aber immer wieder biografische Momente und Erinnerungen an ein früheres Projekt, die installative Dramatisierung »Der Bau der Wörter« in den Gedankengang.1 Diese Produktion fand 2010 in einem weitläufigen Bürokomplex in Zürich-Seebach statt. Der achtzigminütigen Handlung, die dreimal hintereinander unterschiedliche Räume durchzog, konnte über eine Lautsprecherprojektion kontinuierlich gefolgt werden – auch dort, wo das Schauspiel nicht zu sehen war. Die Firma Contraves hatte das Gebäude 1983 als Firmenhauptsitz errichtet und in ihm bis 1999 Flugabwehrkanonen für den Konzern Oerlikon-Bührle entwickelt. Seit 2010 bietet der Immobilienmanager Fischer AG unter der Devise »Love, Peace

1



Der Bau der Wörter, Tim Zulauf/KMUProduktionen in Koproduktion mit Andrea Thal, Les Complices*, Zürich. Informationen unter www.zulauf.it. Für schauspielerisch-theatrale Interventionen in bestehenden Räumen haben wir den Begriff der installativen Dramatisierung gewählt. Betonen möchten wir damit die angestrebte Spannung zwischen auf Entwicklung zielenden Erzählformaten und den statischen, installativen Aspekten der Orte selber. .

142

Tim Zulauf

and Happiness« in diesem Gebäude nun Büroeinheiten für eine kulturell-kommerzielle Mischnutzung an. Unsere Ambivalenz gegenüber dieser Umdeutung einer historisch belasteten Situation versuchten wir in »Der Bau der Wörter« zu spiegeln. Die Erzählung zeigte eine fiktive städtebauliche Kommission, die bei ihren Recherchen von lettristischen beziehungsweise situationistischen Konzepten aus den 1950er-/1960er-Jahren unterwandert wird. Die gespielten Figuren wurden in diesem Verlauf »in sich selber ambivalent«. Sie fanden sich in Wörter und, gemeinsam, in einen Satzbaustein verwandelt, den die Situationistin Michèle Bernstein formuliert hatte.2 Die Wörter selber waren es nun, die die SchauspielerInnen handeln ließen. Die Frage war, damals unausgesprochen, eine ähnliche wie hier, im Rahmen der Thesen: Was für ein Raum entsteht, wenn das Nicht-Zusammengehörige sich bis in die Wörter zuhört, auf sich hört, auf sich eingeht? Ist es angebracht, von verbindenden Zwischenräumen zu sprechen, die in den Lücken des konventionell Unverbundenen aktiv werden? Oder bieten sich begrifflich eher flüchtige Räume an, also Vorstellungen davon, wie das Nicht-Zusammengehörige den Orten und Begriffen selbst in eine unentscheidbare Unklärbarkeit ausweicht, um Definitionen oder Identifikationen zu vermeiden? Der folgende Text entsteht im Idealfall zwischen den Auszügen aus einem älteren Skript und der Reihe von Thesen, um in der Durchdringung theoretisch-begrifflicher und künstlerischer Produktion Unklärbarkeit herzustellen und auszuhalten.

1. These: Zu den Thesen zur Radikalen Ambivalenz

Wenn im Folgenden Thesen zur »radikalen Ambivalenz« aufgestellt werden, stellt sich vorab die Frage: Welches Ich wird oder kann sprechen? Welche AutorInnenschaft manifestiert sich im Aufstellen solcher Thesen? Und inwiefern können die Thesen »über« radikale Ambivalenz aufgestellt werden – mit welchem Grund, auf dem Boden welcher Subjektivität? Eine radikalisierte Ambivalenz wird schließlich nach Wurzeln fragen müssen. Sie wird die Wurzeln 2 Aus potlatch 23, 13. Oktober 1955: »Michèle Bernstein fordert, dass die Kirchen teilweise zerstört

werden […]. Die perfekte Lösung bestünde darin, die Kirchen vollkommen dem Erdboden gleichzumachen und dann Ruinen an ihrer Statt aufzurichten.« [Hervorhebung des Satzbausteins durch d. Verf.]. Zitiert nach: In girum imus nocte et consumimur igni. Die Situationistische Internationale (1957– 1972), Zürich 2006, S. 115 (Kat. Ausst.).

Unklärbarkeit

infrage stellen, wird das Ziehen von Konsequenzen in Mitleidenschaft ziehen. Denn wie könnte ein Denken jemals konsequent sein, das sich selbst gegenüber ambivalent von Ambivalenzen handelt? Die Radikalisierung der Ambivalenz meint also nicht nur ein Nachdenken über Ambivalenz, sondern ein ambivalentes Empfinden dem eigenen Denken oder dem Denken des Eigenen gegenüber. Das »radikal ambivalente« Denken versagt sich dadurch die Konsequenz des Nachdenkens selbst. Es wird aber, trotzdem und inkonsequenterweise, gleichzeitig immer auch über die Ambivalenz nachdenken, während es gegen sie empfindet. Das Denken wird als Empfinden und das Empfinden als Denken also zwischen unterschiedlichen Polen, Gedankensträngen, Empfindungsströmen und Zielrichtungen taumeln. Es wird zittern in Spannungen, die zwischen gegenläufigen, sich scheinbar ausschließenden Welterschließungsweisen entstehen. Und es wird sich aufspalten und vervielfältigen, sich überraschend wieder vereinfachen und dabei immer wieder fragen, inwiefern seine unterschiedlichen Bezugnahmen zur Welt überhaupt in einem – künstlerisch oder nicht künstlerisch tätigen – Subjekt zusammenzufassen sind. Ob sie überhaupt zusammenzufassen sind. Das Denken in radikalen Ambivalenzen geht daher unterschiedliche Verhältnisse oder Allianzen zu Denkgegenständen, Meinungen oder Lebensweisen ein – gleichzeitig und über die Zeiträume hinweg. Es verändert sich, indem es seine Anteile über diese mehrfachen Relationen verändert. Und dabei kann hier, vorab, schon einmal behauptet werden: Dieses Denken de-identifiziert sich dabei immer wieder, stößt sich von sich selber ab. Es richtet sich gegen die Vorstellung eines einheitlichen, autonomen Ichs. Es distanziert sich von sich selber. Denn nur als ein Denken und Empfinden, das nicht auf seine Identität vertraut, das sich de-identifiziert, um die eigene Normalität, die Selbstnormierung, abzuschütteln, um sich dem Anderen zu öffnen, kann es radikal ambivalent sein. Damit würde sich radikal ambivalente Kunst zwangsläufig vom marktmächtigen Rollenbild eines souveränen KünstlerInnensubjekts abwenden, wie es von der bürgerlich geprägten Kunstgeschichte dominant erzählt wird. Das gegenwärtige, wirtschaftlich neoliberale Paradigma begeistert sich für das souveräne KünstlerInnensubjekt nicht zuletzt deswegen, weil es seine Entscheidungen ausschließlich selbstbezogen fällt und jeglichen Widerspruch in eine immer lesbare, intakte und gleichwohl flexibel scheinende Identität integriert. »Radikale Ambivalenz« hingegen müsste Seinsweisen aufsuchen, die in sich so plu-

143

144

Tim Zulauf

ral, widersprüchlich, mehrteilig oder überraschend platt sind, dass sie von den Verwertungsrahmen Kunst, Philosophie, Literatur oder Theater nicht gehalten werden können. Die Radikalisierung der Ambivalenz wird also so weit gehen müssen, sich selber in Zweifel zu ziehen. Und um sich selber gegenüber ambivalent zu bleiben, um nicht als neue Norm »radikaler Ambivalenz« gegen das Normierte ins Feld geführt zu werden, wird sie nicht immer ambivalent sein können. Sie wird aus der im lateinischen Wortstamm ambo »beide« und valere »gelten« enthaltenen zweiteiligen Wahl-Struktur oder der Struktur von These und Antithese aussteigen. Sie wird das Problem hinter sich zurücklassen, dass zwischen zwei Optionen zu wählen wäre, oder dass zwei Haltungen in einer dritten aufgehoben werden müssten. Sie wird situativ und inkonsequent sein. Das Dilemma dieses radikalisiert ambivalenten, de-identifizierenden Denkens und Empfindens kann damit auch gleich benannt werden: Es lässt keine konventionellen Gruppenbildungen oder Engagements zu. Es kann keine identitären Einheiten stützen, die gemeinsam Rechte, Anerkennungen oder Umverteilungen fordern. Dieses Denken scheint also den Konflikt zu befeuern, der seit der Postmoderne zwischen dekonstruierendem, Handlungsmächte zerlegendem Vorgehen und synthetisierendem, politisch handlungsfähige Gruppen aufbauendem Vor­ gehen ausgemacht wird.3

2. These: Nicht-Ich

Als KünstlerInnen müssen wir endlich wieder darauf beharren, dass wir keine KünstlerInnen sind, dass wir nicht mehr dieselben KünstlerInnen sind, sobald wir gehen oder sitzen oder schlafen. Dass wir als sitzende, schlafende oder gehende KünstlerInnen nicht nur unterschiedliche KünstlerInnen sind, gilt es herauszuarbeiten, sondern vor allem auch: Dass wir gar keine KünstlerInnen mehr sind, vielmehr reines »Gehen quer über ein bestimmtes Territorium«, »Schlafen in einer bestimmten Haltung« oder »Sitzen in einer dem Ort abgelauschten Haltung«. Nur so, in der existenziellen Überspitzung von nicht ineinander­ passenden Logiken, lässt sich all den Zumutungen der festgelegten Rollen- oder gar Seinszuweisungen entgegentreten: Als Nicht-Ich, das die Selbsttypisierung 3 Siehe etwa Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Ein Essay, Stuttgart 1997.

Unklärbarkeit

und Festlegung von Seinsweisen von sich weist. Ob KünstlerInnen so vorgehen oder FriseurInnen, spielt dabei keine Rolle.4

3. These: Unklärbarkeit

»Radikal ambivalente« Arbeiten (ob künstlerische, philosophische, clubkulturelle, aktivistische, handwerkliche etc.) stellen also Räume der Unklärbarkeit her. Sie wirken dabei so bodenlos, dass diese Arbeiten selber nicht mehr als aktuelle Kunst, Philosophie, Clubkultur, relevanter Aktivismus oder handfestes Handwerk überhaupt angesehen werden können. Denn die unklärbaren Räume solcher Arbeiten entstehen entweder in den Lücken zwischen Nicht-Zusammengehörigem und spannen sich über einer ausgehaltenen Unentscheidbarkeit auf. Oder sie widersetzen sich generell einer Identifizierbarkeit, weil sie wissen, dass mit jeder erfolgreichen Identifikation einer Arbeit deren widerständiger Kern unter den heutigen Bedingungen des Finanzkapitalismus zur freudig begrüßten Kritik umgemünzt und in Warenform aufgelöst würde. Die Unklärbarkeiten solcher Arbeiten stellen also Situationen her, die nach bekannten Mustern nicht abschließend gelöst werden können, die sich selber dabei aber nicht auflösen, sondern in ihrem Zittern verharren. Sie deuten auf eine Formlosigkeit hinter den Rastern und Stereotypen der Identitäten – 4 »[Bertrand Russell] stieß auf das Paradoxon der ›Menge aller Mengen, die sich selbst nicht ent-



halten‹. Hier ergab sich eine Antinomie: Entweder diese Menge enthielt sich selbst nicht – dann war sie aber unvollständig, da ihr ein Element abging, das sie ihrer Definition nach hätte enthalten müssen (nämlich sie selbst). Oder aber sie enthielt sich selbst – dann aber war sie widersprüchlich, denn sie enthielt ein Element, das ihrer Definition nicht gehorchte. Russell verglich dieses Paradoxon mit dem – seiner Ansicht nach allerdings leichter zu lösenden – Bild eines Friseurs, der die Aufgabe hatte, alle jene Männer seines Dorfes zu rasieren, die sich selbst nicht rasierten. Wieder stellt sich die Frage: Darf er sich selbst rasieren? – und es ergab sich die für die Verdopplung typische Antwortstruktur: Wenn ja, dann nein; und wenn nein, dann ja. Russells Lösungsversuch für diese Antinomie war die sogenannte ›Typentheorie‹, die besagt, dass der rasierte Friseur und der rasierende zwei unterschiedlichen logischen Stufen (bzw. ›Typen‹) angehören und dass der eine nicht mit dem anderen identifiziert werden darf (vgl. Russell 1956: S. 59–102). Friseur 1 und Friseur 2 waren nicht derselbe; insofern kam es zu keiner Verdopplung, und folglich auch zu keinen Widersprüchen.« In: Robert Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie, Frankfurt a.M. 2011, S. 151f. Ein taugliches Vorgehen, der Routine eines sich in falscher Verbindlichkeit wiegenden Alltags zu entgehen, ist, ihr mit formallogischen Problemen zu begegnen. Konfrontiert werden so die blinden Flecken einer Machtpolitik, die logische, ökonomische oder biotechnologische Herangehensweisen einer jeweils eigenen, von gesellschaftlichen Fragen abgekoppelten Sphäre zuordnet.

145

146

Tim Zulauf

auf etwas, das Identitäten verflüssigt und jeder »normalen«, von Machtverhältnissen geprägten Identität entflieht. Solche Unklärbarkeiten fordern die Funktionsweisen der Normalität heraus. Sie fordern von den sich in ihnen aufhaltenden RezipientInnen, dass sie ihre eigene Normalität und Hierarchiekonstruktion ins Spiel mit einbringen. »Radikal ambivalente« Kunst, die unklärbare Situationen herstellt, fordert damit von den sie Wahrnehmenden, von den mit ihr Engagierten die Entscheidung über deren eigenen Zustand und den Staat, in dem sie sich befinden. Zusammengefasst sagt die ausgehaltene Unklärbarkeit also aus, dass der Entscheidungszwang zwischen zwei Wahlmöglichkeiten oder der Entwicklungszwang aus zwei Optionen heraus abzulehnen ist, weil bereits die Entscheidungsgrundlage allzu normiert identifiziert wurde: »Ich kann mich nicht entscheiden? – Das liegt möglicherweise nicht an mir … ›it might be political‹.«5

4. These: UnabschlieSSbare Identitätsverschiebungen

Franz Kafka hatte als Autor des Romanfragments Das Schloss ständig zu klären, in welchem Staat, Zustand oder Stand sich seine Hauptfigur K. zu befinden hätte. K.s Situation scheint, wie die des Schlosses selber, unklärbar. Er und die rund um ihn erschaffenen Figuren wissen offenbar ebenso wenig Genaues über ihre Identität zu sagen wie ihr Autor. Also wandeln sie ihre Daseinsformen (in der Fiktion wie in der Realität des Schreibens) durch Sprechakte selber 5 »Die aktivistische Gruppe Feel Tank Chicago formulierte 2003 den Slogan ›Depressed? It Might

be Political‹ und rief zu Demos in Pyjama und Bademantel auf. Feministisch-queere Theoretiker_ innen wie Ann Cvetkovich, Lauren Berlant oder Heather Love, die Teil der Feel Tanks in verschiedenen US-amerikanischen Städten sind, setzen den Begriff ›feeling bad‹ (sich schlecht fühlen) anstelle von ›Trauma‹ oder ›Depression‹ ein, um eine Auseinandersetzung mit den Effekten des ›Schmerzes der Unterwerfung‹ (Berlant) auch im Alltag zu ermöglichen. ›Feeling bad‹ wird im Zusammenhang mit neoliberalen Arbeits- und Lebensverhältnissen thematisiert, und auch als Effekt geschlechtsspezifischer Ausgrenzungen, von sexueller Gewalt oder postkolonialen Hierarchien als ›public feeling‹ politisiert. Dabei adressieren sie insbesondere auch ›Aktivist_innen, Akademiker_innen und Künstler_innen, die sich sozialer Veränderung verschrieben haben, aber sich häufig entmutigt, frustriert oder fehl am Platz fühlen.‹ (Cvetkovich).« Karin Michalski, http://www.lescomplices.ch/recollect/feeling-bad-in-feministisch-queeren-video-filmkunstarbeiten/ (aufgerufen Oktober 2013). Siehe auch das Fanzine Feeling Bad. Queer Pleasures, Art & Politics, von Karin Michalski, Sabina Baumann u.a. sowie das Ausstellungsprojekt The Alphabet of Feeling Bad von Karin Michalski & An Unhappy Archive, Les Complices*, Zürich, 27.2.–23.3.2013, www.lescomplices.ch.

Unklärbarkeit

ab – im Wissen darum, dass die von ihnen – als Wortwesen – gesprochenen Worte in der Lage sind, die sie umgebenden Realitäten anders herzustellen oder umzustellen. Schreibender wie Geschriebene versuchen so gleichzeitig, die Deutungshoheit über die unklärbare Situation immer von Neuem an sich zu reißen. Kafka schrieb den Figuren damit eine Macht zu, mit der sie das Korsett der ihnen angemaßten Identitäten aufreißen konnten  – und mit der sie die Identität des sie schreibend verfertigenden Autors selbst attackierten. Denn wie wären die Identitäten dieser Figuren zu deuten, wenn sie sich selber offensichtlich nur über Erfindungen und kurzerhand ergriffene Situationslösungen weitererzählen können? Bezeichnenderweise ist K. als Landvermesser im Romanfragment Das Schloss programmatisch jemand, der Eigenes von Fremdem zu trennen, der Grenzlinien zu ziehen und Besitzverhältnisse zu klären hätte. Und dies im Auftrag eines Grafen mit dem unlokalisierbaren Namen Westwest. Aber gerade rund um diese Definition seiner Kompetenz und Eigenschaft entspinnt sich ein mehrstufiger Konflikt. Gleich zu Beginn, im Wirtshaus, wird K. seine berufliche Qualifikation und seine Identität von einem Spitzel streitig gemacht. Ein Telefonat mit den Unterkastellanen des Schlosses ergibt über K.: »Keine Spur von Landvermesser, ein gemeiner lügnerischer Landstreicher«, bis kurz darauf das Telefon im Wirtshaus wieder klingelt und der Bürochef selber die Ge­ schicke umlenkt. K. und sein Autor zusammen kommentieren dies mit folgenden Ü ­ berlegungen: »Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, dass man im Schloss alles Nötige über ihn wusste, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es war aber andererseits auch günstig, denn es bewies, seiner Meinung nach, dass man ihn unterschätzte und dass er mehr Freiheit haben würde, als er hätte von vornherein hoffen dürfen. Und wenn man glaubte, durch diese geistig gewiss überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich; es überschauerte ihn leicht, das war aber alles.«6

6 Franz Kafka: Das Schloss. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1994, S. 13.

147

148

Tim Zulauf

Wie ambivalent, fraglich und fragil die von K. möglicherweise lediglich behauptete und nun von der Autorität des Schlosses ihm aber offiziell zu­geschriebene Identität als Landvermesser ist, zeigt sich, als K. mit seinen ­Gehilfen konfrontiert wird, die er an sich kennen müsste. Es sind zwar anscheinend die alten Gehilfen, die er zu erwarten scheint, zugleich muss er aber feststellen, dass er sie nicht einmal voneinander unterscheiden, geschweige denn wiedererkennen kann. In einer pfiffigen und zugleich grauenvollen Übertreibung militärisch-totalitärer Logik identifiziert K. die beiden Gehilfen mit­ einander und kettet sie im Selben zusammen: »[K.] nahm die Laterne aus der Hand des Wirts und beleuchtete die zwei; es waren die Männer, die er schon getroffen hatte und die Artur und Jeremias angerufen worden waren. Sie salutierten jetzt. In Erinnerung an seine Militärzeit, an diese glücklichen Zeiten, lachte er. ›Wer seid ihr?‹ fragte er und sah vom einen zum anderen. ›Euere Gehilfen‹, antworteten sie. ›Es sind die Gehilfen‹, bestätigte leise der Wirt. ›Wie?‹ fragte K. ›Ihr seid meine alten Gehilfen, die ich nachkommen ließ, die ich erwarte?‹ Sie bejahten es. ›Das ist gut‹, sagte K. nach einem Weilchen, ›es ist gut, dass ihr gekommen seid.‹ […] ›Es ist schwer mit euch‹, sagte K. und verglich wie schon öfters ihre Gesichter, ›wie soll ich euch denn unterscheiden? Ihr unterscheidet euch nur durch die Namen, sonst seid ihr einander ähnlich wie‹ – er stockte, unwillkürlich fuhr er dann fort –, ›sonst seid ihr einander ja ähnlich wie Schlangen.‹ Sie lächelten. ›Man unterscheidet uns sonst gut‹, sagten sie zur Rechtfertigung. ›Ich glaube es‹, sagte K., ›ich war ja selbst Zeuge dessen, aber ich sehe nur mit meinen Augen, und mit denen kann ich euch nicht unterscheiden. Ich werde euch deshalb wie einen einzigen Mann behandeln und beide Artur nennen, so heißt doch einer von euch. Du etwa?‹ – fragte K. den einen. ›Nein‹, sagte dieser, ›ich heiße Jeremias.‹ – ›Es ist ja gleichgültig‹, sagte K., ›ich werde euch beide Artur nennen. Schicke ich Artur irgendwohin, so geht ihr beide, gebe ich Artur eine Arbeit, so macht ihr sie beide, […].‹«7 Die Frage, die sich an die vielfältigen Identitätsverschiebungen rund um Das Schloss anschließt, wäre, ob Franz Kafka nicht ebenso sehr als Jurist oder ­Beamter der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt geschrieben hat wie als 7 Ebd., S. 27f.

Unklärbarkeit

Schriftsteller. Ob er sein Schreiben nicht zwischen mindestens drei Identitäten austrug – diejenigen seiner Figuren noch nicht einberechnet. Was sich als Raum zwischen den sich verschiebenden Identitäten eröffnet, wäre aber nicht statisch zu begreifen, als handhabbare Inter-Identität sozusagen. Wichtiger ist die Feststellung, dass die situationsgebundenen oder aber auch willkürlichen Identitätswechsel den Identitätsverwurf überhaupt ins Spiel bringen. Angelegt scheint in Kafkas Romanfragment damit vielmehr die unaufhörliche Verschiebung einer identitären Bestimmung. Das Schreiben entsteht aus einer Aktivität, die den Identitätssetzungen der Hierarchie setzenden Macht, des Schlosses, immer aufs Neue ausweicht. Die Auseinandersetzung mit der Autorität produziert unabschließbare Identitäten.

5. These: Kriterien der VerUneindeutigung

Die entscheidende Wendung nehmen solche Identitätsverschiebungen also mit einem Perspektivwechsel vor: Fraglich sind nicht mehr die ungeklärten Seinsweisen, sondern die normierten, klassifizierbaren Identitäten, die wie Spielmarken eingeworfen oder wie Masken übergestülpt werden können. Die Identitätsverschiebungen legen schließlich nahe, dass dort, wo Identitäten künstlich gesetzt und angeeignet werden können, niemand über die Essenz einer »richtigen« Identität verfügt. Weiter braucht auch niemand mehr Anerkennung zu fordern für eine abweichende Existenzweise. Die unabschließbaren Identitätsverschiebungen rauben der Norm das Zepter der Normalität. Denn das ist ja das jeweils merkwürdige an Anerkennungsforderungen: dass sie für jede Anerkennung einer von der Normalität abweichenden Seinsweise die Normalität anrufen und damit verstärken müssen. Die Identitätsverschiebung dagegen lässt fragen: Müssen wir wirklich die Normierung anrufen? Nur um im Gegenzug ein kleines Stückchen Anerkennung und unsere kleine Ration Normalität zu erhalten? Denormalisierung und Enthierarchisierung sind die Kriterien, nach denen die Queer-Theoretikerin Antke Engel die Wirkung ihres Vorgehens der VerUneindeutigung bemisst. VerUneindeutigung ist für sie immer dort eine positive Größe, wo sie Normalitäten und Hierarchien in Zweifel zieht, um ihnen die Wurzeln der Naturwüchsigkeit zu ziehen. Der künstlerische, repräsentationsbezogene und damit auch politische Erfolg einer gelungenen VerUneindeutigung stellt sich

149

150

Tim Zulauf

ein, sobald ein unterdrückender Kontext denormalisiert und enthierarchisiert werden kann.8 Engels Vorgehen der VerUneindeutigung erzeugt »radikal ambivalente« Bewegungen, die sich ausschließende Felder aufeinander öffnen und miteinander verschmelzen. So spricht die Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser etwa von einem Anerkennungs-Umverteilungs-Dilemma – also davon, dass die Forderung nach Anerkennung der eigenen, spezifischen Identität (als indigene, nicht zu Wort kommende Minderheit zum Beispiel) einer Logik der Differenzierung und Unterscheidung folge. Genau diese würde aber die Forderung nach Umverteilung, also der materiellen Zuwendungen und staatlichen Unterstützung, verunmöglichen. Denn nach Fraser folgt die Umverteilung von Allgemeingütern einer Logik der Gleichheit. Umverteilung würde also nur dort gewährt werden, wo sich ein benachteiligter Gesellschaftsteil eben gerade als gleichartig wie der als normal geltende Gesellschaftsteil darstellen könne – und damit nachweise, dass er zu Unrecht benachteiligt sei. Die Forderung nach staatlicher Unterstützung und Umverteilung verlange also, eben gerade nicht einer abweichenden Identität anzugehören, sondern der Allgemeinheit. Antke Engel mag dieser theoretischen Setzung Nancy Frasers nicht folgen. Im Gegenteil, so argumentiert sie, würden erst da, wo die scheinbar paradoxen Forderungen von Anerkennung und Umverteilung gleichzeitig erhoben werden, eine eigene Repräsentation und Anerkennung zusammen mit einer materiellen Gleichstellung erreicht. Die Kriterien dafür, ob ein Kampf mittels VerUneindeutigung erfolgreich ist, bemessen sich für Engel also weniger am Sieg im Namen einer neu anerkannten und unterstützten identitären Gruppe, sondern daran, dass die gesellschaftliche Normalität im Zuge der Auseinandersetzung die Konstruiertheit ihrer Natürlichkeits- und Hierarchieordnungen eingesteht und sich deswegen  – denormalisiert und enthierarchisiert  – den unabschließbaren Bewegungen des von ihr unterschiedenen Nicht-Normalen öffnen muss. 9

8 Antke Engel: Wider die Eindeutigkeit: Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsen-

tation, Frankfurt a.M. 2002, S. 204–206. 9 Ebd., S. 206–211.

Unklärbarkeit

6. These: Abweichende Produktionsrhythmen

Gegen den kontrollierenden Zugriff der kapitalistischen Innovations-Rhythmen, die durch die geregelte Abfolgen von Produktgenerationen Lebenszeiten und Raumeinheiten einteilen, müssen in unberechenbaren Rhythmen sich verlagernde oder sich verschiebende Räume entworfen werden. Die obrigkeitliche Zuweisung von bestimmten Tätigkeiten an bestimmte Räume etwa bestärkt vorhandene Identitäten und grenzt erwünschte von unerwünschten Nutzungen gegeneinander ab. Das auf Humankapital und lebendige Mehrwerte abzielende, identitäre Denken lässt keine Begegnungen zwischen den sogenannten Rädern der Gesellschaft und den sie steuernden Zentren zu. Die als Ränder identifizierten Gesellschaftsbereiche gelten als gefährlich, weil sie die Identitätssetzungen der Zentren infrage stellen. Folglich dürfen Prostituierte unter keinen Umständen den Familien der sie besuchenden Freier begegnen. Familiale Reproduktion wir vom bezahlten und konsumierten Sex mehr und mehr abgegrenzt. Ebenso werden Asylsuchende und MigrantInnen, die den Grenzziehungen nationaler Regimes zuwiderlaufen, nicht in der Nähe derer toleriert, die von diesen Grenzziehungen profitieren. Neu entstehen abgegrenzte Bereiche mit eigenen Verwertungsformen: Im Schweizerischen Asylwesen etwa durch privatisierte Betreuung und Kontrolle der Flüchtlinge. Die üblicherweise staatlichen Aufgaben der betreuenden Arbeit werden in eigens abgegrenzten Räumen für Privatunternehmen produktiv gemacht. Im internationalen Maßstab ist diese Entwicklung hin zu privatisierten Zeit-Raum-Einheiten längst zum Klischee erstarrt: Genauso gut wie Turnschuhe in Sweatshops werden High-TechComputer hergestellt in unzugänglichen Produktionsstätten – Städte mehr als ghettoisierte Stadtteile, die schon länger mit steigenden Selbstmordraten konfrontiert sind. Alle diese so unterschiedlichen Orte etablieren sich über straffe Zeitregime, die einzig dem Diktat einer bestimmten Produktionskette oder einer auf Trennung zielenden Identitätsproduktion folgen. Abweichende Produktionsrhythmen, die nicht den normierten Zeit- und Raumfolgen unterliegen, könnten dagegen gezielt Begegnungen und Spannungen zwischen solchen identitären Räumen herstellen. Erfunden werden müssen also Arbeitsweisen, die die räumliche und zeitliche Trennung produktiv gemachter und verwerteter Orte überbrücken, sie vernetzen und in de-identifizierender Verschiebungsarbeit anders zurückerobern. Eine herausfordernde

151

152

Tim Zulauf

Arbeit, die immer wieder die Aufgabe eigener Rollen- und Berufsbilder verlangt.

7. These: Aufschub

Nehmen wir an, ein binärer Entscheid könne von mir nicht getroffen werden. Ich kann, zum Beispiel, nicht einkaufen. Weder möchte ich »ja« sagen noch »nein«. Beziehungsweise sage ich nicht einmal mehr »ich«. Denn »ich« möchte »mich« nicht entscheiden müssen. Ich möchte durch den Kaufentscheid kein »Ich« definieren, das als Willenseinheit zu identifizieren wäre. Erhalten möchte ich stattdessen einen Schwebezustand, also einen Zustand zwischen den Dingen, Zuständen und Selbsten. Dieses Zwischengefühl, als Gefühl zwischen den Dingen, ist lästig oder genussreich, wird un-/absichtlich widerständig von KundInnen  – oder strategisch geplant von VerkäuferInnen  – hervorgerufen, je nach dem: Ich stehe im Geschäft und kann mich nicht entscheiden für oder gegen den Kauf einer Hose, zum Beispiel. Sie passt gut, ist für ihre Normalität aber zu wenig günstig. Mein Zustand der Ambivalenz vor dieser Hose meint dann die Dauer des Aufschubs, die Zeit der Entscheidung vor dem Abschluss oder Abschuss des Geschäfts. Aber einmal im Geschäft werde ich entscheiden müssen, Ambivalenz hin oder her, Hose ja oder nein. Und der Aufschub des Kaufs verzehrt meine Zeit oder er zerrt an den Nerven der VerkäuferInnen. Aber diese Zeit kann auch eine Zeit des Genusses sein: Für die zum Kauf Verführenden, die mich »als ein sich über einen Kauf definierendes Ich« zappeln sehen. Oder für mich, den aufschiebend Kaufenden, der unentschieden nicht-mehrich-ist im Moment des Aufschubs. Ich (noch nicht kaufend) oder sie (noch nicht verkaufend) genießen den un-/möglichen Kauf, den Zustand ohne Definition, in dem der Kauf noch nicht getätigt worden ist und folglich das Verhältnis zwischen kaufenden und verkaufenden Positionen offen bleibt. Was in diesem Beispiel nicht zu haben ist, auf Dauer, dingfest, ist ein dritter Zustand, das Halten des »Aufschubs mit und ohne Hose«. Die Frage lautet also: Wie halten wir ihn aus? Den Zustand ohne Definition? Wie entkoppeln wir ihn? Das Individuum, das Wahlmöglichkeiten zugunsten des Aufschubs überbrückt, vermeidet eine eindeutige Identität. Es hält sich in einem Raum auf, in dem es für das Andere und für die Wechselfälle der Situation empfänglich bleibt. Der Zustand selbst, in dem sich die Noch-Nicht-Handelnden befinden, gerät in

Unklärbarkeit

Bewegung – eine Bewegung, die immer neu die Frage nach dem wünschenswerten Miteinander stellt: Wer steht in wessen Schuld? Sind die Schuldgefühle oder die alles durchdringende Logik der finanziellen Verschuldung nicht überhaupt zu verwerfende Empfindungs- und Denkweisen? Wie sind die Machtverhältnisse zwischen Kaufenden und Verkaufenden ineinander verstrickt? Laufen sie über rein abstrahierte Geld- und Finanzverhältnisse? Oder lassen sich neben diesem übermächtigen, sich über Krisen fortschreibenden Machtstrom Ströme beweglicher Identitäten denken, die sich nicht aus Unterwerfungs- und Ausbeutungsmechanismen speisen? Weshalb soll dieses oder jenes »für mich« so oder so viel wert sein, wenn ich die Bedingungen nicht akzeptiere, unter denen ich von den kapitalistischen Schuldverhältnissen »zu mir« gemacht oder als »Ich« angesprochen werde?10 Das Aufweichen von normierten Abhängigkeiten bedingt Strukturen außerhalb des Verschuldungs- oder Profitdenkens. Und tatsächlich stellt die jeweilige Neuverknüpfung von Tausch und loser Identität die abstrakten Wertsetzungen des Finanzkapitalismus in Frage. Denn »bewegliche Identitäten« heißt immer auch bewegliche Werte, unter vielen rotierende Gebrauchsobjekte, geteilte Wertschöpfung. Sie erfordern ein Aushandeln der Interessen, der Zwischenräume zwischen Dingen und Menschen, von Angesicht zu Angesicht, das sich unter computergesteuerten und mittels Statistiken und komplizierten Finanzinstrumenten gesicherten Verhältnissen nicht denken lässt. Zusammenschlüsse beweglicher Identitäten erwerben Lohn und Ware nicht im abstrakten Produktions- oder Kaufakt. Sie bestimmen ihre Entschädigungen selber, stimmen sie aufeinander ab.

10 »Die Finanzwelt ist ein furchtbares Instrument, mit dem die Zeit der Handlungen kontrolliert wird, mit dem das Mögliche, die ›lebendige Gegenwart‹, die ›formbare Zone der Übertragung und des Unsicheren‹, die ›Begegnung von Vergangenheit und Zukunft‹ neutralisiert wird. Sie verschließt das Mögliche, in dem [sic, TZ] sie sich in die Zukunft projiziert. Die Zukunft ist für sie nur eine einfache Antizipation der Herrschaft einer gegenwärtig bereits bestehenden Ausbeutung. Aber wenn eine kritische Schwelle der Unsicherheit über die Zukunft und ihre Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen einmal eintritt, dann bricht die vom Möglichen entleerte Gegenwart in sich zusammen. Die Krise ist also eine Krise der Zeit und der Emergenz einer Zeit politischer und sozialer Kreation, die die Finanzen zu zerstören suchen. Und das genau ist unsere Situation: Die Logik der Schulden erstickt unsere Handlungsmöglichkeiten.« Maurizio Lazzarato: Die Fabrik des verschuldeten Menschen. Ein Essay über das neoliberale Leben, Berlin 2012, S. 71.

153

154

Tim Zulauf

8. These: Vom Individuum zum Staat

Das Identitätsdenken zieht Parallelen zwischen nationalstaatlich und individuell Handelnden. Es ist dieselbe Denkweise, die strukturiert, wie Nationen ihre Gewinne einfahren und wie Individuen sich zwecks Profitmaximierung ihrer Leistungen versichern. Dass es den Nationen und Individuen dabei offensteht, ihre Identitäten flexibel im Wandel zu halten – solange sie kenntlich und als erfolgreiche erkennbar sind –, stellt die große Herausforderung im Spät­ kapitalismus dar. Denn die Flexibilisierung der staatlichen oder individuellen Identität setzt die Handelnden ständig neu unter Druck. Ununterbrochene Identitätsoptimierung ist die Folge. Gerade diese erzwungene Beweglichkeit im Rahmen einer Identität aber erschwert die fundamentale Kritik am Identitätsdenken: Eine Kritik am Identitätsdenken mittels »radikaler Ambivalenz« kann vom Regime der umfassenden Flexibilisierung vereinnahmt und zum Optimierungsfaktor werden. Wer Identitäten flexibel auszutauschen vermag, signalisiert damit die erwünschte Souveränität und Selbstsicherheit. Besonders in Bezug auf KünstlerInnen-Selbstbilder und künstlerische Positionen, gehört das souveräne Spiel mit Identitäten zum guten Ton, solange verschiedene Rollen über einen Namen verklammert werden können. Aber gerade dieses Etikettieren oder Labeln von anderen Gedanken, Vorgehens- oder Arbeitsweisen ist letztlich abzulehnen. Denn die Verwertung und Verwaltung der aus wandelnder Identität hervorgehenden Erzeugnisse, ihre Etikettierung und die Seltenheitsattitüde verunmöglichen genau das, was kulturelle Arbeit ermöglichen könnte: Das Selbst im Feld von Empfindungs- und Denkmöglichkeiten jeweils situativ als anderes oder als Ausweichbewegung zwischen identitären Zwängen zu verstehen. Wieso wäre es nun aber wichtig, darauf zu beharren, stets situativ jemand oder etwas anderes sein zu können? Die Vorstellung von setzkastenförmigen voneinander abgetrennten Kompetenzfeldern, fest angeeigneten Fähigkeiten, unterschiedlichen Gaben und Begabungen unterwirft uns alle nicht nur einer Verwaltung durch ExpertInnen, ManagerInnen etc., sondern sie stützt den Profit derjenigen, die die Grenzen zwischen den Setzkastenfeldern verwalten – auf individueller wie auf staatlicher Ebene. Immer deutlicher zeigt sich dabei, dass die Identitätslogik nicht nur ein Kontrollvehikel ist, das uns Einzelne einer allgegenwärtigen ExpertInnenlogik unterwirft und zur ständigen Selbstoptimierung zwingt. Sondern dass dieselbe Identitätslogik die nationalstaatlichen

Unklärbarkeit

Interessen strukturiert und, im Interesse der immer gleichen nordwestlichen Profiteure, die nationalen Einheiten gegeneinander ausspielt. Auch im nationalstaatlichen Setzkasten- oder Register-Denken ist Durchlässigkeit verboten, werden Hürden eingezogen, um diejenigen profitieren zu lassen, die die Grenzen hüten, Zölle erheben – und für bestimmte einzelne Player dann doch wieder schrankenlos Durchlass gewähren, um im Verbund mit diesen Playern vom Vorgang der Identitäts- und Grenzziehungen zu profitieren. Nur für wenige Privilegierte soll schließlich der Nationen- und Identitätswechsel gestattet sein. Dagegen gilt es vorzugehen. Nationen- und Identitätswechsel müssen verallgemeinert und vergesellschaftet werden.

9. These: De-Identifikation

Die Wege in einen Zustand jenseits der Definitionen und Identifikationen laufen über ständiges De-Identifizieren, über Identifikationen mit etwas, das »ich« nach gesellschaftlicher, biologisch-wissenschaftlicher oder biografischer Einschätzung gar nicht sein könnte und niemals sein werde. Diese Identifikation mit einem sich immer entziehenden, fiktiven Anderen (»Loving the Alien«11) ist ein Vorgang, der sich nicht abschließen lässt, der kein Ziel erreicht, der nie von sich sagen wird: Nun bin ich es, nun bin ich im Anderen angekommen, in einer identifizierbaren Definition. Denn diese Definition der/des Anderen würde dieses Andere und die Möglichkeit eines Anderen überhaupt auflösen. Schließlich ist es ebenso unmöglich, »jemand Anderes« zu sein, wie selbstidentisch über »sich selber« sicher zu verfügen, ohne sich auf die Konventionen gesellschaftlicher Verabredungen und Normalisierungen zu berufen. Die De-Identifikation richtet sich also gegen die scheinbar natürliche Selbstsicherheit dessen, was ein Selbst vorher war und gegen das gerasterte Angebot dessen, was es zukünftig sein könnte. Statt einer Identifikation mit etwas – ob Minoritäten, Kollektive, Tiere, das Unwahrnehmbare etc. – ist daher geboten, sich in ständiger De-Identifikation und beweglicher Ambivalenz zwischen den Identitäten zu halten. Die Bewegung zwischen den Identitäten wäre selber als etwas auszuhalten, ­festzuhalten, 11 Diedrich Diederichsen (Hg.): Loving the Alien. Science Fiction, Diaspora, Multikultur, Berlin 1998.

Darin insbesondere: Kodwo Enshun: »Angst vor einem nassen Planeten?«, S. 152–159.

155

156

Tim Zulauf

in dem und mit dem gelebt, gearbeitet und geliebt werden kann. Nur über ­ständige De-Identifikation wäre zu vermeiden, dass sich Hierarchien und Macht­ konstruktionen verfestigen und dauerhaft Unterdrückung hervorbringen.

10. These: Zum Copyright

Wenn ich jemanden sehe oder höre, die oder der wie ich agiert, also noch mehr ich ist als ich ich bin, dann kann das erschrecken  – aber auch entlasten. Ich werde von der Aufgabe freigestellt, ich selber sein zu müssen, weil schon jemand anderes für mich »ich« ist. Im Unterschied zur gegenwärtigen Paranoia, gezüchtet unter dem Diktat der produktiven Kreativität, hieße es dann nicht mehr: »Da raubt mir jemand mein geistiges Eigentum. Ich muss diese Person von diesen mich definierenden Gedankengängen abbringen, sonst kann ich mit meinen eigenen Projekten nicht weiter arbeiten.« Sondern: »Wie praktisch, dass jemand anderes so ähnlichen Ansätzen folgt wie ich. Nun können wir gemeinsam weiterdenken, oder ich wende mich anderem zu. Dann werde ich auch nicht identifiziert mit diesen Gedanken und niemand sieht sich gezwungen diese Gedanken für mich zu halten  – oder zwingt mich, zur zukünftigen Versteinerung dieser Gedanken zu werden.« All die künstlich-künstlerischen Fragwürdigkeiten im Stile einer amoklaufenden Copyright-Logik oder einer Diffamierung des »Schon-Gesehenen«, »Datierten«, »Unpräzisen« müssen also von der Hand gewiesen werden: Eine KünstlerIn hat diese Empfindung schon formuliert, sie darf also nicht wiederholt formuliert werden? Das wäre ein Abwürgen dessen, was Kultur ausmacht: Das sich aus immer neu wiederholten Gedankensträngen entspinnende Feld von Denk- und Empfindungsmöglichkeiten, die zum Glück niemals einem einzigen Ursprung oder einer als besonders einzigartig hervorgehobenen Person oder eben KünstlerInnen-Persönlichkeit zugewiesen werden können.

11. These: Nicht-kollektive

Kann das Kollektiv Auswege aus der Identitätsfalle des »Immer die-/der-/dasselbe sein müssen« bieten? Wohl kaum. Denn gerade im Kollektiv greifen wieder Rollenzuweisungen. Gruppenverhalten stabilisiert sich über Individual-­Rollen.

Unklärbarkeit

Die Selbstdefinition also, jemand sein zu wollen, die/der sich im Kollektiv aufgehoben sieht, stellt – als Gegensatz zum individuellen Handeln – dieses Individuelle mit her. Die Identität, die sich über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv definiert, verklammert das Individuelle und das Kollektive. Und es ist gerade diese Verklammerung, die im gemeinsamen KollektivSein die identitären Hierarchien aufrichtet, die sie selbst zu vermeiden sucht. (Jede Zugehörigkeit fragt nach dem Mehr oder Weniger der Identifikation.) Ambivalentes Denken, Empfinden und Handeln  – also auch Uneindeutigkeiten herstellende Texte oder Kunstwerke – lassen sich dennoch als kollektive Instrumente verstehen. Sie stellen nicht nur individuell Räume der Unklärbarkeit her, sondern setzen der auf Entscheidungen basierenden Identitätspolitik Möglichkeitsräume für nicht identifizierbares Handeln entgegen. In diesen Räumen haben die Handelnden die Möglichkeit, immer wieder in anderen Funktionen, Rollen oder Zusammenhängen aufzutauchen. Gemeinsam Kon­ struiertes ist nicht an sich gut, sondern vor allem dann, wenn es die unter­ drückenden Strukturen von Grenzziehung infrage stellt. Das »radikal Ambivalente« macht darauf aufmerksam, dass es kein per se richtiges Handeln (also etwa in Kollektiven statt in egoistischer Individualität) gibt. Im Gegenteil zeigt es auf, was es an Unentscheidbarkeiten auszuhalten gilt, um überhaupt erst gemeinsame Gedanken- und Ideen-Gruppen zu erfinden, die situativ von Normierungszwängen zu befreien vermögen.

12. These: Situative Gemeinsamkeiten

Das ambivalent sich vervielfältigende Ich schließt sich als »dasselbe« immer wieder selber aus. Es eröffnet so eine in sich selber plurale Seinsweise, die nicht auf selbstgenügsame Kollektiv-Identitäten aus ist, sondern auf Möglichkeiten eines freien Handelns vieler. Diese Seinsweise ist keine der Identität, keine der Identifizierbarkeit. Und doch ist es eine Haltung, die es erlaubt, klare politische Entscheidungen zu fällen. Die neuen Verknüpfungen, die aus Ambivalenzkonflikten und Unklärbarkeiten hervorgehen, wirken den gewohnten oder stereotypen Entscheidungsmustern entgegen. Sie setzen die identifizierbaren Wahloptionen außer Kraft und fordern neue, nicht normierte, automatisierte oder zwecks Gewinnmaximierung optimierte Daseinsweisen. Das heißt: Sie ­denormalisieren und enthierarchisieren. Schließlich kann dort, wo die Identi-

157

158

Tim Zulauf

fikationsangebote nicht ausreichen, nur durch die vermiedene Wahl die vorformulierte, programmierte Zukunft umgangen und ein Feld außerhalb der Wahloptionen entfaltet werden. Es ist dieses Außerhalb der Identitäten, von dem aus sich ein gemeinsamer Vorstellungshaushalt neu bestimmen lässt. Auf die immer drängenderen migrationspolitischen Fragen beispielsweise werden Nationalparteien keine Antworten finden. Neben der Ausweitung dessen, was einer Gesellschaft denkbar oder tolerierbar scheint, entstehen durch die öffentlich ausgehaltene Nicht-Wahl aber vor allem vielfältige Umstände, unter denen neue Formen der Allianz gebildet werden können. Denn wenn das Ambivalente sich gegen die festen Identitäten richtet und klare Entscheidungsoptionen und Wertzuweisungen umgeht, werden die Wertzuweisungen von guten und verworfenen, eigenen und anderen Identitäten in ihrer Geschichtlichkeit greifbar und angreifbar. Erfordert sind dann situativ neue Wertschätzungen, zwischenmenschliche Bündnisse oder Öffnungen einem gesellschaftlichen Außerhalb gegenüber, die nicht aufgrund von vorgefassten Zugehörigkeiten entstehen. Statt um ­Zugehörigkeiten zu konstruierten Einheiten geht es dann um die konkrete, durch gemein­ sames Handeln hergestellte Freiheit, die sich erst in der Pause, dem zeitlichen ­Aussetzen und der Funktionslosigkeit der Nicht-Wahl ergibt.

Uriel Orlow und Rachel Mader

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht Ein E-Mail-Austausch

Rachel Mader: Ein Ausgangspunkt für meine Beschäftigung mit Ambivalenz

bzw. aktuellen ambivalenten Erscheinungen war nicht nur deren kaum je thematisierte Omnipräsenz, sondern ebenso die Uneinigkeit über die Beurteilung des Phänomens: Während die einen es als modisches Gerede abtun, betrachten es andere als Ausdruck zeitgemäßen politischen Handelns, und Dritte benutzen den Terminus als Topoi zur Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit. Kannst du dich innerhalb dieser – zugegebenermaßen zugespitzten – Haltungen gegenüber der Ambivalenz positionieren? Uriel Orlow: Da Ambivalenz auf Mehrdeutigkeiten oder Spannungszustände

verweist und es diese seit jeher gibt, ist sie zwangsläufig ein historisches Phänomen. Dies bedeutet nicht, dass sie universal konstituiert, sondern vielmehr immer in eine Gegenwart von inhaltlichen Bestrebungen sowie deren Deutungsversuchen eingeschrieben ist. Dass es heute in gewissen Kontexten eine Offenheit oder einen Willen gibt, sich mit Vielheit auseinanderzusetzen, würde ich nicht als modisch deuten, sondern ganz einfach als eine Notwendigkeit. In ihrem Essay Ethik der Ambivalenz (Pour une morale de l’ambiguïté) erörtert Simone de Beauvoir bereits 1947 die Frage nach dem zeitgemäßen politischen

160

Uriel Orlow und Rachel Mader

Handeln im Kontext von Ambivalenz und stellt eine Analogie zu Wissenschaft und Kunst her: »What must be done, practically? Which action is good? Which is bad? To ask such a question is also to fall into a naive abstraction. […] ­Ethics does not furnish recipes any more than do science and art. One can merely propose methods.« Es geht hier nicht um eine Gleichstellung von Politik, Kunst und Wissenschaft, vielmehr um die Gemeinsamkeit von Deutungsvielheit: Beim Handeln sowie in Kunst und Wissenschaft ist es unmöglich, den Bezug von Inhalt zu Bedeutung einmalig, das heißt universell und abstrakt zu determinieren; es gibt lediglich den Versuch einer Zuschreibung von Bedeutung zu Inhalt und schließlich eine Entscheidung (und oft auch ein Scheitern). Dazwischen liegt die Ambivalenz der Möglichkeiten. Dass uns diese Ambivalenz heutzutage gesellschaftlich, politisch und kulturell stärker auffällt, hängt vielleicht von einem Abbau gewisser eindeutiger Muster  – z.B. dem Ideologieverlust, der mit dem Ende des Kalten Krieges einherging – ab. Andererseits darf man nicht vergessen, dass es nach wie vor alte, hartnäckige und auch neu definierte Eindeutigkeiten und gesellschaftliche oder politische Fronten gibt, die wenig Ambivalenz zulassen. Rachel Mader: Dein Einwand, die Frage nach dem Ambivalenten sei kein

Phänomen der jüngsten Zeit, ist wichtig und richtig. Auch Zygmunt Bauman macht den Verlust der Eindeutigkeit ja bereits am Übergang von der Moderne zur Postmoderne fest bzw. zieht aus diesem Begriff ein Unterscheidungsmerkmal für die beiden Epochen. Dennoch würde ich meinen, dass in den letzten Jahrzehnten vermehrt auch Theorien und Konzepte gerade aus den Bereichen der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften – wie etwa queer theory oder der postkoloniale Diskurs – sich die Ambivalenz als Strukturmerkmal ihrer Ansätze zunutze gemacht haben. Und dass es darüber hinaus zu einer Popularisierung dieses Phänomens gekommen ist, die aus der Ambivalenz selbst eine ausgesprochen ambivalente Angelegenheit gemacht hat. Helmut Draxler vertritt in seinem Artikel in diesem Band die These, dass Ambivalenz nur als relationales Gefüge zu haben ist, sich also nur in Bezug zu nicht-ambivalenten Phänomenen zu konturieren vermag. Vor diesem Hintergrund habe ich mich gefragt, in welchem Kontext du eine Notwendigkeit postulierst, sich mit Vielheit auseinanderzusetzen. Verstehst du das eher als politisches oder als ästhetisch-künstlerisches Postulat – oder just etwas dazwischen? Im Hinblick auf welche aktuellen Phänomene scheint es dir zentral Vielheit einzufordern und wie reagierst du

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht

mit deinen Arbeiten auf diese Phänomene? Hat sich diese Notwendigkeit, auf Ambivalenzen oder Spannungszustände zu verweisen, über die Dauer deines Schaffens verändert, z.B. von 1942 (Poznan) hin zu etwa Remnants of the Future/ Plans for the Past? Uriel Orlow: Für die Videoarbeit 1942 (Poznan) hatte ich in einem Schwimm-

bad in Poznan gefilmt, das, ursprünglich eine Synagoge, 1942 von den Nazis umfunktioniert worden war. Der Ort selbst birgt bereits eine Mehrdeutigkeit in sich – er ist architektonisch immer noch als Synagoge erkennbar, doch gleichzeitig ist er ein Schwimmbad, das heute noch in Betrieb ist. Ich wollte gerade diese Ambivalenz, die natürlich auch problematisch ist, in meiner Arbeit festhalten. Sie schien mir eine ethische Dimension zu eröffnen, indem sie von uns, den Betrachtenden, verlangt, diese Bedeutungsverschiebung und die damit einhergehenden erinnerungspolitischen Fragen mitzudenken. Es war mir wichtig, diesen Erinnerungsauftrag in meiner Arbeit einzufordern (und zu ermöglichen), doch nicht zu erfüllen. Deshalb entschloss ich mich gegen den Gebrauch von dokumentarischen Bildern der Synagoge vor 1942, einen erklärenden Kommentar oder derartige ›eindeutige‹ Strategien. Stattdessen setzt das Video genau in der Ambivalenz an und tastet  – in einem Schwenk von annähernd 360 Grad – den gesamten Raum ab. Es ist eine klare Bewegung und meine Position an einem Ende des Schwimmbades ist bewusst gewählt. Ich erhoffte mir, dass dieser Rahmen genauso ein relationales Gefüge ist, vor dessen Hintergrund sich die Ambivalenz des Ortes ethisch und politisch konturiert. An diesen Grundprinzipien – der Absenz von historischen Dokumenten, welche Geschichte in der Vergangenheit abstellen würden, statt sie in der Gegenwart anzusiedeln, sowie dem Anspruch auf eine Bildpräzision vis-àvis von ambivalenten Orten – orientiert sich die viel spätere Arbeit Remnants of the Future/Plans for the Past eigentlich noch immer, obwohl die spezifische ortspolitische Vieldeutigkeit eine andere ist. Hier handelt es sich um die Geisterstadt Musch im Norden Armeniens (Remnants of the Future), die nach einer Stadt in der Ost-Türkei benannt wurde (Plans for the Past). Der Bau des nordarmenischen Musch wurde von Moskau nach dem schweren Erdbeben von Spitak 1988 initiiert und kam 1991 mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem abrupten Ende. Die übrig gebliebene Bauruine dieser Stadt ist kartografisch inexistent und symbolisch in einer Art Schwebezustand zwischen zwei Systemen, dem Kommunismus und dem marktwirtschaftlichen Kapitalismus.

161

162

Uriel Orlow und Rachel Mader

Abb. 1: Uriel Orlow, 1942 (Poznan), 1996/2002, Video mit Ton, Installationsansicht ifa Berlin.

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht

Mit der Benennung der Stadt gibt es eine weitere Bedeutungsebene, die auf den armenischen Genozid verweist. Beim Filmen war es mir wichtig, nicht nur das Kulissenhaft-Theatralische an diesem Ort festzuhalten, sondern auch subtile Zeichen ambivalenter Symbiose: Menschen, die sich in kleinen Ecken der großen Wohnblöcke eingenistet haben und gleichzeitig Metall aus dem Beton schneiden, um es zu verkaufen, und so quasi den Ast, auf dem sie sitzen, absägen. Am Ende von Remnants of the Future kommt eine Frau aus der Zukunft – als Stimme aus dem Off, einem Theaterstück von Majakowski entlehnt – und holt die Leute, die dort leben, in diese Zukunft. Die Verschiebung eines quasidokumentarischen Modus hin zur Science-Fiction kann als ästhetischer und politischer Eingriff in Eindeutigkeiten verstanden werden. Der Bogen, der von 1942 (Poznan) zu Remnants of the Future/Plans for the Past gespannt wird, ist auch einer vom Festhalten von Ambivalenzen durch Beobachtung und Rahmung hin zu neuen Konstruktionen von Vieldeutigkeiten. Rachel Mader: Daran anschließend kann ich ein Interesse meinerseits an deinen Arbeiten formulieren: Mir scheint, als würdest du Ambivalenz auf sehr vielschichtige Weise aufgreifen und – wenn auch nicht explizit bzw. nicht unter dieser Terminologie, so meines Erachtens doch implizit – auch zu einem wichtigen Thema deiner künstlerischen Auseinandersetzungen machen. Ist es dir möglich, in dieser Allgemeinheit zu formulieren, wo und wie du an Eindeutigkeiten, Offenheiten, Rätselhaftigkeiten, Mehrschichtigkeiten, etc. interessiert bist? Uriel Orlow: Ich finde es schwierig, über Ambivalenz im Allgemeinen zu

sprechen – vielleicht weil das den Kurzschluss zu einer Art Willkür oder Vagheit zulässt. Interessant ist Ambivalenz für mich gerade dann, wenn es ums Spezifische geht. Das heißt, wenn gewisse Materialien, Geschichten, Inhalte und Formen ihre Mehrdeutigkeit nicht unterdrücken und neue Verweise, Bezugsmöglichkeiten und Assoziationsketten auslösen. Im Englischen gibt es zwei Ausdrücke, die auf Deutsch mit »Ambivalenz« übersetzt werden: ambivalence beschreibt einen Zustand oder eine Haltung gegenüber etwas; man steht einer Sache oder Person zwiespältig gegenüber, hat gemischte Gefühle oder Ansichten. Währenddessen wird ambiguity intransitiv als Eigenschaft, eben der Mehrdeutigkeit oder Offenheit, verstanden. Als Künstler ist es mir wichtig, die erste Form von Ambivalenz zu vermeiden; ich

163

164

Uriel Orlow und Rachel Mader

Abb. 2: Uriel Orlow, Remnants of the Future, 2010–2012, HD Video mit Ton, Bristol: Spike Island.

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht

Abb. 3: Uriel Orlow, Remnants of the Future, 2010–2012, Bristol: Spike Island.

165

166

Uriel Orlow und Rachel Mader

will mir meiner Positionierung bewusst sein und eine klare Haltung einnehmen. Für die Arbeit selbst ist die zweite Form der Ambivalenz jedoch sehr produktiv, nämlich das Einschreiben von Inhalten und Formen in eine vielschichtige Bedeutungsstruktur. Ich finde Baumans Konzept der liquid modernity diesbezüglich sehr hilfreich: dass nämlich Bedeutungen nicht (oder nicht mehr) eindeutig und einmalig festgelegt werden, sondern ständig im Fluss sind. Die physikalische Metapher ist interessant: Gegenüber der festen Form haben die Teilchen in der Flüssigkeit nicht nur ihr Ortsverhaftetsein verloren, sondern können sich auch gegen­seitig verschieben. In seinem Buch über das bewegte Bild unterscheidet Deleuze nicht nur solide Wahrnehmung und flüssige Wahrnehmung, sondern auch gasförmige Wahrnehmung. Letztere ist als ein Bildsystem zu verstehen, welches a priori von Variation und Interaktion gekennzeichnet ist. Gasförmige Wahrnehmung (und Bildproduktion) ist demnach als eine Art Ambivalenz zu be­greifen, die ein molekulares, offenes Beziehungsgeflecht beschreibt; eine Montage der Welt, die zum Verständnisversuch einlädt. Rachel Mader: Ist Mehrdeutigkeit und Offenheit für dich in deinem Arbeiten gleichbedeutend? Oder gibt es dazu unterschiedliche Strategien in Bezug auf verschiedene Arbeiten? Kannst du festmachen, an welchen Punkten oder wo innerhalb einer spezifischen Arbeit dir eine »klare Haltung« wichtig ist und in Bezug worauf? Uriel Orlow: In meinen Arbeiten strebe ich eine Offenheit an, die Mehrdeutigkeit ermöglicht. In meiner jüngsten Werkgruppe ist dies bereits im Titel Unmade Film angedeutet. Es handelt sich um eine Gruppe audiovisueller Arbeiten, die auf die Struktur eines Films hindeuten, ohne gänzlich zu einem zu werden; ein nicht möglicher Film, fragmentiert in die Teile, aus denen er sich zusammensetzen könnte oder vorgängig bestand, also gleichzeitig in die Vergangenheit und Zukunft weisend. Die verschiedenen filmischen Elemente – das Drehbuch, die Inszenierung, das Voice-over, die Filmmusik, etc. – existieren gleichzeitig autonom und in einem kombinatorischen Ausstellungsgefüge, könnten aber keinesfalls zu einem einzigen Film zusammengesetzt werden. Ausgangspunkt der Arbeiten ist die psychiatrische Klinik Kfar Sha’ul in Jerusalem. Eröffnet im Jahr 1951 in den verbliebenen Häusern des palästinensischen Dorfes Deir ­Jassin, das im April 1948 bei einem Massaker von paramilitärischen zionistischen

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht

Abb. 4: Uriel Orlow, Unmade Film: The Staging, 2012, HD Video ohne Ton, Paris: Centre culturel suisse.

167

168

Uriel Orlow und Rachel Mader

Abb. 5: Uriel Orlow, Unmade Film: The Voiceover, 2012–2013, 8 Kanal Sound Installation, Paris: Centre culturel suisse.

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht

Einheiten entvölkert worden war, spezialisierte sich die Klinik anfangs auf die Behandlung von Holocaust-Überlebenden – einschließlich einer Verwandten von mir. Die räumliche und biografische Überlagerung von Holocaust und der Nakba (die palästinensische Katastrophe von 1948) und die damit verbundenen geschichts- und erinnerungspolitischen blinden Flecken, die psychologischen Dimensionen von Trauma und Heimsuchung sowie deren (Un-)Sichtbarkeiten bilden die Grundlage meines Versuchs, multiple, teilweise widersprüchliche Narrationen präsent zu halten, ohne sie direkten Vergleichen zu unterziehen. Während es mir wesentlich erscheint, die Arbeit offen statt abgeschlossen, abschließend oder eindeutig zu gestalten, ist es dennoch enorm wichtig für mich, dass meine eigene Haltung sehr klar ist. Es geht darum, verdrängte Ebenen der Geschichte anzusehen und uns mit ihren politischen, sozialen und psychologischen Auswirkungen in der Gegenwart auseinanderzusetzen. Wie schon bei früheren Arbeiten (z.B. The Benin Project) geht es um Restitution im weitesten Sinne. Ich versuche eine klare politische Position zu beziehen, ohne dass die Arbeit selbst zu Polemik oder Propaganda verarmt. Rachel Mader: Deine jüngst im Centre PasquArt präsentierte Arbeit ›The Short and the Long of It‹ (mehrteilige Werkgruppe, 2010–2012) ist eine Zusammenstellung von verschiedenen Dokumenten und künstlerischen Elementen unterschiedlichster Materialität, die den doch sehr präzisen und politisch höchst heiklen Ausgangspunkt, die mehrjährige Durchfahrtssperre durch den Suezkanal für Lastschiffe aufgrund des Sechs-Tage-Krieges, in zahlreiche einzelne und kausal nicht offensichtlich zusammenhängende Stränge aufdröselt. Daran schließen sich für mich mehrere Fragen und Überlegungen an: Zielst du mit dieser Auflösung einer linearen Narration und Logik auf eine Revision des Blicks auf diese Geschichte? Und lässt sich diese Auflösung selbst bzw. ihre Richtung konturieren oder eben gerade nicht? Geht es gerade auch um den Mechanismus der Verweigerung einer linearen Logik? Welchen Rezipienten und welche Rezipientin denkst du dir in einer solchen Konstellation? Ich selber bin in solchen Settings jeweils in gleichem Maße angetan von den unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs (also von einem sehr unautoritativen Auftritt dieser Werkkomplexe in Bezug auf ihre Auslegung) und fühle mich gerade deswegen etwas verloren. Du nimmst ja in der Arbeit selbst nirgends Bezug auf die ›Meistererzählung‹ dieser historischen Episode; man wird nicht eingeweiht in den Hintergrund der Werkgruppe, und damit ist es wohl auch gut möglich,

169

170

Uriel Orlow und Rachel Mader

dass man den Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen und somit die Intention der Werkgruppe nicht erfasst. Gehst du also davon aus, dass deine Arbeiten – gerade diejenigen mit einer derart komplexen Konstellation – auf unterschiedlichen Ebenen, die nicht zu werten sind, verstanden werden können? Und würdest Du diese beiden erwähnten Aspekte – die Auflösung linearer Narration bzw. Logik und die offene Rezeption – auch in gewissem Sinne als politische Geste oder Stellungnahme verstehen? Uriel Orlow: Die Geschichte der vierzehn Frachter, die im Lauf von acht Jah-

ren im Suezkanal – als Folge von dessen Schließung während des sogenannten Sechs-Tage-Kriegs – festsaßen, findet sich nicht mal als Fußnote in den vielen zu diesem Krieg und seinen Folgen veröffentlichten Analysen und Berichten. Diese Lücke besagt etwas über die Auswahlkriterien (Was gilt überhaupt als geschichtswürdig?) sowie über die linearen und logischen Mechanismen der offiziellen Geschichtsschreibung. Die ›Meistererzählungen‹ und deren Kausalitäten und Hegemonien werden von einem Nebenschauplatz wie jenem der gestrandeten Frachtschiffe gesprengt. Für mich als Künstler – und eben nicht Historiker – war dies eine Chance. Nämlich, diese Geschichte nicht einfach als Leerstelle in die lineare Narration und Logik der existierenden Geschichte einzuschreiben, sondern ihr darüber hinausgehendes Bedeutungspotenzial auszuloten. Dabei ging es nicht nur um eine Verweigerung linearer Strukturen, sondern um deren Unzulänglichkeit. Die acht Jahre dauernde Blockade sprengt geradezu den Zeithorizont des Ereignisses – wann genau etwas stattfindet und was unmittelbar davor oder danach geschah. Etwas, das mich schon seit Langem interessiert und sich hier besonders aufdrängte, ist Geschichte räumlich und nicht zeitlich zu verstehen. Welche Konsequenzen stellen sich ein, wenn man von Ereignissen im Raum statt in der Zeit spricht? Nicht nur geht uns dabei die Chronologie – eben die Logik des Linearen – abhanden; anstelle davon tut sich eine Gleichzeitigkeit auf. Der Raum, anders als die Zeit, ist nie ›vorbei‹ und wir können gegebenenfalls auch in ihn zurückkehren. Was mich an dieser Gleichzeitigkeit, also der Verbindung zu und in der Gegenwart, besonders beschäftigt, ist die ethische Dimension, mit der wir bezüglich eines Ereignisses konfrontiert werden: die Frage, wie wir der Geschichte heute, hier und jetzt gegenüberstehen und was für Verbindungen sich öffnen, die in den strikten Kausalzusammenhängen der Chronologie keinen Platz hätten. Wenn ich also einzelne Episoden aus diesen acht Jahren herausgreife und nichtlinear im Installations-Setting

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht

nebeneinanderstelle  – z.B. die selbst organisierten Olympischen Spiele 1968 oder das Entwerfen von eigenen Bittersee-Briefmarken –, dann geschieht dies mit der Absicht, diese Episoden über ihren anekdotischen Charakter hinaus zum Allegorischen hin wirken zu lassen. So werden Verbindungen zu Kreativität, Überlebensstrategien, Nationalismus und Territorialanspruch hergestellt. Eine weitere Ambivalenz stellt sich auch durch die von dir erwähnte Vielzahl der Elemente in der Installation ein. Ich verstehe meine Praxis als eine Art Remixing. Dokumente und künstlerische Elemente sind miteinander und ineinander verwoben: 8mm Film, HD Video, projizierte Dias existieren in einer Montage, bei der einerseits die Materialität, das heißt der support der Bilder, nicht verdeckt wird, andererseits deren Herkunft nicht eindeutig dem Dokumentarischen oder Künstlerischen zuzuordnen ist. Es ist also nicht immer klar, ob es sich um gefundenes, sogenanntes historisches Material oder konstruierte, quasi fiktive Bilder handelt. Es gab in den letzten Jahren einige Diskussionen über das Verwischen der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, die auf einen nicht unproblematischen Aspekt der Ambivalenz hinweisen. Beim Verwischen der Abgrenzung stellt sich eine Unschärfe ein; die Dinge bleiben ungenauer, sozusagen in einer Vagheit befangen. Währenddessen geht es eher darum, den konstruierten Charakter, der jedem Bild, jeder Geschichte unterliegt und der eine solche Trennung von vornherein unmöglich macht, sichtbar zu machen. Dies bringt mich wieder zur Frage der Rezeption. Wenn man nämlich von dieser Konstruiertheit ausgeht und, wie ich es versuche, ein Installations-Setting gestaltet, bei der verschiedenstes Bildmaterial, narrative Stränge und Assoziationsketten zusammenkommen, dann wird die aktive Beteiligung der Betrachtenden enorm wichtig – aber nicht, um einer Meister-Interpretation auf die Spur zu kommen, sondern um selbst etwas aus dem Vorgefundenen zu konstruieren. Ich lehne mich hier an Pasolini und seine Gedanken zum ›Drehbuch als Struktur, die eine andere Struktur sein will‹, an. Das Drehbuch nämlich ist, obschon autonom lesbar, dennoch keine abgeschlossene Struktur, da die ›Zeichen‹ nicht nur auf herkömmliche Weise, wie geschriebene Sprache, Bedeutung produzieren, sondern immer auch auf ein anderes ­›Zeichensystem‹  – eben das eines potenziellen Films – weiterverweisen. Pasolini spricht bezüglich der Rezeption ausdrücklich von einer Kollaboration, bei welcher die Lesenden Komplizen werden und sich den Film selbst vorstellen müssen. Dabei gibt es natürlich so viele imaginäre Filme, wie es Drehbuchlesende gibt. Selbstverständlich verhält es sich bei jeder Geschichte, ja bei Geschichte überhaupt, sehr ähnlich. Es gibt

171

172

Uriel Orlow und Rachel Mader

Abb. 6: Uriel Orlow, The Short and The Long of It, 2010–2012, Installation.

Eine Offenheit, die Mehrdeutigkeit ermöglicht

so viele Versionen, wie es Erzählende und Erzählmomente gibt. Das Offene oder Unautoritative, das du bei The Short and the Long of It ansprichst,1 ist in diesem Sinn als Einladung für eine Zusammenarbeit mit den Betrachtenden zu verstehen, wo Bedeutungszuschreibungen jenseits von traditioneller Hermeneutik aktiv, vielschichtig und nicht definitiv hergestellt werden. Rachel Mader: Die Idee, Geschichte als räumliches Phänomen zu fassen,

scheint mir ein sehr großes Potenzial zu haben im Hinblick auf eine Rekonfigurierung traditioneller Geschichtsschreibung, die sich  – selbst in ihren emanzipatorischen Ansätzen – der zeitlichen Abfolge und Narration bedient. In Arbeiten wie 1942 (Poznan), aber auch The Benin Project oder Remnants of the Future wird dieser Ansatz meines Erachtens spürbar, gerade auch, indem dort konfligierende Zeitlichkeiten aufeinandertreffen. In The Short and the Long of It scheint mir eher der Begriff der Offenheit zu greifen. 1942 (Poznan) operiert mehr mit dem langsamen Entblättern einer Mehrschichtigkeit in Bezug auf das architektonische Setting und dessen heutigen Nutzen. Damit ist sehr viel Genaues über eine Struktur und ihre Veränderung über die wechselnden historischen Konstellationen hinweg gesagt, aber keine Wertung vorgenommen. Sosehr ich genau diese Geste, die ich eher als ein Aufzeigen von komplexen Strukturen und Gegebenheiten bezeichnen würde, schätze und als wichtig erachte, sosehr frage ich mich mitunter, ob und inwiefern oder auch wo und wie eine Beurteilung denn geschieht oder geschehen soll. Um den Gedanken noch etwas weiterzuspinnen: Ist es sinnvoll und/oder legitim, sich einer Stellungnahme zu enthalten? Oder noch einmal anders gefragt: Um welche Art von Stellungnahme geht es dir gerade dort, wo du simple, politisch eindeutige Positionierungen verweigerst? Uriel Orlow: Keinen direkten Verweis zu machen oder etwas nicht auszusprechen, heißt für mich nicht, dass ich mich einer Stellungnahme enthalte. Im Gegenteil, die Verweise und Methoden sind bewusst gewählt, um ein komplexes Deutungsgeflecht entstehen zu lassen, das nicht nur simple, sondern vor allem simplifizierende oder polemisierende Positionierungen verweigert, die ich als Einbahnstraße verstehe. Auf Mehrdeutigkeiten hinweisen heißt,

1

Die Ausstellungen von The Short and the Long of It sind nummeriert und deuten auf diese Versionskette hin.

173

174

Uriel Orlow und Rachel Mader

­ idersprüche, Fußnoten und Gespenster mitzudenken. Walter Benjamin hat W 1936 im Nachwort zu seinem Kunstwerk-Essay den wichtigen Unterschied zwischen der Ästhetisierung der Politik und der Politisierung der Ästhetik gemacht und vor den Gefahren der ersteren Methode, die eindeutige programmpolitische Positionen in Kunst verpackt, gewarnt. Wie hingegen wäre eine Politisierung der Ästhetik zu verstehen? Genau hier scheint es mir wichtig anzusetzen und diese Frage immer wieder von Neuem anzugehen. Die Antworten darauf – der Plural ist bewusst gewählt, da es nicht nur eine gibt – sind zwangsläufig im Kunstwerk selbst verankert.

Brigitta Kuster

Grenzgang Ambivalenz Koloniale Ambivalenz

Vor dem Hintergrund eigener, auch künstlerischer Arbeiten, die sich mit kolonialer (Alltags-)Kultur und mit der ›kolonialen Bibliothek‹1 befassen und sich immer wieder auf Überlegungen zur »colonial ambivalence« von Homi Bhabha bezogen haben, möchte ich hier den ambivalenten Resonanzen des Begriffs der kolonialen Ambivalenz nachspüren. In seinem Text »The Other Question« von 1983 bewertet Homi Bhabha die Funktion der Ambivalenz ganz generell als eine der signifikantesten diskursiven und psychischen Strategien diskriminierender Machtwirkungen.2 Der Begriff bezeichnet hier die Doppelzüngigkeit 1

Die »bibliothèque coloniale« oder »colonial library« ist ein Konzept, welches Valentin-Yves Mudimbe in seinen Büchern The Invention of Africa: Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge (1988) und The Idea of Africa (1994) entwirft und diskutiert, um die westliche epistemologische Ordnung, welche der Konzeption der Geistes- und Sozialwissenschaften zugrunde liegt, zu charakterisieren. Das Konzept, welches die konstitutive Komplizenschaft eines Korpus von Wissensformen für das koloniale Projekt und für die Konstruktion eines ›objet africain‹ herausstellt, wurde jüngst etwa auf dem von Codesria in Dakar ausgerichteten Symposium AFRICA N’KO (28.–31.  Januar 2013) diskutiert (siehe etwa: http://www.codesria.org/spip.php?article1730&lang=fr). Die koloniale Bibliothek umfasst die kolonialen Praktiken und Schriften etwa der Missionare, Forscher und Philosophen. Und nicht selten wird die Auffassung vertreten, dass die koloniale Bibliothek den Blick auf die Existenz anderer Bibliotheken und Formen des Denkens verdeckt hat. Meine eigene Auseinandersetzung damit umfasst Texte und Videoarbeiten, etwa 2006–1892=114 ans/jahre (2006) oder À travers l’encoche de la bibliothèque coloniale. Notes pittoresques (2009). 2 Homi K. Bhabha, »The Other Question … Homi K. Bhabha Reconsiders the Stereotype and Colonial Discourse«, in: Screen 24 (1983), Heft 6, S.  18–36, hier S.  18. Siehe zudem auch: Homi K. Bhabha, »The Other Question: Difference, Discrimination and the Discourse of Colonialism«, in: Russell Ferguson, Martha Gever, Trinh T. Minh-ha und Cornel West: Out There. Marginalization and Contemporary Cultures, New York 1990, S. 71–87, hier S. 71. Allerdings begreift Homi Bhabha

176

Brigitta Kuster

und Doppelbödigkeit der diskursiven Ordnung, die sich zwischen KolonisatorInnen und Kolonisierten aufspannt. Zu seinem Wissens- und Machtmodus gehören etwa das Stereotyp, welches »an ambivalent mode of knowledge and power«3 verdichtet, oder die koloniale Mimikry, d.h. der Versuch, das Bild von einem »reformierten erkennbaren Anderen« zu reproduzieren, der »fast, aber doch nicht ganz dasselbe« ist.4 Dabei geht es Bhabha um eine Verlagerung der Aufmerksamkeit von als positiv oder negativ zu bewertenden Bildern auf die damit verbundenen und plausibel gemachten Subjektivierungsprozesse.5 Folgen wir ihm, so ist die Ambivalenz nicht nur zentraler Bestandteil des kolonialen Diskurses, sondern begründet die Produktivität der kolonialen Macht, die Bhabha sogar als eine Währung bezeichnet.6 Es geht also darum, die produktive Ambivalenz des Objekts des kolonialen Diskurses in den Blick zu bekommen, nämlich »diese ›Andersheit‹, welche zugleich Objekt des Begehrens wie des Hohns ist; eine Artikulation von Differenz, die in der Phantasie von Herkunft und Identität enthalten ist. Was eine solche Lektüre zeigt, sind die Grenzen des kolonialen Diskurses; und sie ermöglicht es, diese Begrenzung vom Raum dieser Andersheit aus zu überschreiten.«7

3 4

5

6 7

den kolonialen Diskurs auch als Teil eines größeren Systems sozialer Differenzierungen, welche Modernität konstituieren. Siehe etwa Homi K. Bhabha, »Translator translated«, Interview von W.J.T. Mitchell mit Kulturwissenschaftler Homi Bhabha, in: Artforum 33 (März 1995), Heft 7, S. 80–84, online: http://prelectur.stanford.edu/lecturers/bhabha/interview.html. Bhabha: »The Other Question …«, a.a.O., S. 18. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, hier S. 126, Hervorhebung im Original. In der Originalfassung lauten die paradigmatischen Wendungen »reformed, recognizable Other …« und »almost the same but not quite«, Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London, New York 1994, hier S.123. Bhabha: »The Other Question …«, a.a.O., S. 18. In seiner Untersuchung des Kinos der Weimarer Republik, die sich mit der »Sichtbarkeit der rassisch Anderen« befasst, stellt Tobias Nagl bezüglich des rassischen Stereotyps bei Homi Bhabha heraus, dass es den Anderen als vollkommen erkennbar darstelle, zugleich aber auch als vollkommen different. Weil das Stereotyp somit einem ›unmöglichen Objekt‹ gleiche und an der Repräsentation von Identität und Differenz notwendig scheitere, müsse es, wie auch der Fetisch, aufgrund seiner inneren Ambivalenz immer neu inszeniert und wiederholt werden. Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009, hier S. 17. Bhabha: »The Other Question …«, a.a.O., S. 18. Bhabha: »The Other Question …«, a.a.O., S. 19. Originaltext: »that ›otherness‹ which is at once an object of desire and derision, an articulation of difference contained within the fantasy of origin and identity. What such a reading reveals are the boundaries of colonial discourse and it enables a transgression of these limits from the space of that otherness.«

Grenzgang Ambivalenz

Zwischenraum und Widerstand

Bhabhas Anliegen ist es, mittels einer Perspektive des in-between, der interstices, der »Zwischenräume«,8 einer Überlappung und Verschiebung der Bereiche der kulturellen Differenz oder anders, einer Aufmerksamkeit auf das Intervall eine Theorie des sozialen Widerstands gegen die Autorität und gegen koloniale Verhältnisse zu entwickeln. Bei dem, was dazwischen kommt, was sich hinein zwängt, einmischt, unterbricht, stört und zugleich etwas ermöglicht, steht folglich deutlich mehr auf dem Spiel als eine Diskursanalyse. Eher als den Blick auf die binären Oppositionen zu richten – Kolonisierer und Kolonisierte –, erregt die koloniale Ambivalenz eine Aufmerksamkeit für den »mode of representation of otherness«,9 für die Schwellen, Bruchstellen und Grenzzonen als Orte, an denen Identitäten sichtbar vorgeführt und bestritten werden. Dieser Zwischenraum widerspricht der Auffassung einer kompletten Polarität zwischen präfigurativen, sich selbst erzeugenden Entitäten wie etwa intrinsischen Nationen oder Identitäten und etabliert zum einen den Begriff einer »kulturelle[n] Liminalität innerhalb der Nation«10 und zum anderen ein Subjekt des kulturellen Diskurses, welches in der diskursiven Ambivalenz gespalten ist: »In Situationen, in denen kulturelle Differenz – ›Rasse‹/race, Sexualität, Klassenposition, generationsbezogener oder geopolitischer Spezifikation – den Dreh-und Angelpunkt einer bestimmten politischen Verordnung oder Strategie bildet, wird auch der Unterdrücker durch Spaltung konstituiert. Der Riss tut sich für den Kolonisierten und den Kolonisierer nicht an derselben Stelle auf und er hat auch nicht das gleiche politische Gewicht noch führt er zur selben Wirkung, aber beide haben mit diesem Prozess zu tun. Eigentlich ermöglicht dies dem Einheimischen oder Subalternen oder Kolonisierten die Strategie des Bestrebens, die Stimme der Autorität am Punkt dieser Spaltung zum Schweigen zu bringen.«11 8 Bhabha: Die Verortung der Kultur, a.a.O. 9 Bhabha: »The Other Question …«, a.a.O., S. 19. 10 Bhabha: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 221, Hervorhebung im Original. In der Originalfassung

lautet die Passage: »cultural liminality – within the nation«, Bhabha: The Location of Culture, a.a.O., S. 148. 11 Bhabha: »Translator translated«, a.a.O., Absatz 26. Originaltext: »In situations where cultural difference – race, sexuality, class location, generational or geopolitical specification – is the linchpin of a particular political edict or strategy, even the oppressor is being constituted through splitting.

177

178

Brigitta Kuster

Mimikry

Der verdoppelten und ambivalenten Sicht des kolonialen Diskurses zum Trotz ist es unmöglich die Zone der Ambivalenz zu bevölkern, den epistemologischen Riss zu bewohnen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den »mimic men«, den »Chamäleon-Menschen«, wie Bhabha die Subjekte einer – in der Perspektive der hegemonialen kulturellen Ordnung – makelbehafteten kolonialen Mimesis anschaulich beschreibt.12 Solchen Subjekten der Differenz, die fast, aber doch nicht ganz dasselbe sind, kann folglich sowohl Identität als auch Differenz abgesprochen werden: Sie stellen das zur Schau, was sie sein sollen und zugleich nicht sein dürfen, sie müssen einem Bild entsprechen, dessen Gestalt sie nicht vollkommen annehmen können. Um effektiv zu sein, muss die Mimikry das Gleiten und die Differenz im Sinne eines Überschusses permanent produzieren. So ist sie immer das Zeichen einer doppelten Artikulation – zum einen der Aneignung und zum anderen des Unpassenden/Unangeeigneten. Sie affirmiert und vertieft den kolonialen Diskurs, den sie auch verunsichert, indem sie wiederholt statt zu repräsentieren und partielle Präsenz produziert: angeeignete Objekte einer kolonialen Kommandokette, autorisierte Versionen der Andersheit und unangeeignete koloniale Subjekte. In der Glätte, im Schliddern zwischen Identität und Differenz siedelt sich die diskriminierende Macht des kolonialen Diskurses an. Zugleich ist dies aber auch der Ort, an dem seine Autorität angreifbar wird: Die koloniale Mimikry kann als ein ironischer Kompromiss, der das strategische Versagen der kolonialen Autorität absichert, oder aber als Hort einer untergründigen Bedrohung gelesen werden: »Der Erfolg der kolonialen Aneignung hängt von einer Proliferation un(an) geeigneter Objekte ab, die ihr strategisches Scheitern garantieren.«13

The split doesn’t fall at the same point in colonized and colonizer, it doesn’t bear the same political weight or constitute the same effect, but both are dealing with that process. Actually, this allows the native or the subaltern or the colonized the strategy of attempting to disarticulate the voice of authority at that point of splitting.« 12 Bhabha: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 129, 130. Für die koloniale deutsche Literatur erinnern Bhabhas Chamäleon-Menschen etwa an die Figur des sogenannten »Hosenniggers«. 13 Bhabha: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S.  127. Engl.: »The success of colonial appropriation depends on a proliferation of inappropriate objects that ensure its strategic failure«, Bhabha: The Location of Culture, a.a.O., S. 86.

Grenzgang Ambivalenz

Weder Strukturzwang noch Formalismus

Diese in sich selbst rissige Ambivalenz des kolonialen Diskurses steht, wie mir scheint, in einem gewissen Widerspruch zu einer Kritik an Homi Bhabha, wie sie etwa Anne McClintock in ihrem Buch Imperial Leather vorbringt, indem sie das strategische Versagen der kolonialen Aneignung dem Konzept zufolge als einen bloß strukturellen Diskurseffekt interpretiert. Sie warnt davor, die Möglichkeit antikolonialer Handlungsmacht ausschließlich in der Ambivalenz, in den internen Rissen der Diskurse zu lokalisieren, da dies Gefahr laufe zu einem Fetisch der Form zu werden.14 Zudem kritisiert sie Bhabhas analytisches Vorgehen über formale Abstraktionen, die dann ein anthropomorphisiertes Eigenleben führen würden: Der Diskurs träumt, begehrt, leistet Widerstand, unterdrückt etc. Sie beurteilt die Allgegenwart der diskursiven kolonialen Ambivalenz als eine »deconstruction of the ruptures of form«, als in jeder Äußerung angelegtes Intervall zwischen dem Subjekt einer Proposition und dem Subjekt einer Äußerung, welches Gefahr laufe, zu einer Szene des Identischen zu werden und zudem von der Konzentration auf die tief greifenden, sozialen und ökonomischen Formen der Macht ablenke.15 Entgegen McClintocks berechtigter Skepsis scheint es mir aber bedeutsam, dass Bhabhas koloniale Ambivalenz nicht einen epistemologischen Riss beschreibt, sondern selbst daraus besteht. Der Begriff trägt die Spuren der von ihm diagnostizierten Ambivalenz; er ist selbst von dem geprägt, was er bespricht. Oder anders: Homi Bhabha schlägt mit der kolonialen Ambivalenz eine Begrifflichkeit vor, die gewissermaßen ihre eigene Symptomatik repräsentiert: Ein Begriff, der, wie Bhabha sagt, wiederholt statt repräsentiert, der selbst aus dem Nebeneinander entgegengesetzter Bedeutungen besteht und sich deshalb allen Versuchen, ihn auf ein Strukturmodell zu reduzieren, entzieht: »[…] was ich jedes Mal zu erarbeiten versucht habe, sind Formen der Theoriebildung, die in irgendeiner Weise den Begriff der Ambivalenz ausschmücken, und Ambivalenz ist eine Kategorie, die nicht in einer Art hermetischem strukturellem Verhältnis oder als eine funktionale Immanenz fixiert werden kann. Und doch muss sie eine Reihe von Konzepten, Verfahren und ­Strategien

14 Anne McClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, London, New

York 1995, S. 63. 15 Ebd., S. 65.

179

180

Brigitta Kuster

­ ervorbringen, die jemand aufgreifen und an anderer Stelle ­verwenden h ­können soll.«16

Weniger als eines und zugleich doppelt

In »Zeichen als Wunder: Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817«17, einem Text von Bhabha, der Autorität und Ambivalenz ausdrücklich miteinander verkoppelt, tritt die koloniale Mimikry als eine Form der antikolonialen Verwerfung auf, als ein bedrohlicher Akt von »civil disobedience within the discipline of civility«.18 Homi Bhabha betont, dass die Mimikry nicht etwas sei, das eine Präsenz oder eine Identität hinter ihrer Maske verberge; »sie ist nicht das, was Césaire als ›Kolonisation=Verdinglichung‹ beschreibt, hinter der die Essenz der présence africaine stünde«.19 Vielmehr besteht die Mimikry in einer »doppelten Sicht, die durch die Enthüllung der Ambivalenz des kolonialen Diskurses gleichzeitig dessen Autorität aufbricht«.20 Dies führt Bhabha zufolge zu einer Form der Aufspaltung, welche die Signifikanten der Autorität in einer Weise rätselhaft erscheinen lässt, die »weniger als eines und zugleich doppelt« sei.21 Die Mimikry mündet somit in einen separaten, abgetrennten Raum, in dem »die Worte des Herren zum Ort der Hybridität  – zum kriegerischen, subalternen Zeichen des Einheimischen [werden]«, in dem »wir nicht nur zwischen den Zeilen lesen, sondern sogar versuchen [können], die häufig von Zwang bestimmte Realität zu verändern, die sie so klarsichtig enthalten«.22 16 Bhabha: »Translator translated«, a.a.O., Absatz 34. Originaltext: »[…] what I have been trying to

17

18

19 20 21 22

elaborate each time are forms of theorization that in some way embroider on the notion of ambivalence, and ambivalence is a category that cannot be fixed in a kind of hermetic structural relation or functional immanence. Yet it still has to produce a set of concepts, procedures, and strategies that somebody will be able to take up and take elsewhere.« »Signs Taken for Wonders: Questions of Ambivalence and Authority under a Tree outside Delhi, May 1817«, zum ersten Mal 1984 erschienen; bildet ein Kapitel in The Location of Culture (a.a.O., S. 102–122). Bhabha: The Location of Culture, a.a.O., S. 121. In der deutschen Fassung wird diese Passage meiner Ansicht nach in unzureichender Weise mit »jene Momente bürgerlichen Ungehorsams innerhalb der Disziplin der Bürgerlichkeit« (Bhabha: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 179) übertragen. Bhabha: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 130 Ebd. Ebd., S. 176. Ebd.

Grenzgang Ambivalenz

Ein Jahr vor diesen Erwägungen hatte Bhabha in »The Other Question« seine Differenz zu Edward Said pointiert. Dessen historische und theoretische Simplifizierung lege nahe, dass die koloniale Macht vollständig im Besitz der Kolonisierer sei, so seine Kritik. Dagegen arbeitete Bhabba die Bedeutung von Diskurs und Repräsentation für den Kolonialismus und den Orientalismus heraus und versuchte so im Rückgriff auf Foucaults Macht/Wissens-Dispositiv zu verdeutlichen, dass die Subjekte in Beziehungen von Macht und Anerkennung angeordnet werden, die nicht symmetrisch oder dialektisch sind  – wie z.B. selbst/anderer, master/slave etc.  – und somit auch nicht einfach umgedreht werden können. Der Begriff der kolonialen Ambivalenz diente Bhabha in diesem Text dazu, die Vorstellung einer intentionalen und uni-direktionalen kolonialen Macht sowie einer Einheitlichkeit des Subjektes der kolonialen bzw. der anti-kolonialen Äußerung zu überarbeiten. Allerdings erscheint mir die dominante Macht in dem Text als etwas, das vom Spiel der Ambivalenzen weitgehend abgeschirmt bleibt, besonders deshalb, weil hier herausgearbeitet wird, dass die Ambivalenz der kolonisierten Subjektivität nicht notwendigerweise eine Bedrohung der kolonialen Macht darstellt. Insofern sie im Imaginären gefangen seien, würden diese sich permanent verlagernden, ihren Platz wechselnden Haltungen die dominanten Machtverhältnisse niemals ernsthaft bedrohen, sondern sie produktiv wiederholen und in einer Weise zur Anwendung bringen, die sogar Gefallen erzeugt. Lässt es sich also bestimmen, an welchem Punkt die Autorität der kolonialen Ambivalenz subversiv werden kann, wenn sie sich, wie Homi Bhabha sagt, »wiederholt von der Mimikry – einer Differenz, die fast nichts ist, aber nicht ganz – zur Bedrohung [wandelt] – einer Differenz, die fast total ist, aber nicht ganz«?23 Was für einen Umgang soll man mit diesem Umschlagen in jenem »dritten Raum« aufnehmen, der über die allgemeinen Bedingungen der Sprache hinaus auch »die spezifische Implikation der Äußerung innerhalb einer performativen und institutionellen Strategie [repräsentiert], derer sich die Äußerung nicht ›in sich‹ bewusst sein kann«?24 Ganz offensichtlich verweigert sich Homi Bhabhas Diskurs der kolonialen Ambivalenz der Entscheidung, ob die Ambivalenz als inhärenterweise subversiv 23 Ebd., S. 136. 24 Bhabha: Die Verortung der Kultur, a.a.O., S. 55.

181

182

Brigitta Kuster

gelten soll, ob sie in einer internen Subversion besiegt werden kann oder ob sie zum Sieg befähigt. Einen Hinweis auf eine solche Interpretation legt zudem das Zitat nahe, das »The Other Question« vorangestellt ist. Es ist Jacques Derridas Text »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen« entnommen, der auf einen Vortrag von 1966 zurückgeht und exemplarisch für dessen kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Struktur und dem Strukturalismus – als »Denken der Strukturalität der Struktur«25 – steht: »Sich über die begründenden Begriffe der gesamten Geschichte der Philosophie zu beunruhigen, sie zu dekonstituieren, heißt keineswegs, die Arbeit eines Philologen oder eines klassischen Historikers der Philosophie zu tun. Es ist ohne Zweifel, entgegen allem Anschein, die gewagteste Art, einen Schritt aus der Philosophie hinaus anzudeuten.«26 Zu Beginn seiner Überlegungen rund um ein »Ereignis« in der Geschichte des Struktur-Begriffs, welches das System der Metaphysik und der abendländischen Philosophie dezentriert habe, stellt Derrida fest: »Es ließe sich leicht zeigen, dass der Begriff und sogar das Wort Struktur so alt sind wie die ›episteme‹, d.h. gleichzeitig mit der Wissenschaft und der okzidentalen Philosophie entstanden sind.«27

Ein Schritt hinaus

Um eine Art Antwort auf die Frage zu finden, ob und wie sich mittels des Konzepts der kolonialen Ambivalenz ein Schritt aus der Struktur und der kolonialen Ordnung hinaus tun lässt, schlage ich einen Umweg über die Figur der Grenze vor, da sie einer der Orte schlechthin ist, an dem sich etwas entscheidet. Ist die Grenze eine Zone, die jenes »weniger als eins, das zugleich doppelt ist« in Gang zu setzen vermag und so den Unterschied zwischen kolonialer und anti-kolonialer Mimikry induziert – trotz oder gerade weil beide gleichermaßen, wenn

25 Jacques Derrida, »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom

Menschen«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972, S. 422–442, hier S. 424. 26 Ebd., S. 429–30. Engl.: »To concern oneself with the founding concepts of the entire history of

philosophy, to deconstitute them, is not to undertake the work of the philologist or of the classic historian of philosophy. Despite appearances, it is probably the most daring way of making the beginnings of a step outside of philosophy« (Jacques Derrida zit. nach Bhabha: »The Other ­Question …«, a.a.O., S. 18). 27 Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel«, a.a.O., S. 422.

Grenzgang Ambivalenz

auch ungleichmäßig, in der Ambivalenz des kolonialen Diskurses begründet sind? Grenzen sind heterogen und polysemisch. Die Grenze erfüllt verschiedene Funktionen der geografischen, juridischen, politischen oder sozialen, symbolischen und kulturellen Demarkation und der Territorialisierung von Bewegungen des Austauschs. Ihre semantische Vielfalt, ihr Vielgestaltigkeit und manchmal auch ihre Sinnbildlichkeit machen es aus, dass die Grenze – insbesondere im aktuellen Trend – als Metapher für Ambivalenz schlechthin einstehen könnte. Sie trennt und entfernt, gleichzeitig setzt sie auch in Verbindung; sie schließt aus und ein, sie ist Barriere und kann Kohäsionen verstärken. Die Grenze ist nicht unbedingt absolut oder unpassierbar, sondern sie wird unterwandert, durchdrungen und übertreten. Sie kann einen Raum der Gefahr oder der Freiheit darstellen. Sie ist reversibel und relativ. Sie kann ein Ort der Abstoßung und des Ausschlusses sein, ein Bruch, ein Schnitt ebenso wie ein privilegierter Ort des Austausches, eine Naht. – Aber: Ist sie deswegen ambivalent oder gar paradox? Oder ein mehrdeutiges Palimpsest? Michel de Certeau nennt es das Paradox der Grenze, dass ihre durch Kontakte geschaffenen Berührungspunkte zugleich auch Differenzpunkte sind, dass das Verbindende und das Trennende der Grenze eins ist: »Zu welchem von den Körpern, die Kontakt machen, gehört die Grenze? Weder dem einen noch dem anderen. Heißt das: niemandem?«28 In seiner Untersuchung der Funktion der Grenze in der Erzählung formuliert de Certeau die folgende, bestechende Frage als »das theoretische und praktische Problem der Grenze […]: zu wem gehört sie?«29 Die Dinge, die eine Grenze bilden, spielen für die Erzählung eine vermittelnde Rolle; sie sprechen die Grenze aus. Aber de Certeau geht noch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, dass die Erzählung diese Mittler dazu bringt, das

28 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 233. In der französischen Fassung heißt es

an der Stelle: »De corps en contact, lequel possède la frontière qui les distingue? Ni l’un ni l’autre. Est-ce dire: personne?« Michel de Certeau: L’invention du quotidien, Bd. 1, Paris 1990, hier S. 186. 29 de Certeau: Kunst des Handelns, a.a.O., S. 233.

183

184

Brigitta Kuster

auszusprechen, was sie überschreitet, von der anderen Seite kommt und damit sowohl Verbindung als auch Trennung schafft. »›Halt!‹ sagt der Wald, als der Wolf zu ihm kommt. ›Stop!‹, sagt der Fluss und lässt seine Krokodile sehen. Und dieser Akteur schafft nur deshalb, weil er das Sprechen der Grenze ist, sowohl die Kommunikation als auch die Trennung; mehr noch, er setzt nur dadurch eine Grenze, dass er ausspricht, was ihn überschreitet und von der anderen Seite kommt.«30 Nur insofern Wälder oder Flüsse diese Artikulationsakte vollziehen, schaffen sie eine Grenze, die erst durch diese Artikulation immer auch zu einem Übergang wird. Gemäß Michel de Certeau besteht die Funktion der Grenze in der Erzählung zum einen daraus, einen Zwischenraum oder dritten Ort für eine Interaktionsgeschichte bereitzustellen. Zum anderen kann sie infolge ihrer Zweideutigkeit als verbindendes oder trennendes Element in Erzählungen zum ambivalenten Hauptdarsteller werden. Ihre Funktion ist dann die Rätselhaftigkeit und die Fähigkeit zur Verwandlung und Umkehrung. Allerdings re-präsentiert die Grenze auch immer das jenseits Liegende. Der Geschichtsschreiber und Soziologe des Alltagslebens de Certeau, für den die Bestimmung eines Raumes operational ist und in einer Äußerungsproblematik besteht, die von einem dialogischen Prozess abhängt,31 expliziert eine solche dritte Funktion der Grenze mit dieser interessanten abschließenden Überlegung: »Alles geschieht so, als ob die Grenzziehung [und das heißt bei de Certeau somit die Erzählung selbst, Anm. d. Aut.] selber eine Brücke wäre, die das Innere für sein Anderes öffnet.«32

30 Ebd., S. 233. Wörtlicher ließe sich diese Passage übertragen mit: »›Halt!‹ sagt der Wald, aus dem

der Wolf kommt. ›Stop!‹ sagt der Fluss, indem er sein Krokodil vorzeigt. Aber aus diesem einzigen Grund, dass dieser Akteur das Sprechen der Grenze ist, erschafft er sowohl Vermittlung wie Trennung; mehr noch, er setzt nur dadurch einen Rand, dass er ausspricht, was ihn von drüben gekommen überquert.« In der französischen Fassung lautet die Stelle: »›Arrête‹, dit la forêt d’où vient le loup. ›Stop!‹ dit le fleuve en montrant son crocodile. Mais cet acteur, du seul fait qu’il est la parole de la limite, crée la communication autant que la séparation; bien plus, il ne pose un bord qu’en disant ce qui le traverse, venu de l’autre.« De Certeau: L’invention du quotidien, a.a.O., S. 186–187. 31 de Certeau: Kunst des Handelns, a.a.O., S. 232. 32 Ebd., S. 236. Französische Fassung: »Tout se passe comme si la délimitation même était le pont qui ouvre le dedans à son autre.« De Certeau: L’invention du quotidien, a.a.O., S. 188–189.

Grenzgang Ambivalenz

… darüber hinaus gehen

Einen ähnlich wie bei de Certeau dargelegten Gedanken entwickelt Édouard Glissant in einem kleinen Text von 2006 »Il n’est frontière qu’on outre­passe«.33 Folgen wir Glissant, dem Denker des »Tout-Monde«, der »All-Welt«, der »créolisation« und der »poétique de la relation«, so ist die Grenze eine Notwendigkeit, »um den freien Übergang vom Selben zum Anderen geltend zu machen; wir brauchen sie, um das Wunder des bis dahin Reichenden zu unterstreichen.«34 In unmissverständlicher Kritik an den Gesetzen und gewaltsamen Politiken der Grenzen, die sich heutzutage auf ImmigrantInnen richten, fordert Glissant, dass niemand und unter keinerlei Vorwand von dem Privileg, Grenzen zu überschreiten, ausgeschlossen werden dürfe. Und der Poet Glissant, der bekanntermaßen niemals für eine Überblicks- oder Vogelperspektive eintreten würde, sondern einem unruhigen archipelagischen Denken verpflichtet ist, das sich erschauernd in etwas vertieft, beschließt sein Votum für das Darüber-hinausGehen mit einem mythologischen Bild: »Diese Häfen und Grenzen, die Isthmen, Übergänge, Meerengen und ­Deltas – in den Legenden und den Geographien des Traums glauben wir sie von ­Riesen beaufsichtigt, denn der Riese sieht von beiden Seiten der Übergangslinie; er erfasst die Übereinstimmung des Hier und zugleich die Gleichheit des Dort; er denkt sich ihre notwendige Allianz aus und beschützt und verficht gleichzeitig ihre notwendige Partikularität. In den meisten populären Mythologien ist der Riese gut, denn er kann alles begreifen, von beiden Seiten der Grenze aus.«35

33 Édouard Glissant, »Il n’est frontière qu’on outrepasse«, in: Le monde diplomatique (Oktober 2006),

S. 16–17. Deutsch etwa: »Es gibt die Grenze nur im Darüberhinausgehen, im Überschreiten.« 34 Ebd., Originaltext: »pour exercer ce libre passage du même à l’autre, pour souligner la merveille de

l’ici-là«. 35 Ebd., Originaltext: »Ces ports, et ces frontières, les isthmes, les passages, les détroits, les deltas,

nous les estimons gardés par des géants, dans les légendes et les géographies du rêve parce que le géant voit des deux côtés de la ligne de franchissement, il conçoit en même temps l’identité d’ici et l’identité de là-bas, il conçoit leur nécessaire alliance, en même temps qu’il préserve et défend leur nécessaire particularité. Dans la plupart des mythologies populaires, le géant est bon, parce qu’il peut tout comprendre, des deux côtés de la frontière.«

185

186

Brigitta Kuster

Abb. 1 und 2: Georges Méliès, Le géant et le nain (1901), Screenshots, Youtube.

Grenzgang Ambivalenz

187

188

Brigitta Kuster

ÜbermaSS und MaSSlosigkeit

Bloß ein Riese vermag die Grenze von beiden Seiten zu umfassen. Nur für das Ausmaß des Immensen ist die Grenzzone, dieses Niemandsland, ein Ort, der bewohnt werden kann. In diesem Sinne ist dem Riesen die Grenze aber auch obsolet, denn nur der Riese erweist sich über die Grenze hinweg als Riese. Für alle anderen ist die Grenze im Überschreiten. Und dieses Übertreten setzt eine Richtung voraus. Man braucht dazu eine Orientierung, die erst jene Kontinuität von Verbindung und Trennung bildet, die sich über eine Grenze hinweg setzend  – mit de Certeau gesprochen  – als von der anderen Seite kommend erweist. Die Gleichgültigkeit des Riesen ist unerreichbar zu groß. Die Frage danach, was gilt und bedeutet, wenn mehrere oder zwei Seiten gelten – wenn also die Ambivalenz vorherrscht –, ruft nach einer Entscheidung, um selbst zur Geltung zu kommen. Auch als eine hierarchisierende Differenzmaschine setzt der Diskurs der kolonialen Ambivalenz offenbar eine Art Symmetrisierung der Maßgaben voraus oder in Gang. Und diese Symmetrisierung generiert das Problem des Relativismus: Der Riese ist absoluter Relativismus, da er unvergleichbar, inkommensurabel ist. Wenn aber der Riese in den Zwerg oder in den Menschen übersetzt werden kann, wie etwa in Georges Méliès’ Film Le géant et le nain (»Der Riese und der Zwerg«) von 1901, dann entsteht das Problem des relativen Relativismus, das auf einem gemeinsamen Eichmaß beruht oder anders: auf einem der Differenz vorgängigen oder außerhalb von ihr liegenden, also ursprünglichen Vergleichsmaß, das Riesen in Zwerge zu verwandeln vermag und umgekehrt. Für Homi Bhabha, der die Grenze im Rückgriff auf Heidegger in der Einleitung zu Die Verortung der Kultur als das begreift, »von woher etwas sein Wesen beginnt«36, besteht die Schwierigkeit darin, konzeptuelle Binaritäten, die sich nicht überwinden oder umgehen lassen (wie Objekt/Subjekt, Kolonisierer/

36 Bhabha: »Translator translated«, a.a.O., Absatz 45. Vgl. auch Martin Heideggers Aufsatz »Bauen

Wohnen Denken«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Teil II, Tübingen 1967, S. 19–36, hier S. 29: »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.«

Grenzgang Ambivalenz

Kolonisierte, Selbst/Andere usw.) sowie Begriffe des Verdoppelns, der Spaltung und der Ambivalenz ohne dialektische Transzendenz zu mobilisieren, durchzuarbeiten und »zu lernen, wie man den ›Widerspruch‹ oder die Dialektik als einen Zustand des Seins oder des Denkens konzeptualisieren könnte, der ›weder das eine noch das andere wäre, sondern etwas anderes daneben, Abseits‹, wie ich es in Die Verortung der Kultur beschrieben habe«.37 Die selbst ambivalente koloniale Ambivalenz, die permanent auf ein DarüberHinaus ohne auflösende Transzendenz, auf ein anderes daneben zielt, scheint mir dabei geeignet, die Konstruktion der Äquivalenz als ebenso zentraler wie problematischer und für die Moderne konstitutiver Kategorie der Un/Gleichung und der (sozialen) Differenzierung zu adressieren. In einer neueren, überarbeiteten Version von »The Other Question« (1990) mit leicht verändertem Titel beschreibt Homi Bhabha, dass in der Anerkennung von Andersheit als Symbol einer signifikanten Präsenz oder einer Präsenz der différance die Gefahr liege, dass Andersheit im Zirkelschluss zu einem Punkt der Äquivalenz oder der Identität werde, indem die zu beweisenden Grenzen des Logozentrismus als Schicksal oder als eine Ökonomie von Mangel/Begehren bereits vorausgesetzt würden.38 In einer expliziten Kritik an der Dekonstruktion und an Derridas Diskussion des Problems des Ethnozentrismus stellt er heraus, dass der symbolische Platz der Andersheit im Westen als eine Subversion westlicher Metaphysik fixiert und schließlich als anti-westlicher Grenzwert-Text des Westens angeeignet werde. Die immer zweifache Einschreibung des kolonialen Diskurses sei ein Prozess der différance, der die Originalität oder die Andersheit als differentielles Zeichen verleugne, zugunsten einer Einschreibung einer Andersheit, die im Namen der Differenz eine gewisse Gleichheit aufweise.39 Insbesondere was Derrida angeht, der die Dekonstruktion als eine Intervention versteht und als eine Aktivität, die daraus besteht, eine gegebene Situation zu verändern, scheint mir allerdings eine große Nähe zu dem von Bhabha betriebenen Durcharbeiten

37 Originaltext: »learning how to conceptualize ›contradiction‹ or the dialectic as that state of being

or thinking that is ›neither the one nor the other, but something else besides, Abseits,‹ as I’ve described it in The Location Of Culture.« 38 Bhabha: »The Other Question: Difference, Discrimination and the Discourse of Colonialism«, a.a.O., S. 73. 39 Ebd.

189

190

Brigitta Kuster

gegeben. Die Dekonstruktion führt Derrida nicht selten zu jenen Aporien, die er nicht nur als Sackgassen begreift, sondern auch als Zerreißproben des Unentscheidbaren,40 in der sich erst eine Entscheidung ereignen kann.

Entscheidung des Unentscheidbaren

Im ersten Teil von Gesetzeskraft setzt Derrida sich mit drei Aporien auseinander, die »ein zweideutiges und zweifelhaftes Gleiten«41 zwischen Gerechtigkeit (»die unendlich ist, unberechenbar, widerspenstig gegen jede Regel, der Symmetrie gegenüber fremd, heterogen und heterotrop«42) und Recht (den institutionalisierten Regeln einer bestimmten Kultur, die deswegen zum einen partikular sind, zum anderen aber auch universell, da sie für ›alle‹ gelten, ohne allerdings allen als gerecht gelten zu müssen) zu unterbrechen vermögen.43 Deren zweite, »die Heimsuchung durch das Unentscheidbare«, so Derrida, »ist nicht einfach das Schwanken oder die Spannung zwischen zwei Entscheidungen, es ist die Erfahrung dessen, was dem Berechenbaren, der Regel nicht zugeordnet werden kann, weil es ihnen fremd ist und ihnen gegenüber ungleichartig bleibt […]«.44 Das Unentscheidbare nach Derrida ist eine Suspension, die sich der unmöglichen Entscheidung ausliefern und dennoch das Recht und die Regel berücksichtigen muss: »Eine Entscheidung, die sich nicht der Prüfung des Unentscheidbaren unterziehen würde, wäre keine freie Entscheidung.«45 Jede Entscheidung folgt gewissermaßen einem geheimen Prinzip, sonst hätte sie sich einer Regel folgend in etwas Berechenbares verwandelt. Deshalb, so Derrida, ist jede Entscheidung »niemals ein Vergangenes, Überholtes oder Überschrittenes, sie ist

40 Dieser bei Derrida wiederholt auftretenden Figur entspricht im französischen Original der Aus-

41 42 43

44 45

druck »l’épreuve de l’indécidable«, in: Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mythische Grund der Autorität, Frankfurt a.M. 1996 wird sie als »Prüfung des Unentscheidbaren« (S. 49) übersetzt. Ebd., S. 9. Ebd., S. 44. »Es muss nicht eigens gezeigt werden«, so Derrida, »dass die Diskurse über die doppelte Bejahung, über die Gabe jenseits des Tauschs und der Verteilung, über das Unentscheidbare, das Unermeßbare oder das Unberechenbare, über die Singularität, die Differenz und die Heterogenität, ebenso Diskurse sind, die von Anfang bis Ende mindestens einen Seitenblick auf die Gerechtigkeit werfen.« Ebd., S. 16. Ebd., S. 49. Ebd., S. 49f.

Grenzgang Ambivalenz

nie ein in der Entscheidung, durch die Entscheidung aufgehobenes Moment, sondern eines, dem das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne[wohnt]«.46 Die Entscheidung ist eine Art interface zwischen Recht und Gerechtigkeit, ein immer wieder zu treffendes Entscheidungsereignis, das, weil es dem Anderen gebührt, vom Anderen herkommt und von der kommenden Gerechtigkeit aus kommend das hiesige Recht neu bestimmt, das Kommen des Anderen ist (ad­ venir, à venir, avenir).47 »Sich an den anderen in der Sprache des anderen zu richten, ist, wie es scheint, die Bedingung jeder möglichen Gerechtigkeit.«48 Die Gerechtigkeit ist übermäßig und undarstellbar, der Moment der Entscheidung unpräsentierbar, da das Unentscheidbare von der Andersheit des anderen herrührt. »Autrui est secret parce qu’il est autre.«49 Vielleicht ist dies sehr nah an Glissants titanischem Zugeständnis an den Menschen, dem er in seiner ­Philosophie de la relation50 ein »droit à l’opacité«, ein »Recht auf Opazität« einräumt. Es ist das Recht des Anderen darauf, nicht vom Selben durchsichtig gemacht zu werden – Voraussetzung, um von der anderen Seite der Grenze her zu kommen und als KommendeR diesseits nicht bereits mit einbegriffen zu sein.

46 Ebd., S. 50f. 47 Ebd., S. 51. 48 Ebd., S. 35. 49 Jacques Derrida: »Autrui est secret parce qu’il est autre«, Interview mit Antoine Spire, in: Le monde

l’éducation (September 2000), S. 14–21, hier S. 14 und S. 21. Deutsch etwa: »Der Andere ist geheim, weil er anders ist.« 50 Édouard Glissant: Philosophie de la relation, Paris 2009.

191

Auslegungen

Barbara Lange

Satire als politisches Statement Cosima von Bonin

2010 richtete das Kunsthaus Bregenz eine große One-Woman-Show aus: The Fatigue Empire. Das Internationale Wollsekretariat 1989–2010 der Künstlerin Cosima von Bonin.1 Als erste Ausstellung des damals neuen Leiters Yilmaz Dziewior kuratiert, zogen auf den verschiedenen Stockwerken der minimalistisch kargen Architektur des von Peter Zumthor entworfenen Gebäudes die für das Œuvre von Bonin so typischen Werke einer scheinbar banalen Ästhetik ein, die – wie immer bei dieser Künstlerin – zu wilden Assoziationen und Spekulationen einluden.2 Bonin besetzte das ganze Haus. Die Präsentation erfolgte auf die drei Etagen verteilt nach scheinbar soziologisch-biografisch organisierten Werkkomplexen, die mit dem Zusatz »Empire« versehen zugleich Assoziationen an Herrschaftsterritorien oder an einen global agierenden Wirtschaftskonzern aufriefen: Auf das »aka The Hippie Empire« im Parterre, wo Stoffarbeiten an die rheinische Kunstszene mit Künstlern wie Blinky Palermo, Imi Knoebel und vor allem die Kölnerin Rosemarie Trockel erinnerten (Abb. 1), folgte im zweiten Stockwerk mit »aka The Kippyie Empire« eine deutliche Referenz an ­Martin Kippenberger, von dem Bonin generell Strukturen ihrer Argumentations1

Vgl. Yilmaz Dziewior (Hg.): Cosima von Bonin. The Fatigue Empire. Das Internationale Wollsekretariat 1989–2010, Kunsthaus Bregenz, Bregenz 2010 (Kat. Ausst.). 2 Vgl. zu den Werken von Cosima von Bonin und einer Erörterung der Orientierungslosigkeit, die sie bei den Rezipierenden auslösen, John C. Welchman: »Fechtunterricht«, in: The Fatigue Empire, a.a.O., S. 97–111, hier S. 106.

196

Barbara Lange

Abb. 1.: Cosima von Bonin, The Fatigue Empire, 2010, Installation View: aka The Hippie Empire, Kunsthaus Bregenz.

Satire als politisches Statement

praxis übernimmt. Dominiert von einem silberfarbenen Toyota Real Pick-up, einem Prototyp des Führerhauses dieses Wagens aus Sperrholz  – wenn man so will einem echten readymade  – sowie der Holzversion des vornehmlich in pink lackierten Toyotas (Abb. 2), präsentierte diese Ebene durch ihre Verweise auf Events einer queer culture in westlichen Metropolen Bonins spielerisches Kokettieren mit geschlechtlicher Identität. Das dritte Stockwerk diente als Aufführungsort für das in die Schau integrierte Konzert des Moritz von Oswald Trios (Abb. 3) und trug folgerichtig dessen Namen im Zusatz. Großformatige, flauschige Tierwesen schienen von dem Raum Besitz genommen zu haben und hingen wie erschöpft auf den aufgestellten Sitzmöbeln. Wie auch die anderen Ausstellungen der Künstlerin präsentierte The Fatigue Empire ein Konzeptkunstwerk bestehend aus Einzelexponaten, das die Künstlerin in einem kunsthistorisch und kulturell komplexen Kosmos von Referenzen platziert hatte,3 der auffällig uneindeutig ist und durch die Titel der Objekte – die Nomenklatur der drei Abteilungen ist signifikant – eher weiter verschachtelt als geklärt wurde. Wie Dirk von Lowtzow erklärt hat: Die Werke irritieren, sie belästigen aber nicht.4

Erschöpft

Zwar fehlt den Arbeiten jegliche Dogmatik – ganz so diskret, wie der Musiker, der zeitweilig Ausstellungstexte für von Bonin formulierte,5 es vorschlägt, sollte die Position der Künstlerin dann aber doch nicht gewertet werden. Wie Yilmaz Dziewior im Ausstellungskatalog zur Bregenzer Schau anführt, spielt schon der Titel The Fatigue Empire auf die in den vergangenen Jahren auch im Kunstbetrieb viel diskutierten Theorien des Postfordismus an.6 Anders ­akzentuiert

3 Zu Bonins Strategie der Selbstverortung in einem Netz von Beziehungen vgl. Barbara Lange:

»Cosima von Bonin: Partnerschaftliche Imagebildung«, in: Christopher F. Laferl und Anja ­Tippner (Hg.): Künstlerinszenierungen, Bielefeld [im Druck]. 4 Vgl. Dirk von Lowtzow: »In Flauschgewittern/In Fluffy Storms«, in: Parkett 81 (2007), S. 25–37, hier S. 28 bzw. S. 32. 5 Vgl. Welchman: »Fechtunterricht«, in: The Fatigue Empire, a.a.O., S. 97–99. Zu Bonins Zusammenarbeit mit anderen Künstlern vgl. auch Lange: »Partnerschaftliche Imagebildung«, in: Künstlerinszenierungen, a.a.O. 6 Vgl. Yilmaz Dziewior: »Recht auf Faulheit. Cosima von Bonin und The Fatigue Empire«, in: The Fatigue Empire, a.a.O., S. 125–130, hier S. 125.

197

198

Barbara Lange

Abb. 2: Cosima von Bonin, The Fatigue Empire, 2010, Installation View: aka The Kippyie Empire, Kunsthaus Bregenz.

Satire als politisches Statement

als Michael Hardt und Antonio Negri, die in ihrer breit rezipierten Publikation Empire im Zusammenschluss von Vielfalt, multitude, eine Opposition zu den wenigen die Weltwirtschaft dominierenden Konzernen ausmachten,7 sieht Dziewior in Anlehnung an Paolo Virno gerade im künstlerisch kooperativen Arbeiten, wie es Bonin praktiziert, eine Chance.8 Indem man sich einer Effektivierung der Produktivität verweigere und sogar als ein ganzes Empire erschöpft sei, opponiere man zugleich gegen eine postfordistische Aneignung der ­Kreativität.9 Spätestens seit Trainingsprogramme für Manager in Kreativität und Eigensinn einen Wert für die Steigerung von Produktivität in der Wirtschaft erkannten, wird im Kunstbetrieb heftig über die Möglichkeiten diskutiert, sich der Funktionalisierung durch Kapitalinteressen entziehen zu können. Doch welche Impulse sollen von den erschöpft wirkenden Kuscheltier-Protagonisten (Abb. 4) ausgehen, die uns Cosima von Bonin präsentiert? Begrenzt sich nicht der Witz dieser mit Polyfill gefüllten Formen aus Velours auf den Moment der Betrachtung und signalisiert damit allenfalls, dass den vereinnahmenden Strukturen des Turbokapitalismus kaum mit einem utopisch überhöhten Bild von Kunst beizukommen sein dürfte? Schießt die gesellschaftskritische Dimension, die mit dem Bezug auf Virno hergestellt wird, also maßlos über das Ziel hinaus und ist lediglich dem modernen Wunsch geschuldet, mit Kunst die Gesellschaft befrieden zu wollen? Doch aufgemerkt! Schon 1998 konstatierte Thomas Eggerer, Cosima von Bonin lasse uns in Assoziationsfallen tappen, da ihre Inszenierungen auf keine sinnvollen Kohärenzen hinführen.10 Das kognitive Kapital, wie John C. ­Welchman die Gedankenketten der Rezipienten nennt,11 wird durch das visuelle wie sprachliche Interpretationsangebot, das in seiner Uneindeutigkeit tatsächlich ein Überangebot ist, zur Arbeit auf Hochtouren angeregt, nur um sich bald erschöpft im Referenzgewirr der Zeichen zu verstricken. Erschöpft erscheinen 7 Michael Hardt und Antonio Negri: Empire, Cambridge 2000. In deutschsprachiger Übersetzung

8 9 10 11

von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn erschien das Buch unter dem Titel Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M., New York 2002. Vgl. Paolo Virno: Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensform, Wien 2005. Vgl. Dziewior: »Recht auf Faulheit«, in: The Fatigue Empire, a.a.O., S. 125f. Thomas Eggerer: »Spurensuche im Bonsaiwald. Einige Aspekte zu den neueren Arbeiten Cosima von Bonins«, in: Texte zur Kunst 29 (1998), S. 69–76. Welchman: »Fechtunterricht«, in: The Fatigue Empire, a.a.O., S. 99.

199

200

Barbara Lange

Abb. 3: Cosima von Bonin, The Fatigue Empire, 2010, Installation View: aka The Oswald Empire, Kunsthaus Bregenz.

Satire als politisches Statement

nicht nur die Tiere, erschöpft werden so auch diejenigen, die sich auf die Sinnsuche begeben. Auch das Wissen um die Tatsache, dass Bonin diese Bildzeichen beliebig verhandelt, verschafft keine zusätzliche Orientierung. Von der Materialsprache bis hin zur Institutionskritik bekommen wir einzig unsere aktive Teilhabe an den ambivalenten Einschreibungen vorgeführt, die durch die diskursive Auseinandersetzung mit Bonins Kunstmachen entstehen. Ihre Arbeiten präsentieren eine Konzeptkunst, die ihre eigenen Bedingungen befragt und die bei allem kommunikativem Aufwand, den die Künstlerin betreibt, sprachlos macht.

Satire als Instrument der Analyse

Wie also reden über die Werke von Bonin, will man sich nicht allein auf das hoch spannende Thema ihrer Künstlerinnenrolle beschränken? Ich möchte vorschlagen, Bonins Arbeiten als Satire zu werten. So lässt sich die Praxis der Künstlerin nicht allein als kritische Reflexion über das Kunstmachen und den Kunstbetrieb werten; darüber hinaus ist sie auch politisch. Allerdings paraphrasiert sie keine politischen Losungen oder Argumente. Vielmehr arbeitet sie konsequent ästhetisch, verwendet also ihr genuines Instrumentarium als Künstlerin. Die Satire, die als eines ihrer Mittel Ambivalenz einsetzt, ist Politik mit den Mitteln der Kunst, die Bonin in der ihr zugestandene Uneindeutigkeit auf die Spitze treibt. Der Vorschlag, Cosima von Bonins Inszenierungspraktiken aus der Per­ spektive des Satirischen zu betrachten, zielt aber nicht allein darauf, die für ihr Werk immer wieder konstatierte sinnliche Qualität aufwerten zu wollen und Debatten vom was – nämlich: Was ist hier dargestellt und was soll das? – auf das wie zu verschieben – nämlich: Wie funktionieren die Werke sowohl in produktions- als auch in wahrnehmungsästhetischer Hinsicht. Vielmehr möchte ich durch die Perspektivierung mittels eines ästhetischen Grundlagenbegriffs den von Eggerer als Assoziationsfallen klassifizierten ­Interpretationssackgassen ausweichen und versuchen, jenseits von Jargon und tagespolitischen Konjunk­ turen die möglichen gesellschaftspolitischen Dimensionen im Œuvre der Künstlerin auszuloten. Was verstehen wir unter »Satire«? Satire ist eine primär literarische Form, die seit der Antike mit einer erstaunlichen Konstanz bis heute ohne ­definierten

201

202

Barbara Lange

Abb. 4: Cosima von Bonin, The Fatigue Empire, 2010, Installation View: aka The Oswald Empire, Detail, Kunsthaus Bregenz.

Satire als politisches Statement

Rahmen in verschiedenen poetischen Kontexten angesiedelt wird.12 Zu ihrer Unspezifik passt, dass ihre Herkunft ungeklärt ist. Etymologisch lässt sie sich zum einen auf das Satyrspiel des griechisch-antiken Theaters zurückführen, zum anderen ebenso auf lateinische Begriffe, die diffuse Mischungen verschiedener Ingredienzien beschreiben.13 Gemeinsam ist den verschiedenen Herkunftsvermutungen die Zuschreibung einer Performativität: Satire ist nicht, Satire produziert vielmehr, sei es als Inszenierung, sei es im Sinne einer chemischen Reaktion. Auch wenn die Bedingungen von Kunst im Laufe der Jahrhunderte stark voneinander differieren, bleibt die Annahme, diese unspezifische Form sei aktiv, immer bestehen. In den vormodernen Zeiten im Kontext normierter Poetiken fungierte Satire dabei als Negation der Norm; eine subversive Dimension, die sie nie ganz verlieren wird. Sie brachte sich aggressiv ein: nicht leise und still, sondern vielmehr laut, polternd, unausweichlich und dabei zugleich immer ästhetisch gefasst. So ist sie auch heute nicht mit dem Alltag zu verwechseln, obwohl sie auf diesen kommentierend Bezug nimmt. Ihr Humor erschöpft sich nicht in der Komik, viel eher nutzt sie diese, um daraus ex negativo neuen Sinn zu produzieren. Damit unterscheidet Satire sich bei allen Gemeinsamkeiten von der Parodie, wenngleich Erstere mit parodistischen Elementen arbeitet. Theorien der Vormoderne charakterisierten sie dementsprechend als »Stachel«.14 Je nach gesellschaftlichem Kontext hatte der aus dem Negativen entwickelte Sinn im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Funktionen: Die Satire konnte Gedankenspiel oder Sublimierungsstrategie sein, sie konnte aber auch als Impuls zum Handeln gedeutet werden. Als im Kunstdiskurs die undefinierten Zwischenräume zunehmend an Bedeutung gewannen, erfuhr auch die Satire eine Aufwertung als Kunst ohne klare Form jenseits der Norm. Nicht von ungefähr erkennt ihr Friedrich Schiller in seiner Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1795/1796) den Status zu, reflexive Instanz der Künste sein zu können. »Satyrisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale […] zu seinem Gegenstande macht.«15 12 Vgl. Helmut Arntzen: »Satire«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd.  5,

Stuttgart, Weimar 2003, S. 345–364. 13 Ebd. 14 Etwa Georg Philipp Harsdörfer (1648–1653) und Balthasar Kindermann (1664). Vgl. ebd., S. 349. 15 Zitiert nach ebd., S. 354.

203

204

Barbara Lange

Es verwundert daher nicht, dass in der Folge von Schiller bis in das frühe 20.  Jahrhundert sowohl Kritiken der als auch Konzepte für Satire entstehen, die sich alle um die Frage drehen, welchen Stellenwert man der Komik in Bezug auf Poesie zuerkennen will.16 Mit den massenmedial fundierten Populärkulturen kommt im 20. Jahrhundert eine weitere Dimension hinzu. Auch außerhalb von Philosophie und Poetologie werden nun Überlegungen zur Satire – nicht zu verwechseln mit der in ihren Dispositionen offensichtlichen sogenannten Trivialsatire, mit der man satirische Blätter wie Titanic oder komödienartige Fernsehshows bezeichnet  – angestellt, die mit Blick auf die Strukturen dieser Ausdrucksform zu maßgeblich neuen Wertungen kommen. Sie gehen mit der allgemeinen Aufwertung des künstlerischen Kommentars einher, der nun gleichwertig neben das Konzept der künstlerischen Invention tritt; für die Kunstgeschichte sind in diesem Kontext Phänomene wie Collage, ready made oder die Assemblage aus vorgefundenen Materialien zu nennen. Wurde im Kunstdiskurs zuvor die Bindung der Satire an Vorgängiges kritisiert, so wird dies nun mit Blick auf die Verfahrensweisen, mit denen sie das Vorgängige paraphrasiert, als kreativ bewertet. Mit den Erfahrungen der Diktaturen des 20.  Jahrhunderts wird die Uneindeutigkeit der Satire nochmals aufgewertet und gilt nun als eine für ästhetische Argumentationen verfügbare Rahmung, mit der man sich der ideologischen Funktionalisierung widersetzen kann.17 Dies ist auch der Zusammenhang, in dem Bonins Darstellungsstrategie angesiedelt werden kann.

Satire als bildkünstlerische Strategie im Werk von Cosima von Bonin

Satire ist eine Kategorie, die vor allem im Kontext der Sprachkünste verhandelt wurde und wird. Doch auch die Bildkünste kennen bekanntlich satirische Verfahren, die parallel zu den literarischen Ausdrucksformen existieren und etwa mit den Grotesken, den Verzeichnungen oder dem klassischen Bildwitz ähnliche, mit der Diskussion über Kreativität verbundene Diskurse erzeugen.

16 Vgl. ebd., S. 357–360. 17 Arntzen verweist neben seinen eigenen Schriften in diesem Kontext auf die Positionen von Klaus

Lazarowicz, Jürgen Bummack, Renate Homann und partiell auf Jörg Schönert. Ebd., S. 363.

Satire als politisches Statement

Auch Cosima von Bonin bedient sich dieser nicht eindeutig festgelegten Form der Satire, indem sie bereits vorhandene kulturelle Muster oder Erscheinungsformen aufgreift und diese so präsentiert, dass sie sinnlos werden: Sie stellen wie der silberfarbige Hummer an der Gitterwand in »aka The Kippyie Empire« (vgl. Abb. 2) »nichts« dar, auch wenn sie eine bestimmte Figuration und eine spezifische Dingkultur zitieren. Die Charakterisierung von Bonins Darstellungsstrategie als satirische Praxis erlaubt es, das Werk der Künstlerin in einem traditionsreichen kulturhistorischen Kontext zu verorten, ohne dass man von vornherein mit kunstfernen, etwa aus der Politik entlehnten Begriffen operieren oder sich mit Argumenten der Originalitätsdebatte auseinandersetzen muss. Zugleich werden mit Satire Verfahrensweisen im Œuvre von Bonin fokussiert, die mit Zitieren, Übertreiben und Verknüpfen eine gesellschaftliche Verortung vornehmen, ohne dass die Werke als Repräsentation oder als Symbolisierung »von etwas« begriffen werden müssen. Das Œuvre steht somit für sich, es ist kein Spiegelbild von etwas Eigentlichem. »An die Stelle der Darstellung einer Welt tritt die Darstellung einer verkehrten Welt […].«18 Diese verkehrte Welt ist jedoch nicht abgelöst von der Realität und völlig frei flottierend. Vielmehr sind die Dispositionen neu geordnet – und zwar nach ästhetischen Kriterien. Damit rückt die Frage nach der politischen Dimension im Werk von Cosima von Bonin in ein spezifisches Licht. Es wurde festgestellt, dass die satirische Praxis, da sie in einer Anderswelt operiert, sich nicht symbolisch deuten lässt und somit augenscheinliche Referenzen tatsächlich nicht für etwas stehen, sondern aus der Eigenheit ihrer Erfahrung verstanden werden wollen. Zugleich wird mit den Darstellungstechniken des Zitats, der Paraphrase und/oder der Performanz nicht nur ein Bezug zur realen Welt suggeriert. Er besteht faktisch auch. Genau diese Nahtstelle von aisthetischer Erfahrung und bekanntem Zeichen bespielt Cosima von Bonin. Anders als bei der Repräsentation, die die generell arbiträre Eigenschaft des Zeichens weitestgehend zu minimieren sucht, potenziert sie das Arbiträre, indem bei ihr Zeichen sowie dessen Form oder Zeichen und dessen Kontext nicht zusammenpassen. Lautréamonts Metapher von der Nähmaschine, die mit dem Regenschirm auf dem Seziertisch zusammentrifft, die die Surrealisten bereits so liebten, kommt auch bei Bonin zum Einsatz. Der daraus entstehende Un-Sinn erschöpft sich bei ihr nicht in sich selbst, sondern 18 Ebd., S. 348.

205

206

Barbara Lange

hat – ganz im Sinne der Satire – einen gesellschaftlichen Bezug. Die Ambivalenz, einerseits die Werke als in hohem Maße artifiziell – als Kunstwerke im eigentlichen Sinne – wahrzunehmen und andererseits den Alltag in ihnen und durch sie wiederzuerkennen, ist für ihre Arbeiten konstitutiv. In »aka The Kippyie Empire« etwa, Teil von The Fatigue Empire, inszenierte sie ein Ensemble, das ein reales Pick-up-Modell der Marke Toyota, dessen Modellname zudem Toyota Real Pick-up lautet, mit dessen künstlerisch kommentierten Varianten konfrontierte (vgl. Abb. 2): Neben der Paraphrase des Führerhauses in Pappe und Sperrholz – auf dem Foto verdeckt durch den voll funktionsfähigen, »echten« Toyota – hatte die Künstlerin in Bregenz ein drittes, die vollständige Form des Originals kopierendes »Modell« platziert, das wie das auf die Führerkabine reduzierte Fragment gleichfalls aus Pappe und Sperrholz gefertigt ist. Dieser Code Pink Report (im Foto außen rechts zu sehen) hat zwar die Silhouette des Originals, sieht aber zugleich aufgrund seiner Ausführung in dem für ein Auto untauglichen Material völlig verschieden aus. Er ist mit pinkfarbenen Fahnen, Banderolen und auf der Ladefläche mit Objekten aus Schaumstoff ausgestattet, die in ihrer Farbigkeit übertrieben an Phänomene der queer culture erinnern, ihrerseits selbst eine real gelebte Kultur mit satirischen Elementen. Wie Yilmaz Dziewior im Ausstellungskatalog zu The Fatigue Empire erläutert, war der Ausgangspunkt für Code Pink Report tatsächlich eine Gay-Parade im Berliner Stadtteil Kreuzberg: »Anhand eines von ihr [Cosima von Bonin, Anm. d. Aut.] aufgenommenen Fotos rekonstruierte sie hier das Geschehen. Dabei wurden Transparente und Fahnen kurzerhand in rot-weiß karierten sowie rosa Stoffen nachgenäht und Teile, die auf dem Foto von Menschen verdeckt oder aus sonstigen Gründen nicht zu lesen sind, einfach ausgelassen.«19 Von der Intention her will die Arbeit also so funktionieren, dass zwar vielleicht nicht das konkrete Ereignis in Berlin, jedoch ein Ereignis dieser Art assoziiert werden kann. Doch damit erschöpft sich das Werk nicht. Code Pink Report einzig als Repräsentation der Realwelt begreifen zu wollen, mit der sich Cosima von Bonin etwa emphatisch in einer alternativen Szene verortet, greift zu kurz und lässt einen in eben jene Assoziationsfallen laufen, die bereits erwähnt wurden. Denn Code Pink Report geht nicht nur über die erzählerische Repräsentation hinaus. Code Pink Report ist zudem mehr als ein Kommentar. Indem Bonin mit den karierten Stoffobjekten auf der »Ladefläche« des Autoabbildes Dinge ­einführt, deren 19 Dziewior: »Recht auf Faulheit«, in: The Fatigue Empire, a.a.O., S. 126f.

Satire als politisches Statement

Erscheinungsbild nicht zu der Erzählung passt, die man auf den ersten Blick erkennen zu können meint, und diese Objekte so, obwohl man sie benennen kann, keinen Sinn ergeben, kommt es zur Irritation. Im Vorgang der Rezeption werden auf diese Weise neue Bedeutungen produziert, die überhaupt erst aus der Reflexion über das Irritiertsein entstehen. Die Logik, die aus der virtuellen Welt des Kunstwerks erwächst, ist eine neuartig eigene, die umso verwirrender ist, als sie durch die Materialität der Objekte auf eine Realwelt verweist, die nicht identisch mit dem ist, was man sieht. Code Pink Report ist somit abbildend und produzierend zugleich. Das vordergründig Banale kann als wahrnehmungsästhetische Intention verstanden werden, aus der Irritation eine Betrachteraktivierung entwickeln zu wollen. Diese kann dank der thematischen Felder, die mit den Werken assoziiert werden, eine gesellschaftspolitische Dimension erreichen, wenngleich sie sie aufgrund fehlender Eindeutigkeit nicht erreichen muss. Diese Optionalität resultiert aus der genuin ästhetischen Argumentation, mit der Bonin antritt und die sich der Vereindeutigung und damit auch einer Funktionalisierung durch kunstfremde Kategorien verweigert. Juliane Rebentisch konstatiert, diese Eigenschaft von Kunstwerken führe häufig zum Vorwurf der Ästhetisierung, der eine Entpolitisierung einschließe.20 Dahinter stehe die Auffassung, Politik und Ästhetik zwar nicht als grundsätzlich getrennte Felder begreifen zu wollen, die ästhetischen Positionen jedoch als ein die Politik Verstellendes, wenn nicht sogar Entstellendes anzusehen. »Das Ästhetische erscheint hier nicht als Bedrohung von außen, sondern als eine Form der Entstellung, die Ethik und Politik von innen her zersetzt, weil in ihrer normativen Substanz aushöhlt.«21 Diese uralte Kritik, die, wie Rebentisch schildert, bereits in der griechischen Antike fassbar ist, legt nahe, dass die gleichfalls in dieser Zeit entstandene Satire genau die Form ist, mit der sich Künstler einer Funktionalisierung durch die Politik entziehen. Mit ihren eigenen Mitteln spielen sie die Ambivalenzen von Normen und Bedeutungen aus und setzen so ihren »Stachel« gegen eine Engführung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten auf Positionen ein. Oder anders gesagt: Die Satire, die ästhetisch arbeitet, erweist sich als das Politische eigener Art – als Politik mit künstlerischen Mitteln.

20 Vgl. Juliane Rebentisch: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz, Frankfurt a.M.

2012, S. 9. 21 Ebd.

207

208

Barbara Lange

Konsequenterweise entzieht sich Bonin daher auch den Vereinnahmungstendenzen, die in der Folge postfordistischer Konzepte die Energie, die man der Kreativität zuschreibt oder meint aus ihr gewinnen zu können, für sich proklamieren – sei es bei der Neustrukturierung von Produktionsverhältnissen, sei es bei der Überhöhung von Kunst mit utopischen Ideen, die sie nicht wird einlösen können. Die schlaffen Kuscheltiere in The Fatigue Empire (vgl. Abb. 4) demonstrieren nicht die Erschöpfung, auf die der Titel der Ausstellung anzuspielen scheint, denn Satire symbolisiert nicht.22 Wie in Tschaikowskys Ballett Der Nussknacker führen sie ein Eigenleben in einer künstlich geschaffenen anderen Welt. Wenn wir uns diese vorstellen, lassen wir zugleich die gesellschaftspolitische Realität, in der wir leben, gedanklich hinter uns. Da die Kunstwerke in ihrer Erscheinungsform jedoch die Nahtstelle zur Realität besetzen, helfen sie allerdings augenzwinkernd auch dabei, das Ideal vom kreativen, lustvoll sich auslebenden Ich als eine Ideologie zu erkennen, die die Strukturen der Macht verschleiert, die tatsächlich dem Ich seine Grenzen setzt. Allerdings bietet die subversive Qualität von Kunst die Möglichkeit, durch Irritation von Erzählmustern diese Grenzen, wenn nicht zu unterlaufen, so doch zu befragen. Cosima von Bonin konstruiert in ihrem Œuvre durch Ambivalenzen Kippfiguren, die die Ermächtigung zum Erkennen und Handeln an die Rezipierenden ihrer Werke delegieren. In der Indifferenz der ästhetisch argumentierenden Satire ist es angelegt, dass sich das Publikum nicht durch Vorwissen, sondern nur durch das Wahrnehmungserlebnis und die damit verbundene Irritation den politischen Gehalt ihrer Werke erschließen kann.

22 Vgl. Dziewior: »Recht auf Faulheit«, in: The Fatigue Empire, a.a.O., S. 126; sowie Rebentisch: Die

Kunst der Freiheit, a.a.O., S. 369–374.

Johanna Schaffer

Formlos, wie Spucke Das Formlose ist ein Arbeitsvorgang.1

1a. LOOK BACK! Boys From Town

»Artists from Eastern European countries were invited to reflect the years of transition from socialism to capitalism within a timeframe of 20 minutes maximum.« Das ist ein Teil des Textvorspanns, mit dem Ivan Juricas Videoarbeit LOOK BACK! Boys From Town beginnt.2 (Abb. 1–11) Dann Schnitt, Schwarzbilder und schließlich eine schlanke Hand, weiß, die einen Packen Kopierpapier vor dem Oberkörper und der Kamera entgegenhält. Kein Ton. Auf dem ersten Bogen billigen Kopierpapiers ist ein Ölschinken aus dem frühen 20. Jahrhundert reproduziert, der Akt eines jungen Frauenkörpers. Die zweite Hand liegt über dem Gesicht der dargestellten Figur (Abb. 1), wird dann weggehoben. Eine schnelle Bewegung dieser Hand nach oben, mehr zu ahnen als zu sehen ist der Mund, der die Finger mit Spucke anfeuchtet, dann zieht die Hand den ersten Papierbogen weg. Auf dem Bogen ein handschriftlich-krakeliger Text: »Károly Ferenczy, Gypsy Girl 1915/16«. Die Hand blättert weiter um, ein ­exotisierendes, 1

Yves-Alain Bois: »The Use Value of ›Formless‹«, in: Yves-Alain Bois und Rosalind Krauss: ­Formless: A User’s Guide, New York 1997, S. 13–40, hier S. 18. 2 Ivan Jurica, 1989–2009: LOOK BACK! Boys from Town Healing the Grief of Beautiful Girls (A/SLO 2009, 18’20’’). Hier der Vorspann in seiner Gesamtheit: »2009 is the 20th anniversary of the Fall of the Berlin Wall, a synonym for the collapse of the socialist/communist regimes in Eastern Europe. Many different institutions from the West and the East, the cultural ones included, called to contemplate and celebrate the 20 years of democracy in the former communist countries. Artists from Eastern European countries were invited to reflect the years of transition from socialism to capitalism within a time frame of 20 minutes maximum. Ivan Jurica (Slovakia)«.

210

Johanna Schaffer

Abb. 1–12: Stills aus Ivan Juricas Video-Arbeit LOOK BACK! Boys from Town Healing the Grief of Beautiful Girls, 2009.

Formlos, wie Spucke

orientalisierendes Bild nach dem anderen. Schließlich: Kopien von Statistiken. »slovakia  – Amount of Roma within Different Districts 1990s.« Wieder Schnitt. Ein schlaksiger junger Mann, Sneakers und dunkel flatterndes Regencape, steht auf dem grauen Gehsteig einer suburbanen grauen Straße und blickt der Kamera entgegen. Im Hintergrund flache containerartige Gebäude, darauf der Schriftzug einer global agierenden britischen Supermarktkette. Es regnet. Kaugummikauend hantiert der Schlaksige mit einem Packen labbriger A3-­ Papierblätter. Es regnet ihn an, die Papiere auch. Über dem Bild liegt als Ton ein Schlager, eine männliche Stimme in schmelzendem Slowakisch, der Text läuft in englischen Untertiteln über die Bilder: I want to go straight // where the smile of beautiful girls // was blown away by grief.3 Der junge Mann ist bemüht, in dem zunehmend nasser und formloser werdenden Papierpacken Bögen umzublättern. Die Bögen klappen zur Seite, werden umgeweht. Boys from Town trying to heal the grief of beautiful girls. Es regnet weiter. Ein Bogen Papier schafft es auf die Vorderseite des Stapels, auf dem steht in handschriftlichen Großbuchstaben: Wien Berlin London Paris. Das hält der Mann im Regencape der Kamera gestikulierend entgegen. Go there with us right now // where only love could lead // the love of girls healing the grief. Der Mann blättert weiter, die Haare hängen ihm nass ins Gesicht, das Papier sackt durchnässt nach vorne. big cock steht auf dem nächsten Blatt. tight pussy auf dem folgenden. Der junge Mann blättert weiter. Der Akt eines jungen Mädchens. Károly Ferenczy, Gypsy Girl 1915. Mich interessiert an der (hier in Ausschnitten wiedergegeben) Arbeit Ivan Juricas die Art, wie sie verschiedene Themen reflexiv aufeinander bezieht: wie etwa im Vorspann die zurichtende Anmaßung des Produktionskontexts der Arbeit benannt wird (20 minutes maximum, artists from Eastern European countries) und sich im Video dann verschiedene Achsen rassialisierter und sexualisierter Produktion von Andersheit mit der Thematisierung ökonomischer und sexueller Ausbeutung verbinden; wie im selben Rahmen aber als verschiedene Achsen

3 Einer der thematischen Stränge der Videoarbeit Juricas beschreibt die berufliche Laufbahn eines

(namentlich nicht genannten) erst tschechoslowakischen, dann slowakischen Schlagersängers, der in den 1990er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum mit deutschsprachigen Schlagern erfolgreich war. Ein Textbild im Video hält fest: »His resurrected songs about PATRIARCHY (›love‹) ENSLAVEMENT and NEO-COLONIZATION (›women‹) NATIONALISM and XENOPHOBIA (›his native Slovakia‹) perfectly hit the nerve of transitional societies in both sides of the former Wall, in the CENTER and in the PERIPHERY.«

211

212

Johanna Schaffer

Antiromaismus als Teil tschechischer, slowakischer, tschechoslowakischer und österreichischer Geschichte und die exotisierende und ausbeuterische Zurichtung osteuropäischer KünstlerInnen in kapitalistisch-westlich-­imperialen Verhältnissen thematisiert werden; und wie im Video nicht zuletzt auch ­rass istisch-patriarchal-heteronormative imaginative Gewalt/Lust (big cock; tight pussy) angesprochen ist. Darüber hinaus interessiert mich, wie in Juricas Video all diese thematischen Achsen als kritische Setzungen produziert werden und gleichzeitig in der Form der Darstellung Elemente enthalten sind, die die Autorität dieser Setzungen unterminieren und ihre Fabriziertheit und Instabilität betonen. Ich meine damit das Ruinöse, den Regen, die Art, wie dieser Regen den sichtlich an der Herstellung von Wissen arbeitenden Protagonisten samt seines beweisenden Materials auflöst und so von Scheitern und Verfall spricht. Und ich meine die Spucke an seinen Fingern, Resultat einer Geste des Peniblen, die Mund, Finger und eben Körperflüssigkeit assoziativ ins Spiel bringt und, indem sie so die Subjektivität, Körperlichkeit und Sexualität des Sprechers betont, seine wissensproduzierenden Formulierungen mit ganz anderen Qualitäten einfärbt: Begehren, Zweifel, Misslingen lagern hier in loser und offener Verbindung nebeneinander. Von dieser Stelle aus ließen sich in einer interpretativen Arbeit weitere Linien ziehen, zurück zu Craig Owens’ Lesarten der allegorischen Impulse in künstlerischen Arbeiten (Einfall eines westlich sozialisierten kunsthistorischen Imaginären), die von notwendig frustriertem Begehren sprechen, während sie totalisierende Erzählungen zerstückeln;4 und weiter zurück, zu Walter Benjamins Überlegungen über den Repräsentationsmodus des Allegorischen und dessen Beziehung zu Zerbröckelung und Zertrümmerung, zu Melancholie, Schlaffheit und Eleganz;5 es ließe sich eine Verbindung konstruieren zu Marcel Broodthaers’ La Pluie (Projet pour un texte) und dessen Darstellung des Künstlers und seines

4 Owens beschäftigt sich in seinem 1980 erstmals veröffentlichten Text u.a. mit Texten von Robert

Smithson, mit Robert Rauschenberg Arbeits Rebus und Laurie Andersons Americans on the Move sowie mit Sherrie Levines und Cindy Shermans visuellen Taktiken. Siehe Craig Owens: »The Allegorical Impulse: Toward a Theory of Postmodernism«, in: Brian Wallis (Hg.): Art After Modernism. Rethinking Representation, New York 1984, S. 203–235. 5 Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.1., Frankfurt a.M. 1974, S.  203–430 [Ersterscheinung 1928].

Formlos, wie Spucke

Textes in all ihrer nassen Bedauerlichkeit;6 und erneut mit Bezug zur jüngeren Kritikproduktion ließe sich eine Linie zeichnen zu Bini Adamczaks Text über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster.7 Aber ich will beim Agens der Nässe bleiben und von dort zu einigen theoretischen Strängen kommen, die sich mit dem ruinösen Aufweichen von Subjekt- und Gesellschaftsformen beschäftigen. Denn an der Labbrigkeit und aufweichenden Spucke  – Erstere ein zentraler, Zweitere ein eher marginaler Aktant in Juricas Boys from Town – beschäftigen mich ihre praktischen, d.h. aufs Handeln bezogenen Qualitäten der Instabilität und Destabilisierung.

1b. Ruinöses, Defigurierendes

Denn entlang dieser Qualitäten der Instabilität und Destabilisierung lässt sich eine Formulierung des Ideologietheoretikers Louis Althusser demontierend weiterentwickeln. Althusser hält fest, dass »kein menschliches Wesen, i.e. kein gesellschaftliches Individuum die Agent*in einer Praxis sein kann, wenn sie nicht die Form eines Subjektes annimmt«.8 Michel Pêcheux hat Althussers Be­ hauptung mit der Praxis der Disidentifikation konfrontiert und weitergedacht.9 Disidentifikation, schreibt er, sei nicht die Abschaffung der Subjekt-Form, denn dies wäre unmöglich, jedoch eine »›Transformations-Verschiebung‹ dieser Form« (»a ›transformation-displacement‹ of this form«, so Pêcheux in englischer Übersetzung).10 Als Kraft, mit der an der Transformations-Verschiebung dieser Form angesetzt werden kann, will ich an ein Konzept Georges Batailles erinnern, an das Konzept des informe, des Formlosen oder, besser noch, des Entformenden. Dieses Konzept stelle ich im Folgenden zur ­Vorstellung des

6 Mit einer Videokamera abgefilmte Version, zu sehen auf: http://www.youtube.com/watch?v=

3L6JO-U_ts8 (aufgerufen: 13.4.2013). 7 Bini Adamczak: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruk-

tion der Zukunft, Münster 2006. 8 Zitiert nach Michel Pêcheux: Language, Semantics, and Ideology, übers. von Harbans Nagpal,

­London 1982, S. 114, FN 12 [franz. Ersterscheinung 1975], deutsche Übersetzung J.S. 9 Diese Überlegungen wurden in zahlreichen, vor allem queeren, theoretischen Auseinandersetzun-

gen mit Subjektivierungsprozessen aufgegriffen, siehe z.B. José Esteban Muñoz: Disidentifications. Queers of Color and the Performance of Politics, Minneapolis 1999, und Renate Lorenz: ­Aufwändige Durchquerungen. Subjektivität als sexuelle Arbeit, Bielefeld 2009. 10 Pêcheux: Language, Semantics, and Ideology, a.a.O., S. 163.

213

214

Johanna Schaffer

Unsichtbar-Werdens dazu, um diesem Unsichtbar-Werden, das sich in vielen linksaktivistisch und/oder antirassistisch argumentierenden theoretischen Texten der letzten Jahre findet, einen entschieden anderen Dreh zu geben.11 Das Unsichtbar-Werden, in dem Überlegungen von Gilles Deleuze und Félix Guattari nachhallen, vollzieht eine Umkehrung im aktivistischen Vokabular: weg von Sichtbarkeit, hin zu Unwahrnehmbarkeit,12 und mit ihr einher geht die Vorstellung »postrepräsentationaler« Politiken. Diesem auch durch die Arbeit der TheoretikerInnen der »Autonomie der Migration« informierten Impuls werde ich im Folgenden kurz (und nicht zustimmend) anhand eines Textes von Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos nachgehen. Betonen und weiterführen will ich allerdings den subjekt- und repräsentationskritischen Aspekt dieses Impulses und seinen ruinösen, defigurierenden Effekt. Um also diesen Aspekt und Effekt zu stärken, will ich ihm Batailles Begriff aus dem Repertoire ästhetischer Debatten zur Seite stellen  – den Begriff des Formlosen/Entformenden. Dieser Griff hin zum Ästhetischen geschieht nicht naiv, sondern um die ästhetische Dimension der Welt zu betonen und mit einer an Materialisierungspraktiken und Entautorisierungsgesten interessierten Perspektive über die Gemachtheit von Wirklichkeit und Subjektivität nachzudenken.

2. Unsichtbar-Werden?

Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos waren wesentlich an der Formulierung der Forschungsperspektive der »Autonomie der Migration« beteiligt.

11 Mit Dank an Fahim Amir. In einem von uns gemeinsam verfassten Text greifen wir die in diesem

Beitrag vorgestellten Konzepte auf und schlagen damit noch einmal eine andere Richtung ein. Denn dort fordern wir auf zu bedenken, was der häufig (auch in einigen der im Folgenden diskutierten Texte) anzutreffende, aber äußerst selten reflektierte Griff in das metaphorische Reservoir der Tierbilder in Bezug auf die Dethematisierung des herrschenden Gewaltverhältnisses zwischen Menschen und Tieren bedeutet. Siehe Fahim Amir und Johanna Schaffer: »Die Arbeit der Form/ losigkeit. Ein ästhetischer Einwand gegen die Affirmation der ›Unsichtbarkeit‹ oder ›postrepräsentationaler Politiken‹«, in: diskus 1 (2012), S. 24–30. Dank für unterstützende Kritik an dem hier vorliegenden Beitrag an Mareike Bernien, Antke Engel und Rachel Mader. Dank für Bildbearbeitung und Unterstützung an Kati Liebert. 12 Zu Sichtbarkeit als zentralem Topos politischer Rhetoriken, die gegen Minorisierung gerichtet sind, und zu den Problemen, die den vorbehaltlos affirmativen Gebrauch dieses Topos begleiten, siehe Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld 2008.

Formlos, wie Spucke

Diese Perspektive, die an die Arbeit Yann Moulier Boutangs anschließt, ist daran ausgerichtet, die Geschichte der Migration als Geschichte von Kämpfen zu artikulieren, und dabei Aspekte der kollektiven Selbstorganisation und autonomer Eigensinnigkeit innerhalb ideologischer und ökonomischer Ausbeutungsprozesse zu betonen. In ihrem Text »Die Autonomie der Migration. Die Tiere der undokumentierten Mobilität« argumentieren die Autoren explizit gegen Repräsentationsweisen, die im Kontext der Migration primär Staats­ apparate samt ihrer exekutiven Instanzen mit Handlungsmacht ausstatten und konzeptionell migrantische Opfer in Serie produzieren.13 Dem setzen sie Disidentifikation (als ein »Mehr-als-eine/r-Werden«) und UnwahrnehmbarWerden entgegen: »Unwahrnehmbar-Werden ist ein immanenter Widerstandsakt, da es die Identifizierung der Migration als einen aus festgelegten kollektiven Subjekten bestehenden Prozess unmöglich macht. Unwahrnehmbar-Werden ist das genaueste und effektivste Werkzeug, das MigrantInnen einsetzen, um sich dem individualisierenden, quantifizierenden und repräsentationalen Druck zu widersetzen, der von der sesshaften, konstituierten geopolitischen Macht ausgeübt wird.«14 Daraus folgt mit Papadopoulos und Tsianos  – das Ende der Repräsentationspolitik: »This is the end of the politics of representation«, schreiben sie im englischen Original.15 »Instead of visibility, we say imperceptibility«, und in dieser Verkündigung einer neuen Form der Politik geht es ihnen auch um »neue Formierung aktiver politischer Subjekte […], die sich weigern, überhaupt ein Subjekt zu werden«.16 Ihr äußerst spannender Text beschreibt Migration als 13 Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos: »Die Autonomie der Migration. Die Tiere der un­

dokumentierten Mobilität«, übers. von Birgit Mennel und Stefan Nowotny [15.9.2008], http:// translate.eipcp.net/strands/02/papadopoulostsianos-strands01en/?lid=papadopoulostsianosstrands01de (aufgerufen: 30.4.2013). Der Text ist ein gekürzter und noch einmal sehr Deleuzianisch beschleunigter Ausschnitt aus dem zu dritt produzierten Buch von Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos: Escape Routes. Control and Subversion in the 21st Century, London 2008. 14 Ebd. 15 Dimitris Papadopoulos und Vassilis Tsianos: »The Autonomy of Migration. The Animals of Un­ documented Mobility« [15.9.2008]. http://translate.eipcp.net/strands/02/papadopoulostsianosstrands01en (aufgerufen: 30.4.2013). 16 Papadopoulos, »Die Autonomie der Migration«, a.a.O.

215

216

Johanna Schaffer

welterzeugende Kraft, als Fülle, die vor allem durch einen entschieden Deleuzianischen Begriff von Werden  – und Unwahrnehmbar-Werden artikuliert wird.17 Und so produktiv das Repräsentieren der Migration als autonome und Welt gestaltende Kraft ist, so sehr will ich doch Einwände formulieren gegen die Art, wie in der Vorstellung des Unwahrnehmbar-Werdens Repräsentation als komplexes Verhältnis ebenso wie als Produkt vereinfacht wird, um dann einfach abgetan zu werden. Dies sind vor allem Einwände gegen das Durchstreichen der ästhetischen Dimension von Repräsentation. Mit dieser Dimension meine ich all das, was mit der spezifischen Weise der Gemachtheit einer Aussage (ihre Form, Materialität, Rhetorizität, und nicht zuletzt ihre Kontextualität  – also nicht was, sondern wie ist eine Aussage) zu tun hat und ebenso mit der Geformtheit der Strukturen, Prozesse und Effekte von Sinnproduktion als Repräsentationsvorgang. Diese Dimension hat mit Poetik und also mit Generativität zu tun. Anders gesagt: Sie ist Sinn produzierender Teil von Bedeutungsproduktion, und nicht fundamental, sondern speziell effektiv, da so häufig, um nicht zu sagen: systematisch, unbeachtet. Systematisch, d.h. systemerhaltend ist die Ignoranz gegenüber der ästhetischen Dimension von Bedeutungs­produktion, da sie der Ebene der Gemachtheit Aufmerksamkeit entzieht, zugunsten naturalisierender Ideologien. Vor vielen Jahren hat Gayatri Spivak in ihrem zweifelsohne meistzitierten Text »Can the Subaltern Speak« eine dichte Kritik an einem derartigen ›postrepräsentationalem Vokabular‹ erarbeitet.18 In diesem (übrigens wesentlich durch eine Kritik an der Arbeit von Deleuze und Guattari angetriebenen) Text legt Spivak dar, wie in derartigen Konzeptionen die Ersetzung der einen Dimension des Begriffs, dem Darstellen/Vorstellen, durch die andere, das ­Stellvertreten,

17 Beatrice Michaelis, Gabriele Dietze und Elahe Haschemi Yekani erinnern daran, dass es neben

dieser Deleuzianischen auch eine feministische »Linie einer politics of imperceptibility« gibt, die, von Elizabeth Grosz’ Arbeiten inspiriert, sich ebenfalls gegen identitätspolitische Anerkennungspolitiken richtet. Siehe Beatrice Michaelis, Gabriele Dietze und Elahe Haschemi Yekani: »The Queerness of Things not Queer: Entgrenzungen – Affekte und Materialitäten – Interventionen. Einleitung«, in: feministische studien 2 (2012), S. 184–197, hier S. 188, FN 5. 18 Gayatri Chakravorty Spivak: »Can the Subaltern Speak?«, in: Patrick Williams und Laura Chrisman (Hg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader, New York 1994, S. 66–111, hier S. 80. Zu diesem oft falsch zitierten und fehlübersetzten Text siehe die präzisen Erläuterungen in María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 73f.

Formlos, wie Spucke

betrieben wird, und sie beschreibt die theoretischen und politischen Konsequenzen, die dieses Unterdrücken der einen durch die andere Bedeutungsdimension beinhaltet. Denn dieses Unterdrücken führt zu einem essenzialistischen Begriff der handelnden Figuren, die angeblich nun nicht mehr repräsentiert werden; es negiert das Nachdenken darüber, wie die Repräsentationen, die TheoretikerInnen produzieren, von deren eigenen Begehren, deren eigenen ­Interessen durchzogen sind; und schließlich stützt diese Form des representational realism19 die herrschende Ideologie eines positivistischen Empirismus darin, herrschende Ideologie als Tatsache durchzusetzen. Sie verhindert also letztlich Ideologiekritik. Keine an ideologischen Operationen interessierte Theorie kann es sich leisten, schreibt Spivak, sich nicht mit Repräsentation in genau ihren beiden – radikal verschiedenen, aber auch aufs Engste verbundenen – Bedeutungsdimensionen auseinanderzusetzen.20 Ich will noch zwei weitere Punkte hervorheben. Beide haben damit zu tun, wie durch die Verabsolutierung spezifischer Verhältnisse der Repräsentation (als einem Ensemble der Sichtbarkeiten und Unwahrnehmbarkeiten), die derartige postrepräsentationale Konzeptionen betreiben, vor allem Prozesse und Kämpfe der Hegemonialisierung und Gegenhegemonialisierung getilgt werden – und in der Folge auch deren Spuren. Denn »unsichtbar« oder auch »unwahrnehmbar« ist etwas nur in einem bestimmten Zusammenhang, in einem anderen Kontext hingegen ist es sehr wohl darstellbar, und das heißt auch denkbar – Repräsentation meint ja genau auch mentale Vorstellung, sonst ließe sich davon nicht schreiben, sprechen, theoretisieren. Was aber ist das Verhältnis dieser (hegemonialen und gegenhegemonialen, dominanten und minorisierten) Kontexte zueinander? Genau dies – und das ist der erste Punkt, die Art, wie etwas in einem Zusammenhang nicht wahrnehmbar, in einem anderen Kontext hingegen sehr wohl lesbar ist, wird in Papadopoulos’ und Tsianos’ Formulierungen unbeschreibbar gemacht. Was damit zweitens zusammenhängt: Untheoretisiert und unkritisiert bleibt, wie »Unwahrnehmbarmachen« Teil minorisierender, d.h. Herrschaft sichernder Repräsentationsmodi ist  – und zwar dort, wo es beispielsweise rassistische ebenso wie heteronormative Dominanzen produziert. »Heteronormativity depends to a high degree on rendering unspeakable, invisible or even unintelligible that which does not fit its norms«, 19 Spivak, »Can the Subaltern Speak?«, S. 69. 20 Ebd., S. 74.

217

218

Johanna Schaffer

schreibt Antke Engel.21 Und eine der meistgelesenen schwarzen Kritiken an der Produktion rassistischer weißer Dominanz in den USA ist ein Roman von Ralph Waldo Ellison mit dem Titel Invisible Man: »I am invisible, understand, simply because people refuse to see me.« 22 Unsichtbarkeit ist demnach kein ontologischer Status, sondern der Effekt spezifischer Handlungen und Haltungen. Unsichtbar-Werden ist also ein ambivalentes konzeptuelles Werkzeug, um gegen Formen normativer, epistemologischer und legistischer Gewalt vorzugehen. Das heißt nicht, dass es in bestimmten Situationen kein effektives Werkzeug sein kann. Zu klären bleibt aber jeweils, wo dieses konzeptuelle Tool einer dichotomen Anordnung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verfangen bleibt, egal ob nun der erste oder der zweite Term der Dichotomie privilegiert wird – Sichtbarkeit als privilegierter Terminus feministischer, lesBischwuler oder antirassistischer Rhetoriken vor allem der 1980er- und 1990er-Jahre, Unsichtbarkeit als Topos einer Rede vom Ende der Repräsentation. Gemeinsam ist beiden Einsätzen ein Desinteresse an ästhetischen Kritiken, also an der Gemachtheit, Geformtheit spezifischer Sichtbarkeits-/Unsichtbarkeitsverhältnisse als solche der Repräsentation.23

3. Nicht Einschluss/Ausschluss

Vor allem Antke Engles Arbeiten der letzten Jahre haben mich verstehen lassen, wie notwendig es ist, nicht nur die dichotome Konstruktion Sichtbarkeit/ Unsichtbarkeit zu problematisieren, sondern zudem zu bedenken, dass – und vor allem, wie – Inklusion (Sichtbarkeit) systemstabilisierend ist; mehr noch, wie sich die neoliberale Ideologie des spätmodernen Nordens und Westens

21 Antke Engel: »Tender Tensions – Antagonistic Struggles – Becoming Bird: Queer Political Inter-

ventions into Neoliberal Hegemony«, in: María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan und Antke Engel: Hegemony and Heteronormativity. Revisiting »The Political« in Queer Politics, Surrey 2011, S. 63–90, hier S. 69. 22 Ralph Ellison: Invisible Man, London 1965, S. 7 [Ersterscheinung 1952]. 23 Für ein komplizierteres, engagierteres, widersprüchlicheres Verhältnis zu (speziell narrativen) Repräsentationspraktiken im Unterschied zu deren bloßer Negation plädiert auch Elahe Haschemi Yekani, vgl. »Becoming Imperceptible: A Politics of Narration versus a Politics of Location«, Vortragstext [unpubliziert], verfasst für den von Andrea Thal kuratierten Biennale-Beitrag Chewing the Scenery – Live Events (54. Biennale di Venezia). Teatro Fondamenta Nuove, Venedig, 8.9.2011.

Formlos, wie Spucke

genau über die Behauptung von Liberalität als Behauptung größtmöglicher Inklusion, Integration, Toleranz herstellt. Engel dazu: »[…] in late-modern societies the regulation of sex/gender and sexuality takes place not so much by prohibition, exclusion or discrimination but by ­normalization and integration of differences and diversity. I agree with ­Duggan (2003) that such ›affirmative‹ visual and textual representations support neoliberalism’s effort to establish hegemony.«24 Für Engel scheint es deshalb folgerichtig aus einer queeren Perspektive zu fragen, wie sich die Verdinglichung von Differenz vermeiden lässt und wie »irreduzible Andersheit« als politische Kraft gedacht werden kann: »Das Ziel ist, das, was nicht intelligibel ist  – und der Integration in die gegebenen Macht/Wissens-Regime widersteht – als Kraft anzuerkennen, die gesellschaftliche und politische Räume artikuliert und gestaltet. Also müsste man eben nicht ein erkennbares politisches Subjekt werden, das (historisch spezifischen) Standards der Rationalität und Handlungsfähigkeit entspricht, um Politik machen zu können.«25 Die Denkbewegung Engels ähnelt der von Papadopoulos und Tsianos. Alle drei beschreiben eine generative Größe, also eine Kraft, die von Domänen des Unlesbaren/Unwahrnehmbaren ausgeht. Alle drei lokalisieren Widerstand gegen gegebene Macht-/Wissens- bzw. Repräsentationsregime zudem im Nicht-Erkennbar-Sein und im Nicht-Subjekt-Sein. Alle drei verabsolutieren die dominanten Parameter des Lesens/Wahrnehmens, und sie verabsolutieren ebenso die minorisierten, subalternen Arten des Bedeutens und Wahrnehmens als inintelligibel oder unwahrnehmbar. Sandro Mezzadra und Brett Neilson entwickeln einen ähnlichen Punkt wie dies auch Antke Engel tut, privilegieren dann aber als Konsequenz daraus eine sehr andere ästhetische Figur. In Auseinandersetzung mit Praktiken der Migration und Strukturen der Ausbeutung schlagen sie vor, sich nicht auf die Figur Einschluss/Ausschluss zu konzentrieren, sondern Inklusion, und ebenso

24 Engel, »Tender Tensions  – Antagonistic Struggles  – Becoming Bird«, a.a.O., S.  73f. Im Zitat

a­ ngeführt wird Lisa Duggan: The Twilight of Equality: Neoliberalism, Cultural Politics, and the Attack on Democracy, Boston 2003. 25 Ebd., S. 70, Übers. J.S.

219

220

Johanna Schaffer

Exklusion, als differenziell zu beschreiben – und das deshalb, weil die Formen der Inklusion und ebenso der Exklusion dramatische Veränderungen erfahren haben. An der Figur der Grenze formulieren sie – und dieser Formulierung ist auch eine methodische Aufforderung implizit –, »wie Grenzen in der zeitgenössischen globalen Ordnung nicht einfach als Dispositiv des Ausschlusses, sondern als Technologien differenzieller Inklusion dienen«.26 Mezzadra weiter an anderer Stelle: »Die Crux liegt in der Suche nach Begriffen, die uns erlauben, die Situation festzuhalten, in welcher die Trennung zwischen Innen und Außen verschwimmt.«27 Die begriffliche Herausforderung, die Mezzadra und Neilson formulieren, ist auch eine konzeptuelle, und darin vor allem eine ästhetische. Sie fordert das Entwickeln einer anderen ästhetischen Form, oder besser Un-Form, einer anderen ästhetischen Arbeit wie der des Ent- und Un-Formenden, um so Trennungen zum Verschwimmen zu bringen. Der im Folgenden vorgestellte Begriff des Formlosen/Ent-Formenden schlägt vor, diese Arbeit auf der Ebene der ­Subjektivierung anzusetzen. Mit diesem an Georges Batailles Konzept des informe orientierten Begriff soll eine entautorisierende und transfigurative Ent-/Subjektivierungskraft gedacht werden, die dieses Verschwimmenlassen von Trennungen des Innen und Außen an der grundlegendsten kollektiven Form, die wir kennen, beschreibbar macht – dem Subjekt.

4. Ent-formen üben

Das informe ist eine konzeptuelle Angelegenheit (»a conceptual matter«), adressiert also das Vorstellungsvermögen. Dies betont die Kunsttheoretikerin und -historikerin Rosalind Krauss in ihrer Auseinandersetzung mit Georges Batailles Arbeit.28 Ein oft zitierter Eintrag in dem 1929 u.a. von Bataille heraus-

26 Sandro Mezzadra und Brett Neilson: »Die Grenze als Methode, oder die Vervielfältigung der

Arbeit«, übers. von Therese Kaufmann und Tom Waibel [2008], http://eipcp.net/transversal/ 0608/mezzadraneilson/de (aufgerufen: 30.4.2013). Vgl. auch Sandro Mezzadra: »Autonomie der Migration – Kritik und Ausblick. Eine Zwischenbilanz«, übers. von Martin Birkner [Transkription eines Referats, gehalten in Wien am 28.1.2010], in: Grundrisse, http://www.grundrisse.net/ grundrisse34/Autonomie_der_Migration.htm (aufgerufen: 30.4.2013). 27 Mezzadra : »Autonomie der Migration«, a.a.O. 28 Rosalind Krauss: The Optical Unconscious, Cambridge, MA 1993, S. 157.

Formlos, wie Spucke

gegebenen Kritischen Wörterbuch beschreibt, was das Konzept informe (von den deutschen Übersetzern als »formlos« übertragen) bewerkstelligen kann: »Ein Wörterbuch würde in dem Augenblick beginnen, in dem es nicht mehr den Sinn, sondern die Verrichtung der Wörter verzeichnen würde. So ist formlos nicht nur ein Adjektiv, das einen Sinn hat, sondern auch ein Ausdruck, der der Deklassierung dient und im Allgemeinen erfordert, dass jedes Ding seine Form hat. Was er bezeichnet, hat keine Rechte in irgendeinem Sinne und lässt sich überall wie eine Spinne oder einen Wurm zertreten.«29 Als präzise Leserin der Bataille’schen Ästhetik hebt Rosalind Krauss deren Dichotomien und Oppositionen auflösende Bewegungen hervor. Denn es ist mit dem Formlosen oder, besser, dem Ent-Formenden kein erlösendes Ergebnis zu haben: Dieser Ausdruck, so der hier zitierte Gedanke Batailles, fordert die Form; zudem ist das Formlose kein Resultat, nicht Anti-Form, sondern ein Arbeitsvorgang.30 Aber Krauss hebt auch hervor, dass mit informe ein »will toward selfdefacement« [Wille, sich selbst durch Entstellung unleserlich zu machen], ein antinarcissism bezeichenbar ist.31 Mit diesem Un-Formenden lassen sich also deautorisierende, die Subjektform ruinierende Gesten vorstellen.32 Vorstellen ist aber ein Vorgang der Repräsentation, und zwar einer, der das Vorstellungsvermögen beansprucht. Ich binde hier die Imagination an die entautorisierende Arbeit des Ent-Formenden, einer Aufforderung Hannah Arendts folgend, die das Vorstellungsvermögen, also die Imagination und Phantasie, eng an politische Urteilskraft bindet. Politisches Denken ist repräsentativ, schreibt Arendt, denn ich stelle mir die Standpunkte anderer, Abwesender vor, um daraufhin zu einer Meinung und zu einem Urteil zu kommen.33 Teil ­dieser Praxis ist, »dass 29 Georges Bataille: »Formlos«, in: Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen (Hg. u. Übers.),

30 31 32

33

Kritisches Wörterbuch. Beiträge von Georges Bataille, Carl Einstein, Marcel Griaule, Michel Leiris u.a., Berlin 2005, S. 44 [Ersterscheinung 1929]. Vgl. Bois, »The Use Value of ›Formless‹«, a.a.O., S. 18. Krauss, The Optical Unconscious, a.a.O., S. 152. Vgl. die starke Linie der affirmativen Auseinandersetzung mit Subjekt- ebenso wie Gesellschaftsformen zersetzenden, ruinösen und anti-sozialen Energien und Qualitäten schwuler und queerer Theorien, z.B. Leo Bersani: Homos, Cambridge, MA 1995 und die Kontroverse rund um genau diese Affirmation sozialer Negativität in PMLA 121 (2006), Heft 3, S. 819–828 (Robert L. Caserio, Tim Dean, Lee Edelman, Judith Halberstam, José Esteban Muñoz). Hannah Arendt, »Truth and Politics«, in: dies.: Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought, New York 1993, S. 227–264, hier S. 241. Ausführlich zu Arendts Verbindung zwischen

221

222

Johanna Schaffer

man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen«, so Arendt.34 Was sie damit fordert, ist ein Üben des imaginativen Aus-sich-­heraus-Tretens, und diese exzentrische Bewegung, die auf die Präsenz anderer angewiesen ist, soll hier an ein Üben entformender, defigurierender Qualitäten gebunden werden. Ivan Juricas Arbeit LOOK BACK! Boys from Town bietet dazu eine Entformatierungsvorlage. Denn diese Arbeit beansprucht sehr wohl, Einsichten zu ermöglichen über das Zusammenspiel struktureller Ausbeutungen und (Selbst-) Abwertungen, betont aber gleichzeitig ihre eigene Gemachtheit, ihre Positionalität und vor allem ihre die eigene Autorität sabotierende queere Instabilität.

Imagination und politischem Urteilen bei Linda G. Zerilli: »›Wir fühlen unsere Freiheit.‹ Einbildungskraft und Urteil im Denken Hannah Arendts«, übers. von Stefan Nowotny [2004], http:// republicart.net/disc/publicum/zerilli01_de.htm#_ftn8 (aufgerufen: 30.4.2013). 34 Hannah Arendt: »Über Kants politische Philosophie«, in: dies.: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München 1998, S. 61 [engl. 1985]; vgl. auch Hannah Arendt: »Verstehen und Politik«, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 2000, S. 110–127 [engl. 1968].

Nina Zschocke

Ambivalent aufgeklärt Ambivalenz treffen wir im kunsttheoretischen Argument auffallend oft im Verbund mit Rhetoriken der Beteiligung an. Es ist von Aktivierung durch De­­ stabilisierung, von freigesetzter Kreativität des betrachtenden, teilnehmenden und deutenden Subjektes die Rede, von überwundener Passivität und der Subversion fixierender Strukturen. In Vermeidung einer eindeutigen Mitteilung scheint die Herstellung eines inneren Widerspruchs das geeignete Mittel, um Rezipient oder Rezipientin Freiräume zu gewähren und sie an der Herstellung von Erfahrungen und Bedeutung zu beteiligen. Die Einwegmaschinerie der Vermittlung präzis decodierbarer Aussagen, so die Argumentation, erfährt eine Komplizierung und erleidet Brüche. An die Stelle des Monologs tritt eine dialogische Struktur oder Mehrstimmigkeit und mit ihr eine Vielfalt potentiell realisierbarer Erfahrungen und Bedeutungen. Ich möchte hier nun probehalber das Gegenteil behaupten, nämlich, dass sich der kontrollierte Einsatz von Mehrdeutigkeit und Paradox sehr wohl, ja hervorragend, zum Transport recht eindeutiger Mitteilungen eignet und dass gezielt angelegte Ambivalenz in der Kunst häufig genau in diesem Dienst steht. Über die Erprobung dieser These hinaus werde ich der Frage nachgehen, ob, beziehungsweise in welchem Sinne, der Begriff der Aufklärung mit den mittels der jeweiligen künstlerischen Arrangements ermöglichten Erfahrungs- und Deutungsprozessen sinnvoll in Verbindung gebracht werden kann. Es wird dabei auch zu prüfen sein, was eigentlich im einzelnen Fall genau mit jener Aktivität der Betrachtenden gemeint ist, wie diese in Relation zu den Modellen der Reaktion oder, alternativ, des Verhaltens zu denken ist. Ich greife die Ambivalenz dort auf, wo sie in der Kunst Mitte des 20.  Jahrhunderts prominent und vielleicht am »augenfälligsten«,

224

Nina Zschocke

als ­formales gestalterisches Element, auftritt. Als Denkhilfe dient ein Vergleich einiger Arbeiten aus dem Umfeld der so genannten Optical Art mit einer losen Reihe experimenteller Anordnungen des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, die die Position des Beobachters jeweils in spezifischer Weise anlegen.1

Experimente und dialektische Maschinen

Zwei aufeinander folgende antagonistische Kapitel in Werner Heisenbergs 1930 erstmals in gedruckter Form erschienenen Vorlesungen Die physikalischen ­Prinzipien der Quantentheorie setzen die Paradoxa der Wellenmechanik, den Dualismus von Wellen und Teilchen also, »pädagogisch« (wie Gaston ­Bachelard bemerkt) in Szene und im Dienste einer »dialektischen Kritik« und »exzellente[n] Lektion in phänomenalistischer Philosophie« ein.2 Heisenbergs Lehre also entfaltet sich entlang einer »zweifachen Erfahrung«, nämlich der Abfolge zweier gegensätzlicher An- oder Einsichten, die im Prinzip auch einer Abfolge widersprüchlicher und in diesem Sinne scheiternder Beobachtungsund Messversuche entsprechen. Während das erste Hauptkapitel aus einer Kritik des Partikelbegriffs besteht, gestützt auf als gültig unterstellte Konzepte der Welle, legt das darauf folgende Kapitel prinzipielle Einwände gegen das Wellenbild vor und bedient sich dabei nun wiederum als gültig unterstellter Partikelmodelle. »Wäre diese Kritik«, so Bachelard, »wirklich realistisch gedacht, ginge sie von einem unerträglichen circulus vitiosus aus.«3 Stattdessen aber dient der Wechsel zwischen miteinander nicht zu vereinbarenden, gleichwohl jeweils auf der Grundlage empirischer Daten entwickelten Schlussfolgerungen der Kritik beider zugrunde gelegter Konzepte, zumindest in ihrem realistischen Verständnis. Eine Auflösung dieses Paradoxes erfolgt bekanntermaßen 1

Dieser Aufsatz nimmt einerseits eine frühere Auseinandersetzung mit der strategischen Irritation aus veränderter Perspektive wieder auf (Nina Zschocke: Der irritierte Blick, München 2006) und findet andererseits, u.a. in einer Auseinandersetzung mit neueren Arbeiten Thomas Demands und Aernout Miks, einen Anschluss in: Nina Zschocke: »Tasks and Cues«, in: Peter Schneemann u.a. (Hg.): Konstellationen der Kunstbetrachtung, Tagungsakten, Symposium 8./9. Februar 2013, Universität Bern [Publikation in Vorbereitung]. 2 Gaston Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt a.M. 1988 [frz. 1934], S. 87. Werner Heisenberg: Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie, Leipzig 41944. 3 Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, a.a.O., S. 86f.

Ambivalent aufgeklärt

(im nächsten Kapitel des Buches) in der Unschärferelation beziehungsweise der wahrscheinlichkeitstheoretischen Interpretation der Quantenmechanik: Die Welle steht für eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, das Teilchen für eine Wahrscheinlichkeit.4 Reinszeniert Heisenberg einzelne Aspekte und Bewegungen des Forschungsprozesses didaktisch für Hörende und Leser, um schließlich eine Auflösung in Form der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik vorzulegen, bedient er sich also eines klassischen rhetorischen Instruments, so bleibt zu überlegen, was von jener zweifachen, mit sich selbst in Konflikt geratenden Erfahrung eigentlich auch schon im Experiment selbst enthalten gewesen sein mag und wie sich zu dieser die als zwingend vorgelegte Schlussfolgerung verhält.5 Einzelne wissenschaftliche Experimente allerdings lassen sich nur künstlich von dem fortlaufenden, zahlreiche miteinander vernetzte Akteure, Interessen, Praktiken, Orte, Instrumente und Materialien involvierenden Forschungsprozess isolieren, der sie hervorgebracht hat. Nicht nur gehen sie also stets aus einer Serie vorangehender und nachfolgender Versuche, sondern auch aus spezifischen Sozial- oder »Ökosystemen« hervor.6 Auch die Beobachtungen oder Erfahrungen, die ein Experiment ermöglicht, sind von diesen Bedingungen nicht isolierbar.7 Die Objekte des Beobachtens oder Messens werden in eine praktisch oder theoretisch motivierte Konfiguration versetzt, in der sie oder bestimmte ihrer Aspekte überhaupt erst in Erscheinung gebracht werden. Auch ist wissenschaftliches Experimentieren als eine Form des offenen Welterkundens beschrieben worden, die von Ahnungen geleitet, Möglichkeiten für das Hervortreten von Unerwartetem öffnet. Überraschung, die Konfrontation auch mit Widersprüchlichem, hat demnach durchaus ihren Ort, jedoch nur

4 Ebd., S. 99. 5 Auch Bachelard selbst führt natürlich von einer Gegenüberstellung unvereinbarer Positionen

(Realismus und Rationalismus) zu einer neuen Perspektive auf die wissenschaftliche Tätigkeit (als »phänomenotechnische« Realisierung, Herstellung ihrer Gegenstände) hin. Ebd., Kap. 1, S. 7–19. 6 Zu Netzwerken wissenschaftlicher Praxis vgl. Bruno Latour: »Spheres and Networks. Two Ways to Reinterpret Globalization. A Lecture at Harvard Graduated School of Design«, 17. Febr. 2009, in: Harvard Design Magazine, 30 (2009), http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/115-­SPACEHARVARD-GB.pdf (aufgerufen: 3.6.2013), S.  1f.; ders..: »Spinoza Lecture II. The ­Aesthetics of ­Matters of Concern«, in: ders.: What is the Style of Matters of Concern?, Amsterdam 2005, S. 26–50. 7 Der wissenschaftliche »Denkstil« als gerichtetes Wahrnehmen und Verarbeiten findet sich bereits bei: Ludwik Fleck: Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a.M. 1980 [1935].

225

226

Nina Zschocke

innerhalb sorgfältig angelegter Experimentalsysteme und als ein zwischen den Polen des technischen und des epistemischen Zufalls angesiedeltes Geschehen.8 Wiederum ist weniger das einzelne Experiment ausschlaggebend als eine fortgeführte Forschungsarbeit, der es darum zu tun ist, dieses bedeutungsvolle Neue von anderen uneindeutigen Ergebnissen und Geräusch zu separieren, es freizustellen, zu kontrollieren und zu reproduzieren. Wenn uns also in historischer Rückschau oder lehrender Demonstration einzelne oder wenige Experimente gegenüberstehen, so stets als künstliche Auskopplungen, als sorgfältig stabilisierte Präparate.9 Die berühmten Versuche und Gedankenexperimente der Quantenmechanik der 1920er-Jahre greifen frühere Experimente, etwa Youngs 1802 erstmals durchgeführtes Doppelspaltexperiment, wieder auf. Zugleich markieren sie, wenn auch keinen Abschluss, so aber einen Punkt der relativen Stabilisierung durch zwei (konkurrierende, aber die gleichen empirischen Ergebnisse erfolgreich beschreibende) Gleichungen und eine dominierende (die Kopenhagener) Interpretation.10 Die entsprechenden, vorübergehend fixierten Laboranordnungen dienen nun verstärkt der Demonstration, weniger der Erforschung, sie führen etwas vor, und zwar typischerweise nicht ein einfaches als Beweis eingesetztes Phänomen, sondern eben eine zweifache, eine widersprüchliche Erfahrung (sowohl Partikel als auch Welle; Ort oder Impuls; räumliche Distanz ohne Separierbarkeit). Es handelt sich für den Moment um perfektionierte (doppelte) Falsifizierungsapparaturen, die zugleich jene Phänomene und Daten bereitstellen, auf denen die neuen theoretischen Modelle aufbauen. Nur in einem künstlichen Arrangement freilich, also unter spezifischen 8 Hans-Jörg Rheinberger: »Wissenschaft und Experiment«, in: Anne von der Heiden und Nina

Zschocke: Autorität des Wissens. Kunst- und Wissenschaftsgeschichte im Dialog, Berlin, Zürich 2012, S. 123–132; Hans-Jörg Rheinberger: »Über die Kunst, das Unbekannte zu erforschen« (2006), in: Peter Friese, Guido Boulboullé und Susanne Witzgall (Hg.): Say it Isn’t So: Art Trains Its Sights on the Natural Sciences, Heidelberg 2007, S. 83–91, S. 87–89. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001. 9 Vgl. die Beiträge von Hans-Jörg Rheinberger, Gerhard Wiesenfeldt and Andreas Gipper in: Helmar Schramm u.a.: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17.  Jahrhundert, Berlin, New York 2006. 10 Die Gleichungen Werner Heisenbergs und Erwin Schrödingers sind in diesem Sinne äquivalent. Vgl.: Erwin Schrödinger: »Über das Verhältnis der Heisenberg-Born-Jordanschen Quanten­ mechanik zu der meinen«, in: Annalen der Physik 79 (1926), S. 734–756. Seit den 1990er-Jahren entwickelte Experimentalanordnungen wurden beispielsweise vorgeführt von Anton Zeilinger und seinem Team auf der documenta 13. Anton Zeilinger: Quantenexperimente, Fridericianum, documenta 13, Kassel 2012, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Quantenoptik und Quanteninformation der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.

Ambivalent aufgeklärt

Rahmenbedingungen, operiert das Experiment effektiv als Dekonstruktionsoder Widerlegungsapparat, und in diesem Sinne als belehrende (didaktische) beziehungsweise als durch die Konfrontation von Widersprüchen im Hinblick auf eine Synthese überzeugende (dialektische) Maschine.11 Anhand der Teilchenphysik hat Bachelard argumentiert, dass »die wahre wissenschaftliche Phänomenologie […] in ihrem Wesen nach eine Phänomenotechnik« ist, eine zwischen wissenschaftlichem Phänomen und wissenschaftlichen Noumenon vermittelnde »Bewegung, die nach einigen Korrekturen der Projekte stets zu einer effektiven Realisierung des Noumenons tendiert«, eine Aktivität, die »eine Welt nach dem Bilde der Vernunft« konstruiert.12 Auch die noch junge Wahrnehmungspsychologie produziert im gleichen Zeitraum widersprüchliche, der Alltagserfahrung zuwiderlaufende Phänomene. Mehrdeutigen, paradoxen und anderen von Stimuluseigenschaften abweichenden (»illusionären«) Perzeptionen kommt eine prominente Stellung zu, da sie als Grenz- und Sonderfälle Schlüsse zuzulassen scheinen über jene Prozesse, die sonst unbemerkt im Hintergrund bewusster Erfahrung ablaufen. Insbesondere das gestaltpsychologische Experiment und Argument entfaltet sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entlang einer Auseinandersetzung mit Phänomenen der Bi- oder Multistabilität und der scheinbaren Bewegung, die sich jeweils nicht allein aus den präsentierten Einzelreizen erklären lassen, sondern – so das gegen atomistische Modelle gerichtete Argument – nur mittels der Postulierung »einfacher« und »regelmäßiger« Struktureigenschaften und Organisationsprinzipien, die sich wiederum sowohl in »psychologischen Tatsachen« als auch in physiologischen Strukturen und entsprechenden Gehirnprozessen abbilden.13 Auch hier widerlegen im Experiment anschaulich

11 Ein mechanisches – der Ambivalenz freilich keinen Raum lassendes – Modell der Didaktik entwirft

Comenius anhand eines Vergleiches der Schule mit der Uhr (die richtig reguliert mühelos läuft) und der Druckerpresse (der Verstand der Schüler als Papier, das mit den Buchstaben der Wissenschaft gekennzeichnet wird). Joannes Amos Comenius: Die didaktische Maschine (1657) (lat./dt.), übers. v. Rupert Röder, http://www.uib.de/roeder/comenius/machdidk.htm (aufgerufen: 29.3.2013). 12 Gaston Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, a.a.O., S. 18f. 13 Vgl. z.B.: Wolfgang Köhler: Die Aufgabe der Gestaltpsychologie, Berlin 1971 [1969], S.  25f., S.  50, S. 67f. Während Bachelard (in Auseinandersetzung mit der Rolle der beiden die moderne Wissenschaft durchziehenden »Metaphysiken« Rationalismus und Realismus) urteilt, die »neue« Wissenschaft bringe die Welt nach dem Vorbild des wissenschaftlichen Geistes hervor, zeigen sich die Gestalttheoretiker von einem (von Gegnern als »metaphysisch« oder »mystisch« beurteilten) ganzheitlichen Ansatz getragen, der psychologische, neurologische – und auch ganz prinzipiell alle materiellen Prozesse  – nach identischen Strukturgesetzten organisiert sieht. Köhler

227

228

Nina Zschocke

gemachte Paradoxa, etwa das Nebeneinander gleichwertiger sich jedoch ausschließender visueller Interpretationen, bestimmte Annahmen, um zugleich den Boden für ein neues, vermittelndes theoretisches Modell zu bereiten. Und wieder beschreibt dieses ein verändertes Verhältnis zwischen beobachtendem Subjekt und Phänomen. Weniger als die ganz grundlegenden Unterschiede zwischen Teilchenphysik und Psychologie sollen hier jene interessieren, die dieses Verhältnis präziser charakterisieren. Ich möchte daher vorschlagen, bei einem solchen Vergleich nicht nur darauf zu fokussieren, inwiefern ein Experiment vor- oder hinter den Augen eines Beobachters abläuft, ob also nur seine Hand oder auch sein Kortex als Teil der Versuchsanordnung verstanden wird, sondern insbesondere auch auf den angenommenen Verhaltensanteil, auf die einem handelnden Subjekt zugestandenen Freiheitsgrade. So stellt Werner Heisenberg seinen Beobachter vor eine Entscheidung, nämlich gegen die eine und für eine andere Messung, beispielsweise für die elektronenmikroskopische Bestimmung entweder des Impulses oder des Ortes eines Teilchens.14 Dieser bewusst gewählte Ein- oder Angriff (es handelt sich um einen Beschuss) bringt den Anschauungsgegenstand erst (innerhalb der durch die apparative Anordnung vorgegebenen Optionen) hervor. Die Erforschung der sinnlichen Erfahrung und ihrer physiologischen Grundlagen ist hingegen dadurch charakterisiert, dass sowohl das Untersuchungsobjekt als auch der Ort, an dem Phänomene in Erscheinung treten irgendwo innerhalb des Probanden verortet sind – dies gilt zumindest immer dort, wo auf eine Messung von Gehirnaktivität durch technische Apparaturen verzichtet wird. Dieses Zusammenfallen von Untersuchungsgegenstand und -instrument verlegt zugleich jede Unterscheidung zwischen Handlung und Registrierung in den Bereich des Verhandelbaren. Entsprechend wird dem Moment einer bewussten, ein aktuelles Interesse abbildenden perzeptuellen Entscheidung innerhalb des Spektrums wahrnehmungswissenschaftlicher Experimente unterschiedlich viel Raum zugemessen. Das halte ich für zentral. Für die theoretischen Bewegungen der Wahrnehmungsund Kognitionstheorie seit dem 19.  Jahrhundert bis heute sind genau diese

wehrt sich gegen den Mystizismus-Vorwurf: Ebd., S. 26. Zum Anspruch auf Ganzheitlichkeit der Gestalttheoretiker siehe auch: Mitchell G. Ash: Gestalt Psychology in German Culture, 1890–1967: Holism and the Quest for Objectivity, Cambridge 1998. 14 Werner Heisenberg: »Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik«, 23. März 1927, S.  3, http://osulibrary.oregonstate.edu/specialcollections/coll/­ pauling/bond/papers/corr155.1–03.html (aufgerufen: 25.3.2013).

Ambivalent aufgeklärt

­ ifferenzen zwischen den Variationen der Anlage des Probanden entweder priD mär als Ort eines reizgesteuerten perzeptuellen Geschehens oder als zielgerichtet handelndem Akteur ausschlaggebend. Sie lassen sich jeweils klar herausstellen, wenn Verhalten als Modell intentional gesteuerter Handlung von automatisierten Prozessen strikt unterschieden wird – auch dort, wo Letztere als kulturell bzw. durch Lern- oder Anpassungsprozesse geprägt verstanden werden. Nicht »Plastizität« ist schließlich das Gegenmodell zum Automatismus, sondern die Theorie einer Kontrolle der Perzeption durch höhere kognitive Funktionen. So stehen Modelle perzeptuellen Verhaltens dem Reflexbegriff darin entgegen, dass sie einen Einfluss des Denkens, des Willens, des Interesses, von Emotionen oder Verhaltenszielen (etwa mittels verschiedener Aufmerksamkeitsfunktionen) auf die sinnliche Erfahrung beschreiben.15 Edgar J. Rubin baut ­beispielsweise seine 1915 publizierten Versuchsanordnungen zur Figur-Grund-Organisation auf der Annahme auf, dass man sich im Angesicht bistabiler (Kipp-)Figuren »bei geeigneter Wahl der Versuchsbedingungen willkürlich darauf einstellen kann, ob das eine [das umschließende] oder das andere [das umschlossene] Feld als Figur erlebt werden soll«, und kontrolliert im Experiment mittels »Befehl« oder »Instruktion an die Versuchsperson« diese Willensentscheidung (Abb. 1).16 Die Gestalttheoretiker hingegen stellen den

15 Zu einer grundsätzlichen Kritik des auf Descartes, Sherrington und Pawlow zurückgehenden

Reflexbegriffs als inadequatem Erklärungsmodell: Michael L. Platt und Paul W. Glimcher: »Neural correlates of decision variables in parietal cortex«, in: Nature 400 (1999), S. 233–238; Paul W. Glimcher: Decisions, Uncertainty, and the Brain. The Science of Neuroeconomics, Cambridge, MA 2004, S. 71. Zur Kritik des Reflexbegriffes in der jüngeren Neurobiologie s. auch Nina Zschocke: »Art and Architecture as Experience. An Alternative Approach to Bridging Art History and the Neurosciences, in: Cognitive Processing, 2012, online first: DOI: 10.1007/s10339-012-0463-y, http://www. springerlink.com/content/a2802t50t8415986/ (aufgerufen: 12.1.2013). Sherrington beschreibt den Reflex als eine Reaktion des Tiers (oder des Menschen) auf ein umgebendes Feld, Tier und Feld sind interagierende Maschinen, das Tier ist in das Universum »eingekoppelt, das es antreibt«. Charles Scott Sherrington: The Integrative Action of the Nervous System (1906), New Haven 21947. 16 Edgar Rubin: Visuell wahrgenommene Figuren. Studien in psychologischer Analyse (1915, dt. 1921), http://ia700401.us.archive.org/0/items/visuellwahrgenom01rubiuoft/visuellwahrgenom01rubiuoft_bw.pdf, S. 5–6 (aufgerufen: 14.5.2013) [Hervorhebung d. Verf.]. Rubin nimmt hiermit in gewisser Weise spätere Theorien der kognitiven Kontrolle über bi- und multistabile Phänomene sowie eine etwa seit den 1980er-Jahren zu beobachtende verstärkte Auseinandersetzung mit so genannten Top-down-Modellen der Wahrnehmung vorweg. Dazu siehe Zschocke, Art and Architecture, a.a.O.. Zur sich im Grenzbereich von Wissenschaft und Kunst abspielenden Geschichte des im Unterschied zu Rubins Figuren annähernd symmetrischen Rorschachbilds siehe: Dario Gamboni: »Un pli entre science et art: Hermann Rorschach et son test«, in: Von der Heiden: Autorität des Wissens, a.a.O., S. 47–82.

229

230

Nina Zschocke

Betrachter sehr viel stärker als Träger und Teil eines Systemgeschehens in den Vordergrund. Max Wertheimer beschreibt zwar gleich zu Beginn eines prominenten Aufsatzes den teilweise glückenden Versuch einer intentional gesteuerten Neuordnung visueller Wahrnehmung anhand gleichbleibender Stimuli, jedoch nur, um diesen Vorgang als »merkwürdigen« und seltenen Prozess »nach langem Hinsehen, nach allerlei Versuchen, in sehr wirklichkeitsferner Einstellung« zu deklassieren. Der so hergestellten Erfahrung stehen die sich »normaliter« einstellenden »Arten des Zusammengefasstseins« entgegen. Innerhalb dieser ihm primär relevant erscheinenden »natürlichen« Prozesse der Erfahrung, steht es eben »nicht einfach in meinem Belieben« aus den gegebenen Einzelreizen einen anderen (als den sich automatisch einstellenden) Form- oder Strukturzusammenhang zu realisieren.17 Während Rubins Proband sich also einer Anweisung gemäß dem Stimulus gegenüber perzeptuell verhält und mittels dieses Verhaltens ein Phänomen hervorbringt, sieht Wertheimer das Subjekt seiner Experimente von der seltsamen und »künstlichen« (zielgerichteten, interessierten) visuellen Arbeit am Gegenstand befreit. Im Rahmen der Analyse seiner Versuche zur illusionären Bewegung, findet sich wohl unter dem Titel Variationen bezüglich des subjektiven Verhaltens eine Diskussion der Rolle der »Fixation« des Blicks, der – wohlgemerkt rein räumlichen – »Aufmerksamkeitsstellung« und der (als Adaptionsprozess verstandenen) »Einstellung«.18 Nicht kontrolliert aber werden solche Variablen, die einen darüber hinausgehenden, unmittelbaren Einfluss höherer Kognition, des Denkens, Ahnens und Wollens also, auf die Perzeption und die ihr zugrundeliegende Verarbeitung sensorischer Daten, bedeuten würden. Das Subjekt tritt primär als Träger automatisierter perzeptueller Systemabläufe auf, die es mit Erfahrungen versorgen und deren Regelwerk es zu beschreiben gilt. In das von der Gestalttheorie beschriebene Systemgeschehen sind zwar kulturelle und individuelle Lern- und flexible Adaptionsprozesse dieser Automatismen eingeschlossen. Intentionales (durch rationale oder/und emotionale Entscheidungsprozesse bestimmtes) perzeptuelles Verhalten aber spielt in der Forschung und Theorie der Gestaltschule kaum eine Rolle. Wenn es also darum gehen soll, am Beispiel 17 Max Wertheimer: »Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II«, in: Psychologische Forschung

4 (1923), S. 301–350, S. 301f., http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/library/data/lit38308? (aufgerufen: 13.5.2013). 18 Max Wertheimer: Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung (urspr. in: Zeitschrift für ­Psychologie, Bd. 61, Heft 1, 1912), Erlangen 1925.

Ambivalent aufgeklärt

Abb. 1: Edgar J. Rubin, Mehrdeutige Figuren, ca. 1912–1915. Beispiel einer Serie aufeinanderfolgender Figuren, die der Versuchsperson mittels eines Projektionsapparates dargeboten wurden, sowie rechts ein Einzelbild.

231

232

Nina Zschocke

Abb. 2: Josef Albers, Interaction of Color, 1963, Kap. IV: 1 color looks like 2, Tafel IV–1, links zu-, rechts aufgeklappt.

Ambivalent aufgeklärt

Abb. 3: Bridget Riley, Currents, 1964, Emulsion auf Karton.

233

234

Nina Zschocke

Abb. 4: François Morellet, 2 frames 0°, 90° (intervalles 14 et 17 cm), o.J. An den Kreuzungspunkten der schwarzen Linien zeigen sich außerhalb des Blickfokus charakteristische dynamische Aufhellungen. Diese als Hermann Gitter bekannte Illusion wurde erstmals 1870 von Ludimar Hermann beschrieben und auch im 20. Jahrhundert mannigfaltig publiziert, u.a. aufgrund widerstreitender Erklärungsansätze.

Ambivalent aufgeklärt

Abb. 5: GRAV, Labyrinthe, 1963, Replik 2013, installative Raumabfolge, verschiedene Medien (Ausschnitt).

235

236

Nina Zschocke

Abb. 6: Yaacov Agam, Double metamorphose III – Contrepoint et enchaînement, 1968–1969, Öl auf Aluminiumrelief.

einiger Arbeiten der Op-Art das Verhältnis von Ambivalenz und Mitteilung sowie den Anteil der Betrachter genauer zu bestimmen, so wird es auch um die Beziehung dieser Arbeiten zur Gestaltforschung und deren (und anderen) experimentellen Anordnungen gehen. Dort, wo Kunst ihre Betrachter tatsächlich »partizipativ«, also selbstbestimmt, von eigenen Interessen geleitet, transformierend handelnd, einbeziehen möchte, muss sie sie gegenüber einem emergenten Systemgeschehen in dem Sinne emanzipieren, als dass sie sie mit Entscheidungsoption und der Möglichkeit ausstattet, durch Arbeit (Anstrengung) kritische Distanz herzustellen und intentional verändernd in Prozessabläufe einzugreifen.

Ambivalenz und Anweisung

Josef Albers legt 1963 bezeichnenderweise mit Interaction of Color die Grund­ legung einer Didaktik des Sehens vor.19 Die Werkserie ist zu einer systematischen Studie über die Relativität wahrgenommener Farbe zusammengefügt. In einem Schuber befinden sich Serigrafien auf Faltpappen, deren Nummerierung mit den Kapiteln eines begleitenden Textes korrespondiert. Wenn Deckblätter oder Schablonen dazu auffordern, um- bzw. aufgelegt zu werden, binden sie die

19 Josef Albers: Interaction of Colour, New Haven, London 1963. Auf diese Originalpublikation bei der

Yale University Press folgten weitere Auflagen mit variierendem Umfang; ein Beispiel ist die illustrierte Taschenbuchausgabe des ursprünglich als Begleitbuch zu den Farbstudien erschienenen Textes: Josef Albers: Interaction of Colour. Grundlegung einer Didaktik des Sehens, Köln 1997. Der Text basiert auf der Lehre des Künstlers im Fachgebiet Farbe am Black Mountain College, geht systematisch vor und liest sich als Unterrichtsanweisung.

Ambivalent aufgeklärt

Abb. 7: Carlos Cruz-Diez, Chromointerférence mécanique, 1973, Aluminium, Plexiglas, Acrylfarbe, Motor.

237

238

Nina Zschocke

Abb. 8: Ludwig Wilding, Single KL 4, 1974, Bildkasten, mehrschichtig, verschiedene Medien.

Ambivalent aufgeklärt

Betrachterin in eine einfache, exakt festgelegte Veränderung der Komposition, d.h. in die Vorführungsapparatur, ein. In Szene gesetzt werden jeweils aufeinanderfolgende, sich widersprechende Erscheinungsweisen desselben Farbfeldes, die den Einfluss von Umgebungsreizen auf unbewusst ablaufende perzeptuelle Verarbeitungsmechanismen veranschaulichen (Abb. 2). Entsprechend eindeutig ist die Lehre. Frappierende Veränderungen visueller Wirkung binden die Aufmerksamkeit und führen »anthropologische« beziehungsweise durch konstante Umweltfaktoren weitgehend stabilisierte Grundlagen der Erfahrung vor. Nicht nur aufgrund der von Albers sichergestellten, gestalttheoretische Paradigmen aufnehmenden theoretischen Rahmung, sondern auch weil von einem Publikum auszugehen ist, das zum einen gewillt ist »mitzuspielen« und zum anderen nicht an magische Verwandlungsprozesse der als Farbdruck vorliegenden Materie glaubt, ist die vermittelte Einsicht in die Relativität der Farb­ erfahrung, aber auch in einige ihrer grundlegenden Regelmäßigkeiten, so gut wie zwingend.20 In vergleichbare Vorführungs- und Vermittlungsanordnungen eingebunden, findet sich der Betrachter all solcher Werke, die virtuelle Raum-, Bewegungsund Flimmereffekte erzeugen, indem sie weitgehend stabile »Gesetzmäßigkeiten«, d.h. kaum intentional steuerbare Abläufe innerhalb der visuellen Wahrnehmung ausreizen (Abb. 3–4). Solange nämlich das jeweilige Phänomen durch Stimuluseigenschaften und konstante Verarbeitungsmechanismen festgelegt scheint, macht es wahrnehmungstheoretisch keinen  – und auch ansonsten nur bedingt einen – Unterschied, ob Veränderungen eben dieser Stimuli durch eine (elektrische oder von Hand durchgeführte) Manipulation eines Objektes (insbesondere dort, wo diese zwischen eng begrenzten Optionen variiert) oder durch Standortwechsel des Betrachters verursacht werden. So zentral die Idee der Beteiligung des Betrachters (»Nous voulons le faire participer«), des sozialen Austauschs (»interaction avec d’autres spectateurs«), der Ermächtigung (»un spectateur consient de son pouvoir d’action«)21 im Denken der Künstler beispielsweise der Groupe de Recherche d’Art Visuel auch war, gerade solche Einzelwerke

20 Albers: Interaction of Colour, 1963/1997, S. 24. Zur Formulierung »Der Künstler zwingt den Be­

trachter« als Lapsus der Kunstkritik siehe Jörg Schellers Beitrag in: Peter J. Schneemann: Konstellationen der Kunstbetrachtung [in Vorbereitung]. 21 Groupe de Recherche d’Art Visuel (G.R.A.V.): Assez de mystifications, 3e Biennale de Paris, Oktober 1963, http://www.julioleparc.org/en/open_text_image.php?txt_cat_id=3&txt_img_id=4 (aufgerufen: 20.5.2013).

239

240

Nina Zschocke

Abb. 9: François Morellet, Tirets 0°–90°, 1960, Öl auf Leinwand.

Ambivalent aufgeklärt

Abb. 10: Josef Albers, Prefatio, 1942, Zink-Lithographie auf Papier.

241

242

Nina Zschocke

und Raumabfolgen (Abb. 5), die mit aggressivem Blitzlicht oder desorientiernden Licht- und Spiegeleffekten konfrontieren, dienen doch primär der Ein­ lösung einer anderen Forderung: der Auslöschung der Distanz (»l’élimination de la distance qu’il y a entre le spectateur et l’œuvre«22). Erzeugt werden intensive visuelle, mitunter als Überreizung bezeichnete oder die Augen scheinbar taktil angreifende Empfindungen. Der Betrachter reagiert (»réagir avec ses facultés normales de perception«23), er ist einem Geschehen ausgesetzt, dessen Teil er körperlich ist, auf das er aber wenig Einfluss nehmen kann. Er verhält sich weniger, als dass er ins Taumeln gerät. Insbesondere Effekte scheinbarer Bewegung, Mutation und Tiefe lassen sich kaum ignorieren und dienen als Aufmerksamkeitsmagneten. Reliefs wie jene von Yaacov Agam präsentieren je nach Position unterschiedliche Ansichten (Abb. 6) und solche Bildobjekte, die den Bildgrund durch eine zweite räumlich vorgelagerte Ebene ergänzen, erzeugen Moiré­Effekte, die, wenn nicht durch maschinell angetriebene Verschiebungen (Abb. 7), dann je nach Blickpunkt variabel bleiben (Abb. 8). Körperliche Aktivität vor dem Werk bringt virtuelle Bewegungseffekte hervor, ist allerdings selbst auch im Werk schon angelegt. Wenn es sich um Experimente handelt, dann spätestens in dem Moment, in dem sie in den Ausstellungsraum treten, eben um solche zur Demonstration. Dazu gehört die anschauliche Transparenz des technischen Aufbaus. In ihr, so könnte man argumentieren, liegt der Unterschied zum (über die ersten Demonstrationen gereiften) Kino, das dem Filmvorführer, nicht aber dem Publikum den Vergleich von Einzelbildabfolge und virtuellem Bewegtbild erlaubt, und andererseits eine gewisse Verwandtschaft zu technischen Verfremdungseffekten des (ebenfalls belehrend gedachten) epischen Theaters.24 Bereitgestellt wird eine Apparatur, in deren Struktur sich der Betrachter einkoppelt, damit ihm etwas vorgeführt werden kann. Ich bewege mich vor dem Bild, es könnte aber auch heißen: Ich werde (durch das, was sich mir anbietet, wenn ich ihm denn folge) bewegt. Habe ich mich dazu entschieden mitzuspielen, so sind die Verhaltensoptionen durch die in Werk und Ausstellungssituation angelegten Spielregeln zugunsten einer sichergestellten Wirkung und eindeutigen Aussage ziemlich genau programmiert. Einer solchen Festlegung und

22 Ebd. 23 Ebd. [Hervorhebung d. Verf.]. 24 Bertolt Brecht: »Das epische Theater« (1939), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 15, Frankfurt a.M.

1967, S. 300–303.

Ambivalent aufgeklärt

Konzentration auf ein bestimmtes Spektrum optischer Phänomene entspricht eine ebenso unmissverständlich offerierte Einsicht, reduziert formuliert beispielsweise von dem über Jahrzehnte mit Interferenzstrukturen experimentierenden Ludwig Wilding: »Über die Täuschung soll der Betrachter die Relativität räumlichen Sehens erfahren.«25 Oder: »Ich will, dass Sie über die Relativität des Sehens nachdenken und besser verstehen, was Raum ist.«26 Hinter der Kopplung zwischen phänomenaler Ambivalenz und eindeutiger Mitteilung steht die Überzeugung, dass »der Schock einer Täuschung unweigerlich Denkanstöße auslösen muss.«27 Widersprüchliche Erfahrungen und auch die Illusion, die obwohl visuell dominant, Zweifel zulässt oder durch gegenteiliges Wissen bereits gebrochen ist (der veranschaulichte Gegensatz von Stimulus und Erfahrungsqualität), stehen wiederum im Dienste einer Demonstration ganz bestimmter Objekt- und Subjekteigenschaften vermittelnder Bedingungen visueller Wahrnehmung. Vergleichbar mit Wertheimers experimentellen Anordnungen zur scheinbaren Bewegung, besteht mein Anteil zunächst in der Befolgung einiger Anweisungen, die die Produktion bestimmter, möglichst exakt kontrollierter Phänomene (mittels in Gang gesetzter »natürlicher« perzeptueller Organisationsprozesse) durch die richtige Positionierung oder Bewegung, Kopfhaltung oder Blickfixierung gewährleisten. Und in einem zweiten Schritt besteht meine Leistung dann im Nachvollzug einer durch die Konfrontation dieser Erfahrung mit von ihr abweichenden Stimuluseigenschaften nahegelegten Deutung. Arbeiten, wie die Serien Tirets von François Morellets (Abb. 9), Static von ­Bridget Riley (vgl. Abb. 12) oder auch die 1942 entstandene Reihe Graphic Tectonic von Josef Albers (Abb. 10), räumen freilich einer zwischen Reiz und Perzeption geschalteten Kontrolle durch die höhere Kognition größere Spielräume ein. Die unmöglichen Figuren von Albers enthalten widersprüchliche perspektivische Hinweise und Schichtungsindikatoren, die jeweils als Aufforderungen zur Realisierung sich anbietender aber sich zugleich gegenseitig ausschließender visueller Interpretationen gelesen werden können. Die Betrachterin ist dann weniger mit stochastischen Wechseln zwischen alternativen Erscheinungs­

25 Wilding, zitiert in: Wulf Herzogenrath (Hg.): Ludwig Wilding. Räumliche Irritationen: Optische Inter-

ferenzen. Perspektivische Täuschungen, Kölnischer Kunstverein, Braunschweig, 1973, S.  48 (Kat. Ausst.). 26 Ludwig Wilding im Interview, Video auf DVD, beiliegend, in: Ludwig Wilding. Visuelle Phänomene, Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt, 20.5.–1.7.2007, Köln 2007 (Kat. Ausst.). 27 Wilding, zitiert in: Herzogenrath: Ludwig Wilding, a.a.O., S. 50.

243

244

Nina Zschocke

weisen konfrontiert, als mit zu einem gewisse Maße intentional kontrollierten oder kognitiv zumindest beeinflussten Phänomenen. Statt  – oder zusätzlich zu – dem Beiwohnen quasi automatisch ablaufender (d.h. schwer kontrollierbarer) Prozesse erhält die Beobachterin, hierin vergleichbar mit den an Rubins zuvor erwähnter Versuchsreihe zur Figur-Grund-Wahrnehmung teilnehmenden Probanden, die Möglichkeit, durch konzentrierte kognitiv-perzeptuelle Arbeit (»künstlich«) phänomenale Veränderungen herbeizuführen. (Auch Marcel Duchamps Precision Optics der 1920er-Jahre und seine etwas späteren Roto-Reliefs lassen im Übrigen mit einiger Anstrengung solche intentional kontrollierten Wahrnehmungsverschiebungen trotz starker Illusionseffekte zu.)28 So falte ich Albers virtuelle Struktur geradezu selbst  – wenn auch innerhalb eines klar begrenzten Spektrums vorgegebener Möglichkeiten. Die eingelösten räumlichen Effekte und Zuordnungen sind eindrücklich, lassen sich aber nicht zu einer kohärenten Gesamtstruktur integrieren. In ihrer Ambivalenz scheinen sie uns jedoch nicht primär auf allgemeine Gesetze, sondern auf eine Abhängigkeit der Momente der Umkehrung von kontrollierbaren visuellen Entscheidungen beziehungsweise an konventionellen Raumindikatoren orientierten Restrukturierungsversuchen hinzuweisen. Hierin unterscheiden sich Albers Grafiken grundlegend von Interaction of Colour, nicht aber von seinen Homages to the Square (1950–1976). Albers selbst differenziert zwischen »objektiven Tatsachen und wirklichen (Bewusstseins-)Tatsachen […] – zwischen ›factual facts‹ und ›actual facts‹«.29 Gottfried Boehm hat diesen »Widerspruch von Faktum und Wirkung« als eine »Brechung der Bestimmungskraft der subjektiven Anschauung« sowie als Störung der repräsentationalen Eigenschaften der bildlichen Darstellung beschrieben.30 Zugleich wird, so die auf einen reflexiven Gebrauch gestalterischer Mittel abzielende Argumentation, die Linie als sprachlicher Akt, der in der »anfänglichen Unbestimmtheit der Fläche erst Umrisse, etwas Gemeintes sichtbar« macht, erst anhand mehrdeutiger perspektivischer Grafiken, also in der Brechung ihres bestimmenden Charakters, deutlich.31

28 In Film überführt als: Marcel Duchamp: Anémic Cinéma, 1926. 29 Albers, Interaction of Colour, a.a.O., S. 96. 30 Gottfried Boehm: »Die Dialektik der ästhetischen Grenze. Überlegungen zur gegenwärtigen

Ästhetik im Anschluss an Josef Albers«, in: Neue Hefte für Philosophie 5, Göttingen 1973, S. 118– 138, 1973, S. 125. Vgl. auch: ders.: »Sehen. Hermeneutische Reflexionen« (1992) in: Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 272–298, S. 294. 31 Boehm, »Die Dialektik der ästhetischen Grenze«, a.a.O., S. 121.

Ambivalent aufgeklärt

Die Linie zeigt sich als »Grenze, die offen lässt, was durch ihre Bestimmungskraft an Gegenständlich-Wirklichem nun ›gemeint‹ ist oder nicht.«32 Sind wir auf der Suche nach einem Abbild, so haben wir zur Kenntnis zu nehmen, dass die »Bildintention«, »an der Grenze von Bestimmbarkeit durch sprachliche Begriffe und einer immanenten Unbestimmbarkeit angesiedelt« ist.33 In diesem Sinn erzeugt Albers Werk einen »bedeutungshaften Schein, der verstanden werden will, aber von der Subjektseite der Vermittlung ebenso unzugänglich bleibt wie von der Objektseite.«34 Relevant scheint mir aber über diese Argumentation hinaus, dass wir es doch andererseits mit einer mittels eines bestimmten adressierten Referenzsystems gezielt umgesetzten (und durch eigenhändige theoretische schriftliche Rahmung unterstützte) Wirkung zu tun haben, die gerade in einer solchen Abfolge nicht zum Abschluss kommender Deutungsversuche besteht – und die den Interpretanten zu ganz bestimmten Schlussfolgerungen hinleitet. Eine »immanente Unbestimmbarkeit« wohnt zwar der Abbildung, nicht aber einer mittels referentieller Ambivalenz indirekt (aber unmissverständlich) kommunizierten Mitteilung inne.35 Visuell in Szene gesetzt ist eine Öffnung der Beziehung zwischen Werk und Rezipient. Zugleich aber wird das Spektrum möglicher Interpretationen durch die Bezugnahme auf Konventionen  – die Perspektivdarstellung ist ein Beispiel  – und gezielte Anweisungen, Vorschläge, Spielregeln kontrolliert. Eigenschaften auch des »offenen Kunstwerks« schließen bestimmte Deutungen als abwegig aus und legen andere nahe. So ist die Beziehung zwischen Werk und Betrachter im Sinne einer »Dialektik zwischen der Struktur des Objekts, als einem festen System von Relationen, und der Antwort des Konsumenten als einem freien Sicheinfügen und aktiven Rekapitulieren dieses nämlichen Systems« zu verstehen.36 Je expliziter und eindeutiger die Anweisung und je festgelegter das Referenzsystem, desto kontrollierter die intendierte Mitteilung bzw. desto ­unwahrscheinlicher ist die Abweichung von derselben. Nie ist Bedeutung unmittelbar gegeben, bei aller theoretischen Unabschließbarkeit der Semiose aber haben wir es dennoch 32 Ebd., S. 129. 33 Ebd., S. 119. Thematisiert wird hier die Differenz von Sprache und visuell gegebener Wirklich-

keit. 34 Ebd. 35 Nicht nur in seiner Lehrschrift, sondern auch zu seinem grafischen Werk formuliert Albers ein-

deutige Deutungsvorgaben. Ein Beispiel: Josef Albers: Ohne Titel, in: ders., François Bucher: Josef Albers. Trotz der Geraden, Bern 1961, S. 38. 36 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M. 1973 [ital. 1962], S. 13, 16.

245

246

Nina Zschocke

Abb. 11: Bridget Riley, White Discs 2, 1964, Emulsion auf Hartfaserplatte.

Ambivalent aufgeklärt

Abb. 12: Bridget Riley, Static 01, 1966, Acryl auf Leinwand.

247

248

Nina Zschocke

mit Strategien der kontrollierten Umsetzung einer Wirkungsintention und möglichst eindeutigen Mitteilung zu tun. Nicht zuletzt steht auch die »Leerstelle« und der »implizite« Leser oder Betrachter der Rezeptionsästhetik für eine dialektische Auffassung von Kunstproduktion und -rezeption.37 In der »Werk gewordene[n] Vorstellung von der Wirkung des Werkes«38 kennzeichnet die Leerstelle den intendierten Betrachter, sie gibt an, welche Leistung von ihm verlangt werden.39 Was Wolfgang Iser »ausgesparte Anschließbarkeit« nennt, ist eine Freigabe der Beziehbarkeit der »bezeichneten« Positionen für die Vorstellungsakte des Lesers oder Betrachters. Es geht wiederum um ein Angebot der – oder eine Aufforderung zur – Mitarbeit, ebenso jedoch um die Eingrenzung des »Feldes interpretativer Möglichkeiten«.40 Gerade die Demonstration von Ambivalenz ist auf eine relationale, im kulturhistorisch situierten Kunstwerk eindeutig angelegte, Konstruktion von Bedeutung, etwa auf das Verstehen einer epistemologischen Metapher oder auch das Erkennen ganz spezifischer Bedingungen bestimmter Erfahrungen (und auch der Kunstproduktion), ausgerichtet.41

Ambivalenz als Psychotechnik

Was aber, wenn es Künstlerinnen und Künstlern darüber hinaus um eine eigentliche Ausbildung ihrer Betrachter zu tun ist? Diese Hoffnung auf eine längerfristige Wirkung des eigenen Werks kommt in den Schriften Bridget Rileys 37 Wolfgang Kemp: »Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahr-

38 39 40 41

hunderts«, in: ders. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin, Hamburg 1992 [1985], S. 307. Kemp greift auf Ingardens »Unbestimmtheitsstelle« und Wolfgang Isers Leerstellenbegriff zurück. Wolfang Kemp: »Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik«, in: ders.: Der Betrachter ist im Bild, a.a.O., S. 7–27; Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk, Halle 1931; Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte, Konstanz 1970; ders.: Der Akt des Lesens, München 1976, S. 267ff. Wolfgang Kemp: »Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter. Positionen und Positionszuschreibungen«, in: ders. (Hg.): Zeitgenössische Kunst und ihre Betrachter, Köln 1996, S. 22. Wolfgang Kemp: »Verständlichkeit und Spannung«, a.a.O., S. 307. Zum Feld interpretativer Möglichkeiten: Umberto Eco: »Das offene Kunstwerk in den visuellen Künsten«, in: ders.: Das offene Kunstwerk, a.a.O., S. 154–185, S. 154. Zur epistemologischen Metapher bei Eco: Michael Lüthy: »Die eigentliche Tätigkeit. Aktion und Erfahrung bei Bruce Nauman«, in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.): Auf der Schwelle. Kunst, ­Risiken und Nebenwirkungen, München 2006, S.  57–74, http://www.michaelluethy.de/scripts/brucenauman-umberto-eco-das-offene-kunstwerk/ (aufgerufen: 22.5.2013).

Ambivalent aufgeklärt

zum Ausdruck wenn sie die »Freuden des Sehens« (»Pleasures of Sight«) als Anlass und Ziel ihrer Arbeit nennt. So ist damit zwar zum einen auf eine Entgegenständlichung der visuellen Erscheinungswelt als sich überraschend einstellende Dynamiken verwiesen, zum anderen aber auch auf einen zu »erlernenden« Modus des Sehens, eine Weise visuellen Verhaltens.42 Angesichts dieser Forderung nach Erwerb und Einsatz besonderer Kompetenzen des Betrachters, ist wiederum von der Vorstellung kulturhistorisch auf irgendeine Weise »geprägter« Mechanismen das Erlernen gezielt praktizierbarer Techniken zu unterscheiden.43 Techniken wie solche, die eingefordert werden, wenn Riley ihren Begleitern zuruft: »No, don’t look at it, just glance!«44 In Anbetracht unterschiedlicher Wahrnehmungskompetenzen scheint es aufschlussreich daran zu erinnern, dass es sich bei den Subjekten der frühen Wahrnehmungspsychologie fast ausschließlich um Experten handelt. Das Experiment ist meist Selbstversuch, der Forschende nimmt die Position des Probanden ein, die Überprüfung erfolgt in der Regel durch die Wiederholung durch andere Wissenschaftler. Ausführlich äußert sich Friedrich Schumann zum Wert guter (Selbst-)Beobachter, die es als Probanden für folgende Experimente zu binden gelte. Sie zeichnen sich neben besonderen (als ererbt gedachte) »Anlagen«, durch ein ausgeprägtes »Interesse« an den untersuchten Phänomenen aus.45 Wenn Riley uns nun zu »guten Betrachtern« machen möchte, so stellt sie ihre Gemälde in den Dienst einer Psychotechnik, einer  – so Hugo ­Münsterberg  – der »praktischen ­Aufgabenerfüllung«, auf »ein in der Zukunft liegendes Ziel« ausgerichteten, auf der experimentellen (auch künstlerischen) Erforschung ­psychologischer ­Grundlagen basierenden Praxis.46 Handelt es sich bei ihrem

42 Bridget Riley: »Freuden des Sehens« (1984), in: Robert Kudielka (Hg.): Bridget Riley. Malen um zu

sehen. Gesammelte Schriften 1965–2001, Ostfildern-Ruit 2002, S. 30–34. 43 Den Begriff der »Technik« verwende ich zwar in Referenz an Jonathan Crary, jedoch deutlich

anders gewichtet, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen zur Verfügung stehenden Techniken und deren gezielte Einsetzbarkeit. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996 [1990]; ders.: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a.M. 2002 [1999]. 44 Bridget Riley, zitiert in: Robert Kudielka: »Bridget Riley«, in: Bridget Riley. Paintings 1982–1992, Kunsthalle Nürnberg u.a. 1992–1993, Nürnberg 1992, S. 8–28, hier S. 8 (Kat. Ausst.). 45 Friedrich Schumann: »Beiträge zur Analyse der Gesichtswahrnehmungen«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 23 (1900), S. 1–32, http://vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/­ library/data/ lit31389? (aufgerufen: 20.5.2013), S. 4. 46 Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik, Leipzig 1914, http://archive.org/stream/grundzgederpsyc02mngoog#page/n2/mode/2up, S. 6 (aufgerufen: 29.5.2013).

249

250

Nina Zschocke

Werk in diesem Sinne um eine Schule, eine Didaktik des Sehens, so kann sich deren Lektion allerdings weniger als Effekt längerfristigen Trainings (Übung) denn eines »schnellen Lernens« beziehungsweise in Form eines Hinweises (nämlich auf die Fähigkeit, durch Anstrengung gezielt eine perzeptuelle Reorganisation herbeizuführen) und eines Vorschlags (worauf Aufmerksamkeit zu lenken sei) manifestieren und ist damit auch von der Art und Weise abhängig, in der Ambivalenz eingesetzt wird.47 Vor Rileys changierendem Current (1964, vgl. Abb. 3) bleibt der Betrachterin wenig mehr als verwunderte oder bewundernde Kenntnisnahme eines Zusammenspiels gestalterischer Technik und perzeptueller Abläufe, und bereits der Titel White Discs 2 (1964; Abb. 11) schwört sie auf die sich verlässlich mit jeder Augenbewegung aufblitzenden Nachbilder schwarzer Kreisflächen ein. Mit den Arbeiten der Serie Static aber muss sie sich konzentriert befassen, damit mehr geschieht. Wie auch Morellets Tirets präsentieren sie eine Vielzahl gleichwertiger alternativer Gruppierungsoptionen. An die Stelle der schon aus der Ferne zugerufenen visuellen Anweisung tritt die Verführung auf den zweiten oder dritten Blick. Auch Static 1 (1966; Abb. 12) ist auf einen sich klassisch vor dem Werk positionierenden und verweilenden Betrachter ausgerichtet und angewiesen. Der Titel ist weniger instruktiv als selbst ambivalent, steht er doch nicht nur für das Gegenteil von Bewegung, sondern lässt sich auch »im Sinne eines Feldes statischer Elektrizität« verstehen.48 Einerseits geht Riley von einer sich »unausweichlich« und auf »natürliche Weise« einstellenden Unruhe als einem visuellen »Ereignis« aus.49 Gemeint sind wiederum bei schnellen ­Blickbewegungen aufblitzende helle Nachbilder der Punkte. »Es prickelt in den Augen.«50 Außerdem entsteht bei relativ naher Positionierung, in der das Bild einen großen Teil des Gesichtsfeldes einnimmt, bisweilen der Eindruck, es

47 Eine Studie zu schnellen Lerneffekten, die ihre Probanden nicht langfristigen Lernprozessen

oder wiederholtem Training, sondern nur einer kurzen, einmaligen Trainingssitzung unterzog und dennoch signifikante Änderungen sowohl auf der Ebene des Verhaltens als auch auf neuronaler Ebene nachwies, publizieren z.B.: Martin Wiesmann und Alumit Ishai: »Training Facilitates Object Recognition in Cubist Paintings«, in: Frontiers in Human Neuroscience 4 (2010), DOI: 10.3389/neuro.09.011.2010 (aufgerufen: 12.1.2013). 48 Bridget Riley: »Wahrnehmung ist das Medium« (1965), in: Kudielka: Briget Riley. Malen um zu sehen, a.a.O., S. 68. 49 Ebd. 50 Bridget Riley: »Interview mit David Sylvester« (1967), in: Kudielka: Bridget Riley. Malen um zu sehen, a.a.O., S. 70–78, hier S. 76.

Ambivalent aufgeklärt

handele sich um ein Feld schwebender Teilchen. Andererseits aber erinnern die regelmäßig in versetzten Reihen über das Bildfeld verteilten kleinen schwarzen Elemente an die Bildpunkte eines Drucks, an den man zu nahe herangetreten ist und der aufgrund der homogenen Verteilung der Punkte nichts, beziehungsweise eine monochrome hellgraue Fläche, anzeigt. Das Fehlen eines Bildzentrums, die Gleichartigkeit der Bezüge ermöglicht nur eine fortgesetzte visuelle Suche, die keinen Halt findet. Bei solch eingehender Betrachtung wird ersichtlich, dass die kleinen Bildelemente nicht rund sind, sondern oval und mit einer Richtung versehen. Lose Bezüge können auf dieser Grundlage herausgegriffen und Formen abgrenzt werden, Versuche auch einer Trennung von Objekt und Hintergrund, die jedoch nicht als Figur überzeugen und sich bald wieder in größere oder alternative Zusammenhänge auflösen. Trotz der impliziten Einladung, Richtungen abzulesen und weiterzuverfolgen, muss doch jeder Versuch, eine neue Ordnung, mögliche Strömungs- oder Formzusammenhänge zu entdecken, an unregelmäßigen Richtungswechseln und uneindeutigen Bezügen scheitern. Diese Unordnung auf Detailebene bringt das vordergründig strenge Punktraster, den monotonen Aufbau des Gemäldes, dem Geräusch näher. Diese Frustration des konkretisierenden Impulses des Gestalt- und Objektsehens macht zum einen die hypothetische, testende Erprobung möglicher Bezüge zur dominierenden und potentiell unendlich fortgesetzten Tätigkeit vor dem Bild. Zum anderen dient sie der Produktion entgegenständlichter visueller Erfahrungsqualitäten, die Bridget Riley in ihren Schriften zu Erlebnissen in der Natur in Beziehung setzt.51 Im Wiederauffinden solcher abstrakter Qualitäten auch jenseits der Kunsterfahrung mag eine durch das Werk nahegelegte Verhaltensoption bestehen. Folgen wir den Ausführungen Rileys, die in einer längeren kunsttheoretischen Tradition stehen und zugleich als ­instruktive ­Rahmungen kaum vom Werk zu trennen sind, ist es an uns Betrachtenden ein Sehen »wiederzufinden«, das allein um seiner selbst willen praktiziert, im Alltag aber »verworfenen oder im Laufe der Zeit verschüttetet« worden ist, die »Freuden

51 Riley: »Das Gemälde selbst kam mir in den Sinn, als ich in Frankreich einen Berg hinauffuhr,

der oben auf dem Gipfel von einem riesigen Schieferfeld bedeckt war […]. Visuell war das Ganze total verwirrend; ich hatte das Gefühl, dass es keine Möglichkeit gab, die räumliche Situation zu begreifen. Es war unklar, ob dieser schimmernde Schiefer nahe oder weit weg war, ob die Partikel flach oder rund waren. […] Doch auf dem Gipfel war es viel kühler, und mir kamen die Anfänge von Static in den Sinn, eine Masse winziger glitzernder Einheiten, wie ein Pfeilregen.« Riley, »Interview mit David Sylvester«, a.a.O., S. 78.

251

252

Nina Zschocke

des Sehens« eben: »[I]ch meine den Genuss, den das Sehen an sich gewährt.«52 Dieser »Genuss« ist zugleich die Kompetenz der modernen Maler, denen sich Riley verbunden sieht: »I have found that as a painter you develop a kind of screen or veil between you and external reality which is made up of your own practice or habits of seeing. Monet’s enveloppe and Cézanne’s harmonie générale are actually such fabrics or veils by means of which their perception is so heightened that they can penetrate further and with greater precision than they could without it.«53 Außerdem können wir die Vorstellung einer Phänomenotechnik im Sinne einer erlernten kognitiven Fähigkeit, Elementares zur Anschauung zu bringen, auch mit der von Hermann von Helmholtz eben nicht als kindlich oder naiv, sondern als durch Instruktion, Übung, kulturelle Lernprozesse und anhand von Hilfsmitteln erwerbbar beschriebenen und untersuchten Kompetenz des analytischen »Zerlegens« (klanglicher) Sinnesphänomene in Beziehung setzen.54 Deutlich wird an diesem Vergleich zunächst, dass die von Riley adressierten und gezielt eingesetzten kognitiv-perzeptuellen Praktiken und die mittels gerichteter Aufmerksamkeit hervorgebrachte Wahrnehmung tanzender Farbflecken (anstelle einer objekthaft und räumlich verfestigten Gegenstandswelt) weniger den auf »normale« Zusammenfassungen ausgerichteten Kerninteressen der Gestalttheorie entspricht. Nicht zuletzt hat Wertheimer die intentionale Kontrolle der Aufmerksamkeit als Technik, Phänomene gezielt hervorzubringen, in den Bereich des Künstlichen, ­Außergewöhnlichen und damit für seine Erörterungen Nebensächlichen verlegt. Zum anderen aber unterscheiden sich Rileys flimmernde Wahrnehmungspartikel freilich von der analytischen Isolation phänomenaler Atome bei von Helmholtz darin, dass sie nicht als elementare Bestandteile und als Ergebnisse einer exakten Sezierung

52 Riley, »Freuden des Sehens«, a.a.O., S. 33. 53 Bridget Riley: »Perception and the Use of Colour. Talking to E.H. Gombrich« (1992), in: Robert

Kudielka (Hg.): Bridget Riley. Dialogues on Art, London 1995, S.  33–49, S.  44 [Hervorhebung d. Aut.]. 54 Hermann von Helmholtz: »Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik« (1. Aufl. 1862, Nachdruck der 6. Ausgabe hrsg. v. R. Wachsmuth 1913), in: Jochen Brüning (Hg.): Hermann von Helmholtz. Gesammelte Schriften, Bd. II, Hildesheim, Zürich, New York 2003, Vierter Abschnitt: Von der Zerlegung der Klänge durch das Ohr, S.  84–112, S. 111. Helmholtz bezieht sich auf die Tontheorie von Georg Simon Ohm: »Über die Definition des Tones, nebst daran geknüpfter Theorie der Sirene und ähnlicher tonbildender Vorrichtungen«, in: Annalen der Physik und Chemie 59, Berlin 1843 (= 2. Reihe, Bd. 29, Leipzig 1843), S. 513–565, http://www2.ohm-hochschule.de/bib/textarchiv/Ohm.Definition_des_Tones.pdf (aufgerufen: 24.5.2013).

Ambivalent aufgeklärt

zu verstehen sind, sondern als interessens- und verhaltensabhängige phänomenale Ereignisse (events).55 Nimmt von Helmholtz noch die vorbewusste Existenz elementarer Wahrnehmungsatome an und sucht er darüber hinaus der von Johannes Peter Müller beschriebenen sensorischen Arbitrarität und Krise der Referentialität zu begegnen, indem er auf der Ebene der höheren Kognition, in Form »unbewusster Schlüsse«, wieder Sinn hinzufügt, so ist seine Praxis des perzeptuellen Zerlegens streng analytisch als ein Freilegen jener atomaren Bestandteile gedacht. Im Unterschied zu diesen produziert die von Riley beschriebene visuelle Dekonstruktion der Gegenstandswelt abstrakte Wahrnehmungsqualitäten, die weiterhin relational zu denken sind und – wie auch Cézannes taches – nicht nur vieldeutig, sondern auch Ausdruck eines dynamischen Geschehens bleiben. Rileys Rhetorik der Wiederherstellung eines ursprünglichen, »kindlichen Sehens« steht dazu in paradoxer Beziehung und ist genauso bereits bei John Ruskin um 1850 anzutreffen: »Die ganze technische Kraft der Malerei hängt davon ab, dass wir die sogenannte Unschuld des Auges wiedererlangen, eine Art kindlicher Wahrnehmungsweise, mit der wir Farbflecken als das wahrnehmen, was sie sind, ohne Bewusstsein dessen, was sie bedeuten  – wie ein Blinder sie sehen würde, wenn er plötzlich sehen könnte.«56 Hier wie dort muss eine dem ersten Sehen zugeschriebene Qualität mühsam wiederher­ gestellt werden. Durch Rileys Wiederaufnahme der den »eigenen Praktiken und Gewohnheiten des Sehens« an die Seite gestellten Figur des Kindlichen werden wir außerdem an die der Entfremdung und Konditionierung der industriellen Arbeitswelt entgegengesetzte (heilende) Funktion ästhetischer Erfahrung erinnert, die John Dewey formuliert.57 Deweys Position repräsentiert, im Anschluss an Charles Darwin und William James, eine Interessenverschiebung vom ­Permanenten und Idealen zum Partikularen und Veränderlichen.58 Kunst kommt die Funktion zu, in Momenten außerhalb des Arbeitsalltags, nicht 55 Über visuelle Ereignisse: Bridget Riley: »Perception is the Medium« (1965), in: Robert Kudielka

(Hg.): The Eye’s Mind: Bridget Riley. Collected Writings 1965–1999, London 1999, S. 66–68, S. 68. 56 John Ruskin: The Works of John Ruskin, hrsg. v. Edward T. Cook und Alexander Wedderburn,

­London 1903–1912, Bd. 15, S. 27. Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden 1996 [1990], S. 95f. 57 John Dewey: »Art as Experience« (1934), in: Jo Ann Boydston (Hg.): John Dewey. The Later Works, 1925–1953, Bd. 10, Carbondale und Edwardsville 1989, insb. S. 181–182. 58 John Dewey: »The Influence of Darwin on Philosophy«, in: Popular Science Monthly (Juli 1909), http://members.door.net/arisbe/menu/library/aboutcsp/Dewey/Darwin.htm.

253

254

Nina Zschocke

Wahrnehmungen »für gewöhnlichen Gebrauch« bereitzustellen, sondern Erfahrungen, die »der Verwendung eines perzeptuellen Objektes als Index einer spezifischen, begrenzten Handlungsweise in die Quere geraten.«59 Auch in diesem Sinne können wir Riley als »moderne« Künstlerin identifizieren. Sie versieht ihr Werk mit einer Aufforderung, die über den Moment der eigentlichen Interaktion mit den Gemälden zeitlich hinausweist. Eine alternative Form des Sehens ist (wieder)zuerlernen und in Momenten, die von einem utilitären Gebrauch der Sinne freigestellt sind (Kontemplation), auch auf die reale Gegenstandswelt anzuwenden. Gemeint ist das Vermögen, oder zumindest der Versuch, gezielt den Modus der Wahrnehmung zu wechseln. Und so fordern Konfrontationen mit widersprüchlichen Anschauungen und Deutungsoptionen eine »Fähigkeit des Verlernens« im Sinne des Zurückstellens bisher verlässlicher Decodierungsstrategien.60 Ohne Parallelen zu Implikationen der Quanten­mechanik überstrapazieren zu wollen (die Unterschiede sind natürlich in vielerlei Hinsicht eklatant), lässt sich mit Gaston Bachelard festhalten, dass wir auch hier aufgefordert werden, »Direktes in Indirektes [zu] verwandeln, Vermitteltes im Unmittelbaren, Komplexes im Einfachen auf[zu]suchen«, dass wir also »eine Anschauung durch eine andere ›entanschaulichen‹, dass wir uns von den anfänglichen Analysen abwenden und das Phänomen als Ergebnis einer Zusammensetzung denken«.61 Und, mit Münsterberg gesprochen, wird die mittels einer »ästhetischen Erfahrung« ermöglichte »Erkenntnis« über die »Bedingungen der Beobachtung« mit dem Vorschlag einer alternativen Wahrnehmungspraxis und der Vermittlung der »Geschicklichkeit für die technische Beherrschung eines [kognitiven] Instruments«, (nämlich die Fähigkeit, dominante »Vorstellungen zu unterdrücken«) verbunden, mit dem Ziel, über eine Einwirkung auf das »Nervensystem« die »Gesundheit wiederherzustellen«.62 Ambivalenz tritt damit in den Dienst einer Psychotechnik, die auf eine intentionale, Alltagsbedürfnisse gezielt ignorierende Kontrolle des Sehens und insbesondere auf das Erlernen eines selektiven, nämlich von der Gegenstandswelt absehenden, Wahrnehmens ausgerichtet ist.

59 Dewey, »Art as Experience«, a.a.O., S. 181–182. 60 Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, a.a.O., S. 89. 61 Ebd., S. 89. 62 Alle Zitate stammen aus einer Aufzählung möglicher Anwendungsbereiche der Psychotechnik in:

Münsterberg, Grundzüge der Psychotechnik, meine Ergänzung in eckigen Klammern.

Ambivalent aufgeklärt

Ambivalent aufgeklärt?

Als Anweisung, und zwar eine »Anweisung, die man sich selbst gibt und anderen vorschlägt«, setzt auch jene Aufklärung ein, die Immanuel Kant einfordert.63 Kants »Wahlspruch« freilich gilt dem »mutigen« und selbstständigen Gebrauch des Verstandes.64 Es ist dieses Primat der Rationalität (bei allen aufgezeigten Grenzen der Vernunft und der Bedeutung der Empirie als dem Anwendungsgebiet des logischen Denkens) und die ahistorische Vorstellung einer reinen Logik als »Elementarlehre des Verstandes«, an der spätere Kritiker der Aufklärung Anstoß nehmen und deren Verstrickung mit den Mechanismen der Herrschaft sie fokussieren.65 Bleiben wir jedoch vorerst bei der Aufklärung als einer Bewegung der Dekonstruktion bisher unhinterfragter Annahmen mittels einer verstandesmäßigen Verhandlung einer Reihe von Anschauungen, so lassen sich jene künstlerischen Didaktiken des Sehens, die sich der Konfrontation mit widersprüchlichen Phänomenen bedienen, durchaus als Momente der Aufklärung beschreiben, seien sie der Relativität der Farbwahrnehmung oder auch den Bedingungen der räumlichen Darstellung gewidmet. »Aufklärung« dieser Art nimmt allerdings den Weg der Verwirrung. Erst im Anschluss an und in der Reflexion über Erfahrungen visueller Ambivalenz wird eine Einsicht gewonnen. In der auf diese Weise hergestellten indirekten Selbstbezüglichkeit der Gestaltungsmittel lässt sich grundsätzlich ein Anschluss an Themen der Moderne erkennen. Sieht aber Clement Greenberg die Kunst der Moderne dadurch charakterisiert, dass sie ihre Mittel der Kritik unterwirft, so meint er damit ­freilich eine Reduktion der Mittel im Sinne einer neuen ­Reinheit ihres Einsatzes. Selbstkritik erhält die Form einer Selbstdefinition.66 Der eklatante Unterschied zwischen der greenbergschen Idee der Reduktion und einer Didaktik, die sich der Ambivalenz bedient, tritt gerade im Wechsel zwischen konkurrierenden Möglichkeiten der visuellen Realisierung und Deutung hervor, 63 Immanuel Kant: »Was ist Aufklärung?« [30.9.1784], http://www.digbib.org/Immanuel_

Kant_1724/Was_ist_Aufklaerung (aufgerufen: 6.5.2013), gelesen von Michel Foucault: »Was ist Aufklärung?« (1984), in: Eva Erdmann u.a. (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1990, S. 35–54, hier S. 38. 64 Kant, »Was ist Aufklärung?«, a.a.O. 65 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969 [1944]; Foucault, »Was ist Aufklärung?«, a.a.O., S. 35–54. 66 Clement Greenberg: »Modernistische Malerei« (1960), in: ders.: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Dresden 1997, S. 265–278.

255

256

Nina Zschocke

der als eigentlicher Motor einer indirekten Thematisierung die Betrachtenden auf Wirkungseigenschaften verwendeter Medien, Techniken der Darstellung und auf Bedingungen der Erfahrung und Erkenntnis verweist. Der Beobachter erfährt nicht Dinge an sich, wohl aber bestimmte Bedingungen ihrer Erscheinung. Als einen »Bruch im sensomotorischen Band, einen Einschnitt im Übergang von Perzeption zur Aktion«, beschreibt Joseph Vogl  – im Einklang mit Deleuzes Affekt  – die Erscheinungsweise des Zauderns. Es »erscheint in der Kluft zwischen verwirrender Wahrnehmung und verzögerter Reaktion«.67 Das Zaudern besitzt bei Vogl eine passiv-aktive Doppelgestalt. Der passiven »Artistik des Verirrens« von Akteuren »mit vermindertem Weltanteil, Helden mit gebrochener Beteiligung«, steht die aktive Seite des Zauderns als eine idiosynkratische Genauigkeit gegenüber, in der sich ein »komplizierender Sinn«, ein »Komplexitätsverdacht« artikuliert.68 Gemeint ist »eine Idiosynkrasie gegen die Festigkeit von Weltlagen, gegen die Unwiderruflichkeit von Urteilen, gegen die Endgültigkeit von Lösungen, gegen die Bestimmtheit von Konsequenzen, gegen die Dauer von Gesetzmäßigkeiten und das Gewicht von Resultaten; und ein begründetes Misstrauen gegen heilsgeschichtliche Aufschwünge jeder Art. Das Zaudern ersucht um Revision.«69 Treffen wir dieses Zaudern in der Bewegung von einer geordneten visuellen Gegenstandswelt hin zu einem Angebot vielfältiger alternativer und doch gleichwertiger Beziehungsoptionen an, so wird es jedoch dort aufgehoben, wo zugrundeliegende Prinzipien, Regelwerke, Gesetzmäßigkeiten als Erkenntnisinhalte, Problemlösungen also, angeboten und hingenommen werden. Die Gewichtung zwischen diesen beiden Momenten ist, wie wir gesehen haben, auch innerhalb des Werkes ein und desselben Künstlers, derselben Künstlerin, unterschiedlich. Grundsätzlich aber scheinen nicht nur in den künstlerischen Anordnungen zur Produktion von Erfahrungen, sondern auch in diesen Erfahrungen selbst und den aus ihnen ableitbaren Schlüssen deutliche Resonanzen eines Spektrums moderner wissenschaftlicher Praktiken, Gegenstände und Theorien erkennbar. Dies gilt auch dort, wo es sich nicht – wie etwa bei Josef Albers – um eine direkte Rezeption handelt, sondern um parallele, empirisch vorgehende Verfahren in

67 Joseph Vogl: Über das Zaudern, Berlin, Zürich 2008, S. 14. 68 Ebd., S. 107–109. 69 Ebd., S. 108–109.

Ambivalent aufgeklärt

der Kunst. Bridget Riley beispielsweise betont: »I have never studied ›optics‹«, um kurz danach anzufügen: »My work has developed on the basis of empirical analysis and syntheses.«70 Nicht zuletzt haben wir uns auch die »intendierten« oder »impliziten« Betrachter der Op-Art-Werke in dem Sinne als aufgeklärt vorzustellen, als dass ihre Rationalität jener der modernen empirischen Wissenschaften ihrer Zeit entspricht. Diese liest Albers’ Interaction of Colour nicht als Wunder-, sondern als Falsifikationsmaschine. Die (didaktisch aufbereitete) Dialektik zu transzendierender Gegensätze entspricht letztlich dem von Gaston Bachelard vertretenem Modell einer wissenschaftlichen Forschung, die zwar ihre Gegenstände phänomenotechnisch konstruiert, also erst in Erscheinung bringt, indem sie die Objekte alltäglicher Erfahrung zerstört, die aber andererseits gerade dadurch »wissenschaftliche Neuerung«, »eine Korrektur von Wissen«, erzeugt. Er schreibt: »Wissenschaftlich denkt man das Wahre als historische Korrektur eines alten Irrtums und die Erfahrung als Berichtigung einer gemeinsamen Täuschung. Das ganze geistige Leben der Wissenschaft bewegt sich dialektisch an dieser Grenze zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen. Das Wesen der Reflexion ist es, zu begreifen, was man nicht begriffen hatte.«71 Dieser Gedanke des Fortschritts  – nämlich als anschauliche Dekonstruktion im Alltag unhinterfragter Annahmen – findet sich auch im Werk und Denken der Op-Künstler, auch wenn in den meisten Fällen zwar von Falsifizierung als Demonstrations- und Lehr-, jedoch weniger als Forschungsinstrument gesprochen werden kann. Erinnern wir uns nun, dass der Prozess der Aufklärung sich »in dem Maße [ereignet], in dem die Menschen, darin freiwillig Handelnde« sind, so mag dies dem Unterschied zwischen der Konfrontation mit scheinbar automatisch ablaufenden perzeptuellen Mechanismen und einem expliziten Verhaltensanteil am Phänomen eine weitere Bedeutungsfacette hinzufügen.72 Neben den »Mut« Kants können wir die von Wertheimer vernachlässigte, aber von Rubin geforderte »Mühe« des Beobachters zu stellen, den individuell zu leistenden Widerstand also gegen sich »normalerweise« einstellende Zustände, Erfahrungen, Bedeutungen. Ich schlage damit vor, den Aspekt der »Freiwilligkeit« 70 Riley: »Perception is the Medium«, a.a.O., S. 66. 71 Bachelard: Der neue wissenschaftliche Geist, a.a.O., S. 171. Die Falsifikation dann prominent auch

bei Karl R. Popper: Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft, Wien 1935. 72 Foucault, »Was ist Aufklärung?«, a.a.O., S. 38.

257

258

Nina Zschocke

herausgreifen, um nochmals auf die Bedeutung der Frage zu verweisen, in welcher Form welche Anweisungen genau gegeben – oder Vorschläge gemacht – werden, und inwiefern die an diese anschließenden Erfahrungs- und Denkprozesse als sich eher mit oder »ohne Leitung eines anderen« vollziehend zu verstehen sind. Ganz grundsätzlich kommt also [visueller] Ambivalenz eine zentrale Funktion innerhalb künstlerischer dialektischer Anordnungen zu. Und doch verweist die an Beispielen aufgezeigte Variabilität sowohl der eingesetzten Mittel, Interaktionsstrukturen und produzierten Erfahrungen als auch der an diese anbindbaren Deutungen – etwa als epistemologische Metaphern – auf die Diversität auch des kulturgeschichtlich lokalisierbaren Feldes, aus dem sie hervorgehen. So steht das Forschungsinteresse an Reiz-Reaktions-Schemata seit Beginn der modernen Psychologie und Wahrnehmungsforschung neben zahlreichen Varianten der Frage nach einer höheren kognitiven Kontrolle der Perzeption, beides gespiegelt in entsprechenden Charakteristika der Versuchsanordnungen. Auch wenn man also beispielsweise in Anschluss an Jonathan Crarys Analyse der historischen Konstruktion der »Techniken des Betrachters« im 19. Jahrhundert argumentieren möchte, dass der Kunst »selbst […] kein besonderer Verdienst bei der Erneuerung des Sehens« gebühre, so bleibt grundsätzlich die Vorstellung einer solchen, relativ homogen gedachten »Erneuerung« – und wenn nur als »dominantes Model« – selbst kritik- (und die Positionierung künstlerischer Strategien innerhalb eines weitaus diversifizierter gedachten Feldes untersuchungs-)würdig.73 Zwangsläufig ist eine Untersuchung, die auf die Rekonstruktion der begrifflichen Organisation der Sichtbarkeit und damit auch der dieser zugrundeliegenden Prozesse der Normierung und Regulierung ausgerichtet ist, auf das Nachzeichnen einer allgemeinen, gesellschaftliche, wissenschaftliche, technologische und institutionelle Veränderungen zusammenschließenden Entwicklung angewiesen. In den Hintergrund tritt hierbei die Frage, ob und inwiefern Brüche, Ambivalenzen und Unterschiede innerhalb historischer Entwicklungen mehr als nur »marginale und lokale« Ereignisse darstellen und vom Einzelnen eine Positionierung fordern oder diese zumindest ermöglichen. Auch gilt es zu bedenken, inwiefern individuelle Erfahrungen und kritische Kompetenzen dem einzelnen Subjekt – sei es in der Rolle des Gestaltenden oder des Betrachters  – Freiräume aufmachen, in denen weni73 Crary, Techniken des Betrachters, a.a.O., S. 130–131, S. 7.

Ambivalent aufgeklärt

ger Prägung und Konditionierung als vielmehr (auch) kritische Reflexion als Grundlage von Verhaltensentscheiden zum Tragen kommt. Nehmen wir allerdings die Revision des Aufklärungsbegriffs Max Horkheimers und Theodor Adornos oder auch Michel Foucaults zum Ausgangspunkt, so haben wir an die Kunst darüber hinaus die Forderung zu stellen, die eigene historische Bedingtheit zu bedenken  – oder, gehen wir davon aus, dass dieses Heraustreten aus der eigenen Geschichte kaum einlösbar ist, dann doch zumindest die Bedingungen einiger für die eigene Gegenwart ausschlaggebender Denkweisen, Methoden oder Phänomene ans Licht und zur Diskussion zu stellen. Darunter hätte man eine über die eindeutige Positionierung innerhalb eines Tätigkeitsfeldes hinausgehende, kritische Praxis zu verstehen.74 In einem Moment aber, in dem die Wissenschaften verstärkt Phänomene und Theorien des Unbestimmten, Paradoxen, der Komplexität, Interaktivität und des Relativen hervorbringen, die Beziehung des Beobachters zu seinen Gegenständen neu ordnen und allgemeine Gesetzmäßigkeiten der sinnlichen Erfahrung formulieren, wird eine Kunst, die selbst ganz parallele Erfahrungen produziert und verwandte Mitteilungen macht, an einer Entwicklung also beteiligt ist, ohne freilich deren historische Voraussetzungen und aktuelle Implikationen infrage zu stellen, kaum dieser Anforderung gerecht. Zu nah sind ihre Produkte an den neuen »Tatsachen« der »modernen Zivilisation«, die doch »bei der Wahrnehmung schon durch die herrschenden Usancen in Wissenschaft, Geschäft und Politik klischeemäßig zugerichtet sind.«75 Wir finden in den herausgegriffenen Beispielen der Op-Art nichts, das, wie bald darauf die Schriften Paul Feyerabends, das »Märchen« einer »normalen«, »reifen« Wissenschaft und die Mythologie ihres methodischen Instrumentariums als Grundlagen jedes machtpolitischen Einsatzes der Wissenschaften entlarven würde.76 Ebenso wenig finden sich Vorläufer der später von Isabelle Stengers, Vinciane Despret sowie im Anschluss von Bruno Latour geforderten Erweiterung des Falsifikationsprinzips, derzufolge »nicht nur der empirische Beleg der Theorie« zu widerlegen ist, »sondern auch die Theorie selbst, das ganze Forschungsprogramm […], der technische 74 Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., Vorrede (S. 1–7), S. 3f. 75 Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 3f. 76 Paul K. Feyerabend: »Die Autorität der Wissenschaften« (1970), in: ders.: Der wissenschaftstheore-

tische Realismus und die Autorität der Wissenschaften, Braunschweig 1978, S. 164, S. 202; ders.: »Die Wissenschaften in einer freien Gesellschaft« (1978), in: ebd., S. 351–367, S. 351.

259

260

Nina Zschocke

Apparat, das Protokoll«, die Fragen, die der Forschende stellt.77 Es ginge dann beim Entwerfen und Durchführen eines Experiments darum, mit diesem zu prüfen, ob Fragestellung (Annahmen) oder Laboranordnung geändert werden müssen, und in diesem Sinne darum, als Experimentator (nicht als Proband) »das Privileg, die Kontrolle zu haben aufs Spiel zu setzen«.78 An die künstlerische Kritik eines – natürlich nicht erst seit der Industrialisierung – zweckbezogenen, determinierenden, aber auch limitierten Sehens im Alltag schließt in den behandelten Arbeiten keine Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Voraussetzungen der eigens produzierten Erfahrungsqualitäten oder mit der Beziehung zwischen den eingesetzten Mitteln oder zugrunde gelegten Theorien der Wahrnehmung und entsprechenden wissenschaftlichen Modellen an. Letztlich sind alle herausgegriffenen Beispiele, wie die Vereinigungen GRAV und Nouvelles Tendances, dem Streben nach einer Kunst verpflichtet, die, zumindest auf einer ersten Erfahrungsebene, ohne Vorkenntnisse und kulturelle Codes auskommen möchte. Die Forderungen nach einer Einbeziehung des Betrachters genauso wie die Absage an individuelle Handschrift und persönlichen künstlerischen Ausdruck zugunsten einer universellen Kommunikation zielen auf eine soziale Funktion der Kunst und sind prinzipiell anti-elitär und globalisierend gedacht. Die Antwort auf den mit der Weltbevölkerung wachsenden »kulturellen Hunger« – so die noch von der seriellen Logik industrieller Produktion ebenso wie von Kybernetik und Gestaltpsychologie inspirierte Überzeugung dieser Künstler der Nachkriegszeit  – liegt in einer Verbindung von Multiplikation, Interaktivität und Objektivierung. Dem Bild eines universellen Menschen, dem ein grundlegendes, verbindendes ästhetisches Bedürfnis zugeschrieben wird, hat eine globale Kunst zu entsprechen, die kulturelle Verständnisbarrieren vermeidet.79 Diese bewegt sich – so die Hoffnung – wie

77 Bruno Latour: »How to Talk about the Body? The Normative Dimension of Science Studies«, in:

Body Society 10 (2004), S. 205–229, hier S. 216 [Übers. d. Verf.]; Isabelle Stengers: Power and Invention: Situating Science, Minneapolis 1997; Vinciane Despret: Quand le loup habitera avec l’agneau, Paris 2002. 78 Latour, »How to Talk about the Body«, a.a.O., S. 216. 79 Vgl. z.B. Ludwig Wilding, zit. in: Ludwig Wilding. Visuelle Phänomene, a.a.O., S. 19. Mit Blick auf die Idee einer globalen Kunst sei zudem nicht nur auf ökonomische und kommunikationstechnische Entwicklungen, sondern auch auf Wendell Willkies besonders in den USA der Nachkriegszeit rezipierte Theorie einer technisch vereinheitlichten Welt und die Hoffnung auf eine demokratisch organisierte Weltgemeinschaft verwiesen: Wendell L. Willkie: One World (dt.: Unteilbare Welt), New York 1943.

Ambivalent aufgeklärt

die Wissenschaften scheinbar in einem Raum jenseits politischer Ideologien. Im Sinne eines großen Zivilisationsprojektes gilt es, den Künstlern des ­Op-Feldes – diese Zusammenfassung scheint zulässig – eine von kulturellem Ballast befreite Kunst zu schaffen. Die angestrebte gesellschaftliche Funktion der Kunst besteht dann eher darin, dass sie die Erkenntnisse und neuen Phänomene der Wissenschaften sowie deren Praktiken aufnimmt, transformiert und in erfahrbare Werke verwandelt, als dass sie deren Grundlagen kritisiert. So scheint auch hier – wie Christoph Asendorf angesichts des Werks Gyorgy Kepes festhält – jene Utopie einer Moderne noch einmal aufzuleuchten, »die Künstler und Wissenschaftler gleichermaßen im großen Labor der Zivilisation« mit der Arbeit der Ordnung, Erschließung und Erfahrbarmachung der Welt befasst sieht.80 Vereinheitlichende Modelle der menschlichen Psyche und Kommunikation spielen auch für auf die Optimierung der Mensch-Mensch- und Mensch-Maschine-Interaktion ausgerichtete Wirtschaftszweige eine wichtige Rolle. Es ist nicht zu vernachlässigen, dass die hinter den phänomeno- und psychotechnischen Varianten der künstlerischen Projekte stehenden Ziele von denen beispielsweise einer auf industrielle Effizienzsteigerung ausgerichteten, anwendungsbezogenen Wahrnehmungsforschung im Bereich der Arbeitspsychologie, fundamental abweichen. Dennoch bleiben bestimmte Grundannahmen, eingesetzte Mittel und Wirkungsstrategien prinzipiell vergleichbar. Die Unterschiede zur Alltags- und Arbeitswelt liegen in den besonderen Qualitäten der künstlerisch produzierten Erfahrungen, explizit in der Prominenz des Ambivalenten, und in der Aufforderung zu einem veränderten, vom realen Gegenstand absehenden und stattdessen auf die Phänomene selbst und deren relative Bedingungen fokussierenden Wahrnehmungsverhalten. Allerdings ließe sich letztlich auch eine der Kunst zugewiesene und gerade mittels der Ambivalenz umgesetzte »heilende« Funktion, als »Regeneration«, in die Logik der auf Effizienzsteigerung ausgerichteten angewandten Wirtschaftspsychologie integrieren. Noch weniger eindeutig lässt sich die Vermittlung von Erkenntnissen über grundlegende Bedingungen visueller Erfahrung und von bestimmten Wahrnehmungskompetenzen zu anderen Lehr- und Überzeugungs-Programmen abgrenzen. So stellt gerade die mittels Ambivalenz angestrebte »Aktivierung« – 80 Christoph Asendorf: »Moholy – Kepes – Lynch. Kunst, Wissenschaft und die Arbeit an der Gestalt

der Moderne«, in: Von der Heiden, Autorität des Wissens, a.a.O., S. 131–149, hier S. 149.

261

262

Nina Zschocke

zumindest solange die realisierbaren Alternativen und Handlungsoptionen selbst programmatisch fixiert sind – eine konventionelle Taktik dar, um eine spezifische Mitteilung »beiläufig absorbiert« werden zu lassen.81 Darüberhinaus haben Marketing und Verkaufsexperten längst erkannt, dass Ambivalenz (und Provokation) Aufmerksamkeit generiert und dass sich die Involvierung und Aktivierung von Konsumenten auf verschiedene Weisen ökonomisch nutzen lässt. Es war Alvin Toffler, der in Future Shock bereits 1970 die in den Künsten entwickelten, »partizipativen Techniken« als den vorausgeworfenen Schatten der »experience industries« beschrieb.82 Die signifikanten Unterschiede zu den Einschätzungen und Hoffnungen der meisten Künstler und Künstlerinnen sind offensichtlich: Aus dem passiven sollte schließlich nicht lediglich ein aktivierter Konsument, sondern ein teilhabendes, gestaltendes Subjekt werden; ästhetische Erfahrung wurde (trotz eigener Abhängigkeit vom Kunstmarkt) primär als Geschenk an die Menschheit und nicht als kommerziell vertriebenes Produkt gedacht.83 Und doch ist die Diagnose Tofflers aufschlussreich, indem sie uns gerade auf solche blinden Flecken aufmerksam macht. Sie verweist auch darauf, dass der didaktische Anspruch vieler Künstler genauso wie ein kommerzielles Verkaufsinteresse die Notwendigkeit birgt, Erfahrungsprozesse zu lenken. Ein gemeinsames Interesse an Strategien, Verhalten zu choreografieren und damit auch Erfahrung zu kontrollieren, das die Künste (und die Didaktik) mit Marketing, Werbung und Propaganda verbindet, lässt sich leicht bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückverfolgen. Als prominentes Beispiel zeigt dies beispielsweise Herbert Bayers 1937 publizierte programmatische und ausführlich illustrierte Schrift Fundamentals of Exhibition Design.84 Entsprechend habe ich

81 Christian Mikunda: Der verbotene Ort oder Die inszenierte Verführung. Unwiderstehliches Marketing

durch strategische Dramaturgie, Frankfurt a.M., Wien 2004 [2002], S. 12: »Praktisch alle Marketingbereiche versuchen, den Kunden in einen solchen Zustand der erhöhten Aktivität zu versetzen, um so nebenbei ihre Botschaften miteinsaugen zu lassen.« 82 Alvin Toffler: Future Shock, New York 1990 [1970], S.  226–227. In den 1990er-Jahren wird der Begriff »experience economy« von Ökonomen aufgegriffen: B. Joseph Pine und James H. Gilmore: Experience Economy. Work is Theatre & Every Business a Stage, Boston, MA 1999. 83 Aufschlussreich hierzu z.B. das Gespräch zw. Riley und Graham-Dixon zur Aneignung und Vermarktung ihrer Bildmuster durch die Kleidungsindustrie: »A Reputation Reviewed. Talking to Andrew Graham-Dixon«, in: Kudielka: Bridget Riley. Dialogues on Art, a.a.O., S. 64–74, S. 69–70. 84 Herbert Bayer: »Fundamentals of Exhibition Design« (1937), in: P.M. Magazine (Dez.–Jan. 1939– 1940), S. 17–25; explizit wird auf die »Psychologie der Werbung« auf S. 17 verwiesen. Vgl. Joan Ockman: »The Road not Taken. Alexander Dorner’s Way Beyond Art«, in: Robert E. Somol (Hg.): Autonomy and Ideology. Positioning an Avant-Garde in America, New York 1997, S. 80–120. Stanis-

Ambivalent aufgeklärt

in diesem Beitrag künstlerische Praktiken, die sich der Ambivalenz bedienen, nicht als Strategien der Partizipation, sondern der Präfabrikation beschrieben. Den »Teilnehmenden« wird allein die – entweder physische oder kognitive – Aktivität des Zusammenfügens einzelner Teile, beziehungsweise der Synthese auf der Grundlage alternativer Erfahrungen oder Deutungsoptionen zu einem im Grunde schon definierten Ganzen, einer bestimmten Schlussfolgerung, überlassen. Gerade Ambivalenz, so meine Argumentation, dient nicht selten der Produktion relativ genau kontrollierter Erfahrungen und der Vermittlung eindeutiger Mitteilungen und Anweisungen. Diese Einsicht rückt, immer dort, wo es einer Analyse weniger um die Wirkungsstrategie als um eine Diskussion der künstlerischen Position zu tun ist, die Mehrdeutigkeit als strukturelle Eigenschaft in den Hintergrund und lässt dagegen die spezifische Qualität der erzeugten Erfahrung und den Inhalt der mit ihrer Hilfe kommunizierten Aussage an Bedeutung gewinnen. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass der Ambivalenz selbstverständlich neben der hier nun ausführlich besprochenen Funktion im Dienste der indirekten, aber eindeutigen Mitteilung bisweilen auch jene der Aussageverweigerung zukommt, nämlich dann, wenn sich vorgeführte Widersprüche nicht sinnvoll auf einer nächsten Reflexionsebene auflösen lassen. Dies gilt sowohl im Fall einer Verschleierung der Position des Autors wie auch in jenem der deskriptiv eingesetzten Mehrdeutigkeit. Dort werden nicht Bedingungen der Erscheinung thematisiert, sondern persönliche oder gegenständliche Charakteristika als tatsächlich zwischen begrifflich oder perzeptuell fassbaren Qualitäten changierend gedacht, ein Weder-noch oder Sowohl-als-auch – in etwa im Sinne der Heisenberg’schen Deutung der quantenmechanischen Unschärfe als Repräsentation einer realen (»objektiven«) Eigenschaft bestimmter Gegenstände der Teilchenphysik. Beispiele dieser Art blieben unberücksichtigt und überhaupt beschränkt sich die hier vorgelegte Auseinandersetzung auf wenige Werke aus einem bestimmten künstlerischen Feld der Mitte des 20. Jahrhunderts sowie deren Verortung innerhalb eines nur exemplarisch aufgezeigten, zeitlich weiter zurückreichenden Spektrums empirischer Forschung und Theorie. Ich meine aber  – und das bliebe zu prüfen  –, dass sich mein Kernargument der indirekten, aber eindeutigen Mitteilung und Anweisung, auch auf künstlerische laus von Moos: »Modern Art gets down to Business«, in: Hans M. Wingler und Magdalena Droste (Hg.): Herbert Bayer. Das künstlerische Werk 1918–1938, Berlin 1982.

263

264

Nina Zschocke

­ rbeiten anwenden ließe, die sich der Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit A oder der (ebenfalls auf einer Subversion etablierter Deutungs- und Handlungsmuster basierenden) »Provokation« in vergleichbarer Weise bedienen, die jedoch anstelle relativ allgemein und stabil beziehungsweise ahistorisch verstandener Grundlagen perzeptueller Erfahrung, die sozialen, ökonomischen, politischen, wissenschafts- oder technologiehistorischen Voraussetzungen der Herstellung, Präsentation und Erfahrung von Kunst sowie anderer kultureller Produkte adressieren.

die Autorinnen und Autoren Helmut Draxler, Kunsthistoriker und KulturTheoretiker, Berlin Von 1992 bis 1995 war er Direktor des Kunstvereins in München, von 1999 bis 2012 Professor für Ästhetische Theorie an der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung in Stuttgart. Zwischen 2004 und 2006 war er am Forschungsprojekt »Film und Biopolitik« an der Jan van Eyck-Akademie in Maastricht beteiligt (gemeinsam mit Sabeth Buchmann und Stephan Geene). Seit Januar 2013 ist er Professor für Kunsttheorie und Kunstvermittlung an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Derzeitige Forschungsschwerpunkte sind eine Theorie der Vermittlung sowie das Denken von Geschichte in den Historiographien moderner und zeitgenössischer Kunst. Publikationen: Gefährliche Substanzen. Zum Verhältnis von Kritik und Kunst, Berlin (b-books) 2007; Die Gewalt des Zusammenhangs. Raum, Referenz und Repräsentation bei Fareed Armaly, Berlin (b-books) 2007; Film, Avantgarde, Biopolitik, gemeinsam mit Sabeth Buchmann und Stephan Geene, Wien (Schlebrügge Editor) 2009. Eben erschienen sind die Theorien der Passivität, herausgegeben mit Kathrin Busch (Fink Verlag, München). Ausstellungen: Shandyismus. Autorschaft als Genre, Secession 2007; The Content of Form, Generali Foundation 2013.

Thomas Hirschhorn, Künstler, Paris Thomas Hirschhorn ist 1957 in Bern (Schweiz) geboren. Von 1978 bis 1983 studierte er an der Schule für Gestaltung, Zürich, seit 1984 lebt er in Paris. Seine Arbeit wurde in vielen Museen und zahlreichen Gruppenausstellungen gezeigt, unter anderem auf der Biennale von Venedig (1999), Documenta11 (2002), 27. Biennale von Sao Paolo (2006) und 55th Carnegie International (2008), im Schweizer Pavillon der 54. Biennale von Venedig (2011), La Triennale, Palais de Tokyo, Paris (2012), 9. Biennale von Shanghai (2012), Gladstone Gallery New York (2012). 2013 präsentierte Thomas Hirschhorn auf Einladung des ›Dia Art Foundation‹ das »Gramsci Monument« in der Bronx, New York City. Das Buch Critical Laboratory: The Writings of Thomas Hirschhorn ist kürzlich bei MIT Press (October Books) erschienen. Mit seinen Ausstellungen in Museen, Galerien und alternativen Kunsträumen – wie auch mit seinen temporären Arbeiten im öffentlichen Raum  – wendet er sich bewusst an ein nicht-exklusives Publikum. Thomas Hirschhorn ist Träger verschiedener Auszeichnungen. Er erhielt

266

die Autorinnen und Autoren

unter anderem den »Preis für Junge Schweizer Kunst« (1999), den »Prix Marcel Duchamp« (2000), den »Rolandpreis für Kunst im öffentlichen Raum« (2003), den »Joseph Beuys-Preis« (2004) und den »Kurt Schwitters-Preis« (2011).

knowbotiq (Yvonne Wilhelm, Christian Huebler), Künstler/IN, Zürich Yvonne Wilhelm und Christian Huebler leben in Zürich. Die Gruppe experimentiert mit Urbanität, der Konstruktion von Wissen und politischer Repräsentation in mediatisierten öffentlichen Sphären. Sie nahmen an der 48. Biennale Venedig (1999), der Hongkong Shenzen Biennale (2007), der ­Rotterdam Biennale (2009), der Moskau Biennale (2011) teil und stellten u.a. aus im Museum of Contemporary Art, Helsinki, (1994), im Hamburger Kunstverein (1995), im Henie Onstad Kunstsenter Oslo (1996), im Museum Ludwig Köln (2000), im New Museum New York (2002), im Witte de With Rotterdam und dem MOCA Taipeh (2004), der Kunsthalle St. Gallen (2005), dem Wilhelm Lehmbruck Museum und der Skuc Gallery Ljubljana (2006), im NAMOC Beijing (2008), im Aarhus Kunstmuseum (2009) sowie im Folkwang Museum Essen (2010) und haben zahlreiche bedeutende Preise gewonnen, darunter: Claasen Prize for Media Art and Photography, Cologne; den internationalen ZKM Media-art award; August Seeling-Award of Wilhelm Lehmbruck Museum und den Swiss Art Award (2012). knowbotiq haben eine Professur an der Zürcher Hochschule der Künste http://www.krcf.org

Verena Krieger, Kunsthistorikerin, Jena Verena Krieger hat seit 2011 den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Universität Jena inne; zuvor war sie Professorin an der Universität für angewandte Kunst Wien (2008–2011) sowie Gast- und Vertretungsprofessorin in Stuttgart, Bern, Jena, München und Karlsruhe. Ihre Forschungsthemen umfassen: Ambiguität in der Kunst, Konzepte des Künstlers und der Kreativität, Avantgarde und Politik, Methodenfragen der Kunstgeschichte sowie Genderkonstruktionen in der Frühen Neuzeit und Moderne. Sie veröffentlichte u.a.: Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas (hg. mit Rachel Mader), Köln, Weimar, Wien 2010, und Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung (hg. mit Sabine Fastert und ­Alexis Joachimides), Köln, Weimar, Wien 2011. Zuletzt publizierte sie das Begleitbuch zur Ausstellung BrandSchutz // Mentalitäten der Intoleranz, Jena 2013.

Brigitta Kuster, Künstlerin, junior researcher, Hamburg Brigitta Kuster ist Videofilmemacherin, Autorin, cultural researcher. Zu ihren Videoarbeiten gehören: Erase them (2013), Entkolonisierung / Decolonization (2010, Forum Expanded Berlinale); À travers ­l’encoche d’un voyage dans la bibliothèque coloniale. Notes pittoresques (2009, zusammen mit Moïse

die Autorinnen und Autoren

­Merlin Mabouna). Letzte Veröffentlichungen: (hg. mit Regina Sarreiter und Dierk Schmidt als artefakte//anti-humboldt): Afterlives: German and European Postcoloniality. Artefacts. Museums. Art, ISSUE OF THE DARKMATTER JOURNAL. IN THE RUINS OF IMPERIAL CULTURE (http://www.­ darkmatter101.org/site/), 2013; »Rapports et déplacements. Bezüge und Verschiebungen«, in: MarieHélène ­Gutberlet (Hg.): The Space Between us, Bielefeld, Berlin 2013.

Barbara Lange, Kunsthistorikerin, Tübingen Barbara Lange absolvierte ein Studium der Kunstgeschichte, Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Nach Tätigkeiten im Museumsbetrieb und seit 1989 an den Universitäten Kiel, Bonn und Leipzig ist sie seit 2006 als Professorin für Kunstgeschichte in Tübingen tätig. Forschungsschwerpunkt ist die identitätsschaffende Potenz von Kunst im Rahmen der visuellen Kulturen. Jüngere Veröffentlichungen sind »Netzwerker im Internet. Der gesellschaftspolitische Künstler als Administrator«, in: Sabine Fastert u.a. (Hg.): Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung, Köln u.a. 2011, S. 193–204; sowie »Relationale Situationen. Soundinstallationen von Haroon Mirza«, in: Olga Moskatova (Hg.): Jenseits der Repräsentation. Körperlichkeiten der Abstraktion in moderner und zeitgenössischer Kunst, ­München 2013, S. 179–189.

Rachel Mader, Kunstwissenschaftlerin, Zürich/Luzern Rachel Mader leitet seit 2012 den Forschungsschwerpunkt Kunst und Öffentlichkeit an der Hochschule Luzern, Departement Kunst & Design. Seit 2009 hat sie außerdem die Leitung des Projektes »Die Organisation zeitgenössischer Kunst –Zur Vorgeschichte des New Institutionalism am Beispiel Grossbritanniens« inne. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gegenwartskünste an der Zürcher Hochschule der Künste und im Bereich Kunstgeschichte der Gegenwart an den Universitäten Bern und Zürich tätig. Zahlreiche Forschungsaufenthalte in London, New York und Paris, sowie diverse Stipendien, u.a. 2002–05 am interdisziplinären Graduiertenkolleg »Wissenschaft  – Geschlecht – symbolische Ordnung«, Universität Basel. Jüngere Veröffentlichungen sind: »How to move in/an institution«, in: http://www.oncurating-journal.org/, Winter 2013. Kollektive Autorschaft in der Kunst. Alternatives Handeln und Denkmodell, Peter Lang, 2012. Ambiguitäten in der Kunst – Typen und Funktionen eines anhaltend aktuellen Topos, Tagungsakten, hrsg. zusammen mit Verena Krieger, Böhlau, 2010. »Nameless Science – künstlerische Forschung zwischen Institutionalisierung und kreativer Autonomie«, in: Autorität des Wissens. Kunst- und Wissenschaftsgeschichte im Dialog, hrsg. von Anne von der Heiden und Nina Zschocke, diaphanes, 2012, S. 193–207.

267

268

die Autorinnen und Autoren

Uriel Orlow, Künstler, London Uriel Orlow lebt als Künstler und Senior Research Fellow an der University of Westminster in London. Orlow ist bekannt für seine modular aufgebauten multi-medialen Installationen, die ausgehend von spezifischen Örtlichkeiten und Mikrogeschichten verschiedene Bildregime und narrative Verfahren in Korrespondenz miteinander bringen. Seine Arbeit befasst sich mit räumlichen Manifestationen von Erinnerung, blinden Flecken der Repräsentation und Formen des Unvergesslichen. Ausgestellt hat er u.a. auf der Aichi Triennal (2013), auf der Bergen Assembly (2013), der Manifesta 9 (2012), im Rahmen von ›Chewing The Scenery‹ auf der 54. Biennale Venedig (2011), auf der 8. Mercosul Biennial (2011) und der 3. Guangzhou Triennial (2008). Ausgewählte Einzelausstellungen sind: Unmade Film in der Al-Ma’mal Foundation for Contemporary Art, Jerusalem und dem Centre culturel Suisse, Paris, The Production Office in Les Complices*, Zürich und Back to Back at Spike Island (alle 2013). Seine Schriften erschienen u.a. in der MIT/Whitechapel Series on Art, dem Moving Image Research Journal und weiteren Zeitschriften. 2002 erlangte Orlow ein PhD in Fine Art der University of the Arts London. 2008, 2009 und 2012 erhielt Orlow den Swiss Art Award, verliehen im Rahmen der Art Basel. Aktuell ist er Senior Research Fellow an der University of Westminster und Visiting Lecturer an der ZHdK und am HEAD in Genf. Mehr Informationen unter www.urielorlow.net.

Gerald Raunig, Philosoph, Zürich Gerald Raunig, Philosoph und Kunsttheoretiker, arbeitet an der Zürcher Hochschule der Künste und am eipcp (European Institute for Progressive Cultural Policies). Er ist (Mit-)Herausgeber der Buchreihen »republicart. Kunst und Öffentlichkeit« (seit 2003) und »es kommt darauf an. Texte zur Theorie der politischen Praxis« (seit 2005) im Wiener Verlag Turia+Kant sowie »Inventionen« (seit 2011) im Verlag diaphanes, Zürich, Berlin. Raunig ist Redaktionsmitglied des multilingualen Webjournals transversal und der Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik Kulturrisse. Seine Bücher sind ins Englische, Serbische, Spanische, Slowenische, Russische, Italienische und Türkische übersetzt. Zuletzt veröffentlichte er: Instituierende Praxen. Bruchlinien der Institutionskritik, Wien 2008 (mit Stefan Nowotny); Tausend Maschinen, Wien 2008; Fabriken des Wissens, Zürich, Berlin 2012; Industrien der Kreativität, Zürich, Berlin 2012.

Johanna Schaffer, Kassel/Berlin Johanna Schaffer forscht, lehrt und übersetzt im Feld visueller Kulturen und materieller Ästhe­tiken mit einem herrschaftskritischen, queer-feministischen und antirassistischen Interesse, meist gemeinsam mit GestalterInnen und KünstlerInnen. An der Kunsthochschule Kassel baut sie als Hochschullehrerin gemeinsam mit Mareike Bernien und Kati Liebert den Arbeitsbereich »Theorie und Praxis der visuellen Kommunikation« auf: www.tupviskom.net. Jüngere Publikationen: Regime. Wie Dominanz organisiert und Ausdruck formalisiert wird, gemeinsam mit Petja Dimitrova, Eva ­Egermann,

die Autorinnen und Autoren

Tom Holert und Jens Kastner, 2012 bei edition assemblage erschienen, und Mehr(wert) queer – Queer Added (Value), hg. gemeinsam mit Barbara Paul, 2009 bei transcript verlegt.

Peter J. Schneemann, Kunsthistoriker, Bern Peter J. Schneemann ist Direktor der Abteilung für Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart, Universität Bern. Nach seiner Assistentenstelle bei Professor Oskar Bätschmann, erhielt er 2001 die Thannhauser Stiftungsprofessur für Kunst der Gegenwart an der Universität Bern. Gegenwärtig arbeitet er an Forschungsprojekten zur Kunstbetrachtung und zum Innenraum in der Zeitgenössischen Kunst. Zu seinen jüngeren Veröffentlichungen zählen: (hg. mit Hubert Locher): Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Regelwerk im »Bild-Diskurs« (Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag), Zürich u.a. 2008; (hg. mit Wolfgang Brückle): Kunstausbildung. Aneignung und Vermittlung künstlerischer Kompetenz, München 2008.

Bernadett Settele, Kunstpädagogin, Zürich/Luzern Bernadett Settele ist Kunstvermittlerin und Theoretikerin. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt Kunst und Öffentlichkeit an der Hochschule Luzern, Departement Kunst & Design, sowie Lehrbeauftragte an der Zürcher Hochschule der Künste, Departement Kultur­ analysen und Vermittlung. Von 2008 bis 2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Art Education und in der Agentur Z der Zürcher Hochschule der Künste. Sie leitete zahlreiche Projekte in den Bereichen Kunst und Pädagogik und forscht zur Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, zur Kunstvermittlung und alternativen Methoden ihrer Entwicklung bzw. Erforschung, zu Lehr- und Lernsettings in Kunst und Pädagogik sowie zu Medien- und Genderthemen. Sie ist Herausgeberin (zusammen mit Carmen Mörsch u.a.) von Kunstvermittlung in Transformation (Zürich 2012) und der Zeitschrift Art Education Research Nr. 1–3 (2009–2011, http://iae-journal.zhdk.ch).

Nina Zschocke, Kunsthistorikerin, Zürich Nina Zschocke ist Post-Doktorandin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich. Sie promovierte an der Universität zu Köln und war wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Moderne und zeitgenössische Kunst des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich. Sie forscht, publiziert und lehrt zur Kunst der Moderne und Gegenwart. Sie erhielt Forschungs­ stipendien der Studienstiftung NRW und der DFG und war Gastwissenschaftlerin an der Columbia University New York und am University College London. Ein Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Arbeit liegt auf der Geschichte und aktuellen Verfasstheit der Beziehung der Kunstwissenschaft sowie der Künste zu den Naturwissenschaften, insbesondere im Hinblick auf Theorien der Erfahrung sowie Theorien und Praktiken des Experimentierens. Ein weiteres Forschungsinteresse betrifft den Einsatz neuer Technologien in der Kunst. Bei diaphanes erschien 2012 der von Nina Zschocke gemeinsam mit

269

270

die Autorinnen und Autoren

Anne von der Heiden herausgegebene Band Autorität des Wissens. Kunst- und Wissenschaftsgeschichte im Dialog.

Tim Zulauf, Regisseur, Zürich Tim Zulauf ist freier Autor und Theaterregisseur und arbeitet als Dozent für Fine Arts an der Hochschule der Künste Bern. Er studierte Bildende Kunst in Basel, Zürich und Paris. Neben freier kunstjournalistischer Arbeit und der Mitarbeit in Forschungsprojekten zu Kunst in öffentlichen Sphären an der Zürcher Hochschule der Künste hat er mit KMUProduktionen, einer Gruppe von Theater- und Kunstschaffenden, seit 2002 Bühnenprojekte und installative Arbeiten realisiert. Jüngere Projekte betreffen Kultur/Industrie/Spionage in der Roten Fabrik Zürich, auf der Biennale Bern, in der Kaserne Basel (2011–12), Der Bau der Wörter (2010) im ehemaligen Konzernzentrum der Contraves in Zürich, Seebach, und Die Zeitschrift in der Rahmenhandlung (2009) – die beiden letzteren koproduziert mit dem Ausstellungsraum Les Complices*, Zürich. Als offizieller Schweizer Beitrag für die Kunst-­Biennale Venedig produzierte Tim Zulauf die installative Dramatisierung Deviare  – Vier Agenten  – Part of a Movie. Informationen zu KMUProduktionen unter www.zulauf.it.

abbildungsnachweise Verena Krieger:

1.  Freya Mühlhaupt (Hg.), John Heartfield, Zeitausschnitte.  Fotomontagen 1918 –

1938, Ostfildern 2009) – 2. Sabine Breitwieser (Hg.), Martha Rosler. Positionen in der Lebenswelt, Ausst.-Kat. ­Generali Foundation, Wien 1999. – 3. Thomas Geri (Hg.), Barbara Kruger, New Zealand 1988. – 4. Gender Check: Rollenbilder in der Kunst Osteuropas, MUMOK Wien/Nationale Kunstgalerie Zacheta Warschau, Wien 2009. – 5./6. Thomas Hirschhorn, „Ur-Collage“, anlässlich der Ausstellung in der Galerie Susanna Kulli, Zürich, 5.12.2008 – 19.1.2009. – 7. Standbild aus dem Film „Ausländer raus! Schlingensiefs Container“ von Paul Poet, Österreich 2001. – 8. Marion Ackermann, Josephine ­Meckseper, Ausst.-Kat.  Kunstmuseum Stuttgart, Ostfildern-Ruit 2007.  – 9.  Philipp ­Kaiser  (Hg), Louise Lawler and others, Basel, 2004.  Bernadett Settele: 1 /2. Courtesy: the Artist, Foto: Constanze Eckert.  Peter

Schneemann:

1.  Courtesy the artist and Foksal Gallery Foundation.  – 2.  Courtesy Di

­Gropello collection (Foto by Tommaso Zamarchi).  – 3.  Courtesy MadeIn Company und Kunsthalle Bern (Foto by Dominique Uldry).  – 4.  © 2013, ProLitteris, Zurich.  Thomas

Hirschhorn:

1. ­Thomas

Hirschhorn: Spectre of Evaluation, 2008. – 2–5: Thomas Hirschhorn: Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011 – 6. Thomas Hirschhorn: Wo Stehe Ich ? Was Will Ich ?, 2007 – 7–8. Thomas Hirschhorn: Vorbereitungsskizze für Crystal of Resistance, 2011. – 9/10. Foto Romain Lopez. Courtesy the artist. – 11/12. Foto Anna Kowalska. Courtesy the artist.  knowbotiq: 1/2. Foto: knowbotiq. – 3. Foto: Christoph Oeschger – 4/5. Foto: knowbotiq – 6. Foto: Samir Karahoda.  Uriel Orlow: 1. Foto: Uriel Orlow – 2/3. Foto: Stuart Whipps – 4. Foto: Marc Domage/CCS Paris. – 5. Foto: Uriel Orlow – 6. Foto: Toni Hafkenscheid. Brigitta Kuster: 1/2. Youtube-Screenshots aus: Georges Méliès, Le géant et le nain (1901). Barbara Lange: 1–4. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne. Johanna ­Schaffer: 1 –12. Used with

permission by the artist. Nina Zschocke: 1. Rubin, E.: Visuell wahrgenommene Figuren. Studien in psychologischer Analyse, (1915) Kopenhagen, Berlin u.a. 1921, Abb.1-2, S.245, 247.  – 2. Albers, Josef: ­Interaction of Colour.  New Haven & London 1963, Tafel IV-1.  – 3.  Kudielka Bridget Riley.  Dialogues on Art 1995, S.68. – 4. Nationalgalerie Berlin (Hg.): François Morellet, Ausst. Kat. Nationalgalerie Berlin u.a. 1977, Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S.129. – 5. Fotografie Nina Zschocke 2013, Ausst.: Dynamo. Un siècle de lumière et de mouvement dans l’art 1913-2013, Grand Palais, Paris, 10.04.-22.7.2013. – 6. http:// mediation.centrepompidou.fr/education/ressources/ENS-­cinetique/ENS-cinetique.html#agam (12.01.2013).  – 7.  Fotografie Nina Zschocke 2013, Ausst.: Dynamo, Grand Palais, Paris, 2013.  – 8. Weinhart, M. u. M. Hollein (Hg): Op Art, Ausst. Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, 17.2-20.5.2007, Köln 2007, S.263.  – 9.  Lemoine, S.  (Hg.): François Morellet, Zürich 1986, S.144.  – 10.  Albers, Josef u. François Bucher: Trotz der Geraden, Bern 1961, S.21. – 11. Aargauer Kunsthaus (Hg.:) Bridget Riley, Ausst. Kat. Aargauer Kunsthaus, 17.9.-13.11.2005, Aarau u. London 2005, S.78. – 12. Aargauer Kunsthaus, Bridget Riley 2005, S.55.