"Worüber hinaus Größeres nicht 'gegeben' werden kann...": Phänomenologie und Offenbarung nach Jean-Luc Marion 9783495998410, 9783495482377


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1. Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht
1.1. Überblick über Leben undWerk J.-L. Marions
1.2. Was bedeutet »donation«?
1.3. »Gebung« als Schlüsselbegriff Marionschen Denkens
1.4. »Phänomenologie der Gebung« als philosophischtheologischer Neuanfang
1.5. Die Philosophie J.-L. Marions als Fundamentaltheologie? These, ›Motivik‹ und Aufbau der Studie
2. Eine Theologie der »Gebung«? – Marions frühe Schriften
2.1. Zur Stellung des Begriffes »Gebung« im theologischen Frühwerk
2.2. Der Ansatz von »L’idole et la distance«
2.3. »Ikone« versus »Idol« – »Idolische und ikonische Rationalität«
2.4. Heidegger und Marions staurologische Rationalitätskritik
2.5. »donation«: Konvergenzpunkt theologischer Reflexion
2.5.1. Eine »donation« aus »distance« – Offenbarungstheoretische Weiterführungen
2.5.2. Pseudo-Dionysios und die ›hymnische Rationalität‹
2.5.3. Kirchliches Leben als interpersonale »donation«
2.5.4. Das sakramentale Paradigma: »donation« und »Eucharistie«
2.5.5. »donation«: Prinzip theologischer Reflexion und Hermeneutik
3. Von der Offenbarungsfrage zur »Phänomenologie der Gebung«
3.1. »Phénoménologie religieuse« und »Religionsphänomenologische Schule«
3.2. Marion und die von der Offenbarung beanspruchte Phänomenologie
3.3. Offenbarung als ›erfahrbare Manifestation‹ denken
3.4. Offenbarungstheoretische Aporien traditioneller Rationalität
3.5. Die Erledigung begründender Denkformen durch die Phänomenologie
3.6. Offenbarungstheoretische Möglichkeiten in phänomenologischer Perspektive
3.7. Offenbarungstheoretische Aporien als Implikat innerphänomenologischer Engführungen
3.8. Die Konstitution eines universal gültigen Phänomenhorizontes als Aufgabe der Offenbarungstheorie
3.9. »Phénoménologie de la donation«: ein fundamentaltheologischer Entwurf
3.10. Vorüberlegungen zum strukturellen Aufbau
4. Gebung und die Selbstrevision der Phänomenologie
4.1. Die Gebung des Phänomens: Marion und Husserl
4.1.1. Die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation«
4.1.1.1. Die Grundeinsichten der »Logischen Untersuchungen « Husserls
4.1.1.2. Husserl (1913): »Logische Untersuchungen« – Durchbruch in die Intuition?
4.1.1.3. Marion: Die Abkünftigkeit der kategorialen Intuition aus »donation«
4.1.1.4. Husserl / Derrida: Die zu anschaulicher Präsenz geronnene »Bedeutung«
4.1.1.5. Marion: Bedeutung als bedingungslose »donation«
4.1.1.6. Der Durchbruch in die »donation« aus der Retrospektive der »Krisis« (1936)
4.1.2. Die »donation« unter der Herrschaft des Bewusstseins
4.1.2.1. Spannungspole in den »Logischen Untersuchungen «
4.1.2.2. Husserls phänomenologische Kriteriologie: Anschauung, Erlebnis, Präsenz
4.1.2.3. Prinzipiiertes Bewusstsein: Urgegenstand, Geschlossenheit, Intentionalität
4.1.3. Marions Relecture der Reduktionsmethode
4.1.3.1. Husserl: Reduktion und die Grundlegung der Bewusstseinsimmanenz
4.1.3.2. Marion: Reduktion und die Befreiung des phänomenalen Selbst
4.1.3.3. Der reduktive Ausgriff auf die Selbstentfaltung des Phänomens
4.2. Die Gebung des Seins: Marion und Heidegger
4.2.1. Die Erledigung Husserlscher Phänomenerwartungen durch Heidegger
4.2.1.1. Heideggers Vorstoß zum phänomenalen Selbst der Sache
4.2.1.2. Vom Selbst des Phänomens zum Sein als Phänomen
4.2.2. Der Durchbruch der Reduktion Heideggers
4.2.2.1. Vom »Phänomen« zum »Seienden«
4.2.2.2 Vom Seienden zur Frage nach dem Sinn von Sein / »Sein überhaupt«
4.2.3. Aporetische Reduktion (I): Die Daseinsanalytik und der Sinn von Sein
4.2.4. Aporetische Reduktion (II): »Ontologische Differenz« als Verlegenheitslösung
4.2.4.1. Seinsfrage und ontologische Differenz
4.2.4.2. Die Urform der ontologischen Differenz im Verständnis des »Daseins«
4.2.4.3. Die ontologische Differenz als Unterbietung der Seinsfrage
4.2.5. Zwischenreflexion: Unterwegs zu einer rehabilitierten Reduktion
4.2.6. Descartes und die phänomenologische Revitalisierung der Reduktion
4.2.6.1. Die Daseinsanalytik als subversive Reduktion
4.2.6.2. Vom Streitfall »Descartes« zu seiner Destruktion bei Heidegger
4.2.6.3. Heidegger: Das ontologische Versagen des »Ego cogito«
4.2.6.4. Marion: Die unaufhebbare Valenz des »Ego cogito« im »Dasein«
4.2.6.5. Die Effekte des »Ego Cogito« in der Daseinsanalytik
4.2.6.6. Die Seinsfrage im Fokus der Reduktion
4.2.6.7. »Je hors d’être«: Seinsautonomie und Unendlichkeit der Reduktion
4.2.7. Die Gebung des Seins und die reine Gebung
4.2.7.1. »Sein und Nichts« als Polarität: »Was ist Metaphysik?«
4.2.7.2. Die »Erscheinung des Seins« – vom »Je hors d’être« konditioniert
4.2.7.3. Phänomenologie und Reduktion im Ursprungsbereich reinen Sich-Gebens
4.3. Gebung – die ursprünglichste und formalste Fluchtlinie der Phänomenologie
5. Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung
5.1. Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion
5.1.1. »donation« – postmetaphysisch
5.1.2. »donation« – präphänomenal
5.1.3. »donation« – erstphilosophisch
5.2. Formale Figuren des sich gebenden Phänomens
5.2.1. »… der phänomenalen Gestaltwerdung staunend«: Anamorphose
5.2.2. »… von der phänomenalen Gebung berührt«: Kontingenz
5.2.3. »… in den Bezirk phänomenaler Individualität gestellt«: »arrivage«
5.2.4. Die universale Faktizität des Sich-Gebens
5.2.5. Unfälle, Zwischenfälle, Ereignisse – Dimensionen von Phänomenalität
5.2.6. Zusammenfassung: Elementare Bestimmungsgrößen sich gebender Phänomene
5.3. »adonné«: Formale Züge der hingegebenen Subjektivität
5.3.1. Der methodische Imperativ: Sich-der-Gebung- Hingeben
5.3.2. Objektivistische Identifikation versus »dem Sich- Geben-hingeben«
5.3.3. Der »adonné« unter dem anonymen Anruf universalen Sich-Gebens
5.3.4. Von der anonymen »donation« zum sichtbaren »répons«
5.3.5 Kritische Rückfrage: Vom »adonné« zum »ego cogito«?
5.4. Grade und Beschreibungsmöglichkeiten phänomenaler Gebung
5.4.1. Weichenstellungen zu einer entgrenzten Intuition: Intention als Sich-Hingeben
5.4.2. Das gesättigte Phänomen als Überstieg Kantischer Kategorien
5.4.3. Phänomenale Ortsbestimmungen am Leitfaden sich gebender Anschauungen
5.4.4. Vier Beispiele für gesättigte Phänomene
5.4.5. Die Offenbarung Jesu Christi als paradoxe Koinzidenz gesättigter Phänomene
5.4.5.1. Die Verdoppelung gesättigter Phänomene nach dem Neuen Testament
5.4.5.2. Kenosis der Anschauung in der sich rein gebenden Ikone Christi
5.4.5.3. Kritische Rückfragen: offenbarungtheoretische Leerstellen
5.5. Der Begriff »donation« im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften, Philosophie und Theologie
5.5.1. »Sich-einander-Hingeben« – »donation« in handlungstheoretischer Sicht
5.5.2. »Gabe« in kulturwissenschaftlicher, ethnologischer Perspektive
5.5.2.1. M. Mauss: Gabe zwischen Nostalgie und Zwang
5.5.2.2. Auf dem Weg in die ›entzauberte Gabe‹ : C. Lévi-Strauss, P. Bourdieu u. a
5.5.3. Gabetheoretische Rekapitulationen in der Phänomenologie Frankreichs
5.5.3.1. Die ›reine Gabe‹ als un-mögliches Phänomen: J. Derrida versus Mauss
5.5.3.2. Die unveräußerliche Anerkennung im Gabeakt – P. Ricoeur versus M. Mauss
5.5.3.3. Gabe als reine Gebung: J.-L. Marion versus Mauss
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 9783495998410, 9783495482377

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Thomas Alferi

»Worüber hinaus Größeres nicht ›gegeben‹ werden kann …«

KONTEXTE

Das Selbst zwischen Erkenntnis und Gabe

ALBER PHÄNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495998410

.

B

ALBER PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Diese Studie behandelt und diskutiert das Denken des französischen Gegenwartsphilosophen Jean-Luc Marion. Sie geht davon aus, dass der Begriff »donation« (dt. »Gebung«, der Gabeakt) innerhalb des Marionschen Œuvres den Stellenwert einer »key-metaphor« einnimmt. Mit Blick auf die theologischen Schriften des jungen Marion erweist sich zunächst, dass »donation auf die Mitte des christlichen Glaubens zielt und den Hingabeakt im Leben und Sterben Jesu Christi meint. Marions spätere Arbeiten zur Phänomenologie sind davon abzuheben. In Auseinandersetzung vor allem mit Husserl und Heidegger wird hier der Versuch unternommen, »donation« als tiefste Bestimmung des Phänomens zu bewahrheiten: Das Phänomen erscheint, weil es sich je schon gibt. Marions »(Post)Metaphysik im Zeichen der Gebung« erweitert die Beschreibungsmöglichkeiten bisheriger Phänomenologie. Darüber hinaus ermöglicht sie – vermittels der Idee des »gesättigten Phänomens« –, die christliche Offenbarung auf dezidiert philosophische Weise zu denken. Die philosophischtheologische Gemengelage, die das Marionsche Schaffen in besonderem Maße auszeichnet, bedarf einer eigenen Interpretation. Vor dem Hintergrund aktueller Fragestellungen in der deutschen Theologie wirft der Autor die Frage auf, ob Marions Philosophie nicht zutiefst von dem Wunsch angetrieben wird, den Glauben an das »Ein-für-alle-mal« christlicher Offenbarung vor dem Forum der Phänomenologie zu verantworten. Der Autor: Thomas Alferi, Dr. theol., geb. 1973, studierte Katholische Theologie, Romanistik und Philosophie in Freiburg, Granada, Lyon und Paris.

https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Thomas Alferi »Worüber hinaus Größeres nicht ›gegeben‹ werden kann …«

https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 15

https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Thomas Alferi

»Worüber hinaus Größeres nicht ›gegeben‹ werden kann …« Phänomenologie und Offenbarung nach Jean-Luc Marion

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2007 www.verlag.alber.de Satz und Einbandgestaltung: SatzWeise, Föhren Herstellung: Canon Deutschland Business Services GmbH, Erfurt ISBN 978-3-495-48237-7

https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die im Wintersemester 2005/2006 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Brsg. angenommen wurde. Ohne die zahlreichen Unterstützungen, sei es in finanzieller, gedanklicher oder persönlicher Hinsicht, wäre sie nicht zustande gekommen. Stellvertretend für die vielen Menschen, denen ich Dank schulde, seien an dieser Stelle besonders erwähnt: Herr Prof. Dr. Hansjürgen Verweyen, der mein Dissertationsprojekt von Anfang an mit großem Interesse und persönlichem Engagement betreute. Hansjürgen Verweyen war mir während des ganzen Promotionsstudiums ein allen Fragen gegenüber stets offener und verlässlicher Betreuer, von dessen kritischer, gründlicher, immer aber auch wohlwollender Begleitung ich profitieren durfte. Herrn Prof. Dr. Joachim Valentin gilt mein herzlicher Dank einmal für die Übernahme des Zweitgutachtens, dann aber auch für die zahlreichen Gespräche, die ich mit ihm führen durfte: Im Laufe meines Promotionsstudiums entwickelte sich zwischen uns eine außerordentlich spannende Diskussionsatmosphäre, die mir ein großer Gewinn bei der Klärung vieler Fragen und Gedankengänge war. Ferner möchte ich der »Studienstiftung des deutschen Volkes« von Herzen danken, die mich in die Graduiertenförderung aufnahm. Dadurch wurde mir einerseits ein stabiler, ökonomischer Rahmen gewährleistet, der für die Durchführung dieses Projektes unabdingbar war. Andererseits war für mich die hervorragende Bildungsarbeit für Doktoranden äußerst nutzbringend. In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem Herrn Karsten Kumoll, M.A. für wichtige Anregungen zu den soziologischen Gabetheorien danken. Bei der Bearbeitung des Manuskriptes war mir die Beratung durch P. Dr. Martin Staszak OP eine wertvolle Hilfe. Seit meinen Studien bei Prof. Dr. Emmanuel Gabellieri / Lyon beschäftigte ich mich mit dem Denken von Jean-Luc Marion. Dass dieser nun selbst meine Arbeiten, sozusagen im Hintergrund, begleitet hat und 7 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Vorwort

mir als ein interessierter und aufgeschlossener Gesprächspartner zur Verfügung stand, dafür ein freundschaftliches »Merci beaucoup!« Ein besonderes Wort des Dankes gilt Prof. Dr. Walter Schweidler und dem leider viel zu früh verstorbenen Prof. Dr. Marco M. Olivetti, die meine Untersuchung in die Reihe »Phänomenologie. Texte und Kontexte« aufgenommen haben. Die engagierte und selbstlose Lektoratsarbeit von Dr. Alwin Letzkus darf dabei auch nicht unerwähnt bleiben. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch der Stiftung Geschwister Böhringer Ingelheim, der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Brsg. und der Erzdiözese Freiburg, die jeweils mit großzügigen Zuschüssen die Drucklegung der Dissertation gefördert haben. Schließlich zwei persönliche Bemerkungen: Meine Eltern standen mir zu jedem Zeitpunkt begleitend und verständnisvoll zur Seite. Für diese immer wieder neu erfahrene Nähe kann ich nur dankbar sein. Michelle, meiner Frau, gilt mein ganz besonderer Dank. Was ich von ihr an Offenheit und Unterstützung, an liebevollem Verständnis, mich täglich schreibend, denkend, lesend zu ertragen, erfahren habe, lässt sich nur schwer in einem Vorwort ausdrücken. Solchen ›Gebungen‹ bin ich ganz ›hingegeben‹. Mir bleibt deshalb nur, meiner Frau und meinen Eltern diese Studie zu widmen Karlsruhe / Freiburg, Dezember 2006

Thomas Alferi

8 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Inhalt

1.

Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Überblick über Leben und Werk J.-L. Marions . . . . . . 1.2. Was bedeutet »donation«? . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. »Gebung« als Schlüsselbegriff Marionschen Denkens . . 1.4. »Phänomenologie der Gebung« als philosophischtheologischer Neuanfang . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Die Philosophie J.-L. Marions als Fundamentaltheologie? These, ›Motivik‹ und Aufbau der Studie . . . . . . . . .

2.

Eine Theologie der »Gebung«? – Marions frühe Schriften

2.1. Zur Stellung des Begriffes »Gebung« im theologischen Frühwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Der Ansatz von »L’idole et la distance« . . . . . . . . . . 2.3. »Ikone« versus »Idol« – »Idolische und ikonische Rationalität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Heidegger und Marions staurologische Rationalitätskritik 2.5. »donation«: Konvergenzpunkt theologischer Reflexion . 2.5.1. Eine »donation« aus »distance« – Offenbarungstheoretische Weiterführungen . . . . . . . . . . 2.5.2. Pseudo-Dionysios und die ›hymnische Rationalität‹ 2.5.3. Kirchliches Leben als interpersonale »donation« . 2.5.4. Das sakramentale Paradigma: »donation« und »Eucharistie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.5. »donation«: Prinzip theologischer Reflexion und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 21 24 28 34 41 41 43 54 64 68 71 74 81 86 90

9 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Inhalt

3.

Von der Offenbarungsfrage zur »Phänomenologie der Gebung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99 3.1. »Phénoménologie religieuse« und »Religionsphänomenologische Schule« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.2. Marion und die von der Offenbarung beanspruchte Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.3. Offenbarung als ›erfahrbare Manifestation‹ denken . . . 106 3.4. Offenbarungstheoretische Aporien traditioneller Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.5. Die Erledigung begründender Denkformen durch die Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.6. Offenbarungstheoretische Möglichkeiten in phänomenologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3.7. Offenbarungstheoretische Aporien als Implikat innerphänomenologischer Engführungen . . . . . . . . . . . . . . 113 3.8. Die Konstitution eines universal gültigen Phänomenhorizontes als Aufgabe der Offenbarungstheorie . . . . . 118 3.9. »Phénoménologie de la donation«: ein fundamentaltheologischer Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3.10.Vorüberlegungen zum strukturellen Aufbau . . . . . . . 126

Gebung und die Selbstrevision der Phänomenologie . . 133 4.1. Die Gebung des Phänomens: Marion und Husserl . . . . 136 4.1.1. Die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation« . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

4.

4.1.1.1. Die Grundeinsichten der »Logischen Untersuchungen« Husserls . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.2. Husserl (1913): »Logische Untersuchungen« – Durchbruch in die Intuition? . . . . . . . . . . 4.1.1.3. Marion: Die Abkünftigkeit der kategorialen Intuition aus »donation« . . . . . . . . . . . . 4.1.1.4. Husserl / Derrida: Die zu anschaulicher Präsenz geronnene »Bedeutung« . . . . . . . . . . . . . 4.1.1.5. Marion: Bedeutung als bedingungslose »donation« 4.1.1.6. Der Durchbruch in die »donation« aus der Retrospektive der »Krisis« (1936) . . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

. 147 . 153 . 156 . 160 . 164 . 169

Inhalt

4.1.2.

Die »donation« unter der Herrschaft des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

4.1.2.1. Spannungspole in den »Logischen Untersuchungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2.2. Husserls phänomenologische Kriteriologie: Anschauung, Erlebnis, Präsenz . . . . . . . . . . 4.1.2.3. Prinzipiiertes Bewusstsein: Urgegenstand, Geschlossenheit, Intentionalität . . . . . . . . . .

4.1.3.

176 178

188 Marions Relecture der Reduktionsmethode . . . 195

4.1.3.1. Husserl: Reduktion und die Grundlegung der Bewusstseinsimmanenz . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.2. Marion: Reduktion und die Befreiung des phänomenalen Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3.3. Der reduktive Ausgriff auf die Selbstentfaltung des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197 198

202 4.2. Die Gebung des Seins: Marion und Heidegger . . . . . . 205 4.2.1. Die Erledigung Husserlscher Phänomenerwartungen durch Heidegger . . . . . . . . . . 211 4.2.1.1. Heideggers Vorstoß zum phänomenalen Selbst der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2. Vom Selbst des Phänomens zum Sein als Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

213 Der Durchbruch der Reduktion Heideggers . . . 215 4.2.2.1. Vom »Phänomen« zum »Seienden« . . . . . . . . 216 4.2.2.

4.2.2.2 Vom Seienden zur Frage nach dem Sinn von Sein / »Sein überhaupt« . . . . . . . . . . . . . . . . .

218 Aporetische Reduktion (I): Die Daseinsanalytik und der Sinn von Sein . . . . . . . . . . . . . . 220 4.2.4. Aporetische Reduktion (II): »Ontologische Differenz« als Verlegenheitslösung . . . . . . . 223 4.2.4.1. Seinsfrage und ontologische Differenz . . . . . . . 226 4.2.3.

4.2.4.2. Die Urform der ontologischen Differenz im Verständnis des »Daseins« . . . . . . . . . . . . . 4.2.4.3. Die ontologische Differenz als Unterbietung der Seinsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

233 Zwischenreflexion: Unterwegs zu einer rehabilitierten Reduktion . . . . . . . . . . . . 236 4.2.6. Descartes und die phänomenologische Revitalisierung der Reduktion . . . . . . . . . . . . . 238 4.2.6.1. Die Daseinsanalytik als subversive Reduktion . . . 239 4.2.5.

11 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Inhalt

4.2.6.2. Vom Streitfall »Descartes« zu seiner Destruktion bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6.3. Heidegger: Das ontologische Versagen des »Ego cogito« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6.4. Marion: Die unaufhebbare Valenz des »Ego cogito« im »Dasein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6.5. Die Effekte des »Ego Cogito« in der Daseinsanalytik 4.2.6.6. Die Seinsfrage im Fokus der Reduktion . . . . . . 4.2.6.7. »Je hors d’être«: Seinsautonomie und Unendlichkeit der Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.2.7.

244 247 250 256 258

261 Die Gebung des Seins und die reine Gebung . . . 263

4.2.7.1. »Sein und Nichts« als Polarität: »Was ist Metaphysik?« . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7.2. Die »Erscheinung des Seins« – vom »Je hors d’être« konditioniert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.7.3. Phänomenologie und Reduktion im Ursprungsbereich reinen Sich-Gebens . . . . . . . . . . . .

265 270

276 4.3. Gebung – die ursprünglichste und formalste Fluchtlinie der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

5.

Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung . . 285

5.1. Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1. »donation« – postmetaphysisch . . . . . . . . . 5.1.2. »donation« – präphänomenal . . . . . . . . . . 5.1.3. »donation« – erstphilosophisch . . . . . . . . . 5.2. Formale Figuren des sich gebenden Phänomens . . . . . 5.2.1. »… der phänomenalen Gestaltwerdung staunend«: Anamorphose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. »… von der phänomenalen Gebung berührt«: Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. »… in den Bezirk phänomenaler Individualität gestellt«: »arrivage« . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4. Die universale Faktizität des Sich-Gebens . . . . 5.2.5. Unfälle, Zwischenfälle, Ereignisse – Dimensionen von Phänomenalität . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.6. Zusammenfassung: Elementare Bestimmungsgrößen sich gebender Phänomene . . . . . . . .

12 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

286 286 296 302 306 306 308 309 310 311 314

Inhalt

5.3. »adonné«: Formale Züge der hingegebenen Subjektivität . 5.3.1. Der methodische Imperativ: Sich-der-GebungHingeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2. Objektivistische Identifikation versus »dem SichGeben-hingeben« . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3. Der »adonné« unter dem anonymen Anruf universalen Sich-Gebens . . . . . . . . . . . . . 5.3.4. Von der anonymen »donation« zum sichtbaren »répons« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Kritische Rückfrage: Vom »adonné« zum »ego cogito«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Grade und Beschreibungsmöglichkeiten phänomenaler Gebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1. Weichenstellungen zu einer entgrenzten Intuition: Intention als Sich-Hingeben . . . . . . . . . . . 5.4.2. Das gesättigte Phänomen als Überstieg Kantischer Kategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3. Phänomenale Ortsbestimmungen am Leitfaden sich gebender Anschauungen . . . . . . . . . . 5.4.4. Vier Beispiele für gesättigte Phänomene . . . . . 5.4.5. Die Offenbarung Jesu Christi als paradoxe Koinzidenz gesättigter Phänomene . . . . . . . 5.4.5.1. Die Verdoppelung gesättigter Phänomene nach dem Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5.2. Kenosis der Anschauung in der sich rein gebenden Ikone Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5.3. Kritische Rückfragen: offenbarungtheoretische Leerstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316 318 320 322 325 330 334 337 348 352 360 374 378 386

388 5.5. Der Begriff »donation« im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften, Philosophie und Theologie . . . . . . . 391 5.5.1. »Sich-einander-Hingeben« – »donation« in handlungstheoretischer Sicht . . . . . . . . . . 393 5.5.2. »Gabe« in kulturwissenschaftlicher, ethnologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . 398 5.5.2.1. M. Mauss: Gabe zwischen Nostalgie und Zwang . . 400 5.5.2.2. Auf dem Weg in die ›entzauberte Gabe‹ : C. Lévi-Strauss, P. Bourdieu u. a. . . . . . . . . . .

407

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Inhalt

5.5.3.

Gabetheoretische Rekapitulationen in der Phänomenologie Frankreichs . . . . . . . . . . . . . . 416

5.5.3.1. Die ›reine Gabe‹ als un-mögliches Phänomen: J. Derrida versus Mauss . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3.2. Die unveräußerliche Anerkennung im Gabeakt – P. Ricœur versus M. Mauss . . . . . . . . . . . . 5.5.3.3. Gabe als reine Gebung: J.-L. Marion versus Mauss .

418 426 429

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

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1. Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht

1.1. berblick ber Leben und Werk J.-L. Marions Im Februar 1980 unterzeichnen etwa fünfzig meist französische Intellektuelle in »Le monde« ein Solidaritätsschreiben, das sich an das anderthalb Jahre zuvor gewählte Oberhaupt der katholischen Kirche Johannes Paul II. richtet. 1 Wenige Tage früher beherrschte noch die niederländische Sondersynode im Vatikan die öffentliche Debatte. 2 Unter impliziter Anspielung auf diese Vorgänge spricht nun eine Gruppe von katholischen Akademikern, Journalisten und Kulturvertretern dem Papst ihre Unterstützung gegen die »Sekten im Innern« der Kirche aus und mahnen den »wahren Geist des zweiten Vatikanum« an. Der Bischof von Rom, der angesichts gesellschafts- und weltpolitischer Verunsicherungen wie ein Fixstern angesehen wird, könne der Loyalität der katholischen Kirche Frankreichs gewiss sein: »Qu’il [le pape] sache qu’il peut compter sur les catholiques de France unis autour de leurs evêques et leurs prêtres.« 3 Zu den UnterzeichEigentlich dürften solche Vorgänge in der Tradition der sog. Dreyfus-Affäre stehen, bei der französische Intellektuelle im ausklingenden 19. Jahrhundert gemeinsam Stellung bezogen und sich dafür des noch jungen Mediums Zeitung bedient haben. (Vgl. u. a. Jurt, J. Die Tradition des engagierten Intellektuellen in Frankreich. Von der Dreyfus-Affäre bis heute, 35). Das Bemerkenswerte, wenn nicht gar Paradoxe an der Szene von 1980 ist vor allem, dass hier der »Heilige Vater« unterstützt wird. Immerhin wird dadurch die französische Gepflogenheit auf den Kopf gestellt, der zufolge Intellektuelle in der Öffentlichkeit laizistische Positionen vertreten. Vgl. »Was einen allgemein anerkannten, intellektuellen Anspruch erheben darf, ist ›laizistisch‹.« (Verweyen, H. Theologie im Zeichen der schwachen Vernunft, 19). Zu dieser ungefähr mit Beginn des Pontifikats von Johannes Paul II. anhebenden Renaissance des Katholizismus innerhalb der säkularen Kultur Frankreichs vgl. zusammenfassend Nora, P. Aujourd’hui. Relégitimation du Religieux, 157–160. 2 Vgl. Ruh, U. Die Probleme bleiben. Zur Sondersynode der niederländischen Bischöfe, 116–120. 3 Des intellectuels signent un texte de soutien à Jean-Paul II, in: Le monde Paris 3./ 4. 2. 1980, 8. 1

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Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht

nern dieses Textes gehört neben dem Historiker P. Ariès, dem Journalisten A. Frossard, dem Hegelforscher C. Bruaire u. a. auch der aus Paris stammende Descartesspezialist Jean-Luc Marion. Diese Episode spiegelt in verdichteter Form die innerfranzösische Position J.-L. Marions, dessen Denken im Zentrum der vorliegenden Studie steht. Marion ist demnach einerseits unter die jenseits des Rheins gleichsam rituell exponierten »intellectuels« oder »maîtres de pensée« 4 zu zählen. Seine Unterschrift unter die medial inszenierte Solidaritätsbekundung gegenüber dem Heiligen Vater lässt vermuten, dass sein Wort im gesellschaftlichen Leben Frankreichs schon früh einiges Gewicht hat. Inzwischen ist es fast zum ›locus communis‹ geworden, Marion unter die großen Gestalten der französischen Gegenwartsphilosophie einzureihen: »Jean-Luc Marion […] a profondément marqué la philosophie française de ses trente dernières années […]« 5 Andererseits illustriert die geschilderte Begebenheit, dass sich Marion zum christlichen Glauben durchaus offensiv bekennt. 6 Das von ihm unterstützte Schreiben an den Papst gibt darauf nur einen eindrucksvollen Hinweis. Im Blick auf den Philosophen Marion gilt aber noch mehr: Mit seinem drei Jahre früher erschienenen »L’idole et la distance« 7 ist bekannt geworden, dass Marion Möglichkeiten erschließen will, die christliche Offenbarung in Auseinandersetzung mit der Gegenwartsphilosophie zu denken. Das Ineinander von christlicher Konfession und philosophischer Reflexion liegt bei Marion offen zu Tage. 8 Und so überrascht kaum, wenn Zu diesem die Kultur Frankreichs (anders als in Deutschland) prägenden Phänomen der »intellectuels«: Vgl. u. a. Domenach, J.-M. Le monde des intellectuels, 321–351. 5 Romano, C. Préface Philosophie 78, 2003 (Sonderheft zu Jean-Luc Marion, Heftrückseite). Die besondere Würdigung von Person und Denken Marions scheint 1992 zu beginnen, nachdem Marion für sein Gesamtwerk den »Grand Prix de l’Académie française« erhielt. Vgl. Le Monde, Paris 27. 6. 1992, 15. Höhn, G. übernimmt diese Deutung, wenn er von Marion als der »repräsentativsten Gestalt der jüngsten französischen Philosophie« spricht. (Vgl. Höhn, G. Die französische Philosophie der Gegenwart, 29). 6 Marions katholischer Standort wird schon früh als »très ferme sur ses positions sans pour autant sombrer dans l’excès de l’integrisme« erkannt. (Marion, J.-L.; Benoist, A. de Avec ou sans Dieu? L’avenir des valeurs chrétiennes, 7). 7 Obwohl die Argumentation aus »L’idole et la distance« einen stark von Heidegger und Derrida geprägten Stil erkennen lässt, ist diese Abhandlung deutlich an eine christliche Leserschaft adressiert, die sich, so Marion im Vorwort, Pseudo-Dionysios dem Areopagiten geistig verbunden fühlt. Vgl. »Aussi écrivons-nous pour Denys, et ses semblables.« (ID 42). Ähnliche Beobachtungen sind bei »Dieu sans l’être« zu machen. (Vgl. v. a. DsE 9). 8 Vgl. die spätere Charakterisierung Marions: »rigueur conceptuelle et ferveur chrétienne« (Le Monde, Paris 27. 6. 1992, 15). 4

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berblick ber Leben und Werk J.-L. Marions

später J. Benoist in einer persönlichen Ansprache an Marion kritisch feststellt: »Vous êtes chrétien: c’est dire que vous croyez à une Révélation […] il est clair que votre projet s’identifie […] dans une certaine mesure à […] une déduction phénoménologique de la Révélation.« 9 Anders als Philosophen wie P. Ricœur, J. Derrida oder J.-F. Lyotard, die ihre religiöse Herkunft in der Öffentlichkeit mit Zurückhaltung behandeln, trägt das Œuvre Marions ein greifbar christliches Signum. An der religiösen Identität dieses Denkers zu zweifeln, ist wenig sinnvoll. Vielmehr verbinden sich in seiner intellektuellen Biographie schon immer zwei Aspekte, lässt sich Marion doch nachgerade als ›christliche Existenz innerhalb der französischen Intelligenz‹ vorstellen. 10 Jean-Luc Marion, Jahrgang 1946, wird früh schon für seine Studien zu Descartes ausgezeichnet und beruflich gefördert. Diese im Rahmen seiner Assistententätigkeit bei F. Alquié und G. Rodis-Lewis abgeschlossenen Arbeiten begründen seine akademische Laufbahn als ordentlicher Professor für Philosophie. Es folgen Berufungen nach Poitiers (1981–1988), Paris-Nanterre (1988–1995) und schließlich auf den bedeutenden Lehrstuhl für Metaphysik der Pariser Sorbonne (seit 1995). 11 Weitere wichtige Aspekte seiner Biographie: Seit den frühen 70er Jahren ist er als Mitherausgeber der »Internationalen katholischen Zeitschrift – ›Communio‹« in Frankreich tätig. Vermittels seiner Stellung an der Sorbonne übernimmt er 1996 die Leitung Benoist, J. L’idée de la phénoménologie, 89, vgl. die polemische Bemerkung: »en majusculisant la Révélation au sein de toutes les révélations possibles et effectives, Marion sort de l’attitude de neutralité méthodologique.« (Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 17 f., ders. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 39 ff.). Hinsichtlich seiner theologischen Prägung fallen Einschätzungen seitens amerikanischer Marionrezipienten oft noch drastischer aus. So wird Marion von Smith beispielweise als »Parisean Scolastic« bezeichnet, dessen Philosophie »theological colonialism« betreibe. (Vgl. Smith, J. K. A. Liberating Religion from Theology, 24). 10 Die bei Marion virulente Synthese von ›intellectuel‹ und ›catholique engagé‹ könnte diesen in eine provokative Nähe zur Gestalt des »intellectuel engagé« bringen. Allerdings hat man sich hierbei die kulturgeschichtliche Paradoxie vor Augen zu führen, dass dadurch der für Frankreich sonst traditionelle Gegensatz »Intellektualität versus Katholizität« gerade umgekehrt wird. Vgl. dazu: Jurt, J. Die Tradition des engagierten Intellektuellen in Frankreich. Von der Dreyfus-Affäre bis heute, 33–58. 11 In dieser Biographie sind bemerkenswerte Parallelen mit dem Werdegang von E. Lévinas’ zu verzeichnen, der ebenfalls und sukzessive auf Lehrstühle nach Poitiers, Paris-Nanterre, Paris-Sorbonne berufen wurde. (Vgl. Lescourret, M.-C. Emmanuel Lévinas, 223 ff.). 9

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Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht

des »Centre des Etudes Cartésiennes«. Ferner betreut Marion in erster Instanz die Herausgabe der »Collection Epiméthée«, die wohl eine der wichtigsten Plattformen französischer Gegenwartsphilosophie auf dem Buchmarkt darstellt. 1992 wird Marion von der »Académie française« für sein Gesamtwerk geehrt. Im Ganzen dokumentiert sich sein inzwischen auch international gewachsener Ruf darin, dass Marion Ende der 90er Jahre zum Nachfolger Paul Ricœurs auf den traditionsreichen »John Nuveen-Lehrstuhl« der Universität Chicago (»Divinity School«) bestellt wird, den er seit 2004 als ordentlicher Professor inne hat. Soweit der äußere und berufliche Werdegang Marions. Zu fragen ist nun nach den Grundgedanken seiner Philosophie. Begrenzt man die Interpretation dieses Denkers auf seine bis 2001 erschienenen Arbeiten, so kann man von einer Dreiteilung seines Œuvres ausgehen. 12 Erstens: Der Einstieg in die akademische Laufbahn wird Marion durch seine Arbeiten zu Descartes möglich. So zählen zu seinem Schriftenverzeichnis zunächst drei rein philosophiegeschichtlich orientierte Monographien, in deren Zentrum das Cartesische Denken steht: »Sur l’ontologie grise de Descartes« (1975, Sigel: OG), »Sur la théologie blanche de Descartes« (1981, Sigel: TB) und »Sur le prisme métaphysique de Descartes« (1986, Sigel: PM). Die zwei Aufsatzsammlungen, die Marion in den 90er Jahren unter dem Titel »Questions Cartésiennes« (1991, 1996, Sigel: QC I, QC II) veröffentlicht, setzen diese Studien zu Descartes weitestgehend fort. Der diesen Untersuchungen gemeinsame Duktus bestimmt sich von der Frage nach der metaphysikgeschichtlichen Stellung Cartesischer Philosophie. Als Interpretament hierzu dient Marion vor allem Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte und des für sie zentralen Begriffes »Onto-Theologie«. Nach Auffassung Heideggers ist die Geschichte des klassischen Denkens von einem Gründungsschema bestimmt: Die Seienden würden dabei in einem höchsten Seienden gegründet (Onto-Theologie), während das Sein selber außer Betracht bleibe. Diese metaphysische Gründungsstruktur werde, so Heidegger, überwunden, wenn sich das Denken in die Offenheit des Seins hinaushalte und dessen je schon temporaler Differenz ansichtig werde. 13 In AnVgl. die Einteilung bei: Greisch, J. Le buisson ardent et les lumières de la raison. L’invention de la philosophie de la religion, Bd. II, 293. 13 Vgl. »Weil Sein als Grund erscheint, ist das Seiende das Gegründete, das höchste 12

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berblick ber Leben und Werk J.-L. Marions

lehnung an diese Lesart der Seinsgeschichte bestimmt Marion nun Descartes als einen Denker, der dieses onto-theologische Denkmuster sowohl realisiert wie auch aus ihm ausbricht. Mit Blick auf Descartes’ »Regulae ad directionem ingenii« macht Marion (in OG) die erste Möglichkeit wahrscheinlich: Descartes ziehe dort, so Marion, eine radikale Zäsur gegenüber der aristotelisch-scholastischen Ontologie, indem er die »mens« des Ego als oberste Instanz der Metaphysik einsetzt. Dadurch würden die »Regulae« das von Heidegger stigmatisierte Begründungsdenken reproduzieren. 14 Descartes’ Lehre von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten, die aus einigen Briefen aus dem Jahre 1630 hervorgeht 15 (Thema von TB), sei dagegen als eine Reflexion zu lesen, in der dieses Gründungsschema aufgebrochen werde. Descartes ordne dort die Erkenntnisoperationen des Ego der unfassbaren Schaffenskraft Gottes unter und unterwandere somit die ›onto-theologische Schablone‹, mit der Heidegger die Geschichte klassischer Philosophie liest. Schließlich zeigt Marion (zweiter Teil von TB und v. a. PM), dass Descartes insgesamt die von Heidegger insinuierte Interpretation der Ideengeschichte in eine eigentümliche Schwebe bringt. Insbesondere in den »Meditationes de prima philosophia«, ihren divergierenden Ich- und Gottesbegriffen, schlage sich ein unentschiedenes Gründungsdenken bzw. eine widersprüchliche Onto-Theologie nieder. Zweitens: Bald nach seinen ersten Descartesstudien entstehen drei theologische Bücher: »L’idole et la distance« (1977, Sigel: ID), »Dieu sans l’être« (1982, Sigel: DsE), »Prolégomènes à la charité« (1986, Sigel: PC). An diesen Werkkomplex ist noch die Schrift: »La croisée du visible« (1991, Sigel: CV) anzuschließen. Im Unterschied zu den Descartesstudien kommt es wohl auf außeruniversitären Wegen zu diesen Untersuchungen.16 In ihnen bringt sich Marions theoSeiende aber das Begründende im Sinne der ersten Ursache. Denkt die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen, d. h. im Hinblick auf seinem jedem Seienden als solchem gemeinsamen Grund, dann ist sie Logik als Onto-Logik. Denkt die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen, d. h. im Hinblick auf das höchste, alles begründende Seiende, dann ist sie Logik als Theo-Logik. Weil das Denken der Metaphysik in die als solche ungedachte Differenz eingelassen bleibt, ist die Metaphysik aus der einigenden Einheit des Austrags her einheitlich zumal Ontologie und Theologie.« (Heidegger, M. Identität und Differenz, 63). 14 Vgl. v. a. OG 186, Anm. 9. 15 Vgl. Descartes, R. Correspondance avril 1622 – février 1638, 145 f., 149 f., 152. 16 Deutlich wird dies vor allem daran, dass diese Schriften zunächst nicht, wie bei Marion ansonsten üblich, von der »Presse Universitaire de France« veröffentlicht werden.

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Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht

logisches Interesse offen zum Ausdruck. Alle vier Publikationen suchen die Mitte des christlichen Glaubens, genauer: die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, einer Reflexion zu erschließen, die an der zeitgenössischen Philosophie Maß nimmt. Marion situiert dabei den Glauben an Tod und Auferstehung Jesu Christi jeweils in den Kontext der an Heidegger anschließenden Philosophie. Neben dem Neuen Testament fungiert vor allem der neuplatonische Denker Pseudo-Dionysios als theologischer Referenzautor. Ein in diesen Arbeiten durchgängiges Motiv liegt in der Kritik an Heideggers Seinsdenken. Die Einwürfe gegen Heidegger, die Lévinas und Derrida bereits vorgebracht hatten 17 , kehren scheinbar zurück. Doch liegt der Impuls der Marionschen Heideggerkritik in der christlichen Offenbarung, was auch zu Abstoßbewegungen von Lévinas und Derrida führt. 18 In der so entwickelten Konfrontation zwischen dem christlichen Wirklichkeitsentwurf (Paulus, Pseudo-Dionysios etc.) und dem Denken der Welt (vertreten v. a. durch Heidegger, Derrida, Lévinas) arbeitet Marion vorwiegend mit dem Gegensatz »Idol versus Ikone«: Während jede Reflexion christlicher Theologie dem ikonischen Bild des Gekreuzigten entspringe, entspreche das Denken der Welt einem idolischen Phänomenzugang. Für Marion stellt der Gegensatz »Idol versus Ikone« mehr als nur die Polarität zweier Phänomentypen dar. Vielmehr entwickelt er in ihrem Ausgang eine kreuzestheologisch motivierte Rationalitätskritik. Weil die am Kreuz offenbare ›Ikone Jesu Christi‹ kein Phänomen darbiete, das sich begrifflicher Verfügung unterwerfe, werde das ›Denken der Welt‹ durch sie ausgesetzt. Marion hebt also darauf ab, dass die weltliche Rationalität aus staurologischer Perspektive letztlich nur ihre eigenen Begriffe bestätigt sehen wolle und darum als idolisch zu kritisieren sei. 19 Insofern das Denken aber von der unvordenklichen Offenbarung Gottes in der Ikone Christi ausgehe, wisse es sich von einer Liebesgebung umfasst, die jedem Begriff vorausgeht und dessen tiefe Idolatrie demaskiert. 17 Vgl. u. a. Lévinas, E. Le temps et l’autre, Derrida, J. Gewalt und Metaphysik, 121– 235. 18 Vgl. v. a. ID 247 ff., DsE 81 ff. 19 Dass beide Reflexionsstränge, also eine logozentrische Theiologie und eine staurozentrisch-ikonische Theologie, gelegentlich gravierende Synthesen eingingen (z. B. im scholastischen Gottesbegriff »summum ens« etc.), gehört zur Tragik der Theologiegeschichte. Sie kontaminiert nach Marion aber nicht die ursprüngliche Bedeutung des Offenbarungsgeschehens, in der die weltliche Rationalität immer schon kritisch überholt wird. (Vgl. Marions Thomaskritik in DsE 109 ff. Später relativierte Marion seine Thomasinterpretation: Vgl. Marion, J.-L. Saint Thomas d’Aquin et l’onto-théo-logie, 31–66).

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Was bedeutet »donation«?

Drittens: Spätestens seit Beginn der 90er Jahre entwickelt Marion eine Neubestimmung phänomenologischer Philosophie unter dem Begriff »donation«. Dieser Werkabschnitt ist mit »Phénoménologie de la donation« zu titulieren und wird durch drei Studien repräsentiert: »Réduction et Donation« (1989, Sigel: RD), »Etant Donné« (1997, Sigel: ED), »De surcroît« (2001, Sigel: DS). Kontrastiert man nun diese Schriften mit den vorangegangen Untersuchungen Marions, so ist zweierlei festzuhalten. Einerseits weist Marion hier auf, dass die bisherige Phänomenologie zu revidieren bzw. das Phänomen in seiner »donation« herauszustellen ist. Erst darin würde sich das Projekt der Phänomenologie erfüllen. So richtet sich Marions Kritik zunächst an Husserl, Heidegger, Derrida, Lévinas und macht ihren Ansätzen gegenüber rein phänomenologische Gründe geltend (RD). Andererseits impliziert diese Neuschreibung der Phänomenologie im Zeichen der »donation« eine Theorie der christlichen Offenbarung. Das Christusereignis wird darin als die höchste Gestalt phänomenaler »donation« aufgefasst (ED, DS). Ließ sich das Œuvre Marions bislang nach einem rein philosophischen und einem rein theologischen Werkabschnitt aufteilen, so scheint dieses Verhältnis hier verwickelt und klärungsbedürftig. Um in seiner Bestimmung voranzukommen, erweist sich zunächst die Rückfrage nach dem hier zentralen Begriff »donation« als sinnvoll.

1.2. Was bedeutet »donation«? Bei der Frage nach den Bedeutungsaspekten von »donation« wird man zuerst feststellen, dass dieser Begriff dem juristischen Bereich entstammt. Damit stimmt überein, dass der »Grand Robert de la langue française« vorwiegend Abschnitte des bürgerlichen Gesetzbuches, des französischen »code civile«, zitiert, um die Semantik von »donation« zu bestimmen. »Donation« ist dort als notariell beglaubigter, offizieller Vertrag definiert, über den sich eine Person ihres Eigentums oder eines Teiles davon unwiderruflich und zugunsten einer anderen Person entäußert. Diese wiederum nimmt die ihr erteilte »donation« willentlich an, indem sie jenen Vertrag gegenzeichnet. 20 Der »code civile« führt unterschiedliche Typen solcher Vgl. »Contrat par lequel une personne (donateur ou disposant) ›se dépouille actuellement et irrévocablement de la chose donnée en faveur du donataire qui l’accepte‹

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Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht

»donations« auf, die unter anderem nach der Art von Beziehung, in der die beteiligten Personen zueinander stehen, zu regeln sind. 21 Es ist wohl unstrittig, dass man »donation« hier mit »Schenkungsurkunde« oder »Schenkung« ins Deutsche übersetzen darf. Desweiteren ist zu beachten, dass der »Grand Robert« Schenkungen »avec affectation à une œuvre d’interêt social, de piété […]« 22 kennt und diese mit »fondation« synonym setzt. Aufgrund dieser Gleichsetzung wird man »donation« deshalb auch mit »Stiftung« übersetzen dürfen. Doch ergibt sich daraus kein wesentlich neuer Bedeutungsaspekt. In einem weiten Sinne ließe sich »Stiftung« ja als institutionalisierte Schenkung definieren. Ebenso drücken »Stiftung« und »Schenkung« im Deutschen miteinander zusammenhängende Sachverhalte aus. 23 Aus der semantischen Erhebung von »donation« resultieren folglich zwei für die Übersetzung ins Deutsche maßgebliche Bedeutungen: »Schenkung« und »Stiftung«. Ferner ist deutlich, dass alle zwei Ausdrücke, wie gesehen, eng einander verbunden sind. Ausgehend von diesen Beobachtungen ist man berechtigt, »Schenkung« als primäre Bedeutung von »donation« zu wählen. Übersetzt man »donation« unter sprachmorphologischer Hinsicht ins Deutsche, erhält man das ungewöhnliche, da nur in Komposita auftretende Wort »Gebung«. »Donation« ist zunächst ja ein durch das Suffix »-tion« nominalisiertes Verb (»donner«) oder, anders gesagt, ein deverbales Nomen. 24 Dieser verbale Ursprung zeigt, dass das Nomen »la donation« auf den Akt des Gebens abzielt. Entsprechend bewahrt auch das deutsche Wort »Gebung« 25 seine deverbale Basis und impliziert weiterhin den im Verb ausgedrückten Akt. »Donation« ist folglich mit »Gebung als Schenkung« treffend übersetzt. »Gebung als Schenkung« ist als adäquate Übersetzung von »donation«, dieses für die dritte Werkphase Marions entscheidenden Begriffes, festzuhalten. 26 (Code civil, art. 894). Aliénation (à titre gratuit), disposition, don, libéralité.« (Le Grand Robert de la langue Française, Bd. III, 626). 21 Vgl. ebd., 22 Vgl. ebd., 23 Vgl. Wahrig. Wörterbuch der deutschen Sprache, 881. 24 Vgl. »-tion […] Sous la forme –ation [empr. au lat. –ationem] elle a presque complètement évincé la forme pop. –aison […], c’est le suffixe nominale le plus productif en français contemporain. Il sert surtout à faire des noms d’action à partir des verbes (notamment de verbes en –iser).« (Grevisse, M. Le bon usage. Grammaire française, 217). 25 Vgl. Duden Die Grammatik Bd. 4, 378. 26 Diese Übersetzung findet ihre Unterstützung durch Depraz, N. Gibt es eine Gebung

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Was bedeutet »donation«?

Bei gelegentlichen Übersetzungen von »donation« mit deutsch »Gegebenheit«, oder englisch »givenness« 27 gilt es kritisch zu sein. Denn dabei dreht man einfach Marions Übersetzung des Husserlschen Terminus’ »Gegebenheit« mit »donation« zurück und übergeht seine Relecture der Phänomenologie Husserls. Diese beansprucht keine übersetzungstechnische Exaktheit, sondern beruht auf einem noch darzustellenden Argumentationsgang, an dessen Ende Husserls Begriff »Gegebenheit« als »Gebung« bzw. »donation« erst zu deuten sein wird. 28 Übersetzt man »donation« ad hoc mit »Gegebenheit«, dann wären nicht nur diese Überlegungen verkannt. Überdies wären allein unter akrobatischen Interpretationen die Zusammenhänge erklärlich, die zwischen Marions Phänomenologiekonzept und seinen früheren theologischen Schriften bestehen. Nur mit Mühe ließe sich ferner der kritische Beitrag der »Phénoménologie de la donation« zu den kulturwissenschaftlichen Gabeakttheorien deuten 29 , wenn man »donation« mit »Gegebenheit« übersetzt.

des Unendlichen?, 117, Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 175, ders. Mehr Reduktion, mehr Gebung. Zur Diskussion eines phänomenologischen Prinzips bei JeanLuc Marion, 73–114., R. Funks Übersetzung: Marion, J.-L. Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung, 103. In der angelsächsischen Rezeption scheint kein klarer Konsens zu bestehen, wie »donation« zu übersetzen sei. Signifikant dafür ist, wenn Caputo in einem Satz mindestens drei Ausdrücke verwendet: Vgl. »The difference shows up clearly in their differing interpretations of the gift, which for Marion is an event of saturating givenness, an event of donative excess or of gifting which so catches up both giver and recipient in its dazzling dynamics that they are not to be regarded as the causal agents of the gift but rather as the scene of ist impossible gifting or self-giving.« (Caputo, J. D.; Scanlon, M. J. Introduction. Apology for the Impossible: Religion and Postmodernism, 8, Hervorh. / T. A.). 27 Vgl. die Übersetzungen J. Wohlmuths: Marion, J.-L. Eine andere erste Philosophie und die Frage nach der Gegebenheit, 13, Wohlmuth, J. Chalkedonische Christologie und Metaphysik, 342, Anm. 29. R. Kühn scheint keine klare Entscheidung darüber getroffen zu haben, wie »donation« zu übersetzen sei. Einmal spricht er von »Gegebenheit«, dann von »Gebung«, schließlich von »sich-gebende [r] Gegebenheit«: Vgl. Kühn, R. Rez. Jean-Luc Marion, Réduction et Donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, 402–407, ders. Mehr Reduktion, mehr Gebung. Zur Diskussion eines phänomenologischen Prinzips bei Jean-Luc Marion, 73–114, ders. Langeweile und Anruf. Eine Heidegger- und Husserlrevision mit dem Problemhintergrund »absoluter Phänomene« bei Jean-Luc Marion, 148. 28 Allein unter dieser Voraussetzung berechtigt sich die Marionsche Übersetzung von »Gegebenheit« mit »donation«. Klammert man jedoch die Argumentation Marions aus, dann würde der gegen die Übersetzung von Husserls »Gegebenheit« mit »donation« gerichtete Vorwurf seitens Janicauds greifen: »la notion de donation y reste surinvestie, d’une manière qui fait particulièrement difficulté quand elle est rétrospectivement projetée sur des traductions de Husserl et Heidegger.« (Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 55, vgl. ebd., 58). 29 Vgl. v. a. ED 115 ff., Kap. 5.5.

23 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht

Linguistisch korrekt hätte Marion Husserls »Gegebenheit« (ein aus dem Partizip »gegeben« abgeleitetes Nomen) mit »la donnée« (oder dem semantisch allgemeineren Neologismus »la donnéité«) übersetzen müssen, weil hierin der partizipiale Stamm (»donné«) wie in »Gegebenheit« erhalten geblieben wäre. 30 Dabei ist zu beachten, dass ein Partizip wie »gegeben« bereits ein quasi zum Adjektiv geronnenes Verb darstellt. Aus linguistischen Erwägungen legt sich also für die Übersetzung von »Gegebenheit« eine deverbale Ableitung wie das französische »donation« gerade nicht nahe. Denn das deutsche Suffix »-heit« eignet sich ausschließlich zur Substantivierung von Adjektiven oder Partizipien, nicht aber für Verben. 31 Deutsch »Gegebenheit« würde deshalb besser »la donnée« entsprechen, weil das französische Suffix »–ée« meistens das Resultat eines Aktes bezeichnet. 32 Genau ein solcher resultativer Aspekt liegt aber wie in jedem Partizip so auch im departizipialen Nomen »Gegebenheit« vor. Das »Wörterbuch der deutschen Sprache. Wahrig« vermerkt unter »Gegebenheit« entsprechend: »Tatsache, feststehender Sachverhalt, vorhandener Zustand.« 33 Der Unterschied zwischen »Gegebenheit« und »donation« ist somit unter semantischen und sprachmorphologischen Gesichtspunkten unabweisbar.

1.3 »Gebung« als Schlsselbegriff Marionschen Denkens Der in seiner dritten Schaffensphase zentrale Terminus »donation« ist für Marion nicht neu. Bei näherem Zusehen fällt auf, dass Marions Argumentation in allen Werkabschnitten mehr oder weniger ausdrücklich um Begriff und Sinn von »Gebung als Schenkung« (»la donation«, »le don«, »s’adonner«, »donner«) kreist. Ein erster Durchblick macht vor allem deutlich, dass »Gebung« in Marions theologischen Reflexionen beheimatet ist. In einem frühen Streitgespräch mit dem sich als neoheidnisch, ja rechtsextrem verstehenden Atheisten A. de Benoist äußert der Student Marion folgende ›Kurzformel des Glaubens‹ : »… la suprême force de Dieu réside dans la faiblesse totale que manifeste le don total que Dieu fait de sa personne aux hommes pour que les hommes puissent en retour se donner à Dieu.« 34 Damit ist Marions Vorhaben, Vgl. Grevisse, M. Le bon usage. Grammaire française, 211. Vgl. Duden. Die Grammatik Bd. 4, 378 ff. 32 Vgl. Grevisse, M. Le bon usage. Grammaire française, 21. 33 Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache, 382. 34 Marion, J.-L., Benoist, A. de Avec ou sans Dieu? L’avenir des valeurs chrétiennes, 58. (Hervorh. / T. A.). 30 31

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den Begriff »Gebung« in der theoretischen Selbsterfassung des christlichen Glaubens einzusetzen, vorgezeichnet. In der Tat entfalten die theologischen Schriften die Mitte des christlichen Glaubens als ein Gebungsgeschehen. Gottes Selbstoffenbarung am Kreuz ist als unbedingte, voraussetzungslose Gebung an den Menschen zu verstehen: »La kénose ne met aucune condition à se révéler, parce qu’en cette révélation elle se donne, et ne révèle rien que ce don inconditionné.« 35 Das innertrinitarische Leben Gottes wird als Sich-Geben und Sich-Empfangen vom je anderen her dargestellt: »Il [sc. le Christ] ne reçoit en fait, dans l’infini sans dimension qui le comble, que la donation et la donabilité du don. Pour autant qu’il s’enfonce dans une désertique pauvreté […] le Fils se reçoit immédiatement comme Fils, en recevant, dans cette condition même, la donation du don, donné en toute antériorité paternelle, comme tel.« 36 Ferner treten die von der Offenbarungsgabe getroffenen Zeugen in die Nachfolge Christi ein, indem sie einander sich selbst geben. Das Urbild kirchlichen Lebens stellt sich als Geschehen interpersonaler Selbstgebung dar und entsprechend ist der paulinische Traditionsbegriff nach 1 Kor 11, 23–25 auszulegen: »Chacun devient l’interprète (et non le livreur) du don, le transmet à la mesure où il l’accueille, et l’accueille à la mesure où il se fait lui-même don. Interprète et non livreur du don, l’homme peut et doit le rejouer et le performer à nouveau, en marquant de son caractère un don qui ne demeure inaltérable qu’autant que chacun le réinterprète fidèlement.« 37 Schließlich wird im Sakrament der Eucharistie die Offenbarungsgebung nachvollzogen und das ID 264. Über den Zusammenhang mit der Offenbarung erweist sich »Gebung« als eng verbunden mit dem theologischen Gnadenbegriff: Vgl. »G.[nade] ist primär der gnädige dreifaltige Gott selbst in seiner überströmenden, sich verschenkenden Liebe (ungeschaffene G.[nade]). In seinem universalen Heilswillen, der sich in der Gesch. [ichte] offenbart, hat er den Menschen v.[on] Anfang an z.[ur] Gemeinsamkeit mit sich bestimmt, um ihm nicht etwas zu schenken, sondern um ihm an sich selbst, an seinem göttlichen Leben, teilzugeben.« (Faber, E-M. Art. Gnade, VI. Systematisch-Theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, 780). Während im Gnadenbegriff aber lediglich die Beziehung zwischen Gott und Mensch thematisch ist, weist »Gebung« innertrinitarische, ekklesiologische und sakramentale Komponenten an sich auf. Vgl. dagegen die nach Meinung R. Horners restlose Übereinstimmung von »Gnade« und »Gebung«: »In christian theology, the way in which the relationship between God and human beings is accomplished is frequently described as gift. It is God’s self-gift that initiates this relationship, facilitates it, and enables it to be sustained. This is the meaning of grace.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, IX). 36 ID 214. 37 ID 206 f. 35

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kirchliche Leben aufgebaut: »La présence eucharistique doit s’entendre à partir certes du présent, mais le présent doit s’entendre d’abord comme un don qui se donne.« 38 Folgt man Marions theologischen Arbeiten, so bündelt sich im Begriff »Gabe«, genauer aber noch in »Gebung« (weil in allen Fällen ja auf den Gabeakt abgehoben wird) die dem christlichen Glauben eigene ›Integrallogik‹. Anders gesagt: Von der »donation« / »Gebung als Schenkung« her ist das Wesen des christlichen Glaubens verständlich zu machen. Zwar hat der Gebungsbegriff seinen werkgeschichtlichen Ursprung in Marions theologischen Studien. Vielleicht lässt sich dieser aber als Schlüssel zu Marions Philosophie insgesamt plausibel machen. Wenn auch in den Descartesinterpretationen Begriff und Bedeutung von Gebung nur versteckt vorliegen, ist zumindest deren implizite Funktionalität dort nicht zu übersehen. So gesehen steht Descartes vor der Entscheidung, sich gegenüber der Einsicht, die Wirklichkeit sei gegeben, entweder zu öffnen oder zu verschließen. Indem, wie Marion in OG darlegt, die »Regulae« Descartes’ die aristotelische Metaphysik ablösen wollen, verweigern sie sich der Gebung von Wirklichkeit. Descartes’ Begriff von Wirklichkeit hängt allein von der Erkenntnisleistung des Subjekts (»mens«) ab. Der von Descartes in diesem Zusammenhang herangezogene Terminus »Obiectum« (»objet«) steht aber der aristotelischen »ousia« (»chose«) entgegen, der ein Wirklichkeitsverständnis im Sinne der Gebung zu eigen war: »[…] de la chose à l’objet, la différence n’est pas tant de »contenu« que justement d’un contenu appréhendé et construit par l’esprit avec un étant qui se donne essentiellement à voir à partir de lui-même.« 39 Anders ist Descartes’ Verhältnis zur Wirklichkeitsgebung nach dessen (von Marion in TB behandelter) Lehre von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten zu bestimmen. Unbeschadet einer bleibenden Ambivalenz in seiner weiteren Denkentwicklung bezeugt Descartes hier, dass das menschliche Denken von einem Staunen vor der Gebung ausgeht. »Il [sc. die Paradoxie Descartes’] indique surtout […] que l’infini ne se donne à penser qu’en se refusant à la compréhension, ne se révèle qu’en se dissimulant dans l’éblouissement même de son éclat sans envie.« 40 38 39 40

DsE 241 f.,vgl. PC 159. OG 187. (Hervorh. / T. A.). TB 456.

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Gegenüber der Cartesischen Ambivalenz hinsichtlich eines gebungsoffenen und gebungsverschlossenen Wirklichkeitsverständnisses bot nach Marions damaliger Auffassung allein Pascal und sein ›Denken der dritten Ordnung‹ ein kohärentes Gebungsdenken: »L’ego, où s’assurait la métaphysique, doit se perdre – ou mieux se donner – pour se recevoir dans le troisième ordre.« 41 Die Tatsache aber, dass Gebung nach Pascal allein in einem von weltlicher Rationalität getrennten Kontext denkbar ist 42 , stellt Marion später als Aporie heraus. 43

Es legt sich somit nahe, auch Marions Descartesinterpretationen unter das Zeichen von Gebung zu stellen. Wenn aber der Gebungsbegriff auch in diesem Zusammenhang virulent ist, dann scheint es begründet, die Philosophie Marions insgesamt als Denken der Gebung zu interpretieren. 44 Der Begriff »Gebung« bestimmt das ganze Œuvre Marions und hält es wie ein Prisma zusammen. 45 Weil der Gebungsbegriff ursprünglich aber der theoretischen Selbsterfassung des christlichen Glaubens dient, verweist sein ubiquitäres Auftreten im Œuvre Marions auf dessen durchgängiges Interesse an Theologie. Über die Beschäftigung mit Descartes rückt Marion den Gebungsbegriff erstmalig aus seinem binnentheologischen Kontext und stellt ihn in den Bereich allgemeiner Rationalität hinein. Aufgrund der hier auftretenden Übergängigkeit in der Bedeutung von Gebung greifen Marions Studien zu Descartes auf die »Phénoménologie de la donation« vor. 46 PM 355. Vgl. Schmidt-Biggemann, W. Art. Blaise Pascal, in: Philosophenlexikon, 658–665, hier: 663. 43 Vgl. z. B. »Ich denke […], dass der Glaube eine Logik hat, gegliedert ist und eine Rationalität besitzt. Der Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft, wie ihn Pascal sieht, scheint mir vollkommen verheerend zu sein. […] Es gibt nun aber eine Phänomenalität der Offenbarung, die in gegliederter Weise begrifflich und diskursiv beschrieben werden muss.« (Wohlmuth, J., Marion, J.-L. Ruf und Gabe Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, 45). 44 Begriff und Bedeutung von Gebung bestimmen auch literarische Seitenproduktionen Marions, wie aus seinem Beitrag zur französischen Comicfigur Tintin hervorgeht. Vgl. »[…] si Tintin opère une réduction du monde à ce qui se donne pour en constituer le sens, il ne lui appartient pas, puisqu’il l’ouvre. Il voit donc venir le monde, le recevoir, et le voir sans en être.« (Marion, J.-L. Tintin le Terrible, 20). Auch in Marions jüngster Publikation ist die Gebungsthematik an zentralen Stellen anzutreffen. Vgl. Marion, J.-L. Le Phénomène érotique. Six Meditations, z.B: 41, 316, 333). 45 Vgl. ähnlich: »For Marion in particular, the question of givenness guides, to some extent, all of his work.« (Lopez, A. Rez. Etant Donné. Essai d’une phénomenologie de la donation, 853). 46 Das Verhältnis zwischen »Descartes« und der »Phénoménologie de la donation« ist von der Unmöglichkeit Marions her zu verstehen, den ganzen Descartes ›auf die Linie 41 42

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In seiner dritten Werkphase, die mit RD eingeleitet wird, argumentiert Marion für die Gebung der Wirklichkeit auf dem Weg der Phänomenologie: »Phénoménologie de la donation«. Der Begriff »Gebung«, der ursprünglich in der theoretischen Selbsterfassung des christlichen Glaubens beheimatet war, wird hier explizit in den Kontext der Philosophie gestellt. 47 So ergibt sich hinsichtlich der »Phénoménologie de la donation« aber eine Dynamik, die der Fundamentaltheologie vergleichbar ist, insofern man darunter jene Disziplin zu verstehen hat, in der der Glaube an die christliche Offenbarung vor der allgemeinen Rationalität verantwortet werden soll. Um den hier nur angedeuteten Zusammenhang von Marions phänomenologischen Studien und der Fundamentaltheologie klarer vor Augen zu bekommen, ist vorerst die im Marionschen Œuvre bestehende Funktionswandlung des Begriffes »donation« genauer zu verfolgen.

1.4. »Phnomenologie der Gebung« als philosophisch-theologischer Neuanfang Das Denken Marions liegt keinesfalls als eine in sich konsistente Systematik vor. Obwohl Begriff und Bedeutung von »Gebung« darin der Gebung‹ zu bringen. Einerseits hat Marions Beschäftigung mit Descartes etwas von einer Obsession: »Encore et toujours Descartes, comme si cette œuvre pourtant sobre et sans surabondance se démultipliait à mesure que l’on y progresse.« (QC II, avant-propos). Andererseits verbergen die diese Arbeiten jeweils abschließenden »conclusions« nur schlecht das Gefühl einer ›Enttäuschung‹. Entsprechend fallen Marions Schlussurteile zu Descartes entweder negativ (OG 179 ff.) aus, diagnostizieren eine Pattsituation (TB 427 ff.), oder aber sie rekurrieren auf B. Pascal, der Gebung denkbar machen sollte (PM 293 ff.). Worin liegt die von Marion jeweils konstatierte Sperrigkeit der cartesischen Philosophie? Wohl nicht nur darin, dass aus Descartes’ Denken insgesamt keine philosophische Systematik zu eruieren ist. (Vgl. QC II, avant-propos). Vielmehr scheint mit Descartes kein kohärentes Denken von Gebung begründbar zu sein. Die »Phénoménologie de la donation« scheint dem gegenüber einlösen zu wollen, was Marion mit Descartes kaum und mit Pascal nur auf Kosten der Rationalität gelang: Dort begründet Marion dezidiert die Gebung von Wirklichkeit in einer philosophischen Argumentation. (Zum Konflikt zwischen »Descartes« und »Phénoménologie de la donation«: Vgl. Gabellieri, E. De la métaphysique à la phénoménologie: une »relève«?, 641). 47 Vgl. »Or il se trouve que la donation, à côté de ses ambiguïtés phénoménologiques peut recevoir un (ou plusieurs) traitement conceptuel: en particulier en théologie (ainsi L’idole et la distance en traçait déjà l’ésquisse à partir de H. U. von Balthasar, c.III, 4), mais aussi en stricte philosophie.« (Marion, J.-L. Réponses à quelques questions, 69), ähnlich: On the Gift. A Discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion, Moderated by Richard Kearney, 56.

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zentral sind, ist gerade an dessen theoretischer Behandlung durch Marion ein Bruch zu beobachten. Bei der Frage nach der Bedeutung dieses Bruches ist ein flüchtiger Blick auf die Denkentwicklung dreier Philosophen aufschlussreich, unter deren besonderem Einfluss das Werk Marions steht: E. Lévinas, M. Henry, J. Derrida. Im Vergleich mit ihnen konturiert sich eine strukturelle Novität des Marionschen Œuvres: Marion legt erst sehr spät, ja wie in einem Nachtrag 48 , seine phänomenologische Grundlagenschrift (»Réduction et Donation«) vor, in der er die direkte Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger eingeht. Die dabei in den Vordergrund gestellte Gedankenfigur »Gebung« lag ihm aber schon vor, hatte sie ihren festen Platz doch längst in seinen früheren theologischen Studien. Erstens: Lévinas. 49 Lévinas wird zunächst mit einer Arbeit über den Intuitionsbegriff bei Husserl promoviert (1930). Anschließend folgen drei Studien, in denen er eine phänomenologische Kritik der Ontologie Heideggers vorlegt. 50 Lévinas profiliert dort das Dasein bzw. Subjekt neu, indem er dessen von Heidegger nahegelegte Vernetzung in die Seinsgeschichte unterläuft. Im Gegensatz dazu bestimmt er das Verhältnis zum anderen Menschen als die (vor-) ursprüngliche Phänomendimension, die dem Sein und seiner Geschichte vorausliegt. Auf der Basis dieser phänomenologiekritischen Arbeiten entsteht dann, wenn auch aufgrund der Kriegswirren u. a. mit einer gewissen Verzögerung, das erste Hauptwerk Lévinas’: »Totalité et Infini« von 1961. Der Grundgedanke dieser Arbeit, in der Lévinas das Geschehen zwischen dem Selbst und dem Anderen als Ausbruch aus dem abendländischen Totalitätsdenken entwirft, lässt sich klar auf seine frühere phänomenologische Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger zurückverfolgen. Zweitens: Henry. 51 Die zweibändige Doktorarbeit Henrys »L’esVgl. v. a. »Les recherches dont nous présentons ici le résultat […] gardent un lien, indirect, mais sans doute nécessaire, avec des travaux plus anciens qui, sans le savoir, les présupposaient.« (RD I., Hervorh. / T. A.). 49 Vgl. die Grundfrage, die Marion an Lévinas richtet: »en quoi Lévinas appartient-il à la phénoménologie et l’a-t-il profondément modifiée?« (Marion, J.-L. Avant-Propos, VI). 50 V. a. »De l’existence à l’existant« (1947), »En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger« (1949), »Le temps et autrui« (1947), vgl. Strasser, S. Lévinas, E. Ethik als erste Philosophie, 220. 51 Vgl. »… Marion names Henry one of his greatest influences.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, 94), ähnlich: Kühn, R. Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, 142. 48

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sence de la manifestation« (1963) bietet ebenfalls eine massive Kritik an der bisherigen Philosophie. Henry kritisiert dabei unter anderem Husserl und Heidegger, in deren Konzeptionen sich die abendländische Vorstellung eines transzendenten Seins wiederhole. Doch werde dabei die primäre Innerlichkeit des Subjekts vergessen, die am Ursprung des Erscheinens stehe. Aufgabe der Phänomenologie müsse deren theoretische Erschließung sein. Nach Henry sind darum die Ansätze Husserls und Heideggers durch eine Phänomenologie des radikal immanenten, sich selbst affizierenden Lebens zu ersetzen. 52 Henrys phänomenologischer Auseinandersetzung mit (unter anderem) Husserl und Heidegger folgt dann jene Untersuchung zu Maine de Biran, an deren Titel sich das Programm seiner Philosophie ablesen lässt: »Philosophie et Phénoménologie du corps« (1965). Insgesamt kann man sagen, dass dem Grundgedanken dieser Studie, in der Henry die Selbstaffektion des Leibes als originäre Dimension des Phänomens entwirft, eine Revision bisheriger Phänomenologie vorausgeht. Drittens: Derrida. Die biobibliographische Linie im Werk von Lévinas und Henry ist auch bei Derrida nachzuweisen. Derrida schließt sein Studium mit der Arbeit »Le problème de la genèse dans la philosophie de Husserl« (1954/59) ab. Daraufhin erscheint seine kommentierte Übersetzung von Husserls »Vom Ursprung der Geometrie« (1962), in der sich bereits Derridas Kritik am Präsenzideal der Husserlschen Phänomenologie ankündigt. 53 In »La voix et le phénomène« (1967) legt Derrida dann ausführlich argumentierend dar, wie die Phänomenologie Husserls insgesamt vom Ideal präsentischer Anschauungen motiviert ist und auf der Verdrängung eines anderen, ursprünglicheren Phänomenbereichs aufruht: dem Anzeichen (l’indice), der Spur, der différance. Nach Derridas Auffassung ist damit die »différance«, oder, negativ formuliert, die »Unmöglichkeit eines ersten und absoluten Anfangs der Philosophie« 54 in jeder phänomenologischen Reflexion ernstzunehmen. Sie bildet des Weiteren den Dreh- und Angelpunkt für seine poststrukturalistische Hermeneutik. Dieser Grundgedanke wird dann in »De la Grammatologie« (1967) entfaltet, der vielleicht einzigen Schrift, die programVgl. z. B. die gegen Heidegger gerichtete Kritik »L’immédiat est l’être lui-même comme originairement donné à lui-même dans l’immanence.« (Henry, M. L’essence de la manifestation, Bd. 1, 344). 53 Vgl. Letzkus, A. Dekonstruktion und ethische Passion, 68. 54 Ebd., 69. 52

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matische Funktion für Derridas Poststrukturalismus haben könnte. 55 Hervorzuheben ist nun aber, dass Derrida immer wieder selbst betont, sein Denken gehe auf die ursprüngliche Auseinandersetzung mit Husserl zurück. 56 Im philosophischen Entwicklungsverlauf von Lévinas, Henry und Derrida hält sich ein ziemlich konstantes Muster durch. Zuerst beschäftigen sich alle drei Denker kritisch mit Husserl und Heidegger, wobei im Zentrum ihrer jeweiligen Argumentation die Revision bisheriger Phänomenologie steht. Daraufhin wird eine eigene phänomenologische Konzeption aufgestellt, die sich gegen ihre Vorläufer absetzt und diese unter anderem als der »Metaphysik« zugehörig denkt. 57 Im Unterschied zu Lévinas, Henry und Derrida geht Marion die Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger erst an, nachdem bereits eine stattliche Vorarbeit geleistet war. Der im Zentrum seiner Phänomenologiekritik aus »Réduction et Donation« stehende Gebungsbegriff war ja, wie gesehen, bereits in seinen theologischen Werken etabliert. So erschließt Marion in der Mitte seines Schaffens das philosophische Register einer ursprünglich rein theologischen Gedankenfigur und Problematik. Der Begriff »Gebung« ermöglichte zunächst lediglich die theoretische Erfassung des christlichen Glaubens. Nun will Marion »Gebung« aber im Kontext der Philosophie bewahrheiten. Schon von dieser oberflächlichen Sicht her legt sich nahe, eine theologisch-philosophische Wende im Denken Marions anzunehmen. Wodurch ist aber eine solche Wende motiviert? Im kritischen Rückblick auf sein theologisches Frühwerk beantwortet Marion 1991 – also zwei Jahre nach Erscheinen von RD – diese Frage so: »Dans les deux premiers parcours la transgression du point d’arrivée non-métaphysique […] s’appuyait sur des données Vgl. »In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, dass es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die Différance, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.« (Derrida, J. Grammatologie, 114). 56 Vgl. »In seinem Interview mit Henri Ronse bemerkt Derrida selbst, daß von dem Standpunkt philosophischer Architektonik sein Buch Die Stimme und das Phänomen an erster Stelle komme, und zwar gerade im Hinblick auf Husserls transzendentale Phänomenologie.« (Strasser, S. Von einer Husserl-Interpretation zu einer Husserlkritik. Nachdenkliches zu Jacques Derridas Denkweg, 131). 57 Der Begriff »Metaphysik« wird oft gegen Heidegger und Husserl vorgebracht: V. a. »Metaphysik der Transzendenz« (Henry), »Metaphysik der Präsenz« (Derrida). 55

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externes, admises par hypothèses ou plutôt reconnues comme des positions. Ce privilège reste pourtant ambigu: s’il accorde un point d’arrivée, il ne le concède qu’en admettant un fait accompli (de l’histoire ou de la croyance), sans le rendre accessible de droit; la pensée reste donc en situation d’hétéronomie et de sujétion, puisqu’elle doit importer les résultats d’une évidence qu’elle ne peut assurer directement.« 58 Marion betont in dieser Stellungnahme einen philosophischen Mangel seiner bisherigen Arbeiten zur Theologie. Andererseits postuliert er, dass RD den theoretischen Rechtsgrund (»de droit«) für jene theologische Schriften zu legen intendiere. Anders formuliert: In den (theologischen) Frühwerken lag die Gebungsthematik zwar schon vor, sie wurde dort aber nicht in einer philosophischen Argumentation aufgewiesen. Das Denken konnte Gebung nur nachvollziehen, indem es sich selbst einem ihm heteronomen Bereich (»la croyance«) unterwarf (»sujétion«). Dieser Mangel wurde in »Réduction et Donation« aufgehoben. Das Denken selbst gibt sich hier nun direkte Rechenschaft über den Gebungsbegriff (»assurer directement«). 59 In der Verwendung des Begriffes »Gebung« zeichnet sich offensichtlich eine Entwicklung ab, die klar die theologischen Ambitionen eines in der säkularen Öffentlichkeit Frankreichs stehenden Philosophen indiziert: Denn dieser Terminus entstammt einer eher privaten, binnentheologischen Reflexion (Frühwerk), wo er der theoretischen Selbsterfassung des christlichen Glaubens dient. Dann wird er quasi subkutan zur Leitidee philosophiegeschichtlicher Untersuchungen (Descartes). Schließlich kommt »Gebung« zur expliziten Anwendung in einer autonomen, zeitgenössischen Weise des Philosophierens (Phänomenologie). 60 Dass seine theologische Herkunft auch Marion, J.-L. Réponses à quelques questions, 67 (Hervorh. / T. A.). Vgl. »Heute würde ich nicht mehr so vorgehen, denn mich interessiert es jetzt viel mehr, zu einer begrifflichen, rationalen Denkweise der Liebe oder der Nächstenliebe zu gelangen.« (Wohlmuth, J.; Marion, J.-L. Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, 52). Diese Neubewertung von Rationalität wird auch in Marions jüngster Publikation sichtbar: »L’amour relève d’une rationalité érotique.« (Marion, J.-L. Le phénomène érotique, 15). 60 Im philosophischen Bereich war der Begriff »don« bzw. »donation« durch die an Hegel angelehnte ›Ontodologie‹ C. Bruaires (1932–1986) vorbereitet. Ein Vergleich zwischen Marion und Bruaire ist äußerst instruktiv. Für das Werk beider Sorbonneprofessoren spielt deren katholische Konfession eine eminent wichtige Rolle. Beide entwickeln eine Konzeption, in der das Sein als Gabe verstanden wird. In der Konsequenz dieser Ansätze liegt jeweils eine Reflexion, die dem Anspruch nach fundamentaltheolo58 59

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hier noch prägend ist, wird vor allem daran sichtbar, dass die christliche Offenbarung innerhalb dieses Kontextes als Denkmöglichkeit neu erwiesen wird. 61 In der werkgeschichtlichen Bewegung des Gebungsbegriffes markiert sich also eine Wende. 62 Dieser Begriff, mit dem Marion ursprünglich die Mitte des christlichen Glaubens deutete, wird in der »Phénoménologie de la donation« 63 vor der autogisch zu nennen wäre. Vgl. zusammenfassend: Kühn, R. Französische Reflektions- und Geistesphilosophie, 157 ff., Leduc-Fayette, D. Claude Bruaire 1932–1986, 5–19. 61 Dieses Bemühen Marions ist erkennbar seit: Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 79– 128, dann explizit in: ED 325 ff. und zuletzt in: DS 148 ff. 62 Bislang scheint diese Wende in der deutschen Rezeption Marions nicht beachtet worden zu sein. Vgl. Eckholt, M. Eine theologische Wende? Entwicklungen in der französischen Philosophie, 265, Specker, T. Einen anderen Gott denken. Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, 65 (Anm. 255), 60 ff., 75 ff. (Entgegen der dort vorgenommenen Synthese von Marions frühem und späten Denken sagt Specker später selbst: »Die Interpretation des Wortfeldes von Gabe und Hingabe, die das gesamte christologische Kapitel [sc. in L’idole et la distance] durchzieht, baut auf der Deutung des Gabebegriffs in den früheren, theologisch orientierten Schriften auf. Inwiefern sie angesichts der Weiterentwicklung zum Thema der ›donation‹ in den phänomenologischen Schriften und angesichts der Kritik des Gabebegriffes in ED noch haltbar ist, wäre eigens zu prüfen.« (Ebd. 314, Anm. 502)). In der angelsächsischen Rezeption scheint man den hier affirmierten Bruch hingegen weitgehend erkannt zu haben. Vgl. z. B. »A profound shift of thought between his early work and its later development is evident.« (Ward, G. The theological project of Jean-Luc Marion, 232, vgl. 237). Vgl. »One finds this more theological Marion in God without Being and The Idol and Distance. On the other hand […] Marion is a philosopher who is highly indebted to phenomenology.« (Benson, B. E. Graven ideologies. Nietzsche, Derrida & Marion on modern idolatry, 189. Benson hält aber selbst diese Trennung nicht vollständig durch: Vgl. z. B. ebd., 169, 191 ff., 213). Schließlich: Horner, R. Rethinking God as Gift,105 ff. Sehr deutlich wurde in den Niederlanden die Marionsche Wende wahrgenommen. So trifft van den Bossche die klare Unterscheidung zwischen »Marion I« und »Marion II«: Vgl. Bossche, S. van der God does appear in immanence after all. Jean-Luc Marion’s Phenomenology as new first philosophy for Theology, 326 ff. 63 In der vorliegenden Arbeit wird »Phénoménologie de la donation« mit »Phänomenologie der Gebung« übersetzt, obwohl der Neologismus »Gebung« zunächst irritiert. Doch erwiesen sich die Alternativen dazu vor allem mit Blick auf eine lebendige Marionrezeption als wenig geeignet. Erstens: »Phänomenologie der Donation.« Leider ist das deutsche Fremdwort »die Donation« nur wenig verbreitet. Und so erweist sich eine Übersetzung von »donation« ins Deutsche als unumgänglich. Zweitens: »Phänomenologie des Gebens, Schenkens, Sich-Gebens.« Weil der deutsche Begriff »Phänomenologie« nicht mehr wie in Frankreich mit der strengen Erkenntnistheorie Husserls verknüpft ist, würde man bei dieser Übersetzung an die interpersonalen Schenk- und Gabeakte denken, die einer phänomenologischen Deskription unterzogen werden sollten. Die interpersonalen Gabetheorien bilden aber lediglich einen Teilaspekt in der Marionschen Konzeption. Primär bezieht sich »donation« auf das freie Sich-Geben der Phänomene. Die Übersetzung mit »Schenkung« ihrerseits würde zu weit gehen, weil

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nomen Rationalität legitimiert, die sich dadurch zugleich aber auch als offen erweist für das Geschehen christlicher Offenbarung. Inwiefern Marion dabei einer fundamentaltheologischen Aufgabenstellung nachkommt, wird die in den kommenden Ausführungen leitende Fragestellung sein.

1.5. Die Philosophie J.-L. Marions als Fundamentaltheologie? These, ›Motivik‹ und Aufbau der Studie In der folgenden Untersuchung wird die oft unter dem Stichwort »theologische Wende der französischen Phänomenologie« 64 auch gegenüber Marion geäußerte Kritik in einer neuen Perspektive hinterfragt: Lässt sich jene »Wende« als plausibel nachvollziehen, wenn man sie in Beziehung zu der fundamentaltheologischen Problematik betrachtet, ob und wie sich das Ein-für-allemal der Offenbarung Jesu Christi vor dem Forum allgemeiner Rationalität verantworten lässt? 65 Marion mag diese Frage vielleicht nicht in expliziter Form stellen. Sein Denken ist, so die hier zentrale These, von ihr subkutan geleitet. Die Parallelität zwischen Marions »Phénoménologie de la donation« und der genannten, fundamentaltheologischen Fragestellung drängt sich dadurch auf, dass Marion dort, wie gesehen, für man damit in erster Linie das moderne bzw. der westlichen Kultur adäquate Schenken (frz. »offrir quelquechose à quelqu’un«) assoziieren würde. Darüber hinaus würde der Zusammenhang zur Husserlschen Gegebenheit und zu den Begriffen »le don« (die Gabe), »s’adonner à« (sich hingeben), »le donné« (das Gegebene) verblassen. Drittens: Theorie phänomenalen Gebens oder Sich-Gebens. Diese Übersetzung wäre inhaltlich zwar zutreffend, scheint aber auf Verständnisschwierigkeiten zu stoßen. Denn einerseits ist der Unterschied zwischen »phänomenal« (sich auf Phänomene beziehend) und »phänomenologisch« (sich auf die »Lehre von den Phänomenen« beziehend) zu wenig bekannt. Andererseits ist der Ausdruck insgesamt zu lang und umständlich. So scheint sich als letzte Möglichkeit nur der Neologismus »Phänomenologie der Gebung« nahezulegen. 64 Vgl. v. a. Janicaud, D. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 39 ff., Eckholt, M. Eine theologische Wende? Entwicklungen in der französischen Philosophie, »Phenomenology, which locates the possibility of the saturated phenomenon, is a kind of ›preamble‹ to revealed theology, which names and recognizes the saturated phenomenon as the God of Abraham, Isaac, Jacob and Jesus of Nazareth.« (Smith, J. K. A. Liberating Religion from Theology, 23). 65 Der von H. Verweyen vorgelegte Entwurf von Fundamentaltheologie war für die vorliegenden Ausführungen eine ausschlaggebende Inspirationsquelle. (Vgl. v. a. Verweyen, H. Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, 33 ff.).

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einen ursprünglich theologischen Begriff philosophisch argumentiert und eine rein philosophische Theorie der christlichen Offenbarung entwickelt. 66 Infolgedessen ließe sich der »Phénoménologie de la donation« der Versuch entnehmen, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus auf philosophischer Ebene zu explizieren. Das skizzierte Zueinander von Theologie und Philosophie entspricht aber der elementaren Aufgabenstellung der Fundamentaltheologie, in der es darum geht, Rechenschaft über den christlichen Glauben zu geben vor dem Forum universal nachvollziehbarer Rationalität. Will man das Denken Marions auf seine fundamentaltheologische Tragfähigkeit hin prüfen, dann muss man jedoch unter zwei Gesichtspunkten differenzieren. Erstens ist der französische Denker Marion keinesfalls als Fundamentaltheologe, sondern primär als säkularer Philosoph mit katholischem Bekenntnis zu verstehen. Gerade diese Verbindung schlägt sich jedoch, wie gesehen, in seinem Œuvre unübersehbar nieder. Zwar rekurriert Marion nur äußerst selten auf den Terminus »Fundamentaltheologie« 67 , was daran liegen mag, dass mit dieser Fachbezeichnung schnell ein obsoletes Gründungsdenken assoziiert wird. Insofern er sich unter anderem aber von der klassischen Apologetik distanziert 68 , ist es berechtigt, das Marionsche Denken auf das skizzierte Verständnis von Fundamentaltheologie zu beziehen, die ja ebenfalls ihren apologetischen Vorformen entwachsen ist. Zweitens: In Frankreich scheint sich mittlerweile eine im Unterschied zu Deutschland leicht veränderte Gestalt von Fundamentaltheologie entwickelt zu haben. Vielleicht lag dies an der Breitenwirkung laizistischer Gesellschaftsprinzipien. 69 Wenn aber auch in Frankreich das Verhältnis von Kirche und Staat nicht in einer Art Ähnliche Beobachtungen sind beim Versuch Marions zu erkennen, einen Begriff von »Liebe« zu entwickeln. So ist im Verhältnis der Monographien »L’idole et la distance« und »Le phénomène érotique« ein vergleichbarer Drift zu säkularer Rationalität hin auszumachen. »Le phénomène érotique« bietet eine allgemeine Phänomenologie der Liebe und schließt dadurch eine seit »L’idole et la distance« offen gebliebene Lücke. Vgl. »Ce livre m’a obsédé depuis la parution de L’idole et la distance, en 1977. Tout ceux que j’ai publiés ensuite portent la marque, explicite ou dissimulée, de cette inquiétude.« (Marion, J.-L. Le phénomène érotique. Six méditations, 22). 67 Vgl. z. B. »Si le Verbe n’intervient en personne qu’au moment eucharistique, l’herméneutique (donc la théologie fondamentale) n’aura lieu, n’aura son lieu que dans l’eucharistie.« (DsE 212, Hervorh. / T. A.), Marions Beitrag in: Gisel, P., Secretan, P. (Hrsg.) Analogie et Dialectique. Essais en théologie fondamentale, 17–49. 68 Vgl PC 71 ff., ähnlich: DsE 50. 69 In diese Richtung zielt Verweyen, H. Theologie im Zeichen der schwachen Vernunft, 66

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Einleitung: Das Denken J.-L. Marions in fundamentaltheologischer Sicht

›Teamwork‹ nach deutschem Muster geordnet ist: Grundsätzlich wird man der systematischen Theologie dort keine Zurückhaltung gegenüber fundamentaltheologischen Fragestellungen im umrissenen Sinne, als Glaubensverantwortung vor der säkularen Vernunft, bescheinigen dürfen. Die Ausgangsbedingungen der Fundamentaltheologie sind dort ja durchaus mit der deutschen Situation dieses Faches vergleichbar. Zunächst war auch jenseits des Rheins die traditionelle Apologetik eine bis in die 60er Jahre hinein selbstverständlich praktizierte Disziplin. 70 Die vom zweiten Vatikanum bestätigte »nouvelle théologie« mit ihren weltoffenen Parallelbewegungen führte dann zu ihrer Rekonstitution als »théologie fondamentale«. 71 Allerdings scheint heutzutage eine fundamentaltheologische Schieflage zwischen Deutschland und Frankreich eingetreten zu sein, insbesondere wenn man an die hierzulande entstandenen Ansätze von Verweyen, Pröpper u. a. erinnert. 72 Einerseits: Die deutsche Fundamentaltheologie nahm sich trotz kurzer Unterbrechungen immer wieder dem Fragen nach einer anthropologischen Ansprechbarkeitsstruktur für Offenbarung an. In kritischer Weiterführung von K. Rahners »Hörer der Wortes« suchte man, die christliche Glaubensaffirmation weiterhin philosophisch, d. h. vor der autonomen Vernunft zu verantworten. Zwar führte der Metzsche Ansatz zu einem vorübergehenden Stillstand fundamentaltheologischer Theorien. Jedoch ist seit Mitte der 80er Jahre ein Neuanfang in Deutschland zu verzeichnen. 73 Andererseits: In Frankreich scheint man sich die Überzeugung J. B. Metz’ völlig angeeignet zu haben, Fundamentaltheologie sei nur noch als »théologie fondamentale pratique« zu betreiben. C. Duquoc bringt die französische Situation dieser Disziplin entsprechend auf den Punkt. Zunächst stellt er fest, dass sich die Apologetik, d. h. die traditionelle Fundamentaltheologie erledigt habe. Diese suchte ja den Glauben obsoleter Weise in der Vernunft zu 18 ff., Marion in einem persönlichen Gespräch vom 07. 02. 05: »Le laïcisme est très dure dans ces principes, mais très souple dans le concret.« 70 Vgl. die Handbücher: Gardeil, A. La crédibilité et l’apologétique, Garrigou-Lagrange, R. De revelatione per ecclesiam catholicam proposita. Theologia fundamentalis secundum S. Thomae doctrinam; pars apologetica, Boulenger, A. Manuel d’Apologétique. 71 Vgl. v. a. Raffelt, A. Die Erneuerung der katholischen Theologie, 226 ff. 72 Vgl. hierzu: Pie-Ninot, S. La teologia fundamental, »Dar razón de la esperanza« (1 Pe 3,15), 157. 73 Vgl. z. B. Theobald, C. Der Weg der katholischen Theologie seit dem Zweiten Vatikanum, 193 f.

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begründen. Dann argumentiert Duquoc, dass sich die Frage nach dem Warum des Glaubens als Grundproblem einer institutionalisierten Wissenschaft nicht halten lasse, weil allein das befreiende Handeln die Bedeutsamkeit einer Religion legitimiere. 74 Fundamentaltheologie sei deshalb allein handlungsorientiert zu gestalten. Insofern das Denken Marions nun eine rein theoretisch-philosophische Verantwortung für das Ein-für-allemal der Offenbarung Jesu Christi zu leisten scheint, könnten der französischen Fundamentaltheologie über den Umweg dieses katholischen ›intellectuel‹ neue, wertvolle Perspektiven zugute kommen. Marions »Phénoménologie de la donation« könnte Ausdruck einer Art ›fundamentaltheologischer Renaissance‹ in Frankreich sein, die sich auf dem Terrain säkuVgl. Duquoc, C. Art. La théologie fondamentale pratique, 1080 f. V. Holzer stellt der Fundamentaltheologie, im Grunde genommen, kein wesentlich anderes Betätigungsfeld in Aussicht und plädiert deutlich für die fundamentaltheologische Integration einer geschichtsbewussten Hermeneutik: »La théologie fondamentale se dote par le fait même d’une épistémologie suffisamment intégrative et differenciée pour pouvoir penser la vérité d’une révélation qui se dise dans et en histoire. […] et c’est aussi en ce sens que la légitimité de l’herméneutique doit et peut être appréciée en théologie.« (Holzer, V. De l’ancienne apologétique au statut contemporain de la théologie fondamental. Entre histoire et interpretation, 85). Diese prinzipiell zwar zustimmungsfähige, jedoch angesichts der Unbedingtheit göttlicher Selbstmitteilung in Jesus Christus unkritische Behandlung von Hermeneutik fixiert fundamentaltheologische Studien dann auf die rationale Darstellung geschichtlicher Glaubenspraxis: »Du même coup, la théologie peut se concevoir comme une histoire raisonnée de la pratique de la foi au sein d’une communauté concrète […].« (ebd. 88, ähnlich Moingt, J. Un avenir pour la théologie, 609– 610). Interessant ist, dass Holzer jüngst Marion vorwirft, einem seiner Ansicht nach überholten Modell von Fundamentaltheologie anzuhängen und die in seinen Augen fundamentaltheologisch geforderte Hermeneutik der Glaubenspraxis zu unterlaufen. (Holzer, V. Phénoménologie radicale et phénomène de la révélation: Jean-Luc Marion, Etant Donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, 55–68. Darauf die Antwort Marions: Marion, J.-L. La banalité de la saturation, 179). Mit Blick auf fundamentaltheologische Entwürfe, die sich der philosophischen Hermeneutik im Anschluss an Gadamer verbunden wissen, ist ferner auf folgenden Punkt aufmerksam zu machen: Spätestens seit »Dieu sans l’être« ist bekannt, dass Marion nicht zum breiten Strom der Hermeneutik zu zählen ist. Im Titel dieser Monographie kündigt sich ja Marions Kritik an jeder Form von sprachphilosophischer Hermeneutik an. Konkret richtet sich diese an Derrida: »Dieu sans l’être« ist auch als »Dieu sans lettre« zu lesen und präsentiert immer auch eine bewusst gesetzte Kritik an Derridas Onto-Semiologie. Dass nicht in der Spur des Schriftzeichens, sondern in der des ›Kreuzzeichens‹ die tiefste Form von Rationalitätskritik liegt, betont Marion, wenn er die christliche Offenbarung dezidiert in einen Bereich ›hors Texte‹ einordnet. Vgl. DsE 225 ff., »He [sc. Marion] wants a hermeneutics free of the limits of hermeneutic situation, of hermeneutic conditioning.« (Caputo, J. D. How to avoid speaking of God. The violence of Natural Theology, 145).

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larer Philosophie schon seit Längerem zuträgt. 75 Vielleicht wäre in diesem Sinne zu verstehen, dass Marion in seiner dritten Werkphase die christliche Offenbarung konsequent vor der Philosophie verantworten will, schlägt er damit doch implizite Schneisen aus der Orientierung an geschichtlicher Praxis, in der sich die französische Fundamentaltheologie festgefahren hat. Die vorliegende Studie möchte den deutschen Rezeptionsprozess des Marionschen Denkens fortsetzen, der nach nur sporadischen Publikationen erst mit der Untersuchung von Tobias Specker 76 richtig begann. Wie es sich bei der Beschäftigung mit lebenden Gelehrten auf besondere Weise nahelegt, ist diese Rezeption als kritischer Dialog zu gestalten. Ferner gilt es, den Kultur- und Sprachraum zu berücksichtigen, in dem sich die Philosophie Marions bewegt. Ohne einem schematischen Kulturpositivismus zu huldigen, hat der Interpret seinen eigenen Standort, als einen deutschen, bewusst vor Augen und weiß um die kulturelle Differenz des zu behandelnden Materials. 77 Andere Beiträge, wie die M. Henrys, C. Bruaires, J.-L. Chrétiens etc. wären ebenfalls in diesem Sinne zu überprüfen. Beschäftigt man sich mit französischer Fundamentaltheologie, dann wären also immer auch die ›christliche Philosophien‹ zu berücksichtigen, die im laizistischen Frankreich seit E. Gilson zunehmend Anerkennung erfahren – nicht zuletzt deswegen, weil das Christentum dort weitestgehend auch als unverzichtbares Erbe der säkularen Vernunft betrachtet wird. (Vgl. Huisman, D. XXème siècle, in ders. (Hrsg.). Histoire de la philosophie française, 474 ff.). Wenn man für Frankreich schon die Dualismen »Kirche und Gesellschaft«, »konfessionelle und säkulare Vernunft« o. ä. vom Einzelfall her relativieren und gegebenenfalls revidieren könnte, dann wäre auch die ›fundamentaltheologische Großwetterlage‹ anders zu bewerten, als institutionell gebundene Vertreter dieses Faches (V. Holzer, C. Duquoc, J. Moingt etc.) oft zu verstehen geben wollen. 76 Vgl. Specker, T. Einen anderen Gott denken. Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion. Im Unterschied zu der Studie T. Speckers, die sich auf das Marionsche Frühwerk konzentriert, wird hier dessen gegenwärtiges Denken ins Zentrum gestellt. Anders als bei Specker werden dabei die Grundgedanken der früheren Arbeiten als Vorbereitung auf die »Phénoménologie de la donation« gedeutet, um dadurch den philosophisch-theologischen Umschwung Marions noch schärfer herauszustellen. Vgl. die Bemerkungen bei: Wohlmuth, J. Rez. Tobias Specker »Einen anderen Gott denken. Zum Verständnis der Alterität Gottes im Werk Jean-Luc Marions«, 389. 77 Vielleicht lassen sich die ohne Zweifel bestehenden Spannungen zwischen deutscher und französischer Philosophie in ein fruchtbares Gespräch überführen, wenn man sich auf beiden Seiten auch der kulturellen Differenz des jeweils anderen bewusst wird. Manche deutsche Schwarzweißmalerei (z. B. »deutsches Systemdenken versus französische Moralistik«) erweist sich dann nicht nur für viele Bereiche französischer Philosophie als verfehlt, sondern, genauer noch, als Produkt einer zweifelhaften Sicht auf ei75

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So darf nicht überraschen, wenn die Arbeit am Text immer wieder von interkulturellen Beobachtungen flankiert wird, die für ›grenzüberschreitende Interpretationen‹ wie der vorliegenden unumgänglich erscheinen. Bei der Bemühung um eine interkulturell sensible Sicht auf das Marionsche Denken ist ebenfalls auf dessen philosophische Ausgangsbedingungen aufmerksam zu machen, die vermutlich für das französische Geistesleben der Gegenwart insgesamt charakteristisch sind. Hierunter fällt, dass Marion in der an Husserl anschließenden Phänomenologie die unhintergehbare Bezugsphilosophie, bzw. den einzig heute vertretbaren philosophischen Rationalitätstypus sieht. Darauf aufbauend sind seine Untersuchungen zur Phänomenologie einzubetten in die von Lévinas, Henry und Derrida jeweils angezielte Rekonstitution dieser Philosophierichtung. In jedem Fall ist aber festzuhalten, dass sich Marion angesichts dieses phänomenologischen ›status quaestionis‹ der Aufgabe annimmt, den christlichen Glauben auszulegen und die so entstandene Diskurskonstellation, wie erläutert, eine fundamentaltheologische Qualität erhält. In den kommenden Ausführungen soll der Schwerpunkt auf Marions »Phénoménologie de la donation« gelegt werden, um die behauptete ›fundamentaltheologische Linie‹ in dessen Denken abzuschreiten. Zu diesem Zweck sind als erstes die unterschiedlichen Verortungen des »donation«-Begriffes bei Marion zu klären. Entsprechend ermittelt das Kap. 2. die Herkunft des Begriffes »donation« aus dem theologischen »Frühwerk« Marions. Als eine Art Übergangsreflexion soll dann Kap. 3. aufweisen, dass die Offenbarungsfrage im Hintergrund von Marions »Phénoménologie de la donation« steht. Nachdem auf diese Weise Marions fundamentaltheologische Motivation offengelegt wurde, wird im vierten Kapitel dessen Versuch nachgezeichnet, die phänomenologische Philosophie im Zeichen gene Denktraditionen. Vgl. »L’une des pires objections contre notre philosophie émane de certains germanistes mal intentionnés, qui cherchent à comparer nos deux peuples. Pour eux, les Français possèdent un esprit frivole, futile, désinvolte et superficiel: ils seraient en effet doués par excellence pour le roman et la nouvelle, l’histoire ou même l’historiette, la comédie (légère), voire le théâtre de boulevard ou le vaudeville, mais demeureraient bien incapable d’élaborer des systèmes philosophiques solides et conceptuels […]. Tandis qu’outre-Rhin, dans sa massive lourdeur, le peuple allemand aurait réussi à édifier de splendides constructions conceptuelles, des systèmes métaphysiques d’une architectonique impeccable, comme le leibnizianisme, le kantianisme, l’hégelianisme ou le marxisme.« (Huisman, D. (Hrsg.). Histoire de la philosophie francaise, 13).

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von »donation« zu rekonstituieren. Dass aus diesem Unternehmen ein neues Bild phänomenologischer Wirklichkeit resultiert, wird das Schlusskapitel ausführen. Vor allem wird hier zur Darstellung kommen, wie Marion die Offenbarung Jesu Christi in diesem Bereich theoretisch expliziert, und abschließend, welchen Beitrag er zu einer Revision der kulturwissenschaftlichen Gabetheorien leistet. Das leitende Interesse dieser Arbeit gilt immer der fundamentaltheologischen Frage: Ließe sich das Denken Marions mit dem anselmischen Programm »fides quaerens intellectum« in Einklang bringen? Trägt auch Marion die Spannung zwischen Glauben und autonomer Vernunft aus? Gestaltet er dieses Verhältnis so, dass sich das »Ein-füralle-mal« der Zuwendung Gottes in Jesus Christus vor der Philosophie verantworten ließe? Wenn sich dies bestätigen sollte, dann wären seinen Ansätzen wichtige Impulse für die Fundamentaltheologie zu entnehmen.

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2.1 Zur Stellung des Begriffes »Gebung« im theologischen Frhwerk Dem Begriff »donation« / »Gebung« kommt nicht erst für die Zeit ab 1989 (»Réduction et Donation«) eine zentrale Bedeutung im Marionschen Denken zu. Im Gegenteil: »donation« erweist sich als Gedankenfigur mit einer ganz spezifischen Vorgeschichte. Zuerst spricht Marion von »donation« im Kontext seiner theologischen Studien, die seit 1977 entstanden sind. Im Vorfeld zu einer kritischen Analyse seiner »Phénoménologie de la donation« erscheint deshalb ein zumindest grober Überblick über diese Werkphase als unerlässlich. 1 Zum einen muss dabei gefragt werden, wie die Rede von »donation« innerhalb dieses »theologischen Frühwerkes« einzuordnen ist. Zum anderen ist auf das von Marion hier entworfene Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie einzugehen, was sich aus dem fundamentaltheologischen Interesse dieser Studie aufdrängt. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Marion in seinen frühen Untersuchungen zur Theologie versucht, die Mitte des christlichen Glaubens auf den ›Begriff zu bringen‹ und gegenüber der zeitgenössischen Philosophie, die aus seiner Sicht vor allem durch Heidegger, Derrida, Lévinas etc. repräsentiert wird, zu konturieren. Typisch für jene Studien ist nun, dass dort »donation« im Zusammenhang mit anderen Begriffen auftritt, die Marion bei der theoretischen Selbsterfassung der christlichen Weltanschauung einsetzt. Trotz natürlicher Überschneidungen lassen sich diese folgendermaßen schematisieren: die Konzeption der »Distanz« (»L’idole et la distance« / 1977), die Phänomenalität der Ikone (»Dieu sans l’être« / 1981) und Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Marions theologischem Frühwerk liegt vor bei: Specker, T. Einen anderen Gott denken. Zum Alteritätsverständnis Jean-Luc Marions.

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das ›nachontologische‹ Verständnis von Liebe (»Prolégomènes à la charité« / 1986). Zum Umkreis dieser theologisch ausgerichteten Arbeiten ist auch die vor allem unter kunsttheoretischer Hinsicht wichtige Schrift »La croisée du visible« von 1991 zu rechnen. Denn dort bezieht Marion die ästhetische Bedeutung von Unsichtbarkeit schließlich auf die christliche Offenbarung. 2 Bemerkenswert ist jetzt, dass in allen vier Monographien auch die Begriffe »donner«, »s’adonner à«, »le don«, schließlich »donation« präsent sind. Und genauer noch treten diese an ganz zentralen Stellen auf, in denen Marion das Wesen des Christentums explizieren will. Über die Beschäftigung mit Marions frühen Arbeiten lässt sich folglich nicht nur gut in den theologischen Hintergrund und den ideengeschichtlichen, vor allem von Heidegger geprägten Horizont seines Denkens einführen. Für das Interesse der vorliegenden Studie hat größere Relevanz, dass man mittels dieser Durchsicht festlegen kann, woher der Begriff »donation« bei Marion ›expressis verbis‹ rührt: nämlich aus dessen Reflexion auf das christliche Credo. Die theologischen Studien aus Marions Frühzeit sind an diesem Ort also nicht lediglich aus ›Gründen der bibliographischen Vollständigkeit‹ zu untersuchen. Tatsächlich geht es bei ihnen ja schon um die im Brennpunkt dieser Arbeit stehende »donation«; und zwar um die theologische Bedeutungsseite oder, besser noch, um die ursprünglich theologische Herkunft dieses Begriffes. Konkret: Der Ausdruck »donation« findet sich erstens in Marions Interpretationen zu Pseudo-Dionysios. Dessen Ekklesiologie, die als Sich-Geben und Sich-Empfangen gedeutet wird, entspricht seiner Theologie der Distanz. Zweitens: In »Dieu sans l’être« wird »donation« als ein aus dem Eucharistiegeschehen einleuchtendes Prinzip interpretiert. In der eucharistischen »donation« realisiert sich insbesondere die Phänomenalität der Ikone, die nach Ansicht Marions den christlichen Weltzugang auszeichnet. Drittens: Die »Prolégomènes à la charité« und die Abhandlung »La croisée du visible« legen »donation« unter weiteren Gesichtspunkten (v. a. Ethik, Freiheit, Ästhetik) aus. Schon in dieser Übersicht deutet sich an, dass von Marions früher Reflexion auf die christliche Offenbarung der erste Anstoß zu einem Denken der »donation« ausgegangen ist. Außerdem scheint »donation« eine das theologische Frühwerk heimlich leitende Thematik darzustellen, obgleich sie hier noch von anderen 2 Eine deutsche Übersetzung dieser Arbeit ist kürzlich erschienen: Marion, J.-L. Die Öffnung des Sichtbaren.

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Begriffen überlagert ist. Zumindest ist aber im Auge zu behalten, dass sich Marion bereits in seinem erstem theologischen Werk die Aufgabe ausdrücklich zu eigen machen will: »Il reste donc à penser le don.« 3 Angesichts des Befundes, dass Marion in Schlüsseltexten seines theologischen Frühwerkes den Begriff »donation« anwendet, legt sich möglicherweise nahe, dieses als »théologie de la donation« zu bestimmen. Ferner lässt sich das von ihm immer wieder betonte Gegensatzpaar »Idol versus Ikone / Distanz« aus dieser Optik vielleicht neu verstehen. In diesem Sinne sollen in der folgenden Zusammenfassung die Marionschen Arbeiten seit 1977 als ›theologisches Praeludium‹ zur »Phénoménologie de la donation« ausgedeutet werden. Darüber hinausgehend ist aber auch anzunehmen, dass in dieser ersten, theologischen Aneignung des »donation«-Begriffes die Koordinaten festgelegt worden sein dürften für dessen spätere, phänomenologische Behandlung.

2.2. Der Ansatz von »L’idole et la distance« Nur auf den ersten Blick ist Marions theologisches Erstlingswerk »L’idole et la distance« als bloße Studie zu Nietzsche, Hölderlin und Pseudo-Dionysios zu lesen. Die drei genannten Denker werden vielmehr am Begriff der Distanz, »distance«, gemessen, den Marion für ein dem christlichen Glauben entsprechendes Gottesverständnis vorschlägt. Für die Belange der vorliegenden Studie genügt es, diesen theoretischen Rahmen von »L’idole et la distance« vorzustellen. Mit Hilfe des Begriffes »distance« will Marion die Option des christlichen Glaubens vor seiner philosophischen Umgebung verantworten. Er verwendet den Begriff der Distanz, um das Verhältnis zwischen der christlichen Weltanschauung und dem Denken Heideggers, Derridas und Lévinas näher zu bestimmen. Gegenüber deren säkularen Differenzbegriffen, konkret: gegenüber Heideggers »ontologischer Differenz«, Derridas »différance« und Lévinas’ »difference de l’Autrui« gilt es, die Bedeutung, ja Priorität von »distance« herauszuarbeiten. 4 In einem ersten Schritt wäre der Distanzbegriff in Marions theologischen Überlegungen zu lokalisieren, um anschlieID 284. Vgl. »[…] la distance du Fils au Père, dans le jeu trinitaire, outrepasse de son sérieux, sa patience, son travail, mais non de sa souffrance, toutes les séparations, négations,

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ßend der hier virulenten Rechenschaftsablegung vor der Philosophie auf den Grund zu gehen. Erstens: »Distance« wird von Marion als Schlüsselkategorie zu einer Wirklichkeitsanschauung verstanden, die an die Kreuzeserfahrung und damit an das für den christliche Glauben definitive Offenbarungsgeschehen anschließt. Bei der phänomenalen Explikation dieses Vorganges scheint nach Ansicht Marions eine »Distanz« auf, die jedem christlichen, d. h. vom ›Kreuz herkommenden‹ Gottesverständnis eingeschrieben sein müsste. 5 Marion denkt nämlich den am »Kreuz« manifesten Auslieferungsakt als ein Geschehen von Liebe, bei dem der Sohn seine bleibende Distanz zum Vater anerkennt, d. h. sich ihr ganz überlässt und aus ihr das Leben neu empfängt. 6 Dies lässt sich einerseits aus einer trinitätstheologischen Perspektive verdeutlichen. Zunächst: Am Kreuz gibt sich der Sohn Gottes der Welt und seinem Vater aus Liebe hin. Dieser Vorgang gilt als der unhintergehbare Ausgangspunkt des christlichen Glaubens. Er begründet zutiefst das Gottesbild des Christen, so dass alle Aussagen des Glaubens und über den Glauben in diesem Geschehen eingeborgen sind. Überdies offenbart sich am Kreuz aber in unübertroffener Weise die trinitarische Gestalt Gottes. Marion weist hier nun vor allem auf die Art der Beziehung hin, in der Vater und Sohn in diesem Moment exclusion et forclusion que nous ne pourrons jamais imaginer, précisément parce que nous ignorons la distance dans son ampleur.« (ID 214). 5 Diesbezüglich ist vor allem der Einfluss v. Balthasars auf Marion hoch zu veranschlagen: V. Balthasar versteht »Distanz« als die in der »Theodramatik« des Kreuzes erscheinende Beziehungsart zwischen Vater und Sohn. Vgl. z. B. »Die unendliche Distanz zwischen Welt und Gott gründet in der anderen, urbildlichen Distanz zwischen Gott und Gott.« (Balthasar, H. U. v. Theodramatik Bd. 2/1, 242). Vgl. der Kommentar G. L. W. Müllers: »In der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz zeige sich geschichtlich die äußerste Distanz von Vater und Sohn, offenbare sich der Schmerz in Gott, der ein Schmerz der Unterschiedenheit von Vater und Sohn in der Liebe sei. Darum könne Christus auch den Schmerz der Welt hineinnehmen in den Gottesschmerz sowie in die Einheit Gottes und ihn in der Liebe des Geistes letztlich überwinden.« (Müller, G. L. W. Handbuch der Dogmatik, 473), ähnlich: »Jesu Schrei der Gottverlassenheit bringt eine Differenz zur Sprache, wie sie größer nicht gedacht werden kann, Jesu Gebetsschrei bringt eine Einheit in dieser Differenz zu Wort, wie sie größer nicht gedacht werden kann.« Verweyen, H. Gottes letztes Wort, Grundriss der Fundamentaltheologie, 360). 6 Vgl. »le Christ n’atteste sa juste sainteté qu’en attestant la sainteté unique du Père; c’est en ne revendiquant jamais sa propre sainteté ni sa propre gloire, donc en les remettant absolument à son Père, qu’il révèle qu’Il s’en remet à la sainteté pour être glorifié.« (CV 135).

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zueinander stehen. Das »Kreuz« macht deutlich, dass die Liebe zwischen Vater und Sohn auf keine die Differenz aufhebende Einheit abzielt. Wenn dem Kreuzesgeschehen ein ultimativer Akt von Liebe zu entnehmen ist, markiert sich an ihm gleichzeitig ein radikaler Riss, der Vater und Sohn voneinander getrennt hält. Es verweist genauer noch darauf, dass die Liebe zwischen beiden mit der Anerkennung von Distanz einhergeht, in der Vater und Sohn einander bleibend gegenüber stehen. So scheint im Kreuzestod Jesu die restlose Einwilligung in »Distanz« als Prinzip der Liebe zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn auf. Die theologische Bedeutung von »Distanz« ist andererseits durch einen ›von unten‹ kommenden Blick auf Jesus evident zu machen: Jesu Verlassensein am Kreuz isoliert diesen ja nicht nur von allen weltlichen Sicherheiten, sondern bedroht die Grundlage seiner, wenn man so sagen kann, ›religiösen Existenz‹. 7 Konkret: Sein Bezug zum Vater, von dem er sich unbedingt gesandt wusste, steht hier in radikaler Weise auf dem Spiel. Woran das Leben gegeben wurde, der Glaube an den unbedingt liebenden Vater, scheint in dieser letzten Stunde unvermutet schwierig. Auf welches Konto ist nun zu setzen? Rückzug in den Schmollwinkel der Indifferenz? Aufbruch in die Rebellion gegen einen Gott, der seinen einzigen Zeugen im Ernstfall scheinbar verlässt? Keine dieser AlternaVgl. »Die Entäußerung des Sohnes geht bis in den Tod, nachdem sie alle Verlassenheiten durchlaufen: das Verlassensein von Jerusalem (Lk 13,33–35), das er doch einholen muss; das Verlassensein von den Jüngern, die eben jetzt vor der Anfechtung bewahrt werden müssen (Mt 26,56; Joh 18, 6–9), das Verlassensein vom messianischen Heil, dessen Erfüllung die Schriften dennoch, paradoxerweise, bei jeder Gebärde des Sterbenden, mit-buchstabieren. Warum muss all dieser Zusammenbruch nochmals in die Liebe eingeborgen werden? Für die letzte Tiefe der Kenose gibt die psychologisch durchgreifende Verlassenheit vom Vater auch die letzte Möglichkeit eines Einholens: nie noch hatte sich der Abstand [›distance‹ / T. A.] so schmerzlich als Abwesenheit erfahren lassen, denn jetzt erfährt sie der, der Einzige, der ganz ›hingewendet ist in den Busen des Vaters‹ (Joh 1,18). Und so lautet die Frage: Übersteht das dem trinitarischen Abstand zwischen Vater und Sohn einwohnende Gebet auch jetzt noch, da die Entäußerung des Sohnes, der ›in Menschengestalt erfunden wurde‹ (Phil 2,7), ihn sogar vom Vater trennt? Ja, eben hier enthüllt sich das Gebet (›… mein Gott, mein Gott …‹) in seiner Nacktheit als Wille zur Liebe: wenn alles versagt, sogar die psychologisch erfahrene Gegenwart des Vaters, dann quillt – in der unwahrscheinlichen Flugbahn der geöffneten Distanz – das Jawort auch zu aller Verlassenheit auf. Kein Ereignis in seiner Negativität kann es der Liebe untersagen, diese Verlassenheit anzunehmen und so sich dem Vater zu überlassen, zu ihm überzugehen. Entäußerung kann die Flugbahn innerhalb der Distanz nicht vernichten.« (Marion, J.-L., Intimität durch Abstand, Grundgesetz christlichen Betens, 224).

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tiven reicht an den Sinngehalt dessen heran, was nach dem Neuen Testament »Kreuz« bedeutet. Nach dessen Interpretation durch Marion spricht der Sohn sein letztes, liebendes Ja zum Vater als Todesschrei. Diese quasi tödliche Anerkennung seines Vaters könnte einmal bedeuten, dass sich die Liebe Jesu ›im Vakuum‹ befindet. In der Perspektive des Glaubens erkennt der Sohn hier aber die Distanz zum Vater an und genügt so dem höchsten Anspruch von Liebe. In einem vorbehaltlosen, gleichsam tödlichen Liebesakt gegenüber dem Vater hat der Sohn ja seinen letzten Rückhalt, das eigene Leben nämlich, preisgegeben. Er willigt dabei aber ganz in die Distanz zum Vater ein. Der in diesem Geschehen grundgelegte Osterglaube sagt nun aus, dass der Sohn das Leben aus der Distanz zum Vater neu empfängt, an die er sich am Kreuz hingegeben hatte: »… la dernière parole du Christ en croix, ›C’est accompli‹ (Jean XIX, 30), énonce dans la douleur humaine, mais par elle et ses mots, infiniment plus qu’elle, un cri de victoire, une jubilation proprement trinitaire, et si l’on pouvait le dire sans inconvenance, un hurlement d’une jouissance filiale à nous inconnue, avec laquelle la joie extatique de la Résurrection, coïncide strictement.« 8 Dieses auf der Anerkennung von Distanz beruhende Liebesgeschehen zwischen Vater und Sohn wird der Welt vermittelt. 9 Im Klartext: Derjenige 10, der sich von diesem Vorgang ergreifen lässt und die Nachfolge in der im dargelegten Sinne ›österliche Haltung‹ antritt, bleibt von einer Liebe zu Gott und zum Nächsten geprägt, die sich der Distanz restlos überlässt. Deshalb gibt die am Kreuz vorentworfene Distanz der christlichen Liebe ihre spezifische Gestalt. Allgemeiner noch: Die Relation des Christen zur ›Wirklichkeit überhaupt‹ zeichnet sich durch jene Distanz aus, aus der dem Sohn an Ostern das Leben vom Vater neu geschenkt wurde. Der Christ lebt ID 215, vgl. »Die Auferstehung geschieht aus der Machtvollkommenheit des Vaters, aber sie war weder dem Menschensohn noch dem Gottmenschen zugesichert, ja nicht einmal von ihm gewünscht. Die ›Logik der Liebe‹ entfaltet sich ohne jede Sicherheit.« (Wolf, K. Religionsphilosophie in Frankreich. Der ›ganz Andere‹ und die personale Struktur der Welt, Bd. 2, 159). 9 Vgl. »S’abandonner au père, c’est Le désignant dans la distance, recevoir, dans la geste même du renvoi, une alterité irréductible: demeurer, en tant que pauvre, celui qui, alors seulement, devient l’interlocuteur valable pour toute surabondance. Seul le fils est assez pauvre pour être l’autre du Père. Donc, seul le Fils peut, dans l’altérité que la distance lui assure, tout recevoir de Dieu.« (ID 142). 10 Die maskuline Schreibweise geht hier und an anderen Orten allein auf den Wunsch des Verfassers nach textlicher Ökonomie zurück. Keineswegs wird mit ihr intendiert, das weibliche Geschlecht in irgendeiner Form auszuschließen. 8

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somit aus und in der Wirklichkeit, die an Ostern aus Distanz neu gegeben wurde. Nach Marion zielt der Distanzbegriff deshalb auf das Zentrum des christlichen Glaubens: Liebe als restlose Anerkennung von und Einwilligung in »Distanz« – in diesem Prinzip ist eingefaltet, worum es im Christentum geht. Denn zuerst gilt: »Reconnaître le Christ suppose donc qu’on admette le retrait qui, entre lui et nous, révèle cet autre et même retrait, où se réconnaissent et s’unissent le Père et le Fils.« 11 Zweitens: Den mit Hilfe des Distanzbegriffes explizierten Glauben will Marion nun in Beziehung setzen zur zeitgenössischen Philosophie. Vor allem will er die »ontologische Differenz« Heideggers der christlichen »distance« gegenüberstellen. Bei der Frage, wie nun die Kontroverse zwischen den philosophischen Differenzbegriffen und der theologischen »distance« anzugehen ist, hat für Marion die ›Areopagrede‹ des Paulus Vorbildcharakter. In seinem Frühwerk sieht Marion in dieser Passage aus der Apostelgeschichte ein auch heute noch gültiges Modell für die Verhältnisbestimmung von Glauben und säkularer Vernunft. Wenn Marion deswegen den Begriff der Distanz säkularphilosophischen Differenzbegriffen im Folgenden entgegenhält, dann wird seiner Ansicht nach jene Situation reproduziert und ins Heute gesetzt, in der Paulus, auf dem Areopag stehend, zu den Einwohnern von Athen sprach. 12 Die Identifikation mit der Areopagrede des Paulus’ scheint für das vom frühen Marion vertretene Zueinander von Philosophie und Theologie ausschlaggebend, so dass es sich zunächst anbietet, den Text in voller Länge vorzustellen, um anschließend der Marionschen Interpretation nachzugehen. »Während Paulus in Athen auf sie wartete, erfasste ihn heftigen Zorn, denn er sah die Stadt voll von Götzenbildern. Er redete in der Synagoge mit den Juden und Gottesfürchtigen, und auf dem Markt sprach er täglich mit denen, die er gerade antraf. Einige von den epikureischen und stoischen Philosophen diskutierten mit ihm, und Ebd., 144. Vgl. »Notre propre discours ne demeure en effet pas solitaire, inouï, surtout pas original […]: il reproduit, je veux dire, il doit s’essayer à retrouver, s’il veut seulement demeurer, la situation tactique et le renversement crucial du discours que tint l’apôtre Paul sur l’aréopage, devant les Athéniens […].« (Ebd., 39).

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manche sagten: Was will denn dieser Schwätzer? Andere aber: Es scheint ein Verkünder fremder Gottheiten zu sein. Er verkündete nämlich das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung. Sie nahmen ihn mit, führten ihn zum Areopag und fragten: Können wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du vorträgst? Du bringst uns recht befremdliche Dinge zu Gehör. Wir wüssten gern, worum es sich handelt. Alle Athener und die Fremden dort taten nichts lieber, als die letzten Neuigkeiten zu erzählen oder zu hören. Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind. Er lässt sich auch nicht von Menschen bedienen, als brauche er etwas: er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. Er hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen, damit es die ganze Erde bewohne. Er hat für sie bestimmte Zeiten und die Grenzen ihrer Wohnsitze festgesetzt. Sie sollten Gott suchen, ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern.« 13 Bei der Auslegung biblischer Texte durch Marion ist im Vorfeld auf dessen phänomenologische Herangehensweise zu achten. Nach Auffassung Marions reicht die historisch-kritische Exegese nicht dafür hin, den ursprünglichen Gehalt biblischer Aussagen zu sichern. Dieser ließe sich allein über eine phänomenologische Analyse erschließen. Marion möchte folglich die historisch-kritische Exegese durch seine phänomenologische Lesart ergänzen, wenn nicht gar ersetzen. Nun aber zu den zentralen Aspekten seiner Interpretation von Apg 17, 16–34. Die Szene aus der Apostelgeschichte beginnt damit, dass sich Paulus über die in Athen omnipräsenten Götterstatuen und Götzenbilder der griechischen Religion erbost und wohl auch gegen sie in der Synagoge ausspricht. Umgehend scheint sich seine Idolkritik aber zu einem Konflikt mit der Philosophie zuzuspitzen. Denn Paulus wird bei seinem öffentlichen Auftreten von Vertretern der Stoa und des Epikureismus angefragt und schließlich zum Areopag gebracht. 13

Apg 17,16–27.

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Dort soll er gleichsam ›vor aller Welt‹ seine Lehre und damit die Hintergründe darlegen, die ihn zur Kritik an den griechischen Kulten veranlasst haben. Hinsichtlich der Fragestellung, wie sich Philosophie und Theologie aufeinander beziehen lassen, ist nach Marion als erstes an die äußere Situation zu erinnern, in der Paulus gesagt haben soll: »Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT.« 14 Wenn Paulus sich nämlich in der so einsetzenden ›Areopagrede‹ zuerst auf den heidnischen Götzendienst / Idolkult richtet und diesen in einer Art ›captatio benevolentiae‹ implizit desavouiert, richtet sich dies immer auch an seine philosophischen Zuhörer, bzw. allgemein: an die Philosophie seiner Zeit. Demnach scheinen der heidnische Götzendienst, die quasi atheistische, zumindest deistische Philosophie Epikurs und die stoische ›Theologie‹, eine gemeinsame ›idolische‹ bzw. ›idolatrische‹ Haltung zu bilden, an die sich die paulinische Verkündigung Jesu Christi adressiert. In der Tat fällt beim Verhältnis der Areopagrede zur Philosophie auf, dass der epikureische Atheismus und die stoischen Gottesbegriffe von Paulus ›una voce‹ kritisiert werden. 15 Paulus äußert sich diesem Text zufolge gegen die Philosophie überhaupt – egal, ob in ihr nun die Möglichkeit, ›Gott zu denken‹, vorgesehen wird oder nicht. Aber darüber hinaus wird die Philosophie hier mit dem griechischen Götzen- bzw. Idolkult, von dem er sich ja absetzt, unter die Klammer einer Redesituation gebracht. So berechtigt sich die Marionsche Interpretation, Paulus würde auf dem Areopag die Philosophie seiner Zeit als Teil einer idolatrischen Auffassung von Wirklichkeit kritisieren, mag sie eine atheistische Ausrichtung haben oder einen Gott annehmen. Die philosophischen Vorstellungen von Gott dürften also, entsprechend den ›heidnischen‹ Götzen, quer stehen zu dem, wofür Paulus Zeugnis geben will. Sie scheinen eine Art Entsprechung zum Götzenkult zu verkörpern. Marion interpretiert auf folgende Weise die hier geknüpfte Verbindung zwischen den griechischen Idolen und Philosophien: Im Gegensatz zum Glauben an den Gott Jesu Christi wird in Philosophie, konkret: sowohl in rein philosophischer Theologie als auch Religionskritik, ein Götzendienst praktiziert, wobei die dort jeApg 17,22–23. Vgl. »Qu’ici l’›athéisme‹ des épicuriens se trouve assimilé au ›Dieu‹ logique et physique des stoïciens confirmerait d’ailleurs l’idolâtrie conceptuelle.« (ID 39).

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weils verhandelten Gottesbegriffe idolische Bedeutung haben. 16 Doch haben diese begrifflichen Idole der Philosophie mit dem Gott, der sich am Kreuz geoffenbart hat, wenig gemeinsam. Besser noch: Nach der Areopagrede stünde die philosophische Gottesrede dem christlichen Glauben diametral entgegen. Wie ist das Verhältnis zwischen beiden Gottesbildern aber noch genauer zu fassen? Dazu ein weiterer Blick auf den Text aus der Apostelgeschichte. »Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Gott, der die Welt erschaffen hat und alles in ihr, er, der Herr über Himmel und Erde, wohnt nicht in Tempeln, die von Menschenhand gemacht sind […].« 17 Dass sich Paulus am Anfang seines Bekenntnisses auf ein konkretes Götterbild der Griechen bezieht, nämlich gerade jenes, welches »einem unbekannten Gott« geweiht ist, ist nicht einfach als rhetorisches Beiwerk aufzulösen. Nach Ansicht Marions ist dieser kerygmatische Auftakt von konzeptioneller Bedeutung: Der am Kreuz offenbar gewordene Gott, für dessen Evangelium Paulus hier einsteht, entzieht sich ihr zufolge der ›Bekanntheit‹ und ist allenfalls für die Vorstellung eines unbekannten Gottes anschlussfähig. 18 Wenn Paulus den »Altar des unbekannten Gottes« als ›Aufhänger‹ seiner Verkündigung wählt, dann weist er aber nicht einfach in einem allgemeinen Sinne auf die Distanz seines Gottes zu den Göttern hin, die den Griechen bekannt und vertraut sind. Seine implizite Ablehnung ›bekannter‹ Gottesvorstellungen richtet sich ja ebenfalls an Vertreter der Philosophie. Paulus will folglich auch die dort affirmierten oder negierten Gottesbegriffe einer Revision unterziehen. Präziser: Er beteuert, dass die von der Philosophie entwickelten Gottesvorstellungen letzlich selbstgemachte Idole, Produkte der eigenen, sich selbst vertrauten und gewissen Rationalität darstellen, die sich aber zum lebendigen Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt hat, inkongruent verhalten. Der Gott Jesu Christi, so die Marionsche Deutung, bestätigt nicht das seiner selbst gewisse, also idolische DenVgl. »Tout se passe comme si les philosophes, eux aussi, ressortissaient à l’idôlatrie – l’ayant seulement épurée, c’est-à-dire conceptualisée.« (Ebd., 39). 17 Apg 17,23–24. 18 Vgl. »Utilisant le ›Dieu inconnu‹ dont l’idole apparaissait parmi la masse d’autres – des dieux connus, Paul n’entreprend pas d’en révéler l’identité jusque-là dissimulée. Car […] celui-ci rétrocède non seulement du monde, mais de l’intelligence qui prend la mesure du monde, et finalement s’y mesure: l’Ab-solu.« (ID 40). 16

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ken der Philosophie, sondern bricht in es von außen, aus unvordenklicher Distanz ein. Der oben für den christlichen Glauben festgelegte Distanzbegriff fungiert hier nun als Kritik an der säkularen Philosophie und ihren Gottesbegriffen. Denn die Hingabe Christi an die Distanz des Vaters, aus der für den Christen das Leben neu geschaffen wurde, hebelt alle innerweltlichen und damit auch säkularphilosophischen Sinnzuweisungen aus und legt deren Vorläufigkeit offen. Und genau aus dieser Haltung heraus beginnt Paulus auf dem Areopag seine an die Welt und ihre Philosophie gehende Verkündigung Jesu Christi. Mit Blick darauf betont Marion, die weltliche Philosophie bleibe hinter dem Anspruch der Distanz, d. h. hinter dem lebendigen, aus Distanz sich ereignenden Gott zurück. Sie nimmt sich dem gegenüber so aus, als hätte sie sich allein auf ihren eigenen Erkenntnisfortschritt, letztlich auf ihre Selbstevidenzen verpflichtet. Von der sog. Areopagrede deduziert Marion darum folgende Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Theologie: Aus dem Blickwinkel der Kreuzeserfahrung betrachtet, sind die aus der Philosophie stammenden Gottesvorstellungen Symptome einer idolischen, der Distanz verschlossenen Haltung. Das von Marion gedachte Spannungsfeld zwischen Philosophie und christlicher Theologie liegt unter diesen Gesichtspunkten offen zutage. Es entspricht der Polarität von Idol und Distanz. Die Gottesbegriffe der Philosophie, seien sie auch noch so bestechend, bieten keinen verlässlichen Weg zum lebendigen Gott. Wie am Kreuzesgeschehen zu erkennen war, gibt dieser ja das Leben aus unvorgreifbarer Distanz. Doch ist diese von der Welt und ihrem Denken schlechterdings nicht einzuholen. Fällt der Blick von der Erfahrung des Kreuzes auf die philosophische Rationalität der Welt, dann erscheint diese wie idolisch und von sich selbst besessen. Im vermeintlichen Schutzraum ihres selbstgewissen Denkens gefangen, wähnt sie sich in der Illusion selbstgemachter Gottesbegriffe, weil sie die radikale Distanz ignoriert, aus der heraus der lebendige Gott Jesu Christi gehandelt hat. Die Frage, wie man für den christlichen Glauben vor dem Forum säkularer Philosophie Rechenschaft ablegen soll, lässt sich nach dem Marionschen Frühwerk zusammenfassend so beantworten: Das »Wort vom Kreuz« ist in philosophischem Kontext zunächst auf die Weise zu vertreten, dass eine gewisse Fadheit gegenüber den affirmativen oder negativen Gottesbegriffen, die aus der Philosophie rühren, plausibel gemacht wird. Dagegen könnte die beteuerte Nichtigkeit 51 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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von ›Gottesbegriffen überhaupt‹ zu einem Fingerzeig für die Distanz werden, in der der Gott Jesu Christi erschienen ist. 19 Man hat sich nach Marion die ›Strategie‹ der Areopagrede dabei gut zu vergegenwärtigen: Mit dem anfänglichen Hinweis des Paulus auf den Altar, der zu Ehren eines »unbekannten Gottes« gebaut wurde, sagt dieser aus, die Verkündigung des Gottes Jesu Christi hätte von einem innerweltlichen Haftpunkt auszugehen: nämlich von der in diesem Bild virulenten Kritik an (bekannten) Gottesbegriffen und Atheismen, die, damals wie heute, zu Selbstverständlichkeiten des philosophischen Diskurses geworden sind. Im Ausgang von dieser Kritik am ›Gott der Philosophen‹, d. h. einer auf säkularer Ebene bereits einsehbaren, ja ›salonfähigen‹ Unbekanntheit Gottes, könnte sich das »Wort vom Kreuz« als unverhoffte, aus Distanz rührende »donation« vermitteln lassen. Doch ereignet sich dieser Vermittlungsakt selbst als inchoative »Offenbarung«, die säkularphilosophisch nicht zu rekonstruieren ist. 20 Es kommt infolgedessen nicht von ungefähr, wenn Marion in diesem Zusammenhang auch die aus dem ersten Korintherbrief stammende Unterscheidung von »Torheit des Kreuzes« und »Weisheit der Welt« aufgreift: »A l’impossibilité de faire voir l’invisible, Paul fera succéder […] le renversement crucial. Renversement crucial, c’est-à-dire commencer par le logos de la Croix, contre la sagesse du monde, par la ›folie du kérygme‹ qui ›scandalise‹, par le »Christ mis en croix« […].« 21 Zwischen dem »Altar zu Ehren eines unbekannten Gottes« und dem »Gott Jesu Christi« besteht aber ein noch tiefer gehender Konnex. Im Einbruch der Offenbarung aus Distanz hat sich nach Marion die Unbekanntheit Gottes ›bestätigt‹ und, in einer weiter darzustellenden Paradoxie, ›bekannt‹ gemacht. Gott hat sich hier ja aus Distanz, also aus einem völlig unbekannten Vgl. »Pas plus que l’idolâtrie visible ne se réfute en substituant une image à une autre, l’idolâtrie conceptuelle ne s’effondre devant un autre concept de ›Dieu‹. Elle ne s’efface que devant l’Absence de concept, absence définitive et initiatrice d’une autre approche de Dieu comme ›Dieu inconnu‹.« (Ebd., 39 f.), »For […] Marion, when kataphatic discourse concerning God is abandoned in apophatic union, the Word indwells human deeds and discourse; the Word manifests itself in them. The clenched fists of predicative, attributive discourse have relaxed, and in these open palms of discourse, the Word speaks itself. […] Language is no longer grasping, but revealing.« (Laird, M. Whereof we speak: Gregor of Nyssa, Jean-Luc Marion and the current apophatic rage, 9). 20 Aus diesem Engpass wird erst die »Phénoménologie de la donation« einen neuen Weg weisen. 21 ID 41, vgl. 1 Kor 1,18–31. 19

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Bereich bzw. aus Unsichtbarkeit heraus selbst gegeben. Seine Unbekanntheit wurde offenbar. Und zugleich: Seine Offenbarung bleibt denkerisch unerfassbar, darum unbekannt. Mit anderen Worten: Im Kreuz gibt Gott das Leben. Doch ist dieses Gabegeschehen in einer Reinheit und Erhabenheit zu denken, die eine dezidierte Philosophie der Offenbarung abweist. Das Offenbarungsgeschehen soll ja schlechthin auf Distanz zu säkularer Rationalität stehen. Im Resultat führen diese Einsichten zu dem in Marions theologischen Schriften regelmäßig wiederkehrenden Idolatrievorwurf gegenüber dem weltlichen Denken und seinen Gottesbegriffen. Gegenüber der aus Distanz rührenden Selbstgabe Gottes bestimmen sich die der Philosophie zugrunde liegenden Seinskonzeptionen, Gottesbegriffe und Atheismen dadurch, dass sie nur das Interesse einer stets selbstgewissen Vernunft an sich selbst spiegeln. Verglichen mit dem Geschehen der christlichen Offenbarung verdienen diese das Urteil der »Idolatrie«. Denn sie scheinen sich der »distance« zu verweigern, in der sich der lebendige Gott gegeben hat. »Le rapport à Dieu échappe à la conceptualisation, où nous comprenons les idoles, pour nous comprendre, comme incompréhensible. D’où la disposition tactique qu’il faudrait pouvoir emprunter à Paul. L’incompréhensible nous comprend, parce qu’»en Lui nous vivons, nous nous mouvons et nous sommes« L’être de l’étant lui-même […] résulte de l’incompréhensible; loin de l’atteindre, il nous en provient, comme un des dons de l’Impensable.« 22 Nach der frühen Auffassung Marions hat die Theologie vor allem auf die Idolatrie philosophischer Rationalität und die Priorität der Distanz deutlich hinzuweisen. Im Todesschrei Christi wird die Rationalität ja von einem Außen ihrer selbst, als unverhoffte, stets aus Distanz rührende Gebung, getroffen. 23 Neben ihrer binnentheologischen Funktion meint »Distanz« also immer auch eine die weltliche Rationalität selbst aussetzende Betroffenheit durch das Ereignis der Offenbarung, das unverschuldet und denkerisch unableitbar gegeben wurde. Im Gegenzug zeichnen sich die Wege säkularer Vernunft dadurch aus, dass sich das Denken auf ihnen idoltypisch selbst bestätigen will. Auf diesen Einsichten Ebd., 40 Zum Zusammenhang von »distance« und »donation« bemerkt R. Horner: Vgl. »Distance serves to seperate the terms (Giver and giving / gift, but thereby also Giver and recipient).« (Horner, R. Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the limits of phenomenology, 113).

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aufbauend, versucht Marion das Verhältnis zwischen Glaube und säkularer Vernunft nun mit Hilfe der Polarität von Idol und Ikone weiter zu entfalten. Dabei präzisiert sich, wie sich sein theologischer Ansatz vor allem vom Denken Heideggers abgrenzen will. Der an die weltliche Rationalität gerichtete Idolatrievorwurf bezieht sich immer deutlicher auf dessen Denken des Seins, in dem Marion einen Gegenentwurf zur christlichen Theologie sieht. 24 Wie sich die »distance« zu den Differenzbegriffen nach Lévinas und Derrida situiert, bleibt dagegen auf dem Niveau des Fragmentarischen, so dass sich eine nähere Besprechung an diesem Ort erübrigt. 25

2.3. »Ikone« versus »Idol« – »Idolische und ikonische Rationalitt« In seiner zweiten theologischen Schrift von 1981, »Dieu sans l’être«, vertieft Marion das Verhältnis von Idol und Distanz. Es ergibt sich in der Sache selbst wohl keinen Unterschied, wenn Marion das Zueinander von Theologie und Philosophie über den Gegensatz »Idol versus Ikone« entwirft, der wohl als leitende Thematik dieser Abhandlung gelten kann. 26 Zu Beginn sei aber auf eine bemerkenswerte, von Marion hier vorgenommene Akzentverschiebung im philosophischtheologischen Dialog hinzuweisen: Bislang wurden die Phänomenstrukturen der Distanz aus der Kreuzeserfahrung abgeleitet. In einer Vgl. »Dieu sans l’être veut dire la transcendance ou la distance de Dieu par rapport à l’être même.« (Reix, A. Rez. »Marion, Jean-Luc: Dieu sans l’être«, 461). 25 Lévinas und Derrida fallen im Prinzip auch der Idolatriekritik anheim: Marion betont, dass sich ihre jeweiligen Differenzbegriffe entweder im Kontext des Seienden (der Andere) oder einer apersonalen Neutralität (die »différance«) bewegen, die jeweils unter dem Niveau der Distanz stünden. Vgl. »Es genügt nicht, um dem ›Spiel des Seins‹ zu entweichen, an die Stelle des Diktats der ›ontologischen Differenz‹ eine andere ›Differenz‹ zu setzen, wie es Lévinas oder Derrida jeder auf seine Weise tun […] – diese Differenzen bleiben unvermeidlich auf das Seiende bezogen. […].« (Wolf, K. Religionsphilosophie in Frankreich. Der ›ganz Andere‹ und die personale Struktur der Welt. Bd. 2, 156). Zu Lévinas: ID 264 ff., zu Derrida: ID 270 ff. 26 Vgl. »L’icône s’en tient donc strictement à sa légitimité paradoxale de tupo@: […] figure à distance de l’invisible, précisément parce que l’invisible la marque de part en part.« (CV 138). Long, T. E. sieht die Marionsche Binarität von Idol und Ikone unter dem Einfluss Barthscher Theologie: »At the heart of his critical evaluation of these efforts to think about God is his distinction between idol and icon, a distinction that is reminiscent of Karl Barth’s distinction between religion and revelation.« (Long, T. E. Twentieth-Century. Western philosophy of religion, 1900–2000, 447). 24

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ersten Reflexionseinheit aus »Dieu sans l’être« werden jedoch die Grundbestimmungen von Distanz / Ikone rein phänomenologisch entfaltet; also so, als schiene deren offenbarungstheoretische Beheimatung zunächst ohne konzeptionellen Belang. 27 Auf Anhieb konstituiert sich dort der Gehalt von »Ikone« / »Distanz« über seinen phänomenologischen Kontrast zum »Idol«. Die zuvor noch beteuerte Kluft zwischen säkularer Philosophie und christlichem Glauben wird hier deshalb ein wenig relativiert – zumindest unter struktureller Hinsicht. Zunächst wird man folglich bei »Dieu sans l’être« von einer positiven Annäherung seines theologischen Ausgangspunktes an die Philosophie, d. h. an eine säkular vertretbare Phänomenologie von Idol und Ikone, sprechen können 28 , wodurch zugleich auch die ersten Weichen zur »Phénoménologie de la donation« gelegt werden. 29 Gleichwohl dürfte einer eindringlichen Analyse der tiefere Sinn dieser Strategie nicht verborgen bleiben. Bei dieser Herangehensweise Marions kommt ja vor allem eine Motivik zum Vorschein, die aus dessen Interpretation der Areopagrede herrührt. Und mehr noch: Dass, wie dort zu sehen war, die philosophische Rechenschaftsablegung des Glaubens von dem »Altar eines unbekannten Gottes« auszugehen habe, diese quasi ›apologetische Grundeinsicht‹ scheint Marion anwenden zu wollen, wenn sich seine Ausführungen nun ganz eng an die phänomenologische Binarität von »Idol« und »Ikone« halten. Im Grunde genommen ist darum anzunehmen, dass sich Marion in dieser Reflexion ganz und gar von der paulinischen Areopagrede

Eine eindrucksvolle Übersetzung dieses Textes wurde von L. Wenzler bereitgestellt: Marion, J.-L. Idol und Bild, in: Casper, B. (Hrsg.) Phänomenologie des Idols. Für die deutsche Marionrezeption ist interessant, dass diese Übersetzung über Marions Beteiligung an den »Gesprächen von Wahlwiller« zustande kam, bei denen B. Casper, L. Wenzler, E. Lévinas u. a. aufeinander trafen. 28 Vgl. »Mais la phénoménologie de l’idole et de l’icône est porteuse de décisions universelles sur l’homme.« (Lacoste, J.-Y. Penser à Dieu en l’aimant. Philosophie et Theologie de Jean-Luc Marion, 256). Dies gilt insbesondere in Bezug auf das vierte Kapitel von »Dieu sans l’être«, in dem Marion anhand literarischer und kunsthistorischer Beispiele die Möglichkeit einer idolfreien Haltung in säkularem Raum erwägt, obwohl eine entschieden philosophische Reflexion auf Ikonizität bzw. Distanz noch unterbleibt. In »La croisée du visible«, dem chronologisch letzten Text dieser Werkphase Marions, wird dies weiter entfaltet, wenn »Unsichtbarkeit« dort das generelle Geschehen von Kunst konstituieren soll. (Vgl. Alferi, T. Kunst als Ernstfall von Wahrnehmung. Kunsttheoretische und Religionsdidaktische Studien, 34–78). 29 Diese Annäherung ist auch in einem inhaltlichen Sinne zu verstehen, insofern das Phänomen der Ikone ja immer auch als »Gebung« zu bestimmen sein wird. 27

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inspiriert weiß, in der der »Altar des unbekannten Gottes« von den anderen Kultstätten idolischen Typs isoliert behandelt wurde. Wenn Marion also die phänomenologische und rationalitätskritische Tragweite des »Ikone-Idol-Gegensatzes« entwickelt, darf man seine theologische Intention nicht verkennen. Vielmehr ist auch an inhaltlichen Bestimmungen dieses Phänomenunterschiedes zu erkennen, dass Marion hier eine Art postmoderne »praeparatio evangelii« im Auge hat. 30 Für die in »Dieu sans l’être« entwickelte Phänomenologie der Ikone ist die Beobachtung entscheidend, dass ein Phänomen entweder in einem ikonischen oder idolischen Zugang erschlossen wird. In Weiterführung von Begrifflichkeiten Heideggers soll die genannte Binarität einerseits auf einer quasi ontologischen, nicht bloß ontischen Differenz aufruhen: »Bref, l’icône et l’idole ne se décident point comme des étants face à d’autres étants, puisque les mêmes étants (statues, noms, etc.) peuvent passer de l’un à l’autre rang. L’icône et l’idole déterminent deux manières d’être des étants, non pas deux classes d’étants.« 31 Andererseits erweitert Marion die Anspielung auf Heidegger zu der allgemeinen Interpretation, dass sich »Idolatrie« oder »Ikonizität« an der Einstellung des Blickes, des Bewusstseins, schließlich der Rationalität entscheiden: »Ce qui qualifie l’idole, tient au regard. Elle n’éblouit de visibilité qu’autant que le regard la regarde avec égards. Elle n’attire le regard qu’autant que le regard l’a attirée entière dans le regardable, l’y expose et l’y épuise. Le regard seul fait l’idole, comme ultime fonction d’irregardable.« 32 Worin liegt der tiefere Sinn, wenn Marion auf diese Weise zwei Haltungsmöglichkeiten gegenüber einem Phänomen unterscheidet? Einerseits: »Ikonizität«. Der Abhandlung »L’idole et la distance« zufolge vertrat Marion noch die Ansicht, dass philosophische Entwürfe, insbesondere solche, die die Gottesfrage implizieren, zu kritisieren sind, weil darin die Distanz verkannt bleibt, aus der heraus der lebendige Gott Jesu Christi gehandelt hat. Diese Distanz ist im Sinne von »Dieu sans l’être« aber ebenfalls am Phänomen der Ikone abzulesen. Denn hier wird das Bewusstsein von einem ›abständigen‹, d. h. disVgl. »Icon is closely associated with the religious notion of revelation and in particular with the Christian revelation.« (Long, T. E. Twentieth-Century. Western philosophy of religion, 1900–2000, 447). 31 DsE 16. 32 Ebd., 19, vgl. »Icône désigne ici une doctrine de la visiblité de l’image, plus exactement de l’usage de cette visibilité.« (CV 106). 30

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»Ikone« versus »Idol« – »Idolische und ikonische Rationalitt«

tanzierten Außen, das sich unvordenklich gibt, getroffen. 33 Aus der Unsichtbarkeit wird Sichtbarkeit gegeben. Andererseits ist als dazu antithetisches Phänomen das »Idol« und die mit ihm verbundene idolatrische Bewusstseinhaltung zu interpretieren. Verglichen mit der Ikonizität charakterisiert sich hier ein Phänomen durch reine Sichtbarkeit. Dies begründet sich aber daraus, dass sich im Idol einfach das Streben des Blickes nach einer solchen, reinen Sichtbarkeit erfüllen soll. Letztlich geht es beim Idol also um eine Art des Sehens, bei der der Blick in einem Phänomen sein eigenes Bedürfnis nach Sichtbarkeit spiegelt. Schließlich: Marion ist davon überzeugt, dass über die phänomenologische Ausdeutung von Ikonizität ein Zugang zu ebnen ist, um das in Jesus Christus ergangene Wort Gottes verständlich zu machen. Da Marion mit dieser theologischen Intention, d. h. aus der Sicht des Glaubens und seiner Priorität, argumentiert, möchte er den Vorrang der Ikonizität aufzeigen und in der idolischen Haltung eine Art Verweigerungsgestus wahrscheinlich machen. Der idolische Phänomenzugang verschließt demnach die Augen vor der Wirklichkeit, die sich ursprünglich, wie angesichts der Ikone, aus Distanz gibt. Anders gesagt: Im Idol prägt sich die Struktur einer sich gegenüber der ursprünglichen Ikonizität abschirmenden Bewusstseinshaltung aus, was Marion vor allem wieder auf die Frage anwenden wird, wie sich Philosophie und Theologie zueinander situieren. Doch sind die beiden Verfassungen des Bewusstseins, also »Idolatrie« und »Ikonizität«, zunächst auf zwei gegensätzliche Weisen des Sehens zurückzuverfolgen. Zu klären ist deshalb, was nach Marion den idolischen Blick vom ikonischen im Einzelnen unterscheidet. Erstens: In der idolischen Haltung möchte der Blick in Materie einfangen, was er für sein Absolutes hält: restlose Sichtbarkeit – mag diese eine religiöse Gestalt annehmen 34 oder nicht. Nach Auffassung Marions verdankt sich das Idol einem Entschluss des Blickes 35, sein Sichtfeld auf ein Draußen so auszurichten, dass dessen Leuchten bzw. dessen Sichtbarkeit ihn vollständig ausschöpft. Ferner befriedigt sich das Bedürfnis des Blickes nach Sichtbarkeit mit einer gewissen Proportionalität, wenn dieser sich seinem Idol annähert. Im Idol soll also Vgl. »pour que le voyant se laisse voir et s’arrache au statut de voyeur, il lui faut remonter, à travers l’icône visible, vers l’origine du regard autre, confessant et admettant ainsi être vu de lui.« (Ebd., 107). 34 Vgl. »Bien plutôt se consigne sur la pierre de son matériau ce qu’un regard – celui de l’artiste comme homme religieux pénétré du dieu – a vu de dieu.« (DsE 24). 35 Vgl. »[…] le regard seul qualifie l’idole.« (Ebd., 19). 33

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die Absicht des Blickes auf Sichtbarkeit zu einem quasi gegenständlichen Phänomen gerinnen. 36 »Idol« selbst bedeutet, dass der auf Sichtbarkeit gehende Ausgriff des Blickes in sein Ziel kommt. Der Blick rastet dann in einer Sichtbarkeit ein, die er selber beschworen hat. Umklammert der Blick schließlich das von ihm intendierte Sichtbare, dann wähnt er sich standfest. Marion macht jedoch deutlich, dass er sich damit eigentlich nur selbst gewonnen habe. 37 Das Idol bildet lediglich den Blick und sein Bedürfnis ab. Es ist letztlich ein einfacher Spiegel, der vom Anspruch des Blickes konstituiert und von seiner Reichweite limitiert wird. »L’idole joue ainsi comme un miroir, non comme un portrait: miroir qui renvoie au regard son image, ou plus exactement l’image de sa visée, et de la portée de cette visée.« 38 Zweitens: Dass Marion von seinem christlichen Standpunkt aus eine Wertung zwischen »Idol« und »Ikone« vornimmt, wird vor allem dort sichtbar, wo er die idolische Haltung als eine, im Unterschied zur ikonischen, letztlich kranke Illusion bestimmt. Wie liegen die Verhältnisse aber zunächst beim Phänomen der Ikone? Das Idol wurde, wie zu sehen war, vom Griff des Blickes nach sich selbst erzeugt. Die Ikone bietet demgegenüber eine Form von Sichtbarkeit, die aus Distanz oder Unbekanntheit heraus gegeben wird. Im Phänomen der Ikone berührt Sichtbarkeit den Blick – aber von außen. Sie gibt sich ihm aus ihrem eigenen Herrschaftsbereich heraus. 39 Für die Ikonizität ist eine Gegen-Intention typisch, bei der sich der ikonisch Blickende von einem fremden und ihm entzogenen Blick angeschaut weiß. 40 Während sich also im Idol der Blick an der von ihm selbst Vgl. ebd., 19. Vgl. Weltes Beobachtungen zur »Pathologie des Religiösen«: »Die Religion als Ideologie ist einer letzten und äußersten Steigerung fähig. Dann entsteht aus ihr der religiöse Fanatismus. Er entsteht dann, wenn das endliche Selbstseinwollen des Menschen in den Gestalten der Religion sich verabsolutiert.« (Welte, B. Religionsphilosophie, 317). Versagt der Mensch vor dem Anspruch des Unbedingten, bleibt ihm, nach Welte, der idolatrische Ausweg, »mit seinen eigenen Kräften und Möglichkeiten auf unbedingte Weise das Unbedingte an Wahrheit und Glück herzustellen.« (Ebd., 318). 38 DsE 21, vgl. CV 121. 39 Vgl. »Vielmehr bestimmt Marion das Bild [sc. ›l’icône‹ / T. A.] als etwas, das nicht durch einen Blick hervorgerufen wird, sondern von sich aus erscheint.« (Esterbauer, R. Kunst zwischen Idol und Bild. Die Position von J.-L. Marion, 89). 40 Vgl. »Das Bild [sc. ›l’icône‹ / T. A.] kommt nur dann als solches zur Erscheinung, wenn der Betrachter seinen eigenen Blick mit dem Blick eintauscht, der ihn aus dem Bild anschaut. Dieser Blickwechsel meint die Zurücknahme der eigenen Seh-Intentio36 37

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gesuchten Sichtbarkeit festbeißt, ist das Phänomen der Ikone transparent auf eine Unsichtbarkeit hin. Doch ist die Unsichtbarkeit überdies als ein Konstitutivum dieser Art des Sehens zu bestimmen. 41 In der »Ikonizität« betrifft mich ja ein mir fremder, deshalb ein zunächst mir unsichtbarer Blick. Gegenläufig dazu beschreibt Marion den idolischen Zugang als einen um sich selbst kreisenden Wahn, bei dem nicht nur der eigene Blick die Sichtbarkeit generiert, sondern der im Grunde genommen defizitär und von der »Ikonizität« abgeleitet ist. In seinen Ausführungen erscheint das Idol deshalb wie ein Phänomen, das aus der ursprünglichen »Ikonizität« herausgefallen ist: Das Idol bietet dem Blick die Möglichkeit, sich nicht in der Bodenlosigkeit von Ikonizität, d. h. einer unablässig neu aus Distanz sich gebenden Sichtbarkeit zu verlieren. Stattdessen hält sich der idolisch Blickende an das »erste Sichtbare«. Wenn Marion das Idol folglich als das nur »erste Sichtbare« bestimmt, wäre nach seiner Auffassung der ikonische Typus von Sichtbarkeit ursprünglicher als die Idolatrie. Für den Blick schlechthin wäre also eine ursprünglichere Bestimmung vorzusehen als die, die ihm das nur »erste Sichtbare« des Idols vorgaukelt: die Ikone. Nimmt man mit Marion jene sich aus Distanz gebende Sichtbarkeit, die im ikonischen Zugang virulent ist, als die ursprünglichere an, so ist an der idolischen Haltung eine Verweigerung abzulesen. Der idolische Blick verschließt sich entsprechend der höheren ikonischen Wirklichkeit, die beständig neue, unerwartete Sichtbarkeit aus Distanz gäbe. 42 Drittens: Vor allem bezüglich ihres Verhältnisses zur Unsichtnen zugunsten der Blick-Intention des unsichtbaren Göttlichen, das den Betrachter anblickt und ihm zugleich die eigene göttliche Intention aufzwingt.« (Ebd., 92). 41 Vgl. »Die Ikone bedeutet nicht das Ende des Bilderverbotes, sondern ist dessen Bestätigung auf der Ebene des Bildlichen selbst.« (Hoeps, R. Gebirgslandschaft mit Bilderstreit. Braucht die Theologie die Kunst?, 364), »Ihrer Bestimmung nach ist die Ikone zugleich bereits ›Ikonoklasmus‹ (den gegenständlich zu nehmen also Beweis völligen Unverständnisses ist): Sie will reine Transparenz auf Gott durch Verneinung ihrer selbst als ›eigenständiges Ding‹ sein.« (Verweyen, H. Gottes letztes Wort, Grundriss der Fundamentaltheologie, 156 f.). 42 Vgl. »Auf diese Weise wird das Wesen der Religion am allerschärfsten in sein Unwesen verkehrt und dies Unwesen in sein Äußerstes getrieben. Und dies alles geschieht nicht ohne eine dunkle Art von Konsequenz. Dabei wird sichtbar, dass auch der Fanatiker von der Erinnerung an die echte Möglichkeit der Religion lebt. Und diese echte Möglichkeit lebt auch noch in ihm. Aber er hat diese Möglichkeit gewaltsam verkehrt und ist so zum Schrecken für viele geworden.« (Welte, B. Religionsphilosophie, 320).

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barkeit differieren Idol und Ikone voneinander. Dies ist noch einmal deutlich hervorzuheben. Es leuchtet ein, dass Unsichtbarkeit für den ikonischen Blick konstitutiv ist, der sich ja nicht nur am »ersten Sichtbaren« festzurrt, sondern offen für »unerwartete, distanzierte Sichtbarkeit« ist. Der ikonische Blick weiß aber nicht nur vorübergehend um Unsichtbarkeit. Unsichtbarkeit liegt seiner ganzen Einstellung zugrunde. Weil er sich als Adressat eines fremden, aus Distanz rührenden Blickes weiß, sieht er, paradoxerweise, Unsichtbarkeit: »L’icône, au contraire, tente de rendre visible l’invisible comme tel.« 43 Insbesondere diese für die Ikonizität charakteristische Überschneidung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist dem idolischen Blick aber ein hölzernes Eisen. Denn dessen Trachten zielt auf reine Sichtbarkeit. Gemäß Marions Interpretation intendiert der idolische Blick ja immer nur das »erste Sichtbare«, wodurch er lediglich sein eigenes Bedürfnis nach Sicht erfüllt und mit Unsichtbarkeit gerade nicht rechnet. Viertens: Zum genannten Ausschluss von Unsichtbarem zählt, dass dem idolischen Blick verdeckt bleibt, dass und wie er sich im Idol selbst spiegelt. Entsprechend dieser Beobachtung bestimmt Marion das Idol als »unsichtbaren Spiegel«. »Parce qu’elle offre au regard son premier visible, l’idole reste elle-même miroir invisible.« 44 Das unsichtbare Sich-Selbst-Spiegeln kann vom idolischen Blick selber nicht erfasst werden, insofern seine Ausrichtung hoffnungslos vom Sichtbarkeitsverlangen bestimmt wurde, sein Bestreben ganz auf Sichtbarkeit zielt: »Avec l’idole, le miroir invisible n’admet aucun audelà, parce que le regard ne peut augmenter la hausse de la visée.« 45 Weil sich das Unsichtbare der idolischen Wahrnehmung entzieht, vermag sie den Spiegelcharakter des Idols aber nicht zu begreifen: »ce miroir invisible, se nomme idole. […] invisible parce qu’il masque la fin de la visée; à partir de lui, la visée ne progresse plus, mais, ne DsE 28. Ebd., 21, vgl. »Wesentlich ist für Marion, dass zwar der Blick reflektiert wird und dass dadurch das Idol als etwas Göttliches fassbar wird, daß die Tatsache der Reflexion dem Betrachter aber verborgen bleibt. Der Spiegel selbst ist unsichtbar.« (Esterbauer, R. Kunst zwischen Idol und Bild. Die Position von J.-L. Marion, 90), »Die Ikone schenkt dem Betrachter Aufmerksamkeit und verweist auf etwas anderes, eine höhere Qualität des Seins. Sie enthüllt und verhüllt zugleich das Geheimnis, auf das sie hinweist, wohingegen das plastische Standbild ›das ist, was es ist‹.« (Houtepen, A. W. J. Gott- eine offene Frage, 292). 45 DsE 23. 43 44

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»Ikone« versus »Idol« – »Idolische und ikonische Rationalitt«

visant plus, revient sur soi […].« 46 Abschließend ist aber noch einmal zu betonen, dass der Blick nach Marion höhere Möglichkeiten hätte als die, die ihm die Idole vortäuschen. Er könnte über die idolische Dimension des Sichtbaren hinaus- und ins Unsichtbare hineinreichen. Insgesamt möchte Marion auf diese Weise die Ikonizität als die tiefere Bestimmung von Sichtbarkeit und Wirklichkeit erweisen. Der Sinn dieser Präferenz ist aber klar aus der theologischen Intention dieser Analysen heraus zu verstehen. Denn in letzter Konsequenz geht es bei ihnen um die Frage, wie sich Theologie und Philosophie zueinander verhalten, oder genauer noch, in welcher Relation ein der Offenbarung entsprungenes Gottesverständnis zu den Gottesbegriffen allgemeiner Rationalität bzw. zur philosophischen Theologie steht. Wie kann Marion aber zu dieser weiterführenden Problemebene übergehen? Zunächst hat man daran zu erinnern, dass in der idolischen Haltung der Versuch liegt, etwas Sichtbares mit Blicken zu begreifen. Infolgedessen scheint die Mentalität des Erfassens für sie wesenstypisch. Marions phänomenologische Analysen führen von dieser Einsicht dann wie automatisch zu einer Kritik an der abendländischen Rationalität. Denn das Erfassenwollen bzw. das Verlangen nach Sichtbarkeit gehört zweifelsohne zu ihren Kriterien. So lässt sich über die phänomenologische Binarität von »Idol« und »Ikone« die Relation von Philosophie und Theologie genauer konturieren. Was als Phänomenologie des Idols begann, entfaltet Marion in einem zweiten Schritt als Kritik an der philosophischen Rationalität, wobei die Einsichten aus »L’idole et la distance« fortgesetzt werden. Marion führt aus, dass die idolischen Phänomenstrukturen auf die Grundhaltung philosophischer Rationalität zu übertragen sind, der zufolge Begriffe die Wirklichkeit einfangen sollen bzw. der zufolge nur wirklich ist, was sich von Begriffen erfassen lässt. Seiner Überzeugung zufolge zielen philosophische Begriffe wie Idole nur auf das, was sich als erste Sichtbarkeit darbietet. Im Kontext dieser idolischen Rationalität bilden Begriffe das von einem Blick Erwünschte getreu ab und erfüllen es. »Le concept consigne dans un signe ce que d’abord l’esprit avec lui saisit […]« 47 Symptomatisch ist, dass damit eine gewisse ›geistige Befriedigung‹ korreliert. Die postmoderne Metaphysikkritik nachahmend, richtet Marion diesen Einwurf vor allem an die abendländische Philosophie, ihre Gottesbegriffe und Atheis46 47

Ebd., 40. Ebd., 26.

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men. 48 Diese Kritik wird aber aus einer theologischen Position formuliert. Genauer: Insofern die Philosophie ihre Denksysteme mit Hilfe von bekannten, gewissen Begriffen konstruiere, lebe sie, so Marion, eigentlich nicht, wie der christliche Glaube, aus der ursprünglichen Ikonizität, in der sich die Wirklichkeit aus unverfüglicher Distanz heraus gibt. Vielmehr ›ergötzt‹ sich philosophische Theologie an begrifflichen Artefakten, die vielleicht den Namen Gottes tragen, doch eigentlich nur die Tragweite ihrer eigenen, idolischen Möglichkeiten beschreibt. Aufgrund ihres illusionären Charakters bleibt den Begriffen philosophischer Theologie ferner verschlossen, also unsichtbar, dass sie lediglich vom Bedürfnis der Rationalität nach sich selbst abhängen. In philosophischer Theologie realisiert sich so der Spiegel als ein Unsichtbarer. »Quand une pensée philosophique énonce, de ce qu’elle nomme alors ›Dieu‹, un concept, ce concept fonctionne exactement comme une idole, il se donne à voir, mais ainsi se dissimule d’autant mieux comme le miroir où la pensée, invisiblement, reçoit la localisation de son avancée, en sorte que l’invisable se trouve, avec une visée suspendue par le concept fixé, disqualifié et abandonné.« 49 Vor allem ist aber festzuhalten, dass von der so verfahrenden philosophischen Theologie her kein Zugang zu erwarten ist zu dem Gott, der sich am Kreuz geoffenbart hat. Dieser wäre nur innerhalb einer Theologie zu denken, deren Rationalität konsequent von Ikonizität geprägt ist und sich von den idolischen Zügen säkularer Philosophie mit Nachdruck distanziert. 50 Zu den Grundeinsichten dieser ikonischen Theologie nun aber im Einzelnen. Am Ausgangspunkt der Marionschen Konzeption von TheoMarions Ausführungen lassen sich auch als Kritik an eine an die Scholastik angelehnte Theologie verstehen, für die der Begriff des höchsten Seins bestimmend wurde: »Far from it, the book is a sustained attack against all of those theologies, from Thomas Aquinas to Tillich, that understand being to be the primary attribute of God. Over against this tradition, Marion emphasizes again the primacy of God’s self-manifestation, the primacy of revelation.« (Hütter, R. Rez. »God without being«, 239). 49 DsE 26. 50 Vgl. den polemischen Standpunkt Lacostes’: »La philosophie peut au moins dire, sur Dieu, qu’elle n’a rien à dire de lui. La brutale affirmation en court dans Dieu sans l’être. Mais il est peu douteux qu’aucun coup de force théologique n’empêchera jamais la philosophie de s’occuper de Dieu: la classique polémique Jaspers contre Bultmann doit être présente en mémoire pour rappeler que le terrorisme théologique, selon lequel Dieu seul parle bien de Dieu, est à la fois irréfutable et déraisonnable.« (Lacoste, J.-Y. Penser à Dieu en l’aimant. Philosophie et Theologie chez Jean-Luc Marion, 252). Verneau spricht bei Marion von einer fideistischen »Phobie de la raison«. (Vgl. Verneau, R. Etude critique du livre »Dieu sans l’être«, 11 ff.). 48

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logie steht das sich durch »Distanz« und »Ikonizität« auszeichnende Phänomen der Offenbarung. In diesem Kontext greift Marion auf die Aussage des Kolosserbriefes zurück, dass Christus »das Ebenbild [eikwn] des unsichtbaren Gottes« 51 sei. Der Anstoß für eine spezifisch theologische Rationalität liegt demnach in einem ikonischen Phänomen, in dem sich einerseits Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit überschneiden. Ferner sollte demnach der auf das Bewusstsein von Außen gerichtete, sich ganz gebende und zugleich entziehende Blick Jesu den Ausgangspunkt von Theologie bilden. Wo das Denken aber von einem ikonischen Blick ausgeht, der Unsichtbarkeit sieht, ja sich von ihr angeschaut weiß, dort löst sich nach Marion das angedeutete Um-sich-Kreisen auf, das die begrifflichen Systeme philosophischer Rationalität prägt. Im Zentrum der Begriffe klafft dann wie in der Ikone eine Distanz. 52 Oder: Eine unsichtbare Dimension schimmert durch die Begriffe selbst hindurch. In einer solchen ikonischen Rationalität wird der den philosophischen Begriffen innewohnende Anspruch auf Sicht- und Fassbarkeit unterwandert. Sie geht ja von einem unsichtbaren, d. h. stets unfassbaren Moment aus, das sich allerdings nicht in Sichtbarkeit überführen lässt. Hier gilt: »Loin que le visible avance à la conquête de l’invisible […] on dirait plutôt que l’invisible […] procède jusque dans le visible, précisément parce que le visible procèderait de l’invisible.« 53 Darum verweisen die hier im ikonischen Modus auftretenden Begriffe stets auf ihr unsichtbares und damit unfassbares Urbild, dem sie entstammen: »[…] l’icône se définit par une origine sans original: une origine elle-même infinie, qui se déverse ou se donne au long de l’infinie profondeur de l’icône.« 54 Für den Vollzug der ikonischen Rationalität ist entscheidend, dass diese Spannung zur Unsichtbarkeit nicht zu nivellieren oder diese in Sichtbarkeit zu überführen ist. Unsichtbarkeit bildet dort hingegen das unhintergehbare Movens, ja den ›Grund‹, dessen unaufhebbare Distanz bleibend anzuerkennen ist. Die ikonische Rationalität weiß sich einer Unsichtbarkeit oder Distanz verdankt, die sie nicht zu ergreifen vermöchte, von der sie sich aber ableitet. Nach Marion sollte die so skizzierte, ikonische Rationalität jeder ernsthafKol 1,15, vgl. DsE 28. Vgl. »The icon, though, is a curious sort of phenomenon. While it »appears«, its appearance is always only a shadow of its full reality.« (Benson, B. E. Graven ideologies. Nietzsche, Derrida & Marion on modern idolatry, 191). 53 DsE 28. 54 Ebd., 33. 51 52

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ten Theologie zugrunde liegen, die ihren Ausgang vom Kreuzesgeschehen nehmen will. Vor allem steht diese Konzeption von Theologie der auf Selbstgewissheit drängenden Philosophie gegenüber, die letzlich in der idolischen Einstellung verwurzelt ist. Bevor die inhaltlichen Schwerpunkte von Marions ikonischer Theologie vorgestellt werden, ist auf die Art und Weise näher einzugehen, wie Marion in ihrem Zeichen die Philosophie seiner Zeit, insbesondere das Denken M. Heideggers kritisiert.

2.4. Heidegger und Marions staurologische Rationalittskritik Insofern sich aus der phänomenologischen Binarität »Idol / Distanz versus Ikone« kritische Rückschlüsse auf die säkulare Rationalität ergeben, sieht sich Marion zu einer umfassenden Kritik an der zeitgenössischen Philosophie berechtigt. Insbesondere prangert er dabei das seinsgeschichtliche Denken Heideggers als eine Form von Idolatrie an. Das von Marion entworfene Zueinander von Philosophie und Theologie geriert sich damit zu einer ›kreuzestheologisch angestoßenen Rationalitätskritik‹, die vorwiegend Heidegger in ihren Fokus nimmt. 55 Richtig ist aber auch, dass die Philosophie Heideggers eine wichtige Inspirationsquelle für die Theologie des frühen Marion darstellt. Diese Ambivalenz ist im Folgenden näher aufzuzeigen. Das Verhältnis des frühen Marion zu Heidegger ist zunächst sehr eng. Denn aufs Ganze gesehen übernimmt Marion die These Heideggers, die klassische Metaphysik sei onto-theologisch verfasst. So ergeben sich von selbst zunächst einige Parallelen zwischen beiden Denkern. Erstens: Wenn Heidegger seine These von der OntoTheologie erläutert, weist er in der Geschichte des klassischen Denkens ein Gründungsschema nach, dem zufolge die Seienden in einem höchsten Seienden gegründet (Onto-Theologie) werden. 56 Marion variiert diese Einsicht, insofern er diese philosophischen Gründungsvorgänge als Effekte begrifflicher Idolatrie interpretiert: Sucht das Denken die Wirklichkeit in einem höchsten Begriff zu gründen, dann Ein anderer von Marion kritisierter Gelehrter ist Thomas v. Aquin und dessen Gottesbegriff »summum ens«. (Vgl. ebd., 112 ff.). Angesichts der Tatsache, dass Marion diese Thomasinterpretation später zurückgenommen hat, können nähere Ausführungen hierzu übergangen werden. Vgl. Marion, J.-L. Saint-Thomas et l’onto-théologie. 56 Vgl. v. a. Heidegger, M. Identität und Differenz, 63. 55

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Heidegger und Marions staurologische Rationalittskritik

will sich die Rationalität lediglich selbst spiegeln. Daraus resultiert zweitens: Marion möchte wie Heidegger jene Gottesbegriffe aus der abendländischen Ideengeschichte desavouieren, die den Grund für die Seienden abgeben sollen. 57 In Anlehnung an Heidegger sagt er: »Il faudrait peut-être admettre que reste libre un autre chemin – celui qui entreprendrait d’envisager, en fait de divin, une autre figure que le ›Dieu‹ onto-théologique.« 58 Von idolatrischer Signifikanz ist aber vor allem die Rede von der »causa sui« – ein Begriff von Gott, in dem Marion einen der idolischen Höhepunkte philosophischer Theologie erblickt: »l’idole conceptuelle a un site, la métaphysique, une fonction, la théo-logie dans l’onto-théo-logie, et une définition, causa sui.« 59 Drittens und zusammenfassend: Marion verpflichtet sich auf den von Heidegger erzielten Fortschritt in der Geschichte philosophischer Ideen. Denn er betrachtet Heidegger als den entscheidenden Vorreiter auf dem Weg zu einer anti-idolatrischen Begrifflichkeit und Metaphysik: 60 »La première idolâtrie peut s’établir rigoureusement à partir de la métaphysique, pour autant que son essence dépend de la différence ontologique, mais »impensée comme telle« (M. Heidegger).« 61 Insbesondere stimmt Marion aus seiner Glaubensperspektive heraus zu, wenn Heidegger den Gottesbegriff »causa sui« zum Bestand der onto-theologisch verfassten und zu überwindenden Metaphysik rechnet. 62 Denn der Gott Jesu Christi, den Marion denken will, hat keinen gemeinsamen Nenner mit der Vorstellung von einer »causa sui«. Die Wege von Marion und Heidegger trennen sich an der Stelle, wo der zuletzt Genannte den onto-theologischen Typ von Metaphysik durch ein eigentliches ›Denken des Seins‹ ›verwinden‹ will. Letztlich begründet Heidegger, so Marion, damit eine neue Gestalt von philosophischer Idolatrie. In diesem Kontext ist für Marion besonders interessant, dass Heidegger – in einigen religionsphilosophiVgl. »Les caractères de l’idole conviennent également à un ›dieu‹ qui sert comme fondement; qui énonce suprêmement l’Être des étants en général et, en ce sens, leur renvoie une image fidèle de ce par où ils sont, et de ce qu’ils sont.« (ID 31). 58 Ebd., 32. 59 DsE 56. 60 In diesem Zusammenhang nimmt, wie bei Heidegger, die Philosophie Nietzsches eine Scharnierposition ein. Marion betrachtet Nietzsche als einen Denker, der das Machtstreben in klassisch-philosophischer Begrifflichkeit enttarnt und dessen Denken sich deshalb ›auf der Schwelle der Distanz‹ bewegt. (Vgl. ID 45 ff.). 61 Ebd., 51, vgl. ID 24 ff. 62 Vgl. Heidegger, M. Identität und Differenz, 64 f. 57

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schen Passagen seines Spätwerkes – einen »göttlichen Gott« denkbar machen will, vor dem der Mensch ›beten und auf die Knie fallen können‹ sollte. 63 Aus der Marionschen Position des Glaubens gesehen, scheint Heidegger diese Möglichkeit, Gott zu denken, aber genau dadurch zu konterkarieren, dass er ihr das Sein und seine spezifische Phänomenalität vorschaltet. Marion stößt sich deshalb besonders an Behauptungen Heideggers wie: »Erst aus der Wahrheit des Seins lässt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was das Wort ›Gott‹ nennen soll.« 64 Im Sinne Marions kehrt hier aufgrund des von Heidegger prinzipiierten Seins ein vernunfthöriger, d. h. idolatrischer Gottesbegriff zurück. Zwar sei dieser nicht in einem klassischen Sinne von der selbstgewissen Rationalität hervorgebracht worden. Doch stehe auch dieses Verständnis von Gott in einem Abhängigkeitsverhältnis – und zwar vom »Sein«. Folglich lasse sich Gott auch mit Heidegger nicht als freie, lebendige Wirklichkeit denken, die aus Distanz handelt. 65 Bei Heidegger komme nur eine auf dem ›Bildschirm des Seins‹ (»l’écran de l’être« 66 ) erfassbare Vorstellung von Gott in den Blick. Und damit stelle sich ausgerechnet in dessen Denken eine neue Form von Idolatrie ein, deren Überwindung mit Heideggers These, die klassische Metaphysik sei onto-theologisch verfasst, zunächst in Aussicht stand. 67 »Nous posons donc qu’ici encore […] et au-delà de l’idolâtrie propre à la métaphysique, travaille une autre idolâtrie, propre à la pensée de l’Être en tant que tel.« 68 Heideggers Idolatrie hat nach Marion deswegen zwar eine sublimere Gestalt. Doch ist seine Ausrichtung auf das Sein von der Warte der Offenbarung aus als weitere Ausprägung einer idolförmigen Rationalität aufzufassen, der Marion dezidiert die Ikonizität entgegen halten will. Das »Sein«, das Heidegger seit seinen früheren Schriften zur Vgl. ebd., DsE 54 f. Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 351. 65 Vgl. DsE 58, »L’essentiel, dans la question de ›l’existence de Dieu‹, tient moins à ›dieu‹, qu’à l’existence elle-même, donc à l’Être. […] la vérité sur ›Dieu‹ ne pourra jamais venir que de ce d’où provient la vérité elle-même, à savoir de l’Être, de sa constellation et de son ouverture.« (Ebd., 65). 66 Vgl. ebd., 58. 67 Vgl. ebd., 126. 68 Ebd., 65. 63 64

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Daseinsanalytik beschäftigt, ist für Marion lediglich das »erste Sichtbare«. Geht man von Heideggers Seinsbegriff direkt zu einer philosophischen Theologie über, dann ergibt sich zwangsläufig ein artefaktisches Verständnis von Gott. Aber dieses widerspricht dem Geschehen von Offenbarung, in der der lebendige Gott ins Denken aus Distanz einbricht. Deswegen: Anders als dort kehrt in Heideggers Gottesverständnis, so Marion, die idolische Bewusstseinshaltung zurück. Für Marion heißt dies auch, dass in Heideggers Denken des Seins der »miroir invisible« weiterhin am Werk ist, den er ja als ein von der Ikonizität abgeleiteter Phänomentyp gedeutet hatte. Marion macht dies daran fest, dass das Thema »Gott« bei Heidegger nicht aus unverfüglicher Distanz, sondern nur als ein Seiendes oder zumindest als Element einer geschichtlichen Konfiguration von »Sein« in Betracht kommt. 69 Dies führt aber zu der Deutung Marions, dass sich, entgegen Heideggers eigenen Beteuerungen, das Seinsdenken letztlich doch nur an der reinen Sichtbarkeit aufhält, die das Bewusstsein intendiert. 70 In keinem Fall rücke es aber in jenen Bereich der Distanz vor, aus der der lebendige Gott Jesu Christi gehandelt hat. Anders gesagt: Bei Heidegger ist »Gott« nicht der freie Gott, der sich am Kreuz kundgetan hat und den das Neue Testament bezeugt. Diesen Gott zu denken kann nach Marion nur eine Theologie, die völlig von den Vorgaben des Seins befreit ist. In ihr ist Gott ohne das Sein zu denken: »Dieu sans l’être«. 71 Der Gott Jesu Christi ist deshalb nicht nur ohne die Vorgaben klassischer Rationalität, sondern auch ohne das von Heidegger angestrebte Seinsdenken in den Blick zu nehmen. 72 Umgekehrt stellen die Gottesvorstellungen Heideggers keine 69 Vgl. »Aus einer ursprünglichen Einheit gehören die Vier: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen in eins.« (Heidegger, M. Bauen, Wohnen, Denken, 143). 70 Vgl. »Bref ›Dieu‹ ne devient premièrement visible comme étant, que parce qu’ainsi il comble – au moins en un sens – et renvoie réflexivement (miroir invisible) à elle-même une visée qui porte d’abord et décidément sur l’Etre.« (DsE 69). 71 Heideggers Haltung gegenüber der Theologie scheint indes vielschichtiger. Den kritisierten Schlussfolgerungen, in denen Gott dem Sein untergeordnet wird, stehen andere Verhältnisbestimmungen zwischen Philosophie und Theologie gegenüber, in denen Heidegger eine schroffe Trennung zwischen Philosophie / Ontologie und Theologie vertritt. Z. B. »Wenn ich noch eine Theologie schreiben würde, wozu es mich manchmal reizt, dann dürfte in ihr das Wort ›Sein‹ nicht vorkommen. Der Glaube hat das Denken des Seins nicht nötig. Wenn er das braucht, ist er schon nicht mehr Glaube.« (Heidegger, M. Seminare, 437). Unter dieser Voraussetzung dürfte sich Marions Kritik nur an eine, wenn auch dominante, Motivkette im Werk Heideggers richten. 72 Vgl. ID 261 f.

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ernsthaften Konkurrenten für den Gott des christlichen Glaubens dar. Im Ausgang von Marions staurozentrischer Position wiederholt sich in Heideggers religionsphilosophischen Ansätzen ja einfach die idoltypische Rationalität, die ihre eigene Spiegelung nicht durchschauen kann. So bleibt ihnen die Abkünftigkeit aus der Ikonizität verschlossen. Entsprechend richtet sich Marion wie folgt gegen Heidegger: »Le don délivre l’Être / étant. Il le délivre au sens d’abord où il le donne, le met en jeu, l’ouvre à son envoi comme pour le lancer en son destin. Il le délivre aussi en ce qu’il libère l’étant de l’Être, ou si l’on veut l’Être / étant de la différence ontologique […].« 73 Es dürfte von dort her wenig verwundern, dass Marion den Heideggerschen Ansatz in eine Reihe mit den klassischen, von selbstgewisser Rationalität dominierten Gottesbegriffen bringt und sie unter die Überschrift »Theiologie« stellt 74 – nicht zuletzt in einer doppelten Anspielung auf die Areopagrede des Paulus und, gleichsam auf der gegenüberliegenden Seite, Heideggers Interesse an den griechischen Ursprüngen metaphysischer Philosophie. Nach Marion sind die idolischen Gottesbegriffe der säkularen Rationalität als »Theiologien« zu erfassen und von der »Theologie« abzusetzen, die allein vom Gott Jesu Christi ausgeht. 75 Nun ist aber der Frage auf den Grund zu gehen, welche Gestalt eine Theologie annimmt, die auf jede Idolatrie verzichtet und deren Rationalität sich ganz auf die Distanz bzw. auf das Ereignis der Ikone Jesu Christi verpflichtet – eine ikonische Theologie. 76

2.5. »donation«: Konvergenzpunkt theologischer Reflexion Im Anschluss an die gezeigte Binarität »Idol versus Ikone / Distanz« und an die daraus resultierende Kritik an, unter anderem, Heidegger DsE 147 f. Nicht ist zu übersehen ist dabei der Einfluss Heideggers (»Seyn« statt »Sein«) und Derridas (»différance« statt »difference«). Auch andere, vergleichbare Textstrategien Marions sind aus diesem Kontext heraus zu verstehen: z. B. »Theologie« versus »Theologie«, »Dieu« versus »Dieu«. 75 Vgl. »L’adjonction du i, qui transforme théologie en theiologie n’indique pas peu: le logos porte désormais, plus esentiellement que sur ›Dieu‹ / o theos, sur l’instance qui seule le qualifie comme exemplaire, le divin lui-même / to theion.« (DsE 96). 76 Vgl. »For Marion, theology is only possible as iconic theology, a discourse whose origin and objective is the God who manifests himself.« (Hütter, R. Rez. »God without being«, 242). 73 74

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entwirft Marion eine Art theologisches Programm. Wichtig ist dabei, dass sich der hier geltende Rationalitätstyp im Unterschied zum säkularen Denken durch ›Ikonizität‹ bzw. Distanz auszuzeichnen habe. Denn wenn die Theologie von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus wirklich herkommt, bzw. wenn an ihrem Anfang das Kreuzesgeschehen steht, dann müsste ihr Denken, so Marion, ganz vom Phänomen der Distanz bzw. der Ikonizität geformt sein. Marion vertritt in seinem Frühwerk also eine Theologie, die die säkulare Rationalität kritisiert und als idolatrisch disqualifiziert, während für ihre eigene Begrifflichkeit die Phänomenalität von »Distanz« bzw. »Ikonizität« bestimmend sein soll. 77 Den Grundlinien dieser ›ikonischen Theologie‹ ist nun nachzugehen. Für die Belange der vorliegenden Studie interessiert in erster Linie, wie sich innerhalb dieser Konzeption der Begriff »donation« positioniert. Insofern man das theologische Frühwerk Marions aber auf diese Frage zuschneiden will, lohnt es sich, in einem ersten Schritt zum Ausgangspunkt der christlichen Offenbarung zurückzublenden. Wie bereits ausgeführt, ist für Marion hier das Phänomen »Distanz« bzw. »Ikonizität« virulent, das sich schließlich als Verständnisschlüssel für den christlichen Glauben generell eignen soll. Über eine vertiefende Beschäftigung mit der offenbarungstheoretischen Bedeutung von »Distanz« ist allerdings zu zeigen, dass der Begriff »donation« je schon eine unterschwellige Leitfunktion in dieser Reflexion innehat. Daraufhin muss in einer zweiten Einheit gefragt werden, warum Marion gerade dem Denken des sog. »Pseudo-Dionysios« wesentliche Bausteine zu seiner ikonischen Konzeption von Theologie entnimmt. Ausgehend davon sind deren Grundzüge nach ekklesiologischen und sakramentalen Aspekten aufzurollen, wobei der Schwerpunkt auf den Begriff »donation« gelegt wird, den Marion in diesen Interpretationen explizit einsetzt. Die Untersuchungen zum Marionschen Frühwerk sind mit der Frage abzuschließen, welche Implikationen Marion für das theoretische Dieser Standpunkt ist verschiedentlich kritisiert worden, weil die Theologie damit Gefahr läuft, gegenüber der allgemeinen Rationalität eine Ghettoposition einzunehmen und lediglich eine binnenkirchliche Begrifflichkeit zu praktizieren. (Z. B. Lacoste, J.-Y. Penser à Dieu en l’aimant. Philosophie et Theologie chez Jean-Luc Marion). An dieser Stelle wird aber auf eine ausführliche Kommentierung des Marionschen Frühwerkes verzichtet. Dass Marion in dieser Werkphase einem theologischen Engpass verhaftet blieb, behauptet ja aus sich selbst heraus die für diese Studie zentrale These eines fundamentaltheologischen Neuanfanges, den erst die »Phénoménologie de la donation« bildet.

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Selbstverständnis von Theologie vorsieht. Denn zu bedenken gibt, dass der Begriff »donation« bestimmend für deren Rationalitätsform sein soll. Im Vorgriff seien die Prinzipien von Marions ikonischer Theologie herausgestellt: Die theologische Konzeption, die Marion unter besonderer Berücksichtigung von Pseudo-Dionysios ausarbeitet, gründet auf einer Rationalität, die von der am Kreuz erschienen Gebung Gottes überformt wurde und als ›hingegeben‹ zu verstehen ist. 78 Nach Auffassung Marions strukturiert »Gebung« und »Hingegebensein« nicht nur das Leben dessen, der sich – angerufen von der Offenbarung – in die Nachfolge Jesu Christi stellt und zur Gemeinschaft der Kirche gehört. Vielmehr verdient Beachtung, dass sich auch in theologischer Rede und Wissenschaftspraxis diese »donation« äußern müsste. Wenn Marion also die Offenbarung als einen denkerisch unableitbaren Gabeakt darstellt, dann resultiert daraus die Forderung nach einer theologischen Begrifflichkeit, die in Entsprechung dazu an diese Gebung Gottes hingegeben ist. 79 Unter dieser Voraussetzung verkörpert »donation« deshalb nicht nur den Konvergenzpunkt ›christlicher bzw. kirchlicher Existenz‹. Zugleich, und d. h. als spezifischer Sektor derselben, soll an theologischer Rationalität das radikale Hingegebensein sichtbar werden, das sich der Gebung Gottes am Kreuz verdankt weiß. 80 Denn: »Une théologie, pour justifer sa christianité, doit se concevoir comme un logos du Logos, un verbe du Verbe, un dit du Dit – où certes, toute doctrine du langaVgl. »Mais un don, qui se donne à jamais, ne peut se penser que par une pensée qui se donne au don à penser. Une pensée qui se donne peut seule s’adonner à un don pour la pensée.« (DsE 75). 79 Vgl. »La théologie écrit toujours à partir d’un autre qu’elle-même.« (Ebd., 9), »La théologie rend son auteur hypocrite.« (Ebd., 10). 80 An Marions Entwurf ist die Situation der Theologie im laizistischen Frankreich abzulesen. Verglichen mit Deutschland, wo die theologischen Fakultäten nicht nur in das staatliche Universitätssystem, sondern dadurch auch in die Diskurse säkularer Rationalität stark eingebunden sind, zeichnet sich die Theologie Frankreichs durch eine gewisse Ghettoexistenz aus. Diese institutionelle Ausgangslage scheint sich nun nicht nur auf die von Marion gesetzte Polarität von »Idol« und »Ikone« bzw. »idolische« und »ikonische Rationalität« auszuwirken. Sie kehrt vor allem auch bei der Auffassung zurück, die theologische Rationalität gehöre restlos in den Binnenraum der Kirche. Das Interessante am Denken Marions besteht nun aber darin, dass er selbst die hier akute Verdoppelung der Rationalität – also einer solchen, die nur innerhalb der Kirche Geltung hat und einer solchen, die für die allgemeine Vernunft zugänglich ist – wahrgenommen hat. (Vgl. Kap. 1.4.). Wie ein ›Motiv‹ scheint das Bewusstsein dafür, die säkulare Rationalität in seiner ikonischen Theologie unterbelichtet zu haben, dem Neuansatz der »Phénoménologie de la donation« zugrunde zu liegen. 78

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ge, toute théorie du discours, toute epistémologie des savoirs doit se laisser normer par l’événément de son redoublement en instance, majuscule, intime et antérieur.« 81 2.5.1. Eine »donation« aus »distance« – Offenbarungstheoretische Weiterführungen Der Glaube des Christen entscheidet sich an Ostern: »Pâques innove et innove radicalement« 82 Wie bereits ausgeführt 83 , deutet Marion dieses Geschehen so: Wer den Gekreuzigten als den lebendigen Herrn erkennt, der lebt in der neuen Wirklichkeit der Distanz. Bei Lichte besehen wird aber deutlich, dass die von Marion hier umrissene, österliche Wirklichkeit ein Leben in »donation« meint. Denn zuerst: Nach der Interpretation Marions wird dem Herrn, der sich am Kreuz an die Distanz zum Vater hingegeben hat, das Leben aus Distanz neu gegeben. Weil sich in der Offenbarung Gottes am Kreuz demnach ein Gabeakt äußert, der in Distanz hinein- und aus ihr herausreicht, dürfte der Begriff »donation« im Zentrum der Marionschen Theologie stehen. So ist als erstes der Zusammenhang zwischen »distance« und »donation« evident zu machen: Im Tod Jesu wird gemäß der Grundaussage des christlichen Credo der Tod selbst überwunden und das Leben neu geschaffen. 84 Wie Marion aber interpretiert, wird das an Ostern neu anbrechende Leben von der »Distanz« zum Vater vermittelt, der sich der Herr bei seinem Kreuzestod übereignet hat. Der am Kreuz sterbende Sohn erkennt, in einem letzten Akt von Liebe, die Distanz zum Vater an. Und aus dieser Distanz empfängt er das Leben vom Vater neu. Daraus ergibt sich nun, dass das österliche Erkennen, das über den christlichen Glauben entscheidet, ›an Karfreitag‹ gesehen hat, wie Christus in die Distanz als eine todbringende einwilligt und sich nun daran hält, dass Christus aus dieser Distanz neues Leben geschenkt wurde. 85 Zieht man die Linien Ebd., 201. PC 149. 83 Vgl. Kap. 2.2. 84 Vgl. z. B. 1 Kor 15, 20 ff. 85 Entsprechend der Darstellung in Kap. 2.2. ist Karfreitag nach Marion nicht als Ereignis zu verstehen, dem mit Ostern ein zweites Datum folgt, das den Glauben erst begründen würde. Vielmehr wird nach Marion der sachliche Grund für den Osterglauben an Karfreitag gelegt. Umgekehrt meint Ostern eine über die Erfahrung des Todes hi81 82

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dieser Deutung weiter aus, so wäre zu sagen, dass an Ostern die Einsicht gewonnen werde in die den Tod überwindende Bedeutung von »donation«, die der Herr als ihr erster Zeuge vorgelebt hätte. »Donation« scheint zuerst am Kreuzesgeschehen auf und dieses wäre als Geschehen von »donation« zu explizieren. Erstens: Die Distanz zum Vater, die der Sohn in der Stunde seines Todes am Kreuz anerkennt, verlangt eine Ganzgebung seiner Person. In Übereinstimmung damit zieht Marion eine explizite Verbindungslinie zwischen »kenosis« und »don«: »La kénose ne met aucune condition à se révéler, parce qu’en cette révélation elle se donne, et ne révèle rien que ce don inconditionnné.« 86 Zweitens: Dass sich Christus ›an Karfreitag‹ der Gottverlassenheit restlos aussetzt und sich der Distanz zum Vater überlässt, bedeutet von Ostern her gesehen ein radikales und vorgriffloses ›Sich-auf-Empfang-stellen‹. Die Ganzgebung Christi an die Distanz des Vaters läuft mit radikaler ›Empfänglichkeit‹ einher, die gleichbedeutend mit ›Hingabe‹ ist. Drittens: Für denjenigen, der hier mit den Augen des Glaubens sieht, koinzidiert Christi tödliche Hingabe mit der ultimativen Offenheit von Liebe, die sich als neue, den ›Tod verschlingende‹ Beziehungsmöglichkeit zu Gott erschließt. Das aber bedeutet, dass der Sohn ›an Ostern‹ sein neues Leben von dem her empfängt, an den er sich ›an Karfreitag‹ hingegeben hat. Oder: Ostern buchstabiert die im Tod Christi erfahrene Leere 87 als Stiftungsakt einer neuen Beziehung aus, die auf einer radikalen »donation« beruht. Der christliche Glaube bezieht sich demnach zuerst auf den im Geschehen von Kreuz und Auferstehung virulenten Gabeakt – auf eine reine, gegenstandsfreie »donation«. »Il [sc. le Christ] ne reçoit en fait, dans l’infini sans dimension qui le comble, que la donation et la donabilité du don. Pour autant qu’il s’enfonce dans une désertique pauvreté – celle dont la kénose du Christ et la mort crunausgehende Erkenntnisstufe, die ihren Bezugspunkt allein im erfahrenen Kreuzestod nimmt. Karfreitag und Ostern sind damit zwei Momente einer ›gnoseologischen Entwicklung‹ : »La croix manifeste le retrait comme distinction, et la Résurrection, le même retrait comme union. La distance du retrait montre ses deux faces dans deux événements, dont la succession chronologique ne doit pas dissimuler l’inhérence théologale et conceptuelle.« (ID 146). In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass nach dem Marionschen Verständnis von Ostern der Auferweckte in der Haltung des bildlos Wartenden bleiben soll: »La résurrection ne devient donc pas l’objet d’un désir, ni d’une nostalgie, mais seulement d’une endurante attente où la tension déjà mime l’achèvement, sans prétendre l’anticiper.« (Ebd., 157). 86 Ebd., 264. 87 Vgl. PC 150.

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ciale nous donnent une petite idée –, éloignée par la médiation irrécusable et étanche du néant, le Fils se reçoit immédiatement comme Fils, en recevant, dans cette condition même, la donation du don, donné en toute antériorité paternelle, comme tel.« 88 Diese in der Offenbarung erschienene »donation« prägt ferner das Selbst- und Weltverständnis des Christen. Derjenige, der durch den Gabeakt Christi zum Glauben gekommen ist, weiß sich der am Kreuz offenbaren Güte Gottes ›hingegeben‹. »(Selbst-)Gebung« Gottes und eigenes »Hingegebensein« bilden die Mitte seiner Haltung zum Wirklichen. 89 Dass der Begriff »donation« für das Verständnis des christlichen Glaubens Schlüsselfunktion hat, impliziert mindestens zwei eng miteinander verbundene Aspekte: Marion entwickelt einmal ein Kirchen- und Sakramentenverständnis im Ausgang von »donation«. Daran anschließend vertritt er die Auffassung, die theologische Rationalität selbst müsse von Gebung geprägt sein. 90 Im Einzelnen: ID 214. Der Einfluss v. Balthasars tritt hier erneut hervor, hatte dieser doch das Offenbarungsgeschehen als »Rückhaltlosigkeit der Gabe« ausgelegt: Vgl. Balthasar, H. U. v. Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Bd. 2,2 Theologie Neuer Bund, 249 ff., ders. Theodramatik Bd. 2, 1 Die Personen des Spiels. Der Mensch in Gott, 260 ff. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der frühe Marion das Christusereignis vorwiegend als »Kenosis der Sichtbarkeit« versteht: »Le Christ tue l’image sur lui, parce qu’il creuse en lui un abîme sans mesure entre son apparence et sa gloire.« (CV 127). Darauf aufbauend deutet er die christliche Offenbarung als ein ikonisches Phänomen, bei dem sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit überkreuzen: »Il [le fils] fait advenir à la visibilité l’invisiblité définitive du Père, qui demeure d’autant plus invisible, qu’aucun autre visage ne lui conviendra jamais que la face de son Christ.« (ID 216). Schließlich bestimmt Marion diesen ikonischen Zusammenhang ausdrücklich als ein Akt von »donation«: »Visibilité de l’invisible, visibilité où l’invisible se donne à voir comme tel, l’icône renforce l’une par l’autre. […] L’icône manifeste, en propre, la distance nuptiale qui marie, sans les confondre, le visible et l’Invisible, c’est-à-dire, ici, le divin et l’humain.« (Ebd., 23, Hervorh. / T. A.). 89 Das christliche Verständnis von »Liebe« wäre von der »donation« zu präzisieren, aber auch zu radikalisieren: »Denn das Wesen der Liebe liegt im Geben, im Sichgeben. Die Gabe der Liebe ist bedingungslos.« (Wolf, K. Religionsphilosophie in Frankreich. Der ›ganz Andere‹ und die personale Struktur der Welt. Bd. 2, 155). 90 Das Befremden, mit dem Marions Frühwerk teilweise aufgenommen wurde, hat nicht zuletzt darin seinen Grund. Demnach soll ja die wissenschaftliche Theologie auf der ihr eigenen Ebene von Rationalität umsetzen, was innerkirchlich gelebt wird. Sie bilde einfach den verlängerten Arm des kirchlichen Lehramtes. Einerseits ist klar, dass solche Vorstellungen inkompatibel sind mit einem modernen Selbstverständnis von Theologie, was mit Blick auf Frankreich und Deutschland gleichermaßen zu sagen ist. Doch liegt die Wurzel dieser Engführung in der Tatsache, dass Marion den theologischen Diskurs in seinem Frühwerk generell von der säkularen Rationalität distanzieren will, was erst in der »Phénoménologie de la donation« aufgearbeitet wird. 88

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»Donation« als Sich-Hingeben und Sich-Empfangen – damit ließe sich erstens das Leben der Kirche, d. h. der Zeugen Christi theoretisch erfassen. In den kirchlichen Beziehungen vergegenwärtigt sich die radikale, da sich der Distanz aussetzende Offenheit für Gott, aus der an Ostern das Leben neu gegeben wurde. Die Kirche lebt ganz aus der Beziehung stiftenden Distanz, indem sie der »donation« Christi sakramental und in ekklesialer Praxis entspricht. Bei diesen Ausführungen interpretiert Marion vor allem die Texte des Pseudo-Dionysios. Zweitens: Marion möchte die Phänomenalität von »distance« und »donation« als theologische Rationalitätsform begründen. Die Theologie hätte also nicht nur in einem einfachen, ja selbstverständlichen Sinne mit der Tatsache ernst zu machen, dass sie vom Glauben an die Offenbarung Jesu Christi herkommt. Vor allem fordert Marion, dass sich in ihrem Reflexionstypus, d. h. in ihrer Denkart und Begrifflichkeit die Distanz durchhalten solle, aus der sich Gott am Kreuz gegeben hat. Theologische Rationalität hätte dann eine von der Gebung aus Distanz überformte zu sein. Die Gebung aus Distanz hätte gleichsam durch ihr Sprechen und Denken durchzuscheinen und sich auf diesem Wege gegenüber der idolatrischen Rationalität der Welt zu behaupten. Auch bei dieser ›ikonischen Theologie‹ greift Marion vorwiegend auf Pseudo-Dionysios den Areopagiten zurück. Alles in allem drängt es sich deswegen auf, zuerst danach zu fragen, was diesen neuplatonischen Gelehrten im Sinne Marions auszeichnet und warum sich das pseudo-dionysische Denken für Marions theologisches Projekt auf besondere Weise eignet. 2.5.2. Pseudo-Dionysios und die ›hymnische Rationalität‹ Über lange Zeit hinweg wurde eine Sammlung theologischer Schriften, die wohl zu Beginn des sechsten Jahrhunderts im geistigen Umfeld des Neoplatonismus (Proklus u. a.) entstanden sind, einer Figur aus der Apostelgeschichte namens Dionysios zugeschrieben. 91 Im Anschluss daran nennt man den selbst anonym gebliebenen Autor Dort heißt es, im Anschluss an die sog. Areopagrede hätte sich ein gewisser »Dionysios, der Areopagit« Paulus angeschlossen und wäre gläubig geworden. (Vgl. Apg 17,34, nähere Erläuterungen bei Pseudo-Dionysios Areopagita. Über die Mystische Theologie und Briefe, 1–19). Wenn Marion in eigenwilliger Weise auf die in der neueren Philosophiegeschichte eingebürgerte Namensgebung »Pseudo-Dionysios den Areopagiten« verzichtet und einfach von »Dionysios« spricht, will er diese Tradition zu neuen

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dieses Textkorpus’ Pseudo-Dionysios. Die pseudo-dionysischen Abhandlungen, die unter anderem auf die mittelalterliche Mystik großen Einfluss hatten, stellen sich für Marion wie ein theologischer Kristallisationspunkt im Zeichen von »distance« und »donation« dar. Marion hebt hervor, dass die Theologie des Pseudo-Dionysios auf einer Rationalität aufbaut, die sich durch die gesuchte Ikonizität und Distanz auszeichnet. Konkret: Während sich heutzutage vor allem die zeitgenössischen Strömungen negativer Theologie für diesen neoplatonischem Gelehrten interessieren, setzt Marion einen neuen Akzent. Zu würdigen sei Pseudo-Dionysios dafür, dass er bei der Frage nach dem, wie von Gott zu sprechen und zu denken sei, einen dritten Weg ins Spiel brachte: Nicht das begriffliche Nennen, in affirmierender oder negierender Form, sondern das lobende Ernennen charakterisiere insgesamt dessen Theologie. 92 Die spezifische Denkleistung des Pseudo-Dionysios besteht nach Marion also darin, dass hier eine theologische Reflexion die Sprachform des Lobpreises annimmt. Dass darin eine ideengeschichtliche Novität liegt, begründet Marion aber mit Hilfe des bereits erläuterten Distanzbegriffes: Den im Lobpreis virulenten Begriffen inhäriert nämlich auch, und zwar in einem sprachpragmatischen Sinne, eine Distanz: die zum Gelobten. Der Lobpreis selbst ist folglich als »discours de la distance« 93 zu bestimmen, weil der Lobende im Vollzug des Lobens quasi bekundet, dass die dabei auftretenden Begriffe sich nicht der eigenen, letztlich idolatrischen Rationalität verdanken, sondern einer unvordenklichen Distanz entspringen. Da die pseudo-dionysische Theologie auf dieser Sprachpragmatik beruht, wäre sie als ikonische oder distanzhafte zu lesen. Und so versteht sich von selbst, dass Marion das bei PseudoDionysios theologisch verwendete Wort »Gott« anders bewertet als die philosophische Gottesrede, die er ja, wie gesehen, dem Vorwurf der Idolatrie aussetzte. Wenn nämlich Pseudo-Dionysios von Gott als Ehren bringen. (ID 42, vgl. a. DS 162, Anm. 1., ähnlich schon: Balthasar, H. U. v. Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. II, 1 Fächer der Stile, 147 ff.). 92 Vgl. »Il ne s’agit plus de Le nommer, ni au contraire de ne pas le nommer, mais de le dé-nommer. Au double sens que le terme pourrait prendre nommer (nommer en vue de…, ›nominer‹), mais à une négation près, et aussi, Le défaire de toute nomination, l’en dégager et délivrer, la déjouer pour Lui.« (DS 167). »La théologie commence donc par un silence respectueux et amoureux d’où peut naître un discours de jubilation et de louange.« (Verneau, R. Etude critique du livre Dieu sans l’être, 16). 93 ID 178, vgl. »La louange joue le jeu d’un langage approprié à la distance […].« (Ebd., 226).

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dem »requisit« oder der »aitia« spricht, impliziert dieses Wort die begriffliche Metaebene einer Distanz zum Adressat der hier manifesten Lobrede: Gott selbst. Im Hinblick auf eine ikonische Theologie bietet sich eine Rückbesinnung auf Pseudo-Dionysios also vor allem deswegen an, weil sich in dessen ›hymnischem Denken‹ eine »distance« durchhält, die Marion im Voraus aber als Mitte des christlichen Glaubens, ja als spezifische Phänomenkonfiguration des Kreuzes interpretiert hat. Allerdings dürfte den Fachmann die Brücke verwundern, die Marion zwischen Pseudo-Dionysios und der christlichen Offenbarung schlägt. Weitestgehend hat sich doch die Überzeugung durchgesetzt, dass »die christlichen Elemente im Denken des Dionysios […] den Kern seines theologischen Entwurfs nur unwesentlich« 94 berühren. Im Gegenzug zu dieser Forschungsmeinung möchte Marion anhand des dritten Briefes aus dem Corpus Areopagiticum 95 ein quasi phänomenologisches Kontinuum wahrscheinlich machen zwischen der Offenbarung und der pseudo-dionysischen Theologie. Die dort im Lobpreis sprachpragmatisch virulente Distanz ist seiner Auffassung nach in einer Erscheinungstypologie des Gekreuzigten vorentworfen, welche sich in der genannten Briefstelle niedergeschrieben findet und die den Beweist dafür erbringt, dass sich das pseudo-dionysische Denken aus dem Offenbarungsgeschehen direkt speist. Pseudo-Dionysios spricht darin vom Antlitz Christi, als Bild und Wort Gottes, dessen Erscheinen sich von Außen gibt, und sich in ungreifbare Finsternis zurückzieht. Die Gestalt Christi werde hier zudem aus unsichtbarer Distanz dem Denken gegeben und entzieht sich ihm wieder – ein reiner Akt von Gabe aus Distanz. »Par excellence, sur la face du Christ, la vision s’épuise à soutenir d’un regard clignotant la ténèbre qui compose l’éblouissement. L’avancée coïncide avec le retrait, parce que c’est le retrait qui s’y avance. […] le Christ recueille paradigmatiquement le paradoxe de la distance, et le rend absolument (in) visible. […] La distance de Dieu s’éprouve d’abord dans la figure du Christ: là elle trouve son indépassable fondement et sa définitive autorité.« 96 Im Hintergrund seiner ›hymnischen RatioWeischedel, W. Der Gott der Philosophen, Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 98. 95 Vgl. ID 196, Pseudo-Dionysios Areopagita Über die Mystische Theologie und Briefe, 91. 96 Ebd. 94

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nalität‹, und gleichsam als deren ›geistiger Anziehungspunkt‹, steht, so Marion, die skizzierte Beschreibung des Gekreuzigten. Mehr noch: Diese nimmt sich hinsichtlich des pseudo-dionysischen Œuvres wie ein »phénomène par excellence« 97 aus, das die implizite, jedoch zumeist verkannte Konstitutionsebene dieses Denkens bildet. Die Marionsche Lesart von Pseudo-Dionysios scheint demnach zunächst auf zwei grundsätzlichen Beobachtungen zu beruhen: Zum einen passt das pseudo-dionysische, hymnische Denken besonders gut zu Marions ›ikonischer Theologie‹, weil die dabei auftretenden Gottesbegriffe sich, wie gesehen, durch Distanz bestimmen. Zum anderen kann Marion anhand eines bislang wenig beachteten Textbeleges eine gleichsam phänomenologische Kontinuität begründen, die zwischen den Erscheinungsstrukturen des Kreuzes und der ja im Neoplatonismus situierten Reflexion des Pseudo-Dionysios vermitteln soll. So sieht sich Marion unter anderem dazu legitimiert, deren Affinität mit dem in der Phänomenalität des Kreuzes beheimateten Distanzbegriff zu vertreten. Hinsichtlich Marions theologischer Studien ist nun ein weiterführender Einfluss durch Pseudo-Dionysios zu konstatieren. Marion entwickelt im Anschluss an diesen Denker eine Theorie des Kircheseins. Pseudo-Dionysios inspiriert ihn ferner dazu, sich in die Phänomenalität der Eucharistie zu vertiefen. Schließlich fordert Marion, das theologische Denken insgesamt in einem Sinne zu transformieren, der sich an dessen hymnische Begrifflichkeit anlehnt. 98 Bemerkenswert ist dabei, dass die Gedankenfigur »donation« in diesen theologischen, von Pseudo-Dionysios angestoßenen Überlegungen wiederholt zum Tragen kommt. Weil Pseudo-Dionysios von Marion aber primär als Begründer einer ›hymnischen Rationalität‹ wahrgenommen wird, wäre der theologische Sinn von »donation« erst von dem hier so eigenwillig betonten Lobpreis selbst her aufzurollen. Dazu ein Blick auf Marions Interpretation der pseudo-dionysischen Namen-Gottes-Lehre.

Vgl. »Là, comme souvent, la christologie de Denys, qu’on prétend si souvent et si légèrement abstraite d’un Jésus de l’histoire ou purement gnostique, touche d’un coup au mystère de la figure d’apparition.« (Ebd.), »On s’étonne souvent de ce que le Christ semble quasi absent du propos dionysien, comme s’il se trouvait en marge d’un schéma de médiations autonomes qui suffiraient, sans lui, à la divisation.« (Ebd., 210). 98 Vgl. »[Il faut / T. A.] Passer d’un modèle du langage, où s’exerce une prise de possession du sens par le locuteur, à un modèle où le locuteur reçoit le sens …« (Ebd., 183). 97

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Mit deutlichem Seitenblick auf Heidegger bemerkt Marion, dass die Theologie des Pseudo-Dionysios Kritik am Seinsbegriff übt. Tatsächlich wird Gott bei Pseudo-Dionysios als ›über-seiend‹ verstanden. Diese Relativierung des Seins impliziert, dass das affirmative und negierende Reden von Gott gleichermaßen abzulehnen sei, weil der zurückzuweisende Begriff »sein« in solchen Propositionen noch fortwirken würde. Er würde dort einfach als Prinzip einer Prädikation in Geltung bleiben. Beispielsweise wäre ja in jedem »Gott ist gut« oder »Gott ist nicht gut« zuerst ausgesprochen: »Gott ist«. Um Gott aber vorbehaltlos als ›über-seiend‹ zu verstehen, sind affirmative wie negative Aussageformen gleichermaßen zu vermeiden. Pseudo-Dionysios lehnt also erstens jede affirmative Gottesrede (»Gott ist gut«, »Gott ist schön« etc.) als unangemessen ab und fordert zweitens, dass sich die Rede von Gott auch noch gegenüber deren negativer Varianten (»Gott ist nicht gütig«, »Gott ist nicht schön«) zu enthalten habe. 99 Hier wie dort gilt: »Wenn nämlich alle wahren Erkenntnisse zum Seienden gehören und auf das Seiende abzielen, dann ist der gleichsam jenseits einer jeden Manifestation des Seins befindliche Strahl [göttlicher Güte / T. A.] auch jeder wahren Erkenntnis entrückt.« 100 Für Marions Interpretation ist jetzt in erster Linie wichtig, dass sich die von Pseudo-Dionysios entwickelte Theologie auf keine nur invertierte Rationalität bezieht. In der bloßen Negation von Gottesbegriffen würde sich nämlich eine Sprechweise durchhalten, die der gesuchten Distanz zur Rationalität verschlossen bliebe und idolatrisch wäre: »Simplement, au lieu de dire ce qu’est Dieu, elle [sc. l’affirmation inversée] dirait ce que Dieu n’est pas. Qui ne voit que la même intention s’exerce qui, dans les deux cas, entend toucher à l’essence de Dieu, comme s’il s’organisait autour d’une essence quelconque ? La négation, si elle demeure catégorique demeure idolâtrique.« 101 Weil Rationalität bei Pseudo-Dionysios aber, affirmative und negative Rede hinter sich lassend, überstiegen wird, liegt Marion zufolge hier ein von der Distanz inspirierter Neuansatz von Theologie vor, der sich gegenüber säkularen Vernunftkategorien mit der gewünschten Konsequenz kritisch verhält. Bei Pseudo-Dionysios erVgl. »Denn sie, die allvollendende, einzige Ursache aller Dinge, ist ebenso jeder Bejahung überlegen, wie keine Verneinung an sie heranreicht, sie, die jeder Beziehung schlechthin enthoben ist und alles übersteigt.« (Pseudo-Dionysios Areopagita Über die mystische Theologie und Briefe, 80). 100 Pseudo-Dionysios Areopagita Die Namen Gottes, 25. 101 ID 186. 99

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kennt Marion also eine theologische Spracharbeit, die der Distanz des Göttlichen zu entsprechen sucht, weil sie ein »au-délà des deux valeurs de vérité de la prédication catégorique« 102 in den Blick zu nehmen sucht. Konkret: Gott wird von Pseudo-Dionysios weder »summum ens, bonum, pulchrum« noch »summum non ens, bonum, pulchrum« o. ä. genannt, sondern: »aitia«. Im Sinne Marions ist aber zu beachten, dass dieser Begriff, den man spontan mit »Ursache« übersetzen würde, vom griechisch-aristotelischen Denken und seinen mittelalterlichen Sedimentierungen abzuheben ist. 103 Denn »aitia« erweist sich als Ausdruck in der spezifischen Pragmatik des Lobens: »La cause / aitia entretient un rapport privilégié avec une co-occurence précise, louer.« 104 Anders gesagt: »Ursache« hat für Pseudo-Dionysios keine ontologische, prädikative, transzendentale, sondern überschwängliche Bedeutung: »La cause / aitia transcendante à toute chose suivant son dépassement, ›cause suréminente‹.« 105 Der im Lobpreis Sprechende transzendiert deshalb alle begrifflichen Einengungen, mit der die weltliche Rationalität das Wort »aitia« versehen würde. Gegenläufig dazu wird Gott im Lobpreis als die überseiende »aitia« nicht begriffen, sondern ›er-nannt‹. Mit dem Ausdruck »aitia« bekennt der Lobende die unvordenkliche, auf der Grundlage des Seins und der Begriffe nicht zu erfassende Erstgabe Gottes. Wenn man dann die von Marion begründete Affinität des Pseudo-Dionysios mit dem Offenbarungsgeschehen hinzuzieht, wäre zu sagen: Im er-nennenden, lobenden »aitia« schwingt immer das neue Leben mit, das in der Offenbarung gegeben wurde. Derjenige, der bei Pseudo-Dionysios den Herrn als »aitia« preist, weiß sich unter dem Horizont Gottes eingeborgen, der ihm bei der Offenbarung unvorgreifbar und aus Distanz gegeben wurde. Im Loben wird die Ebd. Vgl. ebd., 199. 104 Ebd., 190. Vgl. »Dieser urgöttlichen Waage folgend, die auch alle heiligen Einrichtungen der himmlischen Wesen leitet, ehren wir einerseits die jenseits von Vernunft und Sein befindliche Verborgenheit der Ordnung von Gott her und auf Gott hin mit einer auf Erforschung verzichtenden heiligen Scheu der Vernunft, andererseits das Unaussprechliche mit besonnenem Schweigen und wenden uns den Strahlen zu, die uns in der Heiligen Schrift entgegenleuchten. Von ihnen werden wir zu den göttlichen Lobpreisungen lichtvoll geführt, indem wir durch sie auf überweltliche Weise erleuchtet und nach den heiligen Lobgesängen geformt werden, damit wir sowohl die urgöttlichen Lichter schauen, als auch den Güte spendenden Ursprung aller heiligen Lichtausstrahlung preisen.« (Pseudo-Dionyios Areopagita, Die Namen Gottes, 22 f.). 105 ID 191. 102 103

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Welt nämlich nicht von der Vernunft des Selbst erschlossen, sondern ihr Hervorgang aus einer die Rationalität transzendierenden Gabe bekannt. Da als Lobpreis gesprochen, umfasst der pseudo-dionysische Begriff »aitia« immer schon das Wissen von der unableitbaren »Gebung« Gottes, an die der Lobende hingegeben ist. Die Verbindung zwischen dem Begriff der »Gebung« und dem Akt des »Lobens« lässt sich aber noch vertiefen. Denn beim Lobpreis entdeckt sich der Lobende in der Position dessen, der unter dem Horizont einer vorauslaufenden Gebung steht und dieser hingegeben ist. Er bekennt, von einer unfassbaren Gebung ins Sein gerufen zu sein. Ferner impliziert das Loben, dass Freiheit und Identität Größen sind, die dem Lobenden gegeben wurden. Dieser nimmt sich also selbst wahr, insofern er einer ersten Gebung entstammt, die ihn angesprochen und von außen identifiziert hat, zu ihm und seinem Denken jedoch auf Distanz bleibt. Von dort her ist im Loben die Einsicht virulent, durch eine ursprüngliche »donation« zu sich als selbständige Kreatur gekommen zu sein. 106 Mit Blick auf den Begriff »donation« lässt sich die Deutung Marions noch einmal so zusammenfassen: Insgesamt löst sich im pseudo-dionysischen Lobpreis die Forderung Marions nach einem ikonischen Gottesbegriff ein, weil das darin manifeste Wort »Gott« die Beziehung zu einer unvordenklichen »donation« aus »distance« enthält. In diesem Diskurs ist das Wort »Gott« aller begrifflichen Idolatrie ledig, in der die säkulare Rationalität festgefahren ist. Im Unterschied dazu lässt sich hier eine auf Unfassbarkeit und Unsichtbarkeit hin durchlässige Rede von Gott erkennen, in der folglich die »Distanz« und der Primat von »donation« begriffstheoretisch anerkannt ist. Damit gelingt dem pseudo-dionysischen Lobpreis, was im Rahmen säkularer Philosophie zur Idolatrie erstarren musste. Die Distanz wird denk- und sagbar, weil im lobenden Sprechen stets ein Be106 Vgl. »La distance antérieure nous conçoit, parce qu’elle nous engendre. La distance n’est pas donné à comprendre, puisque c’est elle qui nous comprend. La distance n’est donnée que pour être reçue. La distance antérieure demande à être reçue parce qu’elle nous donne plus fondamentalement de nous recevoir en elle. La distance, précisement parce qu’elle demeure l’Ab-solu, délivre l’espace où nous devient possible de nous recevoir – nous recevoir, au sens où l’athlete, ayant franchi la barre, achève le saut en se recevant sur le sol, préparé à cet effet, de la ›fosse de reception‹ […] Nous nous découvrons, en distance, livrés à nous-mêmes, ou plutôt délivrés pour nous-même, données, non pas abandonnés, à nous-mêmes. Ce qui veut dire que la distance ne nous sépare pas tant de l’Ab-solu qu’elle nous ménage, de toute son antériorité, notre identité.« (Ebd., 192).

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reich jenseits der Begriffswelt aufleuchtet und kein irgendwie über begriffliche Operationen zu identifizierendes Sein angepeilt wird. Der Lobende bezeugt dem gegenüber, dass ihm Sprache und Denken aus Distanz geschenkt wurden, bzw. dass alles seinen Fluchtpunkt in einer »donation« hat. 2.5.3. Kirchliches Leben als interpersonale »donation« Bei seiner weiteren Beschäftigung mit Pseudo-Dionysios gerät Marion vor ekklesiologische Fragestellungen. Genauer: Auf der Basis von »De ecclestica hierarchia« und »De coelisti hierarchia« arbeitet er Elemente zu einer Theorie des Kircheseins aus, die im Folgenden darzustellen sind. In diesem Kontext ist jedoch zu bedenken, dass im geistigen Hintergrund dieser Texte die Beschreibung des Antlitzes Jesu stehen soll, welche, wie oben erwähnt, in einem pseudo-dionysischen Brief bezeugt ist. Einmal lässt sich bei Pseudo-Dionysios deshalb eine phänomenologische Verbindung zwischen Offenbarung und Kirche plausibel machen, die Marion aus dem schon besprochenen Begriff »distance« heraus entwickelt. 107 Insgesamt veranlassen Marions Interpretationen zu Pseudo-Dionysios aber dazu, Kirche als Gemeinschaft wechselseitiger »Gebung« zu bestimmen. Die ekklesiologische Valenz von »donation« ist darum gleich als Einstieg herauszuarbeiten. Kirche hat ihren Ursprung an den Orten, wo Menschen zueinander finden, die von dem im Kreuzesgeschehen virulenten Gabeakt, also von der »donation« Jesu Christi betroffen sind. Überdies ist die Kirche aber als Gemeinschaft derer zu präzisieren, die Christus nachfolgen und, gleichsam als ›Form von Nachfolge‹, »donation« im interpersonalen Bereich leben. Denn wer die Offenbarung Gottes am Kreuz annimmt, der weiß sich zur Partizipation an Christi »donation« aufgerufen. Er lebt ja selbst aus der den Tod überwindenden Hingabe Jesu und ist insofern an sie hingegeben. Dieses »donation«Bewusstsein prägt weiter seine Weltsicht und damit auch sein Verhältnis zu den Anderen. Die Urikone Christi, als Auslieferung von Güte oder restlose Selbstgebung, begründet damit einen neuen Typ interpersonaler Beziehung, der sich durch »donation« bestimmt und der schließlich, so Marion, das Ferment der Kirche verkörpert. Der 107

Vgl. Kap. 2.1.

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Begriff »donation« drückt insofern nicht nur die tiefste Bedeutung christlicher Offenbarung aus, sondern von dort ausgehend bestimmt er sich auch als Sinnmitte kirchlichen Lebens. Marion nennt die umrissene, ekklesiale Beziehungsform: »parcours de la distance« 108 . Die einzelnen Glieder der Kirche gehen demnach ursprünglich Beziehungen zueinander ein, der die oben erläuterte Hingabe Christi an die Distanz 109 urbildlich zugrunde liegt. Sie suchen im Ausgang davon, sich der Distanz gegenüber dem je Anderen zu überlassen. Dieses interpersonale Durchschreiten von Distanz, das von der Kreuzeserfahrung motiviert wird, erweist sich bei Marion aber als vorbehaltloses Sich-Hingeben und Sich-Empfangen. Wo nämlich die Anerkennung von Distanz eine zwischenmenschliche Beziehung durchgreifend prägt, dort transformiert sich jeder quasi idolförmige Griff nach dem Andern zur ikonischen, d. h. sich hingebenden Öffnung an seine aus Distanz rührende Selbstgebung. »Que la distance ne puisse se comprendre, mais doive se recevoir, cela implique qu’un comportement global (psychologique, mais surtout intellectuel et spirituel) l’accueille et la parcoure.« 110 Für Marion kommt in diesem Sinne das neue Leben, das der auferstandene Christus am Kreuz aus Distanz empfing, zur Geltung als interpersonale und ekklesiale »donation«. Mit anderen Worten: Im Anschluss an den Gabeakt am Kreuz hat sich das kirchliche Leben als Hingabe und Empfang in synchroner Wechselseitigkeit darzustellen. »Chacun devient l’interprète (et non le livreur) du don, le transmet à la mesure où il l’accueille, et l’accueille à la mesure où il se fait lui-même don.« 111 Doch wäre noch auszuführen, was denn die Hinordnung ekklesialer »donation« auf die Offenbarung unter beziehungstheoretischer Hinsicht impliziert. Zunächst: Das kirchliche Sich-Geben bleibt immer von der Liebe Christi, der sich am Kreuz hingegeben hat, unterfasst. Kirche, im Sinne von interpersonaler »donation«, weiß sich Vgl. ID 197. Vgl. Kap. 2.2. 110 ID 199. 111 Ebd., 206, vgl. »Un don ne se répète, ni ne s’accueille, comme un don que si le donateur gratifié devient intégralement et en personne – hypostatiquement – don.« (Ebd., 207). In diesem Zusammenhang ist die Übersetzung Marions von 1 Kor 11, 23– 25 aufschlussreich: »Et ce que j’ai reçu-par-tradition du Seigneur, moi aussi je vous l’ai livré-par-tradition, à savoir que le Seigneur, la nuit où il fut livré-par-tradition prit du pain [donné] et, ayant rendu grâce, le rompit en disant […].« (Ebd., 240, Anm. 47). 108 109

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von der Güte Gottes stets überholt, die am Kreuz offenbar wurde. Aufgrund dieser Verankerung im Kreuzesgeschehen suchen die sich einander hingebenden Glieder kirchlicher Gemeinschaft, dem Urbild Christi gleich zu kommen. 112 Zur interpersonalen »donation« der Kirche gehört also gleichursprünglich das Hingegebensein an die staurologische Selbstgabe Gottes, wodurch die innerkirchliche »donation« erst ihren Sinn und ihre Richtung bezieht. Aus dieser christologischen Verquickung interpersonaler Hingabeakte ergibt sich aber ein aporetischer Spannungszustand im Gebungsverhältnis zwischen dem Anderen und dem von Christus getroffenen Selbst. Das Sich-an-den-Anderen-Hingeben ist ja von Christi »donation« an den Vater motiviert. Willigt deshalb der an Christus Partizipierende in seine »donation« an den Anderen ein, wird ihm die Grenze seiner Hingabefähigkeit schmerzlich bewusst. Die göttliche Hingabe, die am Kreuz aufschien, hat ja seinen ›kreatürlichen‹ Hingabeakt immer schon überholt. Doch jenes Differenzbewusstsein zwischen ›kreatürlicher‹ und ›göttlicher‹ »donation« konterkariert nicht den Hingabeakt des Partizipierenden, sondern treibt ihn noch tiefer in seine Hingabe an den Anderen hinein. Denn vermittels dieser wahrgenommenen Differenz wird er sich der »donation« Christi, aus der der Partizipierende lebt, in ihrer je größeren Fülle bewusst. Nun gilt aber: Je mehr Gabe ich erfahre, desto mehr bin ich hingegeben. Folglich erweitert die erfahrene »Gebung« Christi immer auch die Hingabebereitschaft an den Anderen. Die christologische Motivation relativiert also keineswegs das interpersonale Sich-Geben, sondern verstärkt es. Angeregt durch das Urbild von Christi kenotischer Gebung, der aus Distanz das Leben empfängt, steigert sich der Wille zur Hingabe an den anderen Menschen. Umgekehrt weiß der Partizipierende gleichzeitig um die Unmöglichkeit, seine Hingabe quasi zu perfektionieren, d. h. die Hingabegestalt Christi an sich selbst zu realisieren. Erwartungen dieser Art wären ja selbst hinzugeben, um der je

112 Weil die Kirche so an der im Kreuz akuten Beziehungsform zwischen Vater und Sohn zu partizipieren sucht, erreicht sie eine Transparenz auf die Offenbarung hin. Marion spricht in diesem Zusammenhang von einer unmittelbaren Vermittlung, bei der im innerkirchlichen Geschehen von »donation« das Heilswerk Christi erneut aktualisiert wird. Vgl. »l’immédiateté se conjoint avec la médiation.« (Ebd., 208). Vgl. »Par cette répétition, ils commencent – pour la première fois – à accomplir dans leur propre corps ce par quoi le Christ recevait d’être le don corporel de la présence de Dieu.« (PC 156).

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schon vorgriffslosen Kenosis Christi zu entsprechen. Deswegen wurde der interpersonale Gebungsakt nicht nur am Kreuz unüberbietbar vorweggenommen. Vielmehr ist dem an Christi »donation« Partizipierenden klar, dass er Hingabe nur nach Maßgabe seiner leiblich-individuellen Möglichkeiten vollziehen kann und dass diese immer auf Distanz bleiben zur Gabe göttlicher Güte, der er sich selbst immer verdankt: »L’ouverture du participant limite et mesure seule l’ampleur de sa participation à la distance de Bonté; il se donne tout surcroît en ne faisant que l’accueillir; se donner – les deux acceptions se confondent rigoureusement: c’est pour autant qu’il se donne (s’abandonne et s’ouvre) à la distance de Bonté que le participant se donne (acquiert) d’y participer plus intimement.« 113 Da sich die interpersonale »donation« immer als ein »derSelbstgebung-Gottes-Entgegenkommen« strukturiert, das in sich zwecklos ist, weil sich die Hingabe an Gott sukzessive steigert, hat die innerkirchliche Beziehung zum Anderen eine Richtung oder einen Sog. Für Marion liegt in ihr eine Art aporetische Anagogie. Der »parcours de la distance« gestaltet sich demnach als Aufstieg, der den geschöpflich Sich-Gebenden stückweise in die ikonische, d. h. sich mehr und mehr gebende Schau Gottes ›einweiht‹, der nur eine je größere Offenheit und Hingabebereitschaft entsprechen kann. Gegenüber jeder materialistischen Deutung der dadurch ›erreichten‹ Nähe zu Gott ist stets darauf aufmerksam zu machen, dass sich der zu Gott Aufsteigende immer tiefer hingeben und sich jeder Zugriffsmöglichkeit auf Gott gerade deshalb enthalten muss. Der sich ganz hingebende Christus, der am Kreuz sich der Distanz zum Vater überließ, ist ja das bleibende Urbild ekklesialer »donation«. Nach Ansicht Marions ist aus der interpersonalen »donation«, die ein aporetisches Emporstreben zum Urbild Christi impliziert, das rechte Verständnis kirchlicher Hierarchie zu entwickeln. Dies legt er mit einem Blick auf die Hierarchielehre des Pseudo-Dionysios dar. Einerseits bezeichnet »Hierarchie« dem ursprünglichen Wortsinn nach eine Reihenordnung von Personen, die in unterschiedlicher Stufung über Heiligtümer verfügen: Heilige Herrschaft, Priesterherrschaft. Andererseits beobachtet Marion an den pseudo-dionysischen Texten umgekehrte Verhältnismäßigkeiten. Denn das Heilige, um das es dem Gelehrten aus dem 6. Jahrhundert geht, wird, analog zu seiner Interpretation des Antlitzes Christi, aus Distanz unendlich 113

ID 197.

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gegeben. 114 Kommt man deshalb im säkularen Bereich durch hierarchischen Aufstieg zu ›Macht und Besitz‹, so wäre Hierarchie bei Pseudo-Dionysios zu verstehen als unterschiedliche Stufung persönlicher Hingabe gegenüber der göttlichen »donation«. Diese muss zugleich aporetisch bleiben, denn die Spitze der Hierarchie dürfte die tiefste Gestalt kreatürlicher Hingabe realisieren, die selbst noch zur Kenosis Christi auf Distanz bleibt. »Hiérarchie doit s’entendre, plus que comme un principe sacré, comme l’origine de la sainteté. Origine de la sainteté: pour bien entendre ce pléonasme, il faut concevoir que la sainteté ne peut – comme distance antérieure – que se donner.« 115 Der pseudo-dionysische Begriff von kirchlicher Hierarchie versteht sich nach Marion also ganz von den Gesetzmäßigkeiten wechselseitiger »donation«, deren Urbild in Christi Beziehung zur Distanz des Vaters liegt. Konkret: Dem »don« der Liebe Gottes wird nur das Glied der Hierarchiekette gerecht, das ihn in sich öffnender Hingabe weitergibt. Eine Person würde ihre Stellung in der kirchlichen Hierarchie sträflich missachten, nähme sie die Gabe Gottes wie ein materialisiertes, besitzbares Objekt entgegen. Dieser Haltung müsste ja von vornherein entgegenstehen, dass sich Gott in der Offenbarung kenotisch selbst und gerade keinen verfügbaren Gegenstand gab. »Recevoir le don revient à recevoir l’acte donateur, car Dieu ne donne rien 114 Marion legt den hier ausgeführten mystischen Hierarchiebegriff einem politischen gegenüber. Dass sich Hierarchien, insbesondere die kirchliche Hierarchie, faktisch durch illegitime Machtgefälle auszeichnen, geht nach Marion nur auf das Konto des politischen Hierarchietyps. »Le modèle politique de la hierarchie n’a rien à voir avec le mystère de la hiérachie qui ouvre sur la communion des saints. L’équivoque, entretenue ou naïve, trahit la perversion du regard, et ne mérite même pas la réfutation.« (Ebd., 210). Gegenläufig dazu stellte Derrida heraus, dass der von Marion vertretene Hierarchiebegriff nie unabhängig von seinen politisch-irdischen Realisierungen betrachtet werden kann: »Sans doute, mais ce qu’il faut voir aussi, c’est la possibilité historique, essentielle, indéniable et irréductible de ladite perversion qui n’est peut-être ›du regard‹ que pour avoir d’abord été observable, comme on dit, ›dans les faits‹. Comment le concept vulgaire [de hierarchie / T. A.] s’est-il constitué? Voilà ce qu’il faut aussi voir ou ne pas voir.« (Derrida, J. Comment ne pas parler, 554, Anm. 1) Bei genauerem Betrachten könnten ›mystische Verhältnismäßigkeiten‹ außerdem mit faktischen Machtstrukturen im irdischen Bereich verbunden sein: »Dans cette topolitologie du secret, les figures ou lieux de la rhétorique sont aussi des stratagèmes politiques.« (Ebd., 555).Vgl. die Anfragen Caputos: »You see too how the celestial hierarchy laid out by the false Dionysius, he who assumes heavenly airs / heirs, reproduces itself on a terrestrial scale, and how the desire for silence results in an order of privileged speakers.« (Caputo, J. D. How to avoid speaking of God. The violence of Natural Theology, 146). 115 ID 203.

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que le mouvement d’infinie kénose de la charité.« 116 So präzisiert sich der kirchliche Hierarchiebegriff gegenüber seinen weltliche Ausdeutungen: Die Glieder kirchlicher Hierarchie würden bei ihrem Aufstieg ›nichts als die Selbstauslieferung Gottes‹ in reiner Hingabe empfangen. »Seul le don du don peut recevoir le don sans se l’approprier et le détruire, en une simple possession. Celui qui ne donnerait pas ne recevrait rien, qu’il ne fige aussitôt en possession. Recevoir et donner s’achèvent donc dans le même acte.« 117 Das innerkirchliche Gabegeschehen dürfte also nicht als ökonomische Zirkulation von Gabeobjekten gedeutet werden. Verglichen mit diesem materialistischen Kurzschluss kommt dem Empfangenden in Christus ja ein nicht zu bewältigender Gabeakt entgegen, dem nur in ikonischer Hin- und Weitergabe entsprochen werden könnte. Entscheidend für die kirchliche Hierarchie ist also ein Begriff von Gabe, der jede Materialität oder materielle Haltung hinter sich lässt: nicht Gabe von etwas, sondern die Gabe der Gabe hat sich in der Hierarchie anschaulich zu machen. Mit anderen Worten: Nicht »don«, sondern »donation«, die »Gebung«, nicht die Gabe von ›Etwas‹ ist das Prinzip von Hierarchie, das Kirche auf den am Kreuz hingegangenen Herrn durchsichtig hält und, zuerst noch, konstituiert. 118 2.5.4. Das sakramentale Paradigma: »donation« und »Eucharistie« Die Eucharistie steht im Zentrum kirchlichen Lebens. »Le présent eucharistique se déduit de l’édification réelle du corps ecclesial du Christ.« 119 Was Eucharistie aber bedeutet, lässt sich nach Marion über den Begriff »donation« explizieren. Denn zunächst ereignet sich in diesem sakramentalen Geschehen der Gabeakt Christi je neu, der das Leben der Kirche und ihre interpersonale »donation« prägt. »Où s’accomplirait donc exemplairement la kénose de l’image au bénéfice

Ebd., 205. Ebd. 118 In diesem Sinne kann Marion auch sagen: »Il faut se demander, au contraire, si le schéma hiérarchique tout entier ne généralise pas l’opération christique.« (Ebd., 210). 119 DsE 254. Die Frage wäre hier zu stellen, ob das Verhältnis von Kirche und Eucharistie hier richtig geordnet sei. Denn mit Paulus ließe sich auch die Nachordnung der Kirche gegenüber der Eucharistie begründen. (Vgl. die Beobachtungen bei: Verweyen, H. Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, 392 ff.). 116 117

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de la sainteté de dieu ? Dans la liturgie.« 120 Darüber hinaus hat die Eucharistie eine im Hinblick auf die Kirche normative Funktion. Im Sakrament der Eucharistie wird nämlich die umrissene, interpersonale »donation« der Kirche auf die Ur-»donation« Jesu Christi hin je neu perspektiviert. Oder: Das innerkirchliche Leben nimmt stets an der Eucharistie Maß, in der das durch Christi Gebung ein für allemal erwirkte Heil vergegenwärtigt wird: »[…] la reconnaissance du don de la présence de Dieu dans cet homme, puisque cet homme peut se donner au point de s’abandonner comme se distribue du pain, de s’abandonner comme du pain, comme ce pain, puisqu’il peut concentrer toute sa présence en un don […]« 121 Entsprechend der materialistischen Fehlschlüsse, die beim Verständnis von kirchlicher Hierarchie abzuwehren sind, wäre auch der Sinn von Eucharistie auf Christi »donation« am Kreuz zu konzentrieren. Wie die Kirchen- und Liturgiegeschichte zeigt, fällt man in diesem Bereich leicht in ein inadäquates Substanzdenken zurück und meint über Eucharistie verfügen oder Machtansprüche aus ihr ableiten zu können: »L’idolâtrie […] portait sur la chosification de la présence eucharistique.« 122 Gegenläufig dazu betont Marion, dass in der Eucharistie die sich ganz ausliefernde und kenotische Hingabe Jesu Christi sakramental vollzogen wird, der nur die je eigene Hingabe angemessen wäre. Eucharistie meint ja eine Begegnung zwischen mir und dem Herrn, der sich am Kreuz für mich hingegeben hat. Weil hier aber das Kreuzesgeschehen in mein jeweiliges Heute gesetzt wird, gilt die Eucharistie als reiner, objektfreier Gabeakt, der, um anzukommen, mit meinem eigenen Hingabeakt korrelieren muss. Eucharistie ist demnach als reine »donation« zu bestimmen, bei der die im Kreuz ergangene Heilszusage immer neu für mich gemacht wird. Eucharistie appliziert das Kreuzesgeschehen und seine lebensstiftende Bedeutung auf meine Einzelsituation. Über die Eucharistie wird die »donation« Christi am Kreuz eine bedeutsame, ja österliche Wirklichkeit für mich. Im Ganzen leuchtet somit ein, dass sich aus dem Verhältnis zur Eucharistie der christliche Wirklichkeitszugang insgesamt entwickeln lässt. Marion vertritt deswegen die gleiche Ansicht wie bei der Offenbarungsfrage: dass nämlich in der Eucharistie die Rationalität eine Gabe aus Distanz empfängt und ihre bisherigen, selbstherr120 121 122

CV 114. PC 159. DsE 237.

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lichen und idolgleichen Anstrengungen entkräftet werden: »L’Eucharistie exige de ce qui l’aborde une autocritique conceptuelle radicale, et lui impose de renouveler ses normes de pensée.« 123 Dass sich der Sinn von Eucharistie über den Begriff »donation« erschließen lässt, ist ferner am liturgischen Geschehensablauf sichtbar zu machen. Marion legt deswegen eine an diesen Gedanken angelehnte Phänomenologie der Eucharistiefeier vor. An der hier virulenten Zeiterfahrung kann er ablesen, wie sich die eucharistische Verwandlung von Präsenz in reine »donation« zuträgt: »Le présent eucharistique organise autour de lui, comme condition de sa récéption, la temporalité proprement chrétienne, et ceci parce que le don eucharistique constitue le paradigme de tout présent.« 124 Marion stellt diesen Vorgang vorwiegend in einer Rückbesinnung auf das Gebet heraus, das nach der Wandlung gesprochen wird: »Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.« Seiner Auffassung nach ist diesem Text zu entnehmen, dass in der Eucharistie ein idolatrisches Zeitverständnis im Sinne abgeschotteter und konstituierender Selbstgegenwart aufgebrochen wird. Im Kontext der Eucharistie weiß sich das Bewusstsein von einem Phänomen angesprochen, dessen Gabewerdung erst Zeit bildet. 125 Genauer: Im Prinzip ist Eucharistie eine Gedächtnisfeier. Das bedeutet aber weder, dass das hier akute Erinnern ein vergangenes Geschehen im Gestern belässt, noch dieses in Präsenz überführt. Sondern: In der Eucharistie wird ›Vergangenheit im Heute‹ gefeiert. Das heißt: Die Schockerfahrung und Entscheidungssituation, die früher angesichts des Kreuzes bestanden, wird in diesem Geschehen für die Feiernden heute aktuell. »Le mémorial fait du passé une réalité décisive pour le présent.« 126 Weil Jesu in der Vergangenheit vollzogener Lebenshingang uns heute neu angeht, vertieft sich in der Eucharistie aber unsere Konzeption von Gegenwart. Sie mutiert zu einer uns jetzt anrufenden Gabe aus der Vergangenheit: »[…] pour que la démonstration de la mort et de la résurrection ne cesse de nous provoquer, il se donne avec insistance dans un corps et un sang qui persistent en chaque aujourd’hui que nous départit le temps.« 127 Heute appelliert die Gabe eines Gestern 123 124 125 126 127

Ebd., 227. Ebd., 249. Vgl. ebd., 242. Ebd., 244. Ebd., 251.

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und in dieser appellativen Erinnerung wird die Herrschaft von Präsenz aufgesprengt bzw. zur Gabe verwandelt, die mit der Haltung des Hingegebenseins korreliert ist. Andererseits wird diese Feier immer in einer eschatologischen Perspektive begangen, in der auf die Rückkunft des Herrn gehofft wird: »[…] bis du kommst in Herrlichkeit.« Die Feiernden bitten hier darum, dass die im Mahl wahrgenommene Herrschaft Christi zum Durchbruch komme, d. h. dass sich die Gabe Gottes ganz gebe. Die Selbstgegenwart des Bewusstseins öffnet sich also auch nach vorn. In der Eucharistie öffnet sich das Bewusstsein im Heute dafür, die in der Parusie endgültige Gabe Gottes zu empfangen. So wird im Empfang der Eucharistie die Hingabebereitschaft an Christus gesteigert. Umgekehrt wäre das Sakrament der Eucharistie inadäquat verstanden, wenn man sich durch seine Entgegennahme im quasi ›alimentären Besitz des Göttlichen‹ wähnen würde. Das Bewusstsein unterstellt sich der eschatologischen »donation« also so, dass es dieser Zukunft im Heute hingegeben ist. Die zukünftige Parusie ereignet sich entsprechend als Gabe: »L’Eucharistie anticipe sur ce que nous serons, verrons, aimerons: figura nostra, la figure de ce que nous serons, mais surtout nous-mêmes, face au don que nous ne pouvons pas encore accueillir, tel, au sens strict, que nous ne pouvons pas encore nous le figurer.« 128 Das der Eucharistie gemäße Zeitbewusstsein spannt sich zwischen den Polen einer heute appellierenden Erinnerung an ein heilbringendes Geschehen aus der Vergangenheit und dem heute drängenden Vorausblick auf die Vollerscheinung des Herrn: »mémorial« und »epéctase« 129 . Doch transformiert sich in der Eucharistie auf diese Weise der Begriff von Gegenwart, weil sich das Bewusstsein von vornherein Vergangenem und Künftigem hingibt. In der Eucharistie werden Zeit und Gegenwart von der Ankunft einer »donation« überformt. »Dès lors, au juste, que devient le présent? L’exigence initiale – penser la présence comme un présent, et le présent comme un don – trouve maintenant un contenu infiniment plus concret. […] Chaque instant du présent doit nous advenir comme un don.« 130 In der Eucharistie wandelt sich die Gegenwart zu einer Gabe, wobei Marion auf die Doppelbedeutung des englischen Wortes »present« (»Gegenwart« und »Geschenk«) anspielt. Nach Marion ist aus der Eucharistie 128 129 130

Ebd., 246 f. Vgl. ebd., 243, 245. Ebd., 247.

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die Haltung gegenüber der Wirklichkeit als »donation« zu folgern. Der an der Eucharistie Teilnehmende begibt sich ganz in die Augenblickshaltung reiner Empfänglichkeit und Hingabe. Insbesondere wird diese eucharistische Gebungsstruktur auch am kontemplativen Gebet vor der Ikone sichtbar, bei der die geforderte Empfänglichkeit gegenüber der »donation« Jesu Christi im Verhältnis zwischen dem Betenden und dem ikonischen Antlitz virulent ist. »Le spectateur se découvre invisiblement vu par le regard peint sur l’icône qui, dès lors, apparaît comme l’écrin visible d’une instance centrale jamais peinte.« 131 Gleich einem Paradigma des christlichen Wirklichkeitszugangs illustriert das kontemplative Gebet vor der Ikone die für die christliche Sicht auf Welt typische »donation«. Denn hier lässt sich das Bewusstsein vom vergangenen Heilszuspruch des Kreuzes und von der künftigen eschatologische Ankunft der Gabe Christi anrufen, wodurch es von jeder Gegenwartsverhaftung frei wird und sich für »donation« offen hält. 2.5.5. »donation«: Prinzip theologischer Reflexion und Hermeneutik Aus der Sicht des frühen Marion soll sich die theologische Rationalität durch ein an die Gebung Christi hingegebenes Denken auszeichnen. Marion will entsprechend die im pseudo-dionysischen Lobpreis eingefaltete Begriffskritik und Rationalitätsform auf das theoretische Selbstverständnis von Theologie übertragen, weil dies allein einem an die Offenbarung anschließenden Denken gemäß sei. Im Folgenden ist diese Überformung von Rationalität ausgehend vom Bereich biblischer Exegese vorzustellen. Unter den Grundsätzen seiner ikonischen Theologie entwickelt Marion ein Verständnis der »Heiligen Schrift«, das sich dezidiert von der historisch-kritischen Exegese absetzt. Eine angemessene, theologische Hermeneutik der Bibel 132 sollte vielmehr im Zeichen des Kreuzes stehen, bei dem das göttliche Wort das Denken der Welt als unverhoffte »donation« erreichte. Bei Problemstellungen biblischer CV 44. Nicht zu übersehen ist, dass sich Marions Beitrag zur biblischen Theologie mit den konventionellen Grundsätzen von Hermeneutik kaum vereinbaren lässt. Weil linguistische und geschichtliche Aspekte gegenüber der »donation« Jesu Christi zu relativieren sind, wird man den Ausdruck »Hermeneutik« also nur unter Vorbehalt hier anwenden dürfen. 131 132

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Exegese sei nach Marion darum festzuhalten, das Christi Selbstgebung die hermeneutische Bezugsfolie der zu untersuchenden Texte darstellt. 133 Die biblischen Worte werden dabei vom Wort, das Christus ist, bzw. besser: in dem sich Christus selbst gegeben hat, transzendiert und immer über ihre linguistische oder historische Dimensionalität hinausgetrieben. Zwischen einer biblischen Theologie, die unter dem Anspruch der Offenbarung steht, und gleichsam literaturwissenschaftlichen Zugängen auf das »Buch der Bücher« will Marion deshalb eine klare Trennungslinie ziehen. Liest nämlich derjenige in der Schrift, den die Gabe der Offenbarung getroffen hat, so scheint er auch in diesem Lektüreakt der »donation« Christi hingegeben, wobei die biblischen »logia« auf den »Logos« verweisen, der in einem Gabeakt am Kreuz offenbar wurde. 134 Und nach Marion ist genau dieser hermeneutischen Situation im Rahmen ikonischer Theologie und Exegese gerecht zu werden. Im Einzelnen: Aus Marions ›ikonischer‹ Perspektive präsentiert sich der biblische Text selbst im Horizont der »donation«, an die der von der Offenbarung Getroffene hingegeben ist. 135 Das aber bedeutet, dass dem in der Offenbarung akuten Kommunikationsakt auch 133 Angesichts der in Frankreich blühenden Bibelforschung seit Pius’ XII. Enzyklika »Divino afflante Spiritu« (1943) scheinen sich Marions Vorstellungen von biblischer Hermeneutik besonders schwer vertreten zu lassen, und so tritt die theologische Aporie des Marionschen Frühwerkes hier besonders eklatant hervor. Es kann deshalb stark bezweifelt werden, ob Marions ›ikonische Theologie‹ sich auf irgendeine Weise innerhalb der wissenschaftlichen Theologie umsetzen ließe, ohne zugleich vorkonziliare Strukturen zu rehabiliteren. Am Umgang mit Vertretern historisch-kritischer Exegese wird aber sichtbar, dass Marion selbst anfangs an diese Möglichkeit geglaubt zu haben scheint: Vgl. »désormais, au lieu d’interpréter le texte en vue et du point de vue du Verbe, donc, au service de la communauté, le théologien n’aura qu’une altérnative: ou bien renoncer à viser le (référent (exégèse ›scientifique‹ positiviste) sans admettre de sens spirituel, et le texte n’a pas de référent; ou bien produire de soi-même, donc idéologiquement, un nouveau site d’interprétation, en vue d’un nouveau référent. Dans un cas, rompant avec l’évêque, le théologien ne sert plus en rien la communauté, et l’abandonne au trompe-la-faim de la ›pastorale‹ ; dans l’autre, manipulant l’evêque comme la communauté, le théologien les détourne du site eucharistique. Nous avons connu, en quelques années, ces deux attitudes et en expérimentons l’impasse commune. Le redressement du discours théologique ne pourra résulter que d’une restauration du lien de délégation de l’evêque à l’enseignant, qui – savant et herméneute – ne constitue qu’un cas particulier de charismes qui ne valent rien, sauf rapportés à la charité et à l’édification de la communauté (1 Corinthiens 14, passim).« (Ebd., 216). 134 Vgl. »Le corps du texte n’appartient pas au texte, mais à Celui qui y prend corps. Aussi l’écriture théologique ne cesse-t-elle de se transgresser elle-même.« (Ebd., 9). 135 Vgl. »Le privilège des logia, donc de la révélation biblique, sur tout autre don de la

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eine bibelhermeneutische Funktion zukommen würde. Doch was meint dies in Bezug auf den konkreten Verstehensvollzug? Bei dieser Frage verdeutlicht Marion zunächst, dass der am Kreuz virulente Gabeakt ein kommunikationstheoretisches Novum darstellt. Die am Kreuz aus Distanz kommunizierte Gabe übersteigt jede menschliche Sprechbemühung. Infolgedessen greifen hinsichtlich der Offenbarung die herkömmlichen Kommunikationsmodelle zu kurz. Während dort zwischen Absender, Empfänger, Zeichen und Zeichenbedeutung unterschieden wird, manifestiert sich am Kreuz eine eigenwillige Koinzidenz dieser kommunikationstheoretischen Aufbaustücke. 136 Das in der Offenbarung vermittelte ›Wort‹ fällt ja mit dem Sprecher (Christus) und mit seiner Bedeutung in eins. Die Offenbarung ist ein in keine Bestandteile aufzulösender, reiner Akt von Gabe. Der am Kreuz schreiende Christus gibt sich in diesem äußersten Sprachvollzug ja selbst hin, und zwar aus dem rückhaltlosen Willen heraus, sich zu geben. Marion macht nun klar, dass der so konturierte Kommunikationsakt nicht nur die Sprachform des zum Glauben Gekommenen begründen, sondern auch alle theologisch relevanten Verstehensvollzüge bestimmen sollte, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Exegese zu legen sei. Jeder biblische Text wäre dabei als durchsichtig zu verstehen auf die Gebung Gottes am Kreuz hin. Dass Gott sich am Kreuz hingegeben hat, sollte durch die Heilige Schrift insgesamt durchscheinen und entsprechend wären biblische Texte von der »donation« Christi her zu lesen. Dies lässt sich besonders eindrücklich an Marions Auslegung von Ex 3,14 nachvollziehen: Tut Gott demnach Moses am brennenden Dornbusch seinen Namen kund 137 , so ist dies als eine Hingabe Gottes an den Menschen und seiner Sprache zu verstehen, in der die Kenosis Christi vorweggenommen wird. Im Sinne dieser Interpretation liefert Gott in jenem »hayeh aser hayeh« seinen Namen und damit bruchstückhaft schon sich selbst aus. Vermittels jener Namensgebung bereitet er der menschlichen Sprache ja einen Weg in sein innerstes Wesen. Entsprechend kann Marion die an Moses ergangene Offenbarung als »donation« deuten, in der sich bereits das Kreuzesgeschehen ankündigt: »Le Nom paraît comme un don, où, du même geste, l’impensadistance, tient à leur investissement par le Logos. Ce privilège dépend donc de la kénose du Fils, et l’atteste à sa manière.« (ID 220). 136 Vgl. DsE 198 f. 137 Vgl. Ex 3,14.

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ble nous donne un nom comme ce en quoi il se donne, mais aussi comme un don que donne l’impensable, qui ne se retire pourtant qu’en la distance du don. Le Nom livre donc l’impensable, comme impensable qui se donne; ce même impensable aussi se donne, et donc se retire dans la distance antérieure qui régit le don du Nom. Le Nom, livre et dérobe, du même mouvement.« 138 Einige Bemerkungen seien angefügt, um Marions Standpunkt gegenüber der Exegese besser verständlich zu machen. Wenn Marion das skizzierte Verhältnis von »Logos« und »logia« im Bereich der Exegese applizieren will, hat er folgende Situation vor Augen: Von der historisch-kritischen Methode wird oft die Ermittlung von ›Aussagen‹ oder ›Fakten‹ der Geschichte Jesu (»ipsa verba et facta Jesu«) erwartet, die die Glaubwürdigkeit von Offenbarung stützen sollten. Doch wird diese Hoffnung schnell enttäuscht. Genauer noch erweist sie sich aber als Kurzschluss. Denn der für den Glauben ausschlaggebende Anspruch der Offenbarung ist über eine exegetische Methodik, die nur die literarische und historische Qualität neutestamentlicher Texte eruiert, nicht zu erreichen oder gar zu reproduzieren. Nach Ansicht Marions liegt deshalb in den genannten Erwartungen, die oft an die historisch-kritische Methode geknüpft werden, ein Irrtum vor über die ›theologische Position‹ biblischer Texte. Unterscheiden müsste man demzufolge zwischen der allein in der absoluten Gebung Jesu Christi, und deshalb »hors texte« 139 liegenden Offenbarung und ihren biblisch-literarischen Bezeugungen. Zwar berichten also die biblischen Texte vom Vorgang der Offenbarung. Allerdings sind sie stets nur als deren nachträgliche Zeugnisse zu deuten. Im Sinne Marions können den Schriften des Neuen Testamentes allenfalls Sinneffekte entnommen werden, die von der Offenbarung stammen, aus denen sich das Ereignis ›an sich‹ aber nie rekonstruieren lässt. Sie stellen nur Spuren oder Brandflecken einer Explosion dar, die die auf keinen Text selbst zu reduzierende Gebung Christi zurückließ. »L’événement christique a laissé ses traces sur des textes, comme une explosion nucléaire laisse des brûlures et des ombres sur les murs.« 140 So betont Marion, dass der theologische Sinn ID 180 f. Vgl. DsE 223. 140 Ebd., 204, »This implies that the word is not the transmitter of the text as such, but rather that the word is the transmitter, through the text, of the event.« (Ben-Smit, P. The Bishop and his / her Eucharistic Communitiy. A critique of Jean-Luc Marion’s Eucharistic Hermeneutic, 30). 138 139

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biblischer Texte sich nicht über historische oder linguistische Analysen erschließen lasse, sondern allein durch das literarisch unableitbare, phänomenologisch aber zu erhebende Geschehen von Christi Selbstgebung. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Marion im Neuen Testament Texte findet, die die von ihm gedachte Verhältnisbestimmung zwischen Offenbarung und Schrift bestätigen. Dass im Neuen Testament selbst von der erwähnten, metaliterarischen Ebene ausgegangen wird und die Schriften auch in diesem Sinne verstanden werden wollen, kann Marion an der Geschichte der ›Emmausjünger‹ verdeutlichen. Anhand dieses Textes aus Lk 24,13– 49 möchte er eine »eucharistische Hermeneutik« 141 begründen, die den Erfordernissen seiner ›ikonischen Exegese‹ genügen solle. Bei der Frage nach Marions Sicht auf die »Heilige Schrift« scheint ein Rekurs auf diese Textstelle deshalb höchst aufschlussreich. Im Wesentlichen macht Marion bei seiner Interpretation dieser Perikope auf folgenden Punkt aufmerksam: Wenn die Jünger den auferstandenen Herrn beim Brotbrechen, und nicht bei seiner Schriftauslegung erkennen, dann wird hier einer »herméneutique eucharistique« das Wort geredet. 142 Im Hinblick auf den theologischen Stellenwert biblischer Exegese wäre zuerst festzustellen, dass der Herr den ›Emmaus-Jüngern‹ zuvor die Schrift gedeutet hat, ohne dass für sie dadurch eine wirkliche Perspektive entstanden wäre. Im Anschluss daran kommentiert Marion: Eine Exegese, die sich nur auf literarischem oder historischem Niveau bewegt, überlässt einmal den nach Glauben Suchenden weiter seiner Orientierungslosigkeit: »Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?« 143 Vor allem würde eine solche Exegese aber den hermeneutischen Schlüssel dieser Texte verfehlen. Denn deren Sinn erschließt sich nur über die am eigenen Leib und ›hors texte‹ gemachte Erfahrung von Gabe: »Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.« 144 Die Emmausperikope verdeutlicht, wie die »logia« im allein Sinn gebenden, sich gebenden »Logos« verwurzelt Vgl. Marion, J.-L. They Recognized Him; and He Became Invisible to Them. Vgl. DsE 210. 143 Lk 24, 32. 144 Lk 24,30–31. Ferner erweist sich an diesem Text wiederum die offenbarungstheoretische Funktion von »distance«, weil das Erkennen Christi mit dem Erkennen seines Entzuges einher geht. 141 142

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sind. Nur von der »donation« Christi her werden diese verstehbar. 145 Anders gesagt: Der theologische Sinn biblischer Texte konfiguriert sich erst über die leiblich erfahrene Hingabe Christi. Wie deshalb die Bibel angemessen auszulegen ist, ergibt sich allein aus der eucharistischen Situation, in der dieses Sich-Hingeben Christi sakramental nachvollzogen wird: »Si le Verbe n’intervient en personne qu’au moment eucharistique, l’herméneutique (donc la théologie fondamentale) n’aura lieu, n’aura son lieu que dans l’eucharistie.« 146 Doch geht Marion hier noch einen streitbaren Gedankenschritt weiter. Insofern die in der wissenschaftlichen Theologie praktizierte Exegese ganz auf die Eucharistie zu beziehen ist, wäre im Letzten nur der Bischof legitimiert, Theologie zu lehren. Denn kraft seiner sakramentalen Kompetenz, letztlich seiner ›Weihevollmacht‹, sei er allein im Besitz jenes hermeneutischen Schlüssels, von dem die Emmausperikope mit Blick auf die »Heiligen Schriften« sprach. 147 »Theologie lehren« könnte im eigentlichen Sinne, so Marion, nur der Bischof, denn Theologie bedarf seiner Auffassung nach des direkten Bezuges zum eucharistischen Geschehen und dafür kann im Letzten nur der Bischof verbürgen. 148 Marion scheut nicht davor zurück, seine Einstellung wissenschaftspolitisch weiter zu treiben und wirft den Ver145 Vgl. »le texte résulte, en nos verba qui l’y consignent, de l’événement primordial du Verbe parmi nous; la simple compréhension du texte […] exige l’accès au Verbe à travers le texte.« (DsE 210). 146 Ebd., 212. »What the Christian communitiy does when it celebrates the Eucharist is therefore nothing other than reproducing this hermeneutical aspect of theology.« (BenSmit, P. The Bishop and his / her Eucharistic Communitiy. A critique of Jean-Luc Marion’s Eucharistic Hermeneutic, 33). Entsprechend beschreibt Laird Marions Ansatz zur biblischen Hermeneutik als ein Durchstoßen der Texte zur diskursiv unbearbeitbaren Gabe der Liebe, der sich aber als »non-discoursive movement of ›aiming at the referent‹ or »going through the text« (7) darstellt (Vgl. Laird, M. Whereof we speak: Gregor of Nyssa, Jean-Luc Marion and the current apophatic rage, 7). 147 Vgl. »… si l’eucharistie offre le seul site herméneutique correct où le Verbe se dit en personne dans la bénédiction, si enfin seul le célébrant reçoit autorité pour transir les verba jusqu’au Verbe, parce que lui seul se trouve investi de la persona Christi, alors il faut en conclure que seul l’evêque mérite, au sens plein, le titre de théologien.« (DsE 215). 148 Vgl. »Marion’s second conclusion is that a theologian should be holy, sanctified by the Eucharistic experience, and thus not ›scientific‹.« (Ben-Smit, P. The Bishop and his / her Eucharistic Communitiy. A critique of Jean-Luc Marion’s Eucharistic Hermeneutic, 33). Genau genommen soll in der Theologie eine kerygmatische Sprache praktiziert werden. Was Marion zur innerkirchlichen Verkündigung feststellt, ist auf die theologische Rationalität zu übertragen: »La louange joue le jeu d’un langage approprié à la distance qui comprend icôniquement le langage lui-même.« (ID 226).

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tretern historisch-kritischer Exegese eine natürliche Illoyalität vor, weil sie seiner Überzeugung nach am eucharistischen Sinn der Bibel vorbeigehen, der allein theologisch gültig wäre. 149 Als ›Gegengift‹ dazu sei der theologische Lehrer möglichst eng an den Bischof zu binden. 150 Diesen Überlegungen muss nicht weiter nachgegangen werden. Zu Recht wurden die kirchen- und hochschulpolitischen Implikationen des Marionschen Frühwerkes kritisiert. 151 Aber zuerst wäre zu sagen, dass sie völlig konsequent aus der Überzeugung entwickelt wurden, zwischen säkularer, idolatrischer und ikonischer, hymnischer Rationalität müsste eine Kluft bestehen. Wer im Namen der Binarität von »Idol versus Ikone« kirchliches und weltliches Denken voneinander trennt, bzw. in der säkularen Philosophie nur eine Idolatrie wahrnimmt, für den hat auch die Auseinandersetzung mit weltlichen Denkformen keinen Platz in der Theologie. Von dort her wäre allein eine Rückwärtsbewegung der Theologie in den kirchlichen Binnenraum anzustreben, wobei Verkündigung und Exegese zu deckungsgleichen Tätigkeitsbereichen werden. Es reicht deshalb mit Sicherheit nicht aus, sich an diesen als neokonservativ anmutenden Stellungnahmen zu stoßen, ohne zugleich zu der tiefer liegenden Frage vorzudringen, ob Marion hier nicht, veranlasst durch seine Interpretation der Areopagrede, ein an sich aporetisches Verhältnis zwischen Philosophie und Theologie, genauer: zwischen Offenbarung und vernünftiger Reflexion je schon vorausgesetzt hat. 152 Die von Marion gedachte Verknüpfung von kirchlichem Lehramt und Theologie wäre deshalb völlig unsachgemäß behandelt, wenn 149 Vgl. DsE 216. Die Vertreter historischer-kritischer Exegese werden als »théologiens« bestimmt, wobei der Akzent auf »logos« liegt und diese damit einer Einstellung bezichtigt werden, die der idolatrischen Rationalität verhaftet bleibt. 150 Vgl. DsE 216. 151 Vgl. »Marion also desires to free God from all determinations, but ends it seems with an appeal to authority.« (Long, T. E. Twentieth-Century. Western philosophy of religion, 1900–2000, 452). 152 Wolf entdeckt in diesem Engpass sehr scharf ein quasi fundamentaltheologisches Problem, weil »… nur Jesus selbst […] darum für wahr erklären [sc. kann], dass er der Herr ist. Der Christ kann nicht sich selbst bestätigen, daß er Christ ist; er kann nur den Herrn bekennen und dann hinnehmen, daß er von anderen Christ genannt wird.« (Wolf, K. Religionsphilosophie in Frankreich. Der ›ganz Andere‹ und die personale Struktur der Welt, 159). Vgl. »et si enfin ce Dieu [im Original durchgekreuzt] strictement inconcevable, simultanément parlant et parlé, se donne comme le Verbe, comme le Verbe donné jusque dans la silencieuse immédiateté de la chair abandonnée, alors rien de plus décent que cette théologie expose sa logique au contre-coup, en elle, du theos.« (DsE 197).

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man den philosophisch-theologischen Dualismus unaufgearbeitet ließe, von dem sein Frühwerk immer ausgeht. In diesem Zusammenhang verdient nun besondere Beachtung, dass diese prinzipiellen Anfragen gar nicht von Außen an Marion herangetragen werden müssten. Zunehmend bricht nämlich in dessen eigener Denkentwicklung die Einsicht durch, Offenbarung und damit die Mitte des christlichen Glaubens wäre nicht gegen, sondern mit Hilfe der Philosophie zu explizieren.

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3. Von der Offenbarungsfrage zur »Phnomenologie der Gebung«

Nachdem der Begriff »donation« hinsichtlich seines theologischen Ursprunges dargestellt wurde, rückt nun seine explizite Behandlung durch die Phänomenologie in den Mittelpunkt. Seit Ende der 80er Jahre steht die Philosophie Jean-Luc Marions entsprechend unter dem Titel »Phénoménologie de la donation«. Im Vorfeld dazu hat man den theoretischen Registerwechsel zu beachten, der dem Begriff »donation« beim Übergang in diese Werkphase widerfährt. Während »donation« im Frühwerk, wie gesehen, eine theologische Gedankenfigur war, die sich der säkularen Philosophie auf besonders scharfe Weise entgegensetzte, scheint »donation« in Marions phänomenologischen Arbeiten rein philosophische Valenz zu haben. Allerdings: Bei genauerem Zusehen auf Marions »Phénoménologie de la donation« erweist sich das Verhältnis von Theologie und Philosophie hier in einem eigenartigen Sinne als verwickelt. Weil nämlich zu dieser Reflexion eine phänomenologische Offenbarungstheorie zählt, scheint sie auf jene Frage eine Antwort geben zu wollen, der Marions theologisches Frühwerk systematisch, v. a. aufgrund der Polarität »Idol versus Ikone«, ausgewichen ist: Wie lässt sich die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, also, wenn man so will, der theologische Gegenstandsbereich ›par excellence‹ auf philosophischem Terrain reflektieren? Oder anders formuliert: Lässt sich für die Möglichkeit der christlichen Offenbarung rein philosophisch argumentieren – in einem Gedankengang, der ›remoto Christo‹, also unter völliger Absehung einer im Voraus getroffenen Glaubensoption und im strengen Verfolgen allein philosophisch einsichtiger Denkgesetze entwickelt wird? Dass dieser Art philosophischen Fragens nach Offenbarung eine fundamentaltheologische Dynamik einwohnt, wurde zu Beginn als These behauptet. 1 So wäre jetzt zuerst darzulegen, dass sich Marions Arbeiten zur Phänomenologie auch faktisch 1

Vgl. Kap. 1.4. / 1.5.

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Von der Offenbarungsfrage zur »Phnomenologie der Gebung«

von dieser hintergründigen Problemstellung her verstehen lassen. In einem ersten Gedankengang wird dafür eine sozusagen interkulturelle Beobachtung vorgelegt, die die hier in den Blickpunkt rückende Fachbezeichnung »Religionsphänomenologie / phénoménologie religieuse« auf dem Hintergrund der in Frankreich und Deutschland jeweils gewachsenen Denktraditionen beleuchtet.

3.1 »Phnomnologie religieuse« und »Religionsphnomenologische Schule« Greift man aus einer deutschen Perspektive auf Marions »Phänomenologie der Gebung« zu, so ließe sich dieser Ansatz spontan dem Fach »Religionsphänomenologie« zuordnen. Diese Rubrizierung, bei der man das von Marion vertretene »Offenbarungsphänomen« 2 im Auge haben könnte, verleitet allerdings schnell dazu, den Marionschen Entwurf in eine Reihe zu stellen mit dem Denken R. Ottos, G. van der Leeuws oder M. Eliades. Bekanntlich sind alle diese Gelehrten als »Religionsphänomenologen« bzw. als Vertreter der sog. »Religionsphänomenologischen Schule« aufgetreten und waren als solche tonangebend in den seit Ende des 19. Jahrhunderts neu entstandenen Religionswissenschaften. Wenn man Marions »Phänomenologie der Gebung« in diesen Kontext stellen würde, dann wären jedoch nicht nur seine Intention und Vorgehensweise verkannt. Mehr noch würde der so verfahrende Interpret einem interkulturellen Kurzschluss aufsitzen. Für Frankreich scheint nämlich nicht einfach jenes intellektuelle Klima vorauszusetzen zu sein, aus dem andernorts die sog. »Religionsphänomenologische Schule« hervorging. Vielmehr trifft der gegenteilige Fall zu, was durch einen flüchtigen Blick auf den ideengeschichtlichen Hintergrund dieser Forschungstradition sichtbar wird. Während der Bezug der »Religionsphänomenologischen Schule« zu Husserl trotz des mit dessen Philosophie gemeinsamen Namens als äußerst schwach gelten kann 3 , scheinen F. Schleiermacher, Vgl. Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 79–128, weiterführend: ED 327 ff. Vgl. Figl, J. (Hrsg.) Handbuch Religionswissenschaft, 25, »The old adage of phenomenology, back to the data (zurück zu den Sachen), should be reformulated here as: back to the basic intentions.« (Vgl. Waardenburg, J. Reflections on the Study of Religion, 91). 2 3

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»Phnomnologie religieuse« und »Religionsphnomenologische Schule«

W. Dilthey oder C. G. Jung ihre geistigen Urahnen zu sein. 4 Das Unbehagen, das man angesichts einer positivistisch enggeführten Religionswissenschaft empfand, gab schließlich den unmittelbaren Ausschlag für die Entstehung und Breitenwirkung dieser Schulrichtung. 5 Nun ist zu beobachten, dass die Religionswissenschaften in Frankreich (»sciences religieuses«) gerade diesem von der »Religionsphänomenologischen Schule« bekämpften Positivismus verschrieben waren. Zumindest dürfte dies hinsichtlich ihrer Etablierungsphase im beginnenden 20. Jahrhundert gelten, als die ersten religionswissenschaftlichen Lehrstühle während des Kulturkampfes eingerichtet wurden. 6 Die universitäre Institutionalisierung der Religionswissenschaften verkörpert in Frankreich ein politisch effektvolles Vorzeichen des Laizismus. Diese gesellschaftspolitische Ausgangslage der religionswissenschaftlichen Forschung in Frankreich wirkt sich aber auf den in ihr virulenten Begriff von Religion aus. »Religion« kommt dort weitestgehend als positivistischer Gegenstand in Betracht: »Les événements français de 1880–1886 attestent un glissement sémantique de la notion même de religion. […] La religion est alors vue dans sa facticité brute.« 7 Das Entstehen der »Religionsphänomenologischen Schule« hierzulande erscheint nun wie eine Gegenreaktion auf die Religionswissenschaften positivistischen Typs, die im Nachbarland Frankreich, aber freilich nicht nur dort, seit längerem praktiziert wurden. Zwar hat sich in Frankreich dieses positivistische Paradigma mit der Zeit deutlich gelockert und so überrascht es nicht, dass die Arbeiten von M. Mauss, G. Bataille, C. Lévi-Strauss, R. Girard etc. bemerkenswerte Parallelitäten zum Ansatz der »Religionsphänomenologischen Schule« aufweisen. Dass man deren Konzeptionen jedoch nur äußerst marginal mit »Phénoménologie religieuse« o. ä. tituliert, scheint einmal mit dem Fortwirken jener Ausgangskonstellation zu4 Vgl. Valentin, J. Ein prekäres Verhältnis. Ist die Religionswissenschaft eine theologische Disziplin?, 83, Waldenfels, B. Phänomenologie in Frankreich, 345, Long, E. T. Twentieth-Century. Western philosophy of religion, 1900–2000, Bd. 2, 145 f. 5 Vgl. z. B. Waardenburg, J. Art. Religionsphänomenologie, TRE (28), 731 ff. 6 Vgl. Schatz, K. Kirchengeschichte der Neuzeit II, 115 f. Wie an der Pariser Sorbonne Ende des 19. Jahrhunderts die theologische Fakultät von einer religionswissenschaftlichen Einrichtung, der »Ecole des Hautes Etudes«, abgelöst wurde, beschreibt und illustriert: Tuilier, A. Histoire de l’Université de Paris et de la Sorbonne Bd. 2, 260, 405. 7 Despland, M. Les sciences Religieuses en France: Des Sciences que l’on pratique, mais que l’on n’enseigne pas, 18.

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sammenzuhängen, bei der sich »Religionsphänomenologische Schule« und französische »sciences religieuses« alternativ entgegenstanden. Einen gewichtigeren Erklärungswert dafür gibt aber die Tatsache, dass man in Frankreich mit »Phänomenologie« längst die präzis bestimmte Philosophierichtung und Erkenntnistheorie bezeichnet, die von Husserl ausging. Seit Husserls Vorträgen an der Pariser Sorbonne von 1929 eignete man sich dessen philosophische Phänomenologie in einem erstaunlichen Rezeptionsprozess an. 8 Sie wird als Denkform das französische Geistesleben mit einer solchen Intensität beherrschen, dass u. a. J.-L. Marion philosophisches Denken schlechthin nur noch im Anschluss an die Phänomenologie Husserls für möglich hält. 9 Wenn infolgedessen in Frankreich »phénoménologies religieuses« entwickelt werden, implizieren diese weitestgehend eine direkt philosophische Beschäftigung mit dem Œuvre Husserls und Heideggers und stehen in keiner relevanten Verbindung zur »Religionsphänomenologischen Schule« Ottos, Eliades etc. 10 Die Bezeichnung »Religionsphänomenologie« wird man, wenn überhaupt, nur unter Berücksichtigung dieser französischen Singularitäten auf Marions Entwurf anwenden dürfen. Zwischen dessen »Phänomenologie der Gebung« und den Ansätzen der »Religionsphänomenologischen Schule« ist eine klare Zäsur zu ziehen.

8 Vgl. Waldenfels, B. Phänomenologie in Frankreich, 19–49. Dieser spezifische ›moment français de la phénoménologie‹ erklärt sich unter anderem mit der klassischen Stellung, die Descartes im französischen Geistesleben genießt. (Vgl. z. B. Laudien, K. Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten. Die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei René Descartes, 11, 25 ff.). Die Husserlsche Phänomenologie scheint in Frankreich zunächst deswegen auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein, weil Husserl Descartes als seinen »phänomenologischen Urgenius« rühmte und sich damit unweigerlich in eine französische Denktradition stellte. (Vgl. z. B. Husserl, E. Erste Philosophie (1923/24), Hua VIII, 4). Ferner scheint in Frankreich unter anderem eine »lebensphilosophische«, erfahrungsorientierte Descarteshermeneutik (L. Brunschwig u. a.) der Husserlrezeption vorausgegangen zu sein. Waldenfels, B. Phänomenologie in Frankreich 20, 380, vgl. a. Marion, J.-L. Un moment français de la phénoménologie, 9–13. 9 Vgl. z. B. RD 7. 10 Dies lässt sich bereits am ersten religionsphänomenologischen Versuch in Frankreich veranschaulichen, an der Abhandlung »Phénoménologie et philosophie religieuse« des Husserlschülers und Straßburger Pastors J. Hering von 1926, in dessen Schülerkreis man den jungen E. Lévinas antreffen wird: Vgl. Hering, J. Phénoménologie et philosophie religieuse: étude sur la théorie de la connaissance religieuse, Lescourret, M.-A. Emmanuel Levinas, 71).

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Marion und die von der Offenbarung beanspruchte Phnomenologie

3.2. Marion und die von der Offenbarung beanspruchte Phnomenologie Will man vor dem Hintergrund dieses Gegensatzes das von Marion entworfene Verhältnis von (im weitesten Sinne) ›Religion‹ und Phänomenologie näher bestimmen, dann kann man dem als Einstieg zunächst die Thesen eines späten Vertreters der »Religionsphänomenologischen Schule« gegenüberstellen. Denn dessen methodische Programmatik nimmt sich gleichsam als das diametral Andere dessen aus, um was es Marion geht und macht es in verschärfter Form sichtbar. Die Rede ist von J. Waardenburg, dem Islamforscher und wohl bedeutendsten Schüler G. van de Leeuws. Zwar hat nach ihm die Religionsphänomenologie den antipositivistischen Impuls ihrer Anfänge längst ad acta gelegt und soll nun als empirische Wissenschaft betrieben werden, die den Standards von Objektivität, allgemeiner Überprüfbarkeit etc. genügen soll. Das kann aber nicht verhindern, dass sich auch noch diese Konzeption eindeutig als Gegenposition zu Marions »Phänomenologie der Gebung« liest. Waardenburg nimmt zum Ausgangspunkt seines Religionsbegriffes alle menschlichen Verhaltensweisen, Bedeutungsgebungen und Intentionen, die im Umkreis des Gebetes liegen. 11 Diese religiösen Ausdrucksformen seien zu vergleichen, um Konstanten und Varianten im Verhältnis zwischen Welt und Mensch zu ermitteln. 12 Eine erfolgreiche Hypothesenbildung setze dabei voraus, dass das Auge des Religionsphänomenologen permanent zwischen gegensätzlichen Kulturbereichen oszilliere und konsequent der Empirie verpflichtet sei: »Empirical research on all available materials is the conditio sine qua non of the study of religion.« 13 Bezeichnend für diese empirische Ausrichtung sind Waardenburgs Vergleiche mit medizinischen Untersuchungsverfahren. Der Religionsphänomenologe habe mit einem Beobachterauge, das quasi über die Durchdringungskraft von Röntgenstrahlen verfügen soll, seine Daten zu erheben 14 und unverzüglich komparatistisch zu verfahren. Denn nach Waardenburg dürfe keine einzelne Religion mit einer Sonderbehandlung bedacht werden. Jede Form von Privilegierung oder gar Verabsolutie11 12 13 14

Vgl. Waardenburg, J. Reflections on the Study of Religion, 99. Vgl. ebd., 91 f. Ebd., 112. Vgl. ebd., 94.

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rung einer spezifischen Weltanschauung sei systematisch zurückzuweisen. 15 Infolgedessen könne man von einem Religionsphänomenologen religiöse und philosophische Neutralität erwarten: »The study of religion as conceived of here is an academic and empirical area of studies, without a specific philosophical or theological stand.« 16 In Marions auf Deutsch erschienenem Aufsatz »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung« 17 wird ebenfalls eine ›religionsphänomenologische‹ Methodik vorgelegt. Ihr lässt sich jedoch ein Programm ganz anderer Art entnehmen. Stellt man anhand dieses Textes den Ansatz Marions der Waardenburgschen Konzeption gegenüber, so werden nicht nur die Differenzen zwischen »Phénoménologie religieuse« und der »Religionsphänomenologischen Schule« als bleibende sichtbar. Überdies treten dadurch die Konturen von Marions »Phénoménologie de la donation«, deren Hintergrund und Intention deutlich hervor. Erstens: Unter wohl impliziter Anspielung auf Forschungsrichtungen im Stile Waardenburgs fordert Marion hier die Phänomenologie als philosophische Richtung und ihre spezifische Methode ernst zu nehmen. Die von Husserl und Heidegger entwickelte Axiomatik phänomenologischer Erkenntnis ist »auf die Objekte der Religion [zu] beziehen«. 18 Zweitens: Bei der Bestimmung dieser ›Objekte von Religion‹ trifft Marion eine Festlegung, die kein empirisch arbeitender Religionsphänomenologe teilen würde: »Religion« und »Offenbarung« sind nach Marion zu identifizieren. Marion wird aber noch genauer: »Die Religion gelangt zu ihrer vollendetsten Gestalt nur, wenn sie sich durch und als eine Offenbarung etabliert, in der eine die Erfahrung transzendierende Instanz sich gleichwohl erfahrbar manifestiert.« 19 In Anbetracht seines theologischen Frühwerkes 20 und im Vorgriff auf seine späteren Arbeiten zum Offenbarungsphänomen 21 vermag die Formalität dieser Äußerung wenig darüber hinwegzutäuschen, dass MaVgl. ebd., 94 f. Ebd., VII f. 17 Marion, J.-L. Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung, (Kurzform: »Aspekte«). 18 Ebd., 84 f., vgl. »Wie also können sich die phänomenologischen Begriffe a priori auf die Objekte der Religion beziehen? Wie, um auf die Sachen selbst der Religion zurückzukommen, muss man phänomenologisch vorgehen?« (Ebd.). 19 Ebd., 85. 20 Vgl. Kap. 2. 21 Vgl. Marion, J.-L. Le phénomène saturé, ED 325 ff., DS 148 ff., 155 ff. 15 16

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Marion und die von der Offenbarung beanspruchte Phnomenologie

rion damit die christliche Offenbarung anvisiert. Konsequenterweise verschieben sich bei Marion die Koordinaten religionsphänomenologischer Forschung. Denn nun gilt ihre ganze Aufmerksamkeit einer konkreten Ausprägung von Religion: der Offenbarung Jesu Christi. Entgegen aller religionswissenschaftlichen Neutralitätsforderungen setzt die ›Religionsphänomenologie‹ Marions mit dem Standpunkt der christlichen Offenbarung ein. 22 Der bei Marion projektierte Ansatz von ›Religionsphänomenologie‹ konzentriert sich folglich nicht auf religiöse Erscheinungsformen im allgemeinen und pluralen Sinne. Ebenso wenig bewegt er sich in einem nur lockeren, quasi inspirativen Verhältnis zu Husserl. Vielmehr geht es Marions »Phänomenologie der Gebung« darum, die phänomenologische Philosophie im Anschluss an Husserl und Heidegger als das exemplarische Forum für die philosophische Reflexion auf die christliche Offenbarung einzusetzen. Nach Auffassung Marions soll dadurch jenes Geschehen vor der autonomen Rationalität verantwortet und dessen Bedeutsamkeit als allgemein zustimmungsfähig erwiesen werden. 23 Aufgrund dieser deutlichen Konzentration Marions auf die Offenbarung Jesu Christi wäre die Fachbezeichnung »Religionsphänomenologie« auch in Bezug auf den Begriff »Religion« fallen zu lassen. Wenn Marion im »Aspekte-Aufsatz« Religion und Offenbarung identifiziert, dann ist diesem Text folglich nicht nur eine implizite Kritik an der »Religionsphänomenologischen Schule« zu entnehmen, sondern auch eine solche am Begriff »Religion«. Die Einwürfe

Wie zu sehen, vertritt Marion einen sehr starken, christlich vorgerasterten Offenbarungsbegriff. Man wird wohl in einige Schwierigkeiten kommen, wenn man diesen auf einer allgemeinen, religionsgeschichtlichen Ebene ansiedeln wollte. Die sich hier andeutenden Aporien haben aber einen Rückeffekt auf das Verständnis der christlichen Offenbarung, die ja auch in einem geschichtlichem Werdeprozess steht. Marion müsste deshalb gefragt werden, ob die christliche Offenbarung angemessen in den Blick kommt, wenn man sie ad hoc jenseits der im Ersten Testament bezeugten Vorformen situiert. Der sich am Kreuz ausliefernde Gott hat sich ja bereits in der Schöpfung (Noachbund), bei den Propheten (Hosea!) etc. geoffenbart. Zu diesen und weiteren Anfragen an Marions Offenbarungsbegriff vgl. Kap. 5.4.5.3. 23 Vgl. die polemische, im Kern aber zutreffende Bemerkung von J. K. A. Smith: »By reducing the religious phenomenon to the theological phenomenon, Marion at the same time reduces the field of a phenomenology of religion, thus leaving little space for difference. The phenomenology of religion then becomes little more than a ›natural‹ or ›rational‹ theology, which claims universality but in the end turns out to be a kind of theological colonialism.« (Smith, J. K. A. Liberating Religion from Theology, 24, vgl. Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 17 f.). 22

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Von der Offenbarungsfrage zur »Phnomenologie der Gebung«

K. Barths gegen den Religionsbegriff kehren hier unübersehbar zurück. 24 In diesem Kontext ist besonders signifikant, dass Marion im Anschluss an den »Aspekte-Aufsatz« kaum noch auf den Begriff »Religion« zurückgreift. Damit legt sich folgende Interpretation nahe: Marions Aufsatz »Aspekte der Religionsphänomenologie. Grund, Horizont und Offenbarung« beabsichtigt eine Art ›Destruktion‹ von »Religionsphänomenologie«.

Im Folgenden ist auszuführen, wie Marion das Verhältnis von christlicher Offenbarung und phänomenologischer Philosophie im Einzelnen konzeptualisiert. Dadurch lässt sich zum einen das Programm aufrollen, das seiner »Phénoménologie de la donation« zugrunde liegt. Zum anderen lässt sich auf diese Weise die Intention erkennen, von der alle phänomenologischen Einzelanalysen Marions geprägt sind.

3.3. Offenbarung als ›erfahrbare Manifestation‹ denken Anstatt irgendeine Neuauflage von »Religionsphänomenologie« präsentieren zu wollen, geht es Marions »Phänomenologie der Gebung« darum, die Offenbarung Jesu Christi auf dem Weg phänomenologischer Philosophie rational zu verantworten. Es gilt aber noch mehr: Marion ist der Ansicht, dass einem Denken der Offenbarung Jesu Christi einzig und allein die phänomenologische Philosophie entspricht. Diese Position ist zunächst deutlich von den Überzeugungen seiner frühen Schaffensphase geprägt. Im Rückblick darauf ist die Offenbarung Jesu Christi als das Ereignis zu bestimmen, in dem die unvordenkliche Gebung der Liebe Christi die weltliche Rationalität aus ihren Angeln hebt. Das Urdatum christlicher Offenbarung, Christi Lebenshingang und Ganzgebung am Kreuz, entfremdet aufgrund seiner paradoxen Erscheinungsgestalt 25 die Vernunft der Welt von sich selbst. Während aber das Denken, insofern es nicht vom ›Strahl der Offenbarung‹ getroffen wurde, im Zustand eines idolischen Um-sich-selbst-Kreisens verVgl. z. B. Barth, K. Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, 117 ff. Vgl. »Par excellence, sur la face du Christ, la vision s’épuise à soutenir d’un regard clignotant la ténèbre qui compose l’éblouissement. L’avancée coïncide avec le retrait, parce que c’est le retrait qui s’y avance. […] le Christ recueille paradigmatiquement le paradoxe de la distance, et le rend absolument (in)visible. […] La distance de Dieu s’éprouve d’abord dans la figure du Christ: là elle trouve son indépassable fondement et sa définitive autorité.« (ID 196).

24 25

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Offenbarung als ›erfahrbare Manifestation‹ denken

bleibt, weiß sich Rationalität, die durch dieses Geschehen hindurchging, von der am Kreuz offenbaren Liebe Gottes umfasst. Dem entspricht ein grundsätzlich kritisches Verhältnis des Christen zu weltlicher Rationalität. Denn die Offenbarung Jesu Christi bleibt der Rationalität, mit der der zum Glauben Gekommene die Wirklichkeit deutet, als gleichsam ›begriffsinhärente‹ Distanz, Unsichtbarkeit oder Ikonizität eingetragen. Der Gottesbegriff gilt in diesem Zusammenhang nur in durchkreuzter Gestalt bzw., nach einer gelungenen Wendung A. Houtepens, als »Passagenbegriff«, weil er der am Kreuz erfahrenen Offenbarung entspringt. 26 In Marions »Phänomenologie der Gebung« wird das so bereits im Frühwerk koordinierte Verhältnis von Offenbarung und Rationalität aufgegriffen. Doch wird es an einer entscheidenden Stelle weitergeführt: Die weltliche Rationalität wird nun nicht als eine solche gedacht, die von der Offenbarung einfach unterminiert würde. 27 Vielmehr wäre nun eine Denkform zu suchen, mittels derer die christliche Offenbarung adäquat eingeholt werden könnte. Bei dieser Suche ist aber von einer paradoxen Situation auszugehen. Denn einerseits übersteigt das Ereignis der Offenbarung jedes Vermögen innerweltlicher Vernunft. Würde die Offenbarung zu einem Begriff der säkularen Vernunft gerinnen, würde sie, als »Offenbarung« in einem präzisen Sinne, ihr Eigenes verlieren. Andererseits muss es nach Marion zu einem allgemein vertretbaren Denken der Offenbarung kommen. Ansonsten könnte der im Offenbarungsereignis gründende Glaube zu unreflektierter Schwärmerei verkommen. 28 Worin besteht aber dann der Vermittlungspunkt zwischen christlicher Offenbarung und weltlichem Denken? Nach Marion liegt das Eingangstor zu einer philosophischen Reflexion auf Offenbarung in der Einsicht, dass sich Offenbarung »erfahrbar manifestiert«. 29 Vermittels der Begriffe »Erfahrung«, »ErVgl. DsE 106 ff., Houtepen, A. W. J. Gott – eine offene Frage, 293. Vgl. die an das ›Frühwerk‹ Marions adressierte Kritik G. Wards: »The advent then is not phenomenology’s manifestation (die Offenbarkeit) but the irreducible heteronomy of revelation (die Offenbarung).« (Ward, G. The theological project of Jean-Luc Marion, 234). 28 Marion formuliert diese Alternative so: »Oder die Religion versteht es, der Offenbarung treu zu bleiben, die sie aus der Welt herausnimmt; dann aber muss sie auch auf den Begriff, auf die Ursache und auf jeden Grund verzichten bis hin dazu, sich unter dem Spitznamen Schwärmerei aus der metaphysischen Rationalität auszuschließen.« (Aspekte, 85). 29 Vgl. ebd., »… what is at stake here, i. e., the human being, is the same, in the sense that 26 27

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Von der Offenbarungsfrage zur »Phnomenologie der Gebung«

fahrbarkeit« oder »Manifestation« ist das Verhältnis von Offenbarung und weltlichem Denken zu entwerfen. Über sie ist Offenbarung auf einem der autonomen Rationalität zugänglichen Weg zu reflektieren. Doch dürfe sich das Offenbarungsgeschehen bei seiner Rückbindung an diese Begriffe in keinen rationalen Begründungsgang auflösen. Generell gilt weiterhin die aus dem Frühwerk stammende Einsicht Marions, dass man die Bedeutung von Offenbarung verraten würde, wenn man sie zu einem Erzeugnis weltlicher Vernunft degradierte. Der für den christlichen Wirklichkeitszugang zentrale Primat der Offenbarung wäre billig verkauft, weil auf Begründungsverfahren der säkularen Rationalität zurückgeführt. Marion behauptet nun aber, dass ein Denken der Offenbarung in diese Sackgasse nur dann geraten würde, wenn dessen philosophische Bezugswissenschaft in einem Rationalitätstyp bestünde, der bestrebt ist, sich des ›Erfahrbaren‹, der Manifestationen aus der Wirklichkeit etc. zu bemächtigen. Diese Tendenz ist, präziser noch, in solchen Reflexionen virulent, die das Sein, die Wirklichkeit etc. aus sich ableiten oder in sich begründen wollen. Mit anderen Worten: Ein Denken, demzufolge sich nur das manifestieren und ›wirklich‹ sein darf, was sich von ihm begründen lässt, muss für eine Theorie der Offenbarung im Sinne Marions außer Betracht kommen. Mit dieser Vorgabe sind nun die Rationalitätswege durchzusehen, die sich in der abendländischen Ideengeschichte durchgesetzt haben.

3.4. Offenbarungstheoretische Aporien traditioneller Rationalitt In der vor allem an Descartes anschließenden Geschichte philosophischer Reflexion ist nach Auffassung Marions die Tendenz vorherrschend, »Welt«, »Sein« oder »Wirklichkeit« durch das Denken, das meistens von der Hoheit des selbstgewissen, transzendentalen Ich ausgeht, begründen zu wollen. 30 Es waren bestimmte, wirkmächtige it [is] us, who raise the question of revelation. It can be raised differently but it is always raised within the common structures of human experience.« (Kearney, R. A Dialogue with Jean-Luc Marion, 14). 30 Dass dieser Vorwurf nicht an das Denken Descartes’ generell zu richten ist, haben Marions Arbeiten zu Descartes’ »Lehre von der Schöpfung der ewigen Wahrheiten« (1630) überzeugend dargelegt. (Vgl. z. B. Descartes, R. Correspondances (avril 1622 – février 1638), Œuvres AT I, 149, 21–24). Zu den von Marion erhobenen Ambivalenzen

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Offenbarungstheoretische Aporien traditioneller Rationalitt

Aspekte der Cartesischen Philosophie, die den allgemeinen Vorrang des »ego« und der Rationalität bei der Frage nach dem »allgemein Erfahrbaren« und »Wirklichen« grundgelegt haben. Die darauf folgenden Philosophieentwürfe verpflichten sich in einer Weise auf den damit eröffneten Wirklichkeitszugang, als wollten sie die von Parmenides bereits ausgesprochene Identität von Sein und Denken ein für allemal festschreiben. 31 Im Kontext dieses Denkens wähnt sich die selbstgewisse Vernunft im Recht, das Sein zu begründen. 32 Folglich legt sie allein den Rahmen für »Wirklichkeit überhaupt« und alles, was in ihr erscheinen darf, vor. 33 Wo das Sein aber nur unter der Voraussetzung in Betracht kommt, dass die Vernunft des Ich dieses restlos erfassen kann, dort fällt nach Marion jede Möglichkeit aus, Offenbarung adäquat zu denken. Kommt Offenbarung dennoch in dieser denkgeschichtlichen Phase wie bei Kant, Hegel u. a. zur Sprache, dann als »Manifestation des Begriffes« 34 . Allerdings ist damit das Spezifikum der christlichen Offenbarung unterboten. In der Offenbarung Jesu Christi inszeniert sich nämlich ein Ereignis, das ins Denken als Anderheit von Außen Descartes’ vgl. zusammenfassend: DeHart, P. The Ambiguos Infinite: Jüngel, Marion and the God of Descartes, 75–96. 31 Vgl. »Dasselbe ist Denken und Sein.« (Parmenides, Fragment B 3, in: Diels, H.; Kranz, W. (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, 231). 32 Marions Kritik richtet sich insbesondere gegen Leibniz und Kant. Erstens: Leibniz’ »Theorie vom zureichenden Grund« ordnet »Sein« und »Erfahrbarkeit« einer (höchsten) Rationalität unter: »Unsere Vernunftschlüsse stützen sich auf zwei große Prinzipien, das des Widerspruchs […] und das des zureichenden Grundes, kraft dessen wir erwägen, daß keine Tatsache als wahr oder existierend gelten kann und keine Aussage als richtig, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gibt, daß es so und nicht anders ist, obwohl uns diese Gründe meistens nicht bekannt sein mögen.« (Leibniz, G. W. Monadologie, 27). Dazu Marion: »c’est justement en tant que ›phaenomena bene fundata‹ que les phénomènes s’avouent fondés, donc conditionnés par une raison seule suffisante et qu’il ne suffisent pas eux-même à s’assurer. Si la raison peut fonder les phénomènes, c’est d’abord parce qu’elle doit les sauver.« (ED 255). Zweitens: Kant. Gegen Kant wendet Marion ein, dass sich dort die Wirklichkeit den apriorischen Kategorien beugen müsste. Vgl. »Das Postulat der Möglichkeit der Dinge fordert also, dass der Begriff derselben mit den formalen Bedingungen einer Erfahrung überhaupt zusammenstimme.« (Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 249). Dazu Marion: »le possible ne s’accorde pas avec l’objet de l’expérience, mais avec ses ›conditions formelles‹.« (ED 253). 33 Vgl. »La phénoménalité ne tire donc plus sa possibilité directement des phénomènes eux-mêmes, mais la reçoit comme de l’extérieur par deux principes suprêmes.« (ED 257). In dieser Lesart der Geschichte des Denkens liegt klar eine Prägung durch Heidegger vor. Vgl. z. B. Heidegger, M. Der Satz vom Grund, GA 10, 96. 34 Vgl. Aspekte 87, DS 62 f.

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her einbricht. Der am Kreuz schreiende Christus setzt die ihrer selbst gewissen Rationalitätsmuster aus, er lädt sie vor und destabilisiert sie durch sein kenotisches Wort. Die Eigenbedeutung dieses Geschehens wäre nivelliert, wenn es von einer Rationalität in Beschlag genommen werden würde, die das Sein bzw. Wirklichkeit restlos begründen wollte. Die zu einem Begriff der selbstgewissen Vernunft geronnene Offenbarung wäre dem Primat der Reflexion nachgeordnet.

3.5. Die Erledigung begrndender Denkformen durch die Phnomenologie Nach Auffassung Marions schließt Nietzsches Theorie des »Willens zur Macht« die Traditionslinie seinsbegründender Vernunft und des in ihr maßgeblichen »ego, cogito« ab. In seiner Philosophie des Übermenschen bringt Nietzsche die Stellung traditioneller Rationalität als oberstes Gründungsprinzip von Wirklichkeit zu einem definitiven Abschluss. Deren tiefer liegender Trieb, über die Wirklichkeit Macht zu gewinnen, liegt jetzt offen zu Tage. 35 Marion ist der Ansicht, dass es demgegenüber erst mit Husserl und dessen »Logischen Untersuchungen« zu einem denkgeschichtlichen Neubeginn bzw. Durchbruch kommt. Im Vergleich zur vorangegangenen Geschichte abendländischer Philosophie ist der Phänomenologie entsprechend folgender Impuls zu entnehmen: Wegen ihrer Orientierung an der lediglich zu beschreibenden Erfahrung erVgl. z. B. »Es gibt weder Geist, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewusstsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: Alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um ›Subjekt und Objekt‹, sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer relativen Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeiten ihrer Wahrnehmungen gedeiht […] Die Erkenntnis arbeitet als Werkzeug der Macht.« (Nietzsche, f. Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889, Werke Bd. VIII/3, 93 f.). Die Marionschen Nietzscheinterpretationen stehen unter dem Einfluss Heideggers, nach dessen Auffassung in Nietzsches Vernunftkritik die Geschichte traditioneller Metaphysik zum Abschluss kommt und das eigentliche Denken des Seins allmählich anbricht. Vgl. »Der Übermensch verneint zwar das bisherige Wesen des Menschen, aber er verneint es nihilistisch. Seine Verneinung [die des Übermenschen / T. A. ] trifft die bisherige Auszeichnung des Menschen, die Vernunft. Deren metaphysisches Wesen besteht darin, dass am Leitfaden des vorstellenden Denkens das Seiende im Ganzen entworfen und als solches ausgelegt wird.« (Heidegger, M. Nietzsches Metaphysik, in: ders. Nietzsche II, GA 6,2 231–300, hier: 264, vgl. ders. Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, GA 44, 225 ff.). 35

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Die Erledigung begrndender Denkformen durch die Phnomenologie

setzt die Phänomenologie alle traditionellen Rationalitätsformen, bei denen das selbstgewisse Denken das Sein aus sich ableiten und begründen wollte. An deren Stelle tritt mit der Phänomenologie ein Nachdenken dessen, was sich im Bewusstsein ›ohne Befugnis einer begründenden Vernunft‹ geben darf. In Husserls Slogan »Zu den Sachen selbst« 36 dokumentiert sich prägnant diese neue Richtung der Reflexion. Die philosophische Aufmerksamkeit soll sich demnach in erster Linie auf das richten, was sich als Erscheinung (im Bewusstsein) gibt und zwar »aufgrund der bloßen Tatsache, dass es gegeben ist.« 37 In der Phänomenologie hat das Denken davon auszugehen, dass alles, was ist, dem Bewusstsein gegeben ist. Weil »Sachen« oder »Seiende« von Husserl als »Gegebenheiten des Bewusstseins« bestimmt sind, werden sie »Phänomene« genannt. Entsprechend heißt das Denken, das diesen dem Bewusstsein sich gebenden Phänomenen nachdenkt, »Phänomenologie«. Im Sinne Marions argumentiert Husserl dafür, dass philosophisch strenge Erkenntnis erworben wird, wenn das Denken zu den originär im Bewusstsein sich gebenden Erscheinungen der Sachen, Gehalte, Ideen zurückfindet. 38 Auf dem Weg zu einem in diesem Sinne erweiterten Phänomenspektrum hat das Denken Heideggers entscheidende Weichen gestellt. Sein Verdienst um die Phänomenologie besteht darin, das Phänomen als Seiendes ausgelegt und damit das Sein als Sinn und Horizont der Phänomene problematisiert zu haben. Die phänomenale Gestalt des »Sein« ist aber nicht als reine Anschauung gegeben, sondern das »Sein« zeigt sich als Nicht-Erscheinendes, als Entzug oder als Nichts. 39 Das so gestaltete Erscheinen von Sein wird, Marion zufolge, im Rahmen phänomenologischer Philosophie thematisch, weil es durch den phänomenologischen Rückgang auf die sich gebenden »Sachen selbst« zugänglich wurde. Ursprünglich situiert sich deshalb der Beitrag Heideggers auf der Linie des Husserlschen Denkens, das sich allein um die Selbstgebung der Phänomene bemühen wollte. Der Ansatz Heideggers ist aber als ein noch tieferes Ergreifen phänome36 Vgl. Husserl, E. Vorwort zur zweiten Auflage (1913), in: ders. Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, 5 f. 37 Aspekte, 88. 38 Vgl. Husserl, E. Philosophie als strenge Wissenschaft, in: ders. Aufsätze und Vorträge (1911–1921), Hua XXV, 3 ff. 39 Vgl. z. B. »Woher kommt es, dass überall Seiendes den Vorrang hat und jegliches ›ist‹ für sich beansprucht, während das, was nicht ein Seiendes ist, das so verstandene Nichts als das Sein selbst, vergessen bleibt?« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 382).

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nologischer Möglichkeiten 40 aufzufassen, weil die von Husserl gesuchte »Sache selbst«, das Phänomen, nun erweitert um das Gegebensein seines hintergründigen »Sein« verstanden wurde.

3.6. Offenbarungstheoretische Mglichkeiten in phnomenologischer Perspektive Als den entscheidenden, geistesgeschichtlichen Impuls, der von der phänomenologischen Philosophie ausging, hält Marion nun fest, dass hier das Denken, besser: das Bewusstsein keine transzendentale Position im traditionellen Sinne einnimmt. Es verfügt ursprünglich nicht apriorisch über die Gegebenheiten und ihr Erscheinen. Vielmehr ist das Bewusstsein Husserls als (quasi neutraler) Raum zu verstehen, in dem sich ›von selbst‹, d. h. ohne rationale oder ontologische Bedingung, Gehalte, Sachen, Ideen etc. geben und der philosophischen Analyse offen stehen. Im Grundsatz lässt die Phänomenologie Husserls die seinsbegründende Rationalität im Ausgang eines selbstevidenten »Ego, cogito« hinter sich zurück. Husserls »Zu den Sachen selbst« ist entsprechend so zu deuten: »Zu den Sachen selbst zurückkehren heißt soviel, wie die Phänomene an ihnen selbst zu erkennen, ohne sie der (hinreichenden) Bedingung einer voraufgehenden Instanz (Ding an sich, Ursache, Prinzip etc.) zu unterwerfen, kurz sie zu befreien von jedem vorausgehenden anderen als ihrer bloßen Gegebenheit (es gibt), von der das Bewusstsein noch vor jeder Konstitution das Zeugnis beibringt.« 41 Lief nach Marion die (seins-) begründende Rationalitätsform einer adäquaten Theorie der Offenbarung zuwider, weil dort der konstitutive Ausgriff selbstgewisser Vernunft das Bild von Wirklichkeit bestimmt, so wäre für den Ansatz der Phänomenologie seit Husserl das Gegenteil richtig. 42 Marion hatte Offenbarung ja als das definiert, was die innerweltlichen Vernunftvermögen übersteigt, sich aber in der Erfahrung gleichwohl manifestiert. 43 Nun ist hinsichtlich Vgl. »Die Erläuterungen des Vorbegriffes der Phänomenologie zeigen an, dass ihr Wesentliches nicht darin liegt, als philosophische ›Richtung‹ wirklich zu sein. Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit. Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 38). 41 Vgl. Aspekte, 88. 42 Ebd., 87. 43 Vgl. ebd., 85. 40

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Offenbarungstheoretische Aporien

der Phänomenologie positiv zu verbuchen, dass dort die Wirklichkeit nicht als begründete Setzung des selbstgewissen Denkens, sondern als (unverschuldete) Gegebenheit bzw. Manifestation im Bewusstsein entworfen wird. Die Phänomenologie würde sich von dort her als privilegierte Bezugsphilosophie der Offenbarung erweisen. 44 Deren Grundstruktur, vom Denken nicht begründbar zu sein, gleichwohl aber (in ihm) zu erscheinen, ließe sich in diesem Reflexionstypus würdigen. Konnte, wie gesehen, Offenbarung innerhalb der seinsbegründenden Rationalitätsform nicht wirklich thematisch werden, so lädt die Phänomenologie, die allein die Gegebenheiten des Bewusstseins erschließen will, dazu förmlich ein. Demnach darf zumindest auf formaler Ebene die Offenbarung Jesu Christi als »Phänomen […] mit vollem Recht« 45 gelten. Dafür müsste nur die Bedingung ›phänomenologischer Immanenz‹ erfüllt bleiben, d. h. ein solches Denken der Offenbarung müsste mit der phänomenologischen Orientierung an den sich gebenden »Sachen selbst« übereinstimmen. Für die Frage nach Verbindungsmöglichkeiten zwischen »Phänomenologie« und »Offenbarungstheorie« ist der Beitrag Heideggers dahingehend von Bedeutung, dass ihm (über die Phänomengestalten von Sein/Zeit, des Nichts, der Verbergung etc.) »die Möglichkeit einer Phänomenologie des Nicht-Erscheinenden«46 zueigen ist. Dies könnte einer Reflexion auf die christliche Offenbarung, deren phänomenale Konfiguration auch nicht auf Sichtbarkeit und Präsenz eingeschränkt bleibt, entgegenkommen. 47

3.7. Offenbarungstheoretische Aporien als Implikat innerphnomenologischer Engfhrungen Will man zu einem phänomenologischen Denken der Offenbarung gelangen, dann müsste man über Husserl und Heidegger hinausVgl. »L’étonnant tient ici à ce que la phénoménologie doive disqualifier la théologie dite ›naturelle‹ et rationelle, mais ne puisse pas se désinteresser de la théologie révélée, précisément parce qu’aucune révélation n’interviendrait sans une manière de phénoménalité.« (DS 33). 45 Vgl. Aspekte, 89. 46 Ebd., 91. 47 Vgl. »Kurz, die Phänomenologie wäre in ausgezeichneter Weise die Methode der Manifestation des Unsichtbaren auf dem Weg über seine anzeigenden Phänomene – und somit auch die Methode der Theologie.« (Ebd., 92). 44

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gehen. Denn der von Marion als ursprünglich behauptete Impuls der Phänomenologie, dem reinen Sich-Geben der Erscheinung nachzudenken, konfligiert mit den faktischen Phänomenbegriffen bei Husserl und Heidegger. Infolgedessen ist aber auch die phänomenale Gestalt der Offenbarung Jesu Christi vermittels deren Verständnis von »Phänomen« nicht darzustellen. Erstens: Die offenbarungstheoretischen Aporien bisheriger Phänomenologie. Bereits Heidegger hat jene Unzulänglichkeiten im Husserlschen Phänomenbegriff zur Sprache gebracht, die bei Marion nun aus dem Blickwinkel der Offenbarungsfrage wiederkehren. Die leitenden Kritikpunkte Heideggers an Husserl waren einmal die mit seinem Verständnis von »Phänomen« verbundene Präsenzerwartung, die phänomenologisch unausgewiesen wäre. Ferner wurde die Einseitigkeit seines Phänomenbegriffes bemängelt. Husserl fasse diesen als eindimensionale Urgegenständlichkeit auf, mit der ein statisches Verständnis von Bewusstsein korreliert war. Marion vollzieht beide Einwürfe Heideggers gegen Husserl mit, weil sie für keine »Phänomenologie der Offenbarung« hinreichen. Dieses Geschehen bietet zum einen ja kein Phänomen reiner Präsenz und Anschaulichkeit. Beispielsweise zeigte die lukanische Erzählung von den Emmausjüngern eindrucksvoll, wie sich der auferstandene Christus einem präsenzverhafteten Phänomenverständnis gerade entzieht. 48 Weil »Offenbarung« zum anderen ein Geschehen bedeutet, wodurch sich für den davon Betroffenen das Bild von Wirklichkeit, also die Bedeutung der Phänomene völlig neu konfigurieren, müsste eine der Offenbarung entsprechende Phänomenologie auch die Frage nach dem generellen Sinn des Erscheinens problematisieren können. Außerdem wäre in einer solchen Phänomenologie jene ›Affektion des Bewusstseins‹ zu denken, die die Offenbarung Jesu Christi auslöste. Ein auf die Urgegenständlichkeit reduzierter Phänomenbegriff, der einem statischen Bewusstsein gegenübersteht, reicht dafür nicht aus. Der Husserlsche Ansatz wäre deshalb aus offenbarungstheoretischem Interesse zu überholen. In diesem Sinne ist nun aber auch die Phänomenologie HeidegVgl. »Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.« (Lk 24, 31), dazu der Kommentar: Marion, J.-L. They recognized him; and he became invisible to them, 145–152, kritisch: Smith, J. K. A. Respect and Donation: A critique of Marions Critique of Husserl, 527 f. 48

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Offenbarungstheoretische Aporien

gers zu überwinden. Es gilt seit Marions ›Frühwerk‹, dass sich Heideggers Primat des Seins nicht für eine philosophische Reflexion auf die christliche Offenbarung eignet. 49 Heideggers ontologisch gefiltertes Gottesverständnis, wie es sich beispielweise im »Humanismusbrief« 50 niedergeschlagen hat, hat mit dem Gott, der im Kommen Jesu Christi offenbar wurde, schlechterdings nichts gemeinsam. Denn der Seinshorizont federt den phänomenalen Schock nur ab, den die Offenbarung Jesu Christi insbesondere in der Kreuzeserfahrung bietet. »Gott kann sich nicht mehr frei offenbaren, sondern muss sich unter den übereinander gelagerten Bedingungen des Heilen, des Heiligen und des Göttlichen, also schließlich des Seins manifestieren.« 51 Heideggers Philosophie des Seins scheint von dort her inkongruent zu dem, was als Mitte des christlichen Glaubens affirmiert wird. Zweitens: Zwischenreflexion. Angesichts dieser offenbarungstheoretischen Aporien ergibt sich folgende für Marions »Phénoménologie de la donation« grundsätzliche Problemkonstellation: Einerseits lässt sich, wie gesehen, die genuine Gestalt christlicher Offenbarung nicht mit den Phänomenbegriffen Husserls und Heideggers vereinbaren. Andererseits will Marion die Offenbarung als Möglichkeit einer allgemeinen Phänomenologie denken. Diese Spannung ist nach Marion nur durch einen Rückgriff auf den als ursprünglich behaupteten Impuls der Phänomenologie, sich für das reine Sich-Geben der Erscheinung zu öffnen, zu bewältigen. Im Hinblick darauf wird folgendermaßen argumentiert: Das Sich-Geben der Erscheinung, das am Ursprung phänomenologischer Reflexion stehen sollte, wäre in solcher Radikalität zu verstehen, dass a) die christliche Offenbarung, unter Wahrung ihrer Bedeutung ›sui generis‹ Thema eines solchen Sich-Gebens von Erscheinung werden könnte. Ferner wäre b) die Relevanz jenes ursprünglichen Sich-Gebens der Phänomene an den Ansätzen Husserls und Heideggers nachzuweisen. Erst dadurch könnte dieses ja beanspruchen, von allgemein-phänomenologischer Tragweite zu sein. Deshalb müsste man Vgl. z. B. DsE 81 ff., Kap. 2.4. Vgl. »Erst aus der Wahrheit des Seins lässt sich das Wesen des Heiligen denken. Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von Gottheit zu denken. Erst im Lichte des Wesens von Gottheit kann gedacht und gesagt werden, was das Wort ›Gott‹ nennen soll.« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 351). 51 Aspekte, 96. 49 50

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die Entwürfe Husserls und Heideggers bei ihrer jeweiligen Bemühung um die »Sache selbst« gewisser Inkohärenzen und Leerstellen überführen und die ursprüngliche Hinordnung der Phänomenologie auf das reine »Sich-Geben« der Erscheinung begründen. Im Anschluss daran könnte die Phänomenologie c) insgesamt einer Revision im Zeichen des »Sich-Gebens« unterzogen und die Offenbarung Jesu Christi in ihr thematisch werden. Umgekehrt: Weil sich die Möglichkeit, Offenbarung innerhalb der Phänomenologie zu denken, mit dieser Revision entscheidet, wären die offenbarungstheoretischen Aporien bisheriger Phänomenologie als Implikate innerphänomenologischer Engführungen zu deuten. Ohne der Argumentation Marions im Einzelnen vorzugreifen, kann man das hier auf dem Spiel stehende Verhältnis zwischen den bisherigen Phänomenbegriffen und dem reinen Sich-Geben der Erscheinung, das Marion intendiert, präzisieren. Drittens: »Horizont« versus Gebung des Phänomens. Nach Marion werden die Husserlschen Phänomenbedingungen von Präsenz, Anschaulichkeit, Gegenständlichkeit der phänomenologischen Erkenntnisfrage nicht gerecht. Husserls »zu den Sachen selbst« gilt hier nur unter Vorbehalten. Die Kritik des frühen Heideggers an Husserl berechtigt sich, wenn man das Denken nur an den »Sachen selbst« ausrichtet. Weshalb läge auch im präsentischen Urgegenstand, das sich das Bewusstsein veranschaulichen will, die tiefste Bestimmung der »Sache selbst«? Es müsste im Gegenteil gelten, dass die Bandbreite phänomenalen Vorkommens durch diese Kriteriologie eingeschränkt wird. Denn Erscheinen darf dabei nur das Sichtbare, Präsentische und Gegenständliche, wodurch den Phänomenen ein »Horizont« vorgeordnet wird. Unter ihm werden jedoch alle anderen Phänomenarten ausgeschlossen, die sich rein als sie selbst geben wollen und dafür keines »Horizontes« bedürfen. In eine ganz ähnliche Richtung zielt nun aber auch Marions Anfrage an Heidegger selbst. Dessen Beitrag zur Phänomenologie hängt, so Marion, von einer erst noch zu prüfenden Vorentscheidung ab: der Festlegung des Seins als phänomenologischer Horizont und ebenso der generellen Annahme, Horizonte im Sinne von Grenzlinien des Erscheinenden seien zu setzen. Dass in phänomenologischem Kontext von Horizonten (wie dem Sein) auszugehen ist, müsste der Zugang auf die »Sache selbst« erst noch bewahrheiten. Könnte es umgekehrt nicht sein, dass solche Horizonte das Erschei116 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

Offenbarungstheoretische Aporien

nen der »Sache selbst« erneut blockieren? Der Schwerpunkt in der Diskussion zwischen Marion und Husserl / Heidegger liegt damit auf der Frage, ob sich die Phänomenologie, die ihr Denken ganz auf die »Sachen selbst« richtet, zwangsläufig darin erfüllen müsse, eines Horizontes ansichtig zu werden. Wäre es nicht, so fragt Marion, das vorbehaltlose Sich-Geben der Erscheinung, das in der Phänomenologie zu zählen hätte? Und: Stünde es nicht in der Hoheit der sich gebenden Erscheinung selbst, Horizonte zu bilden? Von dort her präzisiert sich nun die Frage, die Marion an Husserl und Heidegger richtet: Warum muss sich überhaupt das Erscheinen unter einem vorentschiedenen Horizont (»Anschauung«, »Präsenz«, »Gegenständlichkeit«, »Sein«) vollziehen? Doch was meint genauer ein »phänomenaler Horizont«? Phänomenale Horizonte zielen auf das Raster, unter dem sich das Erscheinen des Phänomens überhaupt zutragen darf. War für Husserl die Phänomenwerdung nur unter dem Horizont einer präsentischen »Urgegenständlichkeit« (»Präsenz«, »Wesensschau« etc.) zulässig 52 , so tritt bei Heidegger das »Sein« an diese Stelle. Solche phänomenalen Horizonte sollen jeweils auf ihre Art die phänomenale Gestaltwerdung moderieren. Das Phänomen kann demnach seine Fülle entfalten, wo in ihm jene Horizonte ›dramatisch‹ erfahren werden. Die Frage, ob Horizonte der ›Sache selbst‹ bzw. dem eigenständigen Aufbau des Phänomens angemessen sind, tritt dadurch in den Hintergrund, dass man sich auf das ›Schauspiel des jeweiligen Horizontes‹ konzentriert, der mit dem Erscheinen der »Sache selbst« kurzerhand identifiziert wird. Bei Heidegger hält sich insofern ein noch von Husserl stammendes Element durch, dessen phänomenologische Legitimität ungeklärt ist: Der Horizont des Phänomens. In Anbetracht der Forderung, zu den Sachen selbst zurückzukehren, kann sich nach Marion die Setzung solcher Horizonte wie ein Hemmschuh der Phänomenologie erweisen. Zumindest hat dies zur Folge, dass Phänomene, wie das Antlitz des Anderen, die Leiblichkeit, schließlich die christliche Offenbarung, in denen sich jeweils eine eigene, irreduzible Bedeutungsgebung manifestiert, phänomenologisch uneingeholt bleiben. So zeigt sich, dass sich die innerphänomenologische Frage wie auch das phänomenologische Denken von Offenbarung an der HoriVgl. »La phénoménalité se trouverait prise et comprise par avance dans un horizon d’apparaître toujours déjà vu, ou du moins visuelle …« (ED 262), ED 259.

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Von der Offenbarungsfrage zur »Phnomenologie der Gebung«

zontfrage, d. h. an der phänomenologischen Triftigkeit, dem Phänomen Horizonte vorzuschreiben, entscheidet. Auf der anderen Seite stünde in Aussicht, dass Offenbarung Teil der Phänomenologie werden könnte, wenn sich die Phänomenologie ganz für das horizontkritische, freie Sich-Geben der Erscheinung öffnet. Dies wäre aber erst noch im Ausgang der Offenbarung selbst zu prüfen.

3.8. Die Konstitution eines universal gltigen Phnomenhorizontes als Aufgabe der Offenbarungstheorie Wie könnte man von der Offenbarung her eine Brücke zu philosophisch entwickelten Phänomenhorizonten entwerfen? Generell scheinen solche phänomenalen Horizonte ja Schwierigkeiten zu bereiten, wenn man zu einem phänomenadäquaten Denken der Offenbarung vorrücken will. Rastert man nämlich die Phänomenwelt mit Hilfe eines wie auch immer bestimmten Horizontes (Gegenständlichkeit, Sein etc.), dann bleibt automatisch die phänomenale Wucht der Offenbarung nur unter ihrem Niveau reflektiert. Offenbarung müsste dann erst diesen Horizont bestätigen, der letztlich ein Produkt menschlicher Rationalität wäre, und könnte deshalb den Verdacht, ihre Projektion zu sein, selbst in phänomenologischem Kontext, nie abschütteln. Dagegen bedeutet die Offenbarung Jesu Christi ein von jedem Horizont unkalkulierbarer Einbruch in die Phänomenwelt. Infolgedessen müsste eine Philosophie, die sich um das Denken dieser Offenbarung bemüht, eigentlich jeden Phänomenhorizont durchstreichen. Dies liegt daran, dass Offenbarung, wenn sie in aller Radikalität als Offenbarung gedacht wird, gleichsam ihren je eigenen Horizont ausbildet, unter dem alle Phänomene erst ihren Ort einund ihre Gestalt annehmen. 53 Zieht man jedoch aus diesem Einwand die Konsequenz, überhaupt keinen phänomenalen Horizont zu bestimmen, dann verweigert sich die Offenbarungstheorie schließlich nicht nur den autonomen Fragestellungen der Phänomenologie. Vielmehr verwirft sie die Möglichkeit von Offenbarung selbst, begibt sie sich dann doch der Aufgabe, auf deren allgemeine Erscheinbarkeit zu reflektieren. Nach Marion ist aber weiterhin daran festzuhalten, dass sich, wie eingangs gesagt, in der Offenbarung »eine die Erfahrung transzendierende In53

Vgl. Aspekte, 101.

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Die Konstitution eines universal gltigen Phnomenhorizontes

stanz […] gleichwohl erfahrbar manifestiert.« 54 Darum gilt gleichzeitig zu aller Kritik an phänomenologischen Horizonten, dass irgendein allgemein zugänglicher Phänomenhorizont zu denken sein müsste. Ansonsten hätte man sich ja von dem offenbarungstheoretischen Axiom »allgemeiner Erfahrbarkeit« zu verabschieden, das sich mit der Frage nach dem Phänomenhorizont, also nach dem, was überhaupt erscheinen darf, ja berührt. Verschenkt man folglich die Aufgabe, einen der Offenbarung adäquaten Horizont allgemeiner Erfahrbarkeit zu denken, dann resultiert daraus die inakzeptable Einsicht, dass Offenbarung überhaupt nicht zur Erscheinung kommen könnte. 55 Mit anderen Worten: Wäre Offenbarung nicht allgemein erfahrbar bzw. würde ihr überhaupt kein allgemeiner Phänomenhorizont entsprechen, dann könnte sie sich gar nicht manifestieren. Gelänge es aber, einen Horizont »allgemeiner Erfahrbarkeit« zu denken, der das genuine Geschehen der Offenbarung als eine seiner Denkmöglichkeiten zulässt, dann müsste dies ein Horizont ganz neuer Art sein. Dieser würde ja seine Unterbrechung durch das Geschehen der christlichen Offenbarung erlauben und zugleich sollte ihn die autonome Phänomenologie als ihre eigene Bestimmung erkennen. 56 Käme dieser Balanceakt in einem kohärenten Denken, d. h. in der stimmigen Theorie eines phänomenalen Horizontes zustande, dann könnte die christliche Offenbarung als allgemeine Möglichkeit des Erscheinens erwiesen werden. Sie wäre dann das mögliche Implikat einer universal nachvollziehbaren Phänomenologie. Der im Ausgang der Offenbarung projektierte Horizont allgemeiner Erfahrbarkeit müsste ganz eigentümlich konfiguriert sein: Zu suchen wäre ein paradoxer, unmöglicher, unendlicher Horizont, der sich vom Seinshorizont im Sinne Heideggers nicht nur graduell, sondern vor allem qualitativ unterscheidet. Dieser dürfte den Phänomenen selbst keine Bedingungen auferlegen, z. B. in der Art, dass, wie bei Heidegger, das Sein über die Gestaltwerdung aller Phänomentypen homogen entscheidet. Phänomene wie die Offenbarung, aber auch das Antlitz des Anderen (Lévinas), die Selbstaffektion des Ebd., 85. Vgl. ebd., 101. 56 Vgl. »Plus généralement, qu’adviendrait-il, en fait de phénoménalité, si s’accomplissait une donation sans la limite (le principe d’un horizon), ni la condition (le Je transcendental) qu’impose encore à la donation l’intuition du ›principe des principes‹ ? Comment concevoir une donation absolument inconditionnée (sans limites d’horizon) et absolument irréductible (à tout Je constituant)?« (ED 264). 54 55

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Leibes (Henry) etc. wären dabei ja nur ›unterhalb ihrer Selbstgebung‹ reflektiert. Anders als bei Heideggers Sein müsste nun der entsprechend zu entwerfende Horizont gegenüber diesen Wirklichkeiten restlos aufgesprengt sein. 57 Auf der anderen Seite dürfte sich die Phänomenologie nicht mehr am Sein oder an anderen phänomenalen Fluchtlinien festklammern. Bei ihrer Bemühung um die »Sache selbst« hätte sie sich vielmehr der Phänomenwelt vorbehaltlos zu entäußern bzw. sich ihr ganz hinzugeben. Umgekehrt sollten sich dadurch die Phänomene in ihrer unvertretbaren Individualität geben dürfen, d. h. ganz so, wie sie von sich selbst her sind. Ihrer reinen Gebung bzw. ihrem Sich-Geben hätte das Denken nicht zu widerstehen, sondern es hätte davor in ein letztes Staunen aufzubrechen, damit Wirklichkeit so ankommen könnte, wie sie sich gibt. In der damit geforderten Phänomenologie müsste die je spezifische Gebungsweise der Phänomene adäquat beschrieben werden können, ohne dass die phänomenologische Vernunft auf sie noch einen Zugriff qua Horizontsetzung ausüben wollte. Unter diesen Vorgaben präzisiert sich die Aufgabenstellung einer phänomenologischen Offenbarungstheorie: Wenn allein dieser als »donation« entworfene Phänomenhorizont dem Geschehen von Offenbarung entspricht, wäre nun nach seiner universalen Gültigkeit zu fragen. Zu zeigen wäre, dass in dieser Entäußerung, Hingebung, »donation« das bislang liegen gebliebene Ziel phänomenologischer Bemühung um »die Sache selbst« liegt. 58 Konkret: Es müsste erstens Vgl. »In each of these cases, the horizon is a border that includes or allows for particular possibilites, which fences an economy of thought and action. […] What he [sc. Marion] seeks is a completely unlimited horizon. What he seeks is, in fact, an appearing that does not have any horizon against which it can be measured. The question ist, can anything appear without ›appearing as something‹.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, 96 f.), »Pour Marion, la donation est l’horizon unique et universel, la condition sans condition de tout apparaître, l’absolu lui-même sans condition ni horizon.« (Colette, J. Phénoménologie et métaphysique, 67). 58 Vgl. »Ainsi, le phénomène religieux pose-t-il la question de la possibilité en général du phénomène, plus que celle de la religion.« (Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 80). Für Marion ist wichtig, dass dabei ausschließlich die phänomenale Möglichkeit von Offenbarung erschlossen ist. Vgl. »La phénoménologie décrit des possibilités et ne considère jamais le phénomène de révélation que comme une possibilité de la phénoménalité, qu’elle formulera ainsi: si Dieu se manifeste (ou se manifestait), il usera d’un paradoxe au second degré; la Révélation (de Dieu, par lui-même, théo-logique), si elle a lieu, prendra la figure phénoménale du phénomène de la révélation […]. Certes, la Révélation (comme effectivité) ne se confond jamais avec la révélation (comme phéno57

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nachgewiesen werden, dass die bisherigen Ansätzen von Phänomenologie (Husserl, Heidegger u. a.) auf das hier postulierte, radikale Sich-Geben der Phänomene und der Phänomenologie hingeordnet sind. Erst unter dieser Voraussetzung könnte eine »Phänomenologie der Gebung« beanspruchen, die »Sache selbst« in ihrer Ursprünglichkeit zu erschließen, und als universal gültiger Horizont gelten. Im Anschluss daran könnte zweitens der gesamte Ansatz der Phänomenologie von der »Gebung« her revidiert werden. Drittens wäre schließlich in diesem Zusammenhang die Offenbarung Jesu Christi als Möglichkeit allgemeinen Erscheinens aufzuweisen. So sind die Aufgaben benannt, die in Marions »Phänomenologie der Gebung« anzugehen sind. Bevor der Reihe nach und im Einzelnen dargestellt wird, wie Marion mit den hier anstehenden Fragekomplexen verfährt, ist vorsorglich noch auf zwei Punkte hinzuweisen, die für die vorliegende Interpretation zentral sind.

3.9. »Phnomnologie de la donation«: ein fundamentaltheologischer Entwurf Vielleicht dürfte für Skepsis sorgen, dass hier die Frage nach der Offenbarung zum Einstiegspunkt des Marionschen Phänomenologieentwurfes gewählt wird. So konnte dessen »Phänomenologie der Gebung« als eine ursprünglich von der Offenbarungsfrage her motivierte Reflexion bestimmt werden. Mit dieser Richtungsvorgabe ist wohl sehr viel Diskussionsstoff verbunden, vor allem weil sich diese offenbarungstheoretische Motivation nicht aus den Zentraltexten der »Phénoménologie de la donation« erheben lässt. Weder »Réduction et Donation«, noch »Etant Donné« oder »De surcroît« machen explizit, dass es Marion zutiefst um die Frage danach geht, wie sich Offenbarung einer allgemein zugänglichen Reflexion erschließt. Freilich wird in diesen Abhandlungen das Offenbarungsphänomen entwickelt, dies aber keinesfalls in dem Sinne, als ginge die hier vertretene Argumentation von der Offenbarung als Frage aus und führte zu ihr wieder als Theorie zurück. Die hier nun unterstellte offenbarungstheoretische Prägung der »Phénoménologie der Gebung« legt sich jedoch aus zweierlei Gründen nahe: Erstens aus mène possible), nous respecterons scrupuleusement cette différence conceptuelle par sa traduction graphique.« (ED 329, Anm. 1).

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Marions theologischem Frühwerk. Die dort zentralen Gedankenfiguren (»Distanz«, »Idol versus Ikone«, »Liebe«, »Unsichtbarkeit«) entspringen der Selbstreflexion des christlichen Glaubens auf seine inhaltliche Mitte. Dabei situiert Marion dieses theologische Denken zwar in eine postmetaphysische Situation. Letztlich reduzieren sich seine Analysen dort aber darauf, dass der Vorrang der christlichen Welterschließung lediglich behauptet, nicht aber allgemein verständlich verantwortet wird. Wer vom ›Strahl der Urikone Jesu Christi‹ getroffen wird, der allein weiß, so der frühe Marion, was »Liebe«, »Ikone«, »Distanz« etc. bedeutet. 59 Die damit verbundenen Engpässe bei der Frage, wie Offenbarung als universal bedeutsames Ereignis rational zu denken ist, werden erst in der »Phänomenologie der Gebung« und ihrem Offenbarungsphänomen überwunden. 60 Zweitens: Die offenbarungstheoretische Prägung der Marionschen Konzeption gibt allein ein Text ausdrücklich zu, der in Frankreich jahrelang nicht erschienen ist, von Anfang an aber in deutscher Sprache vorlag: »Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung«. 61 Dass dieser Aufsatz als Programmtext einzustufen ist 62 , liegt nicht nur daran, dass er ein Jahr vor »Réduction et Donation«, der ersten Abhandlung zur »Phänomenologie der Gebung«, erschienen ist. Vielmehr bewegen inhaltliche Beobachtungen zu dieser Annahme: Marion erhebt dort die Forderung nach einer Revision Vgl. z. B. »Entre l’idole et l’icône, la rupture ne tolère aucun compromis.« (CV 122). Dieser Satz wäre so zu deuten, dass nur derjenige, der von der Offenbarung Jesu Christi betroffen ist, auch ihre Erscheinungsmöglichkeit denken kann. Die übrige Welt verfällt dem idolischen Denk- und Wirklichkeitsmodus. 60 Marion hat auf diesen Umschwung selbst hingewiesen: Zuerst im Vorwort zu »Réduction et Donation«: »Les recherches dont nous présentons ici le résultat […] gardent un lien, indirect, mais sans doute nécessaire, avec des travaux plus anciens qui, sans le savoir, les présupposaient.« (RD I). Dann in zahlreichen mündlichen Stellungnahmen: Vgl. z. B. »In meinen zwei ersten Büchern ›L’idole et la distance‹ und ›Dieu sans l’être‹, die in mancher Hinsicht Bücher des Umbruchs waren, vertrat ich die Meinung, dass man Gott nicht erst vom Beginn seiner Existenz oder des Seins an vermuten darf. Was man jedoch stattdessen positiv denken sollte, legte ich in dieser Zeit nicht fest.« (ders.; Wohlmuth, J. Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, 39). 61 Neuerdings ist dieser hinsichtlich seiner Editionsgeschichte kuriose Text in Frankreich erschienen: Marion, J.-L. Le possible et la révélation, 13–34. 62 Der selbe hier nachgezeichnete Duktus des »Aspekte-Aufsatzes« ist am Text »Le phénomène saturé« nachzuweisen – mit dem geringfügigen Unterschied, dass dort die von Marion entwickelte Theorie des gesättigten Phänomens im Speziellen, und nicht, wie hier, die »Phänomenologie der Gebung« allgemein von der Offenbarungsfrage her motiviert wird. Vgl. Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 79–128. 59

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der autonomen Phänomenologie, um zu einem Denken der Offenbarung zu kommen. Die Bedingungen, die er für eine Theorie der Offenbarung festlegt, werden gleichzeitig aber die Koordinaten der »Phänomenologie der Gebung« bilden: »Die Bedingungen, unter denen die Phänomenologie der Möglichkeit einer Offenbarung gerecht werden könnte, mögen also, wenigstens summarisch, folgendermaßen zum Ausdruck gebracht werden: a) dass das Ich seinen nicht-ursprünglichen Charakter zugibt und ihn bis zu einer ursprünglichen »Gebung« denkt. b) dass der Horizont sich durch die Gebung erfüllen lässt, und dass die Wahrheit somit von der Evidenz der dxa zum par€doxon des Offenbarten übergeht.« 63 Damit hat sich zum einen das Denken der Offenbarung ganz auf die autonome Phänomenologie selbst einzulassen. Zum anderen ist jene Intention offensichtlich, die die Marionsche »Phänomenologie der Gebung« zutiefst prägt. In diesem Sinne formuliert Marion die Frage, die für deren Verständnis Schlüsselfunktion haben könnte: »Kann die Theologie nicht kraft ihrer eigenen Erfordernisse und im alleinigen Hinblick darauf, sie zu formulieren, der Phänomenologie gewisse Modifikationen ihrer Operation nahe legen? In anderen Worten: Kann man nach (unbedingten) Bedingungen forschen, die die phänomenologische Methode unterschreiben müßte, um zu einem Denken der Offenbarung zu gelangen?« 64 Gelingt das hier projektierte Unternehmen, dann wäre aber der Glaube an die (christliche) Offenbarung vor der autonomen Vernunft als Möglichkeit erwiesen. 65 Aber noch mehr: Marions »Phénoménologie de la donation« würde eine zutiefst fundamentaltheologische Aufgabe erfüllen. Denn der Theologie geht es auf ihrer fundamentalen Ebene um die rationale Erhellung von Offenbarung. Sie sucht Offenbarung in einer Weise zur Darstellung zu bringen, die der allgemeinen Rationalität zugänglich ist. 66 Aspekte, 103. Aspekte, 98. 65 Entsprechend spricht R. Sneller von »Marion’s theo-phenomenological project« (Sneller, R. Incarnation as a Prerequisite: Marion and Derrida, 40). 66 Vgl. »Das Hauptziel, das die Theologie anstrebt, besteht darin, das Verständnis der Offenbarung und den Glaubensinhalt darzulegen. […] Vorrangige Aufgabe der Theologie wird vor diesem Horizont das Verständnis der kenosis Gottes sein, ein wahrhaft großes Geheimnis für den menschlichen Geist, dem es unhaltbar erscheint, dass Leiden und Tod die Liebe auszudrücken vermögen, die sich hingibt, ohne etwas dafür einzufordern.« (Johannes Paul II. Enzyklika »Fides et Ratio«, 95). »I think that the phenomenology of givenness will rather function as a first philosophy for theology; offering already believing people the rational possibility to believe what they believe.« (Bos63 64

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Bei der Frage nach der fundamentaltheologischen Relevanz des Marionschen Denkens ist angesichts theologischer Diskussionen in Deutschland 67 auf das von Marion vertretene Verhältnis zwischen Phänomenologie und Hermeneutik hinzuweisen. Marions Religionsphänomenologie ist nicht als »hermeneutische Phänomenologie« zu verstehen. 68 Es ist vermutlich M. Heidegger (»Seinsgeschichte« 69 ), H.-G. Gadamer (»Wirkungsgeschichte«) und insgesamt dem »linguistic turn« in der Philosophie zu zuschreiben, dass man hierzulande meistens nur noch ein ›hermeneutisch überformtes‹ Verständnis von Phänomenologie kennt. Diese hermeneutische Phänomenologie sucht adäquates Verstehen auf dem Wege einer Bewusstmachung des jeweiligen seins- oder wirkungsgeschichtlichen Standortes. Dieser mag sich in der Sprache 70 bzw. in der geschichtlich sich gestaltenden Ansicht des Seins 71 dokumentieren. Weitestgehend gilt dabei der Husserlsche Ruf »Zu den Sachen selbst« in seiner streng methodischen Auffassung als überholt bzw. als ephemere Momentaufnahme innerhalb ›seinsgeschichtlicher Inkubation‹ 72 . Im geistigen Klima Heideggers und Gadamers kommt die Phänomenologie als (geschichtslose) Erkenntnistheorie natürlicherweise nicht in den Blick. sche, S. v. d. A possible present for theology. Theological implications of Jean-Luc Marion’s Phenomenology of Givenness, 70). 67 Vgl. Verweyen, H. Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, 61 ff., Valentin, J. (Hrsg.). Unbedingtes Verstehen ?! Fundamentaltheologie zwischen Erstphilosophie und Hermeneutik, Pröpper, T.; Larcher, G.; Müller, K. (Hrsg.) Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung. 68 In einem privaten Gespräch vom 05. 02. 05 wies Marion mir gegenüber darauf hin, dass sein Denken in Frankreich dafür kritisiert wird, die Bahnen jeglicher Hermeneutik verlassen zu haben. Vgl. »It is my impression that Marion thinks something that meets rather an a priori resistance – as something that ›should not be done‹ – of many of his colleague philosophers, so impressed with hermeneutics and subjectivity.« (Bossche, S. v. d. A possible present for theology. Theological implications of Jean-Luc Marion’s Phenomenology of Givenness, 59). 69 Vgl. die Kritik: Marion, J.-L. De l’histoire de l’être à la donation du possible, 179– 189. 70 Vgl. Gadamer, H.-G. Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie, in: ders. Wahrheit und Methode Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 442 ff. Die Konfrontation zwischen Gadamer und Marion verdeutlicht: Grondin, J. La tension de la donation ultime et de la pensée herméneutique de l’application chez Jean-Luc Marion, 547–559. 71 Vgl. »Sein denken wir demnach nur dann sachlich, wenn wir es in der Differenz mit dem Seienden denken und dieses in der Differenz mit dem Sein. So kommt die Differenz eigens in den Blick.«, »Insofern [aber] die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen denkt, stellt sie das Seiende aus dem Hinblick auf das Differente der Differenz vor, ohne auf die Differenz als Differenz zu achten.« (Heidegger, M. Identität und Differenz, 53, 62 f.). 72 Vgl. Heidegger, M. Der Satz vom Grund, GA 10, 96.

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Bei Marion wird dagegen das Bemühen sichtbar, jener hermeneutischen Ausdünnung der Phänomenologie dadurch zuvorzukommen, dass am Husserlschen Projekt »Zu den Sachen selbst« und den Gebungakten angeknüpft wird, für die das Bewusstsein offen ist. Erkennen entscheidet sich nach Marion ferner daran, ob sich das Phänomen im Bewusstsein als es selbst geben darf. Zwar wird man unter dieser Voraussetzung Prinzipien Husserls wie »Urgegenständlichkeit«, »absolutes Bewusstsein« etc. revidieren müssen. Doch relativieren sich damit auch die hermeneutischen Ansätze Heideggers (»Seinsgeschichte«) und Gadamers (»Wirkungsgeschichte«). In diesen Konzeptionen bleibt nach Marion jeweils die fundamentale und unbedingte Offenheit des Bewusstseins für die Gebung verkannt, die in seinen Augen den hermeneutischen Ansätzen je schon zugrunde liegt. 73 Die »Phänomenologie der Gebung« bezieht sich auf einen Bereich menschlicher Erfahrung, der nicht nur der Reflexion vorausliegt, sondern auch jedem phänomenologischen Begriff von ›Zeitlichkeit‹. Nach Marion ist die ursprüngliche Hingebung des Bewusstseins an die »donation« phänomenologisch ›älter‹ als Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. 74 Sein Ansatz thematisiert eine vor jeder Zeiterfahrung stehenden Eröffnung von Wirklichkeit, über die die phänomenologische Hermeneutik mit der absoluten Setzung der Horizonte »Sein«, »Geschichte«, »Sprache« hinweggeht. 75 Dass schließlich innerhalb dieses Insoweit lässt sich der Entwurf Marions auch als Ausdruck der Bewegung »Zurück zum Bewusstsein« verstehen, die sich in Frankreich seit Mitte der 70er Jahre gegen die linguistischen, strukturalistischen und psychoanalytischen Paradigmen durchzusetzen begann. Dabei scheint das Denken M. Henrys wegweisend gewesen zu sein. Vgl. Marion, J.-L. Vorwort, 10 f. Dass diese Bewegung nicht als ein ›Roll-Back‹ einzuschätzen ist, hebt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Gauchet, M. hervor: Vgl. Gauchet, M. Changement de Paradigmes en Sciences Sociales ?, 169. Seit DsE, wo die christliche Offenbarung als Geschehen ›hors texte‹ entworfen wird, ist bekannt, dass Marion einen prätemporalen und -textuellen Bereich denken will. Zu Marions Kritik an einer von der Zeitlichkeit geprägten Hermeneutik vgl. v. a. ED 408. 74 Vgl. »Le retard n’a rien d’un délai temporisant ou temporalisé: il tient à la conversion strictement phénoménologique par l’adonné de ce qui se donne (l’appel) dans ce qui se montre (le répons)«.(ED 408). 75 In diesem Zusammenhang ist Marions Diskussion mit P. Ricœur aufschlussreich. Ricœur scheint gegen den erstphilosophischen Ansatz Marions einwerfen zu wollen, hier werde eine Unmittelbarkeit von Phänomengebungen postuliert und deren Unterwandertsein von sprachlichen, kulturellen und geschichtlichen Bedingungen ignoriert. In diesem Sinne hat Ricœur vermutlich den Ansatz Marions im Auge, wenn er betont: »La difficulté majeure avec laquelle doit se mesurer une phénoménologie de la religion est ailleurs. Elle concerne le statut d’immédiateté que pourraient revendiquer les attitudes et les sentiments solidaires de la structure d’appel et de réponse d’ordre religieux. S’il ne s’agissait encore que de tenir compte de la médiation langagière, sans laquelle sentiments et attitude, abandonnés au mutisme, resteraient informes, la difficulté resterait mineure, et non vraiment dirimante. […] à la médiation langagière s’ajoute une médiation culturelle et historique dont la précédente est la simple projection.« 73

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Rahmens die Offenbarung Jesu Christi thematisch werden kann, bringt Marion zumindest in die Nähe einer transzendentalphilosophisch ausgerichteten Fundamentaltheologie. 76 Gerade diesen Aspekt (als ›apologetische‹ Gefahr oder posthermeneutische Chance?) hat Marion selber genau gesehen, wenn er am Ende seiner Überlegungen zum Offenbarungsphänomen sagt: »Si danger il devait y avoir ici, il résiderait plus dans la phénoménalisation formelle et, en un sens, encore transcendantale de la question de Dieu que dans une quelconque théologisation de la phénoménalité.« 77

3.10. Vorberlegungen zum strukturellen Aufbau Die dritte Werkphase Marions, die unter dem Titel »Phénoménologie de la donation« steht, wird durch drei Monographien repräsentiert: »Réduction et Donation« (1989, Sigel: RD), »Étant Donné. Essai d’une phénoménologie de la donation« (1997, Sigel: ED) und »De surcroît« (2001, Sigel: DS). Bei der Frage, wie sich diese Studien aufeinander beziehen, ist zunächst eine durchaus irritierende Selbstinterpretation Marions aus dem Weg zu räumen. Angesichts der anspruchsvollen Argumentation, die Marion in RD für den phänomenologischen Primat von »donation« entwickeln wird, verwundert ein Kommentar aus dem Vorwort von ED (1997). Im Rückblick auf RD (1989) wird dort ausgeführt: »Nous ne pensions alors que [de ? / T. A.] procéder à un simple examen historique du développement de la méthode phénoménologique.« 78 Folgt man dieser Deutung, dann wäre RD lediglich eine philosophiegeschichtliche Studie gewesen, der eine systematische Arbeit (ED) folgt. 79 Dagegen sprechen aber folgende Befunde: (Ricœur, P. Expérience et Langage dans le discours religieux, 18 f., weiterführend: GREISCH, J. L’herméneutique dans la »phénomenologie comme telle«, 43–63). 76 Vgl. die deutlichen Stellungnahmen Marions: Erstens: »To reduce ›Christian philosophy‹ to a hermeneutic thus exposes it to missing the specificity of creation and, not in the least, of revelation – by locking faith in its preambula. This […] result does force us to contest that ›Christian philosophy‹ be defined exclusively as a hermeneutic.« (Marion, J.-L. Christian Philosophy«: Hermeneutic or Heuristic?, 253 f.). Zweitens: »There is a deep rationality in the operations of faith, understanding, interpretation, which cannot be reduced to the usual rules of hermeneutics and phenomenology.« (Kearney, R. A Dialogue with Jean-Luc Marion, 25). 77 ED 337. 78 ED 7. 79 Diese Interpretation übernimmt R. Kühn in seiner Rezension: Vgl. »[Étant Donné] erfüllt so zugleich in systematischer Hinsicht, was das vorhergehende Werk ›Réduction

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Vorberlegungen zum strukturellen Aufbau

Erstens: Die Tatsache, dass Marion in RD den Reduktionsbegriff völlig selbständig bestimmt und gegen (den frühen und späten!) Heidegger richtet, legt eine Korrektur dieser Selbstinterpretation nahe. Es ist hinreichend bekannt, dass die Reduktionsmethode dem genuinen Denken Heideggers fremd ist. 80 Von dort her wäre RD als selbständige Interpretation Marions zu lesen, der jedes bloß ›philosophiegeschichtliche Interesse‹ entbehrt. Zweitens: Im Wissen um die Werkgeschichte Marions gilt es, den systematisch-kritischen Anstoß, auf den RD zurückgeht, herauszustellen. Marion bestimmt RD als Grundlagenschrift, die im Nachhinein die philosophische Basis zu seinen theologischen Schriften des Frühwerkes bilden sollte. 81 Entsprechend heißt es im Vorwort zu RD: »Les recherches dont nous présentons ici le résultat […] gardent un lien, indirect, mais sans doute nécessaire, avec des travaux plus anciens qui, sans le savoir, les présupposaient.« 82 Marions spätere Einschätzung, RD sei lediglich eine historische Studie gewesen, ist in Anbetracht dieser Programmansage fragwürdig. Drittens wird diese Behauptung durch einen Blick auf die in RD zu Gebrauch gekommenen Termini widerlegt. »Autant de réduction, autant de donation«, »interloqué«, »le pure appel«, »ennui des profondeurs« – Marion bedient sich in RD aller dieser Begriffe nie in philosophiegeschichtlicher, sondern in systematischer Absicht. Dies wird daran sichtbar, dass sie in ED (als vorgeblich einzig systematischer Schrift) wiederkehren: »adonné«, »le don pur«, »phénomène pauvre«. So wird man der Deutung Marions, RD sei nur eine philosophiegeschichtliche Analyse, nicht folgen dürfen, wenn man den Blick auf das Ganze seines Schaffens gerichtet hält. Von dort her ist vielmehr der umgekehrte Fall wahrscheinlich zu machen: ED baut systematisch konsequent auf der systematischen Studie RD auf. 83 et Donation‹ […] in mehr exegetisch-historischer Weise vorbereitet hatte, nämlich die Überwindung der Begrenzung auf Gegenständlichkeit (Husserl) bzw. auf Seiendheit in Auslegung durch das verstehende Dasein (Heidegger).« (Kühn, R. Rez. Étant Donné. Essai d’une phénoménologie de la donation,: 378 / Hervorh. / T. A.). 80 Vgl. Janicaud, D. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 47. 81 Vgl. ED 104, Anm. 2. 82 RD I. 83 Insbesondere sieht E. Falque einen Bruch zwischen RD und ED. Für ihn wird in ED eine deskriptive, in RD eine argumentativ-apologetische Phänomenologie vertreten und der Zusammenhang zwischen beiden Monographien scheint nur noch locker geknüpft zu sein. Vgl. »La traversée d’Étant Donné relève de l’expérience, plus que de la doctrine.« (Falque, E. Phénoménologie de l’extraordinaire, 53, vgl. ebd., 57 f., 63). Dagegen

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Von der Offenbarungsfrage zur »Phnomenologie der Gebung«

Bei der Beurteilung von Marions Selbstdeutung, RD sei lediglich eine philosophiegeschichtliche Studie gewesen, ist an eine Aussage Heideggers zu erinnern. 1973, im sog. Seminar von Zähringen, äußert sich dieser über sein Hauptwerk »Sein und Zeit« wie folgt: »Aber in ›S.[ein] und Z.[eit]‹ kam es noch nicht zu einer echten Erkenntnis der Geschichte des Seins, und daraus entsprang die Ungeschicklichkeit und strenggenommen Naivität der ontologischen Destruktion. Seither ist die unvermeidliche Naivität des noch Unerfahrenen einer Erkenntnis gewichen.« 84 Vergleicht man die Position Heideggers mit Marions Selbstinterpretation aus »Etant Donné«, so liegen natürlich zuerst die Unterschiede auf der Hand. Marion spricht von keiner »Geschichte des Seins« und behauptet lediglich, RD sei eine philosophiegeschichtliche Studie gewesen. Unbeschadet dessen stimmen beide Texte darin überein, dass sie den Begriff »Geschichte« ins Spiel bringen und mit seiner Hilfe den genuinen Anspruch einer früheren Reflexion relativieren wollen. Die Gegenüberstellung mit dem Text Heideggers lässt vermuten, dass auch Marion eine Art Kehre inszenieren will. Statt von der Seinsgeschichte wäre dann von der gabegeschichtlichen Phase zu sprechen, in der sich Marion angekommen glaubt, als er ED verfasst. Behält man jedoch das Gesamtwerk Marions im Auge, dann scheint dieser Selbstdeutung allein eine rhetorische Funktion zuzukommen, die sich einer bei Heidegger entlehnten Strategie bedient. In einer weiteren Anmerkung wird die Verstellung Marions im Rückblick auf RD deutlich. Marion kritisiert die darin entwickelte Radikalität der phänomenologischen Reduktionsmethode, würde sie doch der »donation« selbst zuwiderlaufen: »l’insistance trop unilatérale sur la soumission de l’ontologie à la réduction, masque passablement que cette même ›ontologie‹ relevait de la donation.« 85 Diese Selbstkritik lässt unberücksichtigt, dass die Gebung des Seins ja erst über die so radikal in RD vorangetriebene Reduktion aufgedeckt wurde. Eine weitere Spannung tritt besonders eklatant dort auf, wo Marion die Studie RD auf ein bloßes Übersetzungsproblem reduzieren will: »… mais ne s’agissait-il pas, après tout, que de la simple traduction d’un concept redondant chez Husserl (Gegebenheit)?« 86

Entgegen Marions ›historisierender Selbstdeutung‹ am Anfang von ED legen mindestens drei Beobachtungen nahe, zwischen RD und ED ein systematisch-philosophisches Band zu knüpfen. Erstens: Am Anfang von ED, und gewissermaßen als dessen »Principium« steht das Diktum »D’autant plus de réduction, d’autant plus de donation«. 87 setzt die vorliegende Studie darauf, ED auf die in RD entwickelte Argumentation zurückzubeziehen und beide Gedankengänge bewusst ineinander zu verschränken. 84 Heidegger, M. Seminare, GA 15, 372–400, hier: 395. 85 ED 47, Anm. 3. 86 ED 7. 87 Vgl. ED 23 ff., (s. a. DS 20).

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Vorberlegungen zum strukturellen Aufbau

Dieses wird in ED konsequent ausbuchstabiert und gleichsam in all seinen ›post-ontologischen‹ Bezügen entfaltet. Doch argumentiert Marion allein in RD für die Prinzipienstellung von »D’autant plus de réduction, d’autant plus de donation«. Anders gesagt: Dieses Diktum tritt als Ergebnis der in RD entwickelten Argumentation hervor. 88 Daraus folgt, dass RD den Ausführungen aus ED zugrunde liegt. 89 Nur aufgrund dieses Zusammenhanges wäre »donation« als ursprünglichster Horizont von Phänomenologie zuzustimmen. 90 Zweitens stellt Marion im dritten und fünften Buch von ED die formalen Bestimmungsstrukturen des von der Gebung her zu verstehenden Phänomens und der sich hingebenden Subjektivität dar. Diese Darstellung trägt einen stark formalen Charakter. Dargestellt werden dabei die Grundzüge des sich-gebenden Phänomens und der sich-gebenden Subjektivität. Bei genauerem Zusehen deutet Marion hier die formale Gebungs- und Appellstruktur der Phänomene (»forme pure d’appel« 91 ) aus, mit deren Aufweis die Heideggerkritik aus RD zum Abschluss kommt. Das Band zwischen RD und ED wird aber drittens noch enger mit Rücksicht auf die Offenbarungsfrage zu knüpfen sein. Dass diese im Hintergrund von RD steht, wurde nun gezeigt. Weil aber der Versuch, die christliche Offenbarung philosophisch zu denken, erst in ED systematisch umgesetzt wird, schließt dies direkt an RD an. Von dieser Studie hat Marion ja klar behauptet: »un lecteur lucide ne peut manquer de deviner que la question de la révélation gouverne assez essentiellement ce travail.« 92 So legt sich folgende Struktur für ED nahe: Im ersten Buch von ED werden ziemlich genau die Ergebnisse aus RD zusammengefasst, wenn auch nur in einem eher paraphrasierenden Stil. Hinzukommt, dass der Vorrang von »donation« phänomenologisch aufgewiesen wird 93 und nicht im Sinne einer arguVgl. RD 303. »… toute l’argumentation qui nous y a conduit …« (ED 169), s. a. auch die Beobachtung Janicauds: »Jean-Luc Marion procède autrement. Non qu’il se veuille moins sûr de son fait; mais il entend se justifier par la voie argumentative.« (Janicaud, D. La phénoménologie eclatée, 16). 90 Ansonsten ware dem Einwand Lopez’ beizupflichten: »An analysis of givenness […] must also ask why there is givenness at all, a question which Marion does not seem to address sufficiently.« (Lopez, A. Rez. Etant Donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, 855). 91 Vgl. RD 296. 92 Marion, J.-L. Réponses à quelques questions, 73. 93 Darunter fallen z. B. die phänomenologischen Analysen des Gemäldes (ED 60 ff.), des Nichts (ED 78 ff.) und des Todes (ED 84 ff.), die nach Auffassung Marions nur dort in 88 89

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Von der Offenbarungsfrage zur »Phnomenologie der Gebung«

mentativen Kritik gegenüber Husserl und Heidegger. ED II argumentiert hauptsächlich auf Anstoß Derridas dafür, die kulturwissenschaftlichen Gabeakttheorien vom phänomenologischen »donation« – Begriff her zu verstehen. Schließlich stellt Marion (ED III–IV) die Aspekte einer Wirklichkeit im Zeichen der Gebung heraus und entwickelt u. a. seine Theorie des gesättigten Phänomens. Das abschließende Kapitel (ED V) ist der Transformation der transzendentalen Subjektivität gewidmet, die angesichts der ursprünglichen Gebung von Wirklichkeit als Hingegebene [r] (»adonné«) zu denken ist. Die hier in den Blick genommenen Dimensionen von Gebung werden aber letztlich nur dank der in RD vorgelegten Argumentation verständlich. So ist der Übergang zwischen RD und ED vielleicht in dem Sinne zu deuten: Auf die eher methodenkritische Studie RD, in der erwiesen wird, dass dem Begriff der »donation« der phänomenologische Vorrang zukommt, folgt ED, worin sich die Reflexion ganz auf die Wirklichkeit als eine sich gebende richtet. 94 Die zuletzt erschienene

ihrer genuinen Phänomenalität zu erschließen sind, wo die »donation« als phänomenologisch tiefste Bestimmung gedacht wird. Allerdings dürften diese Ausführungen die Argumentation aus RD erst voraussetzen. Ohne diesen Zusammenhang wäre wohl nur schwer zu entscheiden, ob man z. B. im Gemälde das Sich-Geben der Phänomenwelt oder, wie Heidegger, das Sein annehmen sollte. 94 Vielleicht liegt in diesem Verhältnis von Methode zu einer Konzeption von Wirklichkeit als »Sich-Geben« ein cartesisches Muster im Denken Marions vor. Sichert Descartes in der ersten und zweiten Meditation die Methode des reinen Denkens, so stößt er in der dritten zur Unendlichkeitsidee, als erste Aussage über die Wirklichkeit, vor: Vgl. »… hoc pronuntiatum Ego sum, ego existo, quoties a me profertur, vel mente concipitur, necessario esse verum«, »… hinc necessario sequi, non me solum esse in mundo, sed aliquam rem, quae istius ideae causam etiam existere.« (Vgl. Descartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 25, 11–13; 42, 22–24). Dieses ›Cartesische Muster‹ scheint sich in der Marionschen »Phénoménologie de la donation« zu wiederholen. Denn erstens zeigt Marion in RD auf, dass das »Dasein« Heideggers noch vom »Ego, cogito« geprägt bleibt, wodurch er aber die phänomenologische Reduktionsmethode ihrer seinsgeschichtlichen Vereinnahmung durch Heidegger entreißen und in ihrem weiteren Verfolgen den phänomenologischen Vorrang von »donation« erweisen kann. (Vgl. RD 119–161, Kap. 4.2.6.). Zweitens versteht sich das anschließend begründete »gesättigte Phänomen« in der Linie der cartesischen Unendlichkeitsidee. (Vgl. ED 305 f., Kap. 5.4.2.). Vgl. »Jean-Luc Marion […] entend se justifier par la voie argumentative, attitude que l’on attend en effet d’un philosophe formé à l’école cartésienne.« (Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 16). Weiß man um die offenbarungstheoretische Motivation Marions, so scheint die Annahme Holzers nicht völlig abwegig, Marion verfolge eine Art transzendentalphilosophische Fundamentaltheologie, auch wenn sein Ansatz mit dem Denken K. Rahners inhaltlich kaum Gemeinsamkeiten hat: Vgl. »Confronter le Christ visible à son rôle conceptuel possible, pour l’ériger éventuellement en paradigme n’est-ce pas une forme de christologie transcendantale telle qu’elle a été dessinée par le théologien allemand Karl Rahner?« (Holzer, V. Phénoménologie radicale et phénomène de la révélation: Jean-Luc Marion, Etant Donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, 67 f.).

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Vorberlegungen zum strukturellen Aufbau

Schrift »De surcroît« (DS) vertieft dabei die Problematik des gesättigten Phänomens und ergänzt Marions Analysen zur Gebung von Wirklichkeit aus ED IV. 95

Mit Rücksicht auf diesen werkgeschichtlichen Zusammenhang ist bei der Darstellung der »Phénoménologie de la donation« drei Fragen sukzessive auf den Grund zu gehen. Erstens: Wie begründet Marion mit den genuinen Mitteln der Phänomenologie deren ursprüngliche Ausrichtung auf die »donation«? Für diesen Fragekomplex steht hauptsächlich die Schrift von 1989: »Réduction et Donation«. 96 Zweitens: Darauf aufbauend ist zu untersuchen, welches Bild von Wirklichkeit der neue phänomenologische Zugang eröffnet und nach welchen rationalen Verfahren dieses zu strukturieren ist. Auf diese Fragestellung 97 geben Marions »Etant Donné« (1997) und »De surcroît« (2001) eine Antwort. Drittens ist in diesem Zusammenhang die theologisch entscheidende Frage einer Lösung zuzuführen: Welche religiösen Wirklichkeiten eröffnen sich der Phänomenologie im Zeichen der »donation«? Bekommt sie, ihrem ursprünglichen Anliegen entsprechend, die Offenbarung Jesu Christi angemessen in den Blick?

Leider scheinen die Ausführungen aus DS nicht unmittelbar an die Systematik in ED anzuschließen. Erstens ist hier ein irenischer Ton unüberhörbar. Beispielsweise unterbleibt eine explizite und systematische Auseinandersetzung mit den Philosophen, die wie ED behauptet, gesättigte Phänomene ›ante litteram‹ behandelt hätten (v. a. Derrida, Ricœur, Henry, Lévinas, in: ED 318–325). Zweitens werden die in ED entwickelten Formalfiguren des sich gebenden Phänomens nicht konsequent auf die einzelnen gesättigten Phänomene angewandt. Drittens dünnt der Ansatz von DS den systematischen Gehalt der Sättigungstheorie aus. So wird beispielsweise das historische Ereignis zur Ereignishaftigkeit des Phänomens insgesamt umgemünzt. 96 Vgl. »ce livre (au contraire d’autres explicitement théologiques) sans un mot de théologie, au point que l’une de ses toutes dernières pages y met expressément entre paranthèse la question de Dieu […], ce qui nous oppose justement à l’emploi par Lévinas de Deuteronome 6,4.« (ED 104, Anm. 1). 97 Vgl. »Mais, pour penser la donation comme telle – comme originairement inconditionelle-, il faudra élaborer des paradoxes rigoureux et nouveaux.« (RD 305). 95

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4. Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

Das Verhältnis zwischen Marion und der an Husserl anschließenden Phänomenologie steht insbesondere unter den folgenden Vorzeichen: Einmal ist Marions Rezeption von Husserl, mit dem er sich, wie jeder Vertreter der phänomenologischen Schule, intensiv auseinandersetzen muss, stark von Heidegger beeinflusst. Dies wird insbesondere daran sichtbar, dass Marion wiederholt auf den Husserlschen Ruf »Zu den Sachen selbst« insistiert, dem, unter anderem, in der Denkentwicklung Heideggers ein bedeutsamer Stellenwert zukam. 1 Indem Heidegger aber diese methodische Kurzformel selbstständig, d. h. in ontologischem Sinne, weiter interpretierte, konnte er die Phänomenologie insgesamt unter ein völlig neues Licht, die Seinsthematik, stellen 2 , wodurch es zum bekannten Konflikt mit Husserl kam. Hervorzuheben ist nun, dass bei Marion diese kritische Überarbeitung der Husserlschen Phänomenologie durch Heidegger als hintergründiges Modell der eigenen Untersuchungen fungiert. Möchte man Marions Auslegung der Phänomenologie aber präziser begreifen, dann wird man vor allem das Reflexionsniveau ins Auge fassen müssen, das durch die von Lévinas, Derrida und Henry betriebene Relecture dieser Denkrichtung erreicht worden ist und das gleichsam das spezifisch französische Koordinatensystem der »Phénoménologie de la donation« bildet. Zuerst: Wo sich die genannten Denker mit Husserl auseinandersetzen, geht es wie bei Heidegger praktisch nie um die rein philosophiegeschichtlich interessierte Erforschung dessen, was der deutsche Vater der Phänomenologie konzipiert und erwogen hat. Vielmehr ist man auch dort darum bemüht, Vgl. »Phänomenologie als Methode findet für Heidegger einzig ihren Ausdruck in der von Husserl geprägten Maxime ›Zu den Sachen selbst!‹« (Hermann, F. W. v. Hermeneutik und Reflexion, 101). 2 Vgl. v. a. Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 104, ders. Sein und Zeit, 27 ff. 1

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die phänomenologische Philosophie neu auszurichten, zu reformulieren, ja zu rekonstituieren. Allerdings ist festzuhalten, dass dadurch eine Art ›französische Konkurrenz zu Heidegger‹, insbesondere zu dessen Husserlkritik, entstanden ist. Denn Lévinas, Derrida und Henry suchen unabhängig von Heidegger eine mit Blick auf Husserl kritische Neuschreibung der Phänomenologie, wobei sie sich des ›Corpus Husserlianum‹ auf selbstständige Weise bedienen: Einerseits werden dabei, analog zum Ansatz Heideggers, aber mit divergierenden Schlussfolgerungen, bestimmte Theoriestücke Husserls aufgegriffen, die für den je eigenen Entwurf von Phänomenologie entscheidende Funktion haben sollen. Andererseits hält man Husserl implizit vor, jene selektierten Elemente phänomenologisch nur unzureichend vertieft, deshalb eine insgesamt spannungsreiche, wenn nicht gar inkohärente Philosophie entwickelt zu haben, was erst durch den jeweiligen Neuansatz behoben wäre. Will Marion am Denken Husserls die ursprüngliche Relevanz von »donation« aufzeigen, dann steht dieses Unternehmen in einer Reihe mit Lévinas’ früher Neubewertung der »Intuition«, Derridas Verweis auf den Husserlschen Begriff der »Anzeige« und der Relecture von Husserls »hylé« durch Henry. 3 Doch ist nun zu fragen, ob und in welchem Sinne diese Husserlinterpretationen seitens der französischen Denker auf deren jeweiliges Verhältnis zu Heidegger zurückstrahlen. Vorneweg gilt: Die mit ihnen verbundenen Ansätze, genauer: die Lévinassche Ethik des anderen Menschen, die ›Onto-Semiologie‹ Derridas, die von Henry vertretene Lebensphilosophie der Selbst-Affektion, schließlich Marions »Phénoménologie de la donation« stehen der ontologischen Neufassung von Phänomenologie, die Heidegger vorgelegt hat, entgegen. Konkreter: Weil für diese aus Frankreich kommenden Konzeptionen von Phänomenologie Interpretationen des Husserlschen Œuvres leitend sind, die von der Lesart Heideggers abweichen, gerät Heidegger selbst in das Kreuzfeuer einer phänomenologischen Kritik. Deshalb verhalten sich die jenseits des Rheins entstandenen Entwürfe zur Phänomenologie zum Heideggerschen Denken nicht auf beliebige Weise sperrig. Sachlich stößt man sich dort zunächst an dessen ontologischer Deutung der Husserlschen Devise »Zu den Vgl. Derrida, J. Die Stimme und das Phänomen, 79 ff., Lévinas, E. La théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl, 216 ff., Kühn, R. Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität., 178 ff. 3

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

Sachen selbst« oder an der Behauptung, dass in der »kategorialen Intuition« das (seinsgeschichtlich relevante) Novum Husserls liege. 4 Denn der von Lévinas, Derrida und Henry jeweils als ursprünglich an Husserl begründete Antrieb der Phänomenologie (der andere Mensch, das Anzeichen / »différance«, die leibliche Selbstaffektion) wird in diesen Interpretationen Heideggers ja einfach verfehlt. Das Heideggersche Denken fällt aus dieser Sicht hinter den Stand der von den französischen Philosophen jeweils beabsichtigten Rekonstitution von Phänomenologie zurück. Entsprechend vertreten die erwähnten Protagonisten aus Frankreich den Anspruch, sich auf derselben phänomenologischen bzw. ›phänomenologiekritischen Augenhöhe‹ wie Heidegger zu bewegen. 5 Sie wollen den ›Meister aus Deutschland‹ nicht einfach ergänzen. Im Grunde genommen geht es ihnen jeweils um eine Alternative zu Heidegger und dessen ontologischer Rekonstitution von Phänomenologie. Unbeschadet dessen kann man aber sagen, dass für diese französische Theorieentwicklung der ›Stil‹, mit dem Heidegger Husserl kritisierte, vorbildlich bleibt – eine Kritik, die, von Husserls selbst her gesehen, indifferent bleibt gegenüber dem Ringen um gültige Erkenntnis, jedoch bei der Frage, was in der ›natürlichen Einstellung‹ ursprünglich erscheint, besticht. 6 Vgl. z. B. Heidegger, M. Seminare, GA 15, 378. Im dadurch gewachsenen Spannungsfeld zwischen deutscher und französischer ›Phänomenologie‹ ist allein über eine sensible Rückbesinnung auf die jeweils begangenen Rationalitätswege voranzukommen. Umgekehrt nehmen sich Kommentare zur französischen Phänomenologie, die hierzulande seitens eher ›orthodoxer Heideggerexegese‹ vorgebracht werden, oft wie etwas kurzsichtige Rückzugsgefechte aus. Vgl. z. B. Pöggeler, O. Heidegger in seiner Zeit, 165 ff. 6 Vgl. »Die Geschichte der Phänomenologie ist […] eine Folge von Dekonstruktionsschritten des Husserlschen Projektes.« (Welsch, W. Unsere postmoderne Moderne, 79, Anm. 42). Eine vergleichbare Situation scheint im Verhältnis zwischen Fichte und Hegel bestanden zu haben. Vgl. »Die entscheidende Aufgabe der Philosophie ist Fichte zufolge die nach streng systematisch ermittelten Prinzipien zu treffende Unterscheidung zwischen dem, was sich im Bewusstsein geltend macht, und dem, was davon als gültig anzuerkennen ist. Gerade dies hält Hegel nun für eine Ausgeburt subjektiver Arroganz: angesichts des absoluten Seins, wie es sich in Natur und Geschichte zu erkennen gibt, vernunftlosen Schein identifizieren zu wollen und sich anzumaßen, aus dem in der menschlichen Gemeinschaft als wahr und gut Geltenden nach eigenen Maßstäben das Gültige als das allein Verbindliche auszulesen.« (Verweyen, H. Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos, 339). Bei dieser Gegenüberstellung ist jedoch zu beachten, dass Marion im Unterschied zu Heidegger (wohl aber auch zu Derrida, Lévinas und Henry) einen neuen Akzent auf die Frage nach einer allgemein verbindlichen Methode (die Reduktion) legt. So ist im Letzten auch an seinem Entwurf ein noch zu diskutierendes Ringen um Gültigkeit zu erkennen. Was sich originär selbst 4 5

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

Marion greift nun den Traditionsstrang einer von Lévinas, Derrida und Henry neu entworfenen Phänomenologie auf, wobei er auf seine Weise die Spannung zwischen Nähe und Distanz zu den ›deutschen Vätern‹ dieser Philosophierichtung austragen muss. Genauer: Sein im Folgenden darzulegender Nachweis, dass das Projekt der Phänomenologie sich erst dort realisiere, wo die »donation« der Phänomenwelt bedacht werde, bewegt sich im Kontext der Phänomenologie Frankreichs, in der, wie bei Lévinas, Derrida und Henry, ein eigenständiger Umbau der Phänomenologie angestrebt wird und die sich insoweit auch immer durch ein kritisches Verhältnis zu Husserl und Heidegger auszeichnet. Über Marions Interpretation wird aufs Neue deutlich, dass das Husserlsche Denken kaum als einheitliche Systematik zu fassen ist. Seine Phänomenologie hat allenfalls eine neue Form philosophischer Reflexion eingeleitet, in der sich einzelne, mitunter einander widersprechende Etappen unterscheiden lassen (etwa »Logikbegründung«, »Transzendentalismus«, »Wesensschau«, »Lebenswelt«), was zu einer selbstständigen Relecture dieser Philosophierichtung geradewegs anspornt. 7

4.1. Die Gebung des Phnomens: Marion und Husserl Marions generelle Auffassungen zur Phänomenologie Husserls sind eingangs noch einmal kurz zusammenzufassen, um den Horizont gegenwärtig zu halten, vor dem der darzustellende Ansatz immer steht und der womöglich mit der ›Großwetterlage deutscher Gegenwartsphilosophie‹ nicht ohne Weiteres übereinkommt. In erster Linie sieht Marion in der Phänomenologie die heute einzig mögliche Form philosophischer Reflexion. 8 In seinen Augen stellt Husserl das Dengebe, sei, so Marion, gültig. Die Reduktionsmethode wäre demnach auf diese Gültigkeit gewährende Selbstgebung der Erscheinungen auszurichten. (Vgl. Kap. 4.1.3., 5.3.1.). Insbesondere bei der Besprechung des Offenbarungsphänomens wird die Frage nach dem bei Marion angelegten Verhältnis von phänomenaler Gültigkeit und Faktizität neu aufzuwerfen sein. 7 Vgl. Lyotard, J.-F. La phénoménologie, 7. 8 Vgl. »Pour une part essentielle, la phénoménologie assume, en notre siècle le rôle même de la philosophie.« (RD 7, vgl. a. CV 7). Dieses Urteil ist in der französischen Phänomenologie nicht ungewöhnlich: Vgl. Orth, E. W. Einleitung: Phänomenologie in Frankreich, 8 f. Der auf deutscher Seite oft geäußerte Eindruck, die in Frankreich dezidiert ins Zentrum gerückte Phänomenologie ginge mit einer ›unorthodoxen‹ Behandlung derselben einher, beruht weitgehend darauf, dass sich diese Entwürfe, wie

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Die Gebung des Phnomens: Marion und Husserl

ken auf eine neue Grundlage, nachdem mit Nietzsche die bisherige Metaphysik qua selbstgewisser Subjektivität ausgeklungen ist. 9 Mit Husserls »Logischen Untersuchungen« aus den Jahren 1900/01 werde, so Marion, eine ideengeschichtliche Zäsur gezogen und die Phänomenologie als einzig zeitgemäßer Rationalitätstyp grundgelegt. Für Marion dokumentiert sich der damit verbundene philosophische Umbruch in Husserls methodischem Ruf »Zu den Sachen selbst«, der seinen »Logischen Untersuchungen« programmatisch vorangeht. 10 Dieser Slogan impliziert die Forderung, nicht mehr auf die »Sache« bzw. Wirklichkeit in dem Sinne zu reflektieren, als gründe diese in (naiv-ontologischen, subjektkonstitutiven) Prinzipien und Ursachen, die sich in einem undurchschaubaren ›Jenseits der Phänomenwelt‹ bewegen. So spreche sich die Phänomenologie Husserls zutiefst gegen alle Konzeptionen abendländischer Metaphysik aus. Denn ihr tragender Impuls liege darin, das philosophische Denken von allen Wirklichkeitsdeutungen zu befreien, die nicht aus den Phänomenen selbst hervorgehen und deshalb in Anlehnung an Nietzsche als hin-

bereits beschrieben, als auf ›derselben Augenhöhe wie Heidegger‹ befindlich begreifen und so manchen deutschen ›Befindlichkeiten‹ gegenüber störend wirken. Bekanntlich betonte schon Heidegger, dass der Ausdruck »Phänomenologie« […] »der Titel für die Methode der wissenschaftlichen Philosophie überhaupt« sei und verstand darunter etwas ganz Eigenes. (Heidegger, M. Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 3). 9 Marion nimmt im Paradigma transzendentalphilosophischer Reflexion ein seinsbegründendes Denkmuster wahr, das sich mit der Subjekt- und Vernunftkritik Nietzsches erledigt. Vgl. »Hüten wir uns nämlich, meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen, alten Begriffs-Fabelei, welche ein ›reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss‹ angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie ›reine Vernunft‹, ›absolute Geistigkeit‹, ›Erkenntniss an sich‹.« (Nietzsche, f. Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale?, Werke VI/2, 383., dazu: Marion, J.-L. Métaphysique et Phénoménologie: une relève pour la théologie, 193). An dieser Sichtweise lässt sich vermutlich eine gewisse Schieflage zwischen deutscher und französischer Gegenwartsphilosophie erkennen. Hierzulande scheint man schematische Verdikte dieser Art, wenn überhaupt, nur mit größter Zurückhaltung vorzulegen. Vermutlich liegt der Grund dafür unter anderem darin, dass sich die deutsche Phänomenologie erstens mehr im Verbund mit anderen philosophischen Denkrichtungen wahrnimmt (Analytische Philosophie, Transzendentalpragmatik, Neurowissenschaften etc.). Zweitens scheint in der deutschen Gegenwartsphilosophie weiterhin ein Bewusstsein für die bleibende Fruchtbarkeit der Kant- und Idealismusforschung (G. Prauss, E. Düsing, D. Henrich etc.) zu bestehen, was pauschale Abwertungen des ›vor-nietzscheanischen‹ Denkens zumindest suspekt machen würde. 10 Vgl. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 10.

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terweltlich 11 zu bestimmen seien. Die Phänomenologie will demnach die Erscheinungen als selbständige Größen zur Geltung bringen, sie aus ihrer Vereinnahmung durch das bisherige Denken befreien und als einzig verlässliche Helfer bei der Frage nach dem Wirklichen einsetzen: »Au contraire de la méthode cartésienne ou kantienne, la méthode phénoménologique même lorsqu’elle constitue les phénomènes, se borne à les laisser se manifester, constituer n’équivaut pas à construire, ni à synthétiser, mais à donner-un-sens, ou plus exactement à reconnaître le sens que le phénomène se donne de lui-même et à lui-même; la méthode n’avance pas devant le phénomène, en le pré-voyant, pré-disant, et le produisant […], désormais, elle marche juste au pas du phénomène, comme en le prolongeant et lui dégageant le chemin par l’élimination des empêchements.« 12 Die Husserlinterpretation Marions wird diesen Gedankengang dadurch herausarbeiten, dass »donation« als ursprüngliche Bestimmung des Phänomens erwiesen wird. Aus dem Blickwinkel Marions liegt das Spezifikum phänomenologischer Philosophie darin, ausschließlich den phänomenalen Gebungen, die dem Bewusstsein widerfahren, philosophische Relevanz einzuräumen. Husserls »Sache selbst« ist nach Marion in erster Linie gegeben. In der Phänomenologie hat das Denken darum dieser Gebung der »Sache selbst« zu entsprechen, um zum Wirklichen zu gelangen. Marion wird also behaupten, dass die Philosophie Husserls zuerst auf die phänomenale »donation« ausgerichtet ist. Doch darf der Begriff »donation« nicht als ein der Phänomenologie aufgesetztes Interpretament gelten, was eine kritische Untersuchung der zentralen Texte dieser Philosophierichtung erforderlich macht. Dass die phänomenologische Philosophie, wie Marion meint, auf das Sich-Geben, die »donation« des Wirklichen hingeordnet ist, wäre deshalb an den Überlegungen Husserls und Heideggers nachzuweisen. In einem ersten Schritt wird Marion, ausgehend von einer weniger bekannten Äußerung Husserls aus der »Krisis der europäischen Wissenschaften« (kurz: »Krisis«), die »Logischen Untersuchungen«

Vgl. z. B. »Nichts mit der Wirklichkeit zu thun haben wollen, die wahre Wirklichkeit in entrückten Gefühlen zu tasten suchen, abweichend zu sein und ohne Verständniß für das Leben; dafür hatte die frühere ›Wissenschaft‹ ihre Formeln, es war ihr eine vernünftige Tendenz, weil sie an die Hinterwelt glaubte.« (Nietzsche, f. Nachgelassene Fragmente Anfang 1880 bis Frühjahr 1881, Werke V/1, 467). 12 ED 16. 11

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Husserls einer kritischen Relecture unterziehen. Über eine Analyse des dort entworfenen Verhältnis von Bedeutung und Anschauung wird er diese erste große Abhandlung, die am Beginn phänomenologischer Philosophie steht, als ›Werk des Durchbruchs‹ in die »donation« bestimmen können. Von dort her würde in der »donation« des Wirklichen der tiefste Fluchtpunkt der Phänomenologie liegen. (Kap. 4.1.1). Allerdings ist von diesem Befund aus das Denken des Phänomenologiebegründers nun differenziert zu beurteilen. Während zwar dessen späte Aussagen aus der »Krisis« Marions Interpretation der Phänomenologie zu stützen scheinen, steht der Großteil der Husserlschen Entwürfe dieser Orientierung an der »donation« diametral entgegen. Im Klartext: Obwohl Marion die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation« lesen kann, bleibt Husserl selbst die phänomenologietheoretische Bedeutung von »donation« zumeist verdeckt und sein Denken kann sich ihr gegenüber kaum öffnen. 13 Dies liegt daran, dass Husserl das Phänomen einem kriteriologischen Raster unterwirft: Präsenz, Anschaulichkeit und Erlebnishaftigkeit werden als Vorausetzungen des Phänomens festgelegt und dadurch schränkt Husserl dessen freie »donation« ein. Wegen dieser kriteriologischen Einbindung des Phänomens verpflichtet sich der Ansatz Husserls weniger der phänomenalen Selbstgebung. Vielmehr ist zu konstatieren, dass Präsenz, Anschaulichkeit und Erlebnishaftigkeit Forderungen jener Instanz darstellen, der in Husserls Phänomenologie der Primat zukommt: das instrumentell verfahrende, autarke und abgeschlossene Bewusstsein. Diese phänomenologische Prinzipierung führt dazu, dass das Phänomen im Sinne Husserls nur noch wie ein Symptom auf das Bewusstsein verweist und lediglich dessen (intentionalen) Bedürfnissen nachkommen soll. Daran, dass Husserl die »Urgegenständlichkeit« als tiefsten Horizont des Phänomens entwirft, wird man diese Abhängigkeit des Phänomens von der Intentionalität des Bewusstseins ablesen können. Die Hinordnung der Phänomenologie auf »donation«, die Marion am Ursprung des Husserlschen Denkens, d. h. an den »Logischen Untersuchungen« noch aufwies, wird von diesem dem Bewusstsein verhafteten Phänomenverständnis preisgegeben. Denn die vorbehaltlose,

Vgl. »il [sc. Husserl] pense à partir de la donation, tout en la laissant pour une large part impensée.« (ED 42).

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

unbedingte »donation« des Phänomens wird nun in ein Bedingungsgefüge gepresst, das einzig dem Bewusstsein (und nicht der phänomenalen Selbstgebung) entspricht. Unter dieser Perspektive ist die Phänomenologie Husserls schließlich als Wissenschaft von einem gegenständlich entworfenen Bewusstsein zu bestimmen, die sich gegenüber der unvorgreiflichen Gebung der Phänomene verschlossen hält (Kap. 4.1.2.). Um den als originär erwiesenen Ausgriff der Phänomenologie auf die »donation« der »Sache selbst« aber zur Geltung zu bringen, rekurriert Marion auf die phänomenologische Reduktionsmethode (»Epoché«). Zunächst ist ihr Gebrauch bei Husserl zu revidieren. Dieser führte die Reduktion als Methode ein, um das Denken von der natürlichen in die philosophisch korrekte, d. h. phänomenologische Einstellung zu überführen. Für Husserl bedeutet dies, die Wirklichkeit mittels Reduktion auf ihre Genese im Bewusstsein und seine Sinnbildungsprozesse zurückzuführen. Die reduktive Methode setze demnach die naiv-realistische Annahme einer bewusstseinsexternen Realität außer Geltung und zeige auf, wie Wirklichkeit im Bewusstsein als ›Welt der Phänomene‹ vorliegt. Marion macht nun gegen die damit verbundene Verabsolutierung des Bewusstseins geltend, dass sich die Reduktion primär an den »Sachen selbst« bzw. an der phänomenalen Selbstentfaltung auszurichten habe. Der Reduktion soll es in erster Linie um das vorbehaltlose Ankommen der Phänomene gehen. Folglich soll sie alle dabei auftretenden Hindernisse aus dem Weg räumen. An erster Stelle müsste der Reduktion dann aber der Bewusstseinsbegriff Husserls zum Opfer fallen, insofern sich das Phänomen aufgrund seiner Prinzipienstellung hier nur einer Kriteriologie entsprechend geben kann (Kap. 4.1.3.). Der phänomenologische Ansatz Heideggers, der das »Sein« in den Mittelpunkt stellt, wird diesen Ausgriff der Reduktion auf das Selbst phänomenaler »donation« neu herausstellen. 4.1.1. Die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation« Die Überzeugung, dass die »Logischen Untersuchungen« einen denkgeschichtlichen Durchbruch vollzogen haben, ist mittlerweile zu einem feststehenden Topos der phänomenologischen Schule geworden. Diese Lesart schließt zwar weitestgehend an Selbstaussagen 140 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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Husserls an. 14 Allerdings wird das Verständnis, mit dem Husserl selbst von einem Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« sprach, meist nur undifferenziert zur Kenntnis genommen. In einer ersten Überlegung wäre als Hintergrund dieser Durchbruchsformel das geistesgeschichtliche Reizklima auszumachen, in dem sich die »Logischen Untersuchungen« ursprünglich bewegt haben. Husserl arbeitet dort einmal den Gegensatz zwischen der Logik und sog. »psychologistischen« Wirklichkeitsdeutungen heraus. Nicht zuletzt beantwortet er damit eine Kritik seitens der Logik G. Freges an seiner Habilitationsschrift, der »Philosophie der Arithmetik«, in der ein psychologistischer Trend vorherrschend gewesen sein soll. 15 Obwohl Husserl zunächst mit Vehemenz diesen Fregeschen Vorwurf abwehren will und eine schroffe Dualität zwischen Psychologismus und Logik vertritt, wollen die »Logischen Untersuchungen« logische Erkenntnis in ›subjektiven‹ Bewusstseinserlebnissen gründen. Für Husserl sollen diese Erlebnisse streng philosophische, keine psychologische Valenz haben. 16 Wenn nun in der phänomenologischen Schule von einem ›Durchbruch‹ der »Logischen Untersuchungen« gesprochen wird, dann hängt diese Bestimmung mit der hier entworfenen Theorie der Bewusstseinserlebnisse, als Grund und Ursprung von Logik, zusammen. Zu fragen wäre jetzt, welchem Aspekt dieser Theorie nach Marion der Charakter eines Durchbruchs zugeordnet werden kann. Marion macht dabei zunächst geltend, dass der ›Vater der Phänomenologie‹ die ›Durchbruchsformel‹ mindestens an zwei Stellen seines Œuvres gebraucht, die nicht ohne Weiteres miteinander kongruent sind. 17 14 Vgl. Husserl, E. Vorwort zur zweiten Auflage (1913), in: ders. Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, VIII–XVII, hier: VIII. 15 Vgl. Husserl, E. Die Philosophie der Arithmetik. Psychologische und Logische Untersuchungen, Hua XII. Vgl. dazu Becker, O. Die Philosophie Edmund Husserls, 130. 16 Vgl. Rentsch, T. Art. Husserl, Edmund, in: Metzler Philosophen-Lexikon, 412, Bernet R.; Kern, I.; Marbach, E. Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, 25. 17 Diese Feststellung Marions scheint sich an Heidegger und Derrida zu richten. Beide Denker sprechen jeweils auf ihre Art von einem ›Durchbruch‹ der »Logischen Untersuchungen«. Nach ihnen wirft diese Abhandlung Husserls jeweils eine Fragestellung auf, über deren Explizierung die bisherige Metaphysik überwunden werden kann. Erstens: Nach Heidegger entdecken die »Logischen Untersuchungen« vor allem das Sein, das Husserl als »kategoriale Intuition« bestimmt. Damit eröffnet sich Heidegger zufolge die Frage nach dem Sinn von Sein zum ersten Mal auf phänomenologischer Ebene: »Husserls Leistung bestand in eben dieser Vergegenwärtigung des Seins, das in der Kategorie phänomenal anwesend ist. Durch diese Leistung, fährt Heidegger fort, hatte

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Erstens: Die fragliche Bemerkung vom ›Durchbruch‹ fällt zuerst 1913, d. h. nach der Fertigstellung seiner »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« (kurz: die »Ideen«). Husserl vermerkt: »Die Logischen Untersuchungen waren für mich ein Werk des Durchbruchs, und somit nicht ein Ende, sondern ein Anfang. Nach Vollendung des Druckes setzte ich die Studien sogleich wieder fort. Ich versuchte mir über Sinn, Methode, philosophische Tragweite der Phänomenologie vollkommenere Rechenschaft zu geben […]« 18 Diese Äußerung ist so zu verstehen, dass mit den »Logischen Untersuchungen« der Startschuss zu einer vertiefenden Beschäftigung mit der Phänomenologie fiel. Deren Ergebnis liegt aber erst jetzt mit den »Ideen« vor. So spricht Husserl hier von einem Durchbruch der »Logischen Untersuchungen«, weil ihm diese Abhandlung eine Stimulation bei der Ausarbeitung der »Ideen« war. Das Licht der gerade abgeschlossenen »Ideen« fällt nun auf jene Studien von 1900 zurück, die fast zeitgleich neu aufgelegt werden. Es ist klar, dass damit Husserls »Ideen« den Hintergrund für die Durchbruchsformel bilden: »La percée ne se trouve reconnue que pour servir aussitôt de commencement à la phénoménologie ultérieure.« 19 Da die »Ideen« aber im sog. »Prinzip der Prinzipien« kulminieren, wären die »Logischen Untersuchungen« als das Werk zu bezeichnen, in dem dieses »Prinzip aller Prinzipien« bereits denkerisch angesteuert worden wäre. Fragen müsste man deshalb, worum es sich bei jenem »Prinzip aller Prinzipien« handelt. Husserl hält in den »Ideen« fest: »Am Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ich endlich einen Boden.« (Heidegger, M. Seminare, GA 15, 378, vgl. ders. Zur Sache des Denkens, 47, ders. Die Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), GA 58, 13 f., ders. Sein und Zeit, 38, Anm. 1). Zweitens: Derrida sieht in Husserls Lehre von der »Anzeige« die Grundlagen seines Schriftverständnisses bzw. seiner Onto-Semiologie bereitgestellt. Vgl. Derrida, J. Die Stimme und das Phänomen, 79 ff. So ließen sich aus seiner Perspektive die »Logischen Untersuchungen« als heimlicher Durchbruch in ein Denken der »différance« interpretieren. Heidegger und Derrida setzen bei dieser Lesart stets voraus, dass Husserl die von ihnen jeweils betonte Thematik nur anreißt und wieder fallen lässt. Die eigentliche Entfaltung der Phänomenalität von »Sein« und »Anzeichen« bleibt deshalb ihnen selbst vorbehalten. Marions Versuch, die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in ein Denken der »donation« zu bestimmen, reiht sich in diesen Diskurs der phänomenologischen Schule ein. 18 Vgl. Husserl, E. Vorwort zur zweiten Auflage (1913), in: ders. Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, VIII–XVII, hier: VIII. 19 RD 12.

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›Intuition‹ originär […] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.« 20 Nach Husserls »Prinzip aller Prinzipien« strebt die Phänomenologie die optimierte Anschauung / Intuition der »Sache selbst« an. Angesichts dessen würde der Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« in der dort schon manifesten Hinordnung des Denkens auf die Anschauung bzw. Intuition liegen. Zweitens: In der »Krisis«, d. h. 1936, am Ende seines Schaffens beteuert Husserl ebenfalls, dass die »Logischen Untersuchungen« ein ›Werk des Durchbruchs‹ gewesen seien. Diese Aussage bewegt sich dort innerhalb seiner Konzeption des sog. »universalen Korrelationsapriori«. Husserl versteht darunter den erkenntnistheoretischen Zusammenhang zwischen Erfahrungsgegenstand und seinen Gegebenheitsweisen: Jede Erkenntnis von Gegenständen hänge, so Husserl, immer von ihrer je individuellen Gegebenheitsweise ab. Husserl nennt diesen Zusammenhang auch »die Korrelation zwischen Aussehen und Aussehendem als solchen« 21 und betont nun, dass jener Zusammenhang denkgeschichtlich erst mit den »Logischen Untersuchungen« zum Durchbruch gekommen sei. »Nie erregte (scil. vor dem ersten Durchbruch der ›transzendentalen Phänomenologie‹ in den ›Logischen Untersuchungen‹) die Korrelation von Welt (der Welt von der wie je sprechen) und subjektiven Gegebenheitsweisen von ihr das philosophische Staunen.« 22 In einer Fußnote urteilt er im Rückblick auf die »Logischen Untersuchungen« außerdem so: »Der erste Durchbruch dieses universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen (während der Ausarbeitung meiner ›Logischen Untersuchungen‹ ungefähr im Jahre 1898) erschütterte mich so tief, dass seitdem meine gesamte Lebensarbeit von dieser Aufgabe einer systematischen Ausarbeitung dieses Korrelationsaprioris beherrscht war.« 23 Dieser Aussage zufolge würde der Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« darin liegen, dass dort das Denken über die Gegebenheitsweisen, bzw. das Aussehen der Erfahrungsgegenstände, zum Staunen kommt. Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 51. 21 Husserl, E. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI, 168. 22 Ebd. 23 Ebd., 169, Anm. 1. 20

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Will Marion nun die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation« bestimmen, so verfolgt er das Interesse, Husserls Aussage von 1913 der von 1936 nachzuordnen. 24 Für das Verständnis dieses Konfliktes muss man sich den Unterschied beider Aussagen klar vor Augen führen: Einerseits besteht der Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« nach der Deutung von 1913 darin, die originäre Intuition als Rechtsquelle von Erkenntnis entdeckt zu haben. Die »Logischen Untersuchungen« nehmen sich damit als Durchbruch des Denkens in die Intuition aus. Weiter wäre demnach die Phänomenologie auf die Analyse der für originär zu befindenden Intuitionen verpflichtet. Andererseits erklärt Husserl 1936 das universale Korrelationsapriori, das den Zusammenhang von Erfahrungsgegenstand und seinem als Gegebenheitsweise bestimmten Aussehen problematisiert, zur zentralen Reflexionsfigur der Phänomenologie. Dieser Interpretation zufolge kam in den »Logischen Untersuchungen« zum Durchbruch, dass sich das Denken am sich jeweils gebenden Aussehen eines Gegenstandes ausrichtet. Nach Marion ist dieser späten Äußerung Husserls zu entnehmen, dass die Phänomenologie primär an der »donation« der Wirklichkeit orientiert ist. Die »Logischen Untersuchungen« müsste man demnach als Durchbruch in die phänomenale »donation« auslegen. 25 Aber noch mehr: Im Sinne Marions ist an dieser Stelle von 1936, wo Husserl sich, sein Lebenswerk beschließend, auf die Anfänge der von ihm Der von Marion betonte Gegensatz zwischen 1913 und 1936 kann sich auf Aussagen der »Krisis« selbst stützen, in denen sich Husserl im Namen der »Lebenswelt« und durchaus selbstkritisch von Interpretationen distanziert, nach denen sein Phänomenverständnis einfach den (kantischen) Subjekt-Objekt-Schematismus auffrischen würde. Vgl. »Der erste, noch sehr klärungsbedürftige Durchbruch der phänomenologischen Reduktion erfolgte einige Jahre nach dem Erscheinen der ›Logischen Untersuchungen‹ […] Die zeitgenössische Philosophie der seitherigen Jahrzehnte – auch die der sogenannten phänomenologischen Schulen – zog es vor, in der alten philosophischen Naivität zu verharren.« (Husserl, E. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI, 170 unten (Fortsetzung Anm. 1), Hervorh. / T. A. vgl. Orth, E. W. Edmund Husserls ›Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‹. Vernunft und Kultur, 104 f.). Für die weitere Diskussion um das Denken Marions scheint ausschlaggebend gewesen zu sein, dass M. Henry auf die Inkohärenz der phänomenologischen Prinzipien Husserls hingewiesen und damit die Konzentration der Marionschen Husserllektüre auf die »Krisis«-Stelle vorangebracht hat (Vgl. Henry, M. Quatre principes de la phénoménologie, 3–26). 25 Vgl. »La donation ne joue pas tel ou tel rôle dans la corrélation, mais elle en investit tous les termes parce qu’elle se confond avec la corrélation même, dont elle prend le nom et qu’elle seule rend possible.« (ED 35). 24

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begründeten Phänomenologie zurückbezieht, der ›hermeneutische Schlüssel‹ von Phänomenologie insgesamt zu sehen. 26 Diese zuletzt artikulierte Äußerung Husserls über die von ihm begründete Philosophierichtung ist wie ein Vermächtnis an künftige Generationen der phänomenologischen Schule zu betrachten. 27 Jenes Vermächtnis bleibt aber im Sinne Marions nur dort gewahrt, wo die Phänomenologie auf die »donation« hingeordnet wird. Marion argumentiert so: Das universale Korrelationsapriori aus der »Krisis« problematisiert das Verhältnis zwischen »Aussehendem« und »Aussehen«. In französischer Übersetzung ergibt dies den Zusammenhang zwischen »l’apparaître« und »l’apparaissant«, wodurch das deutsche Wort »Aussehen« in die semantische Nähe von »Erscheinen« gerückt wird. 28 Die phänomenologische Reflexion auf die »Sache selbst« realisiert sich in dieser Perspektive dort, wo die Erscheinung in ihrem »Erscheinen« als solchen bedacht wird. Die Phänomenologie bezieht das Denken demnach auf das verbal verstandene »Erscheinen«, d. h. den Erscheinungsvorgang selbst, durch den sich die Erscheinung generiert. Husserl bestimmt diese Korrelation ferner als Zusammenhang zwischen »Erfahrungsgegenstand« und seinen »Gegebenheitsweisen«. 29 Über die dadurch in der französischen Übersetzung einander angenäherten Begriffe »Erscheinen als Akt« und »Gegebenheitsweise der Erscheinung« sieht sich Marion zu folgender Interpretation berechtigt: Das Erscheinen als Akt und Vorgang (»Aussehen« als »apparaître«) kommt nur in einer phänomenologischen Reflexion zur Geltung, die für das (jeweile) Sich-Geben der Erscheinung (»Gegebenheitsweise«) offen ist 30 . Allein im DenVgl. »cette distinction [sc. entre l’apparaître et l’apparaissant], ultérieurement jamais remise en cause, encore que relayée par la dualité entre noèse et noème, restera jusqu’au terme ce que la Krisis nomme la découverte fondamentale de l’a priori relationnel par les Recherches logiques …« (ED 33). 27 Dem entspricht wohl auch Husserls Selbstdeutung: Vgl. Orth, E. W. Edmund Husserls ›Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie‹.Vernunft und Kultur, 1. 28 Vgl. RD 52, »Apparaître. 1. Devenir visible, distinct; se montrer tout à coup aux yeux.« (Le Nouveau Petit Robert. Dictionnaire de la langue française., 100). Dagegen: »Aussehen = äußere Erscheinung, Anblick, Anschein.« (Wahrig, Wörterbuch der deutschen Sprache, 127). 29 Husserl, E. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI, 168. 30 Dieser Zusammenhang begründet erst, warum Marion später »Gegebenheit« mit »donation« übersetzt. 26

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ken der Gebung des Phänomens löst sich die gesuchte Reflexion auf das Erscheinen der Erscheinung ein. 31 Ferner kommt nur in einer Phänomenologie, die die »donation« in ihren Mittelpunkt stellt, das sog. Korrelationsapriori aus der »Krisis« zur Anwendung. »L’apparaître […] ne vaut plus comme une donnée pour le seul sujet conscient, mais d’abord comme la donation de ce qui ainsi, apparaît: l’apparaître, par la corrélation, que mérite le titre plénier de ›phénoménologique‹, donne l’apparaissant.« 32 Wenn Marion die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation« interpretieren will, dann kann er sich einmal auf diese Selbstaussage Husserls von 1936 stützen. In erster Linie verdient aber Beachtung, dass Marion damit eine Aussage Husserls gegenüber einer anderen privilegiert. Im Klartext: Dass, wie Husserl 1913 bekundet, in der »Intuition« der phänomenologische Fluchtpunkt besteht, ist zu widerlegen. 33 Der Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« eröffnet vielmehr, entsprechend Husserls Bemerkung von 1936, die Frage nach dem der »Intuition« vorangehenden Erscheinungsakt, der in der Besinnung auf die »Gegebenheitsweise« des Erfahrungsgegenstandes zur Geltung kommt. So kann Marion die Bemerkung Husserls von 1936 weiter ausbuchstabieren und »donation« als tiefste Ausrichtung der Phänomenologie bestimmen. Das bedeutet aber ein Veto gegen einen in der Phänomenologie verabsolutierten Intuitionsbegriff. Die phänomenologische Konzentration auf die »donation« impliziert, dass die Phänomenologie noch über die Fokussierung von Intuitionen hinaus auf das Zur-ErscheinungKommen, also auf die Gebungen (der Erscheinungen) vorgreift. Die Gebung des Phänomens manifestiert sich zwar in der Intuition, sie erschöpft sich aber nicht in ihr. Vielmehr geht die Anschauung aus der »donation« erst hervor. 34 Die damit entwickelte Fundierungsordnung von Intuition und »donation« 35 , die sich auf die »Krisis« beruft, will Marion jetzt an den »Logischen Untersuchungen« nachweisen. Vgl. RD 53. Ebd. 52, vgl. ED 33 f. 33 Vgl. ebd. 21, DS 19 f. 34 Vgl. »De quel élargissement s’agit-il ? Sans doute de l’élargissement de l’intuition sensible (kantienne) à l’intuition catégoriale; mais Husserl ne s’en tient pas ici à la seule question de l’intuition. […] En fait, il y va, plus universellement, de l’élargissement de l’evidence en donation.« (ED 31 f.). 35 Unter Berücksichtigung dieser Fundierungsordnung von »Intuition« und »donation« kann Marion auf das »Prinzip der Prinzipien« zurückgreifen, insofern sich die primäre 31 32

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4.1.1.1. Die Grundeinsichten der »Logischen Untersuchungen« Husserls In fünf Schritten soll nun der Gedankengang der »Logischen Untersuchungen« vorgestellt werden, wobei der darin virulente Aufbau der Reflexion bereits auf die Marionsche Fragestellung zugeschnitten wird. Erstens: Die ›subjektive‹ Basis logischer Erkenntnis. Im ersten Band der »Logischen Untersuchungen« entwirft Husserl das Programm einer reinen Logik, die er ohne Abstriche aus der Einflusssphäre psychologischer Wirklichkeitsdeutungen (»Psychologismus«) heraushalten will. Husserl betrachtet es als eine widersinnige Lehre, logisch unumstößliche Wahrheiten mit psychologischen Fakten zu erklären. Demgegenüber sei zu betonen, dass die Denkgesetze der Logik in einem gleichsam überzeitlichen, idealen Bereich beheimatet sind und von psychologischen Erlebnissen grundsätzlich nicht affiziert werden können. Zwar argumentiert Husserl hier entschieden für die »Eigenständigkeit der ideal-objektiven Gegenstände« 36 . Es bleibt für ihn nun jedoch zu klären, innerhalb welcher Strukturen und Gesetzmäßigkeiten des Bewusstseins diese als solche erfasst werden. Genau mit dieser Problemstellung befasst sich der zweite Band der »Logischen Untersuchungen«.37 Dass mit dem Fragen nach dem bewusstseinsspezifischen Erleben wieder bedenkliche Reminiszenzen an den Psychologismus gemacht werden können, hat seinerzeit die Kritik an Husserl intensiv beschäftigt. Nach Husserl dürfen jene bewusstseinstypischen Erfassungsstrukturen von Logik jedoch nicht psychoGebung in der Anschauung manifestieren sollte. Vgl. »En stricte phénoménologie, l’ultime instance de décision reste ›le principe de tous les principes‹, à savoir la donation justifíée inconditionellement par la présence intuitionée.« (RD 250). Weil im Husserlschen Originalsinn aber dieser Bezug auf eine der Anschauung gegenüber höher liegende »donation« fehlt, ist diese Lesart Marions als ›tendenziöse‹ Interpretation einzuschätzen. Das Husserlsche »Prinzip der Prinzipien« steht ja noch unter den Bedingungen des Bewusstseins und seiner Grenzziehungen und bleibt gegenüber der phänomenalen »donation« verschlossen. Vgl. »En effet, le second et le troisième trait du ›principe de tous les principes‹ contredisent le premier, comme une condition et une limite, qui sapent la prétention à la possibilité absolue ouverte par l’intuition donatrice.« (ED 259, vgl. ebd. 21 ff.). 36 Janssen, P. Edmund Husserl, 37. 37 Vgl. Kap. § 1 der Einleitung »Notwendigkeit phänomenologischer Untersuchungen zur erkenntniskritischen Vorbereitung und Klärung der reinen Logik« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 5).

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logisch-empirisch aufgefasst werden. Sie seien vielmehr im einzig philosophisch zu bestimmenden Fundament des immanenten Bewusstseins verankert. 38 Zweitens: Erfüllung als Erkenntniskriterium. Der für Marion und die Husserlrezeption insgesamt maßgebliche Band II der »Logischen Untersuchungen« thematisiert jene Verhältnismäßigkeiten auf ›Subjektseite‹, vermittels derer logische Wahrheiten als logisch wahr erkannt werden. 39 Dabei sei von einfachen Sätze, wie z. B.: »das Papier ist weiß«, in denen Zeichen logisch miteinander verknüpft sind, auszugehen. 40 Der zweite Band der »Logischen Untersuchungen« wird folglich mit einer Theorie des Ausdruckes oder des Zeichens eingeleitet. 41 Husserl ist der Ansicht, dass in der ›subjektiven‹ Tiefe einer in logischen Sätzen akuten Wahrheit ein spezifisches Erlebnis vorliegt, das in der natürlichen Einstellung des Alltags zwar ignoriert wird, seitens der Phänomenologie jedoch beschrieben und optimiert werden kann. 42 Zuerst sei nun zu fragen, welche Bewusstseinserlebnisse den Zeichen, wie z. B. »Papier« und »weiß«, zugrunde liegen. Die mit diesen Elementen verbundenen Erlebnisse stellten sich, so Husserl, im sog. phänomenologischen Bewusstsein ein. Dieses sei aber wesentlich dadurch geprägt, immer ›Bewusstsein von etwas‹, d. h. intentional zu sein. 43 Aufgrund der intentionalen Verfassung des Bewusstseins gelte, dass wir, um im Beispiel zu bleiben, je schon eine Vorstellung von »Papier« und »weiß« haben. Die Qualität dieser Bewusstseinsvorstellungen sei aber bei der Frage nach logischer Wahrheit (von Sätzen wie »Das Papier ist weiß«) zu hinterfragen. Denn die intentionale Ausrichtung kann sich nach Husserl unterscheiden. Das Bewusstsein kenne Erlebnisse und Vorgänge, in denen seine Ausrichtung nur schwache Valenz besitzt. In anderen Fällen Vgl. Husserl, E. Vorwort zur zweiten Auflage (1913), in: ders. Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, VIII–XVII, hier: XIII f. 39 Vgl. Letzkus, A. Dekonstruktion und ethische Passion, 34. 40 So lässt sich der Entwurf Husserls auch als Sprachphilosophie bestimmen, die geleitet wird »von der Idee einer idealen Wissenschaftssprache, die sich anlehnt an das der (formalen) Logik entnommene Modell eines wissenschaftlichen Diskurses.« (Ebd., 29). 41 Vgl. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 30 ff., Janssen, P. Edmund Husserl, 48 f. 42 Vgl., »Die philosophische Aufklärung des ideal Logischen bedarf des Rückgriffs auf die subjektiven Denk- und Erkenntniserlebnisse. Ihre Erforschung wird der deskriptiv verfahrenden ›reinen Phänomenologie‹ zugewiesen.« (Ebd., 38 f.). 43 Vgl. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 352 ff. 38

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wisse sich das Bewusstsein von der Sache selbst, wie von »Papier«, »weiß«, direkt angegangen: Darin widerfahre der Intentionalität ein Erlebnis von »endgültige [r] und letzte [r] Erfüllung«. 44 Dieses bewusstseinsspezifische Erlebnis ist Husserl zufolge aber anzustreben, um wahre logische Erkenntnis zu explizieren. Über die intentionale Grundbestimmung des Bewusstseins will Husserl psychologische oder empiristische Fehldeutungen von seiner Konzeption fernhalten. Die im Bewusstsein je schon virulente Ausrichtung auf Etwas, wie »Papier« oder »weiß«, informiert über keine psychologische Befindlichkeiten, sondern nach Husserl entscheidet sie über philosophisch-logisch adäquates Erkennen. 45

Drittens: Erfüllung durch »die Sache selbst« bzw. durch das Phänomen. Wie skizziert kommt bei Husserl das gesuchte subjektive Korrelat zu einer logischen Erkenntnis als Bewusstseinsereignis in den Blick, dessen Qualitätsgrad variieren kann. Strebt man Erkenntnis an, dann ist demnach die Erfüllungsintensität problematisch, mit der die Gehalte von »Papier« oder »weiß« im Bewusstsein erlebt werden. 46 Daraus mögen weitere Erkenntnisse resultieren wie z. B., dass der ideale Gehalt von »weiß« immer eine Ausdehnung impliziert. Wie dem auch sei, der Wert einer Erkenntnis lässt sich für Husserl mittels der Analyse darüber, wie sich ideale Wortbedeutungen im Bewusstsein darstellen, bestimmen. Das Erleben ihrer Erfüllung im Bewusstsein qualifiziere und ratifiziere bestenfalls Erkenntnis. Husserls Fragen nach dem ›subjektiven‹ Anlass logischer Sätze ist als »Phänomenanalyse« zu bestimmen. Will Husserl logische Aussagen an ihrem subjektiven Erlebnisgrad messen, so entspricht dies dem geforderten Rückgang auf »die Sachen selbst«, denn die logischen Aussagen stellen sich als Phänomene im Bewusstsein dar. Zu prüfen ist demnach, wie Phänomene, die in logischen Sätzen als Zeichenbedeutungen (»Papier«, »weiß«) akut sind, erlebt werden. Husserls Analyse von Bedeutungserlebnissen im Bewusstsein entspricht somit dem Suchen nach den originären Phänomenen und dem Fragen nach der »Sache selbst«. Sie ist deshalb bereits als Phänomenologie zu bestimmen, auch wenn Husserl wohl erst seit 1907/ 08 mit dieser Bezeichnung seine Denkrichtung ausdrücklich tituVgl. ebd., 647. Vgl. Janssen, P. Edmund Husserl, 41 f. 46 Deshalb überrascht nicht, dass Husserl subjektive Gründung der Logik mit einer Reflexion auf sprachliche Ausdrücke einleitet. (Vgl. Husserl, E. Logische Untersuchungen II Hua XIX / 1, 30 ff.). 44 45

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liert. 47 Bereits für die »Logischen Untersuchungen« gilt jedoch, dass in der reinen Ankunft des Phänomens bzw. der »Sache selbst«, also dort, wo sich ein idealer Gegenstand (später das »Eidos« genannt), der logisch verhandelt wurde, dem Bewusstsein unverstellt gibt, ein subjektives Erfüllungsgeschehen virulent ist. Dieses soll den »Logischen Untersuchungen« zufolge die subjektive Basis logischer Wahrheit bilden. 48 Viertens: Erfüllung in der Anschauung. In erster Linie hat der Blick des Phänomenologen demnach in die hintergründigen Akte des Bewusstseins hineinzuleuchten, und danach zu fragen, wie und ob sich ein Phänomen (z. B. »Papier«, »weiß«) gibt. Husserl identifiziert diese Problematik mit der Frage, wie ein Phänomen zur Anschauung (Intuition) kommt. 49 Das bedeutet, dass Husserl von einem elementaren Konnex zwischen logischem Denken und Anschauung ausgeht. Sein Grundsatz lautet, dass »jeder Gedanke, oder wenigstens jeder in sich einstimmige, intuitiv werden [kann], indem er sich in gewisser Weise auf ›korrespondierender‹ Anschauung aufbaut.« 50 In Entsprechung dazu hat die Phänomenologie nach Husserl die Anschauungsqualität eines fraglichen Gegenstandes kritisch zu prüfen, um Kriterien für gültige Erkenntnisse festlegen zu können. Über den Zusammenhang, den Husserl zwischen Denken und Anschauung herstellt, lässt sich die Frage nach der Erkenntnisfülle so präzisieren: Eine Erkenntnis hat nach Husserl nur geringen Wert, wenn sie nur wenig Anschauungsfülle evoziert. Gegenläufig dazu stelle sich evidente Erkenntnis ein, wenn das Denken den originären Kern der Sache berührt oder, was für Husserl das selbe ist, wenn die mit dem Denken verbundene Anschauung »erfüllt« ist. Jene Berührung des Bewusstseins mit der vollerfüllten Anschauung löse das gesuchte Wahrheits- oder Evidenzerlebnis aus. Um dieses zu ermöglichen, sei die Anschauung der »Sachen«, »Ideen« und »Gehalte« möglichst weit zu entwickeln. Husserl stellt einen direkten Zusammenhang zwischen den »Sachen selbst« und dem Intuitionsbegriff her: »Wir Vgl. Husserl, E. Die Idee der Phänomenologie, Hua II, Bernet R.; Kern, I.; Marbach, E. Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, 50, 54. 48 Vgl. Janssen, P. Edmund Husserl, 52. 49 Die Frage der Anschauung ist nur ein Teilgebiet der Intentionserfüllung. Dies wird an der Diskussion Marions mit Derrida verdeutlicht werden. (Vgl. Janssen, P. Edmund Husserl, 50). 50 Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX / 1, 167. 47

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wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen. An vollentwickelten Anschauungen wollen wir uns zur Evidenz bringen, dies hier in aktuell vollzogener Abstraktion Gegebene sei wahrhaft und wirklich das, was die Wortbedeutungen im Gesetzesausdruck meinen.« 51 Somit ist klar, dass die »Logischen Untersuchungen« die reine Anschauung bzw. die erfüllende Ankunft einer sich gebenden Erscheinung erreichen wollen, weil nach Husserl allein dadurch ein adäquates Erkennen der »Sache selbst« gewährleistet und die Basis logischer Erkenntnis im Bewusstsein entdeckt ist. Fünftens: Erfüllte Anschauung über kategoriale Formung. Das Projekt Husserls, die Bedeutungen logischer Sätze in erfüllende Anschauungen zu überführen, kommt an eine erste Grenze, wo in Aussagen Verbindungen mit der Kopula »ist« auftreten. Nimmt man sich einen Satz wie »Das Papier ist weiß« vor, so ließen sich erfüllte Anschauungen der Zeichen »Papier« und »weiß« anstreben. Allerdings ist noch offen, wie und ob überhaupt das Wort »ist« zur Anschauung im Bewusstsein kommen könne. 52 Aus dem »ist« entwickelt sich aber die integrale Logik des Satzes. Stehen die Verhältnisse um die Kopula »ist«, »sein«, aber auch um andere (rein linguistisch-syntaktische) Zeichen so, dass für sie keine erfüllte Anschauung vorzusehen ist, dann ist Husserls Vorhaben, logische Operationen an subjektive Erlebnisse zurückzubinden, generell fraglich. 53 Dieses Problem will Husserl in der sechsten »Logischen Untersuchung« lösen, die er selbst »als seine ausgereifteste und wohl auch ergebnisvollste« 54 bezeichnet. Der Kopula »ist« soll dabei eine »kategoriale Anschauung« entsprechen. Diese hätte aber überdies die sinnlichen Wahrnehmungen (»Papier«, »weiß« etc.) zu formen und fundieren. Husserl trifft hier die Unterscheidung zwischen »sinnlicher« und »kategorialer« Intuition, wobei letzterer konstititutive bzw. fundierende Funktion zukommen soll. Die sinnliche Anschauung wird zunächst so definiert: »Im Sinne der engeren ›sinnlichen‹ Wahrnehmung ist ein Gegenstand direkt erfaßt oder selbst gegenEbd., 10. Auch Umdrehungen wie »Das weiße Papier ist« sperren sich einer phänomenologischen Analyse, sofern man von jenem »ist« ja keine erfüllende Anschauung erwarten darf. 53 Vgl. RD 27. 54 Husserl E. Selbstanzeige, in: ders. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 779– 783, 781. 51 52

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wärtig, der sich im Wahrnehmungsakte in schlichter Weise konstituiert. Damit ist aber folgendes gemeint: der Gegenstand ist auch in dem Sinne unmittelbar gegebener Gegenstand, daß er, als dieser mit diesem bestimmten gegenständlichen Inhalt wahrgenommene, sich nicht in beziehenden, verknüpfenden und sonstwie gegliederten Akten konstituiert, die in anderen, anderweitigen Gegenstände zur Wahrnehmung bringenden Akten fundiert sind.« 55 Zur Begründung der »kategorialen Anschauung« zeigt Husserl dann auf, dass sinnliche Wahrnehmungsakte, auf denen ideale Bedeutungen wie »Papier«, »weiß« beruhen, allein oder mit anderen zusammen noch zu einer ursprünglicheren und fundierenden Erfüllung führen. Diese realisiere sich aber in der kategorialen Anschauung. »Jeder schlichte Wahrnehmungsakt kann nun aber, sei es für sich allein, sei es mit anderen Akten zusammen, als Grundakt von neuen, ihn bald einschließenden, bald nur voraussetzenden Akten fungieren, die in ihrer neuen Bewusstseinsweise zugleich ein neues, das ursprüngliche, wesentlich voraussetzendes Objektivitätsbewusstsein zeitigen. […] In solchen fundierten Akten liegt das Kategoriale des Anschauens und Erkennens …« 56 Die Kopula »ist«, aber auch Ausdrücke wie »Ein«, »Kein«, »Und« etc. 57 sind also in »kategoriale Anschauungen« zu überführen. So werde Husserl zufolge erst über die »kategoriale Intuition« der ganze Erkenntniswert von Aussagesätzen bestimmt, die die Form haben: »Das Papier ist weiß« oder »Das weiße Papier ist«. 58 Denn nun soll die realgegenständliche Intuition (»Das Papier«, »weiß«) von der kategorialen (»ist«) geformt und fundiert werden. Mit der Einführung der »kategorialen Intuition« kommt das Husserlsche Unternehmen, logische Erkenntnis in Anschauung zu gründen, an einen entscheidenden Punkt. Zu beachten ist, dass sich das gesuchte Erfüllungsgeschehen logischer Wahrheit über die »kategorialen Intuition« einstellen soll, weil die realgegenständlichen, sinnlichen Anschauungen erst in dieser fundiert wären. Erst über Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2 II, 674. Ebd. 674 f. 57 Vgl. Janssen, P. Edmund Husserl, 52 f. 58 Vgl. »In solchen fundierten Akten liegt das Kategoriale des Anschauens und Erkennens, in ihnen findet das aussagende Denken, wo es als Ausdruck fungiert, seine Erfüllung.« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 675), »Husserls Leistung bestand in eben dieser Vergegenwärtigung des Seins, das in der Kategorie phänomenal anwesend ist. Durch diese Leistung, fährt Heidegger fort, hatte ich endlich einen Boden.« (Heidegger, M. Seminare, GA 15, 378). 55 56

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die kategoriale Anschauung, also wenn reine Begriffe, wie das »ist«, anschaulich werden, werde der integrale Bewusstseinsakt einer evidenten Erkenntnis expliziert. Die Anschauung einzelner (sinnlicher) Gegenstände stellt dementsprechend nur den Anfang des Unternehmens dar. Für das Evidenzerlebnis ist nach Husserl erfordert, dass gegenständliche Anschauungen von kategorialen zu überformen sind. Dadurch erst passe sich eine Anschauung dem Denken adäquat ein. Anders gesagt: Dadurch erst ist der subjektive Akt im Bewusstsein aufgeklärt, der logischem Erkennen zugrunde liegt: »Wir werden daher sagen müssen: Nicht bloße Anschauung, sondern adäquate, kategorial geformte und sich so dem Denken vollkommen anmessende Anschauung, oder umgekehrt, aus der Anschauung Evidenz schöpfendes Denken ist das Ziel, ist wahres Erkennen.« 59 4.1.1.2. Husserl (1913): »Logische Untersuchungen« – Durchbruch in die Intuition? Überblickt man den Argumentationsgang der »Logischen Untersuchungen«, so lässt sich aus ihm das Movens »Vom logischen Erkennen zu den originären Intuitionen« ermitteln. Bei diesem Schema ist von besonderer Bedeutung, dass sinnliche bzw. gegenständliche Intuitionen in kategorialen zu fundieren sind. Wahre Erkenntnis lässt sich nach Husserl ja so bestimmen, dass man die Anschauung eines Gegenstandes in der Intuition des Kategorialen gründet. Mit anderen Worten: Wenn nach erfolgreicher Sichtung eines fraglichen Gegenstandes auch die Denkoperatoren, reine Begriffe etc. anschaulich werden und diese als Intuitionen die Gegenstandsanschauung überformen, dann ergibt sich für Husserl jenes Erfüllungsmoment, das gelungener Erkenntnis zugrunde liegt. Diese Interpretation stellt nun die Weichen dafür, dass in den »Logischen Untersuchungen« der Durchbruch der Reflexion in eine ursprünglichere Intuition gesehen wurde. Sie wird das Selbstverständnis Husserlscher Philosophie und seine weitere Denkentwicklung bis zu den »Ideen« bestimmen. Zum besseren Verständnis dieser von Husserl hier als zentral betonten »Intuition« muss man sich die Kluft gegenüber der Kantischen Erkenntnistheorie vergegenwärtigen, die mit den »Logischen Untersuchungen« aufgebrochen wurde und auf die sich wohl die

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›phänomenologische Aufbruchstimmung‹ Husserls insgesamt zurückverfolgen lässt. 60 Mit der Einführung der kategorialen Intuition sollen die bei Kant vormals reinen Begriffe (bzw. Kategorien) der Vernunft in einer ursprünglicheren Anschauung (Intuition) verankert werden. Nach Husserl wäre damit aber die ›kopernikanische Wende‹ der kantischen Erkenntnistheorie 61 quasi ›weiter gedreht‹. Genauer: Husserls Deutung zufolge machen die »Logischen Untersuchungen« erstmalig einen Schritt über Kant hinaus, weil dort die Anschauung mit der Theorie der »kategorialen Intuition« auch auf Begriffe und Operatoren des Verstandes hin bezogen wird. Dem entgegen wurden diese bei Kant noch als erfahrungslose Apriori festgelegt: »Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die Anschauung niemals anders als sinnlich sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden.« 62 Während nach Kant Begriffe und Denkgesetze gerade ohne Einschlag aus der anschaulichen Erfahrungswelt zu bestimmen wären, teilt Husserl diese mit der Einführung der kategorialen Intuition ungeniert dem Anschauungsbereich zu. 63 Anders gesagt: Verglichen mit Kant spaltet Husserl die sinnliche Anschauung nicht von ›anschauungsfreien Kategorien‹ des Subjektes und seines Verstandes ab. In seinem Sinne sind auch dessen Kategorien und Denkoperatoren in Anschauung überführbar, wobei die sinnlichen Anschauungen in einer kategorialen Anschauung zu fundieren seien. Kategorien, »reine Begriffe« sind nach Husserl also in einem ›phänomenologisch‹ ebenbürtigen Sinne als Intuitionen zu untersuchen.64 Der Kontrast zu Kant macht deutlich, dass für Husserl das zentrale Spezifikum der »Logischen Untersuchungen« darin liegt, den Intuitionsbegriff erweitert und auf die Ebene des Kategorialen bezo-

Nach Auskunft W. Biemels folgt der Ausarbeitung der »Logischen Untersuchung« ein intensive Beschäftigung Husserls mit Kant. Vgl. Biemel, W. Einleitung des Herausgebers, in: Husserl, E. Die Idee der Phänomenologie, Hua II, VI–XI, hier: VIII. 61 Vgl. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft Vorrede zur zweiten Auflage, B XXII, XXIII, Werke II, 28. 62 Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, B 75 / A 51, Werke II, 97 f. (Hervorh. / T. A.). 63 Diese Deutung bestätigt Heidegger: »Das entscheidende der Entdeckung der kategorialen Anschauung ist: Es gibt Akte, in denen ideale Bestände sich an ihnen selbst zeigen, die nicht Gemächte dieser Akte, Funktionen des Denkens, des Subjektes sind.« (Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 97). 64 Vgl. »Il s’agit donc d’admettre que nous affecte, donc que nous soit donné le concept lui-même, dans sa figure catégoriale.« (RD 23). 60

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gen zu haben. 65 In der auf die kategoriale Ebene hin bezogenen Intuition erblickt Husserl die maßgebliche Novität seiner Reflexion. 66 Diese Lesart impliziert ferner, dass Husserl den ›Höhepunkt‹ der »Logischen Untersuchung« in jenem sechsten Kapitel wahrnimmt, das die »kategoriale Intuition« behandelt, weil diese ja über den Kantischen Ansatz hinausführt und damit das Neue der phänomenologischen Bewegung verkörpert. Husserl bestätigt diese Deutung in einer »Selbstanzeige«: Während demzufolge die erste der »Logischen Untersuchungen« nur »vorbereitenden Charakter« 67 hat, so ist die sechste Untersuchung als »Grund- und Eckstein jeder künftigen Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis« zu bestimmen. 68 So besteht in den Augen Husserls der Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« in der neu herausgestellten Intuition. Die 1913 bekundete Überzeugung, dass die »Logischen Untersuchungen« einen Durchbruch vollzogen hätten 69 , ist von dieser Lesart Husserls her zu verstehen. Nach dessen Auffassung haben die »Logischen Untersuchungen« vor allem durch die in ihnen entworfene »kategoriale Intuition« dem Denken jene Richtung ›auf absolute Intuition‹ hin vorgegeben, die dann im »Prinzip der Prinzipien« aus den »Ideen« kulminiert. 70 Die »Logischen Untersuchungen« sind vom Husserl aus dem Jahre 1913 als Durchbruch des Denkens in die »Intuition« zu bestimmen.

Husserls Konzept lehnt sich dabei an die ursprüngliche, griechische Wortbedeutung von »theoria« (»An-« oder »Zuschauen«) an. (Vgl. RD 19). 66 Vgl. »Wir werden daher sagen müssen: Nicht bloße Anschauung, sondern adäquate, kategorial geformte und sich so dem Denken vollkommen anmessende Anschauung, oder umgekehrt, aus der Anschauung Evidenz schöpfendes Denken ist das Ziel, ist wahres Erkennen.« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 173). 67 Husserl E. Selbstanzeige, in: ders. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 779– 783, hier: 779. 68 Ebd., 782. 69 Vgl. »Die Logischen Untersuchungen waren für mich ein Werk des Durchbruchs, und somit nicht ein Ende, sondern ein Anfang. Nach Vollendung des Druckes setzte ich die Studien sogleich wieder fort. Ich versuchte mir über Sinn, Methode, philosophische Tragweite der Phänomenologie vollkommenere Rechenschaft zu geben […].« (Husserl, E. Vorwort zur zweiten Auflage (1913), in: ders. Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, VIII–XVII, hier: VIII). 70 Vgl. »Am Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär […] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.«(Husserl, E. 65

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Marion unterzieht diese Husserlsche Selbstinterpretation der »Logischen Untersuchungen« im Wesentlichen einer doppelten Kritik. Erstens lässt sie bestimmte methodische Anweisungen außer Acht, die Husserl sich selbst zunächst auferlegt hatte. Darauf aufbauend wäre zu berücksichtigen, dass bereits im Vorfeld der »kategorialen Intuition« Elemente von Kategorialität die »Logischen Untersuchungen« prägen, deren vorangegangenes Wirken in der sechsten Untersuchung überhaupt nicht bedacht wird. Diese indizieren, dass die »Logischen Untersuchungen« bereits von einem kategorialen Hintersinn bestimmt sind, bevor die Kategorialitätsfrage explizit aufgeworfen wird. Zweitens ist die kategoriale Intuition den Postulaten von Anschauung und Präsenz verhaftet und übersieht, dass in den »Logischen Untersuchungen« ein Element permanent wiederkehrt, dass diesen Postulaten vorgeordnet war: »Bedeutung«. Warum bei Husserl die Anschauung als verabsolutiertes Kriterium phänomenologischen Erkennens dient, bleibt von dort her unausgemacht. Zu betonen wäre dann, dass die »Logischen Untersuchungen« zur Einsicht aufbrechen, dass es, vor jeder Anschauung Phänomene als freie »Bedeutungen« gibt. 4.1.1.3. Marion: Die Abkünftigkeit der kategorialen Intuition aus »donation« 71 In Entsprechung zu den skizzierten Selbstdeutungen Husserls würde den »Logischen Untersuchungen« ein roter Faden zugrunde liegen, der die phänomenologische Reflexion von der sinnlichen zur kategorialen Anschauung leitet, bei der sie ins Ziel kommt. In der sechsten »Logischen Untersuchung«, in der die kategoriale Intuition entwickelt wird, erfülle sich demnach das Unternehmen Husserls: »In solchen fundierten Akten liegt das Kategoriale des Anschauens und Erkennens, in ihnen findet das aussagende Denken, wo es als Ausdruck fungiert, seine Erfüllung […]« 72 Gegen diese Selbstdeutung Husserls wendet Marion zunächst ein, dass zu Beginn der »Logischen Untersuchungen« gefordert wurIdeen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 51). 71 Zusammenfassend: ED 266 ff. Diese Untersuchungen hat Marion zum ersten Mal vorgelegt in: Marion, J.-L. La percée et l’élargissement. Contribution à l’interprétation des Recherches Logiques de Husserl, 67–91, 67–88. 72 Husserl, E. Logische Untersuchungen II., Hua XIX/2, 675.

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de, im Verlauf der Reflexion spätere Erkenntnisse an früheren Analysen zu messen. Entgegen einer von Husserl unterstellten zielorientierten, linearen Struktur der »Logischen Untersuchungen« hätte die Phänomenologie eine »Zickzackbewegung« auszuführen, die das fortschreitende Denken jeweils zu den »ursprünglichen Analysen« zurückführen sollte. 73 Die kategoriale Intuition, von Husserl später als ›Höhepunkt‹ der »Logischen Untersuchungen« betrachtet, müsste sich als solche deshalb erst noch an der Analyse »gegenständlicher Intuitionen« bewahrheiten, die zuvor thematisch waren und auf die das Denken, das von der kategorialen Intuition herkommt, zurückgehen müsste. Die von Husserl insinuierte Ausrichtung der »Logischen Untersuchungen« auf die kategoriale Intuition wäre von daher erst noch einmal zu beurteilen. So ist Marion berechtigt, die Frage aufzuwerfen, ob mit der kategorialen Intuition, wie sie Husserl in der sechsten Untersuchung entwickelt, der ganze Umfang der zuvor behandelten »sinnlichen Anschauung« abgedeckt wird. Ist erst mit der kategorialen Intuition deren »wahres Erkennen« 74 gewährleistet? Nach Marion zeigt sich durch den (von Husserl selbst geforderten) Rückgang auf die »sinnliche Anschauung«, dass sich bei deren Besprechung bereits eine Art ›Kategorialität‹ äußert. Husserls Begriff des Kategorialen wäre von dort her zu relativieren. Mehr noch: Die kategoriale Intuition könnte sich selbst als abkünftig von einer tieferen, (vor-) kategorialen Instanz erweisen: dem reinen »Sich-geben sinnlicher Anschauung«. Wie sich einem Blick aufs Ganze der Schrift von 1900/01 zeigt, sind ›kategoriale Effekte‹ nicht allein der sechsten logischen Untersuchung zu entnehmen, die die kategoriale Intuition behandelt. Dort wirft Husserl die Frage nach dem Kategorialen eher wie in einem Nachtrag auf und verdeckt, dass kategoriale Dimensionen schon in der vorangegangenen Behandlung der »sinnlichen Anschauung« zum Tragen kamen. Bereits in der Reflexion Vgl. »An und für sich betrachtet, würde die systematische Klärung der reinen Logik […] fordern, dass man Schritt für Schritt der Ordnung der Sachen, dem systematischen Zusammenhang der zu klärenden Wissenschaft folge. In unserem Falle erfordert es aber die eigene Sicherheit der Untersuchung, dass man diese systematische Ordnung immer wieder durchbreche; […] Die Untersuchung bewegt sich gleichsam im Zickzack; und dieses Gleichnis paßt um so besser, als man, vermöge der innigen Abhängigkeit der verschiedenen Erkenntnisbegriffe, immer wieder zu den ursprünglichen Analysen zurückkehren und sie an den neuen sowie die neuen an ihnen bewähren muss.« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II., Hua XIX/1, 22 f.). 74 Vgl. ebd., 173. 73

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darauf, also lange bevor Kategorialität Husserl zum expliziten Problem wird, sind ›kategoriale Effekte‹ am Werke. Dazu ein Beispiel: Wenn man nach der zweiten »Logischen Untersuchung« die Phänomenalität von »weißes Papier« ins Auge fasst, wird man feststellen, dass das Wort »weiß« nicht einfach dem individuellen Gegenstand »Papier« verhaftet ist. Vielmehr wird im Phänomenaufbau dort der Gehalt von »weiß« aus der Erscheinung »das weiße Papier« selektiert und konstituiert als Kategorie »Weißheit« bereits das konkrete Phänomen des weißen Papiers. 75 Marion argumentiert nun, dass der hier manifeste kategoriale Zusammenhang, innerhalb dessen »weiß« als »Weißheit« selektiert wird, zum einen von kategorialer Tragweite ist. 76 Zum anderen hat der Selektionsvorgang, über den »Weißheit« gewonnen wurde, für das fragliche Phänomen konstitutive Funktion. Damit sind vor der Einführung der »kategorialen Intuition« ›kategoriale Vorgänge‹ bei der Erhebung »sinnlicher Anschauungen« zu beobachten, die für sie überdies konstitutive Funktion haben. Die von Husserl insinuierte Fundierung der gegenständlichen in der kategorialen Anschauung übersieht Fundierungvorgänge, die bereits im Kontext »sinnlicher Anschauung« thematisch sind. Tatsächlich unterscheiden die »Logischen Untersuchungen« bei der rein gegenständlichen Phänomenanalyse immer wieder gründende und gegründete Bewusstseinsakte voneinander und kennen damit Konstitutionsgesetze, die der in der sechsten Untersuchung entwickelten »kategoriale Intuition« vorausliegen. Marions Kritik weist also auf eine falsche Einschätzung Husserls gegenüber seiner »kategorialen Intuition« hin. Wenn dieser dort behauptet, allein die »kategoriale Intuition« habe fundierende Funktion, dann geraten die Fundierungsakte in der sinnlichen Anschauung aus dem Blick. So wäre aber im freien Sich-Geben der »sinnlichen Anschauung« eine [prä-?] kategoriale und Fundierung ermöglichende Instanz zu sehen, die den

Husserl exemplifiziert dies am Ausdruck »das rote Haus«: »wir meinen nicht dieses Rotmoment am Hause, sondern das Rot. Dieses Meinen ist hinsichtlich seiner Auffassungsgrundlage offenbar ein fundiertes […], sofern sich auch die ›Anschauung‹ des individuellen Hauses, bzw. seines Rot, eine neue Auffassungsweise baut, die für die intuitive Gegebenheit der Idee Rot konstitutiv ist.« (Husserl Logische Untersuchungen II. XIX/1, 114). 76 »Du catégorial, comme essence universelle, il y a donnée et donnée intuitive: l’intuition première se trouve utilisée pour rendre intuitif le catégorial, parce qu’elle se laisse détourner de l’individuel […] sous la fascination possessive du catégorial.« (RD 24). 75

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Gedankengang der »Logischen Untersuchungen« längst vor der sechsten Untersuchung bestimmt. Folglich ist Husserls dort getroffene Unterscheidung zwischen »sinnlicher« und »kategorialer« Intuition als das Produkt dieser tieferen Kategorialität der »donation« sinnlicher Anschauung zu bestimmen. Die Differenzierung zwischen »sinnlicher« und »kategorialer« Anschauung verdankt sich selbst jener ursprünglichen Kategorialität. 77 Als Ergebnis gilt deshalb, dass Husserls kategoriale Intuition selber von einer tieferen ›Kategorialität‹ abhängt. Nach Marion liegt diese darin, dass sich die sinnliche Anschauung leibhaftig gibt. »L’intuition catégoriale marque la détermination de toute intuition par l’exigence catégoriale de la donation en personne du phénomène.« 78 Die kategoriale Intuition als betont ›kategoriale‹ mutet angesichts dieses Befundes wie eine Einschränkung gegenüber einer tieferen Kategorialität an, die in den Analysen der sinnlichen Anschauung virulent war. 79 Ferner wäre gegen Husserls Selbstinterpretation darauf zu verweisen, dass die kategoriale Intuition nicht einfach das ursprüngliche Erkennen der »sinnlichen Anschauung« garantiert. 80 Denn diese entspringt selber einer tieferen Kategorialität, die Marion als Selbstgebung, »donation« der sinnlichen Anschauung bestimmt. Entgegen den Vorgaben aus der sechsten Untersuchung macht Marion diese implizite Vorgängigkeit der kategorialen »donation« für die »Logischen Untersuchungen« wahrscheinlich. Die »Logischen Untersuchungen« Husserls, die angetreten sind, Gegenstände und Begriffe phänomenologisch ansichtig zu machen, sind vom kategorialen Hintersinn der »donation« bestimmt, der sich bereits im Kontext der sinnlichen Anschauungen und den ihr zu eigenen Kategorisierungen äußert. Sieht Husserl in der sechsten Untersuchung und ihrer »kategorialen Intuition« das Ziel seiner Reflexion, dann unterbietet er diese ursprünglichere Kategorialität der »donation« sinnlicher Anschauungen. Vgl. »Autrement dit, l’orientation de l’intuition vers les formes catégoriales universelles (les essences) repose entièrement sur l’interprétation elle-même catégoriale de l’intuition, jusqu’alors tenue pour sensible.« (Ebd. 25). 78 Ebd. 27. 79 Vgl. »L’intuition la plus élémentaire, sensible donc, n’aurait aucune validité si elle n’avait, d’emblée, une signification, dont elle assure un remplissement; sa fonction ne se déploie qu’en se restreignant au remplissement d’une forme catégoriale.« (Ebd. 23). 80 Vgl. S. 118 Anm. 66. 77

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Im Anschluss entfaltet Marion diese als »donation« bestimmte, hintergründige Kategorialität, wenn er den in den »Logischen Untersuchungen« angewandten Bedeutungsbegriff überprüft. Dabei wird sich zeigen, dass der als deren Interpretament betonte »donation«-Begriff nicht einfach die sinnlichen Anschauungen gegenüber der von Husserl bevorzugten »kategorialen Intuition« herausstellt. Vielmehr gilt, dass sich hinter den »sinnlichen Anschauungen« noch ein unanschaulicher und unsinnlicher Tiefenbereich eröffnet, aus dem sie erst hervortreten: die reine »donation«. 4.1.1.4. Husserl / Derrida: Die zu anschaulicher Präsenz geronnene »Bedeutung« Marions zweite Kritik an Husserls Selbstinterpretation der »Logischen Untersuchungen« richtet sich darauf, dass ihr zufolge die Phänomenologie einem Denken der Präsenz und Anschaulichkeit verhaftet bliebe. Mit der verabsolutierten »kategorialen Intuition« räumt Husserl der Anschauung einen kriteriologischen Stellenwert für das Phänomen ein. Allerdings würde dabei übersehen, dass in den »Logischen Untersuchungen« selbst das Anschauungskriterium zuvor relativiert wurde. Denn Husserl legte dort das Theorem der Bedeutung unabhängig von der Anschauung fest. »Bedeutung« ist in den »Logischen Untersuchungen« der Anschauung übergeordnet und bildet ein erstes frei gegebenes Phänomen. Entsprechend zeigt sich an der Stellung des Bedeutungsbegriffes innerhalb der »Logischen Untersuchungen« der weitere Umfang jener von Marion als ursprünglich behaupteten Kategorialität »donation«. Mit der Frage nach dem Verhältnis von »Bedeutung« und »Anschauung« fällt der Blick zunächst auf die Husserlinterpretation Derridas. Die »Logischen Untersuchungen« Husserls werden von Derrida bezichtigt, dem Postulat von Anschaulichkeit, das mit dem der Präsenz identisch ist, anzuhängen. Marion willigt in Derridas Kritik an Husserl zwar ein, jedoch vergisst sie seiner Meinung nach, dass die »Logischen Untersuchungen« ursprünglich einen Bedeutungsbegriff kennen, der gegenüber dem Anschauungs- / Präsenzkriterium indifferent ist und als Element einer reinen und unbedingten »donation« zu verstehen ist: »Bedeutung«. Derridas Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zwischen bedeutungshaltigen Zeichen (»signe«) und der bloßen Anzeige (»indice«), die Husserl in der ersten »Logischen Untersuchung« ent160 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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wickelt. 81 Derrida zeigt auf, dass Husserls Bedeutungsanalyse auf Anhieb das Zeichen privilegiert. Für Husserl sei dagegen die Anzeige, die nur auf etwas ›außerhalb ihrer selbst‹ verweist 82 , bedeutungstheoretisch irrelevant: »Das Bedeuten ist nicht eine Art des Zeichenseins im Sinne der Anzeige.« 83 Diese Entscheidung Husserls erklärt Derrida damit, dass die Anzeige keine präsentable Anschauung im Bewusstsein (»einsames Seelenleben«) hervorruft. Husserl erwarte aber ein präsentisches Bedeutungserlebnis und greife deshalb auf das »signe« zurück. 84 Das gesuchte Bedeutungserlebnis qua präsentable Anschauung könne nämlich allein das Zeichen, nicht aber die verweisende Anzeige evozieren. In Husserls Ablehnung der Anzeige sei deshalb das Symptom dafür zu sehen, dass sein Denken noch Vorstellungen von Präsenz anhängt, verbinde sich Bedeutung bei ihm immer schon mit Anschauung und Präsenz. In der Folge sind, gemäß Derrida, die »Logischen Untersuchungen« insgesamt und deren Verständnis von Bedeutung von einer Orientierung an Präsenz und Anschauung kontaminiert. Derrida argumentiert in seiner Relecture Husserls dafür, dass die Anzeige (»l’indice«) der für das ursprüngliche Entstehen von Bedeutung verantwortliche, von Husserl jedoch verdrängte Zeichentyp sei. Allein in Derridas eigenem Denken der »différance« gelange er zur Geltung. Die »Logischen Untersuchungen« blieben jedoch einem von Präsenz und Intuition geprägten Bedeutungsbegriff verhaftet. 85 Dieser Kritik hält Marion erstens einfach entgegen, dass sie die Forderung Heideggers, Zeit nicht als Gegenwart zu denken 86 , in Vgl. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 30 ff., Valentin, J. Atheismus in der Spur Gottes. Theologie nach Jacques Derrida, 56. 82 Vgl. »Wir nennen die Marskanäle Zeichen für die Existenz intelligenter Marsbewohner, fossile Knochen für die Existenz vorsintflutlicher Tiere usw. Auch Erinnerungszeichen, wie der beliebte Knopf im Taschentuche, wie Denkmäler u. dgl., gehören hierher. […] Im eigentlichen Sinn ist etwas nur Anzeichen zu nennen, wenn es und wo es einem denkenden Wesen tatsächlich als Anzeige für irgendetwas dient.« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 31). 83 Ebd., 30. 84 Vgl. Derrida, J. Die Stimme und das Phänomen, 79 ff. 85 Vgl. »Letztes Kriterium gültiger Erkenntnis bleibt in den ›Logischen Untersuchungen‹ die unmittelbare Anschauung des Gegenstandes im Vollzug eines auf ihn gerichteten intentionalen Erkenntnisaktes. Der Anspruch auf Wahrheit und Geltung einer Erkenntnis erfordert den Nachweis, daß der intentional vermeinte Gegenstand in anschaulicher Erfüllung bestätigt wird.« (Letzkus, A. Dekonstruktion und ethische Passion, 35). 86 Vgl. z. B. Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 442. 81

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einem fragwürdigen Kurzschluss auf die »Logischen Untersuchungen« bezieht. Derrida ignoriert nach Marion völlig den Einfluss, den die sechste »Logische Untersuchung« auf Heidegger ausgeübt hat. Heidegger bezeichnet diese bis zuletzt als Basis seines Denkens und seiner Präsenzkritik. 87 Von Heidegger herkommend müsste man deshalb die »Logischen Untersuchungen« Husserls zumindest als Eingangstor zu einer Präsenz-/ Anschauungskritik auffassen dürfen. Derridas Lesart müsste sich also den Vorwurf der Paradoxie gefallen lassen. »En d’autres termes, il faut s’enquérir d’un paradoxe: comment peut-on, pour lire les Recherches, jouer un thèse de Heidegger (la ›métaphysique de la présence‹) contre une autre (l’intuition catégoriale de l’être comme esquisse du ›nouveau commencement‹)?« 88 Zweitens wäre die Gleichung, die Derrida zwischen Bedeutung und präsentabler Anschauung herstellt, am Text selbst zu prüfen. Marion macht wahrscheinlich, dass sich ein blinder Fleck Husserls in Derridas Kritik wiederholt: Stellt Husserl in der »kategorialen Intuition« die Anschauung als Kriterium in den oberste Rang und ordnet ihr dann alles Weitere unter, so verliert er selbst aus den Augen, dass zuvor in den »Logischen Untersuchungen« die Anschauung der Bedeutung ursprünglich nachgeordnet wurde. Derridas Interpretation reproduziert aber diese Verdrängung Husserls. Dagegen verweist Marion darauf, dass sich an den »Logischen Untersuchungen« die Identifizierung von Bedeutung und Präsenz/Anschauung nicht nachweisen lässt. Das Bedeutungstheorem greift in den »Logischen Untersuchungen« tiefer, als Husserl und der ihn deswegen kritisierende Derrida voraussetzen. Worin besteht der tiefere Sinn dieser Argumentation Marions? Kann an den »Logischen Untersuchungen« der Vorrang der Bedeutung vor der Intuition bei Husserl nachgewiesen werden, dann wäre »Anschauung in Präsenz« nicht mehr die exklusive Bestimmung oder Zielgröße der Phänomenologie nach den »Logischen Untersuchungen«. Man müsste dann »Anschauung« und »Präsenz« angesichts eines für die Phänomenologie höherwertigen Bedeutungsbegriffes relativieren. Über den Bedeutungsbegriff würden die »Logischen Untersuchungen« selbst eine Kritik an Präsenz und Anschaulichkeit durchführen, die die von Husserl später behauptete und von Derrida 87 88

Vgl. v. a. ebd., 63 ff., Heidegger, M. Seminare, GA 15, 375 ff. RD 34.

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kritisierte Ausrichtung der Phänomenologie auf Intuition je schon unterlaufen hätte. Gelingt dieser Beweisgang Marions, dann würde für die »Logischen Untersuchungen« gelten: »Anschaulich« und »präsent« ist nur, was die Bedeutung freigibt. »Ou bien, Husserl n’affronterait le statut de la signifcation que parce qu’il aurait déjà transgressé le primat de l’intuition en ce qui concerne la présence, d’une manière d’autant plus décisive qu’il ne libérerait la signifcation de l’intuition qu’après en avoir accompli le plus métaphysique ›élargissement‹ ; en ce cas, l’irréductibilité de la signification à l’intuition ne contredirait pas l’universalité du mode de présence intuitif, mais attesterait que l’intuition, aussi universelle soit-elle, ne constitue pas l’ultime nom de présence.« 89 Über den Nachweis, dass »Bedeutung« der Anschauung übergeordnet ist, wäre aber nach den »Logischen Untersuchungen« der Phänomenbegriff zu revidieren. Die Gestaltwerdung des Phänomens erfüllt sich nicht dort, wo es in einer Form höchster Präsenz und Anschaulichkeit erstarrt. Davon gehen Husserls Deutung der kategorialen Intuition und Derridas Kritik an ihr aus. Marion möchte aber aufzeigen, dass nach den »Logischen Untersuchungen« hinter der Anschauung noch eine sich frei gebende Bedeutung steht, die das Präsenz- und Intuitionskriterium je schon relativiert hat. 90 Den »Logischen Untersuchungen« zufolge hätte sich die Phänomenologie der freien Selbstgebung des Phänomens, der »donation«, zu öffnen, weil ihre erste Einsicht darin liegt, dass es Bedeutung gibt. 91 Über die Untersuchung des Bedeutungsbegriffes kann Marion somit den kategorialen Hintersinn der »donation« weiter explizieren und über seine Vernetzung mit der »sinnlichen Anschauung« hinausführen.

Ebd. 37 f. Vgl. ED 82, Anm. 2. 91 Vgl. (man sehe über die zweifelhafte Übersetzung von »donation« mit »Gegebenheit« hinweg): »M. [arion] geht aber nicht Derridas Weg der Unterscheidung (différance) von Sagenwollen und Sehen im (nur indizierten) Meinen, sondern er erblickt den Gehalt der Bedeutung (signification) in der intentionalen Identität ihres ›Sich-Darstellens‹ in der Gegebenheit […], was allerdings die Problematik eines Gegebenheitsmodus sui generis aufwirft. Dieser ist wie kein anderer als die Vorrangigkeit der Gegebenheit selbst.« (Kühn, R. Rez. Jean-Luc Marion, Réduction et Donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, 404). 89 90

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4.1.1.5. Marion: Bedeutung als bedingungslose »donation« Die Gleichung von »Bedeutung« und »Anschauung/Präsenz«, die Derrida behauptet hat, entspricht nach Marion nicht der wahren Tragweite und Position des Bedeutungstheorems in den »Logischen Untersuchungen«. Bedeutung greift dort vielmehr über Anschauung/Präsenz hinaus und ist diesen Kategorien übergeordnet. 92 Sie ist nach Marion als ein erstes, frei geschenktes Phänomen zu bestimmen, über welches sich die »Logischen Untersuchungen« als impliziten Durchbruch in die »donation« interpretieren lassen. Die Bedeutung, die in ihrem bedingungslosen Sich-geben entworfen wird, zeigt, dass die »Logischen Untersuchungen« ursprünglich auf die reine »donation« der Phänomene hingeordnet sind. Erstens: Bedeutung greift in den »Logischen Untersuchungen« über Zeichenbedeutung hinaus. Gegen Derrida betont Marion, dass die Theorie von Bedeutung, wie sie in den »Logischen Untersuchungen« entwickelt wird, sich nicht auf Zeichenbedeutung einschränkt: »[…] il reste à justifier que l’essence de la signification se joue d’abord et complètement, dans les figures du signe. Ce qui va de soi pour Für Husserl selbst bringt sich im Bedeutungstheorem die Intentionalität des Bewusstseins zur Geltung: »L’autonomie de l’intention, du vouloir-dire, donc de la signification […].« (RD 42, vgl. ED 268). Marion will in RD jedoch die Bedeutung als ein erstes frei geschenktes Phänomen herausarbeiten, das vor der Intentionalität liegt: »Faudrait-il aller jusqu’à tenir l’intuition pour un présupposé à réduire, afin qu’apparaisse le donné terminal de la signification?« (RD 49). Aufgrund dieser Spannung kommt es in Marions Interpretation der Husserlschen Bedeutungskategorie zu Widersprüchen. Dies lässt sich daran verdeutlichen, wie Marion einem Husserlzitat zwei völlig gegensätzliche Deutungen gibt. Husserl behauptet in den »Logischen Untersuchungen«: »Aber das Gebiet der Bedeutung ist sehr viel umfassender als das der Anschauungen, d. i. das Gesamtgebiet möglicher Erfüllungen.« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX / 2, 721). Nach RD wäre dies einerseits so zu lesen, als sollte sich der Intuitionsbegriff vermittels der »Bedeutung« auf »donation« hin erweitern. Entsprechend legt Marion diese Äußerung Husserl als ›Schibboleth‹ einer übermäßigen An-schauung aus: »La difficulté d’une telle pensée ne résulte pas de son manque d’évidence, mais bien au contraire, d’un surcroît de l’évidence en elle.« (RD 50). Andererseits: Das selbe Husserlzitat wird in ED in dem Sinne gedeutet, dass hier die Intentionalität dominiert, wodurch sich die Intuition auf das intentional Erwünschte einzuschränken hätte: »L’intuition reste essentiellement défaillante, pauvre, nécéssiteuse, indigente – peina. L’adéquation entre l’intention et l’intuition devient donc une simple limite, un idéal habituellement évoqué par défaut.« (ED 268). Dieser Widerspruch stellt sich nicht nur als Anfrage an die Kohärenz von RD und ED heraus, sondern es wäre zu beachten, dass dadurch Marion im Nachhinein der Derridaschen Husserlinterpretation Recht geben müsste und der in RD entwickelte Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« in ein Denken der »donation« hinein fragwürdig gemacht wäre. 92

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Derrida, mais non pour Husserl.« 93 Derridas Interpretation ist in seinen Augen verkürzend, weil dieser sich auf die Zeichentheorie der ersten »Logischen Untersuchung« fixiert und die Weiterentwicklung des Bedeutungstheorems völlig undifferenziert in Augenschein nimmt. 94 Zweitens: Zwischen Bedeutung und Anschauung liegt ein Unterschied. Blickt man auf die Weiterentwicklung von Bedeutung in den »Logischen Untersuchungen«, dann ist ein klarer Gegensatz zwischen »Bedeutung« und »Intuition« festzustellen. Die »Logischen Untersuchungen« kennen diesbezüglich einen »phänomenologisch irreduktiblen Unterschied«: »Fragt man nun schließlich, was es macht, dass derselbe Inhalt im Sinne derselben Materie einmal in der Weise des intuitiven, das andere Mal in der eines signitiven Repräsentanten aufgefaßt werden kann, oder worin die verschiedene Eigenart der Auffassungsform besteht, so vermag ich darauf eine weiterführende Antwort nicht zu geben. Es handelt sich wohl um einen phänomenologisch irreduktiblen Unterschied.« 95 Hatte Derrida noch eine Identität von Bedeutung und Anschauung/Präsenz bei Husserl behauptet, so weist Marion auf, dass die »Logischen Untersuchungen« »Bedeutung« und »Anschauung« auf völlig unterschiedlichen Ebenen lozieren. Dass es Bedeutung gibt, ist die erste Einsicht der »Logischen Untersuchungen«, die mit der Orientierung der Phänomenologie an Intuition und Erlebnis übereinkommt. »Das Wesen der Bedeutung sehen wir nicht im bedeutungsverleihenden Erlebnis, sondern in seinem ›Inhalt‹, der eine identische intentionale Einheit darstellt gegenüber der verstreuten Mannigfaltigkeit wirklicher oder möglicher Erlebnisse von Sprechenden und Denkenden.« 96 So beRD 35. Marion macht dies an Derridas Interpretation von Textpassagen des § 11 der »Logischen Untersuchungen« deutlich: Derrida übersieht, dass Husserl dort z. B. im Modus der von ihm bekämpften ›natürlichen Einstellung‹ spricht und weiter auf die VI. Untersuchung verweist, die erst eine völlige Klärung der Bedeutung bringt. (Vgl. ebd. 42 f.). Auch kommt Derrida zu Fehleinschätzungen bei seiner Lesart des § 26, wo er dem »Ich« eine reine Intuition im Sinne einer Selbsthabe unterstellen will, während Husserl vor allem in der VI. Logischen Untersuchung, ein Ich konzipiert, das Bedeutungen nur im Sinne der Anzeige kennt. Infolgedessen hat auch der Zeichentyp »Anzeige« eine umfänglichere Behandlung von Husserl erfahren, als Derrida wahrhaben wollte. (Vgl. ebd. 44–46). 95 Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 623. 96 Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 102., vgl. »Nicht kann sich erst mittels der Anschauung das Bedeuten vollzogen haben […].« (Ebd., 76). 93 94

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stimmt Marion den Unterschied zwischen »Bedeutung« und »Intuition« als die grundlegende Opposition der »Logischen Untersuchungen«: »De toutes les oppositions auxquelles aboutissent les Recherches, celle qui sépare la signification de l’intuition précède les suivantes […]« 97 Insbesondere ein Blick Husserls auf die Mathematik zeigt, dass Bedeutung von keinem Anschauungs- oder Präsenzkriterium abhängig ist. Mathematische Operationen gehen meist von der prinzipiellen, apriorischen Unanschaulichkeit ihrer Bedeutungen aus. »L’intelligence mathématique se caractérise, au contraire, en propre par sa capacité à penser des significations irréductible à toute intuition.« 98 Drittens: Im Unterschied zur Anschauung gibt die Bedeutung größere Gewissheit. Zu beachten ist, dass nach der ersten »Logischen Untersuchung« die Bedeutungen, im mathematischen Sinne, die ohne Anschaulichkeit auskommen, eine Gewissheit geben, die größer als jede Intuition ist. Entsprechend läuft für Husserl dort die höchste mathematische Evidenz mit einer völligen Bedeutungsfülle parallel. Zugleich ist für sie eine erstaunliche Anschauungsarmut charakteristisch: »[…] wir […] folgen hierin der letzten Autorität in allen Erkenntnisfragen, der Evidenz: Ich sehe ein, daß ich in wiederholten Akten des Vorstellens und Urteilens identisch dasselbe, denselben Begriff bzw. denselben Satz meine bzw. meinen kann; ich sehe ein, dass ich, wo z. B. von dem Satze oder der Wahrheit p ist eine transzendente Zahl die Rede ist, nichts weniger im Auge habe als das individuelle Erlebnis oder Erlebnismoment irgendeiner Person. Ich sehe ein, daß diese reflektierende Rede wirklich das zum Gegenstande hat, was in der schlichten Rede die Bedeutung ausmacht. Ich sehe endlich ein, daß, was ich in dem genannten Satze meine oder (wenn ich ihn höre) als seine Bedeutung auffasse, identisch ist, was es ist, ob überhaupt denkende Personen und Akte sind, oder nicht. Dasselbe gilt für jederlei Bedeutungen […]« 99 Viertens: Bedeutung ist der Anschauung übergeordnet. Ausgehend von Husserls Überlegungen zur Gewissheit mathematischer Bedeutungen ist mit den »Logischen Untersuchungen« von einer hierarchischen Stufung im Verhältnis von Bedeutung und Anschauung auszugehen: »Zunächst ist dabei die Bedeutungsintention, und 97 98 99

RD 38. Ebd. 40. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 105.

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zwar für sich gegeben; dann erst tritt die entsprechende Anschauung hinzu.« 100 Demnach geht in den »Logischen Untersuchungen« die Bedeutung der Anschauung voraus, weil sie von keiner ›erfüllenden Anschauung‹ abhängt. Gegen Derridas Deutung, der zufolge Bedeutung und Anschauung/Präsenz identische Größen sind, lässt sich an den »Logischen Untersuchungen« nachweisen, dass erst von der Bedeutung her die Anschauung ihre Position und ihren Umfang erhält. Anschauung fungiert unter Umständen als »das naturgemäße Mittel der Verdeutlichung« 101 Husserl drückt dies am Ende der ersten »Logischen Untersuchung« so aus: »Wie die Zahlen […] nicht mit dem Akte des Zählens entstehen und vergehen […], so verhält es sich auch mit den idealen, rein-logischen Einheiten, den Begriffen, Sätzen, Wahrheiten, kurz den logischen Bedeutungen. […] Es gibt also unzählige Bedeutungen […]« 102 Unterscheidet Husserl später 103 zwischen adäquaten, partiellen und ausbleibenden Anschauungen o. ä., dann fungiert die höherwertige »Bedeutung« im Hintergrund dieser Bestimmungen. Fünftens: »Bedeutung« ist nach Marion die erste Phänomenbestimmung und meint freie bzw. individuelle Selbstgebungen: »L’antériorité de la signification, assurée par son indépendance, sur toute intuition […].« 104 : »Bedeutungen« sind frei gegebene Phänomene, die sich auf vielerlei Weise geben: Mathematische Bedeutungen, unterschiedliche Wortbedeutungen etc. Was Bedeutung ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Zu klären ist lediglich, was eine konkrete Bedeutung gibt. Die jeweiligen Gehalte von Bedeutung sind autonome und individuelle Phänomene, reine Gebungen, über deren je spezifisches Sich-Geben sich ihr jeweiliger Gehalt erschließt. »La signification a un contenu (Inhalt, Gehalt); elle le tient en elle-même à partir d’elle seule; ce contenu, elle ne le tient comme la tenure qu’elle possède, qu’autant qu’elle s’y tient, et pour s’y tenir, tient en et à elle seule.« 105 Weil sie eben von keinen anderen Bedingungen abhängen, erschließen sich Bedeutung und Gehalt ausschließlich in der freien Selbstgebung ihrer selbst. »Vielmehr sind diese begrifflichen Wesen jeweils nichts anderes als der erfüllende Sinn, der ›ge100 101 102 103 104 105

Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 48. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 76 (Hervorh. / T. A.). Ebd., 110. Vgl. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 537 ff. RD 48. Ebd. 47.

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geben‹ ist […]« 106 Deshalb lässt sich über Bedeutung allgemein nur sagen, dass es sie gibt. Folglich: Dass es völlig unverschuldete Bedeutung gibt 107 bzw. dass Bedeutung sich nicht auf andere Axiome (Präsenz, Anschauung) stützt, ist die neuartige Einsicht der »Logischen Untersuchungen«, die Marion explizieren will. In Husserls Phänomenologie scheint das Denken von Bedeutungen angestoßen. Bedeutung tritt als bedingungsloses Faktum, »Dass« auf, dessen Gebungsweise allein entscheidend ist. Sechstens: Über die Gebung von Bedeutung kommen die »Logischen Untersuchungen« nach Marion zum Sein. Marion weist darauf hin, dass Bedeutung jenes Theorem ist, mit dem sich Husserl zum ersten Mal der Zugang auf das Sein öffnet. Husserl hatte jedoch über das Bedeutungstheorem das Sein nicht bewusst problematisiert. Dies geschieht ja erst in der sechsten Untersuchung, wo er die »kategoriale Intuition« (als das problematische »ist«) behandelt. Allerdings, über die Reflexion auf Bedeutung, die sich frei gibt, findet Husserl trotzdem ausdrücklich zum »Sein«. Bereits in der vierten Untersuchung fällt Husserl vermittels der autarken Bedeutung ein Seinsurteil: »[…] aber die Bedeutung selbst existiert …« 108 Ferner spricht er von »wirklich seienden Bedeutungen« 109 . Dass das »Sein« ausschließlich in der »kategorialen Intuition« thematisch wird, greift angesichts der Bedeutungstheorie der »Logischen Untersuchungen« also zu kurz. Die Analyse des Bedeutungstheorems verdeutlicht Marion, dass die freie und bedingungslose »donation« nach den »Logischen Untersuchungen« der erste Bezugspol oder der eigentliche kategoriale Hintersinn der Phänomenologie ist: In der Gebung, respektive in der Einsicht, dass es Bedeutung gibt, liegt das originär gesuchte Phänomen, zu dessen Gewahrung die »Logischen Untersuchungen« subversiv durchbrechen. »Faudrait-il aller jusqu’à tenir l’intuition pour un présupposé à réduire, afin qu’apparaisse le donné terminal de la signification? Nous abordons ainsi ce qui pourrait pourtant bien ouvrir à l’intelligence de la percée de 1900–1901. S’il est définitivement acquis qu’elle accomplit d’abord l’élargissement universel de l’intuition, nous devrions pourtant envisager l’hypothèse que la significati106 107 108 109

Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 77. Vgl. »Es gibt also unzählige Bedeutungen […].« (Ebd., 110). Ebd., 335. Ebd., 338.

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on, elle aussi (voire surtout), s’élargisse jusqu’à exister effectivement comme un étant strictement autonome.« 110 So kommt Marion zu dem ersten Ergebnis, dass nach den »Logischen Untersuchungen« die Phänomenologie zuerst von einer »donation« ausgehe. Sie staune ursprünglich darüber, dass es Phänomene (als Bedeutungen) gibt. 111 4.1.1.6. Der Durchbruch in die »donation« aus der Retrospektive der »Krisis« (1936) Mit dem Nachweis, dass sich bestimmte Teile der »Logischen Untersuchungen«, wie das Bedeutungstheorem, für einen frei gegebenen Phänomenbegriff eignen, könnte Marions »Phénoménologie de la donation« den phänomenologischen Durchbruch von 1900/01 zwar für sich einfordern. Ruft man sich jedoch die Husserlsche Programmatik bzw. seinen Gebrauch der Durchbruchsformel von 1913 in Erinnerung, so wird man diese Orientierung an »donation« gerade nicht mit dem faktischen Interesse Husserls identifizieren dürfen. Der frei sich gebenden Bedeutung steht ja die Motivation Husserls entgegen, »Präsenz« und »reine Anschauung« zu den Axiomen zu erklären, die die phänomenologische Evidenz auslösen. Wegen der deswegen zu konstatierenden Ambivalenz der »Logischen Untersuchungen« könnte der Versuch äußerst spitzfindig anmuten, über nur sporadisch in den »Logischen Untersuchungen« vorliegende Theoriestücke dieses Werk als Durchbruch in die »donation« zu begründen. Zu Recht könnte man meinen, Husserl wäre jetzt nur gewisser Unschärfen überführt worden, die man sich in einer Neuinterpretation der Phänomenologie einfach zunutze macht. Sollen die 110 RD 49. J. Benoist hat Marion vorgeworfen, das Husserlsche Bedeutungstheorem, dessen Eigenständigkeit er zu Recht gegen Derrida herausarbeitet, hier nur für sein vorentschiedenes Konzept der »donation« einzusetzen, und so letztlich hinter dem Anspruch der Husserlschen Bedeutungstheorie zurückgeblieben zu sein. Vgl. Benoist, J. L’écart plutôt que l’excédent, 79 ff. Dazu Marions Antwort in: Marion, J.-L. La banalité de la saturation, 150 ff. 111 Nach R. Horners Marioninterpretation liegt der phänomenologische Vorrang der Bedeutung gegenüber der Anschauung im ›Ich‹, das in keine Anschauung zu überführen ist, sowie in der Möglichkeit enttäuschter Anschauungen. (Vgl. Horner, R. Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the limits of phenomenology, 83). Trotz der zweifelhaften Übersetzung mit »Gegebenheit« urteilt treffend Kühn, R.: »In der Ausweitung der Anschauung wie in der Selbständigkeit der Bedeutung geht es folglich letztlich um die ursprüngliche Gegebenheit.« (Kühn, R. Französische Reflektions- und Geistesphilosophie. Profile und Analysen, 186).

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»Logischen Untersuchungen« von 1900/01 wirklich als Durchbruch in die »donation« verstanden werden, dann dürfte dies nach Marion aber nicht über Husserl hinweg, sondern nur mit Husserl selbst geschehen. Von dort her ist Marions Rückgriff auf eine Bemerkung Husserls aus der »Krisis« 112 zu beurteilen. Ihr zufolge legitimiert der späte Husserl die Orientierung der Phänomenologie an der »donation« der Phänomene. Marions Interpretation der »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation« kann sich darum auf Husserl selbst stützen. Dieser bereits oben angedeutete Zusammenhang ist noch einmal detailliert aufzurollen. Erstens: Husserls Aussage in der »Krisis«. Gegenüber seinen Bemerkungen aus der Zeit der »Ideen« 113 stellt Husserl in der »Krisis« den Sinn des Durchbruchs von 1900/01 unter ein neues Licht. In der »Krisis« entwickelt er den Zusammenhang zwischen »Erfahrungsgegenstand« und »Gegebenheitsweisen« als das »universale Korrelationsapriori«. Jede Erkenntnis von Gegenständen hänge immer von ihrer je individuellen, autarken Gegebenheitsweise ab. Dieser Zusammenhang wird auch als »die Korrelation zwischen Aussehen und Aussehendem als solchen« 114 bestimmt. Husserl bekräftigt nun, dass jener Zusammenhang denkgeschichtlich erst mit der Phänomenologie zur Wirkung gekommen sei. »Nie erregte (scil. vor dem ersten Durchbruch der »transzendentalen Phänomenologie« in den ›Logischen Untersuchungen‹) die Korrelation von Welt (der Welt von der wie je sprechen) und subjektiven Gegebenheitsweisen von ihr das philosophische Staunen.« 115 Im Staunen über die Gegebenheitsweise der Erfahrungsgegenstände liegt demzufolge das Druchbruchsmoment der »Logischen Untersuchungen«: »Der erste Durchbruch dieses universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen (während der Ausarbeitung meiner ›Logischen Untersuchungen‹ ungefähr im Jahre 1898) erschütterte mich so tief, daß seitdem meine gesamte Lebensarbeit von dieser Aufgabe einer systematischen Ausarbeitung dieses Korrelationsaprioris beherrscht war.« 116 Vgl. RD 52 f., ED 33 ff. Husserl, E. Vorwort zur zweiten Auflage (1913), in: ders. Logische Untersuchungen I, Hua XVIII, 8. 114 Husserl, E. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI, 168. 115 Husserl, E. Krisis der europäischen Wissenschaften, Hua VI, 168. 116 Ebd., 169, Anm. 1. 112 113

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Zweitens: Marions Deutung der französischen Übersetzung des »universalen Korrelations-aprioris«. Folgt man der Husserlschen Aussage aus der »Krisis«, dann entdecken die »Logischen Untersuchungen« den elementaren Konnex zwischen Aussehenden und Aussehen. In der Übersetzung Marions heißt dies die Korrelation von »apparaissant« und »apparaître«, wobei »Aussehen« mit »Erscheinen« gleichgesetzt wird. 117 Der späte Husserl hat damit für Marion in einer Art Vermächtnis eindeutig gemacht, worin der »Durchbruch« der »Logischen Untersuchungen« zu sehen ist. Mit ihnen bricht das Denken zum Staunen über »Erscheinen« von »Gegenständen an sich« durch: »Les Recherches accomplissent leur percée, non d’abord en élargissant l’intuition ou en reconnaissant l’autonomie de la signification, mais en s’étonnant, comme d’une ›merveille des merveilles‹, d’une corrélation.« 118 Nach Marion wird in Husserls universalem Korrelationsapriori die Einsicht als phänomenologisches Elementargesetz zur Sprache gebracht, dass zu jeder Erscheinung eine Weise ihres Gegebenseins gehört und jeder Versuch, über die Erscheinungen zu reflektieren, von deren individuellem Gegebensein (bzw. vom Staunen darüber) auszugehen hat. Von dort her entspricht der Reflexion auf das Erscheinen, dass sich das Denken auf »donation« (des Gegenstandes) bezieht. Drittens: Die phänomenologietheoretische Nachordnung der Intuition. Im Vergleich zu der weitestgehend vertretenen Ansicht, die Phänomenologie richte sich an der Intuition aus, ist mit Marion deren Relativität zu betonen. Das Grundproblem, das Husserl in der Bemerkung der »Krisis« festlegt, konterkariert zwar nicht prinzipiell die Verbundenheit von Denken und Anschauung. Jedoch gründet diese Korrelation noch einmal in einem ›erschütternden‹ Staunen über »Aussehen« / »Erscheinen« an sich. Die Phänomenologie bezieht sich von dort her zuerst auf das Problem des Erscheinens und die damit identisch gesetzten Gegebenheitsweisen der Erfahrungsgegenstände. 119 Im Gegensatz zu früheren Deutungen bestimmt Vgl. RD 52, vgl. Kap. 4.1.1. RD 52 119 Vgl. »Aber sobald wir nun anfangen das Wie des Aussehens eines Dinges in seinem wirklichen und möglichen Wandel genauer zu verfolgen und konsequent auf die in ihm selbst liegende Korrelation von Aussehen und Aussehendem als solchem zu achten, […] drängt sich uns eine feste […] Typik auf […] für alles und jedes in der raumzeitlichen Welt beschlossene Seiende und seine subjektiven Gegebenheitsweisen. Alles steht in solcher Korrelation zu seinen ihm zugehörigen und keineswegs bloß sinnlichen Ge117 118

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Husserl hier den Durchbruch der »Logischen Untersuchung« nicht als Aufbruch des Denkens in die Intuition, sondern nach Marion als Durchbruch ins Staunen vor dem »Erscheinen« der Phänomene. »La phénoménologie commence en 1900–1901 parce que, pour la première fois, la pensée voit apparaître l’apparaissant dans l’apparition.« 120 Blickt man auf die »Logischen Untersuchungen«, so wäre die kategoriale Intuition neu zu verorten. Sie wäre nach Marion nicht die tiefste Ausrichtung der »Logischen Untersuchungen«, sondern zuerst orientiert sich das Denken an der Tatsache, dass Gegenstände als SichGebende erscheinen. Das Kriterium der Anschaulichkeit, Präsenz und Gegenständlichkeit wäre diesem Sich-Geben nachzuordnen: »L’enjeu des Recherches, particulièrement de la VIe, tient moins à l’intuition catégoriale qu’à ce qu’elle indique sans le réaliser ellemême – l’élargissement de la présence, entendue comme objectivité, selon la mesure excessive de la donation.« 121 Viertens: Marions Zuschnitt des »Korrelationsaprioris« auf die »donation«. Diese ›Tatsache des Erscheinens‹ kommt Marion zufolge nur dort zur Geltung, wo das Ankommen der Erscheinung, wie sie sich von sich selbst her gibt, thematisch wird. Daraus wird gefolgert, dass allein in der phänomenologischen Würdigung der »donation« die Reflexion auf das Erscheinen der Erscheinung bzw. 122 das sog. Korrelationsapriori aus der »Krisis« zu voller Anwendung kommt. Denn: »L’apparaître […] ne vaut plus comme une donnée pour le seul sujet conscient, mais d’abord comme la donation de ce qui ainsi, apparaît: l’apparaître, par la corrélation, que mérite le titre plénier de ›phénoménologique‹, donne l’apparaissant.« 123 Während Husserl im Nachhinein das universale Korrelationsapriori als das Durchbruchsmoment der »Logischen Untersuchungen« bestimmt, deutet Marion die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation«. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass Husserl selbst die Korrelation von »Aussehendes« / »apparaissant« und »Aussehen« / »apparaître« auch als Zusammenhang von »Erfahrungsgegenstand« gebenheitsweisen in einer möglichen Erfahrung […].« (Husserl, E. Krisis der europäischen Wissenschaften, Hua IV, 168 f.). 120 RD 53. 121 Ebd. 60. 122 Vgl. ebd., 53. 123 Ebd. 52., vgl. »Donc, si l’apparaissant coïncide avec l’objet, les modes de donation s’identifie à l’apparaître – les modes de donation valent pour des modes de l’apparaître.« (ED 34).

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und seinen »Gegebenheitsweisen« bestimmt. Wenn sich aber das »Erscheinen« als »Gegebenheitsweisen eines Gegenstandes« darstellen soll, dann wäre dieses »Erscheinen« auch als »Gebung«, »donation« auszulegen. 124 So weiß sich Marion in seiner Ansicht, die »Logischen Untersuchungen« würden in ein Denken der »donation« der Phänomene durchbrechen, vom späten Husserl bestätigt. Fünftens: Rückblick auf Marions Interpretation der »Logischen Untersuchungen« und des »Bedeutungstheorems«. In der Einsicht, dass es Bedeutung gibt bzw. dass sich Phänomene ohne Bedingung frei und individuell als Bedeutungen geben, bleibt nach Marion der Zusammenhang von »Erscheinung« und »Erscheinen« aufgehoben, den Husserl in der »Krisis« als Durchbruchsmoment bestimmt. Mit der Aufstellung des universalen Korrelationsaprioris, das den Zusammenhang von Erscheinung und Erscheinen problematisieren soll, fordert Husserl ebenfalls, allein die »donation« der Sache zu untersuchen. Marions Lesart der »Bedeutung« und Husserls »Korrelationsapriori« kommen darin überein, dass in der Gebung / »donation« der Ausgangsort phänomenologischer Reflexion liegt. 125 Sechstens: Die Elementarstruktur phänomenologischer Reflexion nach Marion. In Anbe-tracht der (von Derrida angestoßenen) Frage, wie »Bedeutung« und »Anschauung« im Phänomenbegriff zu situieren sind, wäre a) der Primat der »donation« (von Wirklichkeit) anzuerkennen. Zunächst müsste sich die Aufmerksamkeit phänomenologischer Reflexion auf die »donation«, bzw. auf die ›Tatsache des Erscheinungsvorganges selber‹ richten. Das Phänomen geht zuerst aus einer (rein mentalen) Gebung / »donation« hervor. Marion hebt bei dieser Interpretation auf Aussagen Husserls ab wie: »es gibt also

124 Zu bedenken ist, dass Husserl in der »Krisis« hinsichtlich seiner »Logischen Untersuchungen« selbst sagt, in dieser Schrift hätte sich das Denken zur (wörtlich!) »allgemeinen originalen Selbstgebung« erweitert. »So wird dort [sc. in den ›Logischen Untersuchungen‹] die ›Evidenz‹ (dieser starre logische Götze) zum Problem gemacht und zur allgemeinen Selbstgebung erweitert.« (Husserl, E. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI, 237). 125 Aufgrund dieser vom späten Husserl nahegelegten Neubestimmung phänomenologischer Philosophie ist aus der Sicht Marions auch das »Prinzip der Prinzipien« aus den Ideen so zu lesen, dass der Akzent auf »gegeben« fällt: »[…] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt.« (Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 51., Hervorh. / T. A.).

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[…] Bedeutungen« 126 . Der »donation« entspringen die Phänomene als »Bedeutungen« und »Anschauungen«. 127 Dabei hat aber b) die »Bedeutung« den Vorrang inne, wie in den »Logischen Untersuchungen« zu erkennen war: »Zunächst ist dabei die Bedeutungsintention, und zwar für sich gegeben; dann erst tritt entsprechende Anschauung hinzu.« 128 In der »Bedeutung«, also in der Tatsache, dass es überhaupt »Bedeutungen« gibt, manifestiert sich zuerst die »donation«. Bis auf die Fälle algebraischer Mathematik äußert sich »donation« dann c) in der Anschauung. Damit wären Wege aus einer präsenzverhafteten Intuition am Husserlschen Text nachgewiesen. Derrida setzte noch in seiner Auslegung der »Logischen Untersuchungen« »Bedeutung« und »präsentische Anschauung« gleich. 129 Marion kann über die synoptische Lektüre der »Logischen Untersuchungen« und »Krisis« begründen, dass die Trias »1. Gebung, 2. Bedeutung, 3. Anschauung« den Phänomenaufbau zu strukturieren hat. Von daher ist zwar richtig, dass die Anschauung gibt 130 , aber sie reicht in ›unanschauliche Tiefe‹, wovon die freie Gebung der Bedeutung zeugt: »Si l’intuition doit donner, il faut déjà et surtout que des significations se dégagent, donc que, sans intuition en toute autonomie, elles soient déjà données.« 131 Die Anschauung kann folglich in diesem Aufbau der Erscheinung nicht zu Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 110. (Hervorh. / T. A.). Vgl. RD 55. 128 Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 567. 129 Erst in den »Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« weist Husserl nach Derrida einen Weg aus dieser Orientierung an Präsenz etc. (Vgl. Derrida, J. Die Stimme und das Phänomen, 115 f.). Derridas Kritik an den »Logischen Untersuchungen« ist für Marion nicht nur das Ergebnis einer tendenziösen und oberflächlichen Lektüre Husserls. Vielmehr ignoriere sie die Überformung von Präsenz durch die »donation«, die Husserl selber gefordert hat, wenn er in der »Krisis« die »Tatsache des Erscheinens« zum zentralen Thema der Phänomenologie erklärt: »L’intérpretation de Derrida reste, paradoxalement, trop peu radicale […], parce qu’elle reste tributaire d’une compréhension trop étroite de la présence, qui en manque l’approfondissement, proprement husserlien, comme une donation.« (RD 56). Inzwischen scheint Derrida seine Zustimmung zu dieser Husserlinterpretation gegeben zu haben. Vgl. On the Gift. A Discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion, Moderated by Richard Kearney, 61. 130 Vgl. »L’intuition même ne peut s’entendre comme un dernier présupposé, puisque’elle n’est ni présupposée, ni posée, ni donnée, mais originairement donatrice.« (RD 19). 131 RD 55. Dieser Einsicht scheint zu entsprechen, wenn Marion die Anschauung nicht auf die Intentionalität (des Bewusstseins) reduziert sehen will: Vgl. »Bien plutôt, on doit demander si l’intuition doit se restreindre aux bornes de l’intentionnalité et de la trans126 127

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Präsenz gerinnen, sondern in ihr hält sich, von der Bedeutung vermittelt, der ›Fluss der Gebung‹ durch. An ihn ist seit den »Logischen Untersuchungen« das Denken verwiesen. Die Phänomenologie bricht deshalb mit dem Werk von 1900/01 zum Staunen vor der reinen Gebung des Wirklichen durch. 132 4.1.2. Die »donation« unter der Herrschaft des Bewusstseins Hinsichtlich der Marionschen Husserlinterpretation ist nun zweierlei festzuhalten: Zum einen scheint Husserl insoweit den Ansatz der »donation« zu stützen, als die Bedeutungstheorie, die unterschwellige Kategorialität (aus den »Logischen Untersuchungen«) oder die in der »Krisis« vertretene Korrelation von »Erscheinung und Erscheinen« eine bedingungslose Gebung als Phänomenbestimmung implizieren. Angesichts dieses Befundes verdient zusätzliche Aufmerksamkeit, dass sich nach Husserl die phänomenologische Reflexion auf die »(Selbst)-Gegebenheit« der Erscheinung ausrichten soll. Wenn Husserl beispielsweise sagt: »Absolute Gegebenheit ist ein Letztes« 133 , dann dürfte nach Marion die Frage nach dem ›Geben‹ bzw. der »Gebung« immer schon eine entscheidende, aber noch unausgefaltete Rolle in seinem Verständnis von »Phänomen« spielen. Zum anderen bleibt die Konzeption Husserls weitestgehend hinter dem genuinen Anspruch einer phänomenalen Gebung zurück. Konnte Marion zwar über seine Relecture der »Logischen Untersuchungen« nachweisen, dass in der »donation« der tiefste Urimpuls der Phänomenologie liegt, so bleibt »(Selbst-)Gebung«, »donation« eine bei Husserl unbearbeitete Phänomenbestimmung. Einzig aus Theoriefragmenten bzw. mittels einer ›forcierten Interpretation‹ konnte diese aus seinem Œuvre erhoben werden. Obgleich deshalb, wie gesehen, Husserl Aspekte einer ›unbedingten‹ Gebung kennt, bleibt bei ihm deren phänomenologische Tragweite unterreflektiert. Dies liegt nach Marion daran, dass die Philosophie Husserls die Richtung einschlägt, das Phänomen nur noch von seiner Anschaulichkeit, Präsenz cendance de l’objet, ou si elle peut s’étendre aux possibilités immenses de ce qui se montre.« (ED 22). 132 Vgl. »Jedes Phänomen – und nicht nur die Rose – ist ohne Warum, da jedes Phänomen ist, wie es sich gibt.« (Aspekte, 89). 133 Husserl, E. Die Idee der Phänomenologie, Hua II, 61.

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etc. her in Betracht zu nehmen. 134 In den »Ideen« schreibt Husserl diese Tendenz fest, die in seiner Interpretation der Phänomenologie als »transzendentale Bewusstseinsforschung« kulminiert. 135 Aber bereits an den »Logischen Untersuchungen« lassen sich Ambivalenzen im Verständnis von »Phänomen« ablesen, das zwischen »donation« und »intuition« zu schwanken scheint. 4.1.2.1. Spannungspole in den »Logischen Untersuchungen« Marions Versuch, die »Logischen Untersuchungen« als Durchbruch in die »donation« zu interpretieren, steht dem frühen, d. h. seit 1900/01 nachweisbaren Ansinnen Husserls entgegen, das Denken in reine Intuition zu überführen. 136 Von daher kommt die Interpretation, in den »Logischen Untersuchungen« wäre der freien »donation« des Phänomens zugearbeitet worden, an ihre Grenzen. Dies wird Marion vor allem an zwei Punkten deutlich: Erstens: Stößt Husserl in der Bedeutungslehre nach Marions ›hypostasierender Lesart‹ zwar subkutan zum Sein durch, so bleibt dieser Durchbruch phänomenologisch unbearbeitet. Konkret: Einerseits fällt Husserl im Kontext seiner Bedeutungstheorie Seinsaussagen, wenn er von »wirklich seienden Bedeutungen« o. ä. spricht. 137 Andererseits wird das »Sein« erst in der »kategorialen Intuition« der sechsten Untersuchung zu seinem expliziten Problem. Dort werden ja die reinen Begriffe, die in logischen Aussagen der Art »Das Papier ist weiß« vorkommen, an die Anschauung zurückgebunden. »Sein« wird dabei als »kategoriale« Anschauung bestimmt, die die sinnlichen Intuitionen fundieren und darüber wahres logisches Erkennen explizieren soll. »Wir werden daher sagen müssen: Nicht bloße Anschauung, sondern adäquate, kategorial geformte und sich so dem Denken vollkommen anmessende Anschauung, oder umgekehrt, aus der Anschauung Evidenz schöpfendes Denken ist das Ziel,

134 Vgl. »La phénoménalité se trouverait prise et comprise par avance dans un horizon d’apparaître toujours déjà vu, ou du moins visible.« (ED 262). 135 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 108. 136 Vgl. Kap. 4.1.1.2. 137 Vgl. Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 338, »[…] aber die Bedeutung selbst existiert.« (ders. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 335).

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ist wahres Erkennen.« 138 So zeigt sich Marion zuerst an der Frage nach dem »Sein«, wie sie in den »Logischen Untersuchungen« problematisiert wird, die Unentschiedenheit Husserls, der zwischen einem von »donation« (der Bedeutung) oder »intuition« bestimmten Phänomenbegriff hin- und herschwankt. Zweitens: Das Verhältnis von Bedeutung und Evidenz ist in den »Logischen Untersuchungen« nicht eindeutig festgelegt. Zum einen kann Marion darauf verweisen, dass Husserl über seine Verhältnisbestimmung von Mathematik und Intuition 139 in der (frei sich gebenden) Bedeutung das evidenzstiftende Moment verorten kann: »La signification que »nous trouvons là« se constitue d’elle-même, sur un mode d’avancée sans condition parce que, lui aussi et bien que vierge d’intuition, il accède ›à la dernière autorité dans les questions de connaissance, l’evidence‹.« 140 Man kann also davon ausgehen, dass für Husserl die Bedeutung (z. B. eine mathematische Wahrheit, die, wie gezeigt, über Anschauung erhaben ist) Evidenz auslöst: »[…] wir nehmen es [sc. die strenge Identität der Bedeutung] als eine unmittelbar fassliche Wahrheit in Anspruch und folgen hierin der letzten Autorität in allen Erkenntnisfragen, der Evidenz.« 141 Zum anderen kann man mit einem Blick auf das Gesamt der »Logischen Untersuchungen« feststellen, dass dort die Frage nicht klar entschieden wird, wodurch sich das ursprüngliche Evidenzerlebnis einstellt. Immerhin argumentiert Husserl in der sechsten Untersuchung, Evidenz bedürfe der (kategorialen) Anschauung. 142 Somit kann Marion bezüglich der »Logischen Untersuchungen« nur eine »ambiguïté irrésolue de l’évidence« 143 diagnostizieren: Offen bleibt in ihnen, worin genau das die Evidenz erzeugende Moment bei Husserl steht – in der »präsenzverhafteten Anschauung« oder in der gegenüber dieser Anschauung primär indifferenten »Bedeutung«, die Evidenz rein ›gäbe‹. Lassen die »Logischen Untersuchungen« noch beide Lesarten zu, so wird sich Husserl nun zugunsten der ersten Auffassung entscheiden. 144 Ebd., 173. Ebd., 105. 140 RD 48 (mit eingebautem Zitat Husserls nach Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 105). 141 Ebd., 105. 142 Vgl. ebd., 173 (Hervorh. / T. A.). 143 RD 51. 144 Ganz im Sinne Marions nennt Husserl in der »Krisis« die Evidenz selber einen 138 139

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Obwohl über das Textstudium der »Logischen Untersuchungen« die Ausrichtung der Phänomenologie auf die »donation« auszuweisen ist, schlug Husserl den Weg ein, das Phänomen von der »vergegenwärtigenden Anschauung« im Bewusstsein her aufzufassen, weil nach seiner Ansicht nur darüber das gesuchte Evidenzmoment erreicht wird. Marion hält dagegen: Mit dieser Entscheidung zugunsten eines Phänomenbegriffes, der den Kriterien »Gegenwart« und »Anschaulichkeit« entsprechen soll, verrät Husserl den ursprünglichen Impuls der Phänomenologie, sich für das freie Geben der Erscheinung zu öffnen. Die Wirklichkeit soll in diesem Kontext restlos ans Licht des Bewusstseins geholt werden und sich dem von ihm vorgefertigten Raster beugen: Wirklich wäre dann nur noch, was »präsent« und »sichtbar« ist, statt was sich gibt. 4.1.2.2. Husserls phänomenologische Kriteriologie: Anschauung, Erlebnis, Präsenz Spätestens in den »Ideen« (1913) setzt Husserl »Anschauung«, »Präsenz« und »Erlebnis« als definitive Kriterien der Phänomenologie ein und beschneidet damit die freie und unvorgreifbare Selbstgebung des Phänomens, um die es Marion geht. Die von ihm an den »Logischen Untersuchungen« noch aufgewiesene Trias »Phänomen = 1. »donation«, 2. Bedeutung, 3. Anschauung« kommt für den in den »Ideen« vertretenen Phänomenbegriff Husserls außer Betracht. Dort gilt: »Phänomen = Anschauung / Erlebnis / Präsenz«. So wird nach Auffassung Marions die Offenheit des Staunens gegenüber der phänomenalen »donation« in Husserls weiterer Denkentwicklung degradiert. Genauer: Vermittels der aufgezählten Phänomenbestimmungen wird die Analyse des Bewusstseins zum phänomenologischen Betätigungsfeld und die unvordenkliche »Gebung« des Phänomens bleibt systematisch unerkannt. Der Phänomenbegriff Husserls beantwortet nämlich nur noch die Vorerwartungen des Bewusstseins und immunisiert sich gegenüber der freien »donation« der Phäno-

»starren logischen Götzen« (frz. »idole logique morte«, vgl. ED 31), der erst durch den Bezug auf die Selbstgebung des Phänomens aufgehoben wird. Vgl. »So wird dort [sc. in den ›Logischen Untersuchungen‹] die ›Evidenz‹ (dieser starre logische Götze) zum Problem gemacht und zur allgemeinen Selbstgebung erweitert.« (Husserl, E. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI, 237).

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mene. Zu dieser spätestens seit Husserls »Ideen« vorherrschenden Bestimmung von Phänomenologie nun im Einzelnen: Intuition / Anschauung: Entgegen der von Marion gesuchten »donation« des Phänomens ist dieses nach Husserl als reine Anschauung zu bestimmen. Maß und Wesen des Phänomens sollen von der Anschauung bzw. Intuition her bestimmt werden. Intuition wird gar zum Leitbegriff seiner Phänomenologie. Dabei wird dieser nicht, wie Marion fordert, als abkünftig von »donation« entworfen. Nach Ansicht Husserls ist Intuition vielmehr der erste und ursprünglichste Garant für Gewissheit, der in den Mittelpunkt phänomenologischer Reflexion gerückt werden soll. »A l’origine de tout apparaître, se tient l’intuition, qui donne, qui donne originairement l’apparition, non certes en se substituant à elle, mais en authentifiant, de droit, que son apparaître n’a rien d’une apparence, puisque, elle, l’intuition, instituée au principe de toute vision, n’y voit rien qui la deçoive. L’intuition s’érige en tribunal […] de l’apparition comme présence effective de ce qui se donne.« 145 Weil Intuition für Husserl die originäre Instanz von Erkenntnis verkörpert und Evidenz über eine »Sache selbst« auszulösen vermag, soll sich bei ihm das Phänomen in einer Gestalt absoluter Sichtbarkeit äußern. Für diese an die »Logischen Untersuchungen« anschließende Weiterentwicklung der Phänomenologie in Richtung einer »prinzipierten Intuition« ist vor allem verantwortlich, dass Husserl die sechste »Logische Untersuchung«, in der die »kategoriale Intuition« behandelt wird, als Schritt über Kant hinaus liest. 146 Wegen der damit verbundenen Konzentration Husserls auf die »kategoriale Intuition« kommen die »Logischen Untersuchungen« bei ihm künftig als Durchbruch des Denkens in die »Intuition« (und nicht in die »donation«) in den Blick. 147 Wurde in den »Logischen Untersuchungen« selbst (1900/01) die Intuition oft nur als »das naturgemäße Mittel der Verdeutlichung« 148 bestimmt und gegenüber der Bedeutungskategorie relativiert, so setzt Husserl die Intuition in den »Ideen« (1913) in eine absolute Position ein. Allein der optimierten Intuition, die sich in den Vorstellungen »Wesensschau«, »Eidos« etc. konkreti145 146 147 148

RD 83 f. Vgl. Kap. 4.1.1.2. Vgl. Kap. 4.1.1. Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX / 1, 76.

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siert, kommt dann das Recht zu, die Gültigkeit einer Aussage zu ratifizieren und Erkenntnis zu begründen: »Was die Phänomenologie anbelangt, so will sie eine deskriptive Wesenslehre der transzendental reinen Erlebnisse in der phänomenologischen Einstellung sein, und wie jede deskriptive, nicht substruierende und nicht idealisierende Disziplin hat sie ihr Recht in sich. Was irgend an reduzierten Erlebnissen in reiner Intuition eidetisch zu fassen ist, ob als reelles Bestandsstück oder intentionales Korrelat, das ist ihr eigen, und das ist für sie eine große Quelle von absoluten Erkenntnissen.« 149 Dieser Schwerpunktverlagerung entspricht, dass Husserl seine ursprüngliche Devise »Zurück zu den Sachen selbst« durch das »Prinzip der Prinzipien« aus den »Ideen« neu interpretiert. In diesem wird der skizzierte Vorrang der Intuition aber eindeutig herausgestellt. Man könnte von dort her geradezu sagen, dass Husserl die ursprüngliche Devise »Zu den Sachen selbst« durch dieses »Prinzip der Prinzipien« ersetzt. 150 Demnach wäre die Intuition selbst die tiefste Quelle von Erkenntnis, was vor allem am sog. »Prinzip der Prinzipien« sichtbar wird. 151 Husserl stellt hier klar, dass allein die Anschauung gibt, d. h., gegen Marions Intention gesprochen, dass im Hintergrund der Anschauung von keiner über Anschauung hinausgehende Gebung auszugehen ist. In einer anderen Formulierung dieses »Prinzips« hebt Husserl hervor, dass im bestimmenden Hintergrund der Intuition das Bewusstsein steht: Die Phänomenologie habe »[…] nichts in Anspruch zu nehmen, als was wir am Bewusstsein selbst, in reiner Immanenz uns wesensmäßig einsichtig machen können.« 152 Dadurch wird deutlich, dass das Kriterium reiner Anschaulichkeit bzw. Intuition eine Forderung des Bewusstseins verkörpert. »Ainsi la conscience détermine-t-elle radicalement la phénoménalité en lui imposant l’effecitivité de la présence, l’absolu de l’intuition et l’épreuve du vécu.« 153 Von hier aus lässt sich präzisieren, dass der von Husserl entwickelte Phänomenbegriff dem Bedürfnis des Bewusstseins nach Intuition /

149 Vgl. »Die Phänomenologie als deskriptive Wesenslehre der reinen Erlebnisse« (Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 156). 150 Vgl. ED 257 ff. 151 Vgl. S. 134 Anm 125. 152 Ebd., 127. 153 RD 87.

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Anschaulichkeit entsprechen soll. 154 Konnte Marion in den »Logischen Untersuchungen« noch Elemente einer bedingungslosen »donation« des Phänomens finden, so steht er nun vor der Tatsache, dass Husserl über die Forderung, das Phänomen solle sich als reine Anschauung inszenieren, das Bewusstsein als dessen Bedingung einsetzt. Für Marion steht damit fest, dass sich das Phänomen den vorgreifenden Festlegungen des Bewusstseins zu unterwerfen habe und seine freie »donation« aus dem Blick gerate. »La conscience détermine donc la phénoménalité en réduisant tout phénomène à la certitude d’une présence effective, loin que la phénoménalité impose à la conscience de se laisser déterminer elle-même par les conditions et les modes de la donation – toujours multiple et déroutante.« 155 Erlebnis: Entgegen der von Marion gesuchten »donation« sollen sich Phänomene nach Husserl im Bewusstsein als Erlebnisse einstellen. Jedoch hängt die phänomenologische Bedeutung des Erlebnisbegriffes mit der von Husserl hervorgehobenen Intuition zusammen. Husserl strebt gegenüber der freien Gebung des Phänomens Erlebnisse an, in denen sich die anschauliche Gegenwart des Phänomens manifestiert. Zwar wäre der Erlebnisbegriff im Grundsatz auch mit der Bestimmung des Phänomens als freier Gebung kompatibel. Würde sich das Bewusstsein gegenüber der freien Gebung aussetzen, würde es ja ein gewisses Erlebnis machen: »Erlebnis signifie, pour l’esprit, se faire à l’epreuve de la phénoménalité […]« 156 Gerade darauf zielt aber Husserls Verständnis von Erlebnis nicht ab. Vielmehr ist dessen Erlebnisbegriff an die Forderung des Bewusstseins gekoppelt, Phänomene in Anschauung einzuholen. 157 Das bedeutet aber, dass das von der Anschauung festgelegte Erlebnisverständnis der phänomenalen »donation« vorgeschaltet wird. Die Phänomenologie Husserls strebt 154 Dieser Bedarf des Bewusstseins ist als Intentionalität zu bestimmen: »l’intuition a toujours pour fonction de remplir une visée ou une intentionalité d’objet; donc elle s’ordonne à l’objectivité et à sa conscience extatique; dès lors, l’intuition restreint la phénoménalité à une acception bornée – la transcendance, l’extase et l’intentionnalité de l’objet.« (ED 22). 155 RD 81 f. 156 Ebd. 86. 157 Damit hängt zusammen, dass Marion den Begriff des Erlebnisses für seine Phänomenologie der Gebung ablehnt. Im Hintergrund steht die von ihm behauptete ›Dysfunktionalität‹ zwischen Offenbarung und »Erlebnis«, da für Marion »Erlebnis« (frz. »vécu«) immer den Vorgriff des Bewusstsein oder des »Ich« impliziert. (Vgl. Aspekte 93 f.).

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lediglich Erlebnisse an, in denen sich das Phänomen als reine Anschaulichkeit darstellt und sich insofern gegenüber ihrer freien »donation« indifferent verhält: »[…] mais, inversement, épreuve signifie que la phénoménalité de l’objet apparaissant s’inscrit et s’atteste d’abord dans le tissu et selon le flux de la conscience.« 158 Über Husserls Erlebnisbegriff wird die Offenheit gegenüber der phänomenalen Selbstgebung im Sinne Marions weiter eingeschränkt. Letztlich ordnet der Erlebnisbegriff das Phänomen dem Bewusstsein unter und gewährt nur den Erscheinungen Zutritt in die zu behandelnde Phänomenwelt, die dem Bedürfnis des Bewusstseins nach Anschauung entsprechen. So verfestigt sich im Erlebnisbegriff nicht nur die Ausrichtung der Phänomenologie auf Intuition. Überdies wird mehr und mehr deutlich, dass das Phänomen nur die (intentionalen) Vorgaben des Bewusstseins abbilden soll: »Le phénomène n’apparaît qu’à l’épreuve et l’Erlebnis de sa conscience, laquelle règne, ininterrogée.« 159 Doch verschließt sich dadurch das Bewusstsein gegenüber den Selbstgebungen des Phänomens. Wenn Husserl Phänomenologie als »Wissenschaft von den Erlebnissen« 160 bestimmt oder das Erlebnis als »absolutes Sein« 161 denken will, muss man sich diese Einschränkung gegenüber der phänomenalen »donation« vor Augen halten, die Marion sucht. Präsenz: Entgegen der von Marion gesuchten »donation« des Phänomens soll sich das Phänomen nach Husserl als reine Präsenz äußern. Über die Intuition verknüpft Husserl mit dem Erlebnisbegriff den Wunsch, dass sich das Phänomen als Gestalt von Gegenwart manifestiere. »Zur Seinsart des Erlebnisses gehört es, dass sich auf jedes wirkliche, als originäre Gegenwart lebendige Erlebnis ganz unmittelbar ein Blick erschauender Wahrnehmung richten kann.« 162 Anschauung und Präsenz werden zu identischen Größen, die den Phänomenbegriff Husserls festlegen. Nur was als anschauliche Präsenz im Bewusstsein erlebt wird, kommt bei Husserl als Phänomen in den Blick. »Die Dingwahrnehmung […] gegenwärtigt, sie erfaßt ein RD 86. Ebd. 87. 160 Vgl. »Phänomenologie besagt demgemäß die Lehre von den Erlebnissen überhaupt […].« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/2, 765). 161 Vgl. Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 99. 162 Ebd., 95. 158 159

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Selbst in seiner leibhaftigen Gegenwart.« 163 Damit trifft hier nun die bereits von Derrida geäußerte Präsenzkritik auf den Husserl der »Ideen« ganz und gar zu: »La percée n’ouvre donc que sur l’accomplissement de la métaphysique de la présence.« 164 Das inthronisierte Bewusstsein: Mit Husserls Forderung nach Anschaulichkeit, Erlebnis und Präsenz wird die Phänomenologie als eine Wissenschaft begründet, die das Bewusstsein und nicht die phänomenale »donation« an die erste Stelle ihrer Analysen setzt. Insbesondere das Präsenzkriterium leitet sich aus der absoluten Stellung des Bewusstseins her, das Husserl als Selbstgegenwart mit sich selbst versteht. 165 Verdankt sich die Phänomenologie, wie Marion an den »Logischen Untersuchungen« aufzeigen wollte, dem ursprünglichen Impuls, über das unvordenkliche Sich-Geben der Phänomene zu staunen, so mutiert sie in Husserls »Ideen« nun definitiv zu einer Wissenschaft vom Bewusstsein. Statt sich auf die Gebung des Phänomens auszurichten, verabsolutiert Husserl das Bewusstsein, das in seiner absoluten Immanenz gesehen wird: »Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, dass es prinzipiell nulla ›re‹ indiget ad existendum.« 166 Gegenüber seiner Selbstgebung kommt das Phänomen jetzt nur noch wie eine Modalität am Bewusstsein in den Blick. Weil nämlich, Husserls »Ideen« entsprechend und im Unterschied zu Marions »Selbstgebung«, nur das ein »Phänomen« werden darf, was das Bedürfnis des Bewusstseins nach anschaulichen und präsenzverhafteten Erlebnissen stillt, erstarrt der Fokus phänomenologischer Reflexion. Das Phänomen kommt nicht mehr als unvordenkliche Gebung, »donation« an, über die das Bewusstsein staunen würde. Vielmehr findet sich das Bewusstsein selbst im Phänomen wieder, 167 weil es dessen Begriff auf das einEbd., 91. RD 30, vgl. ED 19. Dem Ausschluss von Unsichtbarkeit widmete Marion bereits im »Frühwerk« große Aufmerksamkeit: Vgl. v. a. CV 85 ff. Vor diesem Hintergrund überrascht, wenn R. Kühn den Marionschen Ansatz unter die Klammer eines Präsenzbegriffes stellen will. Vgl. Kühn, R. Theologische Wende in der Phänomenologie? Zur Problematik der »absoluten Präsenz«, 276. 165 Hier haben erst Husserls 1928 von Heidegger publizierte Vorlesungen »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins« neue Wege gewiesen. (Vgl. Husserl, E. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Hua X). 166 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 104. 167 Hier greift Marion auf die Polarität von Idol und Ikone, die in DsE entwickelt wurde, 163 164

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schränkt, was seinem selbst gewählten kriteriologischen Raster entspricht (Anschaulichkeit / Intuition, Erlebnis, Präsenz). Dies nimmt sich aber als klares Gegenprogramm zu einer Phänomenologie aus, die sich an der unvordenklichen Gebung des Phänomens ausrichtet. In den Augen Marions verflacht infolgedessen das Husserlsche Phänomenverständnis. War den »Logischen Untersuchungen« noch der Durchbruch des Denkens in die »donation« zu entnehmen, so bleibt bei Husserl aufgrund des in den »Ideen« hervorgehobenen Bewusstseinsbegriffes nur noch ein eindimensionales Verständnis von Phänomen übrig. Das Staunen vor einer unvorgreifbaren Gebung entfällt, weil das Phänomen in seinem hintergründigen Sich-Geben nicht mehr bedacht werden kann. Eindimensionale Phänomenalität: Entgegen der von Marion gesuchten »donation« des Phänomens ergibt sich aus der von Husserl aufgestellten Kriteriologie des Phänomens, dass anstelle der »donation« der »Sache selbst« nur eine phänomenale Oberflächenstruktur fokussiert wird: »Sans reste, en effet, puisqu’aucun reste ne vient troubler l’équation finale, le phénomène husserlien, comme parfaite apparition de la présence, peut se dire un phénomène plat.« 168 Weil nach Ansicht Marions das Husserlsche Phänomen unter die Gewalt der vom Bewusstsein aufgestellten Bedingungen »Anschaulichkeit«, »Präsenz«, »Erlebnis« gerät 169 , kann jeder Hintergrund des Phänozurück. Vgl. »L’idole paraît donc une réfléxion sur l’individu: une visée vers le visable qui, à un certain moment de la visée, s’infléchit sur elle-même, se réfléchit sur soi pour ainsi qualifier d’invisible ce qu’elle ne parvient plus à viser.« (DsE 41, vgl. Kap. 2.3.). 168 RD 90. 169 Aufgrund des hier dominanten Bewusstseinsbegriffes unterstellt Marion, Husserl würde eine totalisierende Wirklichkeitsauffassung vertreten. Dabei hebt er insbesondere auf Anweisungen desselben ab, wie folgende: »Zunächst gilt es, das, was als Welt nur eng begrenzt und mit ungeklärten Horizonten zu erfahren ist, derart zu enthüllen, dass wir mögliche Erfahrungen fortschreiten und uns sozusagen ein Gesamtbild, eine wirklich explizierte, wenn auch offen fortschreitende Gesamtanschauung von der Welt bilden: nämlich als wie sie alles in allem aussehen würde und aussehen müsste, wenn wir, sei es wirklich erfahrend oder uns in irgendein Erfahren hineindenkend, die offenen, unbestimmten Horizonte ausfüllen mit einstimmig zusammenpassenden Erfahrungsmöglichkeiten.« (Husserl, E. Phänomenologische Psychologie, Hua IX, 88). Marion geht nun weiter und behauptet, dass für solche Äußerungen Husserls das Nietzscheanische Streben nach dem »großen Mittag« bereits Pate stand: »Dans ces deux cas, la présence plénière impose d’abord la destruction des ombres qui la bornent ou l’imitent, donc l’offusquent.« (RD 31, vgl. DS 66 f., Nietzsche, f. Also sprach Zarathustra, Werke Bd. VI/1, 404). Bei solchen schematisierenden Interpretationen wird jedoch die Bemü-

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mens, wie seine freie »donation«, nicht thematisch werden. Denn solche Hintergründe würden ja die Kriterien von »Anschaulichkeit«, »Präsenz«, »Erlebnis« relativieren und über das Bewusstsein hinausgreifen. So kann aber das reine Sich-Geben, als das hintergründige Zur-Erscheinung-Kommen des Phänomens bei Husserl hier nicht thematisch werden. Nach Marion bleibt Husserls Phänomenbegriff deshalb oberflächlicher Art, weil phänomenale Hintergründe oder, allgemeiner gesagt: Problemstellungen, die den tieferen Sinn des Erscheinens betreffen, nicht in Frage kommen. Der Wegbereiter der Phänomenologie klammert ein solches Fragen spätestens mit seinen »Ideen« aus, weil er die Phänomenologie als »transzendentale Bewusstseinsforschung«170 versteht. In den »Ideen« bestimmt sich das Phänomen nur als sichtbare, erlebbare und präsentische Idee im Bewustsein: »Idéalisme, car seule l’idea peut se voir. Se voir, c’est-à-dire s’éprouver comme un vécu.« 171 Diese vom inthronisierten Bewusstsein diktierte Phänomenbestimmung steht der Intention Marions diametral entgegen, die »donation« als ersten Bezugspol der Phänomenologie anzuerkennen. Denn das phänomenologische Denken der »donation« würde implizieren, dass das Phänomen einer hintergründigen Dimension entspringt, die nicht einfach in Anschaulichkeit, Erlebnis und Präsenz zu überführen ist und die die konstitutive Stellung des Bewusstseins relativiert. Soll das Phänomen als »donation« ankommen, dann müsste sich das Bewusstsein dem Phänomen gegenüber zur freien Verfügung halten. Es dürfte keinen Vorgriff in dem Sinne ausführen, dass es Bedingungen wie »Anschaulichkeit«, »Erlebnis« und »Präsenz« an die sich rein geben wollende Phänomengestalt stellt. Vielmehr hätte sich das Bewusstsein ins Unabsehbare des phänomenalen Zur-Erscheinung-Kommens hinauszuhalten. Während diese Haltung des Denkens noch in den »Logischen Untersuchungen« angelegt gewesen wäre, wäre sie spätestens in Husserls »Ideen« verworfen worden, beherrschen dort ja die vom Bewusstsein herangezogenen Kriterien »Erlebnis«, »Anschauung« und »Präsenz« das Phänomenhung Husserls um Erscheinungen, die für Erkenntnis Gültigkeit haben, überspielt. Letztlich reproduziert Marion hier nur die bekannten Einwürfe Heideggers, wobei seine eigene Verbundenheit mit Husserl, die im gemeinsamen Interesse an der Reduktionsmethode (Vgl. Kap. 4.1.3.) begründet ist, unterreflektiert bleibt. 170 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 108. 171 RD 66.

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verständnis. Vermittels ihrer greift das Bewusstsein auf das Phänomen zu und kann nicht mehr vorbehaltlos, wie Marion intendiert, über seine Gebung staunen. Schillern im Œuvre Husserls dennoch Begriffe wie »Gegebenheit«, des »Gebens« o. ä., dann nehmen sich diese nur wie ›Schattengewächse‹ angesichts der Gebung / »donation« aus. Der Husserlsche Begriff »Gegebenheit« ist ja an die Forderungen des prinzipierten Bewusstseins nach reiner Präsenz und Anschaulichkeit der Phänomene geknüpft. Dieser Kriteriologie widerspricht aber das Denken der freien, d. h. bedingungslosen »donation«, die Marion sucht. 172 Wenn Marion sich seit RD dafür entscheidet, Husserls »Gegebenheit« pauschal mit »donation« zu übersetzen, dann verfolgt er das Anliegen, die in Husserls »Logischen Untersuchungen« nachgewiesenen, und als ursprünglich behaupteten Fragmente einer freien Gebung des Phänomens auf den ganzen Husserl zu beziehen. Diese Übersetzung dient allein dem Ziel, Marions Revision der Phänomenologie zu illustrieren. Nur nach Entflechtung dieses Zusammenhanges erklärt sich, warum Marion einerseits klare Kritik an Husserl übt, und andererseits weiterhin darauf beharrt, »Gegebenheit« mit »donation« zu übersetzen. 173 Marion ist demnach weit von dem Simplizismus entfernt, mittels der Übersetzung von »Gegebenheit« mit »do172 In diesem Sinne bemerkt M. Staudigl, dass Marion die Husserlsche »Gegebenheit« in ihrem Exzess denkt und aufgrund dessen den (durch die »Ideen« vorgegebene) Rahmen Husserlscher Phänomenkritieren sprengt: »In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die damit angesprochenen, vorerst womöglich privativ anmutenden Formen der Gegebenheit im Gegenteil eigene völlig originäre Weisen der Gegebenheit sind.« (Vgl. Staudigl, M. Phänomenologie an der Grenze? Bemerkungen zum Status der Grenze in der Phänomenologie, 17). Insofern ist der Ausdruck »Gegebenheit« mit »Gebung« zu übersetzen: »Damit wäre auch gezeigt, dass, wie Husserl es formulierte, ›absolute Gegebenheit ein Letztes ist‹, nicht aber ein erstes Prinzip als Bedingungsermöglichung: insofern nämlich, als es sich zeigt, dass die Gebung nicht einfach vor dem Phänomen auftritt und ihm apriorische Regeln des Erscheinens aufzwingt, sondern dass sie sich vielmehr mit diesem entfaltet, selbst wenn dieses sich dem Erscheinen zu verweigern beginnt.« (Ebd. 20). 173 Dies gilt vor allem für Marions Interpretation von: Husserl, E. Die Idee der Phänomenologie, Hua II. (Vgl. ED 22 ff., 33 ff., Kap. 4.2.7.3.). Leider verdeckt Marions pauschale Übersetzung von »Gegebenheit« mit »Gebung« in gewisser Weise, dass bei Husserl faktisch, und vor allem in der »Krisis«, die Wendung »Selbstgebung« auftritt. Vgl. z. B. »So wird dort [sc. in den ›Logischen Untersuchungen‹] die ›Evidenz‹ (dieser starre logische Götze) zum Problem gemacht und zur allgemeinen Selbstgebung erweitert.« (Husserl, E. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hua VI, 237., Hervor. T. A.). Bei verstärkter Herausstellung solcher Passagen im Œuvre Husserls wäre Marion weniger dem Vorwurf, ›falsch‹ bzw. tendenziös zu übersetzen, ausgesetzt gewesen. Darüber hinaus wäre die Frage deutlich aufgeworfen, ob Husserl in der »Krisis« wirklich einen neuen Phänomenbegriff entwickelt, dem allein eine »Phénoménologie de la donation« entsprechen könnte.

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nation« Husserl einen Begriff zu unterschieben, dessen phänomenologietheoretische Identifizierung er sich selber vorbehält. Ebensowenig geht es ihm darum, das Œuvre Husserls durch eine übersetzungstechnische Raffinesse für das eigene Denken zu ›beschlagnahmen‹. Wenn Marion »Gegebenheit« mit »donation« übersetzt, dann hat dies weder eine diskursive Relevanz noch irgendeinen philosophischen Beweiswert. Im Gegenteil: Es kann sich nur um eine bewusste Interpretation handeln, deren Schlüssigkeit davon abhängt, dass frei sich gebende Phänomene (wie das »Bedeutungstheorem« aus den »Logischen Untersuchungen« u. a.) bei Husserl vorliegen und die Phänomenologie auf die »Gebung« des Wirklichen hinzuordnen ist. Dass Marion »Gegebenheit« mit »donation« 174 übersetzt, mag deshalb nur derjenige als ungenau empfinden, der die Husserlkritik ignoriert, der zufolge die Phänomenologie insgesamt auf die Gebung auszurichten ist. 175 Folgendes Zitat verdeutlicht, dass Marion zwischen der »Gegebenheit« Husserls und seinem eigenen Begriff »Gebung« differenziert: »Il semble permis de supposer que Husserl, comme submergé par l’impératif, menaçant et jubilatoire ensemble, de gérer la surabondance des données en présence, ne s’interroge à aucun moment (du moins dans les Recherches logiques) sur le statut, la portée et même l’identité de cette donation.« 176 »Gegebenheit« ist hier linguistisch völlig korrekt mit »les données en présence« übersetzt und zielt bei Husserl auf das präsentisch verfügbare Phänomen. In diesem Zusammenhang wäre auch die folgende Husserlübersetzung Marions zu interpretieren: Nachdem Husserl sein »Prinzip aller Prinzipien« aufgestellt hat, schreibt er: »Sehen wir doch ein, dass eine jede [sc. Theorie] ihre Wahrheit selbst wieder nur aus den originären Gegebenheiten schöpfen könnte.« 177 Weil Marion, wie gezeigt, den Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« gerade nicht mit dem »Prinzip der Prinzipien« begründen will, übersetzt er diesen Passus mit einem unentschiedenen, gegenüber Husserl kritischen Zögern zwischen »donation« und »donnée«: »Qu’il nous soit évident (Sehen wir Vgl. v. a. ED 31 ff. Vgl. z. B. die Anfragen Derridas: »I am not sure that when, of course, Husserl refers, extensively and constantly, to what is given to intuition, this given-ness, this Gegebenheit has an obvious and intelligibile relationsship to the gift, to being given as a gift.« (On the Gift. A Discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion, Moderated by Richard Kearney, 58). Marion hat selbst zu diesem Missverständnis beigetragen, wenn er im Vorwort von ED sagt: »… mais ne s’agissait-il pas, après tout, que de la simple traduction d’un concept redondant chez Husserl (Gegebenheit)?« (ED 7). Es mutet seltsam an, dass Marion zur Erklärung, warum »Gegebenheit« mit »donation« übersetzt werden könne, kaum auf seine Argumentation in RD zurückgreift. 176 RD 62. (Hervorh. / T. A.). An diesem Zitat wird erneut deutlich, dass Marion zwischen »Gegebenheit« (»donnée en présence«) und »Gebung« (»donation«) unterscheidet. 177 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 51. 174 175

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doch ein), que toute théorie de connaissance ne pourrait à son tour tirer sa vérité que de données (ou donations? Gegebenheiten) originaires.« 178

4.1.2.3. Prinzipiiertes Bewusstsein: Urgegenstand, Geschlossenheit, Intentionalität Während das Staunen vor der »donation« einen phänomenalen Hintergrund voraussetzt, der vom Bewusstsein nicht auszuloten ist und dessen ursprüngliche Offenheit gegenüber einem Außen impliziert, klammert Husserl weitestgehend alle Erscheinungen aus, die sich nicht seiner Kriteriologie fügen. So wird bei ihm aber das Bewusstsein als völlig in sich stehender, sich selbst gegenwärtiger und autark gehaltener Ausgangspunkt der Phänomenologie aufgefasst. Husserls Phänomenbegriff, der mit den Forderungen nach Präsenz, Anschaulichkeit, Erlebnishaftigkeit und einer eindimensionalen Phänomengestalt unauflöslich verbunden ist, ist darauf ausgerichtet, das Bewusstsein in seiner phänomenologischen Prinzipienstellung festzuschreiben. Letztlich interessiert dieses Denken weniger die phänomenale Selbstgebung. Die Phänomenologie geriert zu einem methodischen Solipsismus. Ihr Schwerpunkt verlagert sich auf die Erforschung des gleichsam monadenhaft und ›fensterlos‹ bestimmten Bewusstseins. 179 Husserls phänomenologisches Projekt, das absolut gedachte Bewusstsein und seine genuinen Vorstellungsgehalte zu sondieren, wird an dessen ambivalenter Haltung gegenüber der philosophischen Ontologie deutlich. Zum einen (und anders als die einflussreiche Auslegung Heideggers insinuiert 180 ) will Husserl eine Ontologie als sog. »Formalontologie« entwickeln. Husserl fragt in diesem Zusammenhang erneut nach den bewusstseinsspezifischen Anlässen formaler Logik. Seiner Auffassung nach könnte eine Ontologie jedoch alRD 54. (Hervorh. / T. A.). In diesem Aspekt bleibt Husserl nach Marion dem Denken der transzendentalen Subjektivität verbunden. Vgl. »On peut même soupçonner que Husserl ne mettra jamais en cause certains des traits les plus caractéristiques de la transcendalité du Je …« (ED 263), »that is, the phenomenon, in the end, remains a constitution of the ego, which, for Marion, means that the I is the judge and the tribunal who determines what can and cannot appear.« (Smith, J. K. A. Respect and Donation: A critique of Marions Critique of Husserl, 526). 180 Vgl. »Mais, contre Heidegger, il faudra sans doute montrer que Husserl ne manque pas la question de l’être parce qu’il aurait échoué par défaut à définir ontologie, mais inversement parce qu’il n’a que trop parfaitement réussir à la construire.« (RD 228 f.). 178 179

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lein die »Urgegenständlichkeit« thematisieren. Für Marion führt dies aber nicht nur, wie bei Heidegger, zu einer Verengung im Begriff von Ontologie. 181 Überdies wird damit ein phänomenologischer Kurzschluss deutlich. Husserl bestimmt nämlich auf diese Weise die »Urgegenständlichkeit« als äußersten Horizont der uns zugänglichen Phänomene, was in sich fragwürdig ist. Die im immanenten Bewusstsein lozierte Schau von »Urgegenständlichkeit/en« verkörpert nach Husserl den tiefsten Ausgangspunkt der Formallogik. Sie wird zum Thema einer ›formalen‹ Ontologie. Wenn Husserl aber »Urgegenständlichkeit« als Horizont des Phänomens behauptet, wird nach Marion lediglich eine Forderung des Bewusstseins beantwortet: die nämlich, logische Propositionen definitiv in präsentischen und für das Bewusstsein verwaltbaren Anschauungen zu fundieren. Das von der »Urgegenständlichkeit« her begriffene Phänomen verkümmert so zu einem Symptom des absoluten Bewusstseins. Zum anderen schließt Husserl jede Reflexion auf Ontologie systematisch aus, weil man seiner Meinung nach dadurch nur die »natürliche Einstellung« rehabilitieren und vom Wissenschaftsideal strenger Phänomenologie abkommen würde. »Ontologie« hat demnach einen naiv-realistischen Sinn und bedeutet einfach das bewusstseinsexterne Draußen, über das man ohnedies keine philosophisch gültige Auskunft geben könnte. In dieser Abschottung des Bewusstseins von einem Außen seiner selbst wird ein weiteres Mal dessen Prinzipienstellung in der Phänomenologie grundgelegt. Dieser auf den ersten Blick widersprüchliche Umgang Husserls mit der Ontologie lässt sich ohne größere Schwierigkeiten auflösen, wenn man sich die Absicht Husserls klar vor Augen hält, das Bewusstsein als erste und absolute Instanz der Phänomenologie zu begründen. Von dieser Warte aus ist es gleichzeitig möglich, Ontologie für die Zwecke einer Phänomenologie des absoluten Bewusstseins (als »Formalontologie«) zu beanspruchen und Ontologie insoweit abzulehnen, als diese das Bewusstsein relativiert und sich auf ein Außen seiner selbst ausrichtet. Zu dieser doppelten Haltung Husserls nun im Einzelnen: Erstens: »Gegenständlichkeit« als Thema der Ontologie. Die Forschungsmeinung, Husserl hätte kein Interesse an der Ausarbeitung 181 Marion lehnt sich hier an die Kritik Heideggers an, der zufolge Husserl den Seinsbegriff verkürze. (Vgl. ED 48, RD 228 ff.).

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einer Ontologie gehabt, ist von einer Interpretation Heideggers182 geprägt. Bei näherem Zusehen wäre sie zu hinterfragen. 183 Tatsache ist nämlich, dass Husserl bestrebt war, eine Ontologie zu entwickeln. In den »Cartesianischen Meditationen« heißt es: »[…] die systematisch voll entwickelte transzendentale Phänomenologie wäre eo ipso die wahre und echte universale Ontologie.« 184 Marion weist nach, dass diese spätere Äußerung Husserls nicht als verstohlene Zugeständnisse an Heidegger einzuschätzen sind. Vielmehr lässt sich der Wunsch Husserls, eine Ontologie zu entwickeln, auf frühere Stadien zurückführen. Entsprechend äußert sich auch Husserl in einem Rückblick auf die »Logischen Untersuchungen«: »Die Idee einer formalen Ontologie tritt m. W. literarisch zuerst auf im I. Band meiner Logischen Untersuchungen, und zwar im Versuch einer systematischen Entfaltung der Idee einer reinen Logik, jedoch noch nicht unter dem erst später von mir eingeführten Namen einer formalen Ontologie. Überhaupt haben es die Logischen Untersuchungen, und vor allem auch die des II. Bandes gewagt, die alte durch den Kantianismus und Empirismus so sehr verpönte Idee einer apriorischen Ontologie in neuer Gestalt aufzunehmen […]« 185 Unter »Ontologie«, bzw. »formaler Ontologie« versteht Husserl die Disziplin, auf die seine transzendentale Phänomenologie hingeordnet ist, die die Intuition reiner Ideen, als Gesamtanschauung von Wirklichkeit, anstrebt. Unter diesem Gesichtspunkt wird man Heideggers Kritik, Husserl zeige sich gegenüber ontologischen Fragen indifferent, wenigstens relativieren müssen. Was beide voneinander trennt, ist weniger die Einsicht in die fundamentale Bedeutung von Ontologie, als Vgl. v. a. die unüberhörbar an Husserl adressierten Äußerungen Heideggers: »Auch die phänomenologische Forschung steht unter dem Bann einer alten Tradition und zwar gerade da, wo es um die ursprünglichste Bestimmung ihres eigensten Themas – die Intentionalität – geht. […] Nicht nur das Sein des Intentionalen, also das Sein eines bestimmten Seienden bleibt unbestimmt, sondern es werden kategoriale Urscheidungen im Seienden gegeben (Bewusstsein und Realität), ohne daß die leitende Hinsicht, das, wonach unterschieden wird, eben das Sein, seinem Sinne nach geklärt oder auch nur nach ihm gefragt wäre.« (Heidegger, M. Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 20, 178). 183 Vgl. »Nous lisons en général Husserl à partir de ce que Heidegger nous désigne comme sa grandeur et comme ses défaillances; et, quand même nous y résistons, c’est le plus souvent encore par rapport à cette pré-compréhension que nous réglons.« (RD 211). 184 Husserl, E. Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua I, 181. 185 Husserl, E. Formale und Transzendentale Logik, Hua XVII, 90. 182

190 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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vielmehr die phänomenologische Bearbeitung dieser Fragestellung. 186 Weil Husserl auf weiten Strecken aber auf den Gebrauch der Fachbezeichnung »Ontologie« verzichtet, ist nach Marions Interpretation »Ontologie« als ein im Œuvre Husserls unterschwellig wirksames ›concept anonyme‹ 187 wahrscheinlich zu machen. Demnach bleibt das Husserlsche Denken heimlich immer von der Idee motiviert, eine Ontologie zu entwickeln. In diesem Zusammenhang verdient die Tatsache besondere Beachtung, dass Husserl in den »Ideen«, und in »Formale und Transzendentale Logik« Ontologie als Disziplin entwerfen will, die die in logischen Aussagen virulenten Intuitionen des Bewusstseins festlegen soll. 188 In der so zu verstehenden Formalontologie oder »eidetischen Ontologie« Husserls sollen die beschriebenen Phänomenerwartungen (»Präsenz«, »Anschaulichkeit«, »Erlebnis«) eingelöst werden, die als solche der Logik eine transzendentale Grundlage im Bewusstsein geben. Aufgrund dieser logischen Vorprägung wird Ontologie dabei immer als Theorie des Gegenstandes oder der Gegenständlichkeit überhaupt verstanden. 189 Die in logischen Propositionen virulenten Bedeutungen sollen in phänomenalen Erlebnissen des Bewusstseins verankert werden. Für Husserl soll dies einmal in der Ausarbeitung von Regionalontologien gelingen, die die bewusstseinstypischen Intuitionen eines Gegenstandsbereiches, der in einer logischen Aussage verhandelt wurde, bestimmt. Ontologie im allgemeinen Sinne, d. h. insofern sie über regionale Gegenstandsbereiche hinausgreift, ziele nach Husserl ferner darauf hin, das Sein als »Gegenständlichkeit überhaupt« in den Blick zu nehmen. »L’ontologie formelle assume donc la fonction d’une forme absolument universelle – mais en tant que forme fixée par l’objectité en général.« 190 »Gegenständlichkeit überhaupt« bleibt 186 Vgl. »il s’agit de décider dans quelle mesure l’un et l’autre ont traité au même sens l’ontologie selon la méthode phénoménologique.« (RD 217). 187 Ebd. Selbst dem Denken Heideggers blieb dieses Ontologieverständnis Husserls verborgen. Aufgrund dieser Unkenntnis konnte Heidegger auch ungefragt die Einsicht Husserls übernehmen, dass äußerste Horizonte (wie die »Urgegenständlichkeit«) in der Phänomenologie zu setzen seien. Das »Sein« löst dabei einfach die »Urgegenständlichkeit« ab, und die Phänomenologie hat sich auf das jeweilige Schauspiel der prätendierten Horizonte zu konzentrieren. Ob und unter welchen Umständen Horizonte aber überhaupt der »Sache selbst« gerecht werden können, bleibt indessen ungefragt. 188 Vgl. Husserl, E. Formale und Transzendentale Logik, Hua XVII, 415 ff. 189 Vgl. RD 219. 190 Ebd. 222.

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aber eine lediglich leere und rein formale Bestimmung von Ontologie: »Gehen wir von der formalen Ontologie […] aus, so ist sie, wie wir wissen, eidetische Wissenschaft vom Gegenstande überhaupt.« 191 Zweitens: Husserls Einklammerung der Ontologie. Der transzendentale, bewusstseinsimmanente Idealismus 192, den Husserl für die Phänomenologie vorsieht, impliziert die klare Abweisung ontologischer Fragestellungen. 193 Nach diesem Verständnis Husserls ist »Ontologie« nämlich in der ›natürlichen Einstellung‹ zu lokalisieren. Doch diese soll seine wissenschaftliche Phänomenologie gerade hinter sich zurücklassen, weil es Husserl ja um die Aufdeckung des bewusstseinsimmanenten ›Ursprungs von Sein‹ geht. Wenn Husserl Wirklichkeit auf die Phänomene des immanenten Bewusstseins zurückführen will, möchte er den natürlichen Zugang zum Sein, das die Ontologie problematisiert, einklammern. 194 Die von ihm entwickelte Reduktionsmethode (»epoché«) ist folglich bestrebt, die Ontologie außer Geltung zu setzen. Über die Reduktion soll sich nach Husserl zeigen, wie jede Aussage über das Sein, also jede »Ontologie« ursprünglich im Bewusstsein vorliegt: als Phänomen. Insgesamt läuft deshalb das Verfahren der Reduktion darauf hinaus, die natürliche Meinung, es gäbe ein (bewusstseinexternes) Sein auszuschalten. »Alles, was uns die Wissenschaften von den Onta, die rationalen und empirischen Wissenschaften (im erweiterten Sinn können sie alle ›Ontologien‹ Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 26. Mit Heidegger kritisiert Marion an dieser Konzeption unter anderem, dass der mit dem Begriff »Ontologie« verbundene Universalitätsanspruch aufgrund seiner formallogischen Vereinnahmung bei Husserl unterboten wird. Das Sein wird lediglich als Gegenständlichkeit thematisch und dies wird der eigentlich umfassenderen Frage nach dem Sein des Seienden nicht gerecht: »L’ontologie formelle s’exerce donc plus comme une forme, comme une formalité – visant la forme du substrat en général de la prédication – que comme science de l’étant en tant qu’étant.« (RD 230, vgl. ED 48). Vgl. »Zwar habe Husserl damit die ›Seinsfrage‹ nicht grundsätzlich verkannt, auch wenn er die ›ontologische Differenz‹ im Sinne Heideggers übersieht, aber der Seinshorizont der Gegenständlichkeit werde damit zum originären Horizont überhaupt […].« (Vgl. Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 212). 192 Vgl. z. B. Husserl, E. Cartesianische Meditationen, Hua I, 118. 193 Vgl. »Denn an sich, wir werden davon sprechen, ist Ontologie nicht Phänomenologie.« (Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie III, Hua V, 129). 194 Vgl. Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 64 f. 191

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heißen, sofern es sich zeigt, dass sie auf Einheiten der ›Konstitution‹ gehen) darbieten, löst sich in Phänomenologisches auf.« 195 Durch die Reduktion soll jede Ontologie in Klammer gesetzt werden. »Car, une fois la réduction accomplie, ou plutôt – puisque la réduction ne cesse de s’accomplir et de s’approfondir – dans l’expérience qu’ouvre la pratique constante de la réduction, il n’est plus ni utile ni loisible d’en appeler à l’être ni de lui accorder la moindre confiance théorique. De l’être, en régime, de réduction, il n’est plus question.« 196 Durch diese Ausrichtung des reduktiven Verfahrens kann sich also per se kein Zugang auf Sein eröffnen. Diese Haltung Husserls der Ontologie gegenüber ist nur für einen oberflächlichen Blick kon-tradiktorisch. Angesichts der absoluten Stellung des Husserlschen Bewusstseins liegen beide Positionen vielmehr in völligem Einklang miteinander. In der ersten Aufgabenbestimmung von Ontologie wird die »Gegenständlichkeit überhaupt« als äußerster Horizont des Phänomens begründet. Wurden bereits die Forderungen Husserls nach »Anschaulichkeit«, »Erlebnishaftigkeit«, »Präsenz« des Phänomens festgestellt, so wird mit Husserls ›ontologisch moderierter‹ Setzung der »Urgegenständlichkeit« diese Kriteriologie festgeschrieben. Zu erinnern ist hier daran, dass die angesprochenen Phänomenkriterien ja einem Bedürfnis des Bewusstseins entgegenkommen. In Husserls Festlegung der Urgegenständlichkeit als Horizont des Phänomens äußert sich nun aber definitiv die Ausrichtung seiner Philosophie, die Phänomene in die Verfügung des Bewusstseins zu stellen. Das Phänomen beugt sich nun nicht nur einfach vorgefertigten Erwartungen. Es gilt nun noch mehr: Vom dargelegten Horizont der Urgegenständlichkeit her lassen sich die bisherigen Kriterien Husserls noch einmal zusammenfassen und man kann sagen, dass das Phänomen Husserls einem Gegenstand gleicht, der dem Zugriff des Bewusstseins offen zu stehen habe. Das Phänomen soll sich nach Husserl wie ein Gegenstand vom absoluten Bewusstsein ergreifen lassen. In Husserls Phänomenologie macht sich klar ein »erfassende[r] und theoretisch forschende[r]

Vgl. Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie III, Hua V, 78. Dazu Marion: »Un autre monde – absolument autre, sans vestige ni restauration de l’ancien – apparaît.« (RD 70). 196 RD 69. 195

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Blick« 197 geltend. Mit anderen Worten: Statt sich auf die Selbstgebung, »donation«, der Erscheinung zu konzentrieren, bestimmt die auf Gegenständlichkeit gerichtete Intentionalität des Bewusstseins den Phänomenaufbau. 198 Mit Husserls zweiter Festlegung der Ontologie wird die Abgeschlossenheit des Bewusstseins definitiv gemacht. Entgegen einer Offenheit der Phänomenologie vor der freien Selbstgebung des Phänomens behauptet Husserl nun den absoluten Vorrang des Bewusstseins: »[…] unseren erfassenden und theoretisch forschenden Blick richten wir auf das reine Bewusstsein in seinem absoluten Eigensein.« 199 Bewusstsein wird bei Husserl als eine völlig in sich stehende, bedürfnislose und absolute Größe verstanden. »Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, dass es prinzipiell nulla ›re‹ indiget ad existendum.« 200 Das Bewusstsein wird als monadenhafter Ausgangsort der Reflexion bestimmt, der sich gegenüber einem Außen systematisch abschirmt. Aufgrund der Bestimmungszüge »Phänomen als Urgegenständlichkeit«, ferner: »Geschlossenheit des Bewusstseins«, »dominante Intentionalität« verweigert sich die Phänomenologie Husserls in den Augen Marions gegenüber der freien Selbstgebung des Phänomens und unterdrückt ihre ursprüngliche Offenheit dieser gegenüber. Die zur Bewusstseinsforschung gediehene Phänomenologie Husserls schließt ein Staunen gegenüber der unverhofften Gebung der »Sache selbst« aus. Denn die Phänomenologie Husserls geht nun von einem unberührbaren, statischen Bewusstsein aus, das die »Sache selbst« immer schon wie einen Gegenstand ergreifen kann: »Mais il s’agit en fait pour Husserl de tout autre chose – de régler la donation à l’aune de l’objectité, implicitement assumée comme son degré absolu, voire sa règle.« 201 Statt der unvorgreifbaren Ankunft der Phänomene nachzudenken, kann das Bewusstsein auf das Phänomen intentional zugreifen. Das Phänomen wird folglich zu einer Modalität des absoluten Bewusstseins degradiert. Dem entspricht, dass Phänomenologie in dieser Phase des Husserlschen Denkens als »transzendentale 197 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 107 (Hervorh. / T. A.). 198 Vgl. ED 22. 199 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 107. 200 Ebd., 104. 201 ED 50.

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Bewusstseinsforschung«202 betrieben werden soll. Damit ist deutlich: Statt sich wirklich mit dem Erscheinen der »Sache selbst« zu beschäftigen, geht die Phänomenologie Husserls einem anderen Ideal entgegen: Sie richtet sich auf die Selbstanalyse des absoluten Bewusstseins: »une phénoménalité de l’objectité ne peut que constituer le phénomène à partir de l’ego d’une conscience qui le vise comme son noème.« 203 Mit Marion ist festzustellen, dass aufgrund dieser Umbestimmung der Phänomenologie die ursprüngliche Suche nach der »Sache selbst« und die Öffnung des Denkens gegenüber den Phänomenen völlig aus dem Blick gerät. Folglich wäre nach phänomenologischen Wegen zu suchen, die aus diesen Verengungen herausweisen und über die sich das Denken gegenüber der »donation« des Wirklichen wirklich öffnen kann. 4.1.3. Marions Relecture der Reduktionsmethode In Kap. 4.1.1. wurde gezeigt, wie Marion den ursprünglichen Ausgriff der Phänomenologie Husserls auf die »donation« an den »Logischen Untersuchungen« aufwies. Demnach konnte das Phänomen zuerst von der »donation« her bestimmt werden. Dann aber war in 4.1.2. festzustellen, dass Husserl gegenüber der »donation« des Phänomens indifferent bleibt, insofern bei ihm die Kriterien »Anschaulichkeit«, »Präsenz«, »Erlebnishaftigkeit« maßgeblich sind und den Vorrang des Bewusstseins festschreiben. Nach Husserl kann sich das Phänomen dann nur noch als »Urgegenständlichkeit« äußern und der Phänomenbegriff erweist sich als abhängig vom Bewusstsein und seiner Intentionalität. Das radikal immanente, d. h. in sich abgeschlossene Bewusstsein nimmt die Position eines unhintergehbaren Ausgangspunkt bzw. eines ersten Prinzips der Phänomenologie ein. Konnte Marion die »Logischen Untersuchungen« noch als 202 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 108, vgl. »Husserl ne cesse au contraire de laisser dériver son Je transcendental vers l’indéfinité et l’unicité universelle, parce qu’il maintient toujours la primauté de l’activité sur la passivité et de la visée intentionelle sur le remplissement intuitif.« (ED 350). 203 ED 50, vgl. »Données, mais à une conscience, liés, mais par une conscience, les phénomènes n’apparaissent que sous condition, aliénés selon une phénoménalité imposée.« (ED 257). Marions Kritik an Husserl greift Einsichten Heideggers auf: Vgl. z. B. Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 140,

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Durchbruch des Denkens ins Staunen vor dem reinen Sich-Geben der Erscheinungen interpretieren, so inszeniert sich das Phänomen im weiteren Verlauf von Husserls Denkentwicklung nur noch als eine Form von Gegenständlichkeit, die lediglich auf die Erfordernisse des intentionalen Bewusstseins zugeschnitten ist. Das Phänomen reduziert sich auf eine vom Bewusstsein gefertigte Gestalt, und der Durchbruch der Phänomenologie in die »donation« wird von Husserl zurückgenommen: »Husserl recule en deçà de sa propré avancée, en restreignant la donation à l’une de ses moindres possibilités phénoménologiques, l’objet.« 204 In dieser Situation rekurriert Marion nun auf die Reduktion, die Husserl als Methode der Phänomenologie festlegte. 205 Zu beobachten ist nun, dass für Husserls Verdrängung der »donation« zugunsten des prinzipiierten Bewusstseins eine Inkonsequenz im Gebrauch dieser Methode symptomatisch ist. Seinem Verständnis entsprechend zielt die Reduktion auf die Einsetzung des Bewusstseins in seine phänomenologische Prinzipienstellung. Die Reduktion, als »époché« ziele allein auf die Bewusstseinsimmanenz, weil Phänomene für Husserl nur innerhalb dieses Raumes verstanden sind. So arbeitet die Reduktionsmethode im Sinne Husserls der Prinzipienstellung des abgeschlossenen Bewusstseins zu. Will das phänomenologische Denken aber bei den Phänomenen bzw. der »Sache selbst« ankommen, dann wäre nach Marion diese Richtung der Husserlschen Reduktionsmethode umzulenken. Die ihr von Husserl zugewiesene Bestimmung, Wirklichkeit auf ihre Genese in der Phänomenwelt des radikal immanenten Bewusstseins zurückzuführen, ist zu revidieren. Denn der phänomenologischen Methode, der Reduktion, dürfte es Marion zufolge um nichts anderes gehen als darum, das freie Ankommen der »Sache selbst«, bzw. die Offenheit des Bewusstseins für die Selbstentfaltung des Phänomens zu gewährleisten.

Ebd. 50. Jedoch ist nicht zu vergessen, dass Husserl sich dabei auf eine längere Vorgeschichte der Reduktion stützen kann. Reduktion gehört zum Kernbestand der abendländischen Vernunfttradition. In ihr überschneiden sich stoische, skeptizistische und cartesische Motive. Vgl. Kühn, R., Staudigl, M. (Hrsg.) Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, 12–20. 204 205

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4.1.3.1. Husserl: Reduktion und die Grundlegung der Bewusstseinsimmanenz Beginnend mit den fünf Vorlesungen »Die Idee der Phänomenologie« von 1907 begründet Husserl die Reduktion als phänomenologische Methode. 206 Zwar wird Marion später diesen Gründungstext der phänomenologischen Methodenlehre im Sinne der »donation« interpretieren können, wobei der dort akute Begriff »Gegebenheit«, der mit »donation« übersetzt werden wird, als Worumwillen der Reduktion zum Tragen kommt. 207 Doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass Husserl selbst mit der phänomenologischen Reduktion die radikale, absolute Immanenz des Bewusstseins anstrebt und dies in Abstoßung von empirisch-psychologistischen Fehldeutungen seines Denkens. 208 Diese Ausrichtung der phänomenologischen Reduktion auf die Bewusstseinsimmanenz wird spätestens an einem Text in den »Ideen« deutlich. »Anstatt also in der Erfahrung naiv zu leben und das Erfahrene, die transzendente Natur, theoretisch zu erforschen, vollziehen wir die ›phänomenologische Reduktion‹. Mit anderen Worten: Anstatt die zum naturkonstituierenden Bewusstsein gehörigen Akte mit ihren transzendenten Thesen in naiver Weise zu vollziehen, um uns durch die in ihnen liegende Motivation zu immer neuen transzendenten Thesen bestimmen zu lassen – setzen wir all diese Thesen ›außer Aktion‹, wir machen sie nicht mit; unseren erfassenden und theoretisch forschenden Blick richten wir auf das reine Bewusstsein in seinem absoluten Eigensein.« 209 Die Reduktion dient für Husserl dem Zweck, eine Forschung des »reinen Bewusstseins« und seiner Erlebnisse zu begründen. Als »Ausschaltung der Natur« 210 setzt sie die gewöhnliche Hinsicht auf einen Bereich, der sich außerhalb des Bewusstseins bewegt, außer Geltung. Ferner werden in der Reduktion auch mathematische Wahrheiten und andere Wesensgehalte auf ihren Erlebnisstrom im rein immanenten BeVgl. Husserl, E. Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Hua II. Vgl. Kap. 4.2.7.3, »Jedem psychischen Erlebnis entspricht also auf dem Wege phänomenologischer Reduktion ein reines Phänomen, das sein immanentes Wesen (vereinzelt genommen) als absolute Gegebenheit herausstellt.« (Husserl, E. Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Hua II, 45), zum Ganzen: Kap. 4.2.7.3. 208 Vgl. Bernet R.; Kern, I.; Marbach, E. Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, 59. 209 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III/1, 106 f. 210 Ebd., 122. 206 207

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wusstsein zurückgeführt. 211 Nach erfolgreicher Reduktion soll »das absolute oder transzendental reine Bewusstsein als Residuum« 212 verbleiben, dessen interne Akte (Noesen) der Analyse offen stehen. 213 4.1.3.2. Marion: Reduktion und die Befreiung des phänomenalen Selbst Die Revision des Husserlschen Reduktionsbegriffes durch Marion ist nun in fünf Schritten vorzustellen. Erstens: Marions Anfragen an Husserls Opposition von Innen und Außen. Es ist wohl unstrittig, dass das Husserlsche Verständnis von Reduktion mit einer durchgehenden Selektion einhergeht: Jene Bereiche, Gegenstände, Gehalte, die man außerhalb des Bewusstseins wähnt, stehen den (ursprünglichen) Phänomenen gegenüber, die Husserl als rein bewusstseinsimmanente auffasst. »Betrachten wir nun die Phänomenologie auf der anderen Seite […]: Ihr Gebiet sind nicht die Raumgestalten, die Dinge, die Seelen und so weiter als solcher in eidetischer Allgemeinheit, sondern das transzendentale Bewusstsein mit allen seinen transzendentalen in unmittelbarer Intuition und in eidetischer Allgemeinheit zu erforschenden Vorkommnissen.« 214 Infolgedessen besteht die reduktive Methode Husserls in der permanenten Ausfiltrierung eines Bereiches außerhalb des Bewusstseins. Die Phänomenologie muss sich folglich gegen den permanenten Ansturm bewusstseinsexterner ›Dinge‹ zur Wehr setzen und immer wieder betonen: »In der Phänomenologie des Dingbewusstseins ist die Frage nicht, wie die Dinge überhaupt sind, was ihnen als solchen in Wahrheit zukommt; sondern wie beschaffen das Bewusstsein von Dingen ist […]« 215 Dass darin ein ›unnatürliches‹ Moment liegt, ist Husserl selbst völlig klar und an sich nicht zu kritisieren. 216 Nach Marion verkörpert dieses 211 Vgl. »Transzendent-eidetische Regionen und Disziplinen können für eine Phänomenologie, die sich wirklich an die reine Erlebnisregion binden will, prinzipiell keine Prämissen beisteuern.« (Ebd., 129). 212 Ebd., 121. 213 Ebd. 200 ff., vgl. Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 138. 214 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie III, Hua V, 84. 215 Ebd., 84. 216 Vgl. Bernet R.; Kern, I.; Marbach, E. Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, 58.

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Methodenverständnis aber ein der Phänomenologie selbst zuwiderlaufendes Movens. Husserls Reduktion der »Sachen selbst« auf ihr Verankertsein in der Bewusstseinsimmanenz schirmt die Phänomenologie nämlich gegenüber den Affektionen ab, die dem Bewusstsein von Außen widerfahren. Dies führt dahin, dass Husserl die »Sache selbst« von den »Dingen-an-sich« scharf trennen muss. Diesbezüglich fragt Marion: Dürfte eine Reduktion, die an den »Sachen selbst« interessiert ist, von einer solchen Dualität überhaupt ausgehen? Oder müsste sie nicht vielmehr dieses »Ding-an-sich« um des phänomenalen Selbst willen in ihre Analysen einbeziehen? »Nous demandons: le principe du retour à la chose en question […] se satisfait-il lorsque la recherche de la ›chose‹ mise entre guillements (Ding) place aussi entre parenthèses la recherche de la chose comme telle?« 217 Es ist fraglich, ob die Reduktion im Sinne Husserls überhaupt zu den Phänomenen selbst finden kann, wenn sie solche Barrieren aufstellt. 218 Zweitens: Reduktion versus »Sache selbst«? Nach Marion ist das phänomenologische Vorhaben, zu den »Sachen selbst« zurückzukehren, mit der Abdichtung des Bewusstseins, die Husserl mittels Reduktion erreichen will, nicht vereinbar. Zunächst wäre dagegen einzuwenden, dass a) die Reduktion, die den als absolut verstandenen Innenbereich des Bewusstseins etablieren will, das Wissen um sein Außen faktisch immer schon ›im Gepäck mitführt‹, auch wenn sie es programmatisch ablehnt. Das bedeutet bereits aber, dass die absolute Bewusstseinsimmanenz nur eine bedingte und ursprünglicher noch von einem Außen lädiert ist, gegen das sie sich schützen muss. Muss sich das Bewusstsein aber stets gegen das Andere seiner selbst behaupten, dann wird man es kaum noch als oberstes Prinzip bezeichnen dürfen. Vor allem könnte sich b) in der Tatsache, dass, wie die Reduktion Husserls ja unter der Hand zugibt, das Bewusstsein von einem Außen je schon affiziert wird, der Anspruch der »Sache selbst« bzw. des Phänomens äußern. Um der Sache selbst willen wäre also RD 239. Heidegger hat eine ähnliche Kritik an Husserl geübt, ohne bezeichnenderweise die Reduktion als phänomenologische Methode zu bemühen. Vgl. »Wir werden genauer zu fragen haben: Wie ist es überhaupt möglich, daß diese Sphäre absoluter Position, das reine Bewusstsein, das durch eine absolute Kluft von jeder Transzendenz getrennt sein soll, zugleich mit der Realität in der Einheit eines realen Menschen einigt, der selbst als reales Objekt in der Welt vorkommt?« (Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 139). 217 218

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die Dualität von Innen und Außen ad acta zu legen und jenes ›Außen des Bewusstseins‹ in der methodischen Reduktion produktiv einzusetzen. Ansonsten wäre zweifelhaft, ob Phänomenologie wirklich an den Phänomenen selbst interessiert ist, schlösse sie doch Bereiche aus, die gerade der Selbstentfaltung des Phänomens dienlich sein könnten. Für Marion gilt deswegen: Soll c) das Phänomen ganz als es selbst ankommen, dann wäre eine phänomenale Freiheit vorauszusetzen. Diese erfordert aber geradezu, dass in einem radikalen Außen des Bewusstseins der Fluchtpunkt und die Ausrichtung der Reduktion zu liegen hätte. Nur wenn die Bewusstseinsimmanenz zugunsten dieses Außen aufgebrochen wird, kann die Phänomenologie den »Sachen selbst« bzw. den Phänomenen vorbehaltlos folgen. 219 Drittens: Marions Revision der Immanenz. Um demzufolge den Sinn phänomenologischer Forschungen zu erhalten, ist die von Husserl gesetzte Immanenz des Bewusstseins von einer Immanenz der Reflexion auf das Selbst des Phänomens abzulösen. 220 Zuerst ist hinsichtlich der Husserlschen Bewusstseinsimmanenz festzuhalten, dass sie weniger das Phänomen in seiner Selbstgebung erreicht, sondern sich das Bewusstsein in ihm nur selber abbildet: »si l’immanence identifiait réellement l’apparaître à la seule conscience, elle ne donnerait plus qu’un seul apparaissant – la conscience.« 221 Dagegen fordert Marion nun, das Bewusstsein radikal auf das Außen seiner selbst hinzuordnen. Denn von dort her könnte ihm die »Sache selbst«, d. h. das Phänomen in seinem Selbsterscheinen überhaupt erst entgegenkommen. Orientiert sich das Bewusstsein radikal am Phänomen selbst, d. h. an der »Sache selbst«, dann realisiert sie aber eine andere Form von Immanenz – eine Immanenz, die sich ohne Rückhalt auf das Selbst des Phänomens bzw. auf sein Erscheinen als Erscheinen bezieht: »l’apparaître ne devient immanent, que dans la mesure où la concience devient intentionnellement immanente dans l’apparaissant lui-même.« 222 219 Zur Engführung der Husserlschen Reduktion: Vgl. »Das Problem dieser Rückführung [Husserls / T. A.] ist weniger, wie oft kritisiert wurde, daß die Welt als offene Horizontstruktur noch zu sehr vom Dingcharakter gesehen wird. […], als vielmehr die Tatsache, daß diese originäre Erscheinensstruktur des Sich-in-der-Außenheit-der-Weltzeigen-müssens als solche unbefragt bleibt.« (Vgl. Kühn, R.; Staudigl, M. (Hrsg.) Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, 18). 220 Marion spricht dabei von »immanence intentionelle« (ED 38). 221 Ebd., 37. 222 Ebd., 38.

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Viertens: Reduktion als Fokussierung des Phänomens. Ausgehend von diesem Immanenzverständnis Marions ist die Reduktion als phänomenologische Methode neu zu bestimmen. Reduktion hat die Immanenz des Denkens gegenüber dem freien Selbsterscheinen des Phänomens zu beachten und sich darauf auszurichten. Der Fokus der Reduktion liegt demnach nicht mehr auf dem Bewusstsein, sondern auf dem Phänomen. Dessen freier Selbstgebung soll die Phänomenologie durch ein geöffnetes bzw. aufgesprengtes Bewusstseins den Weg bereiten. 223 Wichtig ist, dass sich erst durch diese Revision der Reduktionsmethode die Suche nach den »Sachen selbst« erfüllen könnte. So dürfte die Reduktion im Sinne Marions keine andere Absicht haben, als den »Sachen selbst« auf die Spur zu kommen – dies aber mit methodischer Strenge. Fünftens: Cogitatio sive reductio – Grundgesetz phänomenologischer Vernunft. Die so reformulierte Reduktion ist als methodische Richtschnur der Phänomenologie einzusetzen. Entsprechend fordert Marion zum Schluss seiner Husserlinterpretation, die Gültigkeit phänomenologischer Reflexionen künftig an der Frage zu messen, ob das Denken der »Sache selbst«, d. h. dem Selbsterscheinen der Phänomene folgt. Im Anschluss an das revidierte Reduktionsverständnis entspricht dies der maßgeblichen Frage, ob in der Phänomenologie die Reduktion als Methode genau beachtet wird. Nach Marion hat sich die Phänomenologie ganz auf die so verstandene Methode zu verpflichten. 224 Jeder phänomenologische Ansatz ist folglich danach zu befragen, ob in ihm die Reduktion im Sinne einer immanen223 In diesem Zusammenhang verweist Marion darauf, dass in den »Ideen« die Reduktion als Methode erst nach dem »Prinzip der Prinzipien« entwickelt wird. Daraus wäre abzuleiten, dass der dort in den Mittelpunkt gestellte Anschauungsbegriff selber der reduktiven Methode zum Opfer fallen müsste. (Vgl. ebd., 23, ähnlich schon in RD 236). 224 Vgl. »Die Reduktion wird hier in erster Linie als reine Methodik begriffen, deren sich die Phänomenologie – genauer jede philosophische Bemühung, die sich phänomenologisch nennt – bedient, ja bedienen muß.« (Luft, S. Rez. Reduction and Givenness, 74). Man wird wohl nicht falsch liegen, wenn man in dieser Methodenforderung Marions den Einfluss Descartes’ wahr nimmt. Vgl. »Mais je ne craindrais pas de dire que je pense avoir eu beaucoup de bonheur, de m’être rencontré dès ma jeunesse en certains chemins, qui m’ont conduit à des considérations et des maximes, dont j’ai formé une Méthode, par laquelle il me semble que j’ai moyen d’augmenter par degrés ma connaissance, et de l’élever peu à peu au plus haut point, auquel la médiocrité de mon esprit et la courte durée de ma vie lui pourront permettre d’atteindre.« (Descartes, R. Discours de la Methode, Œuvres AT VI, 3., vgl. die hier wohl maßgebliche Descartesdeutung Marions: Marion, J.-L. L’exactitude de l’ego, 8).

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ten Ausrichtung des Denkens auf das Selbsterscheinen der Phänomene eingelöst wird. Reduktion in diesem Sinne gilt als das phänomenologische Vernunftgesetz: »le tribunal de la raison.« 225 Gegenläufig zu einem unterreflektierten Verhältnis zwischen Phänomenologie und klassisch-neuzeitlicher Vernunft’ 226 legt Marion ferner fest: In der Annäherung an die Sache selbst mittels Reduktion kehrt die Vernunftätigkeit des Ego wieder: »La singularité même du Je ne s’atteste que par l’exercice de la réduction.« 227 Weil die Reduktion als bleibende Methode in der Phänomenologie zu verfolgen ist, kann das »Ego cogito« ihr selbst nicht zum Opfer fallen. Vielmehr führt das Ego nach Marion die Reduktion ständig aus. Es erweist sich gegenüber allen Reduktionsversuchen als resistent und will letztlich nichts anderes, als zum Selbsterscheinen der Phänomene gelangen. »[…] le Je s’excepte de la réduction (parce qu’il s’y exerce) […]« 228 4.1.3.3. Der reduktive Ausgriff auf die Selbstentfaltung des Phänomens Anders als in Husserls Opposition von bewusstseinsexternem »Dingan-sich« und bewusstseinsimmanenter »Sache selbst« realisiert sich nach Marion das Projekt der Reduktion erst dort, wo sich das Bewusstsein gegenüber dem Außen seiner selbst und der Selbstentfaltung des Phänomens öffnet. Husserls phänomenologische Reduktion arbeitet dagegen daran, die seiende Sache lediglich als verfügbares Bild im absoluten und immanenten Bewusstsein zu untersuchen. Wird aber in der Reduktion Husserls lediglich das so konfigurierte Bild der »Sache selbst« analysiert, dann bleiben die entscheidenden Möglichkeiten der Reduktion im Sinne Marions unausgeschöpft. RD 236. Diese Debatte klammert sich oft an der Frage fest, ob das Husserlsche Bewusstsein, der Ich-Pol etc. noch in einer Kontinuität zum klassischen Vernunftbegriff steht. Zu diskutieren wäre dabei beispielsweise das Verhältnis zwischen »transzendentalem Ich« und Husserlschen Aussagen wie: »Denken wir uns eine Selbstwahrnehmung vollzogen, aber jetzt in der Art, daß wir vom Leib abstrahieren. Wir finden uns dann als das auf den Strom der Erlebnisse bezogene geistige Ich […].« (Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II, Hua III / 2, 97). Dabei bleibt jedoch das Verhältnis zwischen den Möglichkeiten phänomenologischer Methodik (Reduktion) und dem cartesischem »Ego cogito« unberücksichtigt. 227 RD 236. 228 Ebd., 240. 225 226

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Ist die Reduktion dagegen, wie Marion vorsieht, an den Phänomenen selbst interessiert, dann würde sie die Husserlschen Phänomenerwartungen bzw. die Prinzipienstellung des Bewusstseins generell außer Geltung setzen. Die Phänomenologie, sofern sie der Reduktionsmethode folgt, müsste sich gegenüber der phänomenalen Selbstentfaltung vielmehr öffnen und dem Erscheinen restlos nachdenken. Wird in diesem Typus von Phänomenologie aber der Primat des Bewusstseins abgelehnt und durch die Reflexion auf die nun prinziipierte Phänomenalität ersetzt, dann impliziert dies die Erledigung der von Husserl unter 4.1.2. zusammengefassten Kriteriologie des Phänomens. Das Phänomen muss sich nicht mehr nur als »Urgegenständlichkeit« äußern. Auch die Kriterien »Präsenz«, »Anschaulichkeit«, »Erlebnishaftigkeit« wären gegenüber der phänomenalen Selbstgestaltung, die die reduktive Methode anzustreben hätte, zu relativieren. Entscheidend ist ja, was das Phänomen von sich selbst her zeigen will. So konterkariert die Reduktion im Sinne Marions sämtliche von Husserl eingebrachten Kriterien und sucht nach Möglichkeiten, den Phänomenen den freien Zugang ihres Sich-SelbstZeigens zu gewähren. 229 Dass Husserl Phänomene nur insofern in den Blick bekam, als sie sich als reine Sichtbarkeit und Präsenz im Bewusstsein darstellten, hatte eine Verflachung des Phänomenbegriffes zur Folge. Konkret: Husserl weigert sich beharrlich, einen phänomenalen Hintergrund bzw. Hintersinn zu denken, weil solche Phänomenbereiche nicht in die Anschaubarkeit / Intentionalität des Bewusstseins zu überführen und deshalb für ihn ohne Relevanz sind. Was nämlich per se seinem Bewusstseinsbegriff unzugänglich ist, wie ein über dessen Rahmen hinausgehender Sinn und Hintergrund des Phänomens, dürfe nach seiner Auffassung keinen Anspruch darauf erheben, phänomenologisch analysiert zu werden. Daraus resultierte ein eindimensionales Phänomenverständnis bzw. eine phänomenologische Platitüde. Die mittels Reduktion nach Marion anzustrebende »Sache selbst« impliziert jedoch nicht nur eine Kritik der Phänomenkriterien Husserls. Positiv gewendet wird durch die damit verbundene Betonung des phänomenalen Selbst der Blick für Fragestellungen nach dem hintergründigen Sinn des Erscheinens freigegeben. Das bedeu229 Vgl. »en régime phénoménologique, il ne s’agit pas seulement de montrer […], mais de laisser l’apparition se montrer dans son apparence selon son apparaître.« (ED 14).

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tet, dass mit der von Marion revidierten Reduktionsmethode der Phänomenologie offensteht, die von Husserl ausgeschlossenen Tiefenbereiche des Phänomens, anders gesagt: die tiefere Genese und den Sinn des Erscheinens überhaupt zu problematisieren. Reduktion rückt nun ja zum Phänomen selbst vor, wie es sich von sich selbst her gibt. So versteht sich, dass Marion am Ende seiner Husserllektüre folgende Frage aufwirft, die den Sinn des Erscheinens befragt und nun im Sinne seiner Reduktion angegangen werden kann: »Sans doute est-ce ici que surgit la question à laquelle Husserl ne pouvait pas répondre, parce qu’il ne l’a peut-être jamais entendue comme une authentique question: quoi donc se donne? Non pas seulement: ›Qu’est-ce que cela donne?‹, mais plus essentiellement: ›Que signifie donner, quoi donc se joue du fait que tout soit donné, comment donc penser que tout ce qui est ne soit qu’autant qu’il est donné?‹« 230 Zwar konnte Marion einer späten Aussage Husserls aus der »Krisis« eine dieser Frage adäquate Haltung bescheinigen. 231 Insgesamt steht aber eine explizite Reflexion auf den Sinn des Erscheinens unter Befolgung der Reduktionsmethode noch aus. Von diesem Stand der Überlegungen aus ist nun kritisch zu prüfen, ob der Ansatz Heideggers, der das Sein als den Tiefengrund des Phänomens bzw. des Erscheinens bestimmt, der Reduktion in Absicht auf phänomenale Selbstentfaltung entspricht. 232 RD 62. An dieser Stelle ist an Marions Deutung des Husserlschen Korrelationsapriori aus der »Krisis« zu erinnern. (Vgl. Kap. 4.1.1.). 232 Schon Lévinas, Henry und Derrida wollten die Husserlsche Reduktionsmethode reformulieren. So erhob Lévinas die Forderung nach einer »ethischen Reduktion«. (Vgl. z. B. Lévinas, E. Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, 27 Anm. 3, vgl. ders. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht 109 f.). Für Henry liegt dagegen in der auto-affektiven Subjektivität der letzte Schritt phänomenologischer Reduktion. (Vgl. z. B. Kühn, R. Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, 179). Ferner steht am Anfang des Derridaschen Denkweges, näherhin bei seinen Interpretationen zu Husserls »Vom Ursprung der Geometrie«, das Bemühen, die Husserlsche Reduktionsmethode zu rekonstruieren: Vgl. Strasser, S. Von einer Husserl-Interpretation zu einer Husserlkritik. Nachdenkliches zu Jacques Derridas Denkweg, 134 ff. Für die französische Phänomenologie scheint wohl diese Konzentration auf die Reduktionsmethode insgesamt typisch. Ähnlich urteilt R. Kühn: »In Frankreich ging man – von E. Lévinas und P. Ricœur bis zu J. Derrida und M. Henry – den zweiten Weg, d. h. die Phänomenologie ist nur ihren eigenen Denkprotokollen verpflichtet, und zwar diesseits oder jenseits des Objekts in seiner Konstituierung und des Seienden in seinem Sein.« (Kühn, R. Rez. Jean-Luc Marion, Réduction et Donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la 230 231

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Die Gebung des Seins: Marion und Husserl

4.2. Die Gebung des Seins: Marion und Heidegger Das im Folgenden darzustellende Verhältnis zwischen Marion und Heidegger ist im Rahmen der Marionschen Aufgabe, den Glauben vor der autonomen Rationalität zu verantworten, von entscheidender Bedeutung. In Marions Frühwerk scheinen die Einsichten Heideggers weitestgehend als unausweichlich, sofern man einen säkularen Wirklichkeitszugang einnimmt, der nicht wie durch einen Umkehrruf vom Offenbarungsgeschehen überformt wurde. 233 Anders als in der frühen Schaffensphase strengt Marion gegen Heidegger nun aber eine philosophische Diskussion an. 234 Er will jetzt die phänomenologischen Leerstellen der Heideggerschen Konzeption, in deren Zentrum das Denken des Seins steht, aufdecken. Dabei wird von der Einsicht ausgegangen, dass sich phänomenologische Reflexionen prinzipiell daran zu messen haben, ob sie der »Sache selbst« bzw. der phänomenalen Selbstentfaltung dienen. Wie am Ende der Husserlinterpretationen zu sehen war, entspricht dies in den Augen Marions aber der Forderung, die Reduktionsmethode zur Geltung zu bringen. Dass also die »Sache selbst« im Sinne methodischer Reduktion zu fokussieren ist, Reduktion den Maßstab jeder phänomenologischen Reflexion abgeben soll, dieser die Husserlinterpretation abschließende Gedanke ist mit dem Ansatz Heideggers abzugleichen. 235 phénoménologie, 403). Dieses Interesse französischer Phänomenologie an der Reduktionsmethode scheint seinen unmittelbaren Anstoß durch das Denken Merleau-Pontys erhalten zu haben. (Vgl. Waldenfels, B. Phänomenologie in Frankreich, 164). Zu beachten ist, dass in Frankreich auf diese Weise ein Phänomenologietyp gewachsen ist, der sich aufgrund der rehabilitierten Reduktionsmethode durch ein hohes kritisches Potential (v. a. gegenüber der seinsgeschichtlichen bzw. hermeneutischen Wende hierzulande) auszeichnet. (Vgl. a. Kühn, R. Theologische Wende in der Phänomenologie? Zur Problematik der »absoluten Präsenz«, 276). 233 Vgl. Kap. 2.4. 234 Vgl. Marion gegen Heideggers Gleichung von Philosophie und Metaphysik gerichtete Feststellung: »La fin de la métaphysique – du moins avons-nous tenté de le montrer – n’implique aucune interdiction de la philosophie, mais en dégage, au contraire, le sérieux et les tâches.« (Marion, J.-L. La fin de la fin de la métaphysique, 31). Siehe auch die Kritik, die Lacoste an Marions Frühwerk richtete: »Il est d’extrême importance théorique que l’exode hors de la Seinsfrage soit rationnel et philosophiquement intelligible: l’on ne peut qu’à cette condition éviter l’objection selon laquelle la théologie […] ferait de l’irrationnel qui prouve tout et rien, en son domaine.« (Lacoste, J.-Y. Penser à Dieu en l’aimant. Philosophie et théologie de Jean-Luc Marion, 260). 235 Vgl. »Il reste que l’on pourrait tenter de penser une phénoménologie qui ne fasse aucune exception à la réduction.« (RD 245).

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

Marion will das Heideggersche Denken auf den Prüfstand der Reduktionsmethode stellen, die er am Schluss seiner Analysen zu Husserl eigenständig entworfen hat. So wird er mit ungewöhnlicher Konsequenz auf den in der Methodenlehre Husserls beheimateten Reduktionsbegriff insistieren, der dem Selbstverständnis Heideggerscher Philosophie, auch in reformulierter Version, eigentlich fremd ist. 236 Zur besseren Übersicht soll die Marionsche Heideggerkritik in vier Argumentationsschritten vorgestellt werden. Erstens: Heideggers ›reduktiver‹ Vorstoß zur Frage nach dem »Sinn von Sein«. In der Auseinandersetzung mit Heidegger wird sich Marion zunächst dafür einsetzen, den Zugang dieses zweiten, großen Phänomenologen als konsequente Weiterführung und Neubelebung der Phänomenologie vorzustellen: Heidegger überarbeitet die aufgezeigten Blockaden im Entwurf seines Lehrers, indem er den Phänomenbegriff vertieft. Gegenüber Husserl wird sich Heideggers Ansatz als neuer und verbesserter Anlauf der phänomenologischen Reduktion herausstellen lassen. Folgte bei Husserl auf den Durchbruch der »Logischen Untersuchungen« eine gegenständliche, präsentische Auffassung der »Sache selbst«, so bietet das am Sein orientierte Denken Heideggers diesbezüglich neue Perspektiven. Für 236 Die Anwendung der Reduktionsmethode auf das Denken Heideggers scheint mittlerweile zum festen Bestand französischer Phänomenologie zu gehören. Zwar weist D. Janicaud, als Vertreter orthodoxer Heideggerexegese, solche Versuche deutlich zurück: »Même reinterprétée dans le sens ontologique, la réduction n’est, pour Heidegger, qu’un ›élément‹ ou une phase d’une démarche plus ample qui va exiger une déconstruction de plus en plus poussée de l’histoire de la métaphysique et sa relecture en fonction de la différence ontologique.« (Janicaud, D. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 47). Doch scheint ein Beitrag J.-F. Courtines für das Bemühen Marions, den Ansatz Heideggers von der Reduktion her zu rekonstruieren, wegweisend gewesen zu sein. (Vgl. Courtine, J.-F. L’idée de la phénoménologie et la problématique de la réduction, in: Marion, J.-L. Planty-Bonjour, G. (Hrsg.) Phénoménologie et Métaphysique, 211–245). An solchen Versuchen dokumentiert sich, wie man in Frankreich das Denken Husserls und Heideggers enger als hierzulande ineinander verschränkt. (Vgl. Orth, E. W. Einleitung: Phänomenologie in Frankreich, 8). Vor allem impliziert dies nach Marion aber auch eine je schon kritischere Haltung französischer Phänomenologie gegenüber hermeneutischen, seinsgeschichtlichen »Phänomenologien« (im Sinne Heideggers oder Gadamers): Vgl. »le renouveau de la phénoménologie en France, dans les années 1980, ne s’est pas fait à propos de Heidegger, mais autour de Husserl. […] Je suis vraiment persuadé que ce qui s’est passé avec ce retour à Husserl a évité à la France cette espèce d’evanescence des études phénoménologiques retombant dans l’histoire de la phénoménologie, qu’on voit trop bien ailleurs.« (JeanLuc Marion, Entretien du 3 décembre 1999, in: Janicaud, D. Heidegger en France, 219).

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Die Gebung des Seins: Marion und Husserl

Marion bleibt deshalb der Einstieg des Heideggerschen Denkens dem methodischen Selbstverständnis der Phänomenologie verbunden. Konkret: Die Auslegung des Phänomens als Seiendes (1), dem darauf die Reflexion auf das Sein des Seienden (2) und schließlich die Frage nach dem »Sinn von Sein« (die Seinsfrage) (3) 237 entspringt, ist geleitet von der phänomenologischen Reduktion im Sinne Marions. Im Gegensatz dazu wird man aber das weitere Denken Heideggers damit nicht mehr in Einklang bringen können. Auf dem an »Sein und Zeit« anschließenden Denkweg Heideggers wird der mit der Seinsfrage (3) erreichte Stand phänomenologischer Reduktion wieder unterboten. Nach Marion bildet der in »Sein und Zeit« erfragte »Sinn von Sein« deshalb ein in der Phänomenologie ausstehendes Desiderat. Zu fragen wäre, wo und auf welchem Wege das Sein zur Erscheinung kommt. (Kap. 4.2.1. / 4.2.2.). Zweitens: Das phänomenologisch unerreichte Sein – Heideggers uneingestandene Aporien. Am weitgehend bekannten Fragmentcharakter von »Sein und Zeit« wird man zunächst einfach ablesen können, dass Heidegger den gesuchten Sinn von Sein (3) nicht erreicht, den er nach Marion zu Beginn noch phänomenologisch korrekt erfragt hatte. Dieser Mangel scheint damit zusammenzuhängen, dass Heidegger seine Suche nach dem Seinssinn über die Daseinsanalytik, d. h. über die Sichtung der jeweiligen Seinsstrukturen des Menschen (»Dasein«) entwickelt. Daraus entsteht aber faktisch eine Aporie: Das erfragte Sein bzw. der »Sinn von Sein« kann auf diesem Weg, der höchstens zur ontologischen Erschließung des »Daseins«, also eines Seienden (2) taugt, nicht erreicht werden. Statt aber den ursprünglich erfragten »Sinn von Sein« (3) weiter bzw. neu zu suchen, reagiert Heidegger auf diese Aporie so, dass er nach der sog. »Kehre« die ontologische Differenz (Unterschied zwischen Seiendem und Sein (2)) als eine absolute ›seinsgeschichtliche Figur‹ festsetzt, die plötzlich die Erscheinung des Seins zu verantworten hätte. Allein schon aus formalen Gründen wäre die zweiteilige ontologische Differenz (2) aber nicht als Antwort zu bewerten auf die zu Beginn von »Sein und Zeit« 237 An der Gleichung von »Sinn von Sein« und »Sein überhaupt« ist nach Marion festzuhalten. (Vgl. RD 249 ff.). Heidegger hat selbst wohl keinen Unterschied zwischen beiden Begriffen gemacht: Vgl. »Wenn die Grundthematik von ›Sein und Zeit‹ die Frage nach dem Sinn von Sein ist und Sein nicht als diese oder jene Seinsart von Seiendem, sondern als Sein-überhaupt gemeint ist, steht mit dem gesuchten Sinn das ›überhaupt‹, die hier zu denkende Allgemeinheit des Seins in der Differenz zu den besonderen Seinsarten des Seienden, in Frage.« (Hermann, F. W. v. Subjekt und Dasein, 69).

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in drei Schritten gestellte Frage nach dem »Sinn von Sein« (3). Obwohl Heidegger zufolge die ontologische Differenz wohl dem Niveau der Seinsfrage entsprechen sollte, wird sie eher als deren Verlegenheitslösung zu bestimmen sein. Für Marion verdeutlicht sich diese Schieflage über die phänomenologische Reduktionsmethode: Heideggers ontologische Differenz verkörpert – im Unterschied zur Seinsfrage – das Symptom ihres Gescheitertseins. Unter der Hand der »ontologischen Differenz« wird eingestanden, dass Heidegger den eingangs noch erkennbaren Anspruch aufgegeben hat, den Sinn von Sein bzw. ›das Sein überhaupt‹ über die phänomenologische Reduktion zu sichten. Zwar konnte die Seinsfrage (3) als Fortschritt innerhalb phänomenologischer Reduktion bewertet werden. Jedoch wird sich das Denken der ontologischen Differenz (2) als Ausflucht vor deren methodischen Forderungen erweisen. 238 (Kap. 4.2.3. / 4.2.4.). Drittens: Die ontologische Ausdünnung der Reduktion als Ursache der Aporie. Marion wird zeigen, dass der beschriebene Mangel Heideggers rückgängig zu machen ist. Seiner Ansicht nach kann die Seinsfrage phänomenologisch-methodisch, d. h. unter Anwendung der Reduktion, beantwortet werden. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Frage nach dem Sinn von Sein / dem »Sein überhaupt« (3) der phänomenologischen Reduktion noch verbunden blieb. Setzt man mit Marion die Prägung dieser Frage durch die reduktive Methode voraus, dann ergibt sich daraus aber, dass die Reduktion immer schon über jedes vorläufige Seinsverstehen hinausgreift. Über den Ausgriff der Seinsfrage intendierte und forderte die Reduktion nämlich die phänomenale Ankunft von »Sein überhaupt«. Weil mit der Seinsfrage also das »Sein überhaupt« fraglich wird, kann das Seinsverstehen auch nicht als Bestimmung der Reduktion gelten. Vielmehr markiert sich in der Frage nach dem »Sein überhaupt« die Potentialität der Reduktion, in ein »Jenseits des Seins« aufzubrechen und darüber die Ankunft des erfragten Seins (3) zu gewahren. Wenn aber das Sein nicht der die Reduktion bestimmende Horizont verkörpert, dann wäre die reduktive Methode als eine (vom Sein) autarke zu rehabilitieren und mit ihr Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein neu anzugehen. 238 Insoweit wiederholt sich die aus dem Frühwerk bekannte Kritik Marions am Heidegger nach der Kehre; dies aber mit dem bedeutsamen Unterschied, dass dieses Denken nun an der autonomen Methodenlehre der Phänomenologie gemessen wird und nicht an der christlichen Theologie.

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Genau diese Autonomie einer Methode gegenüber dem Sein ist aber mit Heidegger nicht zu denken. Das verdeutlicht sich daran, dass dieser den Weg zu jenem »Sinn von Sein« zunächst ausschließlich in der Daseinsanalytik sieht. Nun ist aber zu beobachten, dass Heideggers Daseinsanalytik mit dem phänomenologischen Verfahren der Reduktion inkompatibel ist. Bei vorausgesetzter Virulenz der reduktiven Methode würde diese ja dabei auf ein ontisch primäres Seinsverstehen als ihre Basis positioniert werden. Dabei ist die Einsicht leitend, dass Heidegger dem Seinsverstehen, das das »Dasein« je schon hat (2), eine heuristische Leitfunktion bei der Suche nach dem Sinn von Sein (3) zuteilt. So würde er allerdings der Reduktion die methodische Hoheit bei der Bewältigung dieser Aufgabe entreißen und ferner ihren ursprünglich seinskritischen Ausgriff unterminieren. Im skizzierten Spannungsfeld von Daseinsanalytik und Reduktionsmethode ergibt sich für Marion deshalb die Aufgabe, den Nachweis dafür zu erbringen, dass sich die phänomenologische Methode nicht auf das »Dasein« und sein Seinsverstehen positionieren lässt. Es ist zu zeigen, dass die Reduktion eine solide Methode im »Dasein« bleibt, d. h. dass sie vom Seinsverstehen nicht maßgeblich affiziert wird. Der Vorrang der Reduktion gegenüber dem Sein des »Daseins« wäre zu begründen. Nicht wäre die Reduktion auf das Seinsverstehen, sondern das »Dasein« auf seine Methodenfähigkeit zu reduzieren. Im Tiefengrund des »Daseins« wäre die Reduktion, d. h. die phänomenologische Methode, im Sinne eines (vom Sein) autonomen »Ich denke« ausfindig zu machen. So versteht sich, dass Marion diesen Aufweis mit der Kritik von Heideggers Descartesrezeption angeht. (Kap. 4.2.5.). Viertens: Die Cartesische Revitalisierung der Reduktion und die Gebung. Festzustellen ist, dass Heideggers Konzeption des »Daseins« von der Abgrenzung gegen Descartes’ »ego cogito« bedingt ist. In Heideggers Rezeption des »ego cogito« sind nun aber eigenartige Engführungen zu erkennen. Durch den genaueren Vergleich mit Descartes wird Marion aufzeigen können, dass in der Daseinsanalytik Heideggers das »Ich denke« weiterhin am Werk ist, ja dass das »cogito« die aus seiner Konzeption herausgedrängte Tiefenschicht des »Daseins« bildet. Das »ego cogito« kann seinerseits als Vorbild jeder methodisch geleiteten Philosophie gelten. So wird sich aus Marions Überlegungen schließen lassen, dass im »Dasein« weiterhin die vom Sein unberührte Kompetenz, einer Methode zu folgen, besteht. Das von Heidegger zwar verdrängte, letztlich aber unhintergehbare 209 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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»Ich denke« indiziert bereits, dass das Sein des »Daseins« (2) nicht den letzten Horizont phänomenologischer Reflexion bezeichnen muss. Angesichts dieser phänomenologischen Relecture Descartes’ wäre zuerst aber angebracht, die Reduktion, als von Husserl begründete Methode der Phänomenologie, im Kontext der Daseinsanalytik neu zu bewerten. Die Reduktion ist dabei nicht wie bei Heidegger im Namen bestimmender Seinsstrukturen zu entmündigen und einfach auf die Position des »Daseins« zu setzen. Über den Rekurs auf Descartes verdeutlicht sich vielmehr, dass Heideggers Daseinsanalytik bzw. seine Heuristik des Seinsverstehens selber bedingt ist – und zwar vom methodischen Anspruch des »Ich denke«. Will man nun den Sinn von Sein (3) erscheinen lassen, dann kann dies nach Auffassung Marions nur dadurch geschehen, dass man die Reduktion, in deren Rahmen diese Frage ursprünglich aufgeschienen ist, als autonome Verfahrensweise erhält. Im Sinne Marions steht deshalb das Sein im Fokus der Reduktion. Die Reduktion wäre aber weder im »Dasein«, noch im Husserlschen Bewusstsein zu verorten. Wenn der »Sinn von Sein« anschaulich werden soll, bleibt nur übrig, den Ausgangspunkt phänomenologischer Reduktion auf einen Bereich außerhalb des Seins, auf das sog. »Je hors d’être« zu verlegen. Gegen Heidegger bezeichnet Marion den Leistungsträger der Reduktion als »Je hors d’être«. Auf dem Weg einer kritisch-synoptischen Interpretation von »Was ist Metaphysik?« und Heideggers späten Schriften wird Marion dann erkennen, dass das Sein nur als »donation« (bzw. Appell) erscheinen kann. Damit das Seinsphänomen als Seinsphänomen zur Geltung kommt, bedarf es aber noch einer identifizierenden Antwort auf diese »donation«. Diese Antwort kann nun aber nicht dem »Sein«, sondern nur der Wahl des »Je hors d’être« entspringen. Ferner hätte das »Je hors d’être« die Möglichkeit, sich dem Sein gegenüber indifferent zu verhalten und wäre deshalb ursprünglich reinen Appellen und Gebungen ausgesetzt, die nicht als »Sein« bestimmt sein müssen. Weil aber das »Je hors d’être« als ›Leistungsträger‹ der Reduktion zu definieren ist, müsste man daraus schließen, dass diese dem tieferen Horizont einer reinen »donation« verschrieben ist. Gezeigt ist ja die ursprüngliche Offenheit des »Je hors d’être« gegenüber der »donation«. Ausgehend von dieser Überlegung gilt der Grundsatz als ursprünglich: »[A]utant de réduction, autant de donation.« 239 Damit ist 239

RD 303.

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die Hinordnung phänomenologischer Reduktion auf die »donation« erreicht. Unter Anwendung der phänomenologischen Reduktionsmethode wäre das Phänomen ursprünglicher noch als »Gegebenes« oder besser: »Sich-gebendes« zu bestimmen. Dass in der »donation«, und nicht im Sein, die tiefste Phänomengestalt liegt, diese als Durchbruchsmoment an den »Logischen Untersuchungen« Husserls bereits nachgewiesene Einsicht wird dann zu denken sein. 240 (Kap. 4.2.6./ 4.2.7.). 4.2.1. Die Erledigung Husserlscher Phänomenerwartungen durch Heidegger 4.2.1.1. Heideggers Vorstoß zum phänomenalen Selbst der Sache Heideggers phänomenologischer Zugang weist bereits unter formalen Gesichtspunkten einen bedeutenden Ausweg aus den Engführungen Husserls. 241 Fiel dort, wie gesehen, das Phänomen weitgehend unter die Bedingungen von Präsenz, Anschauung, Gegenständlichkeit etc., so vertritt Heidegger das Anliegen, solche Umklammerungen des Phänomens zu überwinden. In deutlicher Abkehr von Husserl verlangt er, dass sich das Phänomen allein von sich selbst her, d. h. aus der ihm eigenen Initiative heraus zeigen solle: »Als Bedeutung des Ausdruckes ›Phänomen‹ ist daher festzuhalten: das Sich-anihm-selbst-zeigende, das Offenbare.« 242 Diese Definition Heideggers erweitert das bisherige Phänomenverständnis vor allem dadurch, dass ein neuer Akzent auf das phänomenale Selbst gelegt wird. 243 In 240 Von dort her müsste man Caputos Kritik am Marionschen Frühwerk nun differenziert beurteilen. Der seinskritische Ausgriff der »cogitatio sive reductio« wäre der Befürchtung Caputos entgegenzuhalten, dass das »Denken« bei der Erledigung des Heideggerschen »Seins« ausgehebelt werden würde. Vgl. »God is saying to us […] that he can do without Being’s help. […] At that point, we have pushed ourselves up to the edge of the unthinkable, and it is under this figure of unthinkability that we are able to ›think‹ God.« (Caputo, J. D. How to avoid speaking of God. The violence of Natural Theology, 134 f.). 241 Diese Untersuchungen hat Marion zum ersten Mal vorgelegt in: Marion, J.-L. L’étant et le phénomène, 160–209. 242 Heidegger, M. Sein und Zeit, 28 (Hervorh. / T. A.). 243 Vgl. »Bedeutet Phänomen das Sich-an-ihm-selbst-zeigende und Logos das aufweisende Sehenlassen, dann besagt Phänomenologie soviel wie: aufweisendes Sehenlassen des Sich-an-ihm-selbst-zeigenden […] Das ist Heideggers Fassung des formalen Phänomen-Begriffes, von dem er sagt, dass in ihm die phänomenologische Forschungsmaxime

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Anbetracht dieses neu betonten Selbst setzt Heidegger hinter die Kriteriologie Husserls ein unmissverständliches Fragezeichen. Denn nun beginnt sich die Phänomenologie auf das Selbsterscheinen bzw. auf das Selbst-Sich-Zeigen des Phänomens zu konzentrieren und dadurch einen neuen Anlauf »zu den Sachen selbst« durchzuführen. Aus dieser Neuprofilierung des Phänomens durch Heidegger ergibt sich ein gravierender Kontrapunkt zu Husserl, der das Phänomen größtenteils nur als ein von Präsenz, Anschaulichkeit, Gegenständlichkeit bedingtes in den Blick bekam, d. h. der gegenüber seinem freien Selbsterscheinen, wie generell gegenüber jedem phänomenalen Hintergrund, indifferent war. Dass Husserl sein Denken dennoch unter die Devise »Zu den Sachen selbst« stellen konnte, erscheint nun wie eine Ironie. Wenn nämlich, wie Heidegger fordert, das Phänomen wirklich sich von sich selbst her zeigen soll, dann müsste man den Einfluss der Husserlschen Phänomenbedingungen gehörig beschneiden. Gegenläufig zu Husserls Forderung nach Anschaulichkeit ist mit dem Selbsterscheinen des Phänomens nach Heidegger eine unhintergehbare Dunkelheit bzw. Absenz verbunden. Soll das Phänomen ja als es selbst erscheinen, dann nur aufgrund der Einsicht, dass es sich zumeist durch Dunkelheit und Absenz bestimmt. Erst in und mit solcher Dunkelheit könnte sich sein gefordertes Selbsterscheinen ja ereignen. Infolgedessen bringt die Phänomenologie immer auch ›Dunkelheit ans Licht‹, weil das Selbst des Phänomens über sein Erscheinen, d. h. über sein Hellwerden entscheidet. Doch wenn demnach Dunkelheit ans Licht zu heben ist, dann ist diese Dunkelheit gerade nicht in restlose Anschaulichkeit und Helle zu überführen. Diese phänomenologische Verfahrensweise führte ja schon bei Husserl zu den obsoleten Phänomenbedingungen reiner Anschaulichkeit, Präsenz etc. Vielmehr hat im Anschluss an Heidegger das Paradoxon zu gelten, dass in der Phänomenologie die Dunkelheit als Dunkelheit phänomenal werden soll. 244 Verdecktheit oder Dunkelheit wären damit nicht einfach zu überwindende Begleiterscheinungen des Phänomens. Verglichen damit sind sie seine bleibenden und ›Zu den Sachen selbst!‹ zum Ausdruck komme.« (Hermann, F. W. v. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, 19). 244 Vgl. »So verstanden ist die Phänomenologie ein Weg, der hinführt vor … und sich das zeigen lässt, wovor er geführt wird. Diese Phänomenologie ist eine Phänomenologie des Unscheinbaren.« (Heidegger, M. Seminare, GA 15, 399).

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phänomenologisch zu erhebenden ›Wesenszüge‹. »Le phénomène ne manifeste qu’autant qu’il manifeste ce qui restait non manifeste avant cette manifestation même, et qui en régit encore obscurément l’éclat.« 245 Da zwischen Anschaulichkeit und Präsenz ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, ließe sich problemlos auch die Widerlegung von Husserls Präsenzforderung durch die Position Heideggers, die das »Selbst« des Phänomens neu akzentuieren will, vorexerzieren. Der Katalog von Bedingungen, die Husserl an das Phänomen knüpfte, ist mit Heidegger somit ad acta zu legen. Mit Heidegger bricht eine neue Phase in der phänomenologischen Philosophie an. Das Denken setzt sich dort mit ganz neuer Intensität für das Selbst des Phänomens ein und greift dadurch auf seinen Hintergrundsinn, auf sein ›helldunkles‹ Zur-ErscheinungKommen vor: »la phénoménologie a pour travail de rendre apparent non seulement l’inapparent, mais encore le jeu de l’apparent avec l’inapparent dans l’apparition.« 246 4.2.1.2. Vom Selbst des Phänomens zum Sein als Phänomen Heidegger deutet das neu herausgestellte Selbst des Phänomens als Äußerung des Seins: »[S]oviel Schein – soviel Sein.« 247 Im Rückgriff unter anderem auf das antike Denken setzt sich Heidegger über das partielle Tabu Husserls hinweg, sich mit Ontologie im Kontext phänomenologischer Reflexion nicht beschäftigen zu dürfen. Ungeniert beteuert er die ursprünglich-direkte Identität von Phänomen und Seiendem: »Die yainomena, ›Phänomene‹, sind dann die Gesamtheit dessen, was am Tage liegt oder ans Licht gebracht werden kann, was die Griechen zuweilen einfach mit ta onta (das Seiende) identifizierten.« 248 Damit lassen sich die Heideggerschen Neuerungen im Phänomenbegriff noch einmal genauer fassen. Erstens: Die Integration von Dunkelheit und Absenz. Mit Heideggers Gleichung von Phänomen und Seiendem rückt das Denken unverzüglich zum ›Sein schlechthin‹ vor, das als Verweis des Seienden im Phänomen aufleuchtet. Verglichen mit der Position Husserls, RD 92. Ebd., 93. 247 Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 189. 248 Vgl. Heidegger, M. Sein und Zeit, 28., dazu: Hermann, F. W. v. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, 20 ff. 245 246

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dessen Erwartung an sichtbarer Präsenz die phänomenologische Reflexion fixierte, eröffnet sich damit eine ursprünglichere Hinordnung des Phänomens: sein Bezug zum Sein. Zu beachten ist dabei aber, dass durch den Aufweis dieser ursprünglicheren Hinordnung des Phänomens andere und über Husserls Konzeption hinausgehende Struktureigenschaften im Phänomen zum Vorschein kommen. Genauer: Die phänomenale ›Darbietung des Seins‹ ist mit einer spezifischen Schwierigkeit behaftet. Im Sein wird das bereits dargestellte Wechselspiel von Dunkelheit/Absenz und Helle/Präsenz ausgetragen. Es gilt ja: »Sein und Seinsstruktur liegen über jedes Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus. Sein ist das transcendens schlechthin.« 249 Das Sein gibt und entzieht sich im Phänomen. Es bringt sich im Phänomen ans Licht und verschließt sich wieder in Dunkelheit. Im Anschluss an die im Zeichen des Seins revidierte Phänomenologie Heideggers ist darum auszuschließen, dass sich das Phänomen in einer Gestalt von Präsenz, Anschaulichkeit, Gegenständlichkeit ausschöpft. Anders als Husserl glaubhaft machen wollte, ist im Phänomen aufgrund seiner Hinordnung auf das Sein auch von Dunkelheit und Absenz auszugehen: »[…] rendre phénoménal ce qui, invisible comme tel, ne saurait en aucun sens, devenir visible sur le mode de l’étant présent.« 250 Zweitens: Die Eröffnung des phänomenalen Hintergrundes. Was den Phänomenbegriff Heideggers von dem Husserls trennt, ist nicht nur eine divergierende Kriteriologie, die aus Heideggers möglicherweise übereilten Identifizierung von Phänomen und Seiendem hätte resultieren können. Heidegger geht mit ihr über den Ansatz Husserls wirklich hinaus, weil das phänomenologische Fragen mittels dieser ontologischen Relecture erstmalig zum (unanschaulichen und unpräsentischen) Hintergrund und Sinn des Phänomens vordringt. Für Heidegger steht ja nicht einfach das Phänomen in seinem (präsentischen) ›Sosein‹ zur Diskussion. Indem in seinem phänomenologischen Ansatz die Verweislinien des Seienden auf das Sein hin auszuziehen sind, wird erstmals der Sinn und Hintergrund des Phänomens problematisch, den Heidegger als das Geschehen von Sein auslegt. »Nach dem Sinn von Sein soll die Frage gestellt werden.« 251

249 250 251

Vgl. Heidegger, M. Sein und Zeit, 38. RD 97. Heidegger, M. Sein und Zeit, 5, vgl. die von Heidegger herausgestellte Grundfrage

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Von diesem Standpunkt her zeigen sich die Phänomenkriterien Husserls in ihrer ganzen Vorläufigkeit, weil bei Heidegger das entscheidende Augenmerk nun auf das Sein fällt, das im Hintergrund der Erscheinungen steht. Während in diesem Sinne das Denken Husserls um Präsenz und Gegenständlichkeit des Phänomens weiter kreist, unterbricht Heideggers Gleichung von »Phänomen« und »Seiendem« dieses Kreisen und legt die radikale Frage vor, wie es denn überhaupt zu Präsenz und Gegenständlichkeit des Phänomens komme. Mit Heideggers ontologischer Deutung wird folglich eine Metaebene in der phänomenologischen Reflexion betreten. Auf ihr bildet sich Phänomenologie zur Erforschung von »Phänomenalität schlechthin« um, die in ganz neuer Weise den Phänomensinn und –hintergrund befragt. Entdeckte der Husserlsche Ansatz nur ein plattes, oberflächliches Phänomen, das den Ansprüchen des Bewusstseins zu genügen hatte, so eröffnet sich bei Heidegger der als Seinsgeschehen begriffene Tiefengrund und Sinn im Phänomen: »Ainsi la profondeur du phénomène relance-t-elle la phénoménologie comme savoir non seulement des phénomènes, mais, bien plus radicalement, de leur phénoménalité.« 252 Mit der Identifizierung von Phänomen und Seiendem zeigt sich nach Heidegger also nicht nur ein einfaches Wechselspiel von Dunkelheit und Helle im Phänomen. 253 Vielmehr eröffnet sich dadurch eine ganz neue, phänomenale Tiefe, weil nun die Frage nach dem Sein, d. h. nach dem Sinn des Phänomens aufgeworfen ist. 4.2.2. Der Durchbruch der Reduktion Heideggers Nach Marion sind die Heideggerschen Neuerungen im Phänomenbegriff mit dem Projekt, »zu den Sachen selbst« qua Reduktion vorzudringen, verträglich. Mehr noch: Im ontologischen Zugang Heideggers wird das Phänomen bzw. die »Sache selbst« sogar mit

der Metaphysik: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 122). 252 RD 99. 253 Vgl. »Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur ›verstellt‹ sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern, wie die voranstehenden Betrachtungen gezeigt haben, das Sein des Seienden.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 35).

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besonderem Nachdruck anvisiert. Dies ist in seinen Augen als vertiefende Beschäftigung mit der Reduktion aufzufassen. 254 4.2.2.1. Vom »Phänomen« zum »Seienden« Heideggers Auslegung des Phänomens als Seiendes ist nicht als Verkehrung phänomenologischer Prinzipien aufzufassen. Eher wäre mit Marion zu behaupten, dass die Reduktion nun entscheidend fortgeführt wird. Denn die »Sache selbst«, die ursprüngliche Leitidee der Phänomenologie, wird radikaler, weil vor allem als Seiendes befragt. Die Auslegung des Phänomens als Seiendes resultiert folglich aus der phänomenologischen Bemühung des Denkens um die »Sache selbst«, d. h. aus dem »radikal ergriffenen Sinn des phänomenologischen Prinzips – der Sache selbst – Seiendes als Seiendes selbst in seinem Sein sehen zu lassen.« 255 Gegen diesen Zugang wäre Marion zufolge nicht einzuwenden, dass er die Reduktionsmethode konterkarierte. Unbeschadet der bekannten Kritik seines philosophischen Ziehvaters Husserl 256 kommt die »Sache selbst« auf dem Weg der Reduktion zur Geltung, wenn das Phänomen als Seiendes ausgelegt wird. Wenn Husserl im Namen der Reduktionsmethode gelegentlich Vorbehalte gegenüber der Ontologie äußert 257 , wäre dies mit Marion 254 Zum Verhältnis zwischen Heidegger und der Reduktionsmethode: Unstrittig ist, dass sich »Sein und Zeit« einerseits innerhalb der phänomenologischen Schule situiert. Die Reduktionsmethode dürfte in ihr also auch potentielle Relevanz haben. Vgl. »Wenn die folgende Untersuchung einige Schritte vorwärts geht in der Erschließung der ›Sachen selbst‹, so dankt das der Verf. [asser] in erster Linie E. Husserl […].« (Ebd., 38). Dennoch verzichtet Heidegger andererseits auf ihre auch über Husserls Engführungen hinausgehende, explizite Anwendung. Es scheint, als wäre die Reduktionsmethode aus dem Blickwinkel Heideggers zu sehr mit der Husserlschen Bewusstseinsimmanenz verknüpft und deswegen einer Neubestimmung unfähig (Vgl. v. a. Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 150 ff., RD 242 f.). Statt auf die Reduktionsmethode zu insistieren, weiß sich Heidegger vorwiegend der phänomenologischen Maxime Husserls »Zu den Sachen selbst« verpflichtet. Vgl. »Phänomenologie als Methode findet für Heidegger einzig ihren Ausdruck in der von Husserl geprägten Maxime »Zu den Sachen selbst««. (Hermann, F. W. v. Hermeneutik und Reflexion, 101). Marion fordert dagegen, dass diese »Sache selbst« erst über die reinterpretierte Reduktionsmethode zu erreichen und bewahrheiten wäre. 255 Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20,186. 256 Vgl. z. B. »Der neue Encycl.[opaedia-Britannica-] Artikel hat mir auch viel Mühe gemacht, hauptsächlich weil ich […] in Rücksicht den Umstand zog, dass Heid.[egger], wie ich nun glauben muß, […] den ganzen Sinn der Methode d.[er] ph.[änomenologischen] Reduction nicht erfasst hat.« (Husserl, E. Briefe an Roman Ingarden, 43). 257 Vgl. Kap. 4.1.2.4.

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als phänomenologisch inkonsequent zu bezeichnen. Entgegen der Skepsis Husserls restauriert der Ansatz Heideggers keinen naiven Realismus. Ebenso wenig setzt er die von Husserl bekämpfte ›natürliche Einstellung‹ wieder in ihr Recht. Heideggers ontologische Deutung des Phänomens regt zur Beschäftigung mit der »Sache selbst« vielmehr nachdrücklich an. In Marions Perspektive entspricht dies aber dem Worumwillen phänomenologischer Reduktion. Unter der Voraussetzung nämlich, dass sich, wie in Kap. 4.1.3. erläutert, die reduktive Immanenz der Phänomenologie in der Anstrengung um die »Sache selbst« verwirklicht, muss es zur Frage nach dem Sein des Phänomens gerade bei durchgehaltener Reduktion kommen. Das Phänomen »ist«, d. h. es ist das erste gewisse Seiende. Wenn nicht das Phänomen »ist«, dann »ist« gar nichts. Heideggers Identifizierung von Phänomen und Seiendem überzeugt vor allem, wenn man sich noch einmal die Haltung Husserls zur Seinsfrage vor Augen hält. Denn die Tatsache, dass dieser jede ontologische Thematik aus der Phänomenwelt ausschließt, erweist sich im Gegenzug als Symptom einer unvollständigen Reduktion, weil hier noch a contrario ein Sein jenseits des Phänomens bzw. jenseits der »Sache selbst« vorausgesetzt wird, dessen Existenz ohnedies ›eingeklammert‹ sein müsste. 258 Die phänomenologische Reduktion kann somit klar zur ontologischen Bestimmung des Phänomens gelangen, wenn sie, wie gefordert, ihren Fokus nur auf das Phänomen gerichtet hält. Heideggers ontologische Interpretation des Phänomens deckt sich deshalb im Prinzip mit der Reduktion und Marion kann dies als weitere Etappe derselben bestimmen. 259 Die dargestellte Linie zwischen dem Phänomenverständnis Husserls und Heideggers ist als fortschreitende Reduktion zu lesen. 260 Denn die Reduktion, die Husserl als Methode in der Phänomenologie verankerte, hat sich nach Marion ja um die Sichtung der »Sache selbst« mit aller Kraft zu bemühen. Heidegger bringt die Reduktion aber neu zur Anwendung, weil seine Orientierung an der »Sache selbst« das Phänomen als Sei258 Vgl. »Privilégier la ›chose‹ comme corrélat objectif de la conscience contre la chose elle-même pourrait […] sacrifier le retour aux choses même à une régression vers le psychologisme le plus classiquement fermé à la donation, à plus forte raison s’il s’agit de la donation ultime – celle de l’étant. Ici encore, il faudrait admettre la légitimité de la critique heideggérienne, au moment même où elle méconnaît la question de l’être, méconnaît d’abord sa propre méthode phénoménologique.« (RD 240). 259 Vgl. ebd., 163. 260 Vgl. z. B. ebd., 303 f.

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

endes vorfindet. Angesichts der phänomenologisch maßgeblichen Reduktionsmethode ist Heideggers Gleichung von Phänomen und Seiendem zuzustimmen. 4.2.2.2 Vom Seienden zur Frage nach dem Sinn von Sein / »Sein überhaupt« Entspricht die Gleichung von Phänomen und Seiendem der Bemühung der Reduktion um die »Sache selbst«, dann legitimieren sich für die Phänomenologie auch die oben erläuterten Strukturmerkmale, die »Integration von Dunkelheit und Absenz« bzw. der »phänomenale Hintergrund«. Denn insofern über die Reduktion das Phänomen als Seiendes umgedeutet werden kann, eröffnet sich damit ja auch die Frage nach dem hintergründigen, dunklen ›Sein überhaupt‹. Dass sich diese Eröffnung der Seinsfrage aus der streng-phänomenologischen Beachtung der »Sache selbst«, also vermittels der Reduktion ergibt, lässt sich am Ansatz Heideggers demonstrieren. Sein am Ausgangspunkt von »Sein und Zeit« bekundeter Plan berechtigt zu der Interpretation, dass in der Seinsfrage ein weiteres, entscheidendes Stadium phänomenologischer Reduktion zu sehen ist. Heidegger führt nach Marion seine phänomenologische Reduktion so durch, dass er zu Beginn von »Sein und Zeit« eine dreiteilige Frage an die »Sache selbst« richtet: »Das Fragen hat als Fragen nach … sein Gefragtes. Alles Fragen nach … ist in irgendeiner Weise Anfragen bei … Zum Fragen gehört außer dem Gefragten ein Befragtes. In der untersuchenden, d. h. spezifisch theoretischen Frage soll das Gefragte bestimmt und zu Begriff gebracht werden. Im Gefragten liegt dann als das eigentlich Intendierte das Erfragte, das, wobei das Fragen ins Ziel kommt.« 261 Umgesetzt wird dieses Frageschema bei Heidegger so, dass das Seiende, als das Befragte, erstens nach seinem Sein gefragt (2) wird. Von besonderer Bedeutung ist nun aber, dass Heideggers Befragen der »Sache selbst« in einen dritten Bereich vordringen will, der über das Sein des Seienden hinausgreift. Denn Heideggers Fragen zielt auf den Sinn von Sein (3), auf das Sein überhaupt (und nicht nur auf das Sein eines Seienden (2)). Der Sinn von Sein fungiert dabei als Erfragtes: »Nach dem Sinn von Sein soll die Frage gestellt werden.« 262 Diese Intention des Fragens geht deutlich weiter 261 262

Heidegger, M. Sein und Zeit, 5. Ebd., 5.

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als das, worüber das Sein des Seienden Auskunft geben könnte. Zwar könnte man darin eine Inkonsequenz in Heideggers Orientierung an der »Sache selbst« sehen, weil diese das »Sein schlechthin« problematisierende Frage die »Sache selbst« sozusagen zu durchschauen scheint. Dieses Argument würde aber gerade den Vorbehalt Husserls auffrischen, nach dem jeder Hintergrund des Phänomens bzw. jede Sinnthematik aus der Phänomenologie herauszuhalten sei. Dazu Marion: »Ce que la question, ou plus précisément le questionnement, veut à la fin savoir ne se confond aucunement avec ce que l’étant interrogé veut dire ou peut savoir; le questionnement a, de derrière la tête une autre »idée«: il est en quête non seulement de l’être de l’étant, mais bien du »sens d’être« lui-même.« 263 Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Frage nach dem Phänomensinn bzw. nach dem ›Sein überhaupt‹ dem Erscheinen der »Sache selbst« gerecht wird. Man wird aufgrund dessen den von Heidegger eingebrachten Fragetyp nach dem Sinn des Seins als legitim bestimmen dürfen. Die Unterscheidung in der Befragung der »Sache selbst« zwischen dem »Sein des Seienden« (2) und dem »Sinn von Sein« (3) geht gerade aus einem besonderen Bedürfnis bei der Annäherung an das »Selbst« der Sache hervor. Anders gesagt: Dass hinter dem Sein des Seienden noch das schlechthinnige Sein als Sinn und Hintergrund des Phänomens stehen könnte, stellt sich als das eigentliche Interesse an der »Sache selbst« heraus. 264 So ist die Seinsfrage Heideggers als Fortschritt in der Reduktion zu bewerten. Verfolgt man sorgfältig die Reduktion und nähert sich der »Sache selbst« an, dann bricht nicht nur die Erkenntnis auf, dass das Phänomen »ist«. Vielmehr wird das Sein selbst zur Frage. Mit dem Stellen dieser dreiteiligen Frage zu Beginn von »Sein und Zeit« überwindet Heidegger unter Anwendung der Reduktion die Blockaden der Husserlschen Phänomenologie. Dort stand ja das Interdikt, den Hintergrund des Phänomens zu sondieren, fest, bzw. wurde das Interesse an der »Sache selbst« in das Prokrustesbett der Gegenständlichkeitserwartung gespannt. Wenn Heidegger diese Aporien durch das Stellen der Seinsfrage überwindet, tut er der phänomenologischen Annäherung an die »Sache selbst«, also der Reduktion, keine Gewalt an. Im Gegenteil: Mit Marion ist zu sagen, dass RD 107. Vgl. zum Ganzen: Hermann, F. W. v. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, 24 ff. 263 264

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die Reduktion mit der Seinsfrage Heideggers in die von Husserl permanent ignorierte Tiefendimension der »Sache selbst« eindringt. Denn an ihr wird nun ›das Sein überhaupt‹ bzw. der Sinn von Sein problematisch und insofern erreicht die phänomenologische Reduktion bei Heidegger einen neuen Durchbruch. Kommt ferner das Denken über die Reduktion zur Seinsfrage, dann berechtigen sich auch Dunkelheit, Absenz und Hintergründigkeit als phänomenale Strukturmerkmale. Das Sein, insofern es ja als Frage eine ambivalente Phänomenalität aufweist, widerspricht der kriteriologischen Funktion von Anschaulichkeit, Präsenz, Gegenständlichkeit. »Au contraire, le phénomène heideggérien, s’originant dans la montée au visible du non-encore-visible, implique de droit et par principe l’inapparent de l’apparition.« 265 So ist mit Marion festzustellen, dass der phänomenologische Zugang Heideggers die Phänomenerwartungen Husserls erledigt. Dies geschieht aber vor allem dadurch, dass Heidegger die Reduktionsmethode konsequent weiter verfolgt. 266 4.2.3. Aporetische Reduktion (I): Die Daseinsanalytik und der Sinn von Sein War der Zugang Heideggers bislang als Fortschritt in der Reduktion zu bewerten, so ist nun zu untersuchen, ob das Seinsphänomen, das zur Frage wurde, bei Heidegger weiter erschlossen wird. Zunächst hat man sich »Sein und Zeit« zuzuwenden. Dort wird der fragliche »Sinn von Sein« über die Daseinsanalytik gesucht. Für Heidegger gilt: Über die ontologische Analyse des Menschen, dem »Dasein«, sei ein Weiterkommen in der Seinsfrage zu erwarten, weil das »Dasein« das Seiende ist (2), das sich je schon durch ein Verstehen von Sein (überhaupt) (3) auszeichnet 267 : »Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderen Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.« 268 Entsprang die Seinsfrage (3) zuerst der Ausrichtung des Denkens auf die »Sache selbst«, RD 93. Vgl. Marion, J.-L. La fin de la fin de la métaphysique, 28. 267 Vgl. »Dem Dasein gehört nun gleichursprünglich – als Konstituens des Existenzverständnisses – zu: ein Verstehen des Seins alles nicht daseinsmäßigen Seienden.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 13). 268 Ebd., 12. 265 266

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so habe demnach nun das »Dasein« aufgrund seines ontisch veranlagten Seinsverstehens (2) in den Vordergrund der Reflexion zu rücken. 269 Um im Schema von Heideggers Grundfrage zu bleiben: Der Sichtung des Erfragten (Sinn von Sein (3)) müsse die ontologische Analyse des Befragten (»Dasein« (2)) vorausgehen. Das »Dasein« könne dabei aber nicht wie ein Objekt analysiert werden. Vielmehr erweist sich, Heidegger zufolge, das »Dasein« als der eigentliche Ausgangsort der Seinsfrage. »Wenn die Interpretation des Sinnes von Sein Aufgabe wird, ist das ›Dasein‹ nicht nur das primär zu befragende Seiende, es ist überdies das Seiende, das sich je schon in seinem Sein zu dem verhält, wonach in dieser Frage gefragt wird. Die Seinsfrage ist dann aber nichts anderes als die Radikalisierung einer zum ›Dasein‹ selbst gehörigen Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses.« 270 Indem sich aber das Denken auf das Sein des »Daseins« fixiert, wird die Phänomenologie mit ihrer eigenen Situation konfrontiert. Denn das »Dasein« und sein ›jemeiniges‹ Seinsverstehen bildet ihre bestimmende Basis und d. h. die der Seinsfrage. Nach Marion ist dieser Vorgang als weiterer Schritt der Reduktionsmethode darzustellen. Geht man davon aus, dass die Reduktionsmethode die Argumentation aus »Sein und Zeit« weiter prägt, dann befindet diese sich in folgender Lage: Die Reduktion vollzieht sich in der Daseinsanalytik auf der Position des »Daseins«. Entsprechend den Einsichten Heideggers liegt darin eine phänomenologische Notwendigkeit. 271 Er argumentiert ja so: Nur insofern das Seiende ontologisch analysiert werde, das die Seinsfrage eigentlich gestellt hat, also nur unter der Voraussetzung der Daseinsanalytik, sei das fragliche Sein (des Phänomens) zu sichten. 272 Perspektiviert man die Daseinsanalytik aber, wie Marion, von der Reduktion her, dann resultiert daraus, dass die Reduktion nach Heidegger nun ihre ontologische Grundlagenreflexion zu leisten habe. Mit anderen Worten: Erst unter der Bedingung, dass die Reduktion ihre ontologischen Be269 Vgl. »Wenn die Interpretation des Sinnes von Sein Aufgabe wird, ist das Dasein nicht nur das primär zu befragende Seiende, es ist überdies das Seiende, das sich je schon in seinem Sein zu dem verhält, wonach in dieser Frage gefragt wird.« (Ebd., 14 f.). 270 Ebd., 271 Vgl. »Le privilège du Dasein ne lui advient que de sa disposition à subir une réduction phénoménologique redoublée; celle-ci ne transite de l’étant au ›sens de l’être‹, qu’en travaillant cet étant que détermine, par excellence, l’être de l’étant.« (RD 110). 272 Vgl. Aspekte, 91, 93.

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stimmungsstrukturen sichtet, wäre der Horizont erarbeitet, angesichts dessen in der Frage nach dem »Sinn von Sein« voranzukommen wäre. Nach Marion wird die phänomenologische Reduktion in Heideggers Daseinsanalytik als verdoppelte Reduktion 273 fortgesetzt. Denn die Reduktion muss sich nun auf sich selbst, d. h. auf das sie selbst je schon bestimmende bzw. von ihr bislang nur unreflex bestimmte Sein richten. Die ferner zu erhebenden Daseinsstrukturen (In-der-Welt-Sein, Jemeinigkeit, Eigentlichkeit, Sorge, Angst, Zeitlichkeit etc.) sollen je schon den Ausgangsort der Reduktion prägen. Die Phänomenologie und ihre Reduktionsmethode ist demnach nur noch als Auslegung dieser sie bestimmenden Seinsstrukturen (»Hermeneutik der Faktizität des Daseins«) durchführbar. Zu fragen ist nun, ob sich das Projekt Heideggers erfüllt, zum »Sein überhaupt« (3) mittels Daseinsanalytik durchzustoßen. »Que l’être apparaisse – cet accomplissement ultime n’advient à la phénoménologie que sur le mode de la possibilité; mais cette possibilité peut-elle s’accomplir de fait?« 274 Kommt Heideggers Daseinsanalytik beim eingangs erfragten Sein wirklich an? Mit Blick auf »Sein und Zeit« ist diese Frage zu verneinen. Denn der fragmentarische Zustand 275 dieser Abhandlung macht direkt deutlich, dass sich die zu Beginn projektierte Sichtung des »Sinnes von Sein« nicht realisiert und sich »Sein und Zeit« auf die ontologische Untersuchung des Befragten (»Dasein« / 2) beschränkt. Der Sinn von Sein steht damit weiterhin in Frage. Die Sichtung des Daseins führt lediglich zur ontologischen Darstellung eines Seienden. 276 Somit steht eine Behandlung der Seinsfrage bzw. des »Sinnes von Sein« (3) noch aus. In »Sein und Zeit« aber kann Heidegger das hintergründige Sein nicht erschließen, also seinen Plan nicht umsetzen. 273 Vgl. RD 104 ff., »Le Dasein, comme tel, est toujours déjà non seulement ordonné à la double réduction, mais réalise bel et bien la double réduction elle-même.« (Ebd., 109). 274 Ebd., 118. 275 »Sein und Zeit« bricht bekanntlich vor dem dritten Abschnitt des erstens Teils ab, der auf dem Boden der Daseinsanalytik (»1. Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins. 2. Dasein und Zeitlichkeit«) »Zeit und Sein« thematisieren wollte. (Vgl. Heidegger, M. Sein und Zeit, 39). 276 Vgl. »Nichtsdestoweniger bleibt ein solches ›Dasein‹ auf diese Art noch ein Seiendes, woraus genau die Kritik erwächst, daß sich kein dem Sein selbst adäquater Seinssinn, von welchem Seienden auch immer, ablesen läßt. Denn selbst das von Heidegger ontologisch herausgestellte ›Dasein‹ läßt nur das Sein des Seienden verstehen.« (Kühn, R. Langeweile und Anruf. Eine Heidegger- und Husserlrevision mit dem Problemhintergrund »absoluter Phänomene« bei Jean-Luc Marion, 145).

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Für Marion ergibt sich daraus folgender Befund: Ließ sich das Vorgehen Heideggers bisher als eine mit neuem Schwung anlaufende Reduktion zur »Sache selbst« interpretieren, so bleibt das Ergebnis in »Sein und Zeit« eigentümlicherweise offen. Zwar bereitet Heidegger die Erscheinung des Seins noch im Sinne der Reduktion vor, indem darüber die Seinsfrage auftritt. Allerdings steht die Phänomenwerdung des Seins in »Sein und Zeit« noch aus. Zieht man diese Aporie in Betracht, dann eröffnet sich nun eine gewaltige Disparität im Denken Heideggers. Dieser hat zu Beginn (Kap. 4.2.1 / 4.2.2.) eine authentisch phänomenologische Frage an die »Sache selbst« gestellt – die nach dem »Sinn von Sein«. Diese Frage ergab sich nach Marion auf dem Weg der Reduktion, die über die Engpässe der Husserlschen Methodik hinausführte. Allerdings scheint für Heidegger das Sein bzw. der Sinn von Sein nicht Phänomen zu werden, wie es der am Anfang von »Sein und Zeit« unterstellte ›Reduktionsplan‹ vorgesehen hatte. Anders gesagt: Heideggers dreiteilige Frage, die im fraglichen Sinn von Sein kulminiert, entsprang dem Bemühen der Reduktion um die Sache selbst. Doch kann Heidegger in »Sein und Zeit« den gesuchten Sinn von Sein (3) nicht zur Erscheinung bringen. Unterstellt man der Daseinsanalytik die Prägung durch die Reduktion im Sinne Marions, dann ergibt sich, dass diese dort jeweils auf der Ebene des Seins des Seienden (2) stehen bleibt. Somit ist hinsichtlich »Sein und Zeit« zu sagen: Heidegger versuchte zunächst zwar, jenem Sinn von Sein bzw. dem ›Sein überhaupt‹ mittels Reduktion auf die Spur zu kommen, musste dabei aber scheitern. 4.2.4. Aporetische Reduktion (II): »Ontologische Differenz« als Verlegenheitslösung Mit dem Befund, dass Heideggers Daseinsanalytik (»Sein und Zeit«) zum mittels Reduktion erfragten »Sinn von Sein« (3) nicht vordringen kann, ist in der Denkentwicklung Heideggers eine beachtliche Lücke zu konstatieren. Möchte Heidegger zum »Sein überhaupt« vordringen, so löst sich dieses Projekt eigentümlicherweise nicht ein. Mit Blick auf die dargelegte Leerstelle in der Phänomenologie Heideggers formuliert Marion folgende These: Statt den erfragten Sinn von Sein weiter zu suchen, drängt sich auf dem weiteren Denkweg Heideggers die ontologische Differenz, als verabsolutierte Ge223 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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dankenfigur, in den Vordergrund. 277 Die ontologische Differenz besetzt plötzlich das Ziel phänomenologischen (Er-)Fragens. Im zeitlichen Umfeld von »Was ist Metaphysik?« beherrscht sie auf einen Schlag die phänomenologische Suche nach den »Sachen selbst«. »A partir de 1928–1929, le mot d’ordre et le fil conducteur des analyses deviendra, de plus en plus expressément, la mise au jour de la différence ontologique; celle-ci jouera, jusqu’à satiété, la fonction canonique de l’Erfragte, ce que l’on cherche à savoir grâce mais aussi au-delà de tout ce que l’on demande à quelque étant que ce soit.« 278 Wenn Heidegger sich dafür entscheidet, die ontologische Differenz als eine das Denken vorrangig beherrschende Größe einzurichten, dann koinzidiert damit die Behauptung, dass das Reflexionsniveau der Seinsfrage in ihr gehalten, ja sogar übertroffen wird. 279 Mit Marion ist aber erst noch zu prüfen, ob sich in der ontologischen Differenz jene aus »Sein und Zeit« stammende Grundfrage nach dem »Sein überhaupt« einlöst, die sich aus der Reduktionsmethode ergab. Ferner fällt wohl die sog. ›Kehre‹ Heideggers mit dem Auftreten der »ontologischen Differenz« 280 weitestgehend zusammen. Deshalb steht mit Marions Frage nach dem Verhältnis von Seinsfrage und ontologischer Differenz die phänomenologische Triftigkeit von Heideggers Denken nach der Kehre insgesamt auf dem Spiel. Zur besseren Übersicht ist auf die argumentative Bedeutung hinzuweisen, die mit dem Auffinden einer Gelenkstelle zwischen beiden Reflexionen verbunden wäre. Geht man davon aus, dass sich das 277 Heideggers Denken der »ontologischen Differenz« scheint mit dem Text »Vom Wesen des Grundes« einzusetzen. Vgl. »Ontische und ontologische Wahrheit betreffen je verschieden Seiendes in seinem Sein und Sein von Seiendem. Sie gehören wesenhaft zusammen auf Grund ihres Bezugs zum Unterschied von Sein und Seiendem (ontologische Differenz. Das dergestalt notwendig ontisch-ontologisch gegabelte Wesen von Wahrheit ist nur möglich in eins mit dem Aufbrechen dieses Unterschiedes.« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 134 f.). 278 RD 116 f. 279 Vgl. »Das metaphysische Fragen nach dem Seiendsein des Seienden, d. h. nach dem, was am schon Seienden das Seiendsein ausmacht, überspringt die vorgelagerte Frage nach dem Sinn von Sein-überhaupt, nach dem Sein als Sein in seiner ontologischen Differenz zum Seiendsein des je schon Seienden.« (Herrmann, F. W. v. Subjekt und Dasein, 25). 280 Vgl. »Die Abhandlung ›Vom Wesen des Grundes‹ entstand im Jahre 1928 gleichzeitig mit der Vorlesung ›Was ist Metaphysik?‹ Diese bedenkt das Nichts, jene nennt die ontologische Differenz.« (Heidegger, M. Vorwort zur dritten Auflage (1949) von »Vom Wesen des Grundes«, in: ders. Wegmarken, GA 9, 123).

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Denken Heideggers auf dem Boden der Phänomenologie bewegt, dann müsste ein Zusammenhang zwischen der ontologischen Differenz und der über die Reduktion ermittelten Seinsfrage herzustellen sein. Ließen sich ontologische Differenz und Seinsfrage aber nicht vermitteln, dann würde Heideggers Eintritt in das Denken der ontologischen Differenz nach Marion den ›Preis der Phänomenologie kosten‹. Genauer: Heidegger würde sich auf der Schwelle zur ontologischen Differenz von der Phänomenologie verabschieden, weil er den über sie mit der Seinsfrage erreichten Stand der Reflexion ignoriert und ein Geschehen als absolut setzt, das ›unter dem Niveau‹ seiner bisherigen Reduktion liegt. 281 Mit Blick auf Marions Projekt scheint sich an dieser Fragestellung, wie vielleicht an keiner anderen Stelle der Argumentation, zu entscheiden, ob eine Verantwortung des Glaubens mit der phänomenologischen Philosophie möglich ist. Denn wenn die Reduktion der Seinsfrage auf die ontologische Differenz phänomenologisch unvermeidbar und kohärent wäre, dann gäbe es zu Heideggers seinsgeschichtlichem Denken nach der Kehre keinen phänomenologischen Ausweg. Dass dieses Denken mit der christlichen Theologie inkompatibel ist, hatte Marion in seinem Frühwerk aber permanent gezeigt. 282 Insofern die ontologische Differenz das unvermeidliche Ziel und Schicksal phänomenologischer Reduktion verkörpern würde, wäre mit der Phänomenologie prinzipiell keine philosophische Glaubensverantwortung zu leisten. Infolgedessen wird Marions Verantwortung des Glaubens vor dem Forum der Phänomenologie alle Kräfte darauf richten müssen, die phänomenologische Inkohärenz der ontologischen Differenz Heideggers und seiner ›Kehre‹ zu demonstrieren. 281 Der ›Heidegger nach der Kehre‹ selber scheint ein zwiespältiges Verhältnis zur Phänomenologie zu haben. Deutlich positioniert er sein eigenes Denken schon nach den ersten Auseinandersetzungen mit Husserl außerhalb der Phänomenologie. Vgl. »Ja, nach der neuesten Veröffentlichung Husserls, die eine temperamentvolle Absage an seine bisherige Mitarbeiter darstellt, werden wir gut tun, künftig nur noch das Phänomenologie zu nennen, was Husserl selbst geschaffen hat und bringen wird.« (Heidegger, M. Hegels Phänomenologie des Geistes, GA 32, 40). Mag ihm dieser Standpunkt auch mehr oder weniger vom Konflikt mit Husserl aufgenötigt worden sein, die Konsequenz ist in jedem Fall, dass der späte Heidegger auf die Phänomenologie wohl wie auf eine ›frühere Geliebte‹ zurückblickt, die entweder ihn oder die er selbst verlassen musste. Umgekehrt ist zu beobachten, dass Heidegger noch 1973 seine bleibende Verbundenheit mit dieser Philosophierichtung bekundet, wenn er einer »Phänomenologie des Unscheinbaren« ausdrücklich das Wort spricht. Vgl. »So verstanden ist die Phänomenologie ein Weg, der hinführt vor … und sich das zeigen lässt, wovor er geführt wird. Diese Phänomenologie ist eine Phänomenologie des Unscheinbaren.« (Heidegger, M. Seminar von Zähringen (1973), in ders. Seminare, GA 15, 372–400, hier: 399). 282 Vgl. Kap. 2.4.

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4.2.4.1. Seinsfrage und ontologische Differenz Zunächst sind Gehalt und Bedeutung der ontologischen Differenz aufzurollen. Die ontologische Differenz thematisiert den Unterschied zwischen Seiendem und Sein. War diese Gedankenfigur materialiter im Frühwerk Heideggers angelegt 283 , so kann sie als Gravitätszentrum des Denkens nach der sog. Kehre gelten, wo Heidegger einen seinsgeschichtlichen Ansatz vertritt. 284 In »Vom Wesen der Wahrheit« von 1930 werden dafür die Weichen gestellt. Es heißt dort: »Ontische und ontologische Wahrheit betreffen je verschieden Seiendes in seinem Sein und Sein von Seiendem. Sie gehören wesenhaft zusammen auf Grund ihres Bezugs zum Unterschied von Sein und Seiendem (ontologische Differenz). Das dergestalt notwendig ontisch-ontologisch gegabelte Wesen von Wahrheit ist nur möglich in eins mit dem Aufbrechen dieses Unterschiedes.« 285 Mit diesen Ausführungen entwirft Heidegger den Zugang zum ursprünglichen Sein als phänomenales Aufbrechen oder Emergenz der ontologischen Differenz. Im sog. ›Emergenzverhalten‹ dieser ontologischen Differenz liegt ferner der Schlüssel zum Verständnis von Heideggers »Seinsgeschichte«. Heidegger argumentiert aus dieser Perspektive so: Die (phänomenologische) Seinsfrage sei an die geschichtliche Entwicklung des Seins zurückgebunden, die sich nach einer metaphysischen und einer zumindest metaphysikkritischen Phase aufteilen lasse. Nun aber sei für diese Aufteilung direkt das Aufbrechen oder Verschlossenbleiben der ontologischen Differenz verantwortlich. So lasse sich die Geschichte des Seins als Geschichte der ontologischen Differenz nachvollziehen. Demnach habe zu gelten: Während sich im Kontext metaphysischen Denkens die ontologische Differenz als Differenz nicht äußern kann und unbeachtet bleibt, steht das gegenwärtige Denken vor der Aufgabe, die Differenz als solche in den Blick zu bekommen, dadurch den metaphysischen Ballast im Denken abzulegen und das Sein ursprünglich-different zu denken. So legt Heidegger in »Identität und Differenz« fest: »Sein denken wir demnach nur dann sachlich, wenn wir es in der Differenz mit dem Seienden denken und

283 284 285

Vgl. v. a. Marx, W. Heidegger und die Tradition, 131. Vgl. RD 189 unten. Heidegger, M. Vom Wesen der Wahrheit, in: Wegmarken, GA 9, 134 f.

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dieses in der Differenz mit dem Sein. So kommt die Differenz eigens in den Blick.« 286 In diesem Kontext ist vor allem zu beachten, dass nach Heidegger die ontologische Differenz das »sachliche Denken des Seins« vermittelt. Erst nach der Überwindung der Metaphysik, also wenn die Differenz als solche erscheint, werde das Sein authentisch zur »Sache des Denkens«. Ferner folgt daraus, dass die ontologische Differenz nur als »Vergessenheit« denkbar sei. Denn genau nur in dieser paradox-verschobenen Denkform bewahre sich die Äußerung der (ontologischen) Differenz als Differenz 287 und das Denken falle nicht in das Stadium der Metaphysik zurück. Denn das metaphysische Denken sei weiterhin von der Indifferenz zwischen Sein und Seiendem bestimmt. Das bedeutet aber präziser noch, dass dort das Sein als etwas direkt Ergreifbares und sozusagen ›Unverschobenes‹ entworfen werde: »Wir sprechen von der Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden. Der Schritt zurück geht vom Ungedachten, von der Differenz als solcher, in das zu-Denkende. Das ist die Vergessenheit der Differenz. Die hier zu denkende Vergessenheit ist die von der lhjh (Verbergung) her gedachte Verhüllung der Differenz als solcher, welche Verhüllung ihrerseits sich anfänglich entzogen hat.« 288 Eine im Letzten weitere Gestalt der »ontologischen Differenz« liegt in Heideggers »Ereignis« vor. Das »Ereignis« wird von Heidegger als der Ort oder Moment entworfen, an dem sich das Sein in Gebungen dem Denken übereignet. Obzwar Heidegger sich hier vom Sein als Horizont und höchstem Begriff gelegentlich distanziert 289 , wird die Gebung nicht in ihrer Reinheit reflektiert. Vielmehr verkörpert das »Ereignis« die gebende Instanz, in der sich als solche der Seinshorizont wiederholt. Im Vergleich zur »donation« repräsentiert deshalb die Ereignisgebung Heideggers nur eine Variation oder Substitution der geschichtlich waltenden »ontologischen Differenz«. 290 Anders gesagt: Heideggers Vgl. Heidegger, M. Identität und Differenz, 53. Heidegger spricht etwas umständlich vom »entbergend-bergenden Austrag« (Vgl. Heidegger, M. Identität und Differenz, 57). 288 Ebd., 40 f., vgl. Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 322. 289 Vgl. »Das Eigentümliche des Seins ist nichts Seinsartiges. Denken wir dem Sein eigens nach, dann führt uns die Sache selbst in gewisser Weise vom Sein weg, und wir denken das Geschick, das Sein als Gabe gibt.« (Heidegger, M. Zur Sache des Denkens, 10). 290 Vgl. »Denn so wie das ›Es gibt‹ deutlicher das Sein nennt, das nicht ›ist‹, ebenso substituiert sich das Ereignis dem Es des ›Es gibt‹, d. h. anders gesagt, folgt der Substitution des Seins durch die Gebung eine Substitution dieser Gebung durch das Ereignis.« (Kühn, R. Zur Phänomenalität des »Es gibt« als reines Sich-Geben, 220). 286 287

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Ereignisdenken verkörpert für Marion keinen Fortschritt im Denken der phänomenalen »donation«, weil hier die Ursprünglichkeit von »donation« erneut verdeckt und die phänomenologisch ohnedies zweifelhafte »ontologische Differenz« verfestigt wird (»L’Ereignis, un recouvrement« 291 ). »Heidegger ne reconnaît la donation au-delà ou hors de l’être, que pour la méconnaître immédiatement, en supposant qu’elle ne [se] donne encore qu’en deça de l’Ereignis, et sous son égide. Donation certes, mais de brève transition entre être et Ereignis, simple relais, provisoire.« 292

Marion stellt nun die Frage, ob dieses geschichtliche Walten der ontologischen Differenz als Einlösung der noch offenen Seinsfrage zu bestimmen ist, die ja ihrerseits unter Beachtung der phänomenologischen Reduktion erarbeitet wurde. Bei dieser Überprüfung ist zu berücksichtigen, dass Heidegger erstens die ontologische Differenz als absolutes Konfigurationsgeschehen des Seins einrichtet und sie unabhängig von den Koordinaten aus »Sein und Zeit« auffasst. Zweitens: Greift man von der Seinsfrage her auf Heideggers ontologische Differenz vor, so scheint sich zumindest auf den ersten Blick die Seinsfrage hier zu erfüllen, weil das geschichtliche Walten der ontologischen Differenz das gesuchte Sein vermittelt. Offensichtlich stehen also beide Theorieblöcke, Seinsfrage und ontologische Differenz, in enger thematischer Berührung zueinander, so dass ihnen eine Art ›Frage-Antwort-Schema‹ zu unterstellen wäre. Doch ist drittens dieser Übergang noch problematisch. Denn mit Marion wäre nicht hauptsächlich auf der Frage zu insistieren, ob und wie die ontologische Differenz mit dem bisherigen Denken Heideggers in Einklang zu bringen ist. 293 Entscheidend sei vielmehr, ob die ontologische Differenz das Niveau der Seinsfrage erreicht, die eingangs über die phänomenologische Reduktion erschlossen wurde. Wäre dies der Fall, dann allein wäre die ontologische Differenz als ein weiterer bzw. gar der letzte Schritt von Reduktion berechtigt. 294 In dieser Situation steht für Marion vor allem das Selbstver291 ED 54. Vgl. Kühn, R. Zur Phänomenalität des »Es gibt« als reines Sich-Geben, 217, s. a. die kritischen Beobachtungen in: Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 61. Eine Parallelität zwischen dem Ereignisdenken und der Marionschen Konzeption vermutet: Valentin, J. Rez. Tobias Specker: Einen anderen Gott denken?, 108. 292 ED 58. 293 Diese Frage erübrigt sich ja durch Heideggers Selbstaussagen zur »Kehre« seit seinem Humanismusbrief von 1946. (Vgl. v. a. Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 327 f.). 294 Vgl. »Tout écart entre la différence ontologique et le cours fluvial de la pensée, tout retard entre la différence ontologique et la mise en œuvre de la percée auraient, à l’évidence, valeur de symptômes d’une incohérence foncière de toute l’entreprise.« (RD 164).

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ständnis der Phänomenologie auf dem Spiel. Denn die Frage nach dem Sinn von Sein ging aus dem Bemühen der Reduktion um die »Sache selbst« hervor. Ließe sich diese Frage aber von der ontologischen Differenz abdecken, dann würde sich die Phänomenologie in ihr absolutes Walten auflösen können. Man wird also folgende Möglichkeiten nun ins Auge fassen müssen: Einerseits könnte die ontologische Differenz phänomenologische Tragbarkeit, ja Finalität beanspruchen, wenn sie aus der reduktiv ermittelten Seinsfrage abzuleiten wäre. Unter dieser Voraussetzung könnte man die ontologische Differenz als das phänomenologisch legitime Substrat bzw. Resultat der Seinsfrage, genauer noch: als die tiefste, von Heidegger erkannte Bestimmung der Phänomenologie überhaupt betrachten. Für den Fall aber, dass es andererseits nicht gelänge, die ontologische Differenz mit der Seinsfrage zur Deckung zu bringen, wäre zweierlei zu konstatieren: Erstens würde sich die Konzeption der ontologischen Differenz nicht mehr auf dem Boden der Phänomenologie bewegen. Besser gesagt, sie wäre überhaupt nicht als Fortschritt hinsichtlich der phänomenologischen Aufgabenstellung zu bewerten, zu den »Sachen selbst« zurückzukehren. 295 Folglich böte Heideggers Denken nach der Kehre keine methodisch nachvollziehbare Grundlage und wäre zu überwinden. Zweitens bliebe aber die Erscheinung des Seins, wie sie von der Seinsfrage gesucht wurde, ein noch ausstehendes Desiderat der Phänomenologie und ihrer reduktiven Methode. 4.2.4.2. Die Urform der ontologischen Differenz im Verständnis des »Daseins« Bei der Frage nach ihrem Verhältnis zur Seinsfrage ist zunächst der Ursprungsort der ontologischen Differenz zu bestimmen. Marion macht diesen in einem ersten Schritt in Heideggers Daseinsanalytik ausfindig, wo Heidegger das Sein des »Daseins« vom Sein der anderen Seienden differenziert. 296 Will man aber die ontologische Differenz in einen Zusammenhang mit »Sein und Zeit« bringen, dann steht man vor gewaltigen Schwierigkeiten. 297 Heidegger selber hat 295 Vgl. »Une émergence, sans doute progressive, peut-elle convenir jamais à une percée?« (Ebd.,166). 296 Vgl. z. B. Heidegger, M. Sein und Zeit, 12. 297 Marion hat diese Untersuchungen zum ersten Mal vorgelegt in: Marion, J.-L.

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diese Möglichkeit abgewiesen und das erste Auftreten der ontologischen Differenz in der 1930 erschienenen Schrift »Vom Wesen des Grundes« situiert. 298 Die ontologische Differenz wäre demnach noch nicht im Kontext von »Sein und Zeit« zu situieren. 299 Während in der Heideggerforschung die Meinungen darüber auseinander gehen, ob im Umfeld von »Sein und Zeit« bereits die ontologische Differenz auszumachen ist 300 , bezieht Marion klare Stellung: Es ist nach ihm nicht zu verkennen, dass die ontologische Differenz schon im früheren Œuvre Heideggers auftritt und darum auch für »Sein und Zeit« vorauszusetzen ist. Auf alle Fälle liegt die ontologische Differenz in dieser Schaffensphase Heideggers ›nominell‹ und zwar vorwiegend als ontologischer Unterschied zwischen dem »Dasein« und allen anderen Seienden vor. Durch einen Verweis auf Heideggers »Grundprobleme[n] der Phänomenologie« von 1927 lässt sich verdeutlichen, dass die Begriffe »ontologischer Unterschied« und »ontologische Differenz« in der fraglichen Werkphase Heideggers und ihrer spezifischen Bedeutung austauschbar sind. 301 Nach dieser Abhandlung Différence Ontologique ou Question de l’être: un indécidé dans ›Sein und Zeit‹, 602– 645. 298 Vgl. Heidegger, M. Vorwort zu »Vom Wesen des Grundes«, in: ders. Wegmarken, GA 9, 123. Dass die »Kehre« mit dem expliziten Denken der »ontologischen Differenz« zusammenhängt, geht aus dem »Brief über den Humanismus« hervor: Vgl. Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 328. 299 Vgl. »On conclura donc, sur la parole de Heidegger mais surtout sur l’évidence des faits textuels que la différence ontologique ne se trouve nommée qu’en 1928/1929, après donc Sein und Zeit qui apparaîtrait donc ainsi comme le seul des textes majeurs de Heidegger étrangers à la difference ontologique.« (RD 167). 300 Genau genommen wäre darin die Gretchenfrage der Heideggerforschung zu sehen: Verortet man die »ontologische Differenz« bereits vor 1928, dann nimmt man den objektiven Textbestand zur Kenntnis. Soll die »ontologische Differenz« jedoch erst in »Vom Wesen der Wahrheit« auftreten, dann bewegt man sich lediglich im Fahrwasser von Heideggers Selbstinterpretation. 301 Von dieser Beobachtung her wäre die Meinung widerlegt, Marion setze einfach die französische Übersetzung von »ontologischer Unterschied«, die natürlich »différence ontologique« ergibt, voraus. Vgl. nämlich: »Darin liegt zugleich die Möglichkeit, den Unterschied zwischen dem in der Entdecktheit entdeckten Seienden und dem in der Erschlossenheit erschlossenen Sein zu fassen, d. h. die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem, die ontologische Differenz zu fixieren.« (Heidegger, M. Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24 102), »Die Frühschriften waren bereits von der Einsicht bestimmt, daß es den Unterschied von Sein und Seiendem ›gibt‹. Dieser Unterschied, der dort die ›ontologische Differenz‹ hieß, wurde nur in seinem Bezug zum Dasein und zu den wesenhaften Weisen behandelt, in denen es für das Dasein ›Wahrheit gibt‹. […] Demgegenüber geht es später darum, wie der ›Unterschied von Sein und

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wohnt die ontologische Differenz dem »Dasein« latent inne. Sie kann aber dort auch ›ausdrücklich‹ problematisch werden. »Der Unterschied von ›Sein und Seiendem‹ ist vorontologisch, d. h. ohne expliziten Seinsbegriff, latent in der Existenz des Daseins da. Als solcher kann er zur ausdrücklich verstandenen Differenz werden« 302 Wird nach Marion nun diese Urform der ontologischen Differenz ignoriert bzw. ihre Aussagekraft hinsichtlich der späteren, sozusagen kanonischen ontologischen Differenz von vornherein negativ beurteilt, so hängt man damit nur Heideggers späterer Selbstdarstellung an und reproduziert sie innerhalb der Forschung. Angesichts der Textbefunde wäre die Aufteilung zwischen einer ›kanonischen‹ und einer ›vorreflexen‹ Frühform der ontologischen Differenz aber höchst artifiziell. Überdies dürfte man aus einer viel gewichtigeren, nun aber spezifisch phänomenologischen Erwägung heraus nicht apodiktisch auf die Ausklammerung der ontologischen Differenz aus dem Werkkontext von »Sein und Zeit« drängen: Unterschwellig würde damit nämlich das Eingeständnis koinzidieren, dass das in »Sein und Zeit« angekündigte Projekt Heideggers, zum »Sein« in der »Sache selbst« zu führen, phänomenologisch undurchführbar wäre. War nämlich, wie Marion zuerst zeigte, der Grundansatz von »Sein und Zeit« mit der phänomenologischen Reduktion zu vereinbaren, so träfe das Gegenteil für die ontologische Differenz zu, würde man ihre Relevanz in diesem Kontext prinzipiell ablehnen. Eine kritisch-objektive Bestandsaufnahme der ontologischen Differenz müsste ihre »véritable situation […] dans Sein und Zeit« 303 also schon allein deswegen zur Kenntnis nehmen, weil man erst über diese Vernetzung entscheiden könnte, ob die ontologische Differenz das phänomenologisch legitime Resultat der dort gestellten Seinsfrage wäre. Da sich ja, wie zu sehen war, die Seinsfrage aus einer intensivierten Reduktion zugunsten der »Sache selbst« ergab, würde allein eine kohärente Rückbindung der ontologischen Differenz an sie deren phänomenologische Legitimität bestätigen können. Eine solche phänomenologisch kohärente Rückbindung würde aber einen neuen Schritt der Reduktion Seiendem‹ waltet. Der ›einzigartige Sachverhalt‹, dass und wie aus dem Geschehen der Differenz ›Sein‹ das ›Seiende‹ ermöglicht, wird die Sache seines Denkens.« (Marx, W. Heidegger und die Tradition, 131). 302 Heidegger, M. Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, 454. 303 RD 174.

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»zu den Sachen selbst« bedeuten: Die Seinsfrage würde sich darin auf die ontologische Differenz und ihr absolutes Walten zurückführen lassen. Damit stellt sich aber klar die Aufgabe, jene in »Sein und Zeit« virulenten Frühformen der ontologischen Differenz bei ihrer Bewertung zu berücksichtigen. Zu beobachten ist, dass der Begriff »ontologischer Unterschied« eine maßgebliche Leitfunktion in der Theorieentwicklung von »Sein und Zeit« innehat. Die ontologische Differenz gründet zuerst im »Dasein«. Sie besteht genauer darin, dass das »Dasein« im Unterschied zu allen anderen Seienden je schon Seinsverstehen hat und nach dem ›Sein überhaupt‹ fragen kann: »Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderen Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.« 304 Marion kann diesen Unterschied aus den genannten Gründen mit der ontologischen Differenz synonym setzen und darin ihre bestimmende Urform sehen: »[…] entre l’être du Dasein et l’être des autres étants se dessine un rapport nommé, de fait, différence ontologique.« 305 Unter der Oberfläche wirken in dieser Unterscheidung Einsichten Husserl weiter. Trotz seiner ontologischen Relecture rekurriert Heidegger auf Axiome des Begründers der Phänomenologie, die in der Auseinandersetzung mit der »ontologischen Differenz« zu berücksichtigen wären. Denn bereits für Husserl und sein Vorgehen der Reduktion stand fest: »Ein grundwesentlicher Unterschied tritt also hervor zwischen Sein als Erlebnis und Sein als Ding. […] Darin bekundet sich eben die prinzipielle Unterschiedenheit der Seinsweisen, die kardinalste, die es überhaupt gibt, die zwischen Bewusstsein und Realität.« 306 Klar ist, dass erst Heidegger die tiefere Potentialität dieses Unterschiedes ausschöpft, indem er sie wirklich als »ontologischer« und nicht einfach »ontischer« Unterschied gedeutet hat. Setzt man Husserl und Heidegger in dieser Frage einander gegenüber, so wäre die frühe »ontologische Differenz« Heideggers als Aufarbeitung bzw. Bewusstmachung einer nur oberflächlichen und ontischen Unterscheidung Husserls zu bestimmen. Damit wäre aber aufs Neue Heidegger, M. Sein und Zeit, 12. RD 176. 306 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 87 f. 304 305

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die Beteuerung Heideggers fraglich, die »ontologische Differenz« werde erst seit 1928 wirklich gedacht. Dass Heidegger mit seinem ›frühen‹ »ontologischen Unterschied« einen entscheidenden Kontrapunkt zu Husserl setzt, würde diese Lesart völlig ignorieren: »Seul cet impensé husserlien pouvait susciter l’effort de pensée heideggérien. Dès l’origine, il s’agit, entre Husserl et Heidegger, de penser l’impensé de la difference – qu’elle se qualifie comme ontologique.« 307 Infolgedessen weist sich das »Dasein« als Ursprungsbereich der ontologischen Differenz aus, weil sich ja das »Dasein« durch eine ontologische Differenz von allen anderen Seienden abhebt: »Comment ne pas supposer que, dès Sein und Zeit, c’est à l’explicitation de la différence ontologique, qui lui demeure toujours au moins latente, que travaillait le Dasein en son analytique ?« 308 Das »Dasein« hat als einziges Seiendes Seinsverstehen und kann die Seinsfrage stellen. Dadurch ist es ontologisch different von allen anderen Seienden. 309 Das »Dasein« vollzieht kraft des in ihm veranlagten Seinsverstehens jeweils schon die ontologische Differenz. Oder: Die ontologische Differenz geschieht ursprünglich im »Dasein«. Auf den Punkt gebracht: Weil das »Dasein« die Frage nach dem Sein überhaupt zu stellen vermag, wäre die ontologische Differenz als sein Wesensgehalt zu bestimmen: »Le Dasein, remarquable en ce qu’il est, à titre d’étant, ontologiquement, joue donc à la charnière et au pli de l’être et de l’étant, mieux est en personne ce pli et cette charnière.« 310 4.2.4.3. Die ontologische Differenz als Unterbietung der Seinsfrage Sieht man Vorkommen und Bedeutung der ontologischen Differenz in »Sein und Zeit« durch, so ist festzustellen, dass sich die Seinsfrage nicht auf sie reduzieren lässt bzw. dass ihr gegenüber von einem ontischen Primat der Seinsfrage auszugehen ist. Erstens weist Marion darauf hin, dass der Ausdruck »ontologischer Unterschied« in »Sein und Zeit«, als Frühform der sog. kanoRD 189. Ebd., 172. 309 Vgl. z. B: »Zunächst gilt es nur, den ontologischen Unterschied zwischen dem InSein als Existenzial und der ›Inwendigkeit‹ von Vorhandenem untereinander als Kategorie zu sehen.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 56). 310 RD 181. 307 308

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nischen ontologischen Differenz, ausschließlich der Unterscheidung zweier ontologischer Modalitäten von Seiendem dient. Er bleibt lediglich auf der Ebene von Seiendheit bezogen. Fraglich ist mit ihm allein das Sein eines bestimmten Seienden im Unterschied zum Sein eines anderen bestimmten Seienden. »Ontologischer Unterschied« problematisiert dagegen nie den Gegensatz zwischen dem »Sein des Seienden« und dem »Sein überhaupt« bzw. dem »Sinn von Sein«. Genau auf diese Kluft sollte sich Heidegger zufolge aber die als kanonisch anerkannte »ontologischen Differenz« beziehen. 311 Anders der »ontologische Unterschied« in »Sein und Zeit«: »Au contraire de la différence ontologique ultérieure, le rapport de l’étant à l’être se trouve ici dédoublé: il s’agit toujours de l’être d’un des deux types d’étant et jamais de l’étant en général face à l’être en général.« 312 Von diesem ersten Befund aus ist die ontologische Differenz als Unterbietung der Seinsfrage einzustufen. Zweitens ist folgende Möglichkeit zu bedenken: Liegt der ontologische Unterschied aus »Sein und Zeit« zwischen den Seinsarten von zwei Seienden (»Dasein« und andere Seiende), dann könnte ja dieser »ontologische Unterschied« dadurch mit der ›Seinsfrage‹ kongruent gemacht werden, dass das seiende »Dasein« über die Seinsfrage, wie über eine seiner Modalitäten, verfügt. Die als Antwort auf die Seinsfrage gedachte Gestalt der ontologischen Differenz wäre scheinbar erreicht, weil dann mit dem ontologischen Unterschied von »Dasein« und anderen Seienden die Seinsfrage einfach als Modalität des »Daseins« inkludiert wäre. Dieser Interpretation setzt Marion aber entgegen, dass auch nach Heidegger selbst der ganze Gehalt der Seinsfrage nicht erschöpfend behandelt sein würde, wenn man ausschließlich den ontologischen Unterschied des »Daseins« auslegt. Zum Einen käme die Seinsfrage dann doch wieder nur als Teil von Seiendheit in den Blick und würde ihrer Allgemeinheit ermangeln, die die kanonische »ontologische Differenz« voraussetzt: »cette restriction du champ ontique de la question de l’être ne trahit-elle pas violemment ou que l’étantité en général n’a pas encore été atteinte, 311 Vgl. »Ontische und ontologische Wahrheit betreffen je verschieden Seiendes in seinem Sein und Sein von Seiendem. Sie gehören wesenhaft zusammen auf Grund ihres Bezugs zum Unterschied von Sein und Seiendem (ontologische Differenz). Das dergestalt notwendig ontisch-ontologisch gegabelte Wesen von Wahrheit ist nur möglich in eins mit dem Aufbrechen dieses Unterschiedes.« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 134 f.). 312 RD 192 f.

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ou que l’être questionne encore dans des limites trop étroites.« 313 Zum Anderen wäre mit der Daseinsanalytik, d. h. in der Sichtung des ontologischen Unterschiedes von einem Seienden, das Projekt von »Sein und Zeit« zum »Sinn von Sein« zu gelangen, abgeschlossen. Der fragmentarische Zustand dieser Untersuchung, der in Heideggers Strukturplan am Anfang von »Sein und Zeit« manifest ist 314 , wäre von hier aus einfach keiner mehr. Umgekehrt indiziert er, dass die Seinsfrage, die vom »Dasein« zwar gestellt wird, über die Analyse seiner Seinsstrukturen hinausgreift. In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, dass Heidegger die »Zeitlichkeit« als den ontologischen Sinn des »Daseins« bestimmt: »Als der Sinn des Seins desjenigen Seienden, das wir ›Dasein‹ nennen, wird die Zeitlichkeit aufgewiesen.« 315 Würde sich die Seinsfrage von der ausschöpfenden ontologischen Analyse des »Daseins« her beantworten, dann wären Heideggers zweifelnde Fragen am Schluss von »Sein und Zeit« einfach zu bejahen: »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« 316 Damit weist Marion auf, dass auch die ontologische Differenz, die das Denken Heideggers nach der Kehre bestimmt, nicht den phänomenologischen Umfang der Seinsfrage abdeckt. Dies setzt jedoch ihre spätere kanonische Form (z. B. aus »Identität und Differenz«) unberechtigterweise voraus. Nun hat sich aber gezeigt, dass sich die ontologische Differenz nicht auf die Seinsfrage reduzieren lässt. Ihr nachgeordnet liegen in »Sein und Zeit« nur ontologische Unterschiede vor, die zwischen dem »Dasein« und den anderen Seienden, seinem Sein, später zwischen dem Sein des »Daseins« und der Zeit stehen. Entsprechend der Seinsfrage aber wird »Sein überhaupt« in diesem Kontext nicht problematisiert. So ist die ontologische Differenz inkongruent mit der Seinsfrage: »la difference ontologique, sous l’emprise de la question de l’être, ne disparaît qu’en se démulitpliant en deux différences, également inadéquates à elle: du Dasein à son être, de cet être à la temporalité.« 317 Von diesem Ergebnis her stellt Marion fest, dass Heidegger am Beginn von »Sein und Zeit« in drei Schritten eine phänomenologisch 313 314 315 316 317

RD 195. Vgl. Heidegger, M. Sein und Zeit, 39. Heidegger, M. Sein und Zeit, 17. Ebd., 437. Vgl. die Interpretation Herrmann F. W. v. Subjekt und Dasein, 82. RD 196 f.

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korrekte, da der Reduktionsmethode verbundene Frage gestellt hatte: die nach dem Sinn von Sein. Jedoch steht eine Antwort auf sie noch aus: Einmal blieb »Sein und Zeit« Fragment. Dann unterbietet auch die ontologische Differenz, die das spätere Denken Heideggers bestimmt, jenen in Frage stehenden Sinn von Sein. Heidegger hat folglich mit der Seinsfrage einen Problembereich eröffnet, der mit der Reduktionsmethode im Sinne Marions verträglich war. Deren phänomenologisch-reduktive Beantwortung steht aber noch aus. 318 So klingt bereits an, dass nach Marion die dargestellten Aporien von der Frage her angegangen werden müssen: Welche weitere Behandlung widerfährt bei Heidegger der phänomenologischen Reduktion? 4.2.5. Zwischenreflexion: Unterwegs zu einer rehabilitierten Reduktion Angesichts der Tatsache, dass Heidegger nicht zum ursprünglich erfragten Sinn von Sein vordringen kann, legt Marion sein Augenmerk auf die von ihm reformulierte Reduktion und fragt, in welche Situation diese bei Heidegger geraten ist. Ursprünglich ließ sich das Denken Heideggers ja als phänomenologischer Vorstoß, der über Husserl hinausging, bestimmen. Mit Marion: Heideggers Auslegung des Phänomens als Seiendes, dem darauf die Frage nach dem Sein des Seienden und schließlich die Frage nach dem Sinn von Sein problematisch wurden, war geleitet von der Bemühung der Reduktion, die »Sache selbst« zu erschließen. Dass an der »Sache selbst« die Frage nach dem Sinn von Sein, bzw. nach dem Sein überhaupt aufbrach, war als Fortschritt der Reduktion einzustufen. Nach Marion ist allerdings zu bezweifeln, ob Heidegger den tatsächlichen Umfang durchschaut hat, der mit der Frage nach dem Sinn von Sein verbunden war. Wäre er sich nämlich darüber bewusst geblieben, dass er mittels phänomenologischer Reduktion zu dieser Frage vorstieß, dann hätte dies automatisch zur Relativierung seines Seinshorizonts in methodologischer Hinsicht geführt. 319 Wenn Marion zufolge zutrifft, dass mit der Reduktion die 318 Vgl. »le ›retour aux choses mêmes en question‹ conduit-il au ›phénomène d’être‹, l’être se donne-t-il comme un phénomène, voire comme la plus radical des phénomènes selon la plus radicale des donations?« (Ebd., 250). 319 So müsste nach Marion eine »primauté ontique de la question de l’être comme interrogation« (Ebd., 198) gelten, die sich der Reduktion verdankt.

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Seinsfrage aufbrach, dann greift Reduktion nämlich immer schon über ein bloßes ›Verstehen von Sein‹ hinaus. 320 Sie intendierte ja über diesen Ausgriff die phänomenale Ankunft von Sein überhaupt. Weil mit der Seinsfrage also das Sein überhaupt fraglich wird, kann das Seinsverstehen auch nicht als äußerste Bestimmung der Reduktion gelten. Vielmehr markiert sich in der Frage nach dem Sein überhaupt die Potentialität der Reduktion, in ein Jenseits des Seins aufzubrechen und über dieses die Ankunft des erfragten Sinnes von Sein (3) zu sichten. Jedenfalls kann, nachdem in der Reduktion die Frage nach dem Sein überhaupt bzw. nach dem Sinn von Sein aufgebrochen ist, das Sein nicht mehr den bestimmenden Horizont der Reduktion bilden. Im Gegenteil: Die Reduktion zeigt sich nun als eine (vom Sein) autarke Methode, die selbst noch ›Sein überhaupt‹ anfragen bzw. fordern kann. Marion behauptet, dass in Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein allein voranzukommen wäre, wenn die Reduktion als (gegenüber dem Sein) autonome Methode feststeht. Um im Rahmen der Phänomenologie zum »Sinn von Sein« vorzustoßen, hat man dann die Reduktion als eine vom Sein autarke Methode zu bemühen. Doch darin versagt der Zugang Heideggers. Dieser verbaut sich den Weg zum Sinn von Sein, weil er sozusagen die Reduktion als eine vom Sein bereits abhängige Methode entwickelt. Dies widerspricht aber der Bedeutung der Seinsfrage, insofern diese nach Marion über die Reduktionsmethode erschlossen wurde. Wenn Heidegger umgekehrt versucht, den Sinn von Sein über die Daseinsanalytik zu finden, dann würde er dadurch die Reduktion auf ein primäres Seinsverstehen positionieren. Allgemein gesprochen: Immer möchte sich Heidegger die Frage nach dem ›Sein überhaupt‹ durch das je schon vorliegende Seinsverstehen beantworten lassen. Dadurch eröffnet sich aber eine Aporie, die Marion zufolge nur durch eine Rückbesinnung auf die phänomenologische Reduktion behoben werden kann.

320 Von daher stünde bereits die Seinsfrage außerhalb des Seins: Vgl. »Il semble donc difficile d’identifier la Seinsfrage avec un étant, même l’étant privilégié.« (Ebd., 295, Anm. 82).

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4.2.6. Descartes und die phänomenologische Revitalisierung der Reduktion In der Mitte von »Réduction et Donation« unterzieht Marion das Verhältnis von Heideggers »Dasein« zum »Ego cogito« Descartes’ einer Relecture. Diese Untersuchung, die im Folgenden zu interpretieren ist, hat zum Ergebnis, dass das »Dasein« der konstitutiven Funktionalität des »Ich denke« weiterhin verpflichtet ist. Doch gehört es zur Eigenart dieser Abhandlung, dass in ihr der Reduktionsbegriff »operativ verschattet« 321 bleibt, der ansonsten die Argumentation Marions bestimmt. Zu fragen wäre deshalb, welche Bedeutung diese Kritik des »Daseins« für den Gesamtaufbau der Marionschen Schrift und für die Reduktionsmethode im Speziellen hat, auf deren Beachtung Marion bislang insistierte. Angesichts dessen stehen zunächst zwei Interpretationsmöglichkeiten zur Wahl: Entweder man lässt die Frage nach der Reduktion hier außen vor und sieht darin einen Vorgriff auf die noch nachzuweisende Ursprünglichkeit von Gebung gegenüber dem Sein. Demnach würde Marion Heidegger an dieser Stelle dafür kritisieren, dass dessen »Daseins«-Begriff, analog zum »Ego cogito« Descartes’, gegenüber der Phänomengebung eine konstitutive Funktion behält und darum in seinem Sinne als nicht ursprünglich genug abzulehnen wäre. 322 Oder man hält auch an dieser Stelle die Reduktionsfrage für leitend. Entsprechend dieser Deutung würde Marion über die nachgewiesene Virulenz des »Ego cogito« im »Dasein« die Rehabilitation der Reduktionsmethode gegenüber ihrer Ausdünnung durch das Sein / Seinsverstehen vorbereiten. Damit wäre aber der Weg gebahnt, der zum Ausbruch der Reduktion aus dem Seinsbezug in die reine Gebung hineinführt, womit die Argumentation von »Réduction et Donation« beschlossen wird. Bei genauerem Zusehen ergänzen beide Lesarten einander. 323 Luft, S. Rez. Reduction and Givenness, 74. Insbesondere mit Blick auf Marions spätere Kritik am transzendentalen Ego legt sich diese Interpretation nahe: »L’analytique du ›Dasein‹ retrouve ainsi, au plus près de la familiarité, à partir pourtant du soin qui s’en sépare au plus loin, l’avatar métaphysique de la subjectivité constituante.« (Marion, J.-L. Le sujet en dernier appel, 82). vgl. »Les apories du ›sujet‹ hantent toujours le Dasein.« (ED 360). 323 Vgl. ähnlich »Das ›Dasein‹ bleibt nicht nur trotz aller anderslautenden Bemühungen von der Frage nach dem Ich geprägt, sondern das ›Seinsphänomen‹ selbst erscheint nie, so dass eine Phänomenologie des Sich-nicht-Zeigenden das Widersprüchliche ihres Programms offenbart.« (Kühn, R. Rez. Jean-Luc Marion, Réduction et Donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, 402 f.). 321 322

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Wenn, wie Marion intendiert, die Gebung, und nicht das Sein, als ursprünglicher Horizont der Phänomene zu erkennen ist, müsste erst die konstitutive Funktion des »Ego cogito« im »Dasein« als Positivum herausgestellt werden. Darauf aufbauend wäre die Reduktionsmethode als vom Sein autonome innerhalb der Daseinsanalytik zu rehabilitieren. Mit deren Hilfe wäre dann das Sein zu fokussieren und dessen ursprünglichere Gebungsstruktur zu erkennen. Auf dieser Fährte bewegt sich die folgende Interpretation. 4.2.6.1. Die Daseinsanalytik als subversive Reduktion Man kommt schnell zu dem Befund, dass für Heideggers Schwierigkeit, die methodische Reduktion in Richtung der Seinsfrage weiter zu verfolgen, seine Konzeption der Daseinsanalytik verantwortlich, ja ausschlaggebend ist. Hält man mit Marion daran fest, dass bei Heidegger die Reduktionsmethode virulent ist, dann würde dieser in »Sein und Zeit« die Reduktion gewissermaßen dazu nötigen, sich als Daseinsanalytik zu gestalten. Daraus folgt: War die Reduktion aufgebrochen, um der »Sache selbst« näherzukommen, so scheint es ihrer eigenen Bewegung zu verdanken, dass sie sich nun als »Dasein« selbst befragen muss. Denn die ihr entsprungene Frage nach dem »Sinn von Sein« scheint nach Heidegger nur über die Sichtung des »Daseins« anzugehen zu sein, weil, so die Heideggersche Begründung, das »Dasein« je schon Verstehen von Sein ist. 324 Da das »Dasein« aber Verstehen von Sein ist, erweist es sich als Ausgangspunkt und zugleich thematischer Ort der Seinsfrage. 325 Heidegger ist überzeugt, dass die Seinsfrage ursprünglicher noch zum »Dasein« gehört und deswegen dort allein zu behandeln sei: »Die Seinsfrage ist […] nichts anderes als die Radikalisierung einer zum ›Dasein‹ selbst gehörigen Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses.« 326 Aus dem Blickwinkel Marions würde dies aber bedeuten, dass die Reduktion in der Daseinsanalytik ihr Seinsverstehen analysieren müsste, um zum Erscheinen von ›Sein überhaupt‹ zu gelangen. So 324 Vgl. »Das Dasein […] ist dadurch ontisch ausgezeichnet […], dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.« (Heidegger, M. Sein und Zeit. 12). 325 Vgl. »Das Dasein soll im Ausgang der Analyse […] in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist aufgedeckt werden. Diese Indifferenz der Alltäglichkeit ist nicht nichts, sondern ein positiver phänomenaler Charakter dieses Seienden.« (Ebd., 43. (Zweite Hervorh. / T. A.)). 326 Ebd., 14 f.

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kommt es zu folgender Situation: Zum einen eröffnete sich der Reduktion ein phänomenaler Tiefenbereich: das ›Sein überhaupt‹ bzw. der »Sinn von Sein«, der zur Frage steht. Zum anderen gilt nach Heidegger, dass am Ursprung der Seinsfrage das »Dasein« steht, das je schon Seinsverstehen ist. Die Reduktion ist demnach als Daseinsanalytik fortzusetzen, weil zur Bearbeitung der Seinsfrage das Seinsverstehen des Daseins erhoben werden müsste. Wenn Heidegger aber das ursprüngliche Seinsverstehen des »Daseins« als heuristischen Leitfaden für das Auffinden von »Sein überhaupt« einsetzt, dann würde er in den Augen Marions damit die Reduktion als selbständige Methode außer Kraft setzen. Genauer: Durch Heideggers Einsetzung der Daseinsanalyse als die Seinsfrage »vorbereitende Fundamentalanalyse« 327 wird die Reduktion auf ein ursprüngliches Seinsverstehen gegründet und das heißt auf eine ontisch-ontologische Basis gesetzt. Das Verfahren der Reduktion mündet damit in ein Seinsverstehen aus, das das »Dasein« in seiner Alltäglichkeit oder Eigentlichkeit je schon hat. Denn nach Heidegger soll dieses Seinsverstehen bei der Erschließung der Seinsfrage leitend sein. So kommt es innerhalb der Daseinsanalytik Heideggers zu einer Rückbindung der phänomenologischen Reduktionsmethode an das als ursprünglich prätendierte Seinsverstehen, das das »Dasein« je schon ist. Doch muss sich diese Konzeption zumindest den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ja gerade nicht zur »Erscheinung des Seins« führen konnte. Marion, der an der Reduktion als phänomenologischer Methode festhält, macht einen methodischen Konflikt geltend, der durch diese von Heidegger initiierte ›hermeneutische Wende der Phänomenologie‹ 328 entsteht. Die heuristische Funktionalität dieses alltäglichen Seinsverstehens, das als Vorbereitung zum erfragten Sein hätte führen sollen 329 , steht der phänomenologisch-methodischen Reduktion »zu den Sachen selbst« entgegen, über die ja noch die Seinsfrage entdeckt wurde. Heidegger sah sich wohl nie dazu veranlasst, das Verhältnis beider Reflexionswege zueinander aufzuarbeiten, weil für ihn Ebd., 41. Vgl. »Phänomenologie des Daseins ist Hermeneutik in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, wonach es das Geschäft der Auslegung bezeichnet.« (Ebd., 37). 329 Vgl. »Die Analyse des Daseins ist aber nicht nur unvollständig, sondern auch vorläufig. Sie hebt nur erst das Sein dieses Seienden heraus ohne Interpretation seines Sinnes. Die Freilegung des Horizontes für die ursprünglichste Seinsauslegung soll sie vielmehr vorbereiten.« (Ebd., 17). 327 328

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auf Anhieb die Reduktion keine leitende Methodik darstellt und das Seinsverstehen die ungefragte Basis verkörpert, auf der es zur Erschließung von ›Sein überhaupt‹ kommen könnte. Die Seinsfrage ›gehört‹ für Heidegger immer schon zum Seinsverstehen des Daseins. Damit wäre die Reduktion im Sinne Marions aber auf das Seinsverstehen als ihre Basis gestellt. 330 Diese Selbstverständlichkeit gilt es für Marion nun aber zu hinterfragen. So steht dieser vor folgenden Alternativen: Ist das alltägliche Seinsverstehen die Basis der Reduktion und darf sich die Reduktion als phänomenologische Methode in ihm auflösen? Oder aber ergibt sich die Sichtung des alltäglichen Seinsverstehens weiterhin aus der phänomenologischen Methode, der Reduktion, und lässt sich also auf die Reduktion als ihre Basis zurückführen? Hätte man Heidegger diese Fragen vorgelegt, dann hätte er vermutlich auf die erste Möglichkeit hingewiesen. 331 Er ist weit davon entfernt, das alltägliche Seinsverstehen selber zum ›Gegenstand‹ einer ontologisch unberührten Methode, wie die der Reduktion, zu machen. Vielmehr wäre mit Beginn der Daseinsanalytik folgendes Verhältnis akut: Die methodische Reduktion der Phänomenologie ruht nach Heidegger als Überbau auf einer ontisch-ontologischen Basis auf, die sich nur noch als (mit Marion, methodisch diffuse) Hermeneutik erschließt. »Heidegger présuppose que la question de l’être puisse réduire la réduction: il ne le démontre jamais.« 332 Dass dieses Fundierungsverhältnis zwischen ontisch-ontologischer Basis und methodisch-reduktivem Überbau genau umzukehren ist, dafür will Marion nun argumentieren. Er ist der Überzeugung, dass das Sein nicht die Reduktionsmethode affiziert, ja dass die Reduktion über das Sein hinausgreift. Dies ist nun aber an der Daseinsanalytik Heideggers auszuweisen. Es wäre in ihr zu zeigen, dass das je schon vorliegende Seinsverstehen von der reduktiven Methode 330 Vgl. »Si donc Heidegger élabore la véritable ›ontologie fondamentale‹, il devrait au moins exposer les motifs phénoménologiques pour lesquelles celle-ci pourrait résister à la disqualification d’une réduction; bien plus: il prétend, du moins dans Sein und Zeit, assumer la méthode phénoménologique, sans pourtant jamais faire droit à la réduction.« (RD 242). Dagegen verdeutlicht die hermeneutische Position Heideggers zusammenfassend: Herrmann, F. W. v. Hermeneutik und Reflexion, 89 ff. 331 Vgl. »Die Phänomenologie des Daseins ist als Hermeneutik selbst a-theoretisch und a-reflexiv. Die a-theoretische und a-reflexive Hermeneutik ist aber die wissenschaftliche und als solche die phänomenologische Methode vom Reich des a-theoretischen Daseins.« (Ebd., 159). 332 RD 243.

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selber erfasst wird und diese deshalb die Daseinsanalytik heimlich steuert. Allgemeiner gesprochen: Im »Dasein« soll die Kompetenz zum Verfolgen einer Methode nachgewiesen werden, die gegenüber dem Seinsverstehen erhaben ist. Damit klingt der Bezug zu Descartes, dem großen, methodisch verfahrenden Denker, an. Genauer: Marion möchte die Begründung dafür erbringen, dass das »Ego cogito« die Daseinsanalytik weiterhin bestimmt. Zwar schließt Heidegger bekanntlich das untergründige Wirken eines Cartesischen »Ego cogito« im »Dasein« aus und sieht sich von dort her im Recht, für sein Vorgehen das erläuterte Fundierungsverhältnis zwischen ontischontologischer Basis und methodisch-reduktivem Überbau zu etablieren. Dabei wird nach Marion aber übersehen, wie und dass das »Dasein« dem Ego Descartes’ unterschwellig verbunden bleibt, oder, anders gesagt, dass die Daseinsanalytik ein autarkes »Ich denke« heimlich voraussetzt. 333 Die von Heidegger bestimmte Relation zwischen »Ego cogito« und »Dasein« ist also neu zu überprüfen. 334 Daraus wird hervorgehen, dass im »Ich denke« die eigentliche Tiefenschicht des »Daseins« liegt. Gelingt dieser Aufweis, dann wäre aber gegen Heidegger die Reduktion als vom Sein autarke Methode rehabilitiert. Liegt nämlich das »Ich denke« der Daseinsanalytik zugrunde, dann ist es generell vom Sein nicht affiziert. Das »Ich denke« gestaltet sich in phänomenologischem Kontext nach Marion aber als methodische Reduktion. 335 Von dort her wäre über den Vergleich mit Descartes Heideggers Fundierungsverhältnis von methodisch-reduktivem Überbau und ontisch-ontologischer Basis umgekehrt aufzufassen: Die Reduktion leitet selber die Daseinsanalytik, weil sie vom Sein nicht bestimmt wird, sondern es selber ins Visier nehmen kann: »Le Dasein, comme tel, est toujours déjà non seulement ordonné à la double réduction, mais réalise bel et bien la double réduction ellemême.« 336

333 Vgl. »Die u. a. problemgeschichtlich instruktive Betrachtung über ›Ego und Dasein‹ im Kap. III leitet in dem Maße zur Differenzfrage über, wie das ego cogito, sum weniger einen Gegenfall zum Dasein darstellt (wie Heidegger es sieht), als vielmehr eine zu bewerkstelligende Aufgabe vorsieht, die auch die Fundamentalontologie skizziert.« (Kühn, R. Rez. Jean-Luc Marion, Réduction et Donation. Recherches sur Husserl, Heidegger et la phénoménologie, 405). 334 Vgl. zum ganzen Marion, J.-L. Heidegger and Descartes, 67–96. 335 Vgl. Kap. 4.1.3. 336 RD 109.

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Was steht bei dieser Frage weiter auf dem Spiel? Indem Heideggers Daseinsanalytik die Valenz des Cartesischen Cogito ablehnt, negiert sie, zumindest implizit, ihre methodische Tragbarkeit und damit die Methodenfähigkeit von Phänomenologie insgesamt. Die Reduktion als Methode, um »zu den Sachen selbst« zu kommen, wird in der so konzipierten Daseinsanalytik ›ad acta phaenomenologiae‹ gelegt. Doch lassen sich damit die Konsequenzen für die Solidität dieser Philosophierichtung nicht einmal annähernd erahnen. Phänomenologie, die ihrer allgemein nachvollziehbaren Methodik nun beraubt ist, wird zu einem quasi dezisionistischen Denkspiel degradiert. Denn wenn nach der Daseinsanalytik die Reduktion auf einer ontologischen Basis aufruht, dann könnten die Strukturen dieser Basis generell unabhängig von ihr beschrieben werden, d. h., formal gesprochen, ohne einer allgemein zustimmungsfähigen Methode Rechenschaft geben zu müssen. Die Reduktion würde sich sozusagen selbst (auf ihre ontologische Basis mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten) reduzieren. Demgegenüber ist aber vorläufig darauf zu verweisen, dass die Reduktion im Sinne Marions als phänomenologische Methode angetreten ist, um das Denken zu den »Sachen selbst« zurück zu führen. 337 Dass der Reduktion ein von ihr aufzuklärendes Seinsverstehen innewohnt, ist nicht zu leugnen. Ob dieses Seinsverstehen nun aber ihre determinierende Basis abgibt, ist strittig. Zunächst gilt ja nur die Festlegung, dass das Denken mit Hilfe der Reduktion auf die »Sache selbst« zugeht. Mit dieser Festlegung ist allerdings nicht gesagt, dass die aufs »Dasein« positionierte Reduktion sich nur noch als methodisch ungeklärte Deskription des (alltäglichen bzw. eigentlichen) Seinsverstehens gestalten müsste. Diese Deskription des »Dasein«-spezifischen Seinsverstehens hatte ja ursprünglich den Sinn, die Erscheinung des Seins in der »Sache selbst« vorzubereiten. 338 Folglich bliebe sie weiterhin unter dieser Forderung. Außerdem würde die Daseinsanalytik ja selbst den Anspruch nicht verweigern wollen, dass ihre Hermeneutik methodisch irgendwie geleitet und deshalb kritisch überprüfbar sei. Mit der bei Heidegger akuten Selbstreduktion der Reduktion wäre der Ansatz der Phänomenologie als Philosophierichtung insgesamt gefährdet. Denn wenn die Reduktion oder das »Zurück zu 337 338

Vgl. Kap. 4.1.3. Vgl. Heidegger, M. Sein und Zeit, 17.

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den Sachen selbst« extrinsischen Bestimmungskräften, wie dem Seinsverstehen, ausgesetzt sind, dann wird jede methodische Anweisung unterlaufen. Wie man die Phänomenologie als Denkrichtung mit einem präzis geklärten Vorgehen verantworten könnte, bliebe dann völlig offen. Genauer: Das Selbstverständnis der Phänomenologie stünde total auf dem Spiel. Angesichts anderer Philosophieentwürfe oder Wirklichkeitsmodelle, die sich demgegenüber kraft allgemein nachvollziehbarer Methoden geltend machen, würde sie das klägliche Bild eines unverbindlichen Gedankenexperimentes abgeben. Einen Ausweg aus diesem Endszenario der Phänomenologie könnte es nur unter der Voraussetzung geben, dass für die Phänomenologie eine Methode leitend bliebe, und zwar gerade in der Situation, wo sich der phänomenologische Zugang zu den ›Sachen selbst‹ selbst als ›Da-Sein‹ entdeckt. 4.2.6.2. Vom Streitfall »Descartes« zu seiner Destruktion bei Heidegger Aufgrund seiner eigenen enggeführten Rezeption Descartes’ scheint Heidegger nie wirklich an die Möglichkeit gedacht zu haben, dass im »Dasein« und seiner Analytik noch das »Ego cogito« wirksam ist. 339 Vermutlich kam es in seinem phänomenologischen Ansatz nie zu einer positiven Würdigung Descartes’. 340 Auf Anhieb dominiert bei Heidegger die Auffassung, dass Descartes ein metaphysisches System im Ausgang seines »Ego, sum« vertritt. Diese »Metaphysik Descartes’« 341 sei vom Postulat einer gegenständlichen Seinsauffassung geprägt und verkenne völlig die eigentliche Zeitlichkeit des Seins. Im 339 Heideggers Descartesbild und seine Auffassung der cartesischen Seinslehre scheint hier eigenartig verengt. So gesehen liegt hier eine interessante Spätwirkung der typisch deutschen Descartesrezeption vor. (Vgl. Laudien, K. Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten. Die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei René Descartes, 10 ff.). 340 Dies lässt sich gut an einer frühen Stellungnahme Heideggers zu Descartes ablesen, die bereits alle maßgeblichen Aspekte seines Descartesbildes enthält: »Dass Descartes in eine erkenntnistheoretische Fragestellung abbiegen bzw. geistesgeschichtlich sie inaugurieren konnte, ist nur der Ausdruck dafür, daß ihm das ›sum‹, sein Sein und seine kategoriale Struktur, in keiner Weise problematisch wurde, sondern die Bedeutung des Wortes »sum« in einem indifferenten, auf das ego gar nicht genuin bezogenen, formal gegenständlichen, unkritischem und ungeklärten Sinn gemeint wurde.« (Heidegger, M. Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, 173). 341 Marion hat zuerst in PM Anfragen an diese Lesart Heideggers gerichtet. Vgl. v. a. PM 126 ff., 203 ff., 276 ff.

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Gegensatz zu seiner phänomenologischen (und neukantianischen) Umgebung wird der erkenntnistheoretische Status des Cartesischen »Ego« bei Heidegger nie anerkannt: »Heidegger n’interroge plus l’ego cogito sur l’originare cogitative de sa primauté, mais d’abord sur l’indétermination de l’esse en lui, donc sur ce qu’il dissimule de lui-même et non sur ce qu’il en proclame.« 342 Das »Ego« und seine Vorrangstellung in der philosophischen Argumentation falle nach ihm unmittelbar unter die Dominanz einer obsoleten Version von Metaphysik. Heidegger selbst will diese durch die von ihm bewusst gestellte Seinsfrage überwinden und ihrer Unterbestimmung entreißen. Descartes scheint ihm dabei als ausgezeichnete Negativfolie zu dienen. In Anbetracht seiner fast zwanghaft wiederkehrenden Kritik an der Philosophie Descartes’ legt sich nahe, dass Heidegger den »Vater der Moderne« benutzt, um sich vom Ansatz Husserls abzugrenzen. 343 Die Lektüre Descartes’ war ja nicht nur für die Denkentwicklung Husserls ein außerordentlicher Stimulus. Genau genommen betrachtet Husserl Descartes als frühen Wegbereiter der Phänomenologie. 344 Diese meist impliziten Reminiszenzen Husserls an Descartes bilden aber die maßgebliche Reibfläche der Position Heideggers. Denn der phänomenologische Neuaufbruch zur Seinsfrage, für den Heidegger steht, will gerade jene Elemente in der phänomenologischen Methodologie stigmatisieren, die Husserl von Descartes übernimmt: »Descartes subira une critique, mais une critique qui s’adresse aussi bien et d’abord à Husserl, d’autant moins phénoméRD 122. Vgl. »Tout se passe comme si la critique heideggérienne de Descartes apparaissait comme un parricide par personne interposée.« (Greisch, J. L’herméneutique dans »la phénoménologie comme telle«, 50). 344 Vgl. »Die Keime der Transzendentalphilosophie finden wir historisch bei Descartes. Die Erinnerung an seine Meditationen möge uns in einigem, und zwar für den Versuch eines richtigen ersten Anfangs, Hilfe bieten. Es ist der Vorzug des philosophischen Genies, daß selbst in seinen falschen Theorien oder in seinen primitiven Gedankengängen, die sich geradezu in Trivialitäten zu verlieren scheinen, eine höhere Wahrheit liegt, verborgen, und doch fühlbar; eine Wahrheit in statu nascendi, noch rechter Ausgestaltung und Begründung fern, aber doch ahnungsvoll in die Zukunft weisend und andererseits für die Späteren, die sie schon als vollgereifte Wahrheit besitzen, sehr wohl erkennbar als eine wahre Keimform der Entwicklung. So verhielt es sich mit Descartes’ Meditationen, und vor allem mit den beiden ersten in der bekannten Reihe.« (Husserl, E. Erste Philosophie (1923/24), Hua VIII, 4), vgl. zur ganzen Problematik: Orth, E. W. Die unerfüllte Rolle Descartes in der Phänomenologie, 286–302. 342 343

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nologue qu’il reste plus cartésien.« 345 In erster Linie kommen Husserl und Descartes für Heidegger darin überein, dass sie dem Ego bzw. dem Bewusstsein den Primat einräumen, der aber den Blick auf die als Sein zu deutenden »Sachen selbst« verstellt. Beide stimmen in den Augen Heideggers auch darin überein, dass ihnen die Frage nach dem Sein dieses Bewusstseins oder des »Ego« gleichgültig ist, weiter, dass sie ihr Evidenzideal in einem Bereich verorten, der ontologisch selbst unausgewiesen ist. In der Folge wiederhole sich bei Husserl die obsolete Identifizierung von Sein und (gegenständlicher) Seiendheit, die nach Heidegger aber zuerst an Descartes zu bemängeln wäre. Unter der Hand besteht für Heidegger zwischen Descartes’ Auffassung, das Ich sei die erste Substanz 346 , und dem Husserlschen Bewusstseinsverständnis eine uneingestandene Wahlverwandtschaft, die seinem eigenen Ansatz gegenüber alles andere als entsprechend wäre. Husserls Prämisse, das Bewusstsein habe als absoluter Evidenzraum zu gelten, geht nämlich nach Heidegger nicht aus der phänomenologischen Verpflichtung gegenüber der »Sache selbst«, die sich als Seinsfrage erschließt, hervor, sondern rühre aus der unkritischen Übernahme Cartesischer Ideale. Entsprechend fällt Heidegger das Urteil, dass Referenzen auf Descartes nur als Bremsblöcke für die phänomenologische Forschung zu bewerten und zu destruieren seien. Aber noch mehr: In dieser Destruktion des Cartesischen Ego sieht Heidegger einen außerordentlichen Zugangsweg, auf dem man zum fraglichen ›Sein überhaupt‹ vorrücken könnte. Das Ego wäre dann als »Dasein« umzudeuten, das allein über die Kompetenz verfügt, die Seinsfrage in ihrer Ursprünglichkeit zu stellen. Von daher sind »Dasein« und »Ego cogito« für Heidegger zwei sich gegenseitig ausschließende Ichkonzeptionen: »Descartes n’a d’autre privilège, dans la pensée de Heidegger, que celui de l’obstacle par excellence qui interdit l’accomplissement ontologique de la phénoménologie en la bloquant par l’ego, et en masquant ainsi le Dasein.« 347 Die Daseinsanalytik sei deshalb quasi auf dem Rücken des Cartesischen »Ego cogito« durchzuführen. Insofern präzisiert sich über das Descartesbild Heideggers das bereits proRD 124. Vgl. z. B. »J’ai pris l’être ou l’existence de cette pensée pour le premier Principe, duquel j’ai déduit très clairement les suivants: à savoir qu’il y a un Dieu, qui est auteur de tout ce qui est au monde.« (Descartes, R. Principes de la Philosophie, Œuvres AT IX-2,10,4–8). 347 RD 130. 345 346

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blematisierte Verhältnis von »Dasein« und Reduktion. Die Umdeutung des »Ego« als »Dasein« impliziert unvermittelt die Einschränkung philosophischer Methodik. Denn das »Ego« schenkt von Grund auf der Einsicht keine Beachtung, dass und wie es ins Sein und sein Verstehen verstrickt ist. Wollte man allerdings, wie oben angedeutet, die Reduktionsmethode in der Daseinsanalytik als autarkes Verfahren erhalten, dann wäre diese Descartesinterpretation Heideggers zu revidieren. Doch wäre dafür zunächst der Gedankengang Heideggers selbst zu beleuchten, den er im Wesentlichen über die Kritik der »Meditationes de prima philosophia« entwickelt. 4.2.6.3. Heidegger: Das ontologische Versagen des »Ego cogito« Die Kritikpunkte, die Heidegger gegen Descartes geltend macht, lassen sich in ihrer Elementarform nach der Ego- und Seinsthematik aufteilen. Aus ihnen wird resultieren, dass Heidegger den Gegensatz zwischen »Ego« und »Dasein« für unüberbrückbar hält. Erstens: Descartes’ substanzmetaphysische Verfestigung des »Ich denke«. Heidegger wirft in »Sein und Zeit« gegen den Ansatz der »Meditationes« ein, dass hier das »Ego cogito« als höchste gewissmachende Instanz und weiter als oberstes Prinzip der Metaphysik eingesetzt wird. Diese bleibt allerdings dem Substanzdenken verhaftet. In dessen Folge versäume Descartes, nach der tiefergehenden Seinsbestimmung des Ego zu fragen, aufgrund welcher sich ihm die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt eröffnet hätte. Heidegger argumentiert, dass Descartes das »Ego cogito« direkt zur »res cogitans« transformiert und daraufhin eine substanzmetaphysische Ontologie ausbildet. Damit bestimme sich das Sein des »Ego cogito« ausschließlich von seiner Position als erstes Seiendes und sei daher mit dem »Dasein«, das allein angemessen nach dem Sein fragen könne, inkompatibel. Zweitens: Descartes’ Verdrängung des Seins durch das »Vorhandene«. Durch die Vorrangstellung des »Ego cogito« fällt nach Heidegger ein originäres Fragen nach dem ›Sein überhaupt‹ aus. 348 Stattdes348 Vgl. »Soweit im Verlaufe dieser Geschichte bestimmte ausgezeichnete Seinsbezirke in den Blick kommen und fortan primär die Problematik leiten (das ego cogito Descartes’, Subjekt, Ich, Vernunft, Geist, Person), bleiben diese, entsprechend dem durchgän-

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sen kommt bei Descartes nur ein gegenständlich konzipiertes Sein in den Blick: Sein als »Vorhandenes«. Heidegger macht nun Descartes für die Vorherrschaft des »Vorhandenen« verantwortlich, die die konventionelle Metaphysik charakterisiert. Sie führe dazu, dass Welt als »Weltlichkeit überhaupt« (und weiter die Seinsfrage als authentische) unbehandelt bleibt. Die Daseinsanalytik Heideggers problematisiert mit dem Begriff des Vorhandenen das Verhältnis des »Daseins« zu den Dingen, die ihm in der Welt begegnen und untersucht ihre Valenz für die Seinsfrage. Heidegger argumentiert so: Zunächst liegen uns die Dinge einfach so vor, dass wir sie unreflektiert gebrauchen, sie sind zuhanden. Ihr Sein bzw. das Sein ist dabei zwar immer schon latent, alltäglich verstanden, jedoch als solches nicht expliziert. Bei der Reflexion auf ihre Vorhandenheit, also darauf, dass dem »Dasein« Dinge gegenüberstehen, werde ihr Sein thematisch. 349 Erscheint dies zunächst als phänomenologischer Gewinn für die Seinsfrage, so muss Heidegger aber feststellen, dass sich damit die Seinsfrage auf die Seienden fixiert. Dies habe zur Folge, dass über diesen Zugang »Welt« weiterhin als das Selbstverständliche hingenommen und mit keiner weiteren Beachtung gewürdigt werde. »Welt« werde nicht als explizites Problem, also in ihrer »Weltlichkeit« gedacht, weil nur das Sein des Seienden phänomenal sei, mit anderen Worten: »Welt« nur aus Vorhandenem aufgebaut sei. Die Frage nach Weltlichkeit überhaupt, und damit die authentische Seinsthematik, hätte nach Heidegger nur in einer phänomenologisch vertiefenden Reflexion auf das alltäglich Zuhandene aufbrechen können. Wichtig ist nun, dass Heidegger Descartes dafür verantwortlich macht, dass die bisherige Metaphysik vom Modus der Vorhandenheit geprägt war. »Cette opération, qui inverse aussi la prééminence phénoménologique de la Zuhandenheit sur la Vorhandenheit, résulte de Descartes.« 350 Descartes habe aufgrund der Dominanz seines »Ego cogito« vermieden, die Frage nach dem Sein authentisch zu stellen, weil er das allein im Zuhandenen explizierbare Seinsverstehen des Alltags verdrängte. An seine Stelle trete die Konzeptualisierung der Dinge als gegenständlich Vorhandene und der obsolete Dualismus »res cogitans« und »res extensa«. Mit Descartes’ Präferenz für das gigen Versäumnis der Seinsfrage, unbefragt auf Sein und Struktur ihres Seins.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 22). 349 Vgl. ebd., 88. 350 RD 136.

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Vorhandene bricht nach Heidegger eine Epoche an, in der ›Weltlichkeit‹ und weiter das Sein nur inauthentisch und nicht ursprünglich genug befragt wurde. 351 Gegenläufig zum Cartesischen Ego gelte Heideggers »Dasein« als die ursprünglichere Ichkonzeption, weil in ihr das Seinsverstehen als ontische Anlage des Ich bedacht wird, die authentisches Fragen nach dem ›Sein überhaupt‹ ermöglicht. Im »Dasein« ist das Ich ja erfasst, insofern »es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.« 352 Als Konsequenz daraus sind »Dasein« und »Ego« einander deutlich gegenüberzustellen. Drittens: Das »Ego« im Schatten des »Daseins«. Heideggers »Dasein« macht einen ersten Ort der Reflexion (als »Da-«) geltend, der je schon ontologisch investiert ist und von dem aus Wirklichkeit zugänglich wird. Descartes setzt dagegen direkt mit einem Denken ein, das sich von jeder Weltverhaftung zu befreien vermag. Sein Ego versteht sich ganz aus dem primären »Ich denke«, das sich in einem universalen Zweifel von der Welt und von allen ontologischen Bezügen lösen kann: »L’ego se définit par le primat absolu en lui de l’attitude théorique; il naît du doute.« 353 Die »Cogitatio« Descartes’ muss auf keine ontologische Vorleistung (Raum, Welt, Zeit) zurückblicken. Dem »Dasein« Heideggers ist dagegen eine grundlegende Räumlichkeit zu eigen. In der nach Descartes möglichen Entfernung des Ego von den anderen Seienden liegt nach Heidegger bereits ein Denkfehler, der von der Erfahrung nicht gedeckt wäre. Ihm zufolge ist das »Dasein« unverzüglich und »a priori« von seinem »In-derWelt-sein« zu verstehen: »Diese Seinsbestimmungen des ›Daseins‹ müssen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden werden, die wir das In-der-Welt-sein nennen.« 354 Gerade dieses Verhaftetsein an die Welt möchte aber der Zweifel des Cartesischen Ego aufsprengen: »Descartes, atteint, en effet, l’ego cogito sur l’hypothèse de son indépedance envers tout le monde possible; l’ego apparaît en effet quand et à condition que les étants du monde disparaissent sous le doute hyperbolique.« 355 351 Diese Kritik hat Marion in OG entscheidend abgeschwächt, indem er Descartes’ Ontologie als eine unentschiedene, und nicht wie Heidegger als eine dezidiert inauthentische bestimmen konnte. (Vgl. OG 186 f.). 352 Heidegger, M. Sein und Zeit, 12. 353 RD 143. 354 Heidegger, M. Sein und Zeit, 53. 355 RD 147.

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Heidegger bestimmt das »Dasein« dadurch, dass es immer schon (als »-sein«) ontologisch verfasst ist, d. h. dass es je schon Seinsverstehen hat: »Dem Dasein gehört nun gleichursprünglich – als Konstituens des Existenzverständnisses – zu: ein Verstehen des Seins alles nicht daseinsmäßigen Seienden.« 356 Das »Dasein« müsse von vornherein anerkennen, dass es über ein alltägliches Seinsverstehen verfügt, dem ein »positiver phänomenaler Charakter« 357 , also eine Leitfunktion für die Phänomenalisierung von »Sein überhaupt« zuzusprechen ist. Dieses Aufdeckungsverfahren des »Daseins« gelingt nach Heidegger nur über die produktive Berücksichtigung des Spiels von Sein, mit dem das »Dasein« je schon vernetzt sei. 358 Das »Dasein« würde nach Heidegger über sich selbst in Ungewissheit bleiben, wenn ihm sein alltäglich geprägtes Seinsverstehen nicht aufginge. Worum es im Sein geht, weiß das »Dasein« je schon, wenngleich auch nur unausgefaltet. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei Descartes: Allein in der Selbstreflexion des Ego liegt der mögliche Grund einer ontologischen Vergewisserung. Indem das Ego die Wirklichkeit als »cogitatio« einfängt, setzt es jedes untergründige Spiel von Sein außer Kraft und löst es zunächst in sein Denken auf. Worum es im »Sein« geht, erschließt sich bei Descartes nur über das Denken und in der Erfüllung seines Evidenzideals. Es verwundert nicht, dass die Konzeptionen Heideggers und Descartes von hier aus gesehen durch nichts zu vermitteln sind. »Ainsi le Dasein ne se retrouve en rien dans la res cogitans, puisque l’ego pourrait se définir à partir du Dasein comme son strict inverse: l’étant pour lequel il n’y va pas de son être.« 359 4.2.6.4. Marion: Die unaufhebbare Valenz des »Ego cogito« im »Dasein« Marion antwortet auf die Interpretation Heideggers mit einer differenzierten Lesart der Descartesschen Philosophie. Der Ausgangspunkt liegt auch hier auf den »Meditationes de prima philosophia«. Nach ihm ist das Aufweisungsverfahren der »cogitatio« neu zu betoHeidegger, M. Sein und Zeit, 13. Ebd., 43. 358 Vgl. »Le Dasein entretient avec lui-même une surprenante relation d’incertitude: loin de s’assurer de lui-même en se sachant comme tel, il ne se sait lui-même qu’en admettant quel jeu se joue en lui – le je de son être …« (RD 145). 359 RD 147. 356 357

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nen. Dadurch können über Heideggers Deutung hinausgehende Bestimmungsgrößen des Ego erhoben werden. Ausgehend von ihnen wäre das Verhältnis von »Ego cogito« und »Dasein« neu zu bewerten. 360 Erstens: Die Bewegung der »cogitatio«. Wirft Heidegger Descartes vor, bei ihm bestimme sich das »Ego cogito« als erste Substanz, so trifft nach Marion dieses Urteil nur auf einen bestimmten Aspekt innerhalb der »Meditationes« zu. Dieser Einwand Heideggers ist lediglich dort legitim, wo sich das »Ego cogito« gegen Ende der zweiten Meditation zu einer substanzmetaphysischen Aussage verfestigen will, bzw. dort, wo es sich nach einer ersten Begegnung mit der »res extensa« 361 als erstes dauerhaftes Sein einrichtet und äußert: »Sum autem res vera et vere existens; sed qualis res? dixi, cogitans.« 362 Die damit zusammenhängende Auffassung Heideggers363, dass bei Descartes Weltlichkeit bzw. Sein überhaupt nicht in den Blick kommt, rechtfertigt sich zwar mit einem Blick auf den sogenannten Außenweltbeweis der sechsten Meditation. Denn dieser kann von Descartes ja nur deshalb durchgeführt werden, weil zuvor die Verstandesrepräsentationen von Welt (»realitates obiectivae«) im Modus der »Vorhandenheit«, also der »res cogitans« gegenüber, vorkommen. Mit der Behauptung, Descartes sei der Frage nach »Weltlichkeit überhaupt« gegenüber indifferent gewesen, überzieht Heidegger jedoch seine Kritik. Immerhin will Descartes in den Meditationen ja die Existenz von »Welt« beweisen und lässt den universalen Zweifel alles Weltliche umgreifen: »putabo caelum, aerem, terram, colores, figuras, sonos cunctaque externa nihil aliud esse quam ludificationes somniorum.« 364 Damit verdeutlicht sich vor allem, dass Heidegger den Cartesischen Argumentationsgang, das heißt das quasi phänomenologische Aufweisungsverfahren der »cogitatio« unberücksichtigt lässt. 360 Marions Verteidigung Descartes’ gegen Heidegger ist in den französischen Kontext einzuordnen. Schon Waldenfels musste feststellen, dass in der französischen Phänomenologie die (seitens der deutschen Phänomenologie) prätendierte Gleichung »ego cogito« und »res cogitans« durch eine kontrastive Behandlung ersetzt wird. (Vgl. Waldenfels, B. Metamorphosen des Cogito. Stichproben französischer Descartes-Lektüre, 350). 361 Vgl. Decartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 26, 14–19. 362 Ebd., 27,15–16, v. a. »ego autem substantia« (Ebd., 45, 7). 363 Vgl. »Les deux manquements se rejoignent dans une commune et plus originaire défaillance à penser l’être de tout étant.« (RD 137). 364 Descartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 22, 26–28.

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Heideggers Kritik an Descartes’ geht nach Marion davon aus, dass »cogitatio« und »sum«, »sum« und »res cogitans« auf Anhieb in eins fallen. Entgegen textlicher Befunde liegt der Ausgangspunkt Descartes’ nach Heidegger nicht im universalen Zweifel, sondern im »Ich denke«, das sofort und unumkehrbar als Äußerung einer substanzverhafteten Metaphysik zu deuten wäre. 365 Mit dem »Cogito / Sum« werde ausschließlich der Gegensatz von »res cogitans« und »res extensa« festgeschrieben, das Sein selber bliebe unterreflektiert und werde nahtlos in eine monolithische Gestalt von Metaphysik eingearbeitet. Marion macht gegen diese Interpretation darauf aufmerksam, dass Descartes mit dem »Ich bin« zunächst nur die Bewegung des Denkens sichert: »Heidegger n’interroge plus l’ego cogito sur l’originare cogitative de sa primauté, mais d’abord sur l’indétermination de l’esse en lui, donc sur ce qu’il dissimule de lui-même et non sur ce qu’il en proclame.« 366 In Heideggers Kritik wird nach Marion der Gedankengang Descartes’ verfehlt und übersprungen. Das »sum«, das Heidegger bekämpfen will, ist ja nur das später in substanzmetaphysischer Bedeutung überformte. Zu Recht ließe sich dieses Seinsverständnis mit der Polarität Husserls von absoluter Bewusstseinsregion und Weltregion vergleichen. 367 Doch kann das nicht verhindern, dass für den Argumentationsgang Descartes’, also für das »Ich bin«, metaphysische Fragestellungen zunächst unerheblich, allein erkenntnistheoretische entscheidend sind. 368 Wird zwar später der Seinsmodus des Ego nach der »res extensa« modelliert und ein im Sinne Heideggers authentisches Stellen der Seinsfrage vermieden, so klammert Descartes eingangs das Sein (aus phänomenologischen Gründen) ein, weil für ihn allein die Gewissheitsfrage auf dem Spiel steht: »La certitude reste non seulement indéterminée ontologiquement, mais surtout indifférente à la question portant sur les manières d’être du sens d’être.« 369 Insgesamt besteht Marion ge365 Heidegger spart die Funktion der Unendlichkeitsidee im cartesischen Beweisverfahren aus. Er berücksichtigt damit nicht, dass diese Unendlichkeitsidee sich in keine substanzmetaphysische Ontologie integrieren lässt. Marion hat dafür in PM den Aufweis erbracht (Vgl. PM 276 ff.). 366 RD 122. 367 Vgl. z. B. Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 99 ff. 368 Insoweit situiert sich die cartesische »cogitatio« zunächst außerhalb des Seins und Descartes wäre aus der Sicht Marions ein verlässlicherer Phänomenologe als Heidegger. 369 RD 134.

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gen Heidegger darauf, dass an der Denkbewegung Descartes’ und das sie beglaubigende »ego sum, ego existo« 370 festzuhalten ist. »Descartes réduit sum à cogito, et cogito à ego. L’ego lui-même ne se caractérise que par une détermination épistémique – celle de premier principe absolument certain qui rend possible la connaissance certaine d’autres étants.« 371 Marion geht über seine Kritik der Heideggerschen Sicht auf Descartes hinaus. Während Heidegger den Grundansatz des »ego, cogito« für inkompatibel mit dem Dasein hält, möchte er nun die entscheidenden Züge der »cogitatio« in der Daseinsanalytik nachweisen. Zweitens: Die latente Ontologie des »Ego cogito«. War schon hinsichtlich der Frage, ob Descartes’ »cogitatio« dem Substanzdenken anhängt, eine differenzierte Interpretation vonnöten, so wären ähnliche Distinktionen dort vorzunehmen, wo man des Sein des Cartesischen Ego problematisieren will. Die Interpretation Heideggers suggeriert völlig unzutreffend, dass sich Descartes’ »cogitatio« darauf beschränkt, das Ego als erstes Prinzip einer Metaphysik einzusetzen. Damit wäre vor allem der Ichbegriff Descartes illegitimerweise verkürzt. Nach Marion ließe sich diese Einsetzung des »Ego cogito« als erstes metaphysisches Prinzip allenfalls von bestimmten Aspekten des Cartesischen Œuvres bestätigen. 372 Diese bewegen sich bei Descartes jedoch in einer nicht einfach zu entscheidenden Konkurrenz mit anderen Ichbestimmungen, die allein der »cogitatio« verbunden sind, von Heidegger aber verdeckt wurden. Diese Bestimmungen wären als latente Ontologie des »Ego cogito« zur Geltung zu bringen. 373 Im Ausgang dieser zu beschreibenden latenten Ontologie des »Ego« wird nun überraschen, dass »Dasein« und »Ego« unbeschadet der von Heidegger festgestellten Polarität in vielen Zügen übereinstimmen, ja dass Heideggers »Dasein« Prägungen des »Ego cogito« an sich selbst aufweist: »Certes, l’ego cogito s’offre au Dasein comme son plus strict adversaire; et pourtant le Dasein n’aurait pas un si urgent

Decartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 25, 12. RD 133. 372 Vgl. z. B. »J’ai connu de là que j’était une substance dont toute l’essence ou la nature n’est que de penser et qui pour être, n’a besoin d’aucun lieu, ni ne dépend d’aucune chose matérielle.« (Descartes, R. Discours de la Méthode, Œuvres, AT VI, 33, 4–7). 373 Vgl. »l’ego doit, ne fût–ce que pour tenir son rôle herméneutique envers et dans la métaphysique, garder en soi une réserve et potentialité d’être.« (RD 148). 370 371

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devoir de le détruire, s’il n’y retrouvait, comme en esquisse dévoyée quelques-uns de ses traits les plus propres.« 374 Drittens: Das »Ego Cogito« als beharrliche Tiefenschicht im »Dasein«. Marion erhebt nun vier Bestimmungsgrößen, die dem »Dasein« und dem Ego gemeinsam sind, um seine latente Ontologie des Ego darzustellen. Dadurch wird sich zeigen, dass das Sein des Ego einen viel weiteren ontologischen Umfang hat, als Heidegger insinuierte. Umgekehrt folgt daraus, dass die oben dargestellten Gründe, die Heidegger zur Ablehnung des »Ego cogito« bewogen haben, das Resultat einer letztlich nur schlecht kaschierten Verdrängung sind: die der bleibenden Relevanz des »Ego/Cogito« im »Dasein«. a. Endlichkeit. Während Heidegger Endlichkeit als »Sein zum Tode« 375 des »Daseins« bestimmt, löst bei Descartes das Wissen um die Endlichkeit des Ego den Zweifel selbst aus. Am Ausgang des Cartesischen Denkweges liegt die Erfahrung der Endlichkeit. Der Zweifel ist ja selber Ausdruck von Unvollkommenheit und Endlichkeit. Descartes’ klares Bekenntnis, »[…] cum sim finitus […]« 376 aus der dritten Meditation reflektiert seine eingangs bekundete Einsicht, dass zunächst nichts dem Denken gewiss und alles zweifelhaft sei. 377 b. Unvertretbarkeit. Bei Heidegger artikuliert sich der ontologische Aspekt der Unvertretbarkeit des »Daseins« im Begriff »Jemeinigkeit«. Das bedeutet, dass die Affektion oder das Verstehen des Seins »Dasein« jeweils ›persönlich‹ betrifft. Denn: »Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines. […] Das Ansprechen von Dasein muss gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: ›ich bin‹, ›du bist‹« 378 In dieser Bestimmung hält sich aber die Erfahrung des Cartesischen »ego sum« durch. Marion führt aus: »Ainsi, même si le Dasein ne dit pas d’abord ego cogito, il ne peut dire – sein qu’en disant ›ich bin‹, donc ›ego sum‹. 379 Mit der Jemeinigkeit greift Heidegger auf die tragende Einsicht Descartes’ zurück, dass nur das Ich, das imstande ist, »Ich bin« zu sagen, eine gültige Aussage über das Ebd., 148. Vgl. Heidegger, M. Sein und Zeit, 235 ff. 376 Descartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 45, 21. 377 Vgl. »Animadverti iam ante aliquot annos, quam multa ineunte aetate falsa pro veris admiserim […].« (Ebd., 17, 1–2). 378 Heidegger, M. Sein und Zeit, 42. 379 RD 150. 374 375

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Sein treffen kann: »Ego sum, ego existo, quoties a me profertur vel mente concipitur necessario esse verum.« 380 c. Möglichkeit und Unmöglichkeit des Ich. Der Tod ist nach Heidegger nicht nur das negierende Aus des »Daseins«. Vielmehr hat das »Dasein« die Möglichkeit bzw. Freiheit, sich dieser letzten Unmöglichkeit, d. h. dieser Grenze seines Seins positiv zu stellen: »Der Tod ist eine Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat. Mit dem Tod steht sich das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen bevor.« 381 So übernimmt das »Dasein« als Möglichkeit seinen Tod und wird dadurch ›eigentlich‹. Genau diese Seinsstruktur liegt auch in einem Zug des Cartesischen Ego vor: Die Freiheit des Ego weiß sich in der gleichen paradoxen Lage, wenn sie sich als Spiegelbild der göttlichen Unendlichkeit erkennt. 382 Im Gegenüber zu Gott charakterisiert sich die Freiheit des Ego darum als Freiheit des »alsob«. Die Freiheit des Ego vollzieht sich ›coram Deo‹. Das bedeutet aber, dass sich die Freiheit immer vor die Grenze Gottes gestellt weiß. Doch kann sie diese im Nachvollzug der göttlichen Freiheit immer auch als Möglichkeit ergreifen. »Dans chaque action, l’ego cogito se comporte comme s’il était libre et si l’impossible (un événement non pré-déterminé nécessairement par Dieu) devenait à nouveau ouvert au possible.« 383 d. Der Ausgangsort ontologischer Unbestimmtheit. Wenn Heidegger darauf beharrt, dass »Ego« und »Dasein« sich in der ontologischen Bestimmtheit unterscheiden und deshalb zwischen beiden eine strikte Trennlinie zieht, dann wird dabei verschwiegen, dass auch das »Dasein« von einer ontologischen Unbestimmtheit ausgeht. Es steht ja nicht unmittelbar vor der authentischen Seinsfrage, sondern denkt »Sein« zumeist im Zustand des »Man« und damit auf uneigentliche Weise. Dem Argumentationsgang aus »Sein und Zeit« zufolge geht das »Dasein« erst im Ergreifen der Angst und der Sorge angesichts Decartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 25, 12–13. Heidegger, M. Sein und Zeit, 250. 382 Vgl. »Et sane non mirum est Deum, me creando, ideam illam mihi indidisse, ut esset tanquam nota artificis operi suo impressa; nec etiam opus est ut nota illa sit aliqua res ab opere ipso diversa, sed ex hoc uno, quod Deus me creavit, valde credibile est me quodammodo ad imaginem et simlitudinem, in qua Dei idea continetur, a me percipi per eandem facultatem, per quam ego ipse a me percipior.« (Decartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 51, 15–23, vgl. dazu Verweyen, H. Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, 92 f.). 383 RD 151. Vgl. zur ganzen Problematik: PM 203 ff. 380 381

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von »Nichts« und Tod zu einer eigentlichen Bestimmung von Sein über. 384 Zunächst gilt nach Heidegger jedoch die Furcht des »Man«: »das Wovor der Furcht ist ja ein innerweltliches Seiendes, das ausbleiben kann.« 385 Im Modus der Eigentlichkeit geriert sich diese Furcht dann aber so: »Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-sein als solches.« 386 Da also ontologische Unbestimmtheit auch für das »Dasein« eine die Analytik leitende Struktur abgibt, dürfte dieses Kriterium zu keinem apriorischen Ausschluss des »Ego cogito« aus dem »Dasein« führen. Vielmehr könnte im Ego genauso wie im »Dasein« die Möglichkeit liegen, zum Phänomen des »Seins« gelangen. 4.2.6.5. Die Effekte des »Ego Cogito« in der Daseinsanalytik Im Ausgang der erläuterten Überschneidungen von »Ego« und »Dasein« ist festzuhalten, dass beide Ichkonzeptionen gegen die Beteuerungen Heideggers387 eng einander verbunden sind. Das Ego liegt eigentlich als verschwiegene Tiefenschicht im »Dasein« vor und wäre darum als die treibende Kraft der Daseinsanalytik herauszustellen. Marion verfolgt in diesem Sinne den Gedanken, dass sich im »Dasein« das »Ego cogito« entfalten kann. Mehr noch: Das »Ego cogito« ist konstitutiv für das »Dasein« und seine Analytik. Das »Dasein« vermag darüber erst seine existenzialen und ontologischen Bestimmungszüge in Augenschein zu nehmen. 388 Für die bleibende Verbundenheit des »Daseins« mit dem »Ego cogito« ist besonders signifikant, dass die Argumentation aus »Sein und Zeit« auf das »Ich bin« auch noch nach der Einsetzung des »Daseins« zurückkommt: »Sollte das ›cogito, sum‹ als Ausgang der exis384 Vgl. »Die Angst gibt als Seinsmöglichkeit des Daseins in eins mit dem in ihr erschlossenen Dasein selbst den phänomenalen Boden für die explizite Fassung der ursprünglichen Seinsganzheit des Daseins. Dessen Sein enthüllt sich als die Sorge.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 182). 385 Ebd., 185. 386 Ebd., 186. 387 Dabei ist vor allem noch auf Heideggers Versuche hinzuweisen, das cartesische Ego ursprünglicher als das griechische egw des Protagoras zu deuten. (Vgl. z. B. Heidegger, M. Seminare, GA 15, 294). Diesen hält Marion entgegen, dass auch hier in diesem Durchstieg in griechische Ursprünglichkeit das cartesische »Ego cogito« Leitfunktion hätte. (Vgl. RD 156 unten). 388 Vgl. »Le je n’aurait ni interêt, ni legitimité, si, à titre de ›détermination existentiale du Dasein‹, il ne devait et ne pouvait ›être interprété existentialement‹, c’est-à-dire si ›egoïté et ipséité n’étaient conçue existentialement‹.« (RD 157).

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tenzialen Analytik des Daseins dienen, dann bedarf es nicht nur der Umkehrung, sondern einer neuen ontologisch-phänomenalen Bewährung seines Gehaltes.« 389 Überformt zwar Heidegger die hier ausgesprochene Programmatik dann unverzüglich dadurch, dass er ein in seinem Sinne radikaleres Bedenken des »Ego sum« verlangt, so ist nach Marion aus diesem späten Rekurs auf Descartes abzuleiten, dass Heidegger nie wirklich von Descartes losgekommen ist. Denn diese Äußerung macht evident, dass Heideggers eingangs durchgeführte Destruktion bisheriger Ontologie das »Ego cogito« nicht einfach aussetzt. Im Gegenteil: Dieser Vorgang, mit dem die Eröffnung der Seinsfrage vorbereitet wird, kann als heimliche Leistung des »Ego« gelten. Wenn bei der Destruktion der bisherigen Ontologie der substanzmetaphysische Ballast des Denkens abgetragen wird, dann ist das »Ego cogito« der eigentliche Initiator dieser Reduktion. 390 Das »Ego cogito« verfolgt damit ja die Absicht, zu einem authentischen Wirklichkeitszugang vorzustoßen. Genauer: Mit der Destruktion der bisherigen Ontologie und der daran anschließenden Daseinsanalytik will sich das »Ego cogito« die Frage nach dem ›Sein überhaupt‹ und ursprünglich erschließen: »[…] ne faut-il pas reconnaître définitivement que, dans Sein und Zeit l’ego, lors de la ›destruction‹ de son acception cartésienne, non seulement ne disparaît pas définitivement, mais naît pour la première fois à son authentique figure phénoménologique.« 391 Ein weiteres Symptom der untergründigen Konstitutivität des »Ego cogito« in der Daseinsanalytik ist zu benennen: Das »Dasein« kommt in seine Eigentlichkeit dadurch, dass es den Charakter des »Man« abstreift, sich im Vorlaufen zum Tode um sich selbst sorgt und sich als ›radikal eigentliche Selbstheit‹ äußert. In dieser Bewegung bringt sich nach Marion das Cartesische »Ego cogito« klar zur Geltung, weil das »Dasein« seine Eigentlichkeit ja selbst denkt und sich erst über diese Denktätigkeit in diesen Zustand bringen kann. Deshalb gilt: »Le Je vire donc du statut de res (subsistante) cogitans à celui du ›je suis‹ selon qu’il relève de l’identité (Selbigkeit) ou du

Heidegger, M. Sein und Zeit, 211. Vgl. »La déstruction opère un dégagement: dégager l’encombrement ontique de l’inquiétude concernant l’être même de l’étant. En ce sens, la destruction a directement rapport à la réduction phénoménologique.« (Marion, J.-L. La fin de la fin de la métaphysique, 27 f. 391 RD 157. 389 390

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Soi (Selbstheit).« 392 Folglich kommt das »Dasein« am Leitfaden des »Ego Cogito« zum »vorauslaufenden Entschluss zum Tode«. Umgekehrt erreicht das »ego cogito« damit die höchsten Möglichkeiten seiner selbst: »Die Selbst-ständigkeit bedeutet existenzial nichts anderes als die vorauslaufende Entschlossenheit.« 393 4.2.6.6. Die Seinsfrage im Fokus der Reduktion Nun ist auf die zu Kapitelbeginn gestellte Frage nach dem Verhältnis von Heideggers Daseinsanalytik und der Reduktion zurückzugreifen, die Marion ja als Methode der Phänomenologie herausstellen will. Trifft dieses »Cartesian haunting of Sein und Zeit« 394 , also die bleibende Bestimmung des »Daseins« vom »Ego cogito« zu, dann müsste das »Dasein« zum Verfolgen einer autarken Methode fähig sein. Genauer: Das »Dasein« müsste seine ontologische Basis bzw. seine Affektion durch das Sein in autonomen Denkakten untersuchen können. Dieses Ergebnis hat hinsichtlich der Reduktionsmethode im Wesentlichen zwei miteinander verbundene Konsequenzen. Erstens: Die phänomenologische Methode der Reduktion kann gegenüber dem Sein intakt bleiben. Mit der Daseinsanalytik Heideggers dürfte die Reduktion nicht in eine basishafte ›Hermeneutik des Seins‹ hinein aufgelöst werden. Vielmehr bleibt das »Ego cogito« in der Daseinsanalytik ja völlig in Geltung und damit auch die Virulenz einer strengen Methode. Das von Heidegger mit dem Begriff »Dasein« insinuierte Unterordnungsverhältnis von ontologischer Basis und methodischem Überbau lässt sich deshalb nicht halten. Diese Konzeption steht vielmehr selbst unter den Bedingungen einer einseitigen Descartesrezeption. Dem gegenüber wäre nun anzuerkennen, dass das ›Ego cogito‹ konstitutiv und prägend im Hintergrund des »Daseins« und seiner Analytik steht. Folglich müsste die Reduktion, als von Marion begründete ›phänomenologische Figur‹ des »Ich denke«, auch noch das Sein, das sie je schon versteht, umgreifen können. Das Verhältnis von Reduktion und Sein wäre also gerade anders als bei Heidegger zu bestimmen: Die Reduktion hat gegenüber dem Sein den Vorrang. Sie nimmt das Sein selbst ins Visier. 395 392 393 394 395

Ebd., 159. Heidegger, M. Sein und Zeit, 322. Marion, J.-L. Heidegger and Descartes, 93. Zu Heideggers gegensätzlicher Position vgl. v. a. Herrmann, F. W. v. Hermeneutik

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Ferner berechtigt sich die Vorordnung der Reduktion vor dem Sein dadurch, dass sie zu keinem Zeitpunkt auf die Erfüllung durch das Sein per se ausgerichtet war, wollte sie doch nichts anderes als »zu den Sachen« bzw. Phänomenen selbst. Insgesamt kann deshalb für die Daseinsanalytik Heideggers die strenge Beachtung der Reduktion als Kriterium eingefordert werden. Ihre Devise »Zu den Sachen selbst« bleibt Maßstab phänomenologischer Forschung. Die Applikation dieses »Ich denke«, näherhin die Reduktion als vorbehaltlose Orientierung des Denkens an den »Sachen selbst«, ist für jeden weiteren phänomenologischen Entwurf zu postulieren. Zweitens: Die methodische Funktionalität des »Daseins« und seines Seinsverstehens beim phänomenalen Auffinden des Sinnes von Sein bzw. des »Seins überhaupt« ist zu überwinden und an die Reduktionsmethode zu delegieren. Heidegger verstand das »Dasein« als dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein immer schon um das Sein geht. 396 Über die Analyse seiner Seinsstrukturen lässt sich nach ihm die Frage nach dem Sinn von Sein behandeln. Aus Marions Abgleich zwischen »Dasein« und »Ego cogito« ergibt sich aber, dass das Sein nicht mehr der unhinterfragte Raum, sozusagen das immer vorauszusetzende ›In‹ dieser Operation sein kann. Gezeigt hat sich ja, dass im »Dasein« ursprünglicher noch die Distanz des »Ich denke« (das Sein) steht. Das bedeutet aber, dass die methodische Funktionalität des Seinsverstehens (das das »Dasein« je schon hat), oder der späteren »Zuschickung des Seins«, bei der phänomenologischen Behandlung von ›Sein überhaupt‹ zu annullieren ist. Die jeweiligen Affektionen des Seins können das reduktive Suchen nach dem »Sinn von Sein« / »Sein« auch nicht unterminieren. Im Gegenteil: Die Distanz des »Ich denke« (das Sein) blieb bei Heidegger ja subversiv in Kraft. Weil für Heideggers Daseinsanalytik das »Ich denke« konstitutive Bedeutung hat, ist das »Dasein« und sein Seinsverstehen keine verlässliche Methode, die den Weg zum Sinn von Sein bzw. zum Sein ebnen würde. Vielmehr kehrt das »Ich denke« Descartes’ in der Daseinsanalytik zurück, ja »Dasein« und Sein ließen sich selber auf das »Ich denke« reduzieren. Folglich kann nur das »Ich denke« für die phänomenologische Sichtung des Sinnes von Sein in Frage kommen. »Le ›je pense‹ n’apparaît donc plus alors comme une thèse métaphyund Reflexion, 154 ff. Hier wird ein »a-reflexives« Moment als für die Phänomenologie nach Heidegger unabdingbar gehalten und begründet. 396 Vgl. Heidegger, M. Sein und Zeit, 13.

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sique à refuter, parmi d’autres, pour dégager le phénomène du Dasein, mais comme le terrain même que le Dasein doit conquérir, puisqu’aucun autre ne lui sera jamais donné pour s’y manifester. Ego cogito, sum énonce moins un contre-cas du Dasein, qu’un territoire à occuper, un énoncé à ré-interpréter, une œuvre à refaire.« 397 Wenn aber das »Ich denke« im Hintergrund der Daseinsanalytik steht, dann müsste die phänomenologische Methode, die Reduktion, die Hoheit über das Auffinden des noch ausstehenden »Sinnes von Sein« behalten. Um das »Sein überhaupt« erscheinen zu lassen, bedarf es keines »Daseins«, Seinsverstehens oder einer Seinsgeschichte. Für diese Projekt käme nur die Reduktion selbst und ihre Orientierung an den »Sachen selbst« in Frage. Man könnte meinen, dass Marion mit diesem Argumentationsgang das Seinsverstehen Heideggers einfach durch eine neuaufgelegte ›Hermeneutik des Verdachts‹ unterlaufen hätte. Entsprechend könnte man an der Tatsache Anstoß nehmen, dass das »Ego cogito« für die Daseinsanalytik nur dadurch gerettet worden wäre, dass man die Intention Heideggers übergangen und in sein Verdrängen des »Ego Cogito« geblickt hätte. Gegen sich darauf beziehende Einwände ist aber zu betonen, dass Marion den Zugang Heideggers durch den Rekurs auf Descartes vielmehr stark gemacht hat. Eigentlich schützt er diesen damit vor der Gefahr, einen, mit K.-O. Apel, »performativen Selbstwiderspruch« zu begehen. Dieser wäre wohl klar aus dem kurzsichtig von Heidegger negierten »Ego cogito« gefolgt. Denn eine sich vom »Ego cogito« einfach distanzieren wollende Daseinsanalytik würde nicht nur, wie Marion bemängelt, gegenüber dem Anspruch phänomenologischer Methodik indifferent bleiben. Überdies ließe sie sich kaum noch als Bemühung eines universal nachvollziehbaren »Ich denke« vertreten. 398

RD 160. Zugleich trägt Marion damit einen typisch französischen Akzent in die Phänomenologie ein. Descartes wird hier als »Vater der Phänomenologie« bzw. die »cogitatio« als quasi ›archaische Phänomenologie‹ rehabilitiert, dies aber in einer über Husserl hinausgehenden Form. Denn Marions Aufweis der latenten Ontologie des »Ego cogito« hat eine umfassendere Bezugnahme auf Descartes zum Hintergrund, wie sie gerade für die französische Descartesrezeption typisch ist. (Vgl. Laudien, K. Die Schöpfung der ewigen Wahrheiten. Die Bedeutung der philosophischen Gotteslehre bei René Descartes, 10 ff.). Das Urteil E. W. Orths, dass »die Rolle Descartes’ in ihr [der Phänomenologie / sc. T. A.] bisher unerfüllt geblieben« sei, wäre mit Marion neu zu erörtern. (Orth, E. W. Die unerfüllte Rolle Descartes in der Phänomenologie, 302). 397 398

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4.2.6.7. »Je hors d’être«: Seinsautonomie und Unendlichkeit der Reduktion Der Vergleich mit Descartes hat gezeigt, dass auch im Kontext der Seinsfrage die Reduktion gegenüber dem Seinsverstehen vorrangig ist. Der damit verbundene Primat der Reduktion vor der Ontologie kennzeichnet nach Marion zwar schon den Ansatz Husserls. Jedoch gilt es nun, nicht mehr in die dort prägenden Phänomenparadigmen »Gegenständlichkeit«, »Anschaulichkeit« etc. zurückfallen, die den Vorrang des Bewusstseins bestätigen. Darum ist folgendermaßen zu argumentieren: Erstens: Husserl hat nach Marion als erster die Reduktion als eine vom Sein unabhängige Methode begründet. Marion führt dies folgendermaßen aus: In der Einleitung zu den »Ideen« umreißt Husserl zunächst sein Projekt, eine »Wesenswissenschaft« zu entwickeln. Er bedient sich in diesem Zusammenhang der Ausdrücke »Regionalontologie« und »Formalontologie«, in denen die bewusstseinstypische Urintuition eines Gegenstandes entwickelt und analysiert werden soll: »Dem reinen regionalen Wesen entspricht dann eine regionale eidetische Wissenschaft oder, wie wir auch sagen können, eine regionale Ontologie.« 399 Ausgehend davon will Husserl eine Formalontologie als »eidetische Wissenschaft vom Gegenstande überhaupt« 400 begründen. Wenn aber Husserl im vierten Kapitel der »Ideen« die Tragweite der phänomenologischen Reduktion darstellt, so verfolgt er dort die Ausschaltung selbst eidetischer Gebiete und der »ihnen zugehörige Ontologien.« 401 Angesichts der von Husserl projektierten, dann im Namen der Reduktion wieder außer Kraft gesetzten Ontologie vertritt Marion die Ansicht, dass jede Ontologie zuerst auf den Prüfstand der Reduktion zu stellen ist. Reduktion zeigt sich als die der Phänomenologie gemäße Rationalitätsform, der sich alles unterzuordnen hat: »Ainsi l’ontologie n’a reçu qu’une legitimité conditionelle; elle doit ensuite comparaître devant le tribunal de la raison.« 402 Die Husserlsche Vorordnung der Reduktion vor der Ontologie ist nun zu übernehmen. Zweitens: Richtet Husserl dann zwar die Reduktion auf das ab399 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 23. 400 Ebd., 26 f. 401 Ebd., 129. 402 RD 236, vgl. Marions Descartesdeutung in: »L’ego conquiert inconditionellement

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solute Bewusstsein aus, so behält er doch das Verdienst, die autonome Stellung der phänomenologischen Methode berücksichtigt und damit den Cartesischen Wissenschaftsanspruch des »Ego cogito« tradiert zu haben. 403 Husserl und Descartes kommen darin überein, dass ihre Reflexion eine seinskritische Methodik impliziert. Marion will sich nun in diese Reihe stellen, insofern er die Autonomie der Reduktion vor ihrem Unterwandertsein durch das Sein Heideggers bewahrt und zugleich die Engführungen Descartes’ und Husserls überwindet: »Nous devrons donc esquisser la thèse d’un horizon hors de l’être à partir des indications et des exigences internes de la phénoménologie husserlienne, même si, inévitablement, il faudra parfois continuer sans, voire au-delà de Husserl. Car la seule manière de justifier, contre Heidegger, les apparentes (ou réelles) apories de son ontologie phénoménologique pourrait consister à la pousser jusqu’aux conséquences extrêmes de la réduction.« 404 Drittens: Der Ausgangspunkt bzw. Leistungsträger der Reduktion liegt deshalb im »Je hors d’être« 405 . Diese Festlegung Marions verbindet mindestens drei Aspekte: Einmal bleibt damit a) das Cartesische »Ego cogito« als Orientierungspfosten phänomenologischer Reflexion erhalten. Im Hintergrund ist die von Descartes’ zuerst beteuerte Vernunftautonomie als Urmanifest der autonomen Reduktionsmethode auszumachen. Damit erst ist die Voraussetzung für eine methodisch ernsthaft geleitete Reduktion geschaffen. In ihr wiederholt sich die Einsicht Descartes’, die das egologische Denken als Kriterium philosophischer Gültigkeit anwendet: »ego sum, ego existo, quoties a me profertur vel mente concipitur necessario esse verum.« 406 Dennoch darf dies b) nicht wie bei Descartes zur Restaurierung des »Ego« als erstes Seiendes oder zur Prinzipierung des Bed’être, mais en tant qu’il pense et dans cette mesure seulement.« (Marion, J.-L. L’exactitude de l’ego, 8). 403 Marion ist unmissverständlich darauf bedacht, in dieser Methodenbegründung keinen substanzmetaphysischen Ballast, der noch am cartesischen Denken hängt, in die Phänomenologie hineinzuschleifen. Entsprechend soll nicht das »inconcussum quid« Descartes’ (wohl aber doch dessen ego / cogito) zu phänomenologischer Geltung kommen: Vgl. »Et, de même qu’il y a plus et mieux à dire du Je avec la réduction que d’y restaurer l’inconcussum quid cartésien, de même pourrait-il y avoir plus et mieux à penser avec la transcendance du Je que de la consacrer sans reste à l’être de l’étant.« (RD 246). 404 Ebd., 241. 405 Vgl. ebd., 240 ff. 406 Decartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 25, 12–13.

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wusstseins im Sinne Husserls führen. 407 Die Reduktion des »Je hors d’être« darf kein anderes Interesse verfolgen, als das Selbsterscheinen der Phänomene in einer nachvollziehbaren Methode zu ermöglichen. 408 Insofern das »Je hors d’être« als Leistungsträger phänomenologischer Reduktion festzulegen ist, bedeutet dies c) im Einzelnen: Das »Je hors d’être« stellt den Ankunftsort der in der Reduktion sichtbar gemachten Phänomene dar. Die Phänomene erscheinen auf ihm wie auf einer Bildfläche (»écran«). 409 Auf der Grundlage dieses Ergebnisses lässt sich jetzt bestimmen, wie es vom »Je hors d’être« her bzw. qua Reduktion zur Erscheinung von ›Sein überhaupt‹ kommen kann. 4.2.7. Die Gebung des Seins und die reine Gebung Das »Je hors d’être«, auf das die Reduktion festzulegen ist, bestimmt Marion dadurch, dass es sich zum Sein noch einmal selbst verhalten kann. Es ist nicht in das Seinsgeschick und seine geschichtlichen Gestalten verstrickt. Weil nach Marion ferner die Reduktion auf diesem »Je hors d’être« aufbaut, verkörpert dieses die erste Referenz von Phänomenologie. Das Sein bildet folglich nicht mehr, wie Heidegger 407 Vgl. »J’ai pris l’être ou l’existence de cette pensée pour le premier Principe, duquel j’ai déduit très clairement les suivants: à savoir qu’il y a un Dieu, qui est auteur de tout ce qui est au monde.« (Descartes, R. Principes de la Philosophie, Œuvres AT IX-2,10,4– 8), s. a. die in den »Meditationes« im Anschluss an den sog. ›archimedischen Punkt‹ fallende Äußerung Descartes’, in der dieser ein »notwendiges Sein« ergriffen zu haben meint: »Nondum vere satis intelligo, quisnam sim ego, qui iam necessario sum […].« (Decartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 25, 14–15. Hervorh. / T. A.). Noch schärfer: Vgl. Descartes, R. Discours de la Méthode, in: ders. Œuvres, AT, VI, 33, 4–7., RD 246 oben. 408 Zu diskutieren wäre, ob das von Marion angestrebte Selbsterscheinen der Phänomene noch dem Suchen Descartes’ nach gültigen Erkenntnissen entsprechen kann oder ob dieses nicht auch Erscheinungen Tür und Tor öffnen würde, die der methodische Zweifel Descartes’ als Trugbilder überführt hätte. 409 Vgl. »Mis hors d’être […] le Je peut s’offrir d’autres transcendances, voire s’offrir à d’autres transcendances, que la réduction, sans cesse radicalisée, comme une nouvelle apophantique, lui dégagéra. Nous ne pouvons pas encore dire ces transcendances, mais pourtant la phénoménologie n’exige rien de moins.« (RD 246 f.). Bei diesem Zitat muss man sich die Tatsache vor Augen halten, dass Marion in seinem theologischen Frühwerk immer wieder auf die Präponderanz der christlichen Weltdeutung hinwies. In dieser Aussage wird man ein erstes und zurückhaltendes Argument dafür sehen dürfen, dass die phänomenologische Vernunft für den Appell der christlichen Offenbarung ansprechbar ist. (Vgl. ebd., 295).

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behauptete, der die Phänomenologie je schon unterwandernde Horizont. Im Gegenteil: Aus dem Blickwinkel der von Marion reformulierten Reduktionsmethode steht das Sein zur Disposition des »Je hors d’être«. Genauer: Das Sein kann nur über einen identifizierenden, intentionalen Akt des »Je hors d’être« erscheinen. Marion legt dies über einen Vergleich zwischen »Was ist Metaphysik?« und späteren Texten Heideggers dar. Dieser Interpretation zufolge entspringt die Phänomenologie des Seins der identifikatorischen Konstitution des »Je hors d’être«, wodurch nach Auffassung Marions aber die ursprüngliche Eröffnung der Phänomenwelt durch die »Gebung« verdeckt wird. In diesem Aufweis macht Marion zweierlei deutlich. Erstens kann das Sein lediglich als Appell bzw. Gebung 410 in Erscheinung treten. Es liegt ein phänomenologischer Denkfehler darin, wenn Heidegger in seinen späteren Deutungen von »Was ist Metaphysik?« glaubhaft machen will, dass sich das »Sein« schon in der menschlichen Grundbefindlichkeit »Angst« und seiner Nichtserfahrung kundgibt. Marion zeigt dem entgegen auf, dass das Sein alleine aus einem Appell / einer Gebung hervorgehen kann, worin sich seine erste Bedingtheit markiert. 411 Denn erst unter der Voraussetzung einer Offenheit gegenüber »Appellen / Gebungen überhaupt« kann auch der Anruf / die Gebung des Seins ankommen. Zweitens wird begründet, dass das Sein, insofern es nur als Appell zur Geltung kommen kann, von einer Antwort konditioniert ist, in der ein Appell als Appel des Seins identifiziert wird. 412 So kann das gesuchte »Sein überhaupt« nur erscheinen, wenn ihm eine spezifisch ›ontologische Aufmerksamkeit‹ vorausgeht. Gezeigt ist somit für Marion, dass es zur Erscheinung von »Sein überhaupt« nur kommen kann, wenn dem eine Offenheit gegenüber ›Appellen und Gebungen überhaupt‹ zugrunde liegt und die dabei ergehenden Appelle mit der Identifikation »Sein« beantwortet werden. Damit untersteht die Phä410 Marion denkt »Ruf« und »Gebung« als synonyme Begriffe: Vgl. v. a. »Ce qui se donne ne se donne qu’à celui qui s’adonne à l’appel et que sous la forme pure d’une confirmation de l’appel.« (RD 296), »Ainsi naît l’adonné, que l’appel fait succéder au ›sujet‹, comme ce qui se reçoit entièrement de qu’il reçoit.« (ED 369). Die Identität beider stellt R. Horner heraus: »The reduction to the call concerns how the interlocuted […] is given a gift of surrendering to or withdrawing from the claim of the call …« (Vgl. Horner, R. Rethinking God as Gift, 93). 411 Vgl. »Le modèle de l’appel s’exerce avant la simple revendication de l’être, et plus amplement.« (Ebd., 295). 412 Vgl. »Devant une revendication, surtout celle de l’être, il y va d’abord d’un ›choix‹, avant même la réponse.« (Ebd., 282).

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nomenalität des Seins dem Gefüge von Ruf und identifizierender Antwort, das auch die Möglichkeit einer Indifferenz gegenüber dem Sein (»ennui des profondeurs«) impliziert. Durch diese Analyse zeigt Marion, wie sich das Seinsphänomen ausgehend vom »Je hors d’être« als Leistungsträger der Reduktion konstituiert. Es soll deutlich werden, dass die Phänomenalität von Sein von einer Offenheit des »Je hors d’être« gegenüber »Appellen überhaupt« und dessen ›seinsidentifizierendem Vorgriff‹ abhängt. Weil das »Je hors d’être« aber auch auf diesen Vorgriff verzichten kann, steht es, tiefer noch, unter dem Anspruch ›reiner Appelle‹. Insofern das »Je hors d’être« über die Kompetenz verfügt, einen Anruf zu hören und ihn als Anruf des Seins zu identifizieren, muss es gegenüber Appellen bzw. Gebungen in einem generellen und reinen Sinn offen sein. Damit wäre aber aufgewiesen, dass das »Je hors d’être« und seine von ihm ausgehende Reduktion ursprünglich auf »Appelle überhaupt«, d. h. »donation« hingeordnet ist. 4.2.7.1. »Sein und Nichts« als Polarität: »Was ist Metaphysik?« Die Vorlesung »Was ist Metaphysik?« markiert eine weitgehend unbeachtete Sonderstellung im Œuvre Heideggers. Versucht man nämlich, wie Marion, das Denken Heideggers ingesamt auf den Prüfstand der Reduktion zu stellen, dann wäre einerseits positiv zu verbuchen, dass die Seinsfrage in »Was ist Metaphysik?« nicht mit Hilfe der Daseinsanalytik angegangen wird, deren Inkompatibilität mit der Reduktion bereits erwiesen wurde (Kap. 4.2.6). Andererseits gehört »Was ist Metaphysik?« noch nicht in den Werkkontext der »ontologischen Differenz« 413 , die ohnedies nicht mit der reduktiv erschlossenen Seinsfrage übereinkam (Kap. 4.2.4.). Bei der Frage, ob der »Sinn von Sein« über die Reduktion bei Heidegger zu erschließen wäre, muss sich daher die Aufmerksamkeit in besonderem Maße auf »Was ist Metaphysik?« richten. Folgende Aspekte sind in dieser Vorlesung, die Heidegger am Beginn seiner Lehrtätigkeit in Freiburg hielt, herauszustellen. Ers413 Heidegger weist darauf selber hin, wenn er folgende Zäsur zieht: »Die Abhandlung ›Vom Wesen des Grundes‹ entstand im Jahre 1928 mit der Vorlesung ›Was ist Metaphysik?‹. Diese bedenkt das Nichts, jene nennt die ontologische Differenz.« (Heidegger, M. Vom Wesen des Grundes, Vorwort zur dritten Auflage (1949), in: ders. Wegmarken, GA 9, 123).

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tens präsentiert Heidegger hier Überlegungen zur ›Metaphysik‹. Das Denken soll eine metaphysische Haltung einnehmen. 414 Dass dabei dann die Seinsfrage aufbrechen solle, hat Heidegger in der zeitgleich erschienen Untersuchung »Kant und das Problem der Metaphysik« betont. 415 Infolgedessen dürfte die Seinsfrage den Anlass zu »Was ist Metaphysik?« bilden. 416 Zweitens verzichtet Heidegger hier darauf, die Daseinsanalytik als Methode zur Erschließung der Seinsfrage einzusetzen. In »Sein und Zeit« stand noch fest: »Eine Analytik des Daseins muss also das erste Anliegen in der Frage nach dem Sein bleiben.« 417 Anders aber in »Was ist Metaphysik?«: Dort entwickelt Heidegger seine Argumentation nicht über die Daseinsanalytik. Vielmehr steht der Begriff des »Daseins« in »Was ist Metaphysik?« im Verbund mit Ausdrücken wie »Mensch«, »menschliche Existenz«, »Wir«, die methodisch nur schwach bestimmt sind. Man wird also der Daseinsanalytik keine methodische Valenz bei der hier intendierten Behandlung der Seinsfrage zuteilen dürfen. Drittens: Verglichen mit »Sein und Zeit« liegt der Ausgangspunkt der Reflexion in zwei Gegebenheiten, die zueinander im Gegensatz stehen: Zuerst die Gegebenheit des Seienden in seiner undifferenzierten Totalität: »Die Allheit des Seienden muss […] gegeben sein […]« 418 Dann die Gegebenheit des Nichts: »Wenn das Nichts, wie immer, befragt werden soll – es selbst – dann muss es zuvor gegeben sein.« 419 Heidegger betont jetzt, dass die Suche nach dem Sinn von Sein von diesen Gegebenheiten ausgehen solle. Zwar setzt er dadurch die methodische Funktionalität der Daseinsanalytik außer Kraft. Jedoch führt Heidegger diese Untersuchung viertens weiterhin auf der ›Position des »Daseins«‹ durch, in dessen Erfahrungen sich jene Gegebenheiten manifestieren und durchleuchtet werden können. Entsprechend stellt Heidegger die Frage: »Geschieht im Dasein des Menschen ein solches 414 Vgl. »Statt dessen erörtern wir eine bestimmte metaphysische Frage. Dadurch lassen wir uns, wie es scheint, unmittelbar in die Metaphysik versetzen.« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 103). 415 Vgl. »Jede Frage nach dem Sein eines Seienden und gar die Frage nach dem Sein desjenigen Seienden, zu dessen Seinsverfassung die Endlichkeit als Seinsverständnis gehört, ist aber Metaphysik.« (Vgl. Heidegger, M. Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 230). 416 Vgl. »Tout comme dans Sein und Zeit il s’agit d’atteindre, donc de donner le ›sens d’être‹« (RD 111). 417 Heidegger, M. Sein und Zeit, 16. 418 Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 109 f. 419 Ebd., 108.

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Gestimmtsein, in dem er vor das Nichts selbst gebracht wird?« 420 Die Gegebenheiten des Seienden und des Nichts, insofern sie sich in den Stimmungen des »Daseins«, der menschlichen Existenz etc. zeigen, sollen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Seinsfrage analysiert werden. So wird die Gegebenheit des Seienden in seiner undifferenzierten Totalität im Gefühl der Langeweile erfahren und zwar »wenn ›es einem langweilig ist‹« 421 : »l’étant en totalité se donne à voir, précisément parce que l’ennui rend indifferentes les différences qualitatives et quantitatives entre les étants.« 422 Davon hebt Heidegger die Stimmung der Angst ab. In der Angst manifestiert sich die Gegebenheit des Nichts. Heidegger bestimmt die Angst hier als den Zustand, in dem uns das ›Seiende im Ganzen‹ zurückstößt und sich das ›Andere des Seienden‹ phänomenal eröffnet »Diese im Ganzen abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen, als welche das Nichts in der Angst das Dasein umdrängt, ist das Wesen des Nichts: die Nichtung.« 423 Wenn fünftens nun nach dem Sein zu fragen ist, insofern es sich vom Seienden unterscheidet, dann gründet dieses Fragen nach Heidegger zuerst in der Angst. Dort manifestiert sich zwar das Nichts. Doch in dieser Erfahrung löst sich das Denken von der Totalität des Seienden: Es wird an das ›Andere des Seienden‹ verwiesen. Folglich ist die Haltung der Seinsfrage erreicht. 424 In der Angst vor dem Nichts wird nämlich nach dem ›Anderen der Seiendheit‹ gefragt: »Das menschliche Dasein kann sich nur zu Seiendem verhalten, wenn es sich in das Nichts hineinhält.« 425 Heidegger verortet hier also die Metaphysik, d. h. die Frage nach dem Sein, in der Stimmung der Angst. Die Seinsfrage scheint über deren Analyse behandelt werden zu können. Es gehört nun zur Eigenart von Heideggers späten Selbstdeutungen, dass die Phänomenalität des Nichts hier mit dem Erscheinen des Seins koinzidieren soll. In »Was ist Metaphysik?« findet sich noch die durchaus mehrdeutige Formulierung: »Im Sein des SeienEbd., 111. Ebd., 110. 422 RD 260. 423 Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 114., vgl. RD 263. 424 Dieselbe ›Abstraktion vom Seienden‹ liegt in der Seinsfrage vor. Vgl. »Nach dem Sinn von Sein soll die Frage gestellt werden.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 28, 5). 425 Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 121. Wenn Heidegger anschließend behauptet: »Das Hinausgehen über das Seiende geschieht im Wesen des Daseins.« (Ebd., 121), dann ist dies als Konzession an die Daseinsanalytik aus »Sein und Zeit« zu lesen. 420 421

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den geschieht das Nichten des Nichts« 426 . Doch zögert Heidegger nicht lange, um in der Erfahrung des Nichts eine klare Äußerung des Seins selbst zu sehen. Im 1949 abgefassten Vorwort zur dritten Auflage der Schrift »Von Wesen des Grundes« heißt es entsprechend: »Das Nichts ist das Nicht des Seienden und so das vom Seienden her erfahrene Sein.« 427 Einen Überblick zu dieser neuen Interpretation des Nichts als Sein verschafft man sich leicht über die Korrekturen, die Heidegger in späteren Auflagen von »Was ist Metaphysik« vorgenommen hat. 428 Wenn Heidegger Sein und Nichts aber in eins setzen will, dann stellt dies nach Marion eine nachträgliche und verstellende Selbstinterpretation dar. Diese setzt das seinsgeschichtliche Denken nach der Kehre voraus und stülpt das Sein dem Gedankengang von »Was ist Metaphysik?« auf. Die vom späten Heidegger insinuierte Gleichung von Nichts und Sein wäre zu widerlegen. Marion verdeutlicht nun, dass in Heideggers Identifizierung von »Sein« und »Nichts« ein phänomenologischer Kurzschluss liegt, der unter dem Einfluss seines seinsgeschichtlichen ›Holismus‹ steht. 429 Dieser Gleichung würde als erstes widersprechen, dass sich das »Nichts« nach »Was ist Metaphysik?« durch Unbestimmbarkeit auszuzeichnen hätte. Die für das Nichts charakteristische Unbestimmbarkeit zeigt sich Marion unter anderem daran, dass dieses in der Angstanalyse lediglich als »Verweis« im Seienden zur Geltung kommt: »[Das Nichts] zieht nicht auf sich, sondern ist wesenhaft abweisend. Die Abweisung von sich ist aber als solche das entgleitenlassende Verweisen auf das versinkende Seiende im Ganzen.« 430 Zöge man hier aber hinzu, dass Heidegger in »Sein und Zeit« den »Verweis« nur als unausgereifte, rudimentäre Phänomenform (»Erscheinung versus Phänomen«) behandelt 431 , dann müsste man vorsichtig 426 Ebd., 115, dazu kritisch Marion: »mais la tournure ici suprend: on attendrait plutôt que le Rien, en néantissant, manifeste l’être de l’étant pour ainsi dire sans l’étant; bref que le Rien soit dans l’être, et non l’inverse.« (RD 268). 427 Heidegger, M. Vorwort zur dritten Auflage zu »Vom Wesen des Grundes«, in: ders. Wegmarken, GA 9, 123. 428 Die Version in Heideggers Gesamtausgabe bietet anschaulich die Varianten in den Fußnoten. 429 Vgl. schon: »Il ne va pas de soi, et l’expérience de la banalité ne cesse de le confirmer, que l’angoisse, par son Néant, permette d’éprouver l’Etre de l’étant.« (Marion, J.-L. L’Angoisse et l’Ennui. Pour interpréter »Was ist Metaphysik?«, 132 f.). 430 Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 114. 431 Vgl. »Phänomen – das Sich-an-ihm-selbst-zeigen- bedeutet eine ausgezeichnete Begegnisart von etwas. Erscheinung dagegen meint einen seienden Verweisungsbezug im

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damit sein, »Nichts« und »Sein« einfach koinzidieren zu lassen. Denn durch diese Identifikation setze man einen Bestimmungsakt, den der »Verweis« nach »Sein und Zeit« gerade ausgeschlossen hätte. Das Nichts bestimmt sich für Marion deshalb dadurch, dass es sich nicht bestimmen lässt. Ferner wird Marion an Heideggers Behandlung des Nichts in »Sein und Zeit« dessen Mehrdeutigkeit bewusst: Dort meint das Nichts die Wertlosigkeit und Nichtigkeit des Zuhandenen, wodurch das »Dasein« auf sein »In-der-Welt-Sein« aufmerksam wird. 432 Das Nichts hat hier, so deutet Marion, ausschließlich ontische Qualität und erschließt nicht das »Sein überhaupt«: »Sans doute est-il légitime de parler ici du Rien, mais à condition de le comprendre comme le Rien ontique, qui renvoie au phénomène du monde.« 433 Schließlich stelle die Schrift »Was ist Metaphysik?« kaum einen eindeutigen Zusammenhang zwischen »Nichts« und dem »Sein überhaupt« her. Wenn in ihr die Rede auf das Nichts und das Sein zugleich kommt, dann bewegen sich diese Begriffe in einem ambivalenten Zusammenhang zum Seienden: »Im Sein des Seienden geschieht das Nichten des Nichts.« 434 Heideggers späteres Vorhaben, das Nichts mit dem ›Sein überhaupt‹ zur Deckung zu bringen, steht diesen pluriformen Deutungsmöglichkeiten des Nichts entgegen. Denn nach Marions Auffassung ist nicht festzulegen, ob sich im Nichts das »Sein des Seienden« oder das »Sein überhaupt« äußert. »D’où une interrogation en forme de soupçon: si plusieurs renvois entrent en concurrence à propos de l’unique apparition du même Rien, lequel convient, à supposer qu’un convienne mieux que les autres? Bref, de quel droit le Rien admettrait-il un renvoi à l’être plutôt qu’à une autre instance?« 435 Wenn Heidegger im Nachwort von 1943 beteuert: »Aber dieses Nichts west als Sein.« 436 , fußt diese Interpretation auf einer phänomenologischen Engführung, die mehr über Heideggers spätere Selbstwahrnehmung als über den faktischen Gedankengang von

Seienden selbst, so zwar, daß das Verweisende (Meldende) seiner möglichen Funktion nur genügen kann, wenn es sich an ihm selbst zeigt, ›Phänomen‹ ist.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 31), vgl. RD 265 f. 432 Ebd., 186 f. 433 RD 267. 434 Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 115. 435 RD 270, vgl. a. ebd., 280. 436 Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 306.

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»Was ist Metaphysik?« 437 preisgibt. Aus der Sicht Marions müsste die Phänomenalität des Nichts mehrdeutig bleiben. Gegen die nachträglichen Überzeichnungen Heideggers stellt Marion heraus, dass das Nichts zwar gegeben ist und sich in der Erfahrung der Angst niederschlägt. Jedoch sei ihm nichts anderes abzugewinnen als ein erstes unbezügliches Schweigen. Im Unterschied zum Phänomen des Seins wirke das Nichts verdeckend und dürfe darum nicht selbst als Erscheinungsform des Seins gedeutet werden. »Le Rien offusque l’être, plus qu’il ne le met en scène; il masque le ›phénomène d’être‹, avant que d’y mener; son indistinction qui se tait, ne peut, comme telle, s’ouvrir sur le moindre autre – et encore moins le nommer comme l’être.« 438 Würde sich nämlich im Nichts das Sein äußern, dann wäre die Angst eine das Seinsphänomen ermöglichende, und so bevorzugte Stimmung. Genauer noch würde sich in ihr der Anruf des Seins artikulieren. Dem widerspricht aber nach den Überlegungen Marions, dass Heidegger in »Was ist Metaphysik?« die Angst durch Sprachlosigkeit charakterisiert, die das Sein verschleiern sollte. 439 Dass der spätere Heidegger konträre Aussagen zum Sein unter eine seinsgeschichtliche Klammer bringen kann, ist bekannt. Gegenläufig dazu weist Marion darauf hin, dass auf der alleinigen Basis der in »Was ist Metaphysik?« vorgetragenen Argumentation lediglich unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten das Nichts festzustellen wären. Keinesfalls führe dessen Erfahrung, wie Heidegger später insinuiert, auf direktem Weg in die Phänomenalität von »Sein überhaupt«. Das Nichts könne für die Phänomenwerdung des Seins nur uneindeutig in Frage kommen. Zwischen Nichts und Sein liege vielmehr eine Kluft. 4.2.7.2. Die »Erscheinung des Seins« – vom »Je hors d’être« konditioniert »La transition restant impraticable à partir du Rien et de l’étant, il faut l’entreprendre à partir du terme ultime, l’être même.« 440 Wenn sich kein Übergang vom Nichts zum Sein begründen lässt, dann kann 437 Vgl. »Le travail d’interpretation qu’entreprend Heidegger après et sur Was ist Metaphysik ? peut se distribuer en trois opérations: des accentuations, des substitutions et une addition.« (RD 270). 438 Ebd., 275, vgl. Horner, R. Rethinking God as Gift, 89. 439 Vgl. Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 312. 440 RD 278.

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das Sein, so Marion, nur durch eine über die Angst und die Nichtserfahrung hinausgehende Aufmerksamkeit in Erscheinung treten. Seiner Ansicht nach kann das Sein ja in der Grundbefindlichkeit der Angst bzw. im Nichts nicht erscheinen, weil das Nichts disparate Deutungen zulässt. Infolgedessen konstituiert sich das Phänomen des Seins für Marion nur über einen Ruf oder eine Gebung, die mit der Angst bzw. der Erfahrung des Nichts nicht übereinkommt. Das Sein treffe vielmehr als Ruf oder Gebung von Außen auf das Nichts: »En un mot, le passage du Rien à l’être relève de l’être, en rien du Rien ni de l’étant; seul l’être peut appeler à l’être.« 441 Nach Marion gilt es, die Phänomenalität von Sein ausschließlich als Ruf und Gebung in den Blick zu nehmen. Während die Nichtserfahrung aus »Was ist Metaphysik?« nur ambivalente Deutungsmöglichkeiten zulässt, erscheint das Sein nur als Ruf und »donation«. 442 Bekanntlich finden sich auch bei Heidegger Formulierungen wie die »Stimme des Seins«. 443 Ferner steht diese Deutung des Seins als Anruf, Appell und Gebung im Mittelpunkt von Heideggers später Philosophie: »Der Mensch muss sich, bevor er spricht, erst vom Sein wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, dass er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat.« 444 Vor allem in seiner Ereignisphilosophie entwickelt Heidegger die Seinsphänomenalität als Geschehen von »donation«: »Das Geben im ›Es gibt Sein‹ zeigt sich als Schicken und als Geschick von Anwesenheit in ihren epochalen Wandlungen. Das Geben im ›Es gibt Zeit‹ zeigt sich als lichtendes Reichen des vierdimensionalen Bereiches.« 445 Marion macht gegen Heideggers seinsgeschichtlichen ›Holismus‹ nach der Kehre darauf aufmerksam, dass die Erscheinung des Seins nur von dieser Rufund Gabestruktur (»revendication«), und nicht etwa auch durch die Erfahrung des Nichts oder anderes, vermittelt wird. 446 Weil das Sein Ebd., Vgl. Kühn, R. Langeweile und Anruf. Eine Heidegger- und Husserlrevision mit dem Problemhintergrund »absoluter Phänomene« bei Jean-Luc Marion, 145. 443 Vgl. »Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder: dass Seiendes ist.« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 307). 444 Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 319. 445 Heidegger, M. Zur Sache des Denkens, 17. 446 Dem gegenüber würde wohl Heidegger fragen, ob sich in der Angst bzw. der Erfahrung des Nichts nicht auch das »Sein«, und zwar als Bedrohung, zur Erfahrung bringt. In Anbetracht einer solchen Interpretation wäre der von Marion vertretene Ruf- und Gabecharakter des Seins dadurch in seiner Ausschließlichkeit relativiert. 441 442

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aber nur als Ruf – und nicht auch in anderen Grundbefindlichkeiten – erscheine, unterstehe es einer ersten Bedingung: Die Phänomenalität des Seins wird in diesem Sinne von der Möglichkeit getragen, dass es ›Rufe und Gebungen überhaupt‹ gibt. »Le passage à l’être dépend de l’être revendiquant seul. En dernière instance, il ne s’agit de l’être, mais de la revendication qu’il exerce et grace à laquelle il advient à l’homme.« 447 Folglich gehe der Phänomenalität des Seins erstens die Offenheit des Staunens vor einem Ruf und einer Gebung voraus. »L’appel et l’étonnement remplissent un même et unique office – accorder le Dasein à ce qui se destine à lui et qui, sans étonnement, ne pourrait se manifester, le ›phénomène d’être‹.« 448 In den Augen Marions setzt die Phänomenalität des Seins zweitens aber eine Antwortstruktur voraus, mittels derer die Rufe als Rufe des »Seins« identifiziert werden können. Angesichts eines Rufes wäre zuerst zu fragen: »La voix blanche qui revendique, revendique-t-elle à partir et en vue de l’être? En quoi porte-t-elle le sceau de l’être […]?« 449 Dass Rufe nicht automatisch vom Sein her zu deuten sind, kann Marion an Heidegger selbst deutlich machen. Nach »Sein und Zeit« äußert sich im Ruf beispielsweise nur das Nichts: »Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen – nichts.« 450 Außerdem kann im Ruf das »Dasein« auf sein Selbst hin angerufen werden 451 , und Heidegger kennt die Möglichkeit, dass der »Ruf des Seins« ergeht, aber kein Gehör findet. Ruf und Gabe des Seins verlangen also eine Offenheit, mittels derer Rufe als Rufe des Seins identifziert werden können: »Ansprüche sind es, die den Menschen in seinem Wesen ansprechen und eine Antwort verlangen.« 452 Wenn Heidegger in »Sein und Zeit« schließlich betont, dass das »Dasein« sich zu seiner Seinsweise entschließen kann 453 , dann könnte dies nach Marion die Möglichkeit implizieren, einem Ruf die Ant447 RD 279, vgl. »En un sens strictement phénoménologique, l’émerveillement devient la condition de dévoilement de l’être, exactement comme l’écoute de sa revendication.« (Ebd., 291). 448 Ebd., 291, vgl. Kühn, R. Langeweile und Anruf. Eine Heidegger- und Husserlrevision mit dem Problemhintergrund »absoluter Phänomene« bei Jean-Luc Marion, 147, ders. Französische Reflektions- und Geistesphilosophie. Profile und Analysen, 190. 449 RD 280. 450 Heidegger, M. Sein und Zeit, 273. 451 Ebd., 273. 452 Heidegger, M. Grundbegriffe, GA 51, 5. 453 Vgl. »Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 12).

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wort »Sein« zu verweigern. 454 Festzuhalten ist mit Marion darum, dass Rufe nicht von sich her schon als »Sein« bestimmt sind und es für dessen Phänomenalität erst eines ›identifizierenden Aktes‹ bedarf. 455 Daraus ist die zweite Bedingung zu schließen: Der Ruf des Seins kann nur ergehen, wenn mit ihm jeweils schon eine Aufmerksamkeit und eine Antwort korreliert ist. »En tous les cas, seule l’attention à cette revendication ouvre la phénoménalité de l’être. […] L’être ne se dit qu’en revendiquant, il ne se donne qu’à une réponse.« 456 Über die vorausgehende Appell- und Antwortstruktur können Rufe als Rufe von »Sein überhaupt« identifiziert werden. Infolgedessen kommt der Ruf des Seins letztlich nur dank eines identifizierenden Vorgriffes an. »Le Je ne joue véritablement comme Dasein qu’en se commettant en personne avec l’être, en le faisant sien sans reste, ou plutôt en s’abandonnant sans réserve à son jeu.« 457 Mit Blick auf Heideggers Suche nach dem »Sein überhaupt« gilt für Marion folglich, dass das Sein nur dann zur Erscheinung kommen kann, wenn es eine phänomenologische Offenheit gegenüber ›Appellen und Gebungen überhaupt‹ gibt. Ferner erfordert die Phänomenwerdung von »Sein überhaupt«, dass der Appell als Ruf des Seins identifiziert wird: »Entendre cette revendication comme celle de l’être, lui donner réponse à la mesure de l’être, déciderait donc, à la fin, du ›phénomène d’être‹.« 458 Lediglich innerhalb dieser Struktur könne »Sein überhaupt« zur Erscheinung kommen. Dies hätte nun aber zur Konsequenz, dass dem Phänomenaufbau des Seins eine Instanz vorausliegt, die sich ›diesseits des Seins‹ bewegt. Zunächst wäre ja eine Offenheit gegenüber »Appellativität« oder »donation überhaupt« erforderlich. Außerdem würde es einer ›ontologischen Identifizierungskompetenz‹ bedürfen, damit Sein erscheinen könne. Weil Marion zufolge aber das Seinsphänomen innerhalb des beschriebenen Bedingungsgefüges steht, muss sich an seinem Ursprung eine ›Offenheit‹ befinden, über die das Sein zur Erscheinung kommen kann – eine Instanz, die dem Sein vorausliegt. Für Marion bestätigt sich hier einmal die Virulenz des »Je hors d’être«. Überdies hat jetzt Vgl. RD 292 f. Vgl. »The call seems to expose me to the necessity of making a judgement about it.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, 91). 456 RD 280. 457 Ebd., 293. 458 Ebd., 280. 454 455

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aber die Analyse von »Was ist Metaphysik?« gezeigt, dass diese Instanz, die dem Sein vorausliegt, der ›donation‹, »Appellativität überhaupt« gegenüber offen ist. Weil indes das »Je hors d’être« als Leistungträger der Reduktionsmethode verstanden wurde, wird man nun sagen können, dass dieselbe der »Appellativität überhaupt« bzw. der »donation« verschrieben ist, um das Erscheinen von Sein zu ermöglichen. Zuvor wäre aber näher ins Auge zu fassen, wie Marion diese über das »Je hors d’être« mögliche Phänomenwerdung des Seins denkt. Für Marion wird die Phänomenwerdung von »Sein überhaupt« durch das »Je hors d’être« erreicht, weil das »Je hors d’être« / der Leistungsträger der Reduktion gegenüber Appellen und Gebungen generell offen ist. Genauer: Diese Offenheit ist als seine zentrale Anlage zu bestimmen. Zudem kann das »Je hors d’être« dadurch einen Anruf als Anruf des Seins identifizieren. Vermittels der dargelegten Moderation des »Je hors d’être« kann sich das Sein ereignen und das Seinsphänomen ausbilden. Das »Je hors d’être« kann aber auch darauf verzichten, die an ihn gerichteten Appelle mit dem Sein zu identifizieren. Mit anderen Worten: Dass das Seinsphänomen durch eine Offenheit und einen Identifizierungsakt vom »Je hors d’être« bedingt ist, schließt die Möglichkeit einer Indifferenz gegenüber dem Sein ein. Marion bestimmt diese Indifferenz als ontologische Langeweile (»ennui des profondeurs« oder »ennui essentiel« 459 ), die er mit Blick auf Heidegger als »Gegen-Existenzial« 460 bestimmt. »L’ennui ne pourrait-il pas aussi – voire d’abord – intervenir pour nous libérer de l’appel par quoi l’être nous revendique?« 461 Nach Heidegger führte die Langeweile das »Dasein« vor die ununterschiedene Totalität des Seienden. Anders als bei der Angst eröffne sich in der Langeweile, Heidegger zufolge, die – zum Sein später weiter deklinierte – Phänomenalität des Nichts. 462 Im Unterschied zu Heidegger und die vorangegangene Argumentation aufgreifend deutet Marion die Langeweile nun als Verhaltensmöglichkeit, in der sich das »Je hors d’être« dem Sein verweigert. Das »Je hors d’être« unterlässt es dann, Anrufe bzw. Gebungen mit »Sein« zu prädizieren. Es ist gegenüber 459 Vgl. ebd. 280. Marion, J.-L. L’Angoisse et l’Ennui. Pour interpréter »Was ist Metaphysik?«, 139 ff. 460 Vgl. RD 283. 461 Ebd., 284. 462 Vgl. Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 110, kritisch RD 261 oben.

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dem Sein indifferent. Von dieser ›ontologischen Langeweile‹ kann jedes Phänomen beschlagen werden, insofern es als Seiendes gedeutet wird: »l’homme s’ennuie en tant même qu’il est, ou plutôt qu’il endure sa condition d’étant.« 463 Die Seienden werden ferner in ihrem Sein gewusst, aber sie erzeugen gerade in dieser Stellung nur Langeweile und erwecken kein Interesse. Mehr noch: Das »Je hors d’être« kann sich als Gefangener des Seins erfahren. 464 Diese Möglichkeit ontologischer Langeweile und Bedrückung ist jedoch nicht als eine Art von Negation zu betrachten. Die Negation hätte ja noch ein Interesse am Sein, insofern sie es negieren will. Die ontologische Langeweile suspendiert aber auch noch die Erfahrung des Nichts: »Ainsi, l’ennui se démarque-t-il aussi bien du nihilisme et de la négation que de l’angoisse: il n’estime pas, ni ne déprecie; il ne combat pas, ni ne prédique; il ne manque pas de l’étant, ni ne subit l’assaut du Rien.« 465 Kann sich aber das »Je hors d’être« im skizzierten Zustand ontologischer Langeweile einer seinsidentifizierenden Antwort auf die an es gerichteten Appelle verweigern, dann steht es nach Marion im noch ursprünglicheren und ›formaleren‹ Bereich reiner Appelle (»forme pure de l’appel«) oder ›Gebungen überhaupt‹. 466 Während also das »Je hors d’être« seinen seinsidentifizierenden Ausgriff in der Langeweile suspendieren kann, ist die formale Struktur ursprünglicher Offenheit gegenüber Appellen und Gebungen überhaupt sein unveräußerlicher ›Wesenszug‹. Diese Offenheit gegenüber reinen Appellen bringt Marion dadurch zum Ausdruck, dass er von einem im Vergleich zum Sein noch ursprünglicheren »Là hors d’être« spricht, das sich als »reiner Anruf« und »reine Gebung« manifestiert. 467 RD 284. Es zeigt sich, dass Marion mit dem »ennui des profondeurs« die philosophische Explikation dessen zu erreichen sucht, was er im Frühwerk als »vanitas« bestimmte. Während er dort auf literarische bzw. ikonographische Beispiele zurückgreifen musste, um »vanitas« darzustellen, soll die skizzierte Heideggerkritik deren begriffliche Erhellung bieten. Zu dieser Verbindung zwischen der »vanitas« und dem »ennui des profondeurs«: vgl. Marion, J.-L. L’Angoisse et l’Ennui. Pour interpréter »Was ist Metaphysik?«, 143. Marions Konzeption von Langeweile steht aber auch deutlich unter dem Einfluss von Lévinas’ Reformulierung des spinozistischen »conatus essendi«. Vgl. z. B. Lévinas, E. Wenn Gott ins Denken einfällt – Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, 215 f. 465 RD 286. 466 Vgl. Kühn, R. Französische Reflektions- und Geistesphilosophie. Profile und Analysen, 184. 467 RD 297. 463 464

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Marion weist also auf, dass die Phänomenalität des Seins eine ursprüngliche Anrufbarkeitsstruktur 468 auf Seiten des »Je hors d’être« bzw. der Reduktion voraussetzt. Ob das »Je hors d’être« auf Appelle bzw. Gebungen mit der Prädizierung des Seins antwortet oder nicht, ändert nichts an seiner primären Offenheit für sie. Von dort her begründet Marion, dass das Hören von Appellen und das Staunen vor Gebungen als Möglichkeitsbedingung für das Seinsphänomen festzulegen ist. Gegen Heidegger gesprochen: Das Sein ist ursprünglicher noch der Struktur »Ruf-/Hörkompetenz« nachgeordnet, die Marion mit dem Begriffspaar »Gebung/Hingebung« identifiziert. 469 Im Hintergrund dieser wohl von Heideggers Spätphilosophie gestützten Gleichung von »Ruf und Gabe« steht die Einsicht, dass der Ruf des Seins gegeben wird und die Offenheit des »Je hors d’être« ihm gegenüber sich als Hingegebensein an den Ruf erweist. So ist für Marion das Sein als Letzthorizont phänomenologischer Reflexion widerlegt, weil dessen Erscheinen noch dem ursprünglicheren bzw. formaleren Sich-Geben der Phänomene eingeschrieben ist. 4.2.7.3. Phänomenologie und Reduktion im Ursprungsbereich reinen Sich-Gebens Ursprünglicher als auf die Seinsfrage ist die Phänomenologie an die »donation« verwiesen. In der »donation«, d. h. im Sich-Geben reiner Appelle von außen, liegt die oberste, tiefste oder auch ›formalste‹ Fluchtlinie phänomenologischer Reflexion. 470 Umgekehrt: Der von 468 Vgl. »Bevor überhaupt das Sein herausfordernd dem Dasein gegenübertritt, ist bereits der Anruf als reiner Anruf be-anspruchend da.« (Vgl. Kühn, R. Langeweile und Anruf. Eine Heidegger- und Husserlrevision mit dem Problemhintergrund »absoluter Phänomene« bei Jean-Luc Marion, 148). 469 Vgl: »Ce qui se donne ne se donne qu’à celui qui s’adonne à l’appel et que sous la forme pure d’une confirmation de l’appel, répété parce que reçu.« (RD 296). 470 Janicaud wirft gegen diesen Ansatz ein, er impliziere aufgrund der behaupteten Formalität bzw. Leerheit des Anrufes eine Negierung von Phänomenologie. (Vgl. Janicaud, D. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 48, auch: Zarader, M. Phenomenology and transcendance, 110). Unter anderen Vorzeichen nimmt Henry an der von Marion affirmierten Leerheit bzw. Formalität Anstoß und will diese unmittelbar durch seine Lebensphilosophie bestimmt sehen. (Vgl. Henry, M. Quatre principes de la phénoménologie, 16, ähnlich die Kritik Kühns: »Ein Anruf ist immer ein bestimmter […].«, Kühn, R. Französische Reflektions- und Geistesphilosophie. Profile und Analysen, 193). F. Laruelle interpretiert die reine Anrufbarkeit des »Je hors

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Die Gebung des Seins: Marion und Husserl

Marion festgelegte Ausgangsort von Phänomenologie, die sich für die »Sache selbst« ganz öffnende Reduktion, ist für die Gebung der Phänomenwelt je schon empfänglich und auf sie hingeordnet: »La phénoménalité ne se comprend pas, elle se reçoit.« 471 Diese ursprüngliche Offenheit und Empfänglichkeit für die sich gebende Phänomenwelt ist gleichbedeutend mit ihrem radikalen Hingegebensein oder: Ergebensein. 472 So steht nach Marion am Ausgangspunkt phänomenologischer Reflexion neben dem Sich-Geben der Phänomene das Subjekt als »adonné«. 473 Sofern Phänomenologie zur ursprünglichen Genese der ›Sachen selbst‹ vorrücken will, hat sie der Gebung zu entsprechen. Doch kann der Gebung nur dadurch entsprochen werden, dass in der Phänomenologie das ursprüngliche Hingegebensein an die Phänomenwelt selbst, d. h. methodisch realisiert wird. 474 Entsprechend ihres wissenschaftlichen Selbstverständnisses wäre die Phänomenologie deshalb gehalten, sich in ›methodisch geformten Hingebungsakten‹ dem ›Sich-Geben von Welt‹ zu öffnen. Daraus ergibt sich die von Marion geforderte Verschränkung von phänomenologischer Reduktionsmethode mit »donation«, die als Leitprinzip jeder künftigen Phänomenologie zu lesen ist: »Autant de réduction, autant de donation.« 475 d’être« direkt als anthropologische ›Antennenstruktur‹ für das Hören auf die christliche Offenbarung, wodurch seiner Ansicht nach jedoch die wissenschaftliche Integrität von Philosophie beeinträchtigt wird. Vgl. »Il [sc. Marion] enchaîne l’homme à Dieu et Dieu à la philosophie au lieu d’enchainer l’homme à lui-même et de laisser la philosophie à son destin non-humain. Ou bien c’est une philosophie qui fait in extremis le saut de l’Appel – mais nous ne le croyons guère –; ou bien c’est un chrétien qui est condamné à faire malgré lui de la philosophie à laquelle il demande qu’on l’arrache sans la lui faire quitter.« (Laruelle, f. L’appel et le phénomène, 37 f., s. a. der Vergleich der reinen Anrufstruktur mit Rahners »Hörer des Wortes« bei: Greisch, J. L’herméneutique dans »la phénoménologie comme telle«, 56). 471 ED 364. 472 Der Zusammenhang von »radikaler Empfänglichkeit« und »Hingegebensein« entspricht der Synchronie von Geben und Empfangen in Marions Gabeaakttheorie (Vgl. Kap. 5.5.1. / 5.5.3.3.) und ihrer theologischen Ausdeutung im Frühwerk (Vgl. Kap. 2.5.). 473 Das subjektive Hingegebensein an die Gebung des Wirklichen überwindet ein für allemal die konstitutive Funktionalität des »Ich denke«, die noch in Heideggers »Dasein« am Werk ist. »Il n’y aurait aucun sens à contester que le Dasein subvertisse définitivement le sujet, même et surtout le sujet entendu dans l’acception phénoménologique transcendentale que Husserl lui avait donné.« (Marion, J.-L. Le sujet en dernier appel, 78). 474 Vgl. »[…] mais seul ce qui peut se donner absolument à la conscience parvient aussi à y donner rien de moins que l’apparaissant en personne.« (ED 26 (Hervorh. / T. A.)). 475 Vgl. z. B. RD 303.

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

Zusammengefasst: Es ist erstens von der nun erwiesenen Einsicht auszugehen, dass in der Gebung der ursprünglichste Phänomenhorizont liegt. Anders gesagt: Allen Phänomenbestimmungen liegt je schon zugrunde, dass sich das Phänomen gibt. 476 Zweitens impliziert dies, dass die Phänomenologie und ihre Reduktionsmethode (die im »Je hors d’être« gründet) je schon für dieses Sich-Geben von ›Welt‹ empfänglich bzw. ihm hingegeben ist. 477 Aufbauend auf dieser Einsicht hat sich drittens jede künftige Phänomenologie nach Marion auf die Gebung der Phänomenwelt zu konzentrieren, indem sie sich viertens im Vollzug der Reduktionsmethode dieser selbst hingibt: »Encore une fois, pas de donation qui ne passe le filtre d’une réduction, pas de réduction qui ne travaille à une donation.« 478 Weil die »Sachen selbst« ursprünglich gegeben sind, muss sich die phänomenologische Reduktion hingeben, um zu ihnen zu gelangen. Damit ist Marions Umschlag von einer Ursprünglichkeitsaffirmation (»die sich gebende Phänomenwelt« bzw. »das hingegebene Ich«) in ein phänomenologisch-methodisches Soll (»die sich gebende Reduktion«) skizziert. So würde sich in einer »Phänomenologie der Gebung« die Suche nach den »Sachen selbst« realisieren, wie diese ursprünglich erscheinen. Und die Phänomenologie als Ursprungsforschung wäre im Sinne der »donation« auszudeuten. 479 Von diesem Ergebnis her legt Marion folgende phänomenologiegeschichtliche Entwicklung fest. Zunächst wurde die Phänomenologie a) von Husserl dafür eingesetzt, die Phänomene vom absoluten 476 Vgl. »Nous pouvons donc légitimément poser que le phénomène se donne.« (ED 100), »Se montrer revient donc bien à se donner.« (Ebd., 102). 477 Vgl. »celui qui se reçoit soi-même de qu’il reçoit, celui à qui ce qui se donne d’un soi premier – tout phénomène – donne un moi second.« (DS 54). 478 ED 26. Die Devise Marions »Autant de réduction, autant de donation« (RD 303, ED 23) beansprucht einerseits, im Vergleich zu allen vorausgehenden Phänomenologiekonzepten, Ursprünglichkeit. Andererseits ist sie als imperativische Aufforderung an jede künftige Phänomenologie zu verstehen, sofern es ihr nur um die uirsprüngliche Phänomengenese geht. 479 Dass im Übergang von dieser Ursprünglichkeitsaffirmation in einen methodischen Auftrag auch ein Moment individueller Freiheit liegt, macht Marion am Schluss von ED in einer kleinen Passage deutlich. Die Hingebung setzt den (guten) Willen voraus: »Car, pour phénoménaliser le donné, il faut d’abord l’admettre (›vouloir‹ bien le recevoir), et s’en recevoir comme s’y adonnant, pour ainsi voir (eventuellement comprendre par ›entendement‹) ce qu’il montre. La décision de répondre, donc de recevoir, précède la possibilité de voir, donc de concevoir.« (ED 420).

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Die Gebung des Seins: Marion und Husserl

und in sich abgedichteten Bewusstsein abzuleiten. Dem entspricht eine erste Stufe von Reduktion, über die die Phänomene nur in ihrer Gegenständlichkeit in den Blick kamen. Mit anderen Worten: In dieser Phase phänomenologischer Forschung blieb der Horizont der Gegenständlichkeit für den Phänomenbegriff bestimmend. Dann wurden b) in der Reduktion Heideggers die Phänomene als Seiende erkannt und schließlich die Seinsfrage offengelegt. In der Folge legt Heidegger das »Sein« als den Horizont des Phänomens fest. Weil Marion jedoch zeigen konnte, dass sich die Phänomenalität von Sein bei durchgehaltener Reduktion nur im Geschehen von Gebung und Hingebung ereignet, ist »donation« als noch ursprünglicherer ›Horizont‹ des Phänomens zu bestimmen. Doch ist der Horizontbegriff hier nur als ein paradoxer zu verwenden, weil die Phänomene die Bedeutung ihres Erscheinens selbst bestimmen und das Bewusstsein ihnen gegenüber ganz hingeben ist. So ist die dritte und finale Stufe von Reduktion c) auf »Gebung« hingeordnet. Umgekehrt: Reduktion ist nach Auffassung Marions auf die ursprüngliche Gebung der Phänomene auszurichten. 480 Sie hat sich über Heidegger und Husserl hinaus ganz auf die Gebung der Phänomene einzulassen. Dieses Sich-Einlassen impliziert, dass sich Reduktion selbst als Hingebungsgeschehen äußern müsste: »cette troisième réduction ne reconduit au donné qu’en réduisant aussi le Je au rang dérivé d’adonné.« 481 Vor dem umrissenen phänomenologiegeschichtlichen Hintergrund sollen nach Marion alle bisherigen Prinzipien der Phänomenologie (»Zu den Sachen selbst«, »Prinzip der Prinzipien« etc.) unter der Forderung »Autant de réduction, autant de donation« 482 vereinigt werden und in ihr zum Ausdruck kommen. 483 Genauer noch: In der Ausrichtung auf die »donation« erfüllt sich nach Marion die Immanenz phänomenologischer Reflexion. Denn wenn sich das Bewusstsein ganz um die »Sachen selbst« bemüht, dann öffnet es sich radikal dem sich gebenden Ankommen der Phänomene, es gibt sich ihnen selbst ganz hin. In dieser Hingabe wird die Gebung des Phänomens unter Beachtung methodischer Immanenz entgegengenommen. Oder: Das Bewusstsein ist als phänomenologische Immanenz dem Phänomen gegenüber gänzlich aufgesprengt, da ihm hingegeben: 480 481 482 483

Vgl. RD 296, 303 ff. DS 55. RD 303. ED 26 ff.

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

»Et telle est bien la donation: celle de la transcendance dans l’immanence.« 484 In der Überzeugung, dass die Gebung der tiefste ›Phänomenhorizont‹ und der letztmögliche um phänomenologische Immanenz bemühte Reduktionsakt verkörpert, blendet Marion auf Husserls »Die Idee der Phänomenologie« (1907) zurück. Dort legte Husserl zum ersten Mal die Reduktion als phänomenologische Methode fest. Marion illustriert nun die phänomenologische Valenz von »donation«, indem er konsequent die »Gegebenheit« Husserls mit »donation« übersetzt. Dabei ist sorgfältig auf die nun begründete Akzentverschiebung zu achten: Während Husserls »Gegebenheit«, wie gesehen, zur Prinzipiierung des Bewusstseins führt, kann Marion jetzt fordern, dass sich das Bewusstsein restlos der Phänomenwelt hinzugeben habe. Allein auf der Basis der aufgerollten Argumentation kann Marion »Gegebenheit« mit »donation« übersetzen und damit sein Anliegen einer hingegebenen Reduktion bekräftigen. So macht er über den Text Husserls von 1907 klar: »La règle qui lie par principe réduction et donation, même si elle ne se formule qu’aujourd’hui, ne s’en repère pas moins litteralement dès Husserl.« 485 Ausschnittsweise lässt sich Marions Deutung der Husserlschen Programmatik erläutern: Husserl bestimmt 1907 die Reduktion so: »Folglich gewinnt der Begriff der phänomenologischen Reduktion eine nähere, tiefere Bestimmung und einen klareren Sinn: nicht Ausschluss des reell Transzendenten (etwa gar im psychologisch-empirischen Sinn), sondern Ausschluß des Transzendenten überhaupt als einer hinzunehmenden Existenz, d. h. alles dessen, was nicht evidente Gegebenheit ist im echten Sinn, absolute Gegebenheit des reinen Schauens.« 486 Nach Marion, dessen französische Übersetzung von »Gegebenheit« »donation« ergibt, ist in solchen Aussagen Husserls die Forderung gleichsam vorentworfen, dass die Reduktion auf die Gebung auszurichten ist. Reduktion hat sich demnach als eine an die Gebung der Phänomenwelt hingegebene Reflexionsart zu gestalten. 487 Ferner Ebd., 39. Ebd., 24. 486 Husserl, E. Die Idee der Phänomenologie, Hua II, 9. 487 Marion ist sich völlig im Klaren darüber, dass der Ausdruck »donation« keine theoretische Funktion im Œuvre Husserls hat und dass weiter die Husserlsche Gegebenheit einen gegenständlichen Sinn hat, der vom Primat des Bewusstseins her zu lesen ist: »pourquoi Husserl, qui n’a cessé de reprendre la définition et les procédures de la réduction, n’a-t-il jamais fourni – à notre connaissance du moins – la moindre définition 484 485

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Die Gebung des Seins: Marion und Husserl

ist die Immanenz der Phänomenologie nur dort gewährleistet, wo die Reduktion auf diese Weise der phänomenalen Gebung folgt: »le critère de l’immanence ne réside plus dans une inhérence réelle à la conscience suivant un rapport psychologique, mais dans la donation évidente pure et absolue.« 488 Gibt sich die Reduktion der Phänomengebung ganz hin, dann erst kommen die Phänomene ganz zu ihrem Eigenrecht auf Selbstentfaltung, weil sich über die »donation« der Schwerpunkt phänomenologischer Aufmerksamkeit ganz auf das »Selbst« des Phänomens verlagern kann. »Le phénomène peut certes et doit se montrer, mais uniquement parce qu’il se donne.« 489 An der auf linguistischer Ebene zurecht anstößigen Übersetzung Marions von »Gegebenheit« mit »donation« 490 , also Gebung, wird die Neuinterpretation, die Marions Phänomenologieentwurf vornimmt, sichtbar. Aus der ›partizipial geronnenen‹, faktischen, gegenständlichen Erscheinung (Husserls »Gegebenheit«) wird durch Marion ein ›verbal fließendes‹ Geschehen (Marions »donation«). In ihm wird das Husserlsche Phänomen (»Gegebenheit«) in seinem unvordenklichen Ankommen (»Gebung«) gedacht. Anders gesagt: Die Gegebenheit ist nun als Ergebnis einer ursprünglicheren Gebung zu denken. 491 Bei Marions Übersetzung von »Gegebenheit« mit »donation« geht es um die Transformation, die sich im Status phänomenaler »Gegebenheit« und des ihm gegenüberliegenden Bewusstseins vollzieht, wenn Gebung als der ursprüngliche Horizont entdeckt ist. Dabei entfällt die erkenntnistheoretische Priorität des »absoluten Bewusstseins«, weil das Phänomen (als »Gegebenheit«) seine »donation«, d. h. seine Eigengebung, entfalten kann. 492 In diesem Übergang liegt der Schlüssel zu Marions Husserlübersetzungen: Indem Marion Husserl weiter denkt und nicht einfach übersetzt, will er hinter de la donation? Il n’y a pourtant, dans ce silence du concept, qui contraste si nettement avec la fréquence des occurrences, aucun argument contre son statut principiel.« (ED 41). 488 Ebd., 25. 489 Ebd., 102. 490 Vgl. ausführlich Kap. 4.1.2.2. 491 Vgl. »Während das Gegebene zur Ordnung der reinen empirischen Tatsache gehört, die für selbstverständlich gehalten wird, so wie sie ist, und somit nicht um ihrer selbst willen befragt wird – ein einfaches positives datum, analog in diesem Punkt dem Heideggerschen Vorhandenen –, entspricht die Gebung der Struktur eines nicht-phänomenalen Aktes, dessen Ergebnis die Gegebenheit ist.« (Depraz, N. Gibt es eine Gebung des Unendlichen?, 117, s. a. Welten, R. Saturation and Disappointement, Marion according to Husserl, 84). 492 Vgl. ED 13 ff., vgl. die Bemerkungen aus: Marion, J.-L., Wohlmuth, J. Ruf und Gabe, 63–64. Hier nimmt Marion ausdrücklich Stellung zur Frage, warum er »Gegebenheit« nicht mit »la donnée« (im Text leider irreführend mit »donné« notiert) übersetzt.

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Gebung und die Selbstrevision der Phnomenologie

der phänomenalen »Gegebenheit« (»la donnée«) die noch ursprünglichere Gebung (»la donation«) aufweisen. 493 In ED resümiert Marion aus einer anderen Perspektive diesen Zusammenhang. Unter der Überschrift »le pli de la donation« übersetzt er die Husserlsche »Gegebenheit« zuerst linguistisch korrekt mit »la donnée«. Das französische »la donnée« bedeutet nun aber in erster Linie ein mathematisches Problem, das einem Prüfungskandidaten überreicht wird. Marion ist der Ansicht, dass die phänomenologische Bedeutung der Prüfungssituation, in der diese »donnée« erscheint, nur unzureichend expliziert ist, wenn das mathematische Problem nicht aus einer unverfüglichen Gebung hervortretend gedacht würde – eine Gebung, die das Subjekt in die (im Augenblick der Prüfung faktisch erlebte) Passivität versetzt. Deshalb wird die Phänomenalität von »donnée« allein über die konstitutive »donation« authentisch beschrieben: »La donation ne s’ajoute pas à la donnée comme un arrière-fond ambigu, elle marque seulement l’advenue qui la rend elle-même.« 494

4.3. Gebung – die ursprnglichste und formalste Fluchtlinie der Phnomenologie Geht die phänomenologische Reflexion von der »donation« als ihrer ursprünglichsten und formalsten Fluchtlinie aus, dann macht sie in erster Linie mit zwei Einsichten ernst. Erstens: Die Wirklichkeit ist ursprünglich gegeben bzw. die Phänomenwelt begegnet je schon als Gebung. 495 Zweitens: Das Ich, d. h. der Ausgangspunkt phänomenologischer Reflexion, ist je schon für die Gebung von ›Welt‹ offen, d. h. ihr hingegeben. 496 Insofern demnach die Phänomenologie, wie in Kap. 3.5. und 4.1. erläutert, als Gegenentwurf zu traditionellen Rationalitätsformen im Ausgang einer obersten Subjektivität zu verstehen ist, die phänomenologischen Ausgriffe (»Gegenständlichkeit«, »Sein«) aber von der noch ursprünglicheren Selbstgebung des PhäVgl. ED 63–64, Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 218. ED 93. Vgl. Staudigl, M. Phänomenologie an der Grenze? Bemerkungen zum Status der Grenze in der Phänomenologie, 21. 495 Vgl. »Rien n’apparaît qu’en se donnant à et dans le Je de la conscience […].« (Ebd., 26). 496 Van den Bossche stellt diesen Zusammenhang so heraus: »According to Marion, what appears, gives itself to us before we as subjects get involved with it. Thereby the subject lands on the position of the ›to whom is given‹ or the Gifted (adonné) […].« (Bossche, S. v. d. A possible present for theology. Theological implications of Jean-Luc Marion’s Phenomenology of Givenness, 57). 493 494

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Gebung – die ursprnglichste und formalste Fluchtlinie der Phnomenologie

nomens zu überformen sind 497 , ist der Subjektbegriff umzudeuten: Nach Marion ist das Subjekt in seinem Tiefenbereich je schon auf das Sich-Geben der Phänomene hingeordnet. Mit anderen Worten: Das Subjekt ist kein »absolutes Bewusstsein« (Husserl), kein »Dasein«, oder »Hirt des Seins« (Heidegger). Zuerst ist das Subjekt ein dem Sich-Geben von Wirklichkeit Hingegebener: adonné. 498 Marion fasst beide Aspekte so zusammen: »Le monde ne peut se phénoménaliser qu’en se donnant à moi et me faisant son adonné.« 499 Eine gelingende Fokussierung phänomenaler »donation« hängt nun davon ab, ob die Phänomenologie, als methodische Lehre von den Erscheinungen, sich für die »donation« selbst empfänglich macht. Allein unter dieser Voraussetzung könnte Wirklichkeit als ›Gebung‹ ernsthaft gedacht werden. Marion ist folglich der Ansicht, dass der Zusammenhang von Reduktion und Gebung (»Autant de réduction, autant de donation.« 500 ) für jede künftige Methode der Phänomenologie fruchtbar zu machen ist. Zu zeigen ist nun, welches Bild von Wirklichkeit sich ergibt, wenn sich das Phänomen als ursprüngliche Gebung äußert, und wie sich das Sich-Hingeben realisiert, das von der Reduktion vollzogen werden soll.

497 Vgl. »… en phénoménologie – c’est-à-dire, du moins en intention, dans la tentative pour penser sur un mode non métaphysique – il s’agit de montrer. Montrer implique de laisser l’apparence apparaître de telle manière qu’elle accomplisse sa pleine apparition, afin de la recevoir exactement comme elle se donne.« (ED 13). 498 Bei der Verwendung des Begriffes »adonné« bzw. »Hingegebener« ist das männliche Geschlecht nur grammatikalisch zu verstehen. 499 Marion, J.-L. Le phénomène érotique. Six méditations, 48. 500 RD 303.

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5. Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

Im kritischen Blick auf Husserl und Heidegger konnte Marion den phänomenologischen Vorrang von »donation« begründen. Vollzieht man den dargelegten Argumentationsgang mit, dann gilt, dass die Phänomenologie in erster Instanz von der Gebung der Wirklichkeit ausgeht. Die Phänomenologie öffnet das Denken restlos gegenüber dem Sich-Geben von ›Welt‹. In ihr bricht die Reflexion zum Staunen durch, sofern Staunen bedeutet: sich restlos der Gebung von Wirklichkeit hingeben. 1 Dieses Staunen vor der sich gebenden Phänomenwelt soll sich in der Phänomenologie realisieren, indem deren Methode, die Reduktion, sich dem Sich-Geben von Welt hingibt: »Autant de réduction, autant de donation.« 2 Wie gestaltet sich aber das Bild von Wirklichkeit, wenn das hingegebene Bewusstsein deren Gebung entgegennimmt? Was bedeutet es, wenn sich die Phänomenologie, d. h. ihre Reduktionsmethode hingibt? Während bislang die Hinordnung der Phänomenologie auf die Gebung aufgewiesen wurde, ist nun die in ihrem Zeichen sich eröffnende Wirklichkeit zu problematisieren. Konkret: Dass sich Phänomenwelt und phänomenologischer Blick geben, steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Es ist darin einmal nach den Bedeutungen zu fragen, die dieses SichGeben einschließt, und ferner zu prüfen, welche Bereiche, die in den bisherigen Phänomenologieentwürfen ausgespart wurden, durch die Phänomenologie der Gebung sichtbar werden. Bevor aber diesen Fragen im Einzelnen nachgegangen wird, ist der Anspruch zu umreißen, den der phänomenologische Ansatz Marions erhebt. Der prinzipienhafte Stellenwert seines »donation«-Begriffes konturiert sich unter Den Zusammenhang von »Staunen« und »Gabe« stellt ähnlich H. Verweyen heraus: Vgl. »Diese Problematik verschärft sich in dem Maße, wie der Mensch im ausschließlichen Zugriff auf die Sinnenwelt als verfügbare Materie das Staunen verlernt und ihm so Natur nicht mehr als Gabe begegnen kann.« (Verweyen, H. Gottes letztes Wort, Grundriss der Fundamentaltheologie, 180). 2 Vgl. RD 303, ED 23. 1

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

metaphysischer, phänomenologischer und allgemeinphilosophischer Hinsicht.

5.1. Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion 5.1.1. »donation« – postmetaphysisch In der Phänomenologie des Sich-Gebens realisiert sich nach Marion der definitive Absprung von der Metaphysik. Der in phänomenologischem Kontext angewandte Begriff des Sich-Gebens bewirkt deren tiefsten Umsturz 3 , weil die in metaphysischem Denken vorherrschende Intention, Seiendes in einem höchsten Sein zu gründen 4 , durch ein der Selbstgebung von Wirklichkeit restlos geöffnetes, d. h. hingegebenes Denken ersetzt wird. 5 Die Wirklichkeit kann sich so jenseits aller metaphysischen Gründungsfiguren selbst entfalten: »La phénoménologie dépasse donc sans ambiguïté la métaphysique dans la stricte mesure où elle se défait de tout principe a priori, pour admettre la donation, originaire en tant qu’à posteriori pour qui la reçoit.« 6 Dass aus dieser Perspektive der Konflikt um die Metaphysik innerhalb der Phänomenologie selber ausgetragen wird, hat die Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger verdeutlicht. Weil nämVgl. ebd., 235. Vgl. »L’être commun fonde les étants même excellents; en retour l’étant par excellence fonde, sur le mode de la causalité, l’être commun.« (Marion J.-L. Métaphysique et Phénoménologie: une relève pour la théologie, 192), Heidegger, M. Identität und Differenz, 63. 5 Vgl. »En toute science – donc finalement en métaphysique – il s’agit de démontrer. Démontrer consiste à fonder l’apparence pour la connaître certainement, la reconduire au fondement pour la conduire à la certitude. Mais en phénoménologie – c’est-à-dire, du moins en intention, dans la tentative pour penser sur un mode non métaphysique – il s’agit de montrer. Montrer implique de laisser l’apparence apparaître de telle manière qu’elle accomplisse sa pleine apparition, afin de la recevoir exactement comme elle se donne.« (ED 13). 6 Marion J.-L. Métaphysique et Phénoménologie: une relève pour la théologie, 197. Marion entwickelt den Unterschied von »Phénoménologie de la donation« und Metaphysik oft über die Polarität von »A priori« und »A posteriori«: Während in klassischer Metaphysik nur das Zutritt in die Wirklichkeit erhält, was von einem »A priori« zugelassen wird, erfährt sich dieses angesichts der sich je schon zuerst gebenden Wirklichkeit im Modus des »A posteriori«. 3 4

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Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion

lich in deren beider Konzeptionen jeweils ein Horizont (Gegenständlichkeit, Sein) statuiert wird, unter dem sich die Phänomenwerdung erst zutragen dürfte, bleiben sie der Metaphysik und ihrem Gründungsschema letztlich verhaftet. Zwar geben die Ansätze Husserls und Heideggers dem Denken die entscheidende Richtung vor, in ein ›Jenseits der Metaphysik‹ aufzubrechen. Doch wird nach Marion erst dort die Tür zu diesem Bereich aufgestoßen, wo sich die noch bei Husserl und Heidegger virulenten Vorgriffe auf das Phänomen erledigt haben und seine freie Gebung durch eine völlig hingegebene Phänomenologie gewährleistet ist. 7 Die Phänomenologie überwindet erst dann die Metaphysik, wenn sie durch ihr eigenes Sich-Hingeben an das Phänomen die Initiative delegiert, sich zu geben. 8 So bestimmt sich die von Marion vertretene Gebung des Wirklichen auf der Negativfolie einer metaphysischen Haltung, die prädizierend, zugreiInsofern in der Phänomenologie selbst der Streit um die Metaphysik schwelt, erklärt sich, dass Marion die Distanzierung von der Metaphysik auch als ein innermetaphysisches Geschehen denken kann. Nach dieser Auffassung liegt in der Metaphysik selbst schon eine metaphysikkritische Finalität. Dies ist nach Marion daraus einzusehen, dass der die Metaphysik prägende Gründungszusammenhang selber der Gründung bedürfte: »Le fondement assure la légitimité de la métaphysique, mais non pas la sienne propre.« (Marion J.-L. Métaphysique et Phénoménologie: une relève pour la théologie, 193). In der Gebungsphänomenologie bietet sich nun aber die Möglichkeit, den Aufbruch aus dieser der Metaphysik je schon latent innewohnenden Aporie zu realisieren. »Seulement, la phénoménologie a sans doute le privilège de pouvoir accomplir une troisième voie – transgresser la métaphysique, c’est vraiment faire de la métaphysique.« (Marion, J.-L. La science toujours recherchée et toujours manquante, 35). Marions Auffassung, in der Phänomenologie der Gebung realisiere sich ein Überstieg, der je schon zur Metaphysik gehöre, antwortet wohl auf eine Kritik Janicauds, der Marions missverständlich historisierende Gegenüberstellung »Phänomenologie versus Metaphysik« (s. Kap. 4.1.) als »geschichtliche Verwindung« (im Sinne Heideggers), d. h. als bleibende Aufgabe an das phänomenologische Denken korrigiert sehen will. (Vgl. Janicaud, D. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 41 f., ders. La phénoménologie éclatée 47 f.). Die Vermittlung beider Position scheint u. a. von E. Gabellieri geleistet worden zu sein: Gabellieri, E. S. Thomas: Une ontologie sans phénoménologie, 192, Anm. 135. 8 Der dabei von Marion implizit geäußerte Vorwurf, auch das Denken des späten Heideggers hätte die Metaphysik noch nicht gänzlich hinter sich gelassen, zählt mittlerweile zu den gleichsam ›traditionellen Motiven‹ französischer Phänomenologie. So bemerkt u. a. Derrida im kritischen Hinblick auf den späten Heidegger: »Für uns bleibt die différance ein metaphysischer Name und alle Namen, die sie in unserer Sprache erhält, sind immer noch qua Namen metaphysisch. Insbesondere wenn sie die Bestimmung der différance als Unterschied des Anwesens zum Anwesenden aussprechen, doch auch dann schon, wenn sie ihre Bestimmung als Unterschied des Seins zum Seienden bezeichnen.« (Derrida, J. Randgänge der Philosophie, 51). Ähnlich: Henry, M. »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, 67 ff. 7

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

fend, verfügend vorgeht, ihr totales Sich-Hingeben letztlich zurückhält und darum nur ein von der Intentionalität gefiltertes Phänomen gewahren kann. 9 Anders als in der Metaphysik hat das Denken nach Auffassung Marions seine eigene, intentionale Hoheit hinzugeben, damit Wirklichkeit bzw. die Phänomenwelt sich von sich selbst her geben könne. »Le paradoxe initial et final de la phénoménologie tient précisément à ceci qu’elle prend l’initiative de la perdre. Certes comme toute science rigoureuse, elle décide de son projet, de son terrain et de sa méthode, mais, à l’encontre de toute métaphysique, elle n’ambitionne que de perdre cette initiative le plus tôt et le plus complètement possible.« 10 Insofern Marion beabsichtigt, die klassische Metaphysik durch die »Phénoménologie de la donation« aufzulösen, zeigt sich in ED ein ›metaphysischer Drift‹. Die dort virulente Ausrichtung auf die Gebung des Wirklichen trägt weiterhin den Zug klassischer Metaphysik an sich und scheint den traditionellen Strukturplan der Metaphysik, d. h. die Unterteilung in »metaphysica generalis« und »specialis«, zu wiederholen: Fasst das erste Buch von ED im Wesentlichen die Argumentation aus RD zusammen, so kann das als Antwort auf die allgemeine Metaphysik verstanden werden, in der die Frage nach dem Sein des Seienden behandelt wurde. Wenn Marion vom dritten Buch an und nacheinander die Bereiche der Wirklichkeitsgebung, der bis zur Offenbarung reichenden Gebungsgrade durchschreitet und schließlich das menschliche Subjekt als hingegeben (»adonné«) deutet, dann folgt dies nicht zufällig den Gebieten spezieller Metaphysik »cosmologia, theologia, psychologia naturalis«.

Zu ihrem Kontrast mit der Metaphysik zählt vor allem, dass die Phänomenologie der Gebung zwei in der abendländischen Ideengeschichte wirkmächtige Reflexionstypen disqualifizieren will: Die Annahmen, dass die ›Wirklichkeit‹ im Ganzen von einer höchsten Ursache erwirkt oder aber von der transzendentalen Subjektivität aus konstituiert sei. Beiden Konzeptionen ist der Vorrang der »donation« entgegenzuhalten. Während ein vom Kausalitätsdenken strukturiertes Verständnis von Wirklichkeit hinter deren vorbehaltlosem Sich-Geben zurückbleibt, erweist sich auch das transzendentale »Ego, cogito« als Gegenentwurf zum ursprünglichen Hingegebensein der Subjektivität. 11 Die Parallelen zum Gegensatz »Idol versus Ikone« liegen offen zu Tage; dies jedoch mit dem Unterschied, dass nun der philosophische Aufweis für die Ikonizität von Wirklichkeit erbracht wurde. (Vgl. Kap. 2.3.). 10 ED 15. 11 Vgl. R. Kühn bringt beide Aspekte zusammen: Vgl. Kühn, R. Mehr Reduktion – 9

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Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion

Erstens: Die Phänomenologie der Gebung steht systematisch jedem Denken entgegen, das sich an die Schematik von Ursache und Wirkung anlehnt. 12 Dies gilt vor allem unter zweierlei Hinsichten. a) Versteht man die Wirklichkeit als eine Sich-Gebende, dann darf dies zu keinem ›spekulativen‹ Rückgriff auf eine hinter dieser Gebung stehende Ursache verleiten. Unter der Voraussetzung einer solchen Instanz würde man der Phänomenwelt erneut einen metaphysiktypischen Horizont vorsetzen. Weil im Gegenzug allein die phänomenale Selbstgebung Ursprünglichkeit beanspruchen darf, sind Metasetzungen dieser Art auf Anhieb zu verwerfen. Die Behauptung, die sich gebende Wirklichkeit entspringe einem Grund (einem Geber, vielleicht Gott), würde der Stoßrichtung der Gebungsphänomenologie völlig zuwiderlaufen. 13 Denn diese wurde ja als Mehr Gebung. Zur Diskussion eines phänomenologischen Prinzips bei J.-L. Marion, 101. 12 Mutatis mutandis wiederholt sich die Kausalitätsschematik in den Entwürfen Husserls und Heideggers, die von einem äußersten Phänomenhorizont (Gegenständlichkeit, Sein) ausgehen. Wenn man auch nicht sagen kann, dass diese Horizonte in einem antikscholastischen Sinne als für das Phänomen ›ursächlich‹ zu betrachten sind, so ist doch unstrittig, dass sie das Phänomen ohne Rest bestimmen sollen. Nach Marion steht die phänomenale Selbstgebung dadurch aber immer noch vor Hindernissen, die letztlich auf den wirkmächtigen Kausalitätsgedanken zurückzuverfolgen wären. 13 Vgl. »M.[arion] veut décrire la donation, non comme donation de la part de Dieu, mais liée à la réalité comme ›donnée‹.« (Lienhard, F. Rez. Jean-Luc Marion. Étant Donné, 462). Der damit zurückgewiesenen »theologia naturalis« steht gegenüber, dass nach Marion in der Phänomenologie offenbarungstheologische Möglichkeiten zulässig sind: Vgl. »L’étonnant tient ici à ce que la phénoménologie doive disqualifier la théologie dite ›naturelle‹ et rationelle, mais ne puisse pas se désinteresser de la théologie révélée, précisément parce qu’aucune révélation n’interviendrait sans une manière de phénoménalité.« (DS 33, vgl. 62 f., ED 104 ff., 337), »Marion zufolge kann die natürliche Theologie der Kritik der Phänomenologie weniger standhalten als die ›Offenbarungstheologie‹, weil sie gegen das Prinzipien- und Kausalitätsdenken die ereignishafte Phänomenalität, das Offenbarungsgeschehen, betont.« (Wohlmuth, J. Chalkedonische Christologie und Metaphysik, 343). Marion möchte bei der Unterscheidung »natürliche Theologie« versus »Offenbarungstheologie« ferner den thomasischen Gegensatz von »ens commune« und »actus essendi« aktualisieren: »L’entrée de Dieu dans la métaphysique ne se joue en effet pas seulement, ni même d’abord dans sa dénomination à partir de l’être; ainsi Thomas d’Aquin maintient la trancendance de Dieu par rapport à la métaphysique et au crée en creusant l’écart entre l›ens commune‹, représentable par concept et imagination, et l›actus essendi‹ par où Dieu reste, selon son être même, profondément inconnu.« (Marion, J.-L. La science toujours recherchée et toujours manquante, 24). Dass das Gottesverständnis des Aquinaten sich nicht auf den Begriff »ens commune« reduzieren lässt, sondern als onto-theologisch ungegründeter bzw. unfassbarer »actus essendi« in den Blick zu nehmen ist, hat Marion gegen seine frühe Inter-

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

letzte Hingebung des Denkens in die Reinheit des Staunens bestimmt, was durch die Prädizierung einer (noch ursprünglicheren) Kausalität inadäquat unterboten werden würde. 14 b) Das Verhältnis von Phänomen und Gebung ist auch nicht im Sinne einer Kette von Ursache und Wirkung aufzufassen. In der Gebung liegt entsprechend kein (kausaler) Grund des Phänomens. 15 Vielmehr bedeutet das Phänomen ›an sich selbst‹ eine Gebung. Wenn das Phänomen als Gegebenes zu bestimmen ist, dann darf dies nicht zu der Ansicht führen, in der Gebung liege die Ursache des Phänomens. Dagegen ist zutreffend, dass sich in der Gebung die Erscheinung, genauer noch: die phänomenale Gegebenheit auszufalten vermag und sich dadurch ihre Gestalt zu voller Ansicht bringt (»le pli du donné« 16 ). Mit anderen pretation (Vgl. DsE 108 ff.) dargelegt in: Marion, J.-L. Saint Thomas d’Aquin et l’ontothéologie, 31–66. 14 Vgl. ED 106 f., DS 27. Die Frage nach dem Verhältnis von »Kausalität« und »Gebung« steht im Mittelpunkt der Kontroverse Marions mit Janicaud. Vermutlich auf dem Hintergrund von Marions theologischem Frühwerk äußert Janicaud die Befürchtung, Marions universaler Gebungsbegriff wolle die traditionelle »metaphysica specialis« rehabilitieren, der zufolge ein höchstes Seiendes die Seienden kausal begründen solle. (Vgl. Janicaud, D. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 50 f.). Dem hält Marion entgegen, dass es nichts mit »metaphysica specialis« zu tun habe, wenn man die phänomenale Möglichkeit von Offenbarung denken will: »Quant à prétendre établir que la donation en phénoménologie rejoint un concept de donation en théologie révélée […], il faudrait au contraire en conclure que cette donation se distinguerait d’autant plus de la métaphysique et de sa causalité qu’elle proviendrait de la théologie révélée, et non pas philosophique.« (ED 105). Bei dieser Replik fühlt sich wiederum Janicaud falsch verstanden, der dem Ansatz Marions nie eine ›donation causaliste‹ unterstellt, sondern von der Phänomenologie generell weltanschauliche Neutralität erwartet haben will. (Vgl. Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 52). Der Konflikt zwischen Marion und Janicaud erklärt sich vor allem daraus, dass die von der Phänomenologie Marions intendierte Umkehrung der Metaphysik die (wenn auch kritische) Übernahme von Themengebieten traditioneller Metaphysik durchaus legitimiert: Vgl. »Mais si un rétablissement de la métaphysica specialis apparaît comme une pure impossibilité de méthode, cela n’implique pourtant pas que la phénoménologie ignore ce dont la métaphysica specialis traitait dans le registre métaphysique.« (Marion J.-L. Métaphysique et Phénoménologie: une relève pour la théologie, 200). Dass diese Ansicht Marions, also ein Abstoß von der Metaphysik bei gleichzeitiger Verbundenheit mit ihrer Grundstruktur, Stoff zur Diskussion bietet, versteht sich von selbst. 15 Vgl. ähnlich: »Verlangt nicht das Geben einen Geber und die ›Gegebenheit‹ einen Gebevorgang, der letztlich kausal erklärbar und somit metaphysisch zu verstehen ist?« (Wohlmuth, J. Chalkedonische Christologie und Metaphysik, 342, Anm. 29). Man muss bei diesem Zitat wohl nicht nur über die falsche Übersetzung von »donation« mit »Gegebenheit« hinwegsehen, sondern auch über die hier ausgesprochene Unterscheidung von »Geben« und »Gebevorgang«, die sich nur schlecht nachvollziehen lässt. 16 ED 97.

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Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion

Worten: Gegebenheit als solche (im Husserlschen Sinne) wird nach Marion dort phänomenal, wo diese in ihrem Sich-Geben, d. h. als Gebung entgegengenommen wird. »La donation ne s’ajoute pas à la donnée comme un arrière-fond ambigue, elle marque seulement l’advenue qui la rend à elle-même.« 17 Das Phänomen als Gegebenes, d. h. in seiner Gegebenheit meint damit zutiefst selbst eine Gebung. Es gibt sich in erste Linie hin und bedeutet ein »Sich-der-AnschauungHingeben«. 18 Der Konflikt zwischen beiden Wirklichkeitsentwürfen (»Kausalität« versus »Gebung«) lässt sich insbesondere hinsichtlich der aristotelischen Philosophie nachvollziehen. Der Rückgriff auf Aristoteles hat nichts Zufälliges an sich. Vielmehr bildet dessen Denken für Marion den wirkmächtigen Anfang für die Geschichte des Kausalitätsdenkens, das es nun zu überwinden gilt. 19 Dieser Gegensatz lässt sich anhand der Kausalitätsfrage deutlich machen: Für Aristoteles wird eine philosophische Aussage durch das in ihr vertretene Wissen um die (Wirk-) Ursache einer Erscheinung qualifiziert. In diesem Sinne macht dieser klar: »Ferner halten wir den in jeder Hinsicht für weiser, der genauer ist und der besser die Ursachen zu lehren versteht.« 20 Dagegen betont Marion, dass das Denken diese Kausalitätsannahme hingeben müsste, um den Phänomenen, wie es sich ursprünglich von selbst gibt, zu begegnen: »la donation prise en ellemême, selon dans son pli propre, sans référence indue à la causalité efficiente.« 21 Marions »formale Figuren phänomenaler Gebung« werden sich als Revision der aristotelischen Metaphysik lesen lassen.

Zweitens: Die Phänomenologie der Gebung revidiert Stellung und Funktion der transzendentalen Subjektivität. Im Ausgang eines philosophisch prinzipiierten Subjektes, das sich zuerst selbst denkt, um weiter die Wirklichkeit in egologisch präformierten Denkakten zu konstituieren, käme die Wirklichkeit als freie Gebung nicht in Betracht. 22 Entgegen einer daraus zu folgernden Todeserklärung des Ebd., 93, vgl. »La donation n’indique pas tant ici l’origine du donné que son statut phénoménologique.« (DS 29 f.). Unter der Voraussetzung der nun aufgerollten Argumentation versteht sich Marions Übersetzung von »Gegebenheit« mit »donation.« 18 Vgl. ED 107. 19 Vgl. v. a. DS 4 ff. 20 Aristoteles Metaphysik, 20. 21 ED 108. Zu fragen wäre, ob Aristoteles selbst den Erstbeweger als »causa efficiens« nur im Kontext unterer Seinsebenen bestimmt. Möglicherweise bezieht sich Marion deshalb auf ein (spät-) scholastisch verengtes Aristotelesbild. Zum Ganzen: Vgl. Verweyen, H. Philosophie und Theologie. Vom Mythos zum Logos zum Mythos, 92 ff. 22 Vgl. »L’adonné s’avère en se dégageant du ›je pense‹ et de sa prétention à poser en principe Je = Je …« (Ebd., 400). 17

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

Subjektes ist jedoch zu berücksichtigen, dass mit dem Nachweis, in der »donation« liege der phänomenologische Primat, der Rekurs auf eine (prä-) ›subjektive‹ Dimension verbunden war: »Je hors d’être« 23 . Gezeigt wurde, dass der Ausgangspunkt phänomenologischer Reflexion bzw. Reduktion für das Sich-Geben von ›Welt‹ je schon empfänglich bzw. an sie hingegeben ist. Folgt man deshalb der von Marion durchgeführten Selbstrevision der Phänomenologie, dann ist das transzendentale Subjekt nicht einfach im Namen des Sich-Gebens von ›Welt‹ abzuschaffen. Vielmehr entwirft Marion ein Verständnis von Ich als ursprünglich, das der sich gebenden Wirklichkeit je schon empfänglich bzw. hingegeben (›adonné‹) ist und als solches am Ausgangspunkt der Phänomenologie steht. 24 So wird durch den phänomenologischen Vorrang des Gebungsbegriffes das Subjekt als oberster Konstrukteur von ›Welt‹ zwar außer Kraft gesetzt. Diese ›Amtsenthebung‹ des transzendentalen Subjekts zielt allerdings auf dessen Rückbindung an sein ursprünglicheres Hingegebensein. In diesem Sinne entsprang das »Ich denke« ursprünglich der Gebung des Wirklichen. Oder: Das Selbst wird dem Ich kraft seines ursprünglicheren Hingegebenseins zuteil. Das Ich ist sich selbst gegeben worden, weil es in seinem (präreflexiven) Ursprungsbereich reine Empfänglichkeit und Hingabe ist, woraus es sich als ›selbstbewusstes Denken‹ empfing: 25 Ich weiß mich demnach zuerst und je schon in der Position dessen, dem gegeben bzw. (etwas) zuteil wurde (l’attributaire, l’adonné). 26 Vgl. RD 240 ff. Dass Marion die Subjektivität vom präreflexiven Hingegebensein reinterpretieren will, ist deutlich seit: Marion, J.-L. Le sujet en dernier appel, 77–96. »Autrement dit, l’ego, dépouillé de sa pourpre transcendantalice, doit s’admettre comme il se reçoit, comme un adonné: celui qui se reçoit soi-même de qu’il reçoit, celui à qui ce qui se donne d’un soi premier – tout phénomène – donne un moi second.« (DS 54). 25 Vgl. »La pensée surgit de l’indistinction pré-phénoménale, comme un écran transparent se colore d’un coup sous l’impact d’un rayon lumineux jusqu’alors resté incolore dans le translucide et qui y explose soudain. Elle se reçoit elle-même dans l’instant exact où elle reçoit ce qui se donne pour, grâce à sa propre réception, se montrer enfin.« (ED 365). Hier liegt deutlich ein Einfluss M. Henrys vor: Vgl. »Parce que cette donation originaire de l’être à soi qui le constitue proprement ne s’accomplit ni par hasard ni par miracle, mais dans l’immanence et comme cette immanence même, le concept de l’immédiat ne demeure pas indéterminé, l’immédiat n’est pas un simple nom pour dire […] que l’être est, mais désigne au contraire sa possibilité interne et se réfère par suite à une essence, à l’essence fondamentale où cette possibilité trouve sa réalité.« (Henry, M. L’essence de la manifestation I, 344). 26 An dieser Stelle zeigt sich noch einmal die Schwierigkeit, »adonné« adäquat zu über23 24

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Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion

Dieses Verständnis einer ursprünglich hingegebenen Subjektivität steht dem traditionellen Subjekt-Objekt-Dualismus entgegen, den Marion als metaphysische Schematik interpretiert. In dessen Folge kam die Subjektivität einerseits als transzendentales Ego in die Stellung eines obersten Konstrukteurs von Wirklichkeit. Andererseits ist mit ihm ein objektivierbarer, empirischer Wirklichkeitsentwurf korreliert, der sich auf das Ich in seiner Leiblichkeit, auch ›Seelen-‹ und Gefühlswelt etc. richtet. Die Philosophien im Ausgang der transzendentalen Subjektivität resultieren nach Ansicht Marions in einer fatalen Zweiteilung des Ich. Wenn das Subjekt demgegenüber als ursprünglich Hingegebener zu verstehen ist, dann erledigt sich diese Aufspaltung. Genauer: Marion betont, dass die Polarität von Subjekt und Objekt selbst abkünftig von einer präreflexiven Offenheit ist, in der das Ich dem Sich-Geben des Wirklichen hingegeben ist. So macht der revidierte Subjektbegriff »adonné« gegen den breiten Strom transzendentalphilosophischer Reflexion eine vorausliegende Affektion von einem Sich-Geben als primäre Anlage des »Ego« geltend: »Le Je pourrait en effet exercer la fonction originiare aussi bien, voire plus légitimément comme un ›je suis affecté‹ que comme un ›je pense‹.« 27 Doch ist dieses ursprüngliche Affiziertwerden nicht in einem empirisch-sinnlichen Sinne zu deuten. Denn der ›empirische‹ Wirklichkeitszugang, innerhalb dessen sich die ›Welt der Objekte‹ konstituiert, wäre prinzipiell mit der transzendentalen, streng apriorischen Subjektivität, als Konstrukteur der Erfahrungswelt, korreliert. Darum steht das von Marion vertretene originäre Hingegebensein des Subjekts gleichermaßen einem empirischen Ichverständnis entgegen: Die Gebung von Wirklichkeit ist nicht auf den Bereich der Sinneswelt eingeschränkt, sondern greift hinter die sinnlichen Erscheinungen zurück. So betont Marion, dass sich die evidente Erfahrung des Sich-Gebens im Bewusstsein einstellt, das primär

setzen. Zunächst würde sich hier besser anbieten, mit »der Ergebene« zu übersetzen. Angesichts der bereits oben geäußerten Bedenken gegen diesen Übersetzungsvorschlag (Vgl. Kap. 4.2.7.3.) wäre der Hingegebene immer auch als Subjekt zu verstehen, dem in seiner Hingabe gegeben wird. Der subjektlastige Bedeutungsaspekt in diesem Ausdruck wäre also von der Paradoxie abzulösen, dass die Hingabe reiner Empfang wäre. 27 ED 347. Marion veranschaulicht dieses originäre Affiziertwerden am sog. Wachsbeispiel, aus der zweiten Meditation Descartes. Dort wird zunächst eine sinnliche Erfahrung gemacht, die dann später quantifizierend, und bestimmend etc. gefasst wird. (Vgl. Descartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 30), vgl. ED 361 ff.

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

aber nicht als sinnliche Größe vorzustellen ist. 28 Vielmehr zeichnet sich das Bewusstsein dadurch aus, dass es für die Gebung von ›Welt‹ grundsätzlich offen ist. Jeder empirischen Sinneserfahrung zuvor liegt die Hingebung des Bewusstseins an die Gebung des Wirklichen: »Plus: pareille receptivité instituée comme seul a priori convenable à la donation […] définit exactement, aux lieux et place du Je et même du ›moi‹, l’instance qui s’épuise entièrement dans la fonction de recevoir, l›à qu[o]i‹, l’attributaire.« 29 Anders als bei der traditionellen Subjekt-Objekt-Polarität bezieht sich das hingegebene Ich nicht in einer possessiven, konstruierenden, nutzbringenden oder sinnlichen Bedeutung auf die Phänomene. In seinem Ursprungsbereich ist das ›Ego-Selbst‹ vielmehr der Gebung des ›Phänomen-Selbst‹ hingegeben (»adonné«). 30 Das EgoSelbst bezieht ursprünglich eine dativische Position. »Le ›soi‹ du phénomène […] transmue décidément le Je en un témoin […] parce qu’il inverse d’abord le nominatif (le sujet déjà, tel que la grammaire le pose) en un datif plus originel, qui désigne (grammaticalement encore) l›à qu[o]i‹ de son attributaire.« 31 Das Argument, die transzendentale Subjektivität entspringe einem ursprünglichen Hingegebensein des Subjekts an die Gebung von Wirklichkeit, will Marion unter anderem an der zweiten Meditation Descartes’ verdeutlichen. 32 Die Selbstevidenz des Ego (ego sum, ego existo 33 ) verdankt sich nach seiner Auffassung einer Abstoßbewegung aus Alterität, die am abstrakt als Alterität gedeuteten »deus malignus« wahrzunehmen wäre. 34 Zu beachten Vgl. DS 23, ED 169. Ebd., 351 ff. 30 Selbst Heideggers Begriff des »Daseins« ist von diesem abgedichteten, d. h. der Gebung verschlossenen Ichverständnis noch geprägt. »Eigentlichkeit«, »Selbst-Ständigkeit«, »Jemeinigkeit« weisen darauf hin, wie tief Heidegger der Tradition transzendentaler Subjektivität verbunden bleibt. Stand Marion dadurch zunächst der Weg zu einer Rehabiliterung der Reduktionsmethode offen (Vgl. Kap. 4.2.6.), so sind erst in der Phänomenologie der Gebung solche Konzessionen an das transzendentale Subjekt endgültig hinfällig geworden. 31 ED 344. 32 Vgl. ebd., 374 ff., QC II 3 ff., ders. L’altérité originaire de l’ego. Une relecture de Descartes, Meditatio II,. 583–597. 33 Vgl. Decartes, R. Meditationes de prima philosophia Œuvres AT VII, 25, 12–13. 34 Vgl. z. B. Numquid est aliquis Deus, vel quocumque nomine illum vocem, qui mihi has ipsas cogitationes inmittit? (Ebd., 24, 21–23., Hervorh. / T. A.). Weil es Marion hier darum geht, den Hervorgang des transzendentalen Subjekts aus dem Hingegebensein an die originäre Gebung des Wirklichen aufzuzeigen, trifft der Vorwurf Weltens nur bedingt zu, Marion würde von zwei Gottesbegriffen in den ersten drei Meditationen 28 29

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Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion

ist, dass es sich bei dieser Descartesinterpretation Marions um selektiv verfahrende Lesarten handelt, die mit der Cartesischen Intention kaum in Einklang zu bringen sind. Marion liest hier Descartes bewusst gegen den Strich.35 Doch irritiert diese Interpretation vor allem aus philologischen Gründen. Mag man auch den Hinweis darauf berücksichtigen müssen, dass Descartes in Frankreich als klassischer Denker gilt, an dem viele gegensätzliche Theorien erprobt werden 36 : Dass hier einige deutliche Übersetzungsfehler vorliegen, lässt sich kaum rechtfertigen. 37 Besonders verhängnisvoll ist, dass Marion diese Interpretation aus dem argumentativen Kontext seiner »Phénoménologie de la donation« nahm. Immerhin wäre ja zu bedenken geDescartes’ ausgehen. Denn die Gottesfrage steht bei Marion hier nicht zur Debatte. Vgl. »Hebben we in deze interpretatie van Marion dan niet te maken met twee goden, namelijk een die de l›altérité originaire‹ van het ego is, en een die in de derde meditatie helder en duidelijk wordt waargenomen?« (Welten, R. Het andere Ego van Descartes, 577). 35 Vgl. v. a. »Pourtant, il se pourrait que la métaphysique elle-même, jusque dans les moments privilégiés où elle instaure précisément la subjectivité finie en principe a priori de l’expérience, ne parvienne pas à son but et confirme ainsi, malgré son intention declarée, l’antériorité inconditionelle de l’appel indéniable.« (ED 374, Hervorh. / T. A.). Ähnliche Beobachtungen sind bei Marions Interpretation von Kant zu machen, aus dessen Begriff der Achtung ein Verständnis des Subjekts als »adonné« ›ante litteram‹ geschlossen werden soll. »Nous suivrons donc le fil conducteur du respect pour reconstituer une anticipation kantienne de l’adonné.« (Ebd., 386). 36 Zu diesem Problemkomplex vgl. u. a. die etwas reißerischen Feststellungen Gluckmanns: »Chaque génération française s’entiche d’un cartésianisme mystique à sa mode; elle en coiffe ses ambitions, en pare ses intérêts prosaiques. Mesurée à cette échelle historiquement courte – deux ou trois cartésianismes par siècle –, la ribambelle d’annexions témoigne pour les actualités de la France officielle. Le culte voué à Descartes n’est que la forme vide et cérémonieuse de nos successives idéologies. Aucune des O.P.A. rétrospectives n’interrompt le quiproquo originel. Tout cartésien est l’anticartésien d’un autre cartésien, tandis qu’en chaque anticartésien sommeille un cartésien qui s’ignore.« (Glucksmann, A. Descartes, c’est la France, 58). 37 Vgl. die Beobachtungen bei Verweyen, H. Gibt es einen philosophisch stringenten Begriff von Inkarnation, 481–489, hier: 483 Anm. 9, ders. Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, 141, Anm. 30. Zu dieser Diskussion ausführlich: Vgl. Alferi, T. Entmündigt die Gebung das Ich? Versuch einer Vermittlung zwischen Hansjürgen Verweyen und Jean-Luc Marion, 317–341. Die Einschätzung G. Prouvost’, dass Marions Descartesinterpretationen hier in keinem historischen Sinne, sondern philosophischen Sinne zu verstehen sind, müsste eigens diskutiert werden. Auf alle Fälle sieht sie über die philologischen Ungenauigkeiten hinweg, die auch in einer rein philosophischen, nicht historischen Descartesinterpretation wohl kaum zu akzeptieren wären. Vgl. »Le privilège que Marion accorde à l’unique séquence de la Meditatio II, pour renverser l’ensemble de l’interprétation canonique, pour ébranler un certain Descartes au profit d’un autre, est une décision plus philosophique qu’historique.« (Prouvost, G. La tension irrésolue. Les Questions Cartésiennes II de Jean-Luc Marion, 97, vgl. ebd., 99).

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

wesen, dass in RD just auf jenes »cogito« Descartes’ rekurriert wird, um den Heideggerschen Seinshorizont zu ›reduzieren‹ und »donation« als primäre Bestimmung des Phänomens zu bewahrheiten. 38

5.1.2. »donation« – präphänomenal Der von Marion ins Zentrum gestellte Begriff »donation« zielt auf die Rekonstruktion der Phänomenologie. In Entsprechung zu dem angestrebten Umbau der Metaphysik beabsichtigt Marion, die in der Phänomenologie verhandelte Erscheinung völlig von der ursprünglichen »donation« her zu verstehen. Hinsichtlich dieser Relecture von Phänomenologie ist zunächst das Verhältnis zwischen sich gebender Wirklichkeit und hingegebener Subjektivität genauer in den Blick zu nehmen. Marions Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger führte zu zwei Ergebnissen, die zwar völlig ineinander verschränkt vorliegen, jedoch getrennt voneinander betrachtet werden können: Zum einen liegt der ursprüngliche Horizont der Phänomenwelt in der »donation«. Zum anderen ist der Ausgangspunkt phänomenologischer Reflexion auf »donation« hin je schon offen. Für die Instanz, die deshalb in phänomenologischem Kontext nach dem Subjektbegriff zu kommen hätte, ist, aufgrund ihrer primordialen Offenheit für Gebung, der entscheidende Wesenszug das »Hingegebensein« / »l’adonné«: »Il en résulte la naissance de l’adonné, subjecti[vi]té entièrement conforme à la donation – qui se reçoit entièrement de ce qu’elle reçoit, donnée par le donné, donnée au donné.« 39 Beide Seiten von »donation«, also dass sich einerseits die Phänomenwelt gibt und rein in solchem Sich-Geben besteht und sich andererseits das Subjekt gleichursprünglich hinzugeben hat, stehen in einem korrelativen BeVgl. Kap. 4.2.6., RD 119 ff. Marion hätte bei dieser Interpretation vor allem auch beachten müssen, dass dadurch Denkansätze ›fröhliche Urständ‹ zu feiern scheinen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Titel einer theosophischen, mystischen, auf alle Fälle aber vernunftfeindlichen Philosophie hoch im Kurs waren. Hierbei ist z. B. an Franz von Baader zu denken, über den schon Hirschberger wie folgt ausführte: »All unser Wissen ist nur Mit-Wissen (conscientia), sei geistige Empfängnis aus göttlichem Urwissen. Ohne Gott könnten wir überhaupt nichts wissen. Nur weil Gott die Welt und uns selbst denkt, können wir Welt und uns selbst auch denken. Und so variiert Baader Descartes’ cogito in cogitor, ergo cogito et sum.« (Hirschberger, J. Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 394). 39 ED 373. 38

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Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion

dingungsverhältnis zueinander. Die Phänomenwelt kann als eine Sich-Gebende nur in Betracht kommen, wenn das Subjekt in seinem Ursprungsbereich hingegeben ist. 40 Es gilt aber auch der umgekehrte Fall: Das Subjekt hat die Möglichkeit des Sich-Hingebens zur ursprünglichen Anlage, weil die Wirklichkeit sich je schon gibt. 41 Das Sich-Geben von ›Welt‹ (›le phénomène donné‹) und das präreflexive Sich-Hingeben des Subjektes (›adonné‹) sind als zwei Seiten einer Medaille zu bestimmen. Für diesen Zusammenhang ist entscheidend, dass zwischen Gebung von ›Welt‹ und Hingebung der Subjektivität weder eine Unterordnungstruktur, noch ein transzendentales Verhältnis vorliegt. Die Polaritäten »Aktivität versus Passivität« oder »Geben versus Empfangen« 42 lassen sich auf diese Korrelation nicht übertragen, entstammen solche Oppositionen doch dem obsoleten Gegensatz »Subjekt versus Objekt« 43 . Im ursprünglichen Verhältnis von Wirklichkeit und Subjektivität fallen demgegenüber Geben und Empfangen ineinander. Korrelativ zu Marions Interpretation des Gabetausches 44 liegt in der »donation« von ›Welt‹ und Subjektivität eine Synchronie von Geben und Empfangen. Beide Seiten von »donation« liegen in einer paradoxen Struktur von »Einheit in Differenz« verschränkt ineinander. Die sich gebende Phänomenwelt gibt sich dem hingegebenen Subjekt hin: »›se donne[r]‹ équivaut ici à […] s’abandonner au voir« 45 . Sich hingebend öffnet sich das Subjekt auf der anderen Seite radikal diesem Sich-Geben. Es wird zu reiner Empfänglichkeit, die sich gibt: »L’adonné, se livrant sans restriction à la donation …« 46 Vgl. »L’adonné […] se signale donc comme le seul donné, où se déplie évidemment le pli de la donation.« (Ebd., 390). 41 Vgl. »L’adonné, se livrant sans restriction à la donation au point de la délivrer comme telle, y atteint son ultime détermination – se recevoir lui-même en recevant le donné déplié par lui suivant la donation.« (Ebd., 390). 42 Vgl. Marion, J.-L. La banalité de la saturation, 149, Anm. 2. 43 Vgl. ED 364. So wäre der Zugang Marions von Lévinas »passivité plus passive que toute passivité« abzugrenzen, die noch von der metaphysiktypischen Dualität »Aktivität versus Passivität« kontaminiert wäre. Vgl. Lévinas, E. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 49. Kühns Interpretation wäre zu korrigieren, wenn dieser meint, »dass er [sc. Marion] tendenziell ein solches absolut passives Mich dem klassischen Konstitutionsprimat des reinen, reflektierten Ich substiuiert.« (Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 187). 44 Vgl. Kap. 5.5.1. 45 ED 107. 46 Ebd., 390. Vgl. dieselbe Struktur im theologischen Frühwerk, Kap. 2.5. 40

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

Dieser ursprüngliche ›Gaben-, besser: Gebungstausch‹ ist nach Ansicht Marions nicht nur postmetaphyisch, sondern auch präphänomenologisch zu nennen. Genauer: Über das gegenseitige Sich-Geben von Wirklichkeit und Sich-Geben des Subjekts wird das Phänomen als solches generiert. Marions Phänomenologie der Gebung greift also in einen der Erscheinung selbst vorausliegenden Bereich vor. Die Phänomenologie wird durch den Begriff der »donation« in einer präphänomenalen Dimension 47 , d. h. diesseits effektiver Erscheinungen, situiert. Für Marion gilt: »De la donation à la manifestation.« 48 Zu beachten ist jedoch, dass dieses dem Phänomen vorgeordnete Sich-Geben der Erscheinung als Erscheinung zugute kommen soll. Marion verweist darauf, dass sich die Erscheinung nur dort authentisch entfalten kann, wo sie sich gibt. Bei der Reformulierung der Phänomene als Gebungen wird deshalb einerseits eine Dimension thematisch, die den Erscheinungen selbst voraus liegt, also prä-phänomenal zu nennen wäre. Andererseits werden durch diese Dimensionierung von Phänomenologie Qualitäten und Kräfte in den Erscheinungen denkbar, die den bisherigen phänomenologischen Entwürfen verborgen blieben. Die Novität dieser präphänomenologischen Dimension wird an Marions Gleichung von »Erscheinen« und »Sich geben« greifbar. Das von Marion auf »donation« festgelegte Phänomenverständnis vereinigt die Bedeutungen von »Erscheinen« und »Sich geben« zu einem einzigen Sinngehalt: »[…] tout phénomène relève du donné, au point que les deux termes pourraient s’échanger. Phénomène donné sonne comme un pléonasme …« 49 Überdies ist das Phänomen von seinem Sich-Geben so radikal zu bestimmen, dass die Bedeutung »Erscheinen« eine der Gebung nachgeordnete Stellung im Phänomenbegriff einnimmt: »il faudra […] décrire le phénomène comme restant donné bien au-delà de son surgissement dans le paraître.« 50 Zum Begriff des »Präphänomenalen«: Vgl. »Comment en effet une préphénoménalité pourrait-elle émerger en deçà de l’immanence (de la ›conscience‹), avant l’écran et le prisme par lesquels l’adonné convertit le donné anonyme en ce qui se montre?« (ED 419). 48 Ebd., 361. Die Forderung nach der Hingebung der Subjektivität steht dem Heideggerschen »Hirt des Seins« (Vgl. Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 331) entgegen, dessen Rolle in der Generierung des Seinsphänomens unterbelichtet scheint. 49 ED 169. 50 Ebd., 171, vgl. »la donation ne lierait pas on sort à l’intuition«. (Ebd., 262), »il ne 47

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Das Sich-Geben als erster Anstoß von Erscheinung und Reflexion

Man muss sich den damit in die Wege geleiteten Umschwung im Verständnis von »Phänomen« vor Augen halten. Immerhin fällt ein völlig neuer Akzent auf den Phänomenbegriff, wenn nicht mehr »Erscheinung«, sondern »Gebung« als seine primäre Bedeutung zu denken ist. Gegenläufig dazu liegt dem aus dem Griechischen stammenden Ausdruck »Phänomen« die Bedeutung (meist optischer oder akustischer) Erscheinungen zugrunde. 51 Im Kontext philosophischer Phänomenologie wird dieses Verständnis zwar abstrakter gefasst. Doch hält schon der Ansatz Husserls diesem ursprünglichen Sinn von »Erscheinung« die Treue, wenn dort das Phänomen als reine Idee interpretiert wird, die dem ›geistigen Sehen‹ zugänglich sein soll. 52 Heideggers Phänomendefinition, »das Sich-an-ihm-selbst-zeigende« 53 scheint demgegenüber zunächst eine Akzentverschiebung zu bieten. Dass Heidegger allerdings das »Hören« als bevorzugten Ort bestimmt, an dem sich das Sein artikuliert 54 , wäre als Indikator für die Verbundenheit seines Phänomenbegriffes mit der Erscheinungssemantik zu bewerten. Insgesamt scheint in den Ansätzen Husserls und Heideggers der Konsens darüber bestanden zu haben, dass in (optischer, akkustischer) »Erscheinung« der primäre Bedeutungsgehalt von »Phänomen« liege. Philosophische Phänomenologien hätten sich demnach primär mit der Frage nach dem Erscheinen auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund markiert die Phänomenologie der Gebung einen auf den ersten Blick irritierenden Umbruch. Für Marion ist die Einsicht zentral, dass sich die in der Phänomenologie verhans’agit pas de privilégier l’intuition comme telle, mais de suivre en elle (voire éventuellement sans ou contre elle) la donation dans tout sa portée.« (Ebd., 279, Hervorh. / T. A.), DS 131. 51 Vgl. Gemoll, W. Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, 777. 52 Vgl. »Am Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär […] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.« (Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 51). 53 Heidegger, M. Sein und Zeit, 28. (Hervorh. / T. A.). 54 Das Hören wird in Heideggers Denken nach der Kehre zu einem bestimmenden Motiv: »Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder: dass Seiendes ist.« (Heidegger, M. Wegmarken, GA 9, 307).

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delten Erscheinungen je schon geben. Erscheinen kann nur eine Gebung: »le phénomène en tant que donné, le donné en tant que phénomène.« 55 Wenn das Phänomen aber radikal als Gebung zu bestimmen ist, dann impliziert dies von vornherein eine Kritik der Phänomenologie an allem Sichtbaren und Erscheinenden. Phänomenologie, als die Lehre von den Erscheinungen, ist primär an eine unsichtbare Dimension, nämlich die jenseits der Erscheinungen stehende Gebung, verwiesen. 56 Nach Marion liegt darin aber kein WiED 172. Vgl. v. a. »La donation de soi ne peut en effet pas se voir directement …« (DS 36). R. Horners Bemerkung zum Status von Unsichtbarkeit bei Marion nimmt sich dem gegenüber etwas unterreflektiert aus: »… Marion, for whom phenomenology remains a viable way to approach even phenomena that cannot be seen.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, 18, Hervorh. / T. A.). Dagegen ist zu betonen, dass Marions phänomenologischer Entwurf seinen Anfang in der Unsichtbarkeit, nämlich im ursprünglich-formalen Sich-Geben der Phänomene, einnimmt. In Frankreich wurde dieser Aspekt kontrovers diskutiert. Vor allem Lévinas und Derrida wiesen darauf hin, dass Marions Ansatz auf einen Bereich ausgreifen will, der der Intuition/Erscheinung vorausliegt und sich kein Horizont des Erscheinens mehr bestimmen lässt. Folglich stünde am Anfang der »Phänomenologie der Gebung« eine inkohärente Phänomendefinition: »Marion: I said to Lévinas some years ago that in fact the last step for a real phenomenlogy would be to give up the concept of the horizon. Lévinas answered me immediately: ›Without a horizon there is no phenomenology.‹ And I boldly assume he was wrong.« (On the Gift. A Discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion. Moderated by Richard Kearney, 66) Ähnlich Derrida: »But I doubt that there is a possibility of a phenomenology of the gift.« (Ebd., 60). Wenn aber Derrida umgekehrt behauptet, sein Denken der Gabe streite trotz aller Kritik deren Erfahrbarkeit nicht ab, muss die Frage offen bleiben, ob die an seinem Begriff von Gabe virulente Erfahrung des Unmöglichen nicht ihrerseits positiv-phänomenal zu denken wäre, vorausgesetzt man revidiere wie Marion den Begriff von Phänomenologie. Was nämlich Derrida ›Erfahrung des Unmöglichen‹ nennt, würde Marion ›Phänomen des Unmöglichen‹ nennen: »Derrida: What I am interested in […] is precisely the experience of the impossible. This is not simply an impossible experience, but the experience of the impossible.« (Ebd., 72). So kann Caputo beide Denker als »Apostles of the Impossible« bezeichnen, wobei Derrida die Unmöglichkeit mittels Negierung, Marion die Unmöglichkeit mittels Revision der Phänomenologie denken will. (Caputo, J. Apostles of the Impossible. On God and the Gift in Derrida and Marion, 208). In der von Janicaud angestoßenen Diskussion in Frankreich um die Frage, ob eine Phänomenologie ad hoc im Unsichtbaren einsetzen darf, scheint es mittlerweile zu einem Konsens gekommen zu sein. (Vgl. Janicaud, D. Le tournant théologique de la phénoménologie française, 48). Den Ausschlag hierfür gab u. a. der Verweis auf Husserls »Urimpression« und Heideggers »Seminar von Zähringen«, wonach die »Väter der Phänomenologie« eine phänomenologische Behandlung des Unsichtbaren mehr oder weniger explizit ›gestatten‹. Vgl. »Ne sommes-nous pas dans une situation analogue à celle de Husserl voulant opérer une regréssion en-deça d’une phénoménologie de la perception vers une Urimpression originaire laquelle ne peut plus être ›un‹ phéno-

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derspruch, weil die Phänomene erst dort in den Mittelpunkt der Phänomenologie rücken, wo sie sich als Phänomene zu geben vermögen. Bringt Marion deshalb den Gebungsbegriff in die Stellung eines ersten phänomenologischen Prinzips, dann kann er dies damit begründen, dass nur eine solche von der Gebung modulierte Phänomenologie den Erscheinungen als solchen entsprechen kann. Entsprechend gilt einzusehen, dass das Phänomen erst in seinem Sich-Geben zur Geltung als Phänomen kommt: »ce qui apparaît se donne, ce qui se donne apparaît, ou mieux se montre.« 57 Mehr noch: Indem die Gebung das Phänomen radikal bestimmt, profiliert sich erst dessen phänomenales ›Selbst‹. »Se montrer par soi – demande un ›soi‹ ; il ne provient que de la donation qui travaille le donné et le leste d’une tare phénoménologique, le surgissement même vers la visibilité.« 58 Wenn die Erscheinungen sich folglich geben können, dann werden deren genuine Qualitäten phänomenologischer Reflexion zugänglich. Schließlich erfüllt die Phänomenologie durch ihre Rückbindung an die »donation« die ihr zu eigene Aufgabe, das sichtbar zu machen, was ansonsten verborgen bliebe: »Mais s’il ne s’agissait que de voir les phénomènes déjà visibles, nous n’aurions nul besoin de la phénoménologie; en revanche, elle gagne sa légitimité en rendant finalement visibles des phénomènes qui fussent, sans elle, restés inaccessible.« 59 Die durchaus gravierende Verschiebung im Begriff von »Phänomen«, die sich durch den semantischen Vorrang von »donation« ergibt, bedingt insgesamt dessen ›Rettung‹, um eine oft mit Platon in Verbindung gebrachte Formulierung aufzugreifen. 60 Die Phänomenologie soll sich den Erscheinungen hingeben, weil und insoweit sich diese primär geben. 61 Umgekehrt: Bemüht sich das Denmène?« (Gabellieri, E. De la métaphysique à la phénoménologie: une »relève«?, 632, Colette, J. Phénoménologie et métaphysique, 63 f., Heidegger, M. Seminare, GA 15, 399). Dass sich eine phänomenologische Behandlung des Unsichtbaren aber nicht erst von Heidegger her legitimiert, dessen Zustimmung hierzu selbst zweifelhaft wäre, betont Marion in DS 132 f. 57 ED 169. 58 Ebd., 102. 59 Ebd., 100, vgl. »Der Akt der Gebung […] setzt so eine nicht-phänomenale Gebungsstruktur frei, die den Phänomenen in ihrer Weise, dem Bewusstsein zu erscheinen, Rechnung trägt.« (Depraz, N. Gibt es eine Gebung des Unendlichen?, 117 f.). 60 Vgl. zusammenfassend dazu: Mittelstraß, J. Die Rettung der Phänomene: Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips. 61 Man kann diesen Ansatz Marions ein ›dramatisierendes‹ Verständnis der Husserlschen Intuition nennen und hierin eine Vorprägung durch Lévinas wahrnehmen. Das

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ken wirklich um die Erscheinung, dann müsste deren Sich-SelbstGeben die uneingeschränkte, d. h. die hingegebene Aufmerksamkeit gelten. 62 Wie bereits zu sehen war, will die »Phänomenologie der Gebung« die tragenden Prinzipien der abendländischen Ideengeschichte revidieren, d. h. insbesondere die aristotelische Metaphysik als deren ›Geburtseintrag‹ umkehren. Angesichts dieser postmetaphyischen Stoßrichtung ist in Marions Gleichung »das Phänomen als Gegebenes« ein metaphysikkritischer Unterton mitzuhören. Mit ihr will Marion genau das aristotelische Programm ablösen, das Sein als Seiendes zu erforschen: »Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende, insofern es seiend ist (»t n ` n«), betrachtet und das, was ihm an sich zukommt.« 63

5.1.3. »donation« – erstphilosophisch Der Entwurf Marions beansprucht, die Philosophie im Ganzen neu begründen zu wollen. Philosophie lässt sich insgesamt auf eine sichere Basis im Verbund der Wissenschaften stellen, wenn sie die Gebung des Wirklichen in der skizzierten Weise fokussiert und das Denken sich an sie restlos hingibt. Bei dieser Behauptung geht Marion zunächst davon aus, dass die wissenschaftliche Position gegenwärtigen Philosophierens durch das allseitige Vordringen von Epistemologie und Linguistik instabil geworden ist. 64 Diese Gefährdung ließe sich aber abwenden, wenn die Philosophie einerseits ihre traditionelle Vorrangsstellung im Verbund wissenschaftlicher Reflexion behaupten könnte. 65 Wo sich Philosophie nur unterhalb der Maßgabe, eine hintergründige Metawissenschaft zu sein, selbst auslegt, dort gibt sie Lévinassche Denken setzte nicht zufällig mit einer neuen Schwerpunktsetzung in der Rezeption Husserls an: der neu herausgestellten Intuition. (Vgl. Lévinas, E. Théorie de l’intuition dans la phénoménologie de Husserl). 62 In diesem Sinne fordert Marion, dass sich die phänomenologische Immanenz dort realisiert, wo sich das Denken ganz der Phänomengebung verschrieben, d. h. hingegeben ist. Vgl. »tout phénomène réduit peut se dire aussi donné, puisque cette donation revient au donné en tant même que pris dans son immanence réduite.« (ED 173). 63 Aristoteles, Metaphysik, 82, vgl. ED 172. 64 Vgl. »elle [la philosophie] se redéfinit comme soit, en aval, un savoir au second degré de la science (›épistémologie‹), soit, en amont, une simple enquête sur les formes d’un usage correct du langage (›analyse du langage‹, ›tournant linguistique‹, etc.).« (DS 2). 65 Marions Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaften erinnert unweigerlich an das Pathos, mit dem Heidegger am Beginn von »Was ist Metaphy-

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ihre genuine Aufgabe und Bedeutung preis. Infolgedessen müsste Philosophie immer als Erstphilosophie betrieben werden. »Dès lors, il devient vital pour la philosophie de maintenir même aujourd’hui, une revendication de primauté ou du moins d’un certain type de primauté dans sa définition même: faute de quoi elle disparaîtra non seulement comme ›philosophie première‹ […], mais simplement comme philosophie.« 66 Andererseits beabsichtigt Marions Forderung nach einer Erstphilosophie nicht, ein Denken zu rehabilitieren, dass die Wirklichkeit transzendental begründen wollte. Berücksichtigt man das Selbstverständnis anderer Wissensbereiche, so wäre es ohnedies obsolet, in einer ersten Philosophie ›Gründe für die Wirklichkeit‹ entwickeln zu wollen. Die (Natur-) Wissenschaften würden sich geschlossen gegen alle Grundlegungsversuche seitens einer anderen Disziplin, wie der Philosophie, zur Wehr setzen. »Car, en régime de ›fin de la métaphysique‹ […] ni les ›principes‹ ni les ›fondements‹ ne se trouvent plus requis par aucune science.« 67 Wenn folglich zur Philosophie eine erstphilosophische Ausrichtung unabdingbar gehört, Erstphilosophie aber keinen die Wirklichkeit begründenden Charakter annehmen darf, dann hätte sich eine »Erste Philosophie« an die Gebung des Wirklichen hinzugeben. »Erste Philosophie« wäre unter diesem Blickwinkel als sich hingebendes Denken bestimmbar, wodurch sich das primordiale Sich-Geben der Phänomenwelt entfalten und dieses methodisch ausgewiesen nachgezeichnet werden kann. So plädiert Marion im Ausgang des Gebungsbegriffes für eine »andere erste Philosophie«, die sich zwar als Kritik traditioneller Erstphilosophien versteht, die jedoch im Anschluss daran den ersten, evidenten und universal gültigen Einsatzpunkt von ›Reflexion überhaupt‹ zu bestimmen beansprucht: das Sich-Geben von Wirklichkeit, dem Reflexion ursprünglich hingegeben ist. »Erste Philosophie« dürfte deshalb nicht in ihrem ursprünglichen Sinne verstanden werden. Aristoteles, der Urheber dieser Bezeichnung, legte »erste Philosophie« als Wissenschaft vom Seienden sik?« das wissenschaftliche Fragen an die Frage nach dem Nichts zurückbindet. (Vgl. Heidegger, M. Wegmarken, 103 ff. GA 9). 66 DS 3, vgl. »Die Philosophie bleibt ihrem eigenen Wesen nur dann treu, wenn sie sich wesensgemäß als erste Philosophie entwirft.« (Marion, J.-L. Eine andere erste Philosophie und die Frage der Gegebenheit, 13), 1995 hat Marion zum ersten Mal die Forderung nach einer ersten Philosophie erhoben: Vgl. Marion, J.-L. L’autre philosophie première et la question de la donation, 68–93. 67 DS 2.

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als Seiendes fest. 68 Im Anschluss präzisiert er, erste Philosophie solle sich auf die unbewegte o'sffla, als ihres Gegenstandes, beziehen: »Wenn es aber ein unbewegtes Wesen gibt, so ist wohl dies das frühere und die Philosophie die erste und allgemeine, weil sie die erste ist.« 69 Nach Marion greift die aristotelische Annahme einer unbewegten Substanz über die gegebenen Erscheinungen hinweg. Sie rangiert eine über der Phänomenwelt stehende Figur von Unbewegtheit bzw. Präsenz an erste Stelle, was phänomenologisch aber nicht zu erweisen ist. Deshalb kommt das aristotelische Modell von Erstphilosophie außer Betracht: »[…] la justification de la ›philosophie première‹ par son soin de l’o'sffla apparaît fragile non seulement parce qu’elle prétend porter sur une instance immobile et séparée (divine) […], mais simplement parce qu’elle admet qu’une telle instance puisse, comme telle […] se définir et s’entendre, alors qu’elle ne parvient pas.« 70 Ebenso wenig entspricht das Verständnis von Erstphilosophie, das Thomas von Aquin vorsah, den Absichten Marions. Thomas legte die Erstphilosophie darauf fest, nach den Ursachen der »substantiae« zu forschen. Dabei kommt ausschließlich Gott in Frage, der als »esse purum« definiert wird. 71 Da sich aber die bei Thomas vorausgesetzte Kausalität Gottes nicht in der sich gebenden Phänomenwelt einstellt, scheidet der Entwurf des Aquinaten für eine solide Erstphilosophie im Sinne Marions aus. »Il faut donc en conclure, ici encore, que la causa ne peut, pas plus que l’o'sffla garantir ni qualifier une primauté pour la philosophie.« 72 Die auf Descartes folgenden Erstphilosophien, an deren Ausgangspunkt die transzendentale Subjektivität des »Ego cogito« steht, gehen von einem Ichverständnis aus, das ebenfalls in phänomenologischem Rahmen nicht auszuweisen wäre. Das transzendentale Ego steht zum einen der empirischen Icherfahrung (»mich«) schroff gegenüber. Seine Prinzipierung in transzendentalphilosophischem Kontext begründet einen Dualismus, der von der sich gebenden Ichphänomenalität, d. h. vor allem den mit ihr verbundenen Leiblichkeitserfahrungen nicht gedeckt wird. Zum anderen würde eine Erstphilosophie den Vorrang transzendentaler Subjektivität in aller Radikalität befragen müssen: Wäre nicht dieses 68 69 70 71 72

Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 155. Ebd., 157. DS 7. Vgl. ebd., 8 Anm. 1. Ebd., 10.

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Ich selbst begründungsbedürftig bzw. müsste seine Evidenz nicht erst phänomenal aufscheinen? So führt der transzendentale Anspruch des Ego zur noch ursprünglicheren Frage nach seinem phänomenalen Gegebensein zurück. »Mais le Je peut-il se fonder lui-même de manière assez radicale pour assurer de sa primauté celle de la ›philosophie première‹, peut-il justifier sa prétention à une primauté aussi inaugurale?« 73 Der Gesamtkomplex transzendentalphilosophischer Reflexion entspricht folglich nicht der von Marion geforderten Erstphilosophie, weil die phänomenale Gebung noch hinter dem »Ego, cogito« stehen würde. Marion ist der Auffassung, dass allein eine auf die Gebung konzentrierte Phänomenologie den Namen »Erste Philosophie« verdient. Bei dieser Festlegung sind vor allem zwei Aspekte zu beachten. Erstens: Die Evidenz von »donation«. In der Phänomengebung liegt nach Marion das erste Moment von Evidenz, von dem Denken, d. h. ›Reflexion überhaupt‹ ausgeht. Dass das Denken je schon von einem ersten »Sich-Geben« berührt wird, ist nicht zu bezweifeln: »seul ce que je vis sur le mode de ce qui advient à chaque fois pour moi et qui donc m’affecte immédiatement m’apparaît certainement.« 74 Bei dem hier herbeigezogenen Evidenzbegriff erinnert Marion an Descartes. Er fordert, dessen egologisches Verständnis von Evidenz aufzusprengen und an das universale Sich-Geben zurückzubinden: »la phénoménologie universalise le résultat cartésien: elle n’assure pas l’ego seul et à lui-même, elle certifie tout un monde, parce qu’elle ne l’appuie plus sur la pensée (se pensant), mais sur le donné tel qu’il se donne (à la conscience).« 75 Zweitens: Die Universalität von »donation«. Der Gebungsbegriff ist auf die Wirklichkeit im Ganzen anzuwenden: »l’équivalence entre le phénomène et le donné ne souffrirait plus aucune exception: à titre de détermination fondamentale de la phénoménalité« 76 So fallen unter den Horizont von »donation« beispielsweise auch logisch-mathematische Gegenstände, deren Bedeutungen sich jeweils geben. Auch Phänomene wie das Sein, die Ebd., 13. Marion, J.-L. Tintin le Terrible, in: Bonfand, A., Marion, J.-L. Hergé. Tintin le Terrible ou l’alphabet des richesses. Suivi d’extraits inédits de la Correspondance de Hergé, Paris: Hachette 1996, 7–28, hier: 16. 75 DS 23. vgl. »Ainsi, dans la stricte mesure où la réduction s’accomplit correctement, il devient ›absurde‹ d’envisager que la donation ne donne pas certainement le donné.« (Ebd., 22). 76 ED 251. 73 74

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Abwesenheit, das Nichts etc. bilden ihre jeweilige Gestalt in einem Gebungsgeschehen aus. Die Gebung umfasst alle Phänomenbereiche, weil alle Phänomene sich zuerst geben. So gilt für Marion die jede künftige Erstphilosophie bestimmende Einsicht: »La donation s’érige donc, par sa certitude et son universalité de principe, en principe inconditionné.« 77 Im Ausgang des dargelegten Anspruches, den Marions »donation«Begriff in metaphysischer, phänomenologischer und allgemeinphilosophischer Perspektive erhebt, sind nun die Gestaltungsprozesse und Verhältnismäßigkeiten einer Phänomenologie im Zeichen der Gebung zu beleuchten. Dabei ist zu beachten, dass als Ergebnis von Marions Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger eine völlig leere, d. h. formale Appell- und Gebungsstruktur erschlossen wurde. 78 Im Anschluss daran sind nun aber die phänomenalen Möglichkeiten, die sich aus dieser Struktur ergeben, als »formale Figuren« darzustellen (7.2.). Ferner ist auch in diesem Sinne auf die formalen Züge der hingegebenen Subjektivität einzugehen (7.3.). Schließlich ist in Absetzung von früheren Phänomenbegriffen auf die neuartigen Beschreibungsmöglichkeiten einzugehen, die sich über diesen Entwurf eröffnen (7.4.).

5.2. Formale Figuren des sich gebenden Phnomens 5.2.1. »… der phänomenalen Gestaltwerdung staunend«: Anamorphose Bei der Frage, wie sich das Sich-Geben der Phänomenwelt auf einer rein formalen Ebene gestalten kann, ist zuerst die Verwiesenheit des DS 26, vgl. »La donation […] se pose bien comme principe, mais à condition de rester le dernier.« (ED 90), dagegen kritisch: Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 46 f. Mit Blick auf deutsche Debatten um eine erstphilosophisch ausgerichtete Fundamentaltheologie ist die Marionkritik seitens philosophischer Hermeneutik zu beachten. Namentlich P. Ricœur fragt die bei Marion als erste Philosophie zugespitzte Behauptung einer Unmittelbarkeit phänomenaler Gebungen an und insistiert auf deren Prägung durch sprachliche, kulturelle und geschichtliche Bedingungen: Vgl. Ricœur, P. Expérience et Langage dans le discours religieux, 18 f. 78 Zur Formalität des Gebungsbegriffs vgl. Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 211. 77

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Denkens an Dunkelheit und Gestaltlosigkeit herauszustellen. Das Phänomen müsste ja aus seinem eigenen Grund hervortreten, wenn es sich selbst geben soll. Folglich ergibt sich das autonome Hervortreten des Phänomens, bevor das Denken sein Bedürfnis geltend macht, die Form von Wirklichkeit selbst zu konstituieren und unter sein Licht zu stellen. So ist das der ursprünglichen Gebung entsprechende Denken gehalten, sich einem »ailleurs«, einer primären Dunkelheit hinzugeben, um der phänomenalen Selbstgenese beizuwohnen. Erscheinung, Sichtbarkeit und Form bieten keine Anhaltspunkte, die das Denken bei seinem Zugehen auf Wirklichkeit ›im Gepäck mitnehmen‹ könnte. Vorausgesetzt, das Denken würde über die Wirklichkeit ein vorgefertigtes Raster dieser Art stülpen, dann wäre es im Ursprungsbereich phänomenalen Sich-Gebens noch nicht angekommen. Wo sich das Denken dagegen, seine Vorgriffe hingebend, im phänomenalen Niemandsland aufhält, dort gibt sich die Erscheinung als sie selbst. Sichtbarkeit und Form entspringen dann dem autonomen Fluss phänomenaler Gebung, der aus unanschaulicher und amorpher Tiefe hervorbricht. Marion nennt diesen Vorgang »Anamorphose«. In der Anamorphose bildet das Phänomen erstens seine ihm eigene Form aus, die es von sich selbst her gibt: »L’ana-morphose indique ici que le phénomène prend forme à partir de lui-même.« 79 Zweitens tritt die Sichtbarkeit des Phänomens ›anamorphotisch‹, d. h. nach den genuinen Gesetzmäßigkeiten seiner Selbstgebung hervor: »L’anamorphose atteste donc que le phénomène se donne. Il se donne, parce qu’il parcourt sa distance phénoménologique en surgissant à partir de son invu, jusque dans sa visiblité finale.« 80 Die Phänomenologie der Gebung ist diesem Bildungsprozess des Phänomens gegenüber geöffnet. Denn das ihm restlos hingegebene Denken bzw. Bewusstsein staunt darüber, wie es zur Sichtbarkeit und Form des Phänomens durch dessen eigene Initiative kommt. In der Anamorphose wird der klassisch-metaphysische Zusammenhang zwischen Form und Materie umgedreht. Nach der aristotelischen »Entelechie« soll sich in der Materie die eidetische Form verwirklichen: »Wie etwa, wesED 176. Ebd., 185. Hinsichtlich des Verhältnisses von Philosophie und Theologie bei Marion ist bemerkenswert, dass Marion hier die Gestaltwerdung des Phänomens als ein SichGeben aus Distanz denkt. Der Distanzbegriff bestimmte dagegen im Frühwerk ausschließlich die Phänomentypik christlicher Offenbarung (Vgl. Kap. 2.2.).

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halb sind diese Dinge da ein Haus? Weil ihm das zukommt, was das Haussein ist. Oder man untersucht, weshalb dieses da oder der Körper, der über dieses da verfügt, ein Mensch ist. Man sucht also die Ursache des Stoffes (das ist aber die Form), durch die er ein Was ist; doch das ist das Wesen.« 81 Gegenläufig dazu nimmt der Stoff im Kontext der Gebungsphänomenologie selbst die Form an.

5.2.2. »… von der phänomenalen Gebung berührt«: Kontingenz Das sich gebende Phänomen vermag sich dem Denken nicht nur so zu nähern, dass es seine Sichtbarkeit und Form schrittweise vor ihm entfaltet. Dagegen ließe sich einwenden, dass die zu gewahrende Phänomengenese das Form- und Sichtbarkeitsbegehren des Denkens lediglich verzögert erfüllen würde. Das Phänomen würde in einer dem Denken gegenüberliegenden Anschauung kulminieren, während seine Gebung allein deren hintergründiger Anlass bilden dürfte. Anschließend wäre das Phänomen lediglich zu registrieren. Weil das Phänomen aber durchgreifend, und nicht in einem kausalen Sinne, durch »Gebung« bestimmt ist, kann es dem Denken mehr als nur ein einfach zu verbuchendes Bewusstseinserlebnis (›arriver‹) widerfahren. Zu beachten ist vor allem, dass sich in der Anschauung der Primat der Gebung und der mit ihr verbundene Anspruch durchhält. Nicht nur (er-) geben sich Anschauungen aus einem hintergründigen Bereich, sondern in den Anschauungen gibt sich das Phänomen selbst. Anschauungen können infolgedessen anziehen oder abstoßen, enttäuschen oder erschlagen, weil sich das ganze Gewicht der Gebung in ihnen äußern kann. Unter diesem Gesichtspunkt kann das Phänomen dem Denken ›zu Leibe‹ rücken und in einem ›praktischen‹ Sinne berühren (›advenir‹). Diese in der Phänomengebung virulente Berührung kann so weit gehen, dass sich die phänomenale Anschauung dem Denken aufdrängt (›s’imposer‹). Marion weist insbesondere darauf hin, dass die durch das SichGeben mögliche Berührung des Bewusstseins durch das Phänomen der instrumentell-technisch verfahrenden Intentionalität vorausliegt. Während diese im Subjekt-Objekt-Dualismus verharrt, genauer: das Phänomen als eine dem Denken gegenüberliegende InAristoteles Metaphysik, 205, vgl. Franzen, W.; Georgulis, K. Art. Entelechie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie II, 506.

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stanz konzeptualisiert, stellt die Phänomenologie der Gebung heraus, dass die Phänomene das Bewusstsein ursprünglich berühren, verletzen, suspendieren etc. können, weil es diesen ja ganz hingegeben ist. 82 Hinsichtlich dieser Möglichkeit von Berührung, die dem Phänomen als einem Sich-Gebenden zu eigen sind, spricht Marion von phänomenaler Kontingenz. Der klassische Vorrang, den die Notwendigkeit gegenüber der Kontingenz einnimmt, ist dagegen als metaphysische Konstruktion zurückzuweisen. Der Begriff »Kontingenz« ist, in Entsprechung zu seinem lateinischen Etymon, als ein ursprüngliches Berührtwerden des Bewusstseins von phänomenalen Gebungen herauszustellen. 83 Anders als in klassischer Metaphysik liegt im Berührtwerden bzw. Einschlag der Phänomengebung das erste Moment von Evidenz, von dem das Denken auszugehen hat. 84 Diese ursprüngliche Kontingenz des Phänomens ersetzt das aristotelische Vermögen, »¥ndecomffnon«, das als griechische Urform von »Kontingenz« gelten kann 85 , und das dem Primat der Notwendigkeit untergeordnet wurde: »Die ewigen Dinge nämlich sind dem Wesen nach früher als die vergänglichen Dinge, nichts Ewiges aber existiert dem Vermögen nach.« 86

5.2.3. »… in den Bezirk phänomenaler Individualität gestellt«: »arrivage« Insofern die phänomenale Anschauung ganz von der Gebung bestimmt ist, ist das Bewusstsein in seinem Ursprungsbereich auf die unvorgreifbare Individualität der Phänomene eingestellt. Phänomene erscheinen darin ganz so, wie sie sich von sich selbst her geben. Das Bewusstsein ist folglich dem Ankommenkönnen völlig disparaMarion sieht darin Alltagsphänomene expliziert wie das habitualisierte Mitrennen im Großstadtgetriebe, das desinteressierte ›In-die-Röhre-schauen‹ und ›Sich-Berieselnlassen‹ etc. In allen Fällen wird das Denken von einem Ort oder einer Gewohnheit in Beschlag genommen. (Vgl. ED 182 ff.). 83 Vgl. ebd., 177, 196. Dabei ist an das lateinische Etymon »con-tingere« (»anrühren«) zu erinnern. 84 Vgl. »La contingence du phénomène n’implique pourtant nulle incertitude du vécu: au contraire, le fait que le vécu arrive à et sur la conscience […] ne marque qu’une indubitabilité de fait, du fait même que le vécu ne cesse d’arriver.« (Ebd., 178), »Ainsi le phénomène donné comporte-t-il, avec l’expérience de sa donation l’expérience de sa certitude.« (DS 23). 85 Vgl. Brugger, W. Art. Kontingenz, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, 1028. 86 Aristoteles Metaphysik, 236. 82

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ter, weil individueller Phänomentypen ausgesetzt. Es steht immer schon im Bezirk eines phänomenalen »arrivage«, der streng zu unterscheiden ist von der gleichförmigen und voraussehbaren Ankunft der Phänomene (»arrivée«). Im Begriff »arrivage«, der sich im französischen Sprachgebrauch vor allem auf das Eintreffen neuer Waren in Kaufhäusern o. ä. bezieht, drückt sich das Ankommen einer Vielzahl unterschiedlich sich gebender Elemente aus. Entsprechend ist das für den »arrivage« offene Bewusstsein für eine unüberschaubare Palette sich selbst gebender Phänomene empfänglich. Analog zu den in der Handelswelt ausgerufenen »nouveaux arrivages« können Phänomene ursprünglich Schockmomente, Sogwirkungen, Enttäuschungen, Gleichgültigkeit, Ekel, etc. bewirken, weil sich in der phänomenalen Anschauung jeweils eine individuelle Selbstgebung äußert. So ist das Bewusstsein auf pluriforme, da von ihrer Gebung individuell bestimmten Anschauungen ursprünglich eingestellt. Mit anderen Worten: Das Denken ist dem »arrivage« phänomenaler Gebungen gegenüber hingegeben. »L’arrivage – non l’arrivée uniforme, mais le surgissement imprévu, saccadé et discontinu de l’apparaître – souligne à la fin que le donné se donne.« 87 Weil es dem Bewusstsein auf dieser präreflexiven Ebene versagt ist, Formen, Strukturen, Bedeutungen der Erscheinungen zu antizipieren, steht es ursprünglich ohne Schutz vor dem phänomenalen »arrivage«. Anders gesagt: Das Denken kommt selbst von der individuellen Gebung, vom »arrivage« der Phänomene her. Es ist ihm ursprünglich (auf-)gegeben, die individuellen Phänomene 88 so zu empfangen, wie sich selbst geben, ist es doch diesem Sich-Geben selbst je schon hingegeben. 5.2.4. Die universale Faktizität des Sich-Gebens Angesichts der primären Gebung des Wirklichen steht das Denken immer schon vor vollendeten Tatsachen. In Umkehr des metaphysischen Kausalitätsgedankens (»en effet«) kommt die Reflexion aus der unhintergehbaren Faktizität des Sich-Gebens (»en fait«) her. Anders gesagt: Das Denken weiß sich stets auf Faktizität hingeordnet, dies allerdings in einem universalen Sinn. Spricht man nämlich von der ED 196. Marion hatte bereits in PC auf die ›haecceitas‹, die Selbstgebung als eine individuelle hingewiesen, die nun phänomenologisch erschlossen ist: Vgl. PC 115 ff.

87 88

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Faktizität des Gebens, dann ist dies nicht so zu deuten, als ginge das Denken von einzelnen, herausragenden Fakten (»Le factum kat3 exocffin« 89 ) aus. Entsprechend kehrt sich Marions Verständnis von Faktizität unter anderem von der praktischen Philosophie Kants ab, in der das moralische Sollen als faktisches Gesetz, aber nur vereinzelte Gebung, gedacht wird. 90 Die Marionsche »Faktizität« setzt sich ebenfalls dem frühen Heidegger entgegen, der die Seinsverfassung des »Daseins« als Faktizität entwirft, damit aber den Faktizitätsbegriff aufs Neue einschränkt. 91 Das Denken geht nach Marion dagegen immer schon von einer universal zu verstehenden Faktizität aus: die des phänomenalen Sich-Gebens. Es ist der Welt faktischer Gebungen ausgesetzt und steht vor der vollendeten Tatsache, dass (etwas) gegeben wurde. Doch ist dieses Stehen genauer noch als ein Hingegebensein an die Individualitäten faktischer Gebungen zu verstehen. »La facticité ménage l’encontre, en ce qu’elle ne me pose pas seulement en fait […], mais pose que je suis en fait pour un fait, qui s’accomplira précisément, parce que je m’expose par avance de fait à lui, pour lequel je suis toujours ›déjà-dans‹«. 92 Denn auf seiner präreflexiven Ebene befindet sich das Bewusstsein immer schon in phänomenale Gebungen eingebunden, die sich in ihrer irreduziblen Individualität als »faits accomplis« 93 darstellen. 5.2.5. Unfälle, Zwischenfälle, Ereignisse – Dimensionen von Phänomenalität Konstituiert sich das Denken im Ausgang phänomenaler Gebungen, dann ist es ursprünglich für Zwischenfälle, Unterbrechungen und Unfälle empfänglich. In der Phänomenologie der Gebung wird deshalb der Zwischenfall (»l’incident«) als solcher denk- und explizierbar. Zählte in metaphysischer Philosophie der Zwischenfall zur Kategorie des Undenkbaren, da es mit keiner ›eidetischen Ursächlichkeit‹ ED 197 ff. Ebd., 201 ff., vgl. »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Kant, I. Kritik der praktischen Vernunft, Werke IV, 140. 91 Vgl. ED 202 ff. 92 Ebd., 206. 93 Der Zusammenhang zwischen »fait accompli« und »donation« lehnt sich an den des »pli du donné« (Vgl. ebd., 97) an. 89 90

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und keiner Kategorie des transzendentalen Subjekts zu vereinbaren war, so erschließt sich der »incident« in der Phänomenologie der Gebung. Denn das Denken positioniert sich in dieser Perspektive ja immer im Anschluss an das, was sich (von) selbst und oft wie ein Zwischenfall gibt. Phänomenale Gebungen können sich deshalb als Zwischenfälle äußern, die ihre autonome Dynamik entfalten. Aristoteles verhandelt Zwischenfälle unter dem Begriff »sumbebhk@«, die er, ähnlich wie die »˜lh«, unter die Vorherrschaft des verursachenden »eidos« bringt. Die Gebungsphänomenologie kehrt diesen metaphysischen Zusammenhang um. Denn ihr Blick richtet sich gerade auf das Unvorhersehbare bzw. Unvordenkliche, das die Kategorie der Zufälle etc. auszeichnet. Wenn aber das Denken von der phänomenalen Gebung ausgeht, dann sieht der Blick ganz von einem die Seienden verursachenden »Eidos« ab und wendet sich der »ulh« zu. Entsprechend entwickelt Marion mit Blick auf Aristoteles und Thomas von Aquin (sumbebhko@, »adveniens extra«) eine Art Verdrängungsgeschichte des Zwischenfalls, die erst über seine »Phänomenologie der Gebung« ans Licht komme. Zwar scheint aus Textausschnitten dieser Denker die Wirklichkeitsgebung von einem Außen hervorzugehen. Doch werden diese Einsichten insgesamt unter die metaphysische Herrschaft des »eidos« o. ä. gebracht. Erst in einer Phänomenologie der Gebung können Zwischenfälle als solche erschlossen werden können. Wenn Thomas von Aquin als ein Philosoph des unvorhersehbaren Ereignisses verstanden wird, dann wird man den strategischen Unterton dieser Interpretation nicht überhören dürfen. Marion denkt dabei die klassische Metaphysik als Vorbereitung (Inkubationsphase?) zu einem Denken der phänomenalen Gebung. Bei diesen Interpretationen werden oft Auslassungen und Generalisierungen vorgenommen, so dass dies einer philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion eher schwierig zugänglich ist. Z. B.: »l’être doit désormais se penser d’après les déterminations de l’incident, loin que l’incident se dévalue ontiquement en accident marginal. L’exception fait loi – nul ne l’a mieux compris que Thomas d’Aquin.« 94

Aus dieser Perspektive ist der für die abendländische Metaphysik typische Ausschluss des Zwischenfalles nicht daraus zu erklären, dass dieser unter dem Niveau des Denkens liege (par défaut). In einer solchen Konzeption stünde ja das Denken urteilend über der phänomenalen Gebung. Weil das Denken nach Marion aber selber von einem universalen Sich-Geben herkommt, zeigt sich im Zwischenfall der Überschuss einer phänomenalen Gebung (par excès), den klassisches Denken nicht bewältigen konnte und verbannen musste, hielt es sich selbst und seine Denkgesetze doch für primär. Die Besonder94

Vgl. ebd., 221.

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heit eines Zwischenfalles liegt ja darin, etwas zu sehen zu geben, was vom Denken nicht vorauszuahnen war. 95 Der Zwischenfall als solcher bestimmt sich folglich immer durch einen Überhang phänomenalen Sich-Gebens gegenüber der Reflexion. Wenn sich aber im Sinne Marions die Phänomenologie ganz der phänomenalen Selbstgebung verpflichtet, erschließen sich in ihr Zwischen- und Unfälle dem Denken. Gibt sich Reflexion nämlich an die universale Gebung des Wirklichen ursprünglich hin, dann hat sie je schon Verzicht darauf geleistet, die Wirklichkeit nach seinem Muster oder Eidos zu entwerfen und Zwischenfälle aus ihrem Hoheitsgebiet auszuschließen. Wenn das Denken ganz von der Phänomengebung selber herkommt, dann ist es auf Zwischenfälle, Unfälle, Ereignisse eingestellt. 96 Nach der Marionschen Gebungsphänomenologie ist die Reflexion ganz dafür offen, dem Selbst des Phänomens zu begegnen. Das Sich-Selbst-Geben des Phänomens kann nach Marion auch als Ereignis gedeutet werden: »le soi de ce qui se montre, à savoir le phénomène atteste, par son caractère universellement et intrinsèquement événementiel, qu’il accomplit une donation originaire.« 97 Insofern sich die Selbstgebung des Phänomens ›ereignet‹, d. h. keiner zureichenden Ursache entspricht, lässt sich das jeder voraussehenden ›cogitatio‹ gegenüber Übermäßige und Sperrige, also das originär Ereignishafte, explizieren. Der Ereignischarakter sich selbst gebender Phänomene ist vor allem gegenüber der metaphysischen Prinzipienstellung des Kausalitätsgedankens herauszustellen. In der Selbstgebung des Phänomens liegt nämlich ein ursprüngliches Ereignis, das die metaphysische Schematik von Ursache und Wirkung umkehrt. Das der Phänomengebung inhärente Ereignis steht gegen die traditionelle Behauptung, in der Ursache liege größere Realität als in der Wirkung. 98 In Entsprechung zur Phänomenologie der Gebung ist darauf hinzuweisen, dass der Wirkung phänomenologischer Vorrang gehört (»l’effet Vgl. »Tout phénomène, en tant que donné, garde en effet comme un surplomb sur ce qui le reçoit: aussi pleinement délivré soit-il, son exil hors l’ousia et son déficit de cause le laissent finalement inégal à la connaissance inadéquate. Mais cette inégalité ne signifie pas tant une défaite de la pensée, que l’excès du pensable.« (Ebd., 224). 96 Die Phänomenalität des Zwischenfalls verdeutlicht so erneut, wie die Phänomenologie die metaphysischen Prinzipien einer absoluten, über Zwischenfälle erhabenen Vernunft auflöst. »Car, si l’incident, à titre de simple accident (métaphysique) suspend déjà le principe de la contradiction, pris dans et avec toute sa portée phénoménologique, il suspend aussi le principe de la raison.« (Ebd., 226). 97 DS 45. 98 Vgl. z. B. »Iam vero lumine naturali manifestum est tantundem, ad minimum esse 95

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d’abord«). Das Phänomen gibt sich nämlich immer erst selbst, d. h. in seiner Wirkung, um im Nachhinein als Teil einer Kausalreihe behauptet werden zu können. Die Behandlung der Wirklichkeit nach Prinzipien der Kausalität setzt insofern immer schon das von außen sich gebende ›Ereignis des Phänomens‹ voraus. 99 Dieses hält seinen Primat auch dort durch, wo das Phänomen längst auf seine Kausalität zurückgeführt scheint. »Dans la relation, l’effet montre donc un privilège massif sur la cause: lui commence sa phénoménalité, elle continue ou finit la sienne.« 100 Marion überträgt das Kausalitätsschema auch auf die industrielle Produktion. Die Abfolge von Ursache und Wirkung bestimmt auch die mit ihr einher gehende Haltung. Anders als bei diesem instrumentellen Verständnis von Vernunft 101 ist einzusehen, dass das technische Produzieren sich selbst den ursprünglichen Selbstgebungen des Phänomens verdankt. Der Vorrang phänomenalen Sich-Gebens schlägt sich unter anderem darin nieder, dass das technisch Hergestellte zutiefst eine phänomenale Selbstgebung, als Ereignis, auslösen soll, in der den Wirkungen eindeutig ein Vorrang gegenüber den technischen Ursachen des Produktes zukommt. »Le ›bon‹ produit ne l’est pas par ses causes (sa définition, ses propriétés, etc.), mais par ses effets (son efficience, ses ventes, etc.). Seul le résultat compte – l’effet décide de lui-même.« 102

5.2.6. Zusammenfassung: Elementare Bestimmungsgrößen sich gebender Phänomene Die aufgerollten formalen Züge des sich gebenden Phänomens (Anamorphose, Kontingenz, »arrivage«, Faktizität, Zwischenfall und Ereignis) konnten aus der phänomenologischen Vorordnung des SichGebens gegenüber dem »Erscheinen« extrapoliert werden: »Le phénomène, en tant que donné, monte par lui-même au visible selon son anamorphose […], s’individue dans son arrivage […], s’impose debere in causa efficiente et totali, quantum in eiusdem causae effectu.« (Descartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII 40, 21–23), ED 229. 99 Marion benutzt in diesem Kontext den in der Thermodynamik gebräuchlichen Ausdruck »Negantropie«, (besser wohl: »Negentropie«), der der Entropie (wörtlich: Innenwendung) entgegensteht. Demnach ist jeweils die Außenseite im Phänomen ursprünglich. 100 ED 231. 101 Die Marionsche Technikkritik (Vgl. bes. Marion, J.-L. La banalité de la saturation, 153 ff.) wäre mit der Heideggers zu vergleichen. Dabei wäre vor allem der Unterschied zwischen der hier vorgelegten Rehabilitierung des sich gebenden Einzelphänomens mit Heideggers Seinsvergessenheit im Namen einer technischen Haltung zur Wirklichkeit herauszustellen. Vgl. v. a. Heidegger, M. Die Technik und die Kehre. 102 ED 235.

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irrévocablement par son arrivage […], et se refuse à la complète construction en surgissant comme un pur incident […]. On voit clairement que toutes ces déterminations s’organisent autour de l’équivalence originelle entre se montrer et se donner.« 103 Ausgehend vom Begriff der »Gebung« sind nun folgende Koordinaten für den von Marion entwickelten Phänomenbegriff festzulegen. Erstens: Phänomenale Unvordenklichkeit. Gegenüber den phänomenalen Gebungen weiß sich das Denken immer im Verzug. Der Ausgangspunkt des Denkens liegt nicht mehr beim Denken (»ego, cogito«) selbst, sondern in der ersten unzweifelhaften Einsicht, dass dem Denken Phänomene gegeben sind. Das Denken ist ursprünglich an die phänomenale Gebung hingegeben und wird daher erst von der Phänomengebung her konstituiert. Damit hängt zweitens die prinzipielle Anderheit des Phänomens eng zusammen. Die Phänomenologie im Zeichen der Gebung zielt darauf, dass das Phänomen dem Bewusstsein bzw. Denken von außen begegnet. Es gestaltet seine Form in der »Anamorphose« selbst. Insbesondere bedeutet dies, dass sich das Phänomen prinzipiell nicht so generieren muss, wie es den Erwartungen und Vorgriffen des Denkens entspricht. Vielmehr trifft das Phänomen ja von Außen auf das Denken. Es kann das Denken leibhaftig berühren (Kontingenz) und ihm unvermutet in den Schoß fallen. »Le phénomène donné tremble donc en permanence d’une phénoménalité qui lui vient – intrinsèquement – d’ailleurs, aliunde.« 104 Diese Unberechenbarkeit ist drittens als phänomenale Eigendynamik zu bestimmen. Weil die Phänomene sich als sie selbst geben, eignet ihnen eine unberechenbare Vielgestaltigkeit an (»l’arrivage«). Insofern Phänomene in ihrem Sich-Selbst-Geben zu verstehen sind, ist zunächst von keinem Phänomen »par excellence«, wie in bisheriger Phänomenologie, auzugehen. Weder der Gegenstand Husserls noch das Sein Heideggers, weder der andere Mensch von Lévinas noch die Derridasche Schrift dürfen als die in den Phänomenen selbst liegende, ursprüngliche Wahrheit aufgefasst werden, auf die alle Linien phänomenaler Gebungen gleichsam zulaufen. Dadurch würde nur die faktische Pluralität der sich gebenden Phänomenwelt minimiert und ein Schema dort gesetzt, wo sich die Phänomen als sie selbst geben wollen. Viertens: Phänomenale Individualität. Die ursprüngliche Begegnung mit einem sich selbst gebenden Phänomenen 103 104

Ebd., 225. Ebd., 247.

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lässt sich als ›Ereignis seiner Individualität‹ auslegen. Das Denken ist den individuellen Gebungen wie einem »fait accompli«, einem Zwischenfall oder einem Ereignis, ausgesetzt. Keine vorgefertigten Muster nehmen ihm die Schwierigkeit ab, dem Phänomen als einer individuellen Selbstgebung zu begegnen. Fünftens: »Gebung« als letzter, paradoxer Horizont von Phänomenologie. Die Diskussion mit Husserl und Heidegger hat zwar deutlich gemacht, dass die bisherigen Phänomenologieentwürfe durch den Horizont der »Gebung« zu überwinden sind. Bei der Behauptung, in der Gebung läge der phänomenale Horizont, gilt es jedoch vorsichtig zu sein. Denn damit müsste sich die unhintergehbare Individualität sich gebender Phänomene vereinbaren lassen, was konkret bedeuten kann, dass Phänomene kraft ihrer Gebung einen eigenen Horizont ausbilden könnten. 105 Die Gebung ist deshalb nur als paradoxer, da unendlicher Horizont zu begreifen, der keine Grenze vorschreibt, sondern aus dessen Unsichtbarkeit und Gestaltlosigkeit sich die Phänomene in vorbehaltloser Freiheit und Individualität geben dürfen. 106 Aufgrund dessen ist die Gebung auch als unmöglicher Horizont zu bestimmen, weil unter ihm das Denken seine eigenen Möglichkeiten hingibt, d. h. alle Möglichkeiten an die phänomenale Selbstgebung delegiert werden. 107

5.3. »adonn«: Formale Zge der hingegebenen Subjektivitt Das formale Geschehen phänomenaler Gebung lässt sich auch seitens der Subjektivität näher bestimmen. Die präphänomenale »donation«, als Horizont und Möglichkeitsgrund phänomenaler Selbstentfaltung, ist ja mit einem ›Subjekt‹ korreliert, das von seinem präreflexiven Hingegebensein her zu verstehen ist: »l’adonné«. Im Sinne 105 Vgl. »Par suite, la donation n’admet pas d’horizon qui la spécifierait et la conditionnerait – ni l’être, ni l’objecti(vi)té –, elle se donne (à) elle-même comme seul et universel horizon: le phénomène apparaît dans la juste mesure où il se donne.« (Marion, J.-L. Réponses à quelques questions, 71). 106 Vgl. »What he [sc. Marion] seeks is a completely unlimited horizon. What he seeks is, in fact, an appearing that does not have any horizon against which it can be measured.« (Horner, R. Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the limits of phenomenology, 96 f.). 107 Vgl. ED 243 f. So realisiert Marions Gebungsphänomenologie, analog zur Einsicht Merleau-Pontys, die letzte Reduktion als eine unmögliche. (Vgl. Waldenfels, B. Phänomenologie in Frankreich, 164, Caputo, J. Apostles of the Impossible. On God and the Gift in Derrida and Marion, 208).

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Marions soll sich der traditionelle Subjektbegriff deshalb nicht auflösen. Im Gegenteil: Wenn man der in zeitgenössischer Philosophie weit verbreiteten Toderklärung des Subjekts folgen würde, dann würde man im Letzten nur einer empiristischen bzw. objektivistische Haltung zu ihrem Recht verhelfen. 108 Dadurch würde aber das Denken in die Metaphysik, vor allem in die für sie charakteristische Opposition »Subjekt versus Objekt«, zurückfallen. 109 Die Frage, was nach dem transzendentalen Subjekt zu kommen hätte, ist deshalb nicht zu verdrängen, sondern von der universal verstandenen Gebung der Phänomenwelt her neu zu beantworten: »Que deviendrait le sujet, s’il ne se déterminait que d’après la donation […]?« 110 Genauer: Der kritische Durchgang durch die Entwürfe traditioneller Phänomenologie (Husserl, Heidegger) hat eine ursprüngliche Empfänglichkeit phänomenologischer Reflexion gegenüber »Appellen« bzw. »Gebungen überhaupt« offengelegt. Jene radikale Offenheit gegenüber dem Sich-Geben des Wirklichen ist nun aber als die entscheidende Anlage dessen festzulegen, was auf philosophischer Ebene ›nach dem Subjekt‹ zu kommen hätte. 111 Marions phänomenologischer Ansatz schafft deshalb das transzendentale Subjekt nicht ab, sondern bezieht sich auf dessen präreflexive Herkunft: Dem Denken liegt eine Anrufbarkeits- bzw. Empfänglichkeitsstruktur voraus, die es für die Gebung der ›Phänomenwelt‹ erst öffnet. Das Subjekt

108 Vgl. »L’ego garde tous les privilèges de la subjectivité, sauf la prétention transcendantale d’origine.« (DS 54). Symptomatisch für diese Betonung der Subjektivität ist, wenn Zarader befürchtet, über die Einführung des »adonné« werde die transzendentale Subjektivität rehabilitiert, deren Erledigung sich Marions anfangs vornahm. (Vgl. Zarader, M. Phenomenology and transcendence, 115 f.). Diese Kritik übersieht jedoch, dass Marions »adonné« die metaphysischen Dichotomien »Subjekt versus Objekt« bzw. »Aktivität versus Passivität« hinter sich zurücklassen will. Entsprechend sind diese durch das das »Sich-der-Gebung-hingeben« zu ersetzen. 109 Vgl. Marion, J.-L. La banalité de la saturation, 148 ff. 110 ED 264. Vgl. »Ainsi naît l’adonné, que l’appel fait succéder au ›sujet‹, comme ce qui se reçoit entièrement de qu’il reçoit.« (Ebd., 369), vgl. »Déterminer ce qui – éventuellement celui qui – succède au sujet, la phénoménologie eût-elle jamais un défi plus urgent à relever ? Pourtant, elle n’a jamais définitivement tranché entre deux manières de penser cette succession: ou bien en abolissant définitivement le sujet pour lui substituer l’absence même d’héritier (comme a prétendu l’accomplir Nietzsche), ou bien en hésitant à répéter, à chaque fois, la fonction de la subjecti(vi)té sur un mode toujours nouveau.« (Marion, J.-L. Le sujet en dernier appel, 77). 111 Vgl. »›ce qui vient après le sujet‹, nous le décrivons ici comme l’adonné, sans autre subjectum que son aptitude à recevoir et à se recevoir de qu’il reçoit […].« (ED 9).

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ist, anders gesagt, von seinem ursprünglichen Hingegebensein zu denken. Gegen alle vorangegangenen Subjekttheorien stellt Marion heraus, dass das Ich in seinen selbstgewissen Denkakten je schon einem präreflexiven Hingegebensein an die Wirklichkeitsgebung entspringt. Das Denken im Ausgang eines obersten »ego« als vermeintlicher Konstruktionspunkt des Wirklichen ist selbst je schon abkünftig von einem präreflexiven »s’adonner-à«. 112 In seinem Tiefengrund ist das Ich der sich gebenden Phänomenwelt hingegeben. So ist mit dem ursprünglichen Sich-Geben von ›Welt‹ ein primordiales Hingegeben- bzw. Empfänglichsein der Subjektivität verbunden, das auch unter methodischer Hinsicht einzufordern ist. 113 Insbesondere profiliert sich der Begriff »adonné« gegen die Subjekttheorien bisheriger Phänomenologien, die nach Marion mutatis mutandis von der Metaphysik kontaminiert bleiben. Das Ich war in ihnen noch nicht vorbehaltlos als der Gebung des Wirklichen hingegeben erkannt. Dies wird an den in ihnen noch virulenten Identifizierungsakten sichtbar. Statt der Gebung von Wirklichkeit sich hinzugeben, setzen diese die Begriffe »Gegenständlichkeit«, »Sein«, »der Andere« der »donation« quasi entgegen. Nach Marion ist das Ich aber ganz von seiner ›dativischen‹ Position als Hingegebener her zu begreifen: »Il ne s’agit plus de se comprendre au cas nominatif (visant l’objet – Husserl), ni au génitif (de l’être – Heidegger), ni même selon l’accusatif (accusé par autrui –Lévinas), mais selon le datif: je me reçois de l’appel qui me donne à moi-même, avant de me donner quoi que ce soit.« 114

5.3.1. Der methodische Imperativ: Sich-der-Gebung-Hingeben Wenn nach Marion die Phänomenologie, als Lehre von den Erscheinungen, immer vom Sich-Geben des Wirklichen her zu verstehen ist, dann impliziert dies zum einen ein als ursprünglich entworfenes 112 Vgl. »Il ne s’agit donc que de décrire cette scène, où ce qui vient après le ›sujet‹, naît enfin – c’est-à-dire admet enfin ne pas pouvoir, ni surtout devoir s’autoconstituer par cogitatio sui ou causa sui, mais se reçoit du phénomène donné et de lui seul.« (Ebd., 361). Das zu entwickelnde Ichverständnis fasst Marion in RD mit dem Begriff »interloqué«, der Angesprochene bzw. der Verblüffte worin sich die Verwobenheit des Ego in die Faktizität der Gebungen ausdrückt. Vgl. »il s’agit de la facticité absolument autre et antécédente de la revendication me convoquant par surprise.« (RD 301). 113 Vgl. diese Position fasst zusammen: Marion, J.-L. Le paradoxe de la personne, 349– 360. 114 ED 371.

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Subjektverständnis unter dem Begriff des »Hingegebenseins« (adonné.) Zum anderen ergeht damit die Forderung an die Phänomenologie, die Subjektivität methodisch hinzugeben, um das ursprüngliche Sich-Geben der Erscheinungen zu gewahren. 115 Der Auffassung Marions zufolge kann allein im Akt des Sich-Hingebens, der auch methodisch begriffen ist, das Phänomen so erscheinen, wie es sich ursprünglich von sich selbst her gibt. Oder: Über den als Methode gesicherten Hingebungsakt der Subjektivität ist die sich gebende Erscheinung zu bewahrheiten, kann diese sich doch erst dadurch als sie selbst geben. Von dort her versteht sich, wenn Marion bei der theoretischen Entfaltung seiner Phänomenologie des Sich-Gebens erneut auf die Reduktionsmethode rekurriert: 116 »L’intrication intime entre la réduction et la donation définit donc le principe de la phénoménologie […] comment parvient-il [sc. le phénomène] à se donner et non pas à rester simple image de lui-même sans lui ? Parce que la réduction élimine du cours de l’apparaître tout ce qui ne se donne pas sans réserves. […] Il faut donc que la réduction contrôle la donation, la reconduise à son noyau de donné.« 117 Folgt man dieser Anweisung Marions, dann gilt die Reduktion in seinem Entwurf nicht nur als argumentatives Vehikel, das dem Nachweis der phänomenologischen Vorrangstellung von »donation« dient. 118 Vielmehr hat das methodische Prinzip »Autant de réduction, autant de donation« 119 innerhalb der »Phénoménologie de la donation« eine Schlüsselposition inne. Anders gesagt: Die Phänomenologie des Sich-Gebens steht unter der Forderung, der Gebung von Wirklichkeit in je neu sich hingebenden Reduktionsakten ›anzuschmiegen‹. Diese Forderung hat nach 115 Mit S. Weil wäre auch von einer »negativen Anstrengung« zu sprechen. Vgl. »Die Aufmerksamkeit besteht darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für den Gegenstand offen zu halten, die verschiedenen bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu benutzen genötigt ist, in sich dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe zu erhalten, ohne dass sie ihn berührten.« (Weil, S. Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, 50). Zum weiteren Vergleich zwischen S. Weil und J.-L. Marion: Vgl. Gabellieri, E. Etre et Don: Simone Weil et la philosophie, 19 etc.). 116 Da das ursprüngliche Hingegebensein als methodische Forderung zu nehmen ist, wäre in diesem Aspekt ein Novum gegenüber anderen Konzeptionen phänomenologischer Philosophie zu sehen. 117 DS 22. Unverständlich scheint dagegen der Versuch Marions, in ED die Reduktion gelegentlich einzuschränken, Vgl. z. B. ED 47, Anm. 3. 118 Darauf beschränkte sich der Reduktionsbegriff in RD. 119 RD 303, DS 22.

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Marion aber methodologische Bedeutung. 120 An zwei Punkten lässt sich dies deutlich machen: Zum einen kommt der nach Marion als Hingabe reformulierte Reduktionsakt einer Kontrollinstanz gleich, der die authentische Selbstgebung des Phänomens beabsichtigt: »la réduction contrôle la donation« 121 . Dass das Sich-Hingeben der Reduktion eine ernsthaft methodologische Relevanz besitzt, bestätigt zum anderen Marions Intuitionismuskritik. Denn demnach soll der als »donation« verfasste Reduktionsakt die Phänomenologie vor einem beliebigen Intuitionismus bewahren: »Aucun des reproches banalement adressés à l’intuitionisme supposé phénoménologique, à sa prétendue confiance naïve envers l’évidence ou à sa complaisance censée dans la subjecitvité ne pourrait retenir un instant l’attention, si l’on prenait vraiment au sérieux la radicalité de la réduction, telle qu’elle suspend justement en chacun de ces cas les transcendances qui fragilisent le donné.« 122 Zu fragen ist jetzt, wie sich das Sich-Geben auf Seiten der Subjektivität gestaltet. 5.3.2. Objektivistische Identifikation versus »dem Sich-Geben-hingeben« Das Subjekt ist in seinem Ursprungsbereich jeder intentionalen Zugriffsmöglichkeit entledigt, weil der sich gebenden Phänomenwelt restlos hingegeben. Der von Marion vertretene Subjektbegriff »adonné« profiliert sich deshalb auf der Negativfolie eines intentio120 In Anlehnung daran spricht N. Depraz von der Reduktion, »die weder eine Doktrin noch eine mechanische Verrichtung ist, sondern eine stets aufs neue, als handelte es sich jedes Mal um das erste Mal, wieder-auszuführende freie Veranlagung des Geistes ist.« (Depraz, N. Gibt es eine Gebung des Unendlichen?, 112). Marions weiterhin akute Betonung der Reduktionsmethode weist erneut eine Prägung durch Descartes auf: Vgl. »Le premier [précepte est] de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie que je ne la conusse évidemment être telle: c’est-à-dire […] de ne comprendre rien […] que ce qui se présenterait […] à mon esprit […] que je n’eusse aucune occasion de le mettre en doute.« (Descartes, R. Discours de la méthode, Œuvres AT VI, 18, 16–23). 121 DS 22. 122 DS 21. Diese Konzeption wird noch einmal an folgendem Zitat deutlich: »La réduction réduit donc toujours celui qui l’opère – et c’est à ce retour sur soi que se mesure la validité phénoménologique de chaque essai de réduction.« (Ebd., 56, Hervorh. / T. A.). In diesem Kontext wird man natürlich fragen müssen, inwieweit die so begriffene Reduktion den traditionellen Wissenschaftskriterien, wie allgemeine Zustimmungsfähigkeit, intersubjektive Nachprüfbarkeit etc., entspricht oder nicht hinter sie zurückfällt. (Zu der Kritik hierzu ausführlich: Kap. 5.3.5.).

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nalen Zuganges, der Wirklichkeit als objektiv identifizierbare Größe zu erkennen vermeint. Weil das Ich der Wirklichkeitsgebung aber ganz hingegeben ist, d. h. sich deren intentionaler Bemächtigung ursprünglich enthalten muss, bleibt ihm versagt, Sinn und Gehalt der Phänomene ›hinter dem Rücken‹ ihres Sich-Gebens zu identifizieren. Würden zum primordialen Hingegebensein des Ich identifizierende Akte zählen, die außerhalb der Wirklichkeitsgebung gelten sollten, dann wäre das Ich noch nicht von seinem ursprünglich präreflexiven Hingegebensein verstanden und die Vorherrschaft des intentionalen »Ego, cogito« noch nicht gebrochen. Dagegen liegt im Sinne Marions die durch keine Intentionalität ›geschützte‹ Hingebung des Denkens an das Sich-Geben von Wirklichkeit aller Reflexion voraus. Das ursprüngliche Verhältnis, in dem sich dem Menschen Wirklichkeit eröffnet, ist nicht als intentionale Identifikation (»Subjekt« versus »Objekt«), sondern als originäres Beziehungsgeschehen (»dem Sich-Geben hingeben«) zu deuten. 123 Das hat zwei Konsequenzen: Zum einen erschließt sich die Identität eines sich gebenden Phänomens erst, indem es in der vorbehaltlosen Hingabe des Subjekts an es empfangen wird. 124 Zum anderen ist damit begründet, dass jede reflexive Identifizierung eines Phänomens immer an die dem Denken vorausliegende Beziehung zwischen seinem »Sich-Geben« und dem daran verwiesenen »Sich-Hingeben« des Subjekts gebunden ist. So kommt jeder Akt, über den ich ein Phänomen identifiziere, von der ursprünglichen Hingebung an seine Selbstgebung her und ist mit ihm verwoben. Anders formuliert: Der ›sachhafte‹ Gehalt eines Phänomens lässt sich nur durch dessen Sich-Geben, dem ich ursprünglich hingegeben bin, erkennen. Er erschließt sich allein in der originären Beziehung zwischen seinem Sich-Geben und meinem Sich-an-ihn-Hingeben. Marion deutet diesen Zusammenhang weiter 123 R. Kühn kommt hier zu einem anderen Ergebnis, was mit seiner bekannten Präferenz für das Denken Henrys zusammenhängen mag: »Das Sichhalten ›vor‹ dem Anruf geschieht allerdings noch in der Transzendenzvorgabe, die Marion mit Lévinas teilt, denn Antwort auf die traumatisierende Anwesenheit des Anderen als meine ›Geiselnahme‹ durch ihn […] vollzieht sich noch in der Welt, die von der Dichotomie Ruf / Antwort wie jedem anderen Gegensatz in ihr (Sein/Seiendes, Subjekt/Objekt u. a.) gekennzeichnet bleibt.« (Kühn, R. Theologische Wende in der Phänomenologie? Zur Problematik der »absoluten Präsenz«, 276). 124 Vgl. »Puisque je me reconnais convoqué et interloqué avant toute conscience de ma subjectivité – qui précisément en résulte –, toute connaissance de l’identité de l’appelant viendra éventuellement s’ajouter après coup à la revendication, mais ne le précédera jamais comme un présupposé.« (ED 412).

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aus, indem er das Sich-Geben der Wirklichkeit als einen zunächst anonymen Anruf bestimmt. 5.3.3. Der »adonné« unter dem anonymen Anruf universalen Sich-Gebens Da die ursprüngliche Anlage des Ich in seinem Hingegebensein besteht, wird es von den Gebungen der Phänomenwelt, die ihm von außen zukommen, vorgeladen: (»convocation« 125 ). Marion betont, dass das hingegebene Ich vom Sich-Geben des Wirklichen ursprünglich angerufen wird: »je n’est qu’en tant que l’appel l’a toujours déjà revendiqué et donc donné à lui-même comme un moi/me.« 126 Doch ›weiß‹ zunächst der von der Gebung vorgeladene »adonné« nichts um den Sinn dieses Anrufes. Das primäre Angerufenwerden durch die sich gebenden Phänomene steht einer harmlosen Dialogik zwischen zwei einander gegenüberstehenden Größen (»Subjekt / Objekt«) entgegen. 127 Denn anders als dort liegt im »Sich-der-GebungHingeben« die ursprüngliche Situation des Subjekts. In ihr ist aber jeder intentionale Vorgriff ausgehebelt, weil der zu wissende Gehalt eines Phänomens nicht außerhalb seines Sich-Gebens zu antizipieren ist. 128 Das aber bedeutet, dass das Subjekt zuerst einem radikalen

Vgl. ebd., 369. Ebd., 372. 127 Im Gegensatz zu Lévinas würde Marion hier noch eine tiefere Radikalität beanspruchen, weil dort der andere Mensch das völlig reine, anonyme, formale Sich-Geben von Wirklichkeit unterbietet. 128 Spontan könnte man diesen Ausgang des Subjekts von der Faktizität des Sich-Gebens als Passivität bestimmen. Allerdings ist zu beachten, dass nach Marion Passivität von einem noch ursprünglicheren Hingegebensein des Subjekts vermittelt ist, indem »Aktivität und Passivität« ineinander verschränkt vorliegen. Weiter gedacht: Der Passivitätsbegriff Lévinas’ bliebe nach Ansicht Marions der metaphysiklastigen Dichotomie von Subjekt und Objekt verhaftet: Vgl. »Die Subjektivität […] vollzieht sich als eine Passivität, die passiver ist als jede Passivität.« (Lévinas, E. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 49). Dagegen hat man den »adonné« stets auch von einer aktiv zu verstehenden Hingabe her aufzufassen. Nur so könnte sich auch der ›methodische Imperativ‹ des Sich-Hingebens (5.3.1.) realisieren. Marion: »L’adonné se caractérise donc par la reception. La réception implique certes la receptivité passive, mais exige ausssi la contenance active; car la capacité (capacité), pour s’accroître à la mesure du donné et pour en maintenir l’arrivée, doit se mettre en travail – travail du donné à recevoir, travail sur soi-même pour recevoir.« (DS 57). 125 126

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›anonymat‹ 129 der Wirklichkeit ausgesetzt ist. Bei der Vorladung durch die Phänomengebung handelt es sich um einen Appell, der zuerst namens- und bedeutungslos ist. Dies ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Einerseits realisiert sich die Hingebung des Subjektes allein bei vorausgesetzter Anonymität der Wirklichkeitsgebung als eine ›totale‹, weil dadurch jeder intentionale Zugriff auf das Phänomen unterminiert wird. Andererseits kann sich dadurch das ›Was‹ eines Phänomens in seiner Selbstgebung erschließen. Marion fasst das vorausgehende ›anonymat‹ der Phänomenwelt auch unter dem Begriff »interlocution« 130 : Aufgrund seiner primordialen Ohnmacht, über die Wirklichkeitsgebungen eine objektiv identifikatorische Aussage treffen zu können, befindet sich der »adonné« in der Situation des Angesprochenwerdens. Dabei bleibt dem »adonné« die Bedeutung, d. h. propositionale Botschaft dieses Angesprochenwerdens von der Gebung aber zunächst verschlossen. 131 Weil sich die Identität eines Phänomens erst in bzw. nach dessen Sich-Geben eröffnet, dieses aber mit dem Sich-Hingeben des Subjekts korreliert ist, sind die sich gebenden Phänomene vom »adonné« als anonyme Anrufe zu empfangen: »La voix sans nom« 132 . Dass der »adonné« je schon in der Situation von »interlocution« steht, bedeutet darum ein völlig ungewisses Vorgeladenwerden durch einen Anruf, der von Seiten der Wirklichkeitsgebung ergeht, aber vor seinem sich hingebenden Empfang namenlos ist. In der ursprünglichen »interlocution« muss der »adonné« dann dem Sich-Geben des Wirklichen ›blind‹ folgen und dieses, sich ganz selbst gebend, empfangen. Schließlich eröffnet sich so die Identität eines Phänomens in seinem genuinen Gebungsakt: »l’appel reste et doit rester phénoménologiquement anonyme, en sorte que, […], l’adonné lui réponde selon une réduction à l’immanence pure de la donation.« 133

ED 408. Vgl. ebd., 371. In RD 300 ff. fasste Marion das der Gebung hingegebene Subjekt mit dem Ausdruck »interloqué«. Dabei ist zu beachten, dass dieser Begriff nicht nur ein dialogisches Element, sondern vor allem den Aspekt des Überrascht- oder Verblüfftseins umfasst. 131 Vgl. »Il […] s’agit ici […] de la situation inégale où je me trouve interloqué, c’està-dire appelé, voire agressé en tant que l›à qui‹ d’une parole adressée.« (ED 371. (Hervorh. / T. A.) Bei diesem Zitat ist vor allem auf den unbestimmten Artikel zu achten). 132 Ebd., 408. 133 ED 409. 129 130

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Diese Anonymität der ursprünglichen Gebung von Welt hält Marion den vorangehenden Phänomenologieentwürfen entgegen, für die noch ein intentionaler Vorgriff auf das Sich-Geben der Phänomenwelt charakteristisch war. Die Anklänge an Heidegger, Lévinas und Henry sind unüberhörbar: »si je savais d’avance que c’est l’être, ou bien autrui, ou bien Dieu, ou bien la vie qui me convoque, alors j’échapperais d’emblée au statut plein d’adonné.« 134

Diesen anonymen Anruf des Sich-Gebens 135 bestimmt Marion als erste unhintergehbare Faktizität (l’indéniable facticité 136 ), mit der das Ich wegen seines Hingebenseins je schon konfrontiert ist: »Car nul d’entres les mortels n’a jamais vécu, ne serait-ce qu’un instant, sans avoir déjà reçu un appel et s’être découvert interloqué par lui.« 137 Der Begriff der Faktizität ist aber nicht als eine dem Ich gegenüberliegende Größe zu deuten. Vielmehr ist das Ich als »moi« der Faktizität des universalen, aber vor seinem Empfang anonymen SichGebens ja hingegeben. 138 In Anbetracht dieser ersten Faktizität, dass das Subjekt also an das zunächst anonyme Sich-Geben der Wirklichkeit ausgeliefert bzw. hingegeben ist, ist das Ich als offen gegenüber Überraschungen zu bestimmen. Anders gesagt: Das Verhältnis zwischen »adonné« und der phänomenalen Selbstgebung kann sich als Überraschung (»surprise« 139 ) erweisen. Weil die Bedeutung des Phänomens nicht außerhalb seines zunächst anonymen Sich-Gebens vorweggenommen werden kann, können Phänomene ferner Schockerfahrungen gleichen. 140 Unter der Voraussetzung einer ursprünglich anonymen Gebung kann der »adonné« schließlich von der Wirklichkeit berührt (»advenir«) bzw. bedrängt (»s’imposer«) werden. Nimmt er nämlich in eigener Hingabe das primär anonyme Sich-Geben des Wirklichen entgegen, dann vermag sich ihm die Erscheinung in ihrer Selbstgebung, d. h. in ihrer genuinen Qualität und Stoßkraft zu geben. Der »adonné« wohnt dann ihrer Anamorphose, Kontingenz, ihrem Ebd., 413. Genau genommen handelt es sich bei der Kategorie »phänomenaler Anonymität« um die Entsprechung der Anamorphose auf Subjektseite. (Vgl. Kap. 5.2.1.). 136 ED 372. 137 Ebd., 372. (Hervorh. / T. A.). 138 Vgl. Kap. 5.2.4, »Le fait accompli ne produit ni hasard, ni nécéssité, il ouvre le possible en le donnant.« (ED 212). 139 Ebd., 370. 140 Vgl. »Le choc pur et simple […] de la convocation n’identifie le je, qu’en le transmuant sans délai en un me ›à qui‹.« (Ebd., 369 f.). 134 135

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individuellen »arrivage«, eventuell einem Zwischenfall etc. bei. So gewährleistet der vorausgesetzte »anonymat« der Wirklichkeit, dass der Sinn des Phänomens nur in seinem genuinen Sich-Geben dem »adonné« zuteil wird. 5.3.4. Von der anonymen »donation« zum sichtbaren »répons« In der sich hingebenden Subjektivität, die dem anonymen Ruf der Gebung folgt, liegt der Ermöglichungsgrund von Erscheinung. »Recevoir, pour l’attributaire, signifie donc rien de moins que d’accomplir la donation en la transmuant en manifestation, en accordant à ce qui se donne de se montrer à partir de soi.« 141 Dies ist einerseits so zu verstehen, dass sich im (ursprünglichen und methodisch gemeinten) Sich-Hingeben des Subjekts die Phänomenwelt in ihrem genuinen Sich-Geben eröffnet. Der phänomenale Gehalt der zunächst anonymen Gebung erschließt sich dem »adonné«, wenn diese von ihm in totaler Hingabe empfangen wird: »L’adonné phénoménalise en recevant le donné …« 142 Andererseits werden am »adonné« selbst die von ihm empfangenen Gebungen ›von außen‹ sichtbar. Marion macht deutlich, dass Identität und Bedeutung der empfangenen Gebung auf dem Antlitz des Subjekts erscheinen: als individueller »répons«, in dem sich die entgegengenommenen, individuellen Gebungen der Phänomenwelt abbilden: »Bref, l’adonné se phénoménalise par l’opération même par laquelle il phénoménalise le donné.« 143 Zusammengefasst: »Rien de ce qui se donne ne peut se montrer qu’à l’adonné et par lui.« 144 Hinsichtlich des zweiten Aspekts gilt, dass das, was gegeben wurde, am »adonné« als »répons« sichtbar wird. 145 Am »adonné« ist Ebd., 364. DS 59. Dieses Sich-Geben des Phänomens wurde in Kap. 5.2. ausgeführt. 143 DS 60. 144 ED 422 (Hervorh. / T. A.). Vgl. »Damit ist der Hingegebene in seiner Endlichkeit mit nichts Geringerem beauftragt, als ›den gesamten Fluss‹ der Phänomenalität zu öffnen oder zu schließen, weil ihm die jeweilige Entscheidung über das Sichzeigende im Aufbruch zur Sichtbarwerdung innerhalb des Gebungsereignisses zukommt.« (Kühn, R. Mehr Reduktion – Mehr Gebung. Zur Diskussion eines phänomenologischen Prinzips bei J.-L. Marion, 112). 145 Interessant ist, dass Marion die auf dem Antlitz des »adonné« erscheinende »donation« als Audruck von dessen Willen deutet: »Car pour phénoménaliser le donné, il faut d’abord l’admettre (›vouloir‹ bien le recevoir) et s’en recevoir comme s’y adonnant, pour 141 142

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abzulesen, welchen phänomenalen Gebungen dieser je schon Antwort gibt. 146 Hingebung des Subjekts und Gebung der Wirklichkeit, näherhin die individuellen Phänomengebungen, die dem »adonné« zuteil wurden, erscheinen an ihm als Antwort. 147 Auf die anonyme Gebung von Wirklichkeit und sein ursprüngliches Hingegebensein an sie folgt der sichtbare »répons« des »adonné«. »L’appel et le répons s’articulent comme ce qui se donne avec ce qui se montre, par le truchement d’un prisme – l’adonné – qui convertit l’un à l’autre, parce qu’il se reçoit lui-même de ce qui s’y donne.« 148 In Entsprechung zu der bereits oben aufgezeigten Kritik an einer objektivistischen Haltung zur Wirklichkeit ist die Antwort des »adonné« aber nicht als identifizierende bzw. objektive Reaktion auf das Sich-Geben zu deuten. Vielmehr erscheint dort in einem performativen Sinn der Eindruck, den der ›adonné‹ aus seinem ursprünglicher Begegnung mit dem Sich-Geben von Wirklichkeit empfing (»le répons« 149 ). An der Antwort des Hingegebenen wird deshalb ainsi voir (éventuellement comprendre par ›entendement‹) ce qu’il montre. La décision de répondre, donc de recevoir, précède la possibilité de voir, donc de concevoir.« (ED 420). Vgl. a. Marions Beobachtungen zu M. Blondels »volonté voulante«: »La volonté peut vouloir le néant, mais le néant ne peut anéantir la volonté. La volonté, quand elle croit vouloir son non-vouloir, veut en fait le rien et prouve donc ainsi que, pour vouloir, elle ne requiert aucun préalable.« (Marion, J.-L. La conversion de la volonté dans »l’Action«, 35 f.). 146 Vgl. »Ensuite, le paradoxe d’un moi, un adonné au donné ainsi reçu come un appel, qui ne naît à lui-même qu’en lui répondant, qui ne surgit que dans la mesure où il a assez de répondant pour relever l’appel qui le convoque.« (Marion, J.-L. Le paradoxe de la personne, 359). 147 Zur Veranschaulichung greift Marion auf die Phänomene der religiösen Berufung und der Verführung zurück, in denen nur durch das Antwortgeben das sich jeweils gebende Ereignis sichtbar wird: »Ainsi, en situation d’intersubjectivité amoureuse aussi bien que dans l’élection la parole qui prend l’initiative (qui elit, qui séduit ne commence à se faire entendre que lorsque et si la réponse lui accorde d’avoir été écoutée – l’appel a priori attend l’a posteriori de la réponse pour commencer à avoir été dit et à se phénoménaliser.« (ED 395). 148 Ebd., 408. 149 Beim Ausdruck »répons« ist auf den liturgischen Bedeutungsaspekt (»Antwortgesang«) zu achten. Hierin dokumentiert sich einerseits Marions bleibende Verbundenheit mit dem pseudo-dionysischen Lobpreis (Vgl. ID 219 ff., DsE 259 ff.), der als Antwort auf die bleibend entzogene Distanz von Offenbarung zu bestimmen war. (Vgl. Kap. 2.5.2.). Andererseits will Marion dadurch die der Metaphysik verbundene Dichtotomie von »appel« und »réponse« überwinden, in der die hier in Frage stehende Dimension des Präreflexiven noch nicht erreicht ist. Dies wurde an der Heideggerschen Generierung des Seins durch diese Dichotomie sichtbar. (Vgl. Kap. 4.2.7.2.). Allerdings wäre einzuwenden, dass das kirchlich-liturgische Kolorit im »répons«-Begriff die uner-

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das Empfänglichsein-für, Beeindrucktsein-von, Hingegebensein-an die erfahrenen Gebungen sichtbar. »Ainsi, seule la réponse performe l’appel, et l’adonné ne rend visible et audible ce qui se donne à lui qu’en lui correspondant dans l’acte de répondre.« 150 Daraus folgt, dass sich im »répons« des »adonné« zwar die Gebung zu einem sichtbaren Phänomen gestaltet. Doch hält sich darin »donation« als ein dezidiert präphänomenales Geschehen durch. So lässt sich der Vorrang der Gebung gegenüber der Erscheinung am »répons« des »adonné« neu zur Sprache bringen. Die Gebung des Wirklichen ist durch kein Antwortgeben, d. h. durch keine sichtbare Gestalt des »adonné« auszuschöpfen. Sie verbleibt im stets entzogenen Hintergrund des sichtbaren »répons«, der ihr immer nachgeordnet ist: »le retard du répons« 151 Tritt deshalb am »adonné« die Gebung als »répons« sichtbar hervor, dann kann in dieser Erscheinung die Wucht des ursprünglichen Sich-Gebens in einem performativen Sinn sichtbar werden. Weiter gedeutet: Eine phänomenale »donation« lässt sich dadurch weiter vermitteln, dass sie am »adonné« sichtbar wird. 152 Jedoch erscheint die Gebung auch im »répons« nur als Rückzug. 153 Der »répons« des »adonné« macht folglich die »donation« als eine vorausgehende und für die Anschauung unerschöpfliche, gleichwohl vermittelbare sichtbar: »l’épuisement de wünschte Dichotomie wieder zu neuer Geltung bringen könnte. Denn die Antwort könnte hier als Reaktion auf die kirchliche Vorladung erfolgen. 150 ED 397. An anderer Stelle bestimmt Marion den »Hingegebenen« auch als »Zeuge« der Gebungen (Ebd., 302 f.). 151 Ebd., 396, vgl. »je ne puis donc l’entendre, parce qu’elle parle une langue inouïe et surtout résonne dans un espace, dont je ne puis fixer d’avance l’horizon.« (Ebd., 397). Dieser »retard«-Begriff ist nicht als eine zeitliche Differenz zu verstehen. Vielmehr äußert sich darin das vor jeder Zeitlichkeit stehende Antwortgeben auf eine Gebung, das durch die ursprüngliche Hingebung des Subjekts möglich wird. Vgl. »Le retard n’a rien d’un délai temporisant ou temporalisé: il tient à la conversion strictement phénoménologique par l’adonné de ce qui se donne (l’appel) dans ce qui se montre (le répons).« (Ebd., 408). Weil die bisherigen Differenzbegriffe (Heidegger, Lévinas, Derrida …) dem Paradigma der Zeitlichkeit verhaftet bleiben, stellt Marion die Differenz zwischen »répons« und »appel/donation« als jedem zeitlichem »retard« gegenüber ursprünglich heraus. (Vgl. ebd., 407 f.). 152 Der Aspekt der Vermittelbarkeit kommt im Konzept der »Phénoménologie de la donation« zu kurz. Vgl. »Rien de ce qui se donne ne peut se montrer qu’à l’adonné et par lui.« (Ebd., 422, Hervorh. / T. A.). 153 Vgl. »Ce qui se donne se donne au plan de l’immanence (c’est pourquoi il porte anonymat) et ce qui se montre apparaît au plan de l’immanence (à titre de répons).« (Ebd., 419).

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la phénoménalité ne concerne jamais la donation de l’appel – invisible par définition –, mais seulement la fatigue du répondant – limité dans sa puissance de manifestation.« 154 Aufgrund der auch hier akuten Überordnung von »Gebung« und »Erscheinung« nimmt der »répons« des »adonné« immer eine aposteriorische Position ein. Denn der »adonné« nimmt zwar die Gebung des Phänomens in einem ursprünglichen Sinne entgegen, er bildet sie als »répons« an sich ab und ver-antwortet (»responsabilité« 155 ) sie. Allerdings kann er sie nie restlos sichtbar machen. 156 Durch diese originäre Antwortstruktur tritt die hingegebene Subjektivität als Individuum hervor. Wenn im »répons« die individuellen Gebungen der Phänomene, die der Hingebene empfing, erscheinen, wird dieser als Individuum sicht- und identifizierbar. Denn auf seinem Antlitz spiegeln sich, als »répons«, die Gebungen des Wirklichen, die ihm in ihrer individuellen Vielfalt zuteil wurden. 157 So erscheint der »adonné« als ein Individuum, weil sich auf seinem Antlitz die unterschiedlichen Gebungen des Wirklichen abbilden. Das individuelle Sich-Geben der Phänomenwelt bildet nach Marion den Anstoß zu subjektiver Individualität. Denn der Hingegebene ist derjenige, der sich selbst von dem empfängt, was er empfängt. 158 Deshalb ist diese Individualität als Beziehungsgeschehen zu bestimmen, weil der Hingegebene in das anonyme Sich-Geben der Wirklichkeit ursprünglich verwickelt ist: »Et encore, l’individualité perd son essence autarcique du fait d’une relation plus originaire qu’elle, mais surtout à demi inconnue, puisqu’elle peut fixer l’un des Ebd., 398. Für Marion ist der Verantwortungsbegriff nicht, wie bei Lévinas, auf die ethische Situation einzuschränken, sondern als ein ursprünglicheres ›der-Gebung-Antwort-geben‹ zu bestimmen. Vgl. »La résponsabilité ne peut se restreindre à un seul des paradoxes, l’icône, aussi privilégié soit-il, ni se borner à un seul horizon, fût-ce l’éthique. La résponsabilité appartient de plein droit à toute phénoménalité qui se déploie selon la donation: ce qui se donne (l’appel) ne parvient à se montrer comme un phénomène que sur l’écran et selon le prisme, que seul lui offre l’adonné (le répons).« (Ebd., 405). 156 Vgl. ebd., 404. 157 Gegen die Philosophien im Ausgang von der transzendentalen Subjektivität wendet Marion ein, dass sie just jene Individualität nicht bedachten, die durch das ursprünglichere Subjektverständnis »adonné« erschlossen werden kann. Das Ich in transzendentalphilosophischer Perspektive bleibt eine leere, abstrakte Formel, die von der phänomenalen Selbstgebung des Ich nicht zu decken ist. »A titre de Je transcendental, le ›je pense‹ ne peut accomplir aucune individuation.« (Ebd., 348). 158 Vgl. »celui qui se reçoit soi-même de qu’il reçoit, celui à qui ce qui se donne d’un soi premier – tout phénomène – donne un moi second.« (DS 54). 154 155

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deux pôles – moi –, sans de prime abord et la plupart du temps délivrer l’autre, l’origine de l’appel.« 159 An einer Überlegung zur Namensgebung, bzw. zum »Eigennamen« zeigt Marion auf, wie sich das menschliche Individuum in seinem ursprünglichen »Sich-derGebung-hingeben« konstituiert. Marion vergleicht die Situation des Hingegebenen, der durch das individuelle Sich-Geben zu einem Individuum wird, mit der Vaterschaftsanerkennung. Dort wird dem Kind über ein anonymes Anrufgeschehen der Name des Vaters zuteil 160 , wodurch es zu einem identifizier- und ansprechbaren Individuum wird: »Le père appelle son enfant, lui donne un nom, le sien.« 161 Analog zu dieser Situation erhält der »adonné« durch die zunächst anonymen Gebungen des Wirklichen, an die er hingegeben ist, seine ›Eigentlichkeit‹ 162 und seinen Eigennamen. Ursprünglich ist der »Eigennamen« dem »adonné« nicht zueigen, sondern dessen Eigentlichkeit rührt je schon aus der Gebung des Wirklichen, an die er hingegeben ist: »Car le nom propre a en propre de rester impropre.« 163 Marion stellt das subjekttheoretisch angewandte »Sich-Geben« auch mit dem Zeugenbegriff heraus. 164 Wenn sich die Phänomenwelt primär in einer vorbehaltlosen Hingabe des Subjektes eröffnen soll, dann kann das Ich die sich ED 370. Bei diesem Beispiel geht Marion von der französischen Rechtspraxis aus. 161 ED 414. In der Anerkennung zwischen Vater und Kind ergeht an das Kind ein anonymer Appell, nach dem das Kind genannt wird. (Vgl. ebd., 416 f.). Bei Marions Analysen zur Vaterschaft kann man einen Gegensatz zum (eventuell ›biologistisch getönten‹ ?) Mutterschaftsbegriff in Lévinas’ »Jenseits des Seins« sehen. Vgl. »In der Mutterschaft bedeutet die Verantwortung für den Anderen, die bis zur Stellvertretung …« (Lévinas, E. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 171). In »Totalität und Unendlichkeit« war dagegen das Vaterschaftsverhältnis Sinnbild für das Verhältnis zum Anderen. Vgl. »In der Vaterschaft, in der sich das Ich – durch das Definitive eines unvermeidlichen Todes hindurch – in den Anderen verlängert, siegt die Zeit kraft ihrer Diskontinuität über das Alter und das Schicksal.« (Lévinas, E. Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, 411 f.). Die Verbundenheit des Marionschen Entwurfes mit der Lévinasschen Philosophie ist an dieser Stelle nicht zu übersehen. Doch fließt hier auch eine Kritik ein: Das Verhältnis zum anonymen Ruf (und Gabe) des Vaters ist phänomenologisch ›älter‹ als der im Bild der Mutterschaft versinnbildlichte Verantwortungsakt. 162 Dies betont Marion vor allem gegen Heidegger, dessen Verständnis von Eigentlichkeit noch mit dem Selbst des »Daseins« zusammenhängt. (ED 357 ff.). 163 Ebd., 416, vgl. ebd., 401. Im Hintergrund dieser Phänomenalität des Antwortgebens steht wohl die Arbeit: Chrétien, J.-L. L’appel et la réponse. 164 Vgl. v. a. Marion, J.-L La banalité de la saturation, 179 ff. 159 160

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

darin gebenden Phänomene nur in Bezeugungsakten denken. Denn in seinem Ursprungsbereich im Zeichen der »donation« war es zu einem intentionalen Zugriff auf Wirklichkeit schlechterdings nicht fähig. Identifiziert deshalb die Subjektivität ein sich gebendes Phänomen, dann bedeutet dieser Akt ursprünglich ein Zeugnis von seinem individuellen Sich-Geben. Das Subjekt bezeugt so stets das universale Sich-Geben bzw. die individuellen Gebungen, die ihm zuteil wurden. Es ist in seinem Ursprungsbereich an das Sich-Geben von Welt hingegeben und kann darüber nie anders als ›beziehungshaft‹, d. h. ›zeugnishaft‹ sprechen.

5.3.5 Kritische Rückfrage: Vom »adonné« zum »ego cogito«? Wie bereits unter 5.1.1. erwähnt und jetzt detailliert ausgeführt, bezieht sich die von Marion vorgelegte Subjekttheorie auf einen präreflexiven Bereich, der dem Cartesischen »ego cogito« vorausliegt. Nach Auffassung Marions müsste das »Ich«, das Descartes als archimedischen Punkt von Erkenntnis entdeckt hat, sein noch ursprünglicheres Hingegebensein (»adonné«) an die sich gebende Phänomenwelt anerkennen. Marion richtet diese Forderung ferner an den Gesamtkomplex transzendentalphilosophischer Reflexion, in der, dem Beispiel von Descartes’ »cogito« folgend, die Tendenz beherrschend gewesen sein soll, die Wirklichkeit aus dem Ich ableiten zu wollen. 165 Sein Verständnis des Subjekts als »adonné«, d. h. als an ein die sich gebende Wirklichkeit Hingegebener, will nun einen Kontrapunkt setzen gegen diesen bei Descartes anhebenden Strom selbstgewisser Rationalität. Der von Marion vertretene Gegensatz zu Descartes impliziert eine hier nun kurz näher zu betrachtende Neubewertung der Frage, wodurch man denn philosophisch zuverlässige Aussagen erreiche. Folgende Grundproblematik hat man sich vor Augen zu führen: Vergewisserte sich das seiner selbst gewisse »Ich denke«, in transzendentalphilosophischem Kontext, über die Gültigkeit des Erscheinenden, so kommt bei Marion dem auf ›Subjekt- und Objektseite‹ applizierten Begriff »donation« diese Funktion zu. Welche Phänomene sich im Ursprungsbereich der Gebung und des Hingegebenseins auch immer einstellen mögen, im Sinne Marions scheint ihre Evidenz allein dadurch gesichert, dass sie sich selbst geben und das Subjekt an sie total hingegeben ist. Allerdings verdeutlicht sich nun an der me165

Vgl. Kap. 3.4.

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thodischen und, damit zusammenhängend, ethischen Tragweite der »Phénoménologie de la donation«, dass das Verhältnis des »adonné« zu den vom selbstgewissen Denken bestimmten Subjekttheorien noch einer eingehenderen Bestimmung bedürfte. Bei genauerem Zusehen wäre das »ego cogito« nicht einfach als der nun abzulösende Gegenentwurf zum Marionschen »adonné« zu deuten. Im Gegenteil: Weil Marion, wie zu zeigen ist, erkenntniskritische und ethische Forderungen zur »Phénoménologie de la donation« rechnet, ist das »ego cogito«, mit dem Descartes in den »Meditationes« zwischen gültigen und irrtümlichen Erscheinungen differenzierte, auch hier letztlich nicht außer Kraft gesetzt. 166 In der Konsequenz wäre aber der Zusammenhang zwischen »adonné« und »ego cogito« näher zu bestimmen: Die Frage müsste deutlich aufgeworfen werden, durch welchen Akt das seiner selbst gewisse Denken aus dem Hingegebensein hervorgeht. Insbesondere am methodischen Anspruch der »Phénoménologie de la donation« lässt sich diese Thematik als ein Desiderat des Marionschen Denkens erkennen. Dessen Forderung, der »donation« eine, nicht nur apologetisch gegen Husserl und Heidegger gerichtete, sondern auch im eigenen Ansatz virulente methodische Gestalt zu geben, gerät dort in einen Engpass, wo Marion das um Evidenz ringende »ego cogito« ausschließlich als ein ›umgekehrter »adonné«‹ beurteilt. 167 In 5.3.1. wurde ja dargestellt, wie Marion die Hingebung des Subjektes auch in einem methodischen Sinne versteht: Die Phänomenologie soll seiner Ansicht nach durch die gelungene Verbindung von Reduktion und Hingebung vor jeder Form von »Intuitionismus« geschützt werden. 168 Oder: Die »donation« eines Phänomens wäre erst durch die (sich hingebende) Reduktion zu validieren. 169 Implizit hat Marion mit diesen Anweisungen aber zuge166 Es verwundert, dass Marion, wie in 4.2.6. gezeigt, dieselbe Argumentation gegen Heideggers Daseinsanalytik entwickelt, sich aber in seiner eigenen Konzeption zu keiner positiveren Bewertung des kritischen »ego cogito« durchringen kann. 167 Marions Descartesinterpretation »L’altérité originaire de l’Ego« hat programmatische Funktion für diese Leerstellen. (Vgl. Kap. 5.1.1.). 168 Vgl. »Aucun des reproches banalement adressés à l’intuitionisme supposé phénoménologique, à sa prétendue confiance naïve envers l’évidence ou à sa complaisance censée dans la subjecitvité ne pourrait retenir un instant l’attention, si l’on prenait vraiment au sérieux la radicalité de la réduction, telle qu’elle suspend justement en chacun de ces cas les transcendances qui fragilisent le donné.« (DS 21). 169 Vgl. v. a. »L’intrication intime entre la réduction et la donation définit donc le principe de la phénoménologie […] comment parvient-il [sc. le phénomène] à se donner et

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standen, dass das Problem der Gültigkeit auch im Bereich der Gebung nicht einfach erledigt ist. Demnach ist nicht jede Gebung authentisch. Oder, darauf aufbauend: Nicht jede Deutung einer Gebung ist adäquat. Marion weiß also ganz genau um Situationen, in denen zwischen gültigen und ungültigen »Gebungen« zu unterscheiden wäre. Bereits darin zeigt sich offensichtlich eine Verbundenheit seines Projektes mit der Ausgangssituation Descartes’ vom methodischen Zweifel. Hervorzuheben ist nun aber, dass es nach Marion zu irreführenden Gebungen vor allem dadurch kommt, dass sich Gebungen ohne rückhaltlos hingegebene Reduktionen einstellen. Prägnant gesagt: »Gebungen«, die unter Missachtung des Prinzips »Autant de réduction, autant de donation« hervortreten, können täuschen. Marion macht klar, dass sie zumindest zweifelhaft sind, weil der mit ihnen korrelierte Hingabeakt des »adonné« nicht rein ist, sondern noch unter Vorbehalten steht. Von dort her fordert Marion einmal, die im Bereich der »donation« zu suchende Differenzierung zwischen »richtig« und »falsch« an der Frage zu entscheiden, ob die jeweilige Reduktion sich wirklich hingibt. Und weiter setzt er, wie in einer methodischen Instruktion, auf das vorbehaltlose Sich-Hingeben der Reduktion, um Ungewissheiten im Bereich sich gebender Phänomene abzuwehren. Doch im Letzten erweist sich die Forderung Marions, einer »donation« mittels einer sich als »donation« gestaltenden Reduktion gewiss zu werden, als tautologisch. Denn eine »donation« kann sich ja im Grunde genommen nur dort einstellen, wo sich die Reduktion je schon selber gibt. Insofern Gebungen und ihre Auslegungen aber trüglich sein können, scheint es wenig aussichtsreich, den Hingebungsakt einfach blindlings zu forcieren. Vielmehr bedarf es einer grundsätzlichen Rückbesinnung auf die Art oder Richtung der sich hingebenden Reduktion. Eine solche Rückbesinnung ihrerseits wäre aber nur auf der Grundlage eines kritischen »ego cogito« möglich, dem die Rationalität des »Autant de réduction, autant de donation« selbst einleuchtet und das jene Devise zu neuer Geltung bringen könnte. Von dort her wäre an Marions methodischen Überlegungen die genauere Frage zu richten, wodurch denn erstens der Befund übernon pas à rester simple image de lui-même sans lui ? Parce que la réduction élimine du cours de l’apparaître tout ce qui ne se donne pas sans réserves. […] Il faut donc que la réduction contrôle la donation, la reconduise à son noyau de donné.« (DS 22).

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haupt bedingt wird, dass gültige von irreführenden Gebungen abzuheben sind oder dass Hingabeakte vorbehaltlos oder nur ›halbherzig‹ sind. Solche Urteile wären nicht wiederum innerhalb der »Gebungen« oder des »Hingegebenseins« zu fällen. Sie könnten nur von einer Instanz ausgehen, die kritisch über die Qualität der »Gebungen« entscheidet: das »ego, cogito«, das sich die Forderung nach »donation« als eine rational nachvollziehbare zu eigen gemacht hätte. 170 Zweitens bleibt offen, von welchem Fixpunkt überhaupt der Anstoß dazu ausgehen könnte, einen Reduktionsakt, dessen »donation« nur unrein war, in einen wirklich sich-vorbehaltlos gebenden zu überführen. Im Hintergrund dieser möglichen Kritik von »donation« dürfte allein ein »Ich denke« stehen, das über das gesuchte Differenzierungsvermögen verfügt. Infolgedessen ist Marion zu kritisieren, wenn er einerseits Unterscheidungsmöglichkeiten zwischen gültiger und ungültiger Gebung fordert, sich aber andererseits auf Distanz zum Cartesischen Projekt eines seines eigenen Denkaktes gewissen »Ego« hält. In der von Marion selbst aufgeworfenen Frage nach gültigen und ungültigen Gebungen, sowie in der Forderung nach ›authentischer Hingebung‹ ist ja wohl nur voranzukommen, wenn man von einem selbstgewissen Denken ausgeht, das sich von der Rationalität des »Autant de réduction, autant de donation« überzeugt hätte. Das »Ego cogito« würde dann zum einen auf die Ungültigkeit einer »donation« hinweisen, und zum anderen das Denken jeweils auf einen Hingebungsakt verpflichten, der der in Frage stehenden Phänomengebung gegenüber adäquat wäre. Auf diese Weise könnte es erst einen kritischen Impuls zu einer gegenüber dem Phänomen wirklich angepassten »donation« und Reduktion geben. Erst unter dieser Voraussetzung könnte der »adonné« eine phänomenale Gebung (ge-)recht interpretieren. Die Frage nach gültigen oder ungültigen Gebungen bekommt im Ansatz Marions ferner einen ethischen Aspekt, auf den abschließend hinzuweisen ist. Marion behauptet, wie unter 5.3.4. gezeigt, dass der »adonné« aufgrund seines Hingegebenseins die sich selbst gebenden Erscheinungen ›verantwortet‹. 171 Wenn aber nach Marion 170 So wäre die gegen Husserl gerichtete Reduktionsmethode (»cogitatio sive reductio«) auch innerhalb der »Phénoménologie de la donation« anzuwenden. Vgl. Kap. 4.1.3.3. 171 Vgl. »La résponsabilité ne peut se restreindre à un seul des paradoxes, l’icône, aussi privilégié soit-il, ni se borner à un seul horizon, fût-ce l’éthique. La résponsabilité appartient de plein droit à toute phénoménalité qui se déploie selon la donation: ce qui se

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ungültige Erscheinungen möglich sind, dann ist auch von der Möglichkeit auszugehen, dass Verantwortung im Bereich der »donation« scheitert. Bringt man diese Aspekte zusammen, dann wird klar, dass ein kritisches Ich am Werk ist, das nicht nur über die Adäquatheit einer jeweiligen »donation« befindet. Überdies kommt ihm diese auch als ein fehlgeleiteter Verantwortungsakt zum Bewusstsein, wodurch sich erst (ethische) Korrekturmöglichkeiten in der Art der Hingebung bieten können. 172 Allein aus diesem Zusammenhang zwischen »ego cogito« und »adonné« erklärt sich ferner, warum ein Begriff von Verantwortung, der allein innerhalb des in sich oft noch ungewissen Bereiches der »donation« fungiert, phänomenologisch unzureichend ist. Tatsächlich beschließt ja das Sprechen von Verantwortung in sich ein Ich, das selbstbewusst über sein Handeln Auskunft geben kann und nicht einfach hingegeben ist. So bleibt, aus erkenntnistheoretischen und ethischen Gründen, erstens unzulänglich, wenn Marion das »ego cogito« lediglich als das zu überholende Andere des »adonné« entwirft. Zweitens wäre der Frage genauer auf die Spur zu kommen, durch welches Geschehen sich der »adonné« zum »ego cogito« gestaltet. Diese doppelte Fragestellung drängt sich auch in den folgenden Kapiteln auf, wo Marion die Erkenntniswege klassischer Intentionalität überwinden will, jedoch nur unzulänglich darauf reflektiert, wie sein Ansatz diesen verbunden bleibt. Die Rückfrage nach dem methodischen und ethischen Anspruch der »Phénoménologie de la donation« hat diese Affinität indessen aber klar erwiesen.

5.4. Grade und Beschreibungsmglichkeiten phnomenaler Gebung Die formalen Bestimmungszüge sich gebender Phänomenologie wurden dargestellt. Legt man das Phänomen auf seine ursprüngliche »donation« fest, dann profiliert sich sein Selbst. Aufgrund dieser neu betonten Individualität des Phänomens werden Erscheinungen der Reflexion zugänglich, die sich als Berührungen, Zwischenfälle, Erdonne (l’appel) ne parvient à se montrer comme un phénomène que sur l’écran et selon le prisme, que seul lui offre l’adonné (le répons).« (ED, 405). 172 Erst in diesem Sinne wäre die Bedeutung von Schuld phänomenologisch ausgeschöpft.

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eignisse etc. äußern. Ferner erscheint die ›Stoßkraft‹ der Erscheinungen als »répons« am ursprünglich hingegebenen Subjekt. So werden auch auf dessen individuellem Antlitz die Gebungen sichtbar, die es der Phänomenwelt entgegennahm. Das universal verstandene Sich-Geben impliziert die Möglichkeit völlig unterschiedlicher Erscheinungen, an die der »adonné« verwiesen ist. Marion bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass er vom »arrivage« der Phänomene spricht. Das bedeutet aber, dass Phänomene – entsprechend ihres individuellen Sich-Gebens – Schockmomente, Gleichgültigkeit, Sogwirkungen etc. auslösen können. Ausgehend von der Möglichkeit höchst individueller Phänomengebungen drängt sich nun die Frage nach den formalen Strukturen ihrer Unterschiedlichkeit auf. Wurde bislang herausgearbeitet, wie Marion mittels der Rede von »Gebung« dem phänomenalen Selbst einen ganz neuen Stellenwert einräumt, unterblieb noch eine Reflexion darauf, wie die Vielfalt der Phänomenwelt näher zu bestimmen und zu gliedern sei. Zu untersuchen wäre folglich, welchen Verhältnismäßigkeiten die Differenzen phänomenalen Sich-Gebens unterliegen. Was bedeutet es genauer, dass ein sich gebendes Phänomen das Denken leibhaftig berühren und diesem nicht, wie ein anderes, nur gleichgültig gegenüberstehen bleiben kann? Wie lässt sich ein phänomenales »Ereignis« im Unterschied zu anderen Phänomengebungen formal darstellen? Bei der Klärung dieser Fragen ist prinzipiell darauf hinzuweisen, dass über die Bedeutung, und damit Unterschiedlichkeit eines Phänomens keine Aussage außerhalb seines individuellen Sich-Gebens getroffen werden kann. Dennoch kann man Unterscheidungen zwischen sich gebenden Phänomenen zumindest insofern vornehmen, als sich der Marionsche Entwurf ja von traditionellen Phänomenbegriffen distanziert, die ihrerseits nun ja auch vom »Sich-Geben« als einem universalgültigen Horizont auszulegen wären. 173 Will man in diesem Sinne auf die Differenzen zwischen sich gebenden Phänomenen reflektieren, dann hat man sich zuerst an den bereits bekannten Zusammenhang von »Erscheinen« und »Sich ge173 Von dort her greift die Kritik Janicauds nicht, der zufolge die Marionsche Klassifikation sich gebender Phänomene wieder metaphysische Muster in den Ursprungsbereich der Gebung eintragen wollte. »Ranger sous la bannière unique du ›phénomène saturé‹ (et vouloir produire un ›classement‹) […] relève-t-il du tour de force phénoménologique ou du coup de force conceptuel?« (Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 64 f., Hervorh. / T. A.). Zu beachten wäre, dass es in diesem Zusammenhang zunächst lediglich um eine Abgrenzung zu traditionellen Phänomenbegriffen geht.

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ben« zu halten: »ce qui apparaît se donne, ce qui se donne apparaît, ou mieux se montre.« 174 Zweitens ist die Vielfalt phänomenaler Gebungen herauszustellen: »Car, si tout ce qui se donne se montre, tout ne se donne pas univoquement.« 175 Schließlich lässt sich daraus folgern, dass Phänomene je nach der ›Intensität ihres Sich-Gebens‹ zu bestimmen sind. Genauer: An der ›Art ihrer Anschaulichkeit bzw. Anschauung‹ lassen sich ›Grade des phänomenalen Sich-Gebens‹ ablesen. 176 Hinsichtlich der nun projektierten Ermittlung struktureller Unterschiede sich gebender Phänomene ist zuerst der traditionelle Begriff von Anschauung / Intuition zu revidieren. War dieser nämlich in bisheriger Phänomenologie an den der Intentionalität geknüpft, so unterliegt er jetzt einer beachtlichen Wandlung, wenn die Intentionalität ja restlos hinzugeben ist. Um deshalb die Anschauung nach dem Grad ihres Sich-Gebens differenziert, d. h. im Kontrast zu traditionellen Phänomenbegriffen, bestimmen zu können, sind zuerst die konstitutiven Momente von Intentionalität kritisch aufzuarbeiten (5.4.1.). So werden sich einmal Anschauungen als völlig sich selbst gebende (5.4.2.) denken lassen, die allein einer konsequent hingegebenen Intentionalität entsprechen und auf die deshalb erstmalig in der Phänomenologie des Sich-Gebens reflektiert werden kann: Gesättigte Phänomene. Weiter sind davon die spezifischen Gebestrukturen traditioneller Phänomenbegriffe abzugrenzen, die nun in ihrer Hinordnung auf »donation« entweder als anschauungsarme (bzw. ›gebungs‹arme) oder gesättigte Phänomene zu verstehen sind. Auf der Basis dieser Unterscheidung lässt sich eine Schematik erstellen, in der Phänomene nach ihrer Gebungsintensität eingeteilt werden (5.4.3.). Abschließend wird auf die phänomenologischen Beschreibungsmöglichkeiten eingegangen, die sich durch die Einführung des gesättigten Phänomens ergeben (5.4.4. / 5.4.5.). Für dieses Kapitel ist entscheidend, dass sich der Marionsche Entwurf in der Konzeption ED 169. Ebd., 250. 176 Vgl. »Les phénomènes peuvent se classer suivant leur teneur croissante en intuition …« (Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 126), »Ne pourrait-on pas au contraire envisager que la donation admette des variations de degrés? Dans cette hypothèse, les déterminations du phénomène donné, tout en restant originaires et définitivement acquises, se moduleraient avec des intensités variables. De la sorte, des seuils de phénoménalité selon la donation définiraient des strates discontinues de phénomènes, qui se distingueraient alsors par leur teneur en donation …« (ED 249 f.). 174 175

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des gesättigten Phänomens gegen alle bisherigen Theorien von Anschauung profilieren will. 5.4.1. Weichenstellungen zu einer entgrenzten Intuition: Intention als Sich-Hingeben Die Phänomenologie des Sich-Gebens greift hinter jede Gestalt von Intentionalität zurück. Denn mit der Selbstgebung des Phänomens ist allein eine hingegebene, d. h. völlig empfängliche Intentionalität korreliert. 177 Im Zentrum der Marionschen Phänomenologie steht ja die als ursprünglich begründete Forderung nach einem letzten SichHingeben des Denkens. Soll sich ein Phänomen als sich selbst geben können, dann hat sich das phänomenologische Bewusstsein an seine vorausgehende Anonymität hinzugeben. Wenn sich aber ein phänomenaler Gehalt nur über das subjektive Sich-Hingeben an seine Anonymität erschließt, dann erledigt sich definitiv die Herrschaft von Intentionalität. Ferner kehrt sich dadurch das traditionelle Verhältnis zwischen Intuition und Intention um, da Intention als hingegeben und Intuition als freies Sich-Geben zu denken ist. Mit Rücksicht auf dieses neu bestimmte Verhältnis von Intention und Intuition will sich der Marionsche Entwurf gegenüber den bisherigen Ansätzen zur Phänomenologie konturieren. Nach Auffassung Marions war für die traditionelle Phänomenologie charakteristisch, dass sich das Denken nicht restlos an die sich gebende Phänomenwelt hingegeben hatte. Genauer: In den phänomenologischen Theorien Husserls und Heideggers, aber auch Lévinas’ und Henrys etc. wurden je auf ihre Weise Vorgriffe auf die Anschauungen ausgeübt. Dazu kam es durch die in allen Fällen nachweisbare Setzung von sog. »phénomènes par excellence«: die Urgegenständlichkeit, das Sein, der andere Mensch, das auto-affektive Leben. Aufgrund der so jeweils manifesten Konzentration der Phänomenologie auf ein herausragendes Phänomen verbindet alle diese Ansätze aber eine gewisse Treue zur Intentionalität. Die Pro177 Der Begriff einer »hingegebenen Intentionalität« ist in der Vorstellung einer »hingegebenen Subjektivität« (»adonné«) angelegt. Von dort her bleibt schleierhaft, wenn Kühn meint, Marion würde »auf dieses ›Aufbrechen‹ der Gebung in eine sich gebende cogitatio und sich gebende intentio nicht« eingehen. (Vgl. Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 208).

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vokation Marions gegenüber Heidegger, Lévinas und Henry ist damit deutlich: Während diese nämlich meinen, der Husserlsche Intentionalitätsbegriff hätte sich mit ihrem Denken jeweils erledigt 178 , behauptet Marion gleichwohl, dass gerade bei deren Aufstellen herausragender Phänomene noch Restbestände desselben wirksam sind. 179 Daraus resultiere aber, so Marion, ein verengtes Verständnis von Anschauung. Anschauung könne sich hier noch nicht völlig selbst geben. Denn Intentionalität ist noch nicht vorbehaltlos an sie hingegeben. Wegen der sich durchhaltenden, d. h. nicht vollkommenen hingegebenen Intentionalität unterbieten Heidegger, Lévinas und Henry nach Ansicht Marions die adäquate Darstellung der sich gebenden Phänomene. Zudem verstehen sie ihr jeweiliges »phénomène par excellence« nicht von seinem ursprünglichen SichGeben her. Konkret: Das »Sei(y)n« Heideggers180, der »andere 178 Vgl. »Die phänomenologische Frage führt seinem innersten Zug nach selbst zur Frage nach dem Sein des Intentionalen und vor allem vor die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt.« (Heidegger, M. Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20, 184), »Verantwortung, die sich zu erkennen geben wird als Stellvertretung in einer Untersuchung ausgehend von der Nähe, die irreduzibel ist auf das Bewusstsein von … und die, wenn möglich, zu beschreiben ist als Umkehrung seiner Intentionalität.« (Lévinas, E. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 114), Henry, M. Phénoménologie non intentionelle: une tâche de la Phénoménologie à venir, in: ders. De la phénoménologie. Phénoménologie de vie I, 105–121. Zu diesem für die französische Phänomenologie zentralen Motiv einer ›reversed intentionality‹ vgl. der differenzierte, aus Husserlscher Perspektive kommende Kommentar: Welten, R. Saturation and Disappointement, Marion according to Husserl, 89 ff.). 179 Vgl. »Ist die Gabe […] als Gebung (donation) die phänomenologische Bestimmung eines jeden Phänomens, dann impliziert diese von Marion gesuchte Univozität des Gebungsbegriffs einen Bruch mit der Analyse irgendeines privilegierten Phänomens, um die Selbstentfaltung der Phänomenalität als Ge-gebenheit (donation) im Sinne des Sichvon-sich-selbst-her-zeigens zu bedeuten.« (Kühn, R. Mehr Reduktion – Mehr Gebung. Zur Diskussion eines phänomenologischen Prinzips bei J.-L. Marion, 82). 180 Vgl. DS 134, »La donation ne doit pas se penser à partir de l’être, mais bien l’être à partir de la donation […].« (Marion, J.-L. La fin de la fin de la métaphysique, 32, zum Ganzen: Kap. 4.2.). Bei Marions Heideggerkritik wäre zuerst zu differenzieren. In Heideggers Spätphilosophie ist durchaus das Bemühen zu erkennen, die letzten Residuen von Begrifflichkeit im »Sein« aufzuheben. Vgl. »›Sein‹ ist durchaus nicht mehr, – wenn wir ›Sein‹, wie es geschicklich waltet, nämlich als Anwesen, voll auszudenken versuchen, auf welche Weise allein wir seinem geschicklichen Wesen entsprechen. Dann müssten wir das vereinzelnde und trennende Wort: ›das Sein‹ ebenso entschieden fahren lassen wie den Namen ›der Mensch‹.« (Heidegger, M. Wegmarken GA 9, 408). In diese Richtung zielt auch, wenn Heidegger das Sein mit »y« schreiben will oder wenn er im Kontext des Ereignisdenkens sagt: »Sein verschwindet im Ereignis« (Heidegger, M. Zur Sache des Denkens, 22, vgl. Heidegger, M. Die Geschichte des Seyns, GA 69).

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Mensch« 181 nach Lévinas, das »auto-affektive Leben« Henrys 182 etc. werden nicht konsequent von ihrem jeweils ursprünglicheren SichGeben her gedacht: »si je savais d’avance que c’est l’être, ou bien autrui, ou bien Dieu, ou bien la vie qui me convoque, alors j’échapperais d’emblée au statut plein d’adonné.« 183 Verantwortlich dafür ist die hier weiterhin virulente Intentionalität, die sich, wenngleich in ›schwächerer‹ Gestalt, als Setzung herausragender Phänomene äußert. So blieb, mutatis mutandis, die Anschauung bei Heidegger, Gegenüber solchen Rufen nach einer differenzierten Heideggerlektüre wendet Marion ein, dass Heidegger dort, wo er das Sein als Ereignis entwirft, das Denken noch intentional setzend vorgeht und sich noch nicht hingegeben hat. So steht die gesamte Ereignisphilosophie unter dem Vorgriff »das Sei(y)n«: Vgl. »Die Sache ›Sein‹, sie eigens denken, dies verlangt, dass unser Nachsinnen der im Anwesenlassen sich zeigenden Weisung folgt. Sie erweist im Anwesenlassen das Entbergen. Aus diesem aber spricht ein Geben, ein Es gibt.« (Ebd., 5). 181 Vgl. die Kritik, die Marion an Lévinas richtet: Während Lévinas in der ethischen Situation zwischen dem Anderem und dem Selbst das vor-ursprüngliche Phänomen sieht, zeigt Marion auf, dass diesem Geschehen das Hingegebensein an das Sich-Geben der Phänomenwelt vorausliegt: »L’éthique pourrait mettre ici seulement en œuvre un dispositif phénoménologique plus originaire qu’elle et qui rendrait par conséquent possible la déscription d’autres phénomènes ou d’autres déscriptions de ce même phénomène – le visage.« (DS 142). Der als originär von Lévinas affirmierte Befehl (»injonction«) des Anderen, ihn nicht zu töten, verdankt sich einer Offenheit gegenüber ›Appellen und Gebungen überhaupt‹ : »Ces injonctions s’imposeraient aussi fortement sans doute. Elles ne le pourraient point si justement l’injonction n’adressait un appel à une instance qui peut les entendre.« (DS 142). Auf der Basis dieser Gebungsstruktur eröffnet sich der andere Mensch, über Lévinas hinaus, in seiner Individualität. Vgl. Marion, J.-L. D’autrui à l’individu, 300. 182 Gegen Henrys Philosophie des Fleisches wendet Marion ein, dass darin das Angegangensein des Ego durch den »auto-affektiven« Leib nicht zureichend bedacht worden sei. (Vgl. Marion, J.-L. La chair ou la donation de soi, 43–56, DS 99 ff.). Darum ist auch Henrys auto-affektiver Leib, genau wie bei Heidegger, das Ergebnis einer (nur) zweiten Reduktion: »Il ne suffit pas en effet d’affirmer que la (deuxième) réduction au propre délivre la chair comme l’instance la plus originellement mienne. Il faut encore montrer comment elle me livre à moi-même, sans échappatoire, ni évasion possible.« (Ebd., 110, Hervorh. / T. A.). Allein vom Sich-Geben her lässt sich der Zusammenhang zwischen »Ego« und seiner Leiblichkeit angemessen denken: »Dans la prise de chair, je suis donné sans retour à moi-même, selon un donné pur – donné à fond à moi-même pour y faire mon temps.« (Ebd., 116). Dagegen ist bei Henry der Versuch zu erkennen, den Begriff »donation« mit dem des auto-affektiven Lebens zu verknüpfen: »[…] en cette donation ultime de la vie, il n’y a ni esquisses, ni aspects, ni horizons de remplissement, ni contenus venant les remplir […].« (Henry, M. Quatre Principes de la phénoménologie, 16, vgl. besonders deutlich: »das rein phänomenologische oder absolute Leben als Sich-geben [ist] diese Gebung selbst« (Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 215)). 183 ED 413.

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Lévinas, Henry das Produkt einer Intention. Im Gegenzug will Marion die ›Geschichte der Intentionalität‹ endgültig destruieren, d. h. Intention ganz als hingegeben verstehen, um das freie Sich-Geben der Anschauungen zu ermöglichen. Ferner lässt sich dadurch die ursprüngliche Gebungsstruktur der von Lévinas und Henry betonten »phénomènes par excellences« ermitteln und diese selbst präziser beschreiben. Zu diesem Zweck erhebt Marion jene Konzeptionen aus der abendländischen Ideengeschichte, die für den phänomenologischen Intentionalitätsbegriff konstitutiv waren. An erster Stelle steht dabei die Erkenntnislehre Kants. 184 Im Sinne Marions wird die Kantische Apperzeptionstheorie durch den Husserlschen Dualismus »Intention/Intuition« und, die in dessen ›Fahrwasser‹ befindlichen Setzungen herausragender Phänomene von Seiten Heideggers, Lévinas’, Henrys etc. reproduziert. 185 Eine sich völlig hingebende Intentionalität würde dagegen endgültig die Einwirkungen Kantischer Begrifflichkeit auf die Phänomenologie umkehren. Schließlich entwickelt Marion ein mit der hingegebenen Intentionalität korreliertes Verständnis von Anschauung in Absetzung von diesen wirkmächtigen Kategorien Kants. Zunächst ist aber der phänomenologisch so folgenreiche Zusammenhang zwischen der transzendentalen Apperzeption 184 In diesem Zusammenhang ist darauf zu achten, dass Marion Kant selbst in die Tradition der Phänomenologie stellt. Sein Bemühen, die Phänomenologie im Zeichen der »donation« umzubauen, richtet sich auf Kant. Dabei entspricht das Argumentationsverfahren der Art und Weise von Marions Husserlinterpretation. Leider überspielt Marion dadurch, wie sehr sich seine eigene Systematik der transzendentalphilosophischen Tradition verdankt. (Vgl. die Kritik in 5.3.5.). 185 Zu betonen ist, dass Marions Interpretationen von Heidegger, Lévinas und Henry in ED nicht explizit eine Kontamination durch Kant unterstellen. Vielmehr ist dieser Zusammenhang verdunkelt. Es bedarf jedoch einer Klärung der Frage, warum Marion das »gesättigte Phänomen« zum einen gegen die Verstandeskategorien Kants und Husserls entwickelt und erst über dieses zum anderen die Phänomenalität des anderen Menschen, des Leibes, des Seins etc. angemessen zu bestimmen meint. Insofern müssten Kant, Husserl, Heidegger, Lévinas und Henry einer gemeinsamen Kritik Marions ausgesetzt sein. Die hier dafür vorgeschlagene Interpretation, dass Marion zufolge in allen Fällen die Intentionalität noch nicht als restlos hingegeben verstanden wurde, berechtigt sich einmal angesichts der Heideggerkritik aus RD und den Aufsätzen »D’autrui à l’individu« bzw. »La chair ou la donation du soi«, in denen Marion sich gegen Lévinas und Henry richtet. Ferner zieht sie die Linien einer Deutung Caputos weiter aus: »For Marion, modernity means the tradition of the ›subject‹, stretching from Descartes through Kant and Husserl and even extending as far as the Heidegger of Being and Time, which places prior constraints upon the self-giving of phenomena.« (Caputo, J. D.; Scanlon, M. J. Introduction. Apology for the Impossible: Religion and Postmodernism, 5).

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Kants und dem intentional verengten Anschauungsbegriff Husserls an drei Punkten aufzuzeigen. 186 Erstens: Die formalen Bedingungen von Erfahrung. Über den Begriff der Intentionalität wird die Einsicht Kants an die Phänomenologie weitergereicht, dass die Anschauung sich in einem formalen, von der Vernunft festgelegten Rahmen einzustellen hätte. Für Kant sind die Anschauungen an formale Erfahrungsbedingungen zurückgebunden: »Das Postulat der Möglichkeit der Dinge fordert also, dass der Begriff derselben mit den formalen Bedingungen einer Erfahrung überhaupt zusammen stimme.« 187 Näherhin bestimmt Kant die formalen Bedingungen von »Anschauung« als Raum und Zeit: »Bei dieser Untersuchung wird sich finden, dass es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori gebe, nämlich Raum und Zeit …« 188 Deutlich wird für Marion damit nicht nur, dass Kant der Anschauung Formalbedingungen vorordnet. Überdies schreibt er damit das Prinzip fest, Anschauung hänge stets vom Begehren des Subjekts nach Erkennen ab. Marion zeigt, dass Husserl diesen von formalen Kriterien bedingten Anschauungsbegriff übernahm – eine Anschauung, die gegenüber deren freiem Sich-Selbstgeben verschlossen ist. 189 Insbesondere die Husserlsche Polarität »Intuition/Intention« speist sich, so Marion, zutiefst aus der Einsicht Kants, Anschauung hätte sich immer innerhalb eines formalen Rahmens einzustellen. Marion demonstriert dies an Husserls »Prinzip der Prinzipien«: »Am Prinzip aller Prinzipien: dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär […] darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.« 190 Folgt man dieser Anweisung Husserls, dann wäre die Anschauung, wie bei Kant, auch nur innerhalb eines formalen Rahmens (»in den Schranken«) zu denken. Bei genauerem Zusehen bestimmt Husserl diese »Schranken« aber von der Intentionalität her. Dabei legt die Intentionalität fest, dass in der Anschauung das PhäVgl. Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 83 ff. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 249. 188 Ebd., 71. 189 Vgl. »Les conditions formelles de la connaissance s’articulent ici directement sur le pouvoir de connaître, non sur le pouvoir d’apparaître du phénomène.« (ED 254). 190 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, Hua III / 1, 51. 186 187

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nomen als (Ur-)Gegenstand sichtbar zu machen ist: »Vermöge der Polarität, die zum Wesen des cogito gehört, ist das wache Ich intentional bezogen auf das Gegenständliche der vollzogenen Cogitationen.« 191 So wird vermittels der Husserlschen Intentionalität die Phänomenologie als »eidetische Wissenschaft vom Gegenstande überhaupt« 192 begründet. 193 Im Ansatz Husserls beugt sich die Anschauung unter der Vorherrschaft der Intentionalität. Marion interpretiert, dass die Anschauung hier, wie bei Kant, auf das Maß intentional festgelegter Bedingungen gesetzt wird. Zweitens: Das konstituierende Ich. Wenn die Intentionalität Husserls darauf geht, die Phänomene von ihrer Gegenständlichkeit her anschaulich zu machen, dann verrät sich darin das weiterhin konstitutive Wirken des Ich. Die Vorstellung, dass dem Ich konstitutive Funktion für eine erkennbare Anschauung zukommt, geht aber nach Marion entscheidend auf die Erkenntnistheorie Kants zurück. Für Kant ergibt sich Erkenntnis dadurch, dass der Verstand die sinnliche Anschauung durch einen Begriff formt und dadurch Anschauung denken kann: »Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erste wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht.« 194 Im Ansatz der Husserlschen Phänomenologie schlägt sich diese Schematik zunächst darin nieder, dass dort das »reine Ich« bzw. das »absolute Bewusstsein« als phänomenologischer Ausgangspunkt etabliert wird: »Das sagt, dass jedes Erlebnis jetzt einen Horizont von Erlebnissen hat, die eben auch die Originaritätsform des ›Jetzt‹ haben, und als solche den einen Originaritätshorizont des reinen Ich ausmachen, sein gesamtes originäres Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II Hua IV, 108 f. 192 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I Hua III/1, 26. 193 Marion deutet dies weiter in dem Sinne, dass die Anschauung das als formale Bedingung je schon Festgelegte, d. h. das je schon Gesehene, abbilden soll: »En effet, c’est l’intuition qui procède par vécus successifs pour remplir sa visée intentionnelle d’objet, donc qui réclame un horizon dans lequel elle puisse les retenir (souvenir), les composer et les anticiper autour d’un noyau noématique …« (ED 261), vgl. schon DsE 15 ff. 194 Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 97. 191

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Bewusstseins-Jetzt.« 195 Wenn aber dem ›reinen Ich‹, wie hier festgehalten, der Startpunkt phänomenologischer Reflexion zugeteilt wird, dann wird dadurch die Intentionalität als über der Anschauung stehende Größe festgeschrieben. »Im absoluten Bewusstsein haben wir immerfort ein ›Feld‹ der Intentionalität und nun richtet sich der ›geistige Blick‹ des Aufmerkens bald auf ›dies‹, bald auf ›das‹.« 196 Husserls »reines Ich« begründet damit ein Verständnis von Anschauung, das ganz und gar von der Intentionalität durchdrungen wird. Anschaulich ist nur, was intentional erfassbar ist: »Es gilt, […] Begriffe und Sätze auf in der Intuition fassbare begriffliche Wesen selbst […] zurückzuführen.« 197 Für Marion folgt daraus: Die Anschauung wird, wie bei Kant, von einem ursprünglichen Ich konstituiert und auf das Maß der Intentionalität gesetzt. Drittens: »Adaequatio rei et intellectus«. Nach Marion bleibt die von der Intentionalität gesteuerte Phänomenologie dem Ideal einer »adaequatio« verpflichtet. Die aus der Scholastik stammende Formel, in einer wahren Aussage sollten Sach- und Denkwelt einander entsprechen 198 , kehrt bei Husserl zurück. Dabei scheint die Erkenntnistheorie Kants eine bedeutsame Vermittlerrolle eingenommen zu haben, schließt diese doch direkt an die scholastische Vorstellung der »adaequatio« an. 199 Für Kant bildet die Synthese von Verstand und Sinnlichkeit, also wenn sich beide völlig entsprechen, den Grund für Erkenntnis: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 200 Es über195 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I Hua III/1, 184. Dazu Marion: »On peut même soupçonner que Husserl ne mettra jamais en cause certains des traits les plus caractéristiques de la transcendalité du Je …« (ED 263). 196 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II Hua IV, 105 f. 197 Husserl, E. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie III, HuaV, 96 f. (Hervorh. / T. A.). 198 Vgl. z. B. »Das Entsprechen aber wird als Übereinstimmung der Sache und der Erkenntnis (adaequatio rei et intellectus) bezeichnet; und darin bestimmt sich formaliter die Idee des Wahren. (in hoc formaliter ratio veri perficitur).« (Thomas v. Aquin Quaestiones disputatae de veritate, qu.1, artic. 1., in: Stein, E. Werke Bd. 3, 11). 199 Vgl. »Die Namenerklärung der Wahrheit, dass sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt.« (Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 102). 200 Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 98. Marion interpretiert die »Kritik der reinen Vernunft« weiter so, dass die sich in der sinnlichen Rezeptivität gebende Anschauung

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rascht nicht, wenn auch für Husserl die Wahrheit als erreicht gilt, wenn das vom Bewusstsein intentional Gemeinte mit dem anschaulich Gegebenen übereinstimmte: »Halten wir zunächst den eben angedeuteten Begriff der Wahrheit fest, so ist die Wahrheit als Korrelat eines identifizierenden Aktes ein Sachverhalt und als Korrelat einer deckenden Identifizierung eine Identität: die volle Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem.« 201 Fazit: Das erweiterte Verständnis von Anschauung, das Husserl erklärtermaßen anstrebte 202 , blieb ein leeres Ideal. Denn in der phänomenologischen Anschauung konnte sich nur die Intentionalität mit ihren Vorgaben abbilden. Für diese Engführung im Verständnis von Anschauung ist aber der Einfluss Kants verantwortlich. Das führt bei Marion nun zu zwei Feststellungen: Einerseits ließ sich die zum Ideal erhobene Gleichung von Intention und Intuition von Husserl selbst nicht erreichen. Nach Marion musste der auf die Urgegenständlichkeit angestrengte Blick versagen und konnte sich faktisch nie in einer reinen und philosophisch operablen Intuition erfüllen: »l’adéquation redeviendra un idéal au sens strict, c’est-à-dire un événement imparfaitement donné, par pénurie au moins partielle d’intuition.« 203 Allein von diesem Befund her wäre es erforderlich, den traditionellen Anschauungsbegriff in der Phänomenologie gründlicher als bisher zu überdenken. Die Phänomenologie Husserls lässt sich Marion zufolge nämlich als das vergebliche Suchen nach dem anschaulichen Intentionalobjekt interpretieren. Zu diesem Verdem Begriff vorausliegt. Folglich liegen die Kantischen Möglichkeitsbedingungen auf der Seite der sich vor jedem Begriff je schon gebenden Anschauung: »Ainsi, l’intuition n’offre pas au concept un simple parallèle ou un complément; elle lui assure sa conditions de possibilité – sa possibilité même. […].« (ED 271). Jedoch bleibt dieses Anschauungsverständnis auf die (empirische) Sinnenwelt eingeschränkt, die vom Verstand wieder eingeholt wird. »Car, si seule l’intuition donne des objets, il ne revient aussi à la finitude humaine qu’une intuition décidément finie, en l’occurence une intuition sensible.« (Ebd., 271). 201 Husserl, E. Logische Untersuchungen Hua XIX/2, 651 f., vgl. »Cet idéal d’évidence, censé désigner le maximum et l’extrême de toute ambition de vérité, ne revendique pourtant, avec une bien étrange modéstie, qu’une ›adéquation‹ une simple égalité.« (ED 266). 202 Vgl. v. a. »Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen. An vollentwickelten Anschauungen wollen wir uns zur Evidenz bringen, dies hier in aktuell vollzogener Abstraktion Gegebene sei wahrhaft und wirklich das, was die Wortbedeutungen im Gesetzesausdruck meinen.« (Husserl, E. Logische Untersuchungen II, Hua XIX/1, 10., Hervorh. / T. A.). 203 ED 269.

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sagen war die Intuition aber aufgrund der in ihr dominanten Intentionalität gleichsam zwangsläufig bestimmt. Andererseits war für die intentional erstrebte Anschauung eine qualitative Schwäche charakteristisch. Für das bei Husserl virulente, intentional geprägte Modell von Anschauung scheinen die mathematisch-logischen Evidenzen, denen eine Armut an Anschauung zueigen ist, Pate gestanden zu haben. »Il y aurait à s’interroger sur le privilège, presque toujours accordé par les théories de la connaissance (de Platon à Descartes, de Kant à Husserl) aux phénomènes logiques et mathématiques: ils se trouvent érigés en modèles de tous les autres selon leur certitude, alors qu’ils s’en distingue surtout par leur pénurie en intuition …« 204 Im Vorfeld zu Husserl wurde die »Anschauung« aber auch von Kant als Mangel verstanden, benötigt dessen Erkenntnistheorie ja immer einen Begriff, um Anschauung als solche anzuerkennen. Genau genommen hebt der Begriff damit aber einen Mangelzustand in der ›bloßen‹ Anschauung auf: »Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 205 So kann über den traditionellen Begriff von Anschauung gesagt werden, dass dieser nur auf eine ›schwache‹ Gestalt zielte. 206 Über die Kritik an Kant und Husserl hinausgehend, ist Marion der Ansicht, dass die bisherigen Phänomenologieentwürfe (Lévinas’, Henry etc.) von diesem verengten Anschauungsbegriff kontaminiert sind, weil in ihnen die Intentionalität noch nicht vorbehaltlos als eine sich gebende verstanden wurde. Die hier akute Unfähigkeit phänomenologischer Intentionalität, sich ganz hinzugeben, dokumentiert Ebd., 271. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 98. Marion interpretiert die »Kritik der reinen Vernunft« weiter so, dass die sich in der sinnlichen Rezeptivität gebende Anschauung dem Begriff voraus liegt. Folglich liegen die Kantischen Möglichkeitsbedingungen auf der Seite der sich vor jedem Begriff je schon gebenden Anschauung: »Ainsi, l’intuition n’offre pas au concept un simple parallèle ou un complément; elle lui assure sa conditions de possibilité – sa possibilité même. […].« (ED 271). Jedoch bleibt dieses Anschauungsverständnis auf die Sinnenwelt eingeschränkt: »Car, si seule l’intuition donne des objets, il ne revient aussi à la finitude humaine qu’une intuition décidément finie, en l’occurence une intuition sensible.« (Ebd., 271). In einem anderen Kontext müsste erörtert werden, inwieweit die französische, übrigens aber auch im Englischen auftretende Übersetzung von Kants »sinnlicher Anschauung« mit »Intuition« sinnentstellend wirkt. Immerhin bemerkt Kant am Beginn der »Transzendentalen Analytik«: »Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen, Verstandes eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv.« (Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 109). 206 Dass in dieser Anschauungsschwäche jedoch das Höchstmaß von Evidenz erblickt wurde, gehört zu den Widersprüchlichkeiten klassischer Erkenntnistheorie, die Marion ausräumen will. Vgl. Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 177. 204 205

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sich darin, dass auch Lévinas, Henry etc. einen höchsten Begriff (wie der auto-affektive Leib, oder der andere Mensch) der Anschauung vorsetzen, was sich auf den bleibenden Einfluss der Kantischen Transzendentalphilosophie zurückverfolgen lässt. Im Letzten kommt die Anschauung bei Lévinas 207 und Henry stets nur unter dem Niveau ihres Sich-Gebens, damit als defizitäre Gestalt in Betracht, weil ein der Intentionalität gehöriger, vorentschiedener Begriff in sie hineinprojiziert wird. In bisheriger Phänomenologie bleibt somit die Kantische Anschauungstheorie trotz gewisser Abänderungen virulent. Dies ist noch zu präzisieren: Die Intentionalität (in ihrer expliziten oder nur impliziten Form) fungiert hier weiter in Anlehnung an die Kategorientafel Kants, derzufolge reine Verstandesbegriffe (Quantität, Qualität, Relation, Modalität 208 ) die Erkenntnis von Anschauung konstituieren sollen, dadurch Anschauung aber nur im Modus von ›Schwäche‹ denken können. »Alle sinnlichen Anschauungen stehen unter den Kategorien, als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewusstsein zusammenkommen kann.« 209 Versteht man die Intentionalität jedoch von ihrem Hingegebensein her, dann werden Anschauungen denkbar, die sich gegenüber den Vorgaben Kants wirklich sperrig verhalten. Erstens wird durch eine sich hingebende Intentionalität die ›Schwäche‹ von Anschauung als phänomenologisch einzige Möglichkeit widerlegt. 210 Da sich ja bei 207 Angesichts Marions Kritik an Lévinas scheint die Interpretation Speckers, Marion sei ein Denker »der Alterität Gottes«, zu kurz gegriffen. Bereits im »Frühwerk« ordnet Marion den Alteritätsgedanken der »donation« nach: Vgl. »On n’échappe peut-être pas plus à la différence ontologique par la différance que par Autrui.« (ID 279), »Une idolâtrie résiduelle affecte encore l’Autre.« (Ebd., 281). Marion affirmiert schon hier den Vorrang der Gabe, des Sich-Gebens gegenüber der Alterität: »Il reste donc à penser le don.« (Ebd., 284). Entsprechend muss auch Specker feststellen: »Dennoch ist so gut wie nie von einer ›altérité de Dieu‹ die Rede.« (Specker, T. Einen anderen Gott denken. Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, 355). Symptomatisch ist, dass für Specker die Abgrenzung Marions vom Heideggerschen Denken des Seins dafür hinreicht, den Alteritätsgedanken auf Marion zu übertragen. Vgl. »Diese abgrenzende, ›negative‹ Perspektive soll im folgenden als positive Möglichkeit, die Alterität Gottes in den Blick zu nehmen, gelesen werden.« (Ebd.). 208 Vgl. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 118 f. 209 Ebd., 143. 210 Zu beachten ist, dass die von Marion kritisierte ›Schwäche‹ von Anschauung von Seiten Kants als das Fehlen von Evidenz bewertet wird. Aus dem Blickwinkel Kants würde wahrscheinlich Marions Anschauungsbegriff ›blind‹ bleiben. Die Frage, ob Ma-

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hingegebener Intentionalität die Anschauungen selbst geben dürfen, obliegt ihnen selbst die ›Bestimmung ihrer Intensität‹. Deshalb können in der Phänomenologie des Sich-Gebens nicht nur Phänomene mit schwacher Anschauungskraft thematisch werden, sondern zweitens auch solche, deren Anschauung ›gesättigt‹ ist. 211 Unter gesättigten Phänomenen versteht Marion solche Anschauungsarten, die sich zu Kantischer Kategorialität und, diese weiterführend, zu jeder Form einer nicht-hingegebenen Intentionalität gegenläufig verhalten. 212 Ein gesättigtes Phänomen konterkariert aber nicht nur jeden Vorgriff der Intentionalität. Vielmehr ist entscheidend, dass dieses allein von seinem bedingungslosen »Sich-Geben« her zu bestimmen ist. Bei einer Sättigung wird ein Phänomen gegeben, das sich auf keinen Intentionalakt reduzieren lässt bzw. das nur ›ankommen‹ kann, wenn sich Intentionalität restlos hingibt. Weil ein gesättigtes Phänomen sich aber ausschließlich als freies »Sich-Geben« manifestiert 213 , ist es als der Phänomentypus zu definieren, der erstmalig in der Phänomenologie des Sich-Gebens thematisch wird und über den sich dieser Anrions Ansatz den Unterschied zwischen dem gültig oder ungültigen Erscheinenden angemessen denkt, wäre an dieser Diskussion mit Kant neu aufzurollen. 211 Vgl. »Au phénomène supposé pauvre en intuition, ne peut-on pas opposer un phénomène saturé d’intuition?« (ED 276). Zum ersten Mal entwickelt Marion das gesättigte Phänomen in dem 1992 erschienen Aufsatz: »Le phénomène saturé«. Hier wurde jedoch die Offenbarung den gesättigten Phänomenen selbst zugeordnet, so dass zwischen der Sättigung und Offenbarung kein Qualitätsunterschied gedacht wird. Vgl. Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 127. 212 Im Wissen um seinen Gebrauch in chemischen Zusammenhängen kritisiert Janicaud den Begriff der Sättigung. Ausgehend von seinem semantischen Gehalt würde sich in einem »gesättigten Phänomen« die Intentionalität einfach erfüllen. (Vgl. Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 64). Der Ausdruck »saturation« erscheint von dort her zumindest problematisch, weil Marion ja eine Anschauungsart denken will, die sich der Intentionalität radikal gibt, unaufhörlich an sie appelliert, provoziert, vorlädt etc. (Vgl. die Kritik in: Greisch, J. Index sui non dati: Les paradoxes d’une phénoménologie de la donation, 42, Staudigl, M. Phänomenologie an der Grenze? Bemerkungen zum Status der Grenze in der Phänomenologie, 27 f.). Auch wenn Marion selbst gelegentlich von »phénomène accompli« (z. B. ED 311) spricht, müsste gelten, dass »le phénomène saturé« gerade nicht, wie bei Specker geschehen, mit »das erfüllte Phänomen« zu übersetzen wäre. (Vgl. Specker, T. Einen anderen Gott denken. Zum Verständnis der Alterität Gottes bei Jean-Luc Marion, 213 ff.). Dagegen wären Übersetzungen wie »das über-füllte, über-sättigte« zu bevorzugen. (Vgl. Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 178 f.). 213 Vgl. »Rather than being able to master the [sc. saturated / T. A.] phenomenon, consciousness is surprised, overwhelmed and drawn up short by its inadaequacy.« (Benson, B. E. Graven ideologies. Nietzsche, Derrida & Marion on modern idolatry, 192).

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satz gegenüber allen vorangegangenen Entwürfe von Phänomenologie konturiert. Im gesättigten Phänomen werden ferner die bislang skizzierten Formalstrukturen des sich gebenden Phänomens und der hingegebenen Subjektivität (Kap. 5.2., 5.3.) auf gebündelter Weise virulent. Die Annahme gesättigter Phänomene wird zu einer Neubewertung der Ansätze Lévinas’ und Henrys führen. Insofern nämlich die Intentionalität über beide Denker hinaus als sich gebende gedacht wird, kommen der »andere Mensch« und das »auto-affektive Fleisch« als bestimmte Typen sich gebender Anschauungen, nämlich als gesättigte Anschauungen, in Betracht. 214 Der intentionale Vorgriff (›der Andere‹, ›das Fleisch‹) wird dabei außer Kraft gesetzt, das jeweilige »phénomène par excellence« rein von seinem Sich-Geben, bzw. im Ausgang einer sich gebenden Intentionalität verstanden: das SichGeben des Anderen, das Sich-Geben des Fleisches. Nach Auffassung Marions kommt das von Lévinas, Henry etc. jeweils behandelte »phénomène par excellence« erst dann authentisch in den Blick, wenn es von seiner ursprünglichen Selbstgebung her verstanden ist. 215 Es wäre dann als »phénomène saturé« neu zu lesen. 5.4.2. Das gesättigte Phänomen als Überstieg Kantischer Kategorien Ausgehend von einer sich hingebenden Intentionalität ist das »gesättigte Phänomen« als Gegenentwurf zum kategorial und intentional 214 Vgl. »Avec Jean-Luc Marion, on ne saurait nier que tout l’effort de la phénoménologie française depuis Sartre, Merleau-Ponty, Lévinas, dans une certaine mesure Ricœur, jusqu’à Michel Henry, Marc Richier, Didier Franck, mais aussi Jean-Louis Chrétien …, à tendu à investir et à investiguer [les chantiers de Husserl] au nom d’une ›donation‹ qui s’était découverte ›absolue‹ (absolute Gegebenheit) avec la suspension de l’apparaître de la phénoménalité propre à l’étant dans son pur être là-devant (vorhanden).« (Alliez, E. De l’impossibilité de la phénoménologie. Sur la philosophie française contemporaine, 60). 215 Vgl. »A la possibilité bornée de la phénoménalité, ne doit-on pas […] opposer une phénoménalité enfin inconditionellement possible et dont la mesure ne résulterait pas de la finitude des conditions de l’expérience.« (ED 276). Marions Theorie des gesättigten Phänomens stellt gegenüber der bisherigen Phänomenologie eine gehörige Provokation dar, weil die in den Konzeptionen Lévinas’, Henrys’ und Derridas typische Negierung der Phänomenologie in eine phänomenologisch positive Behandlung umschlägt. Marion will die bei diesen Autoren im Zentrum stehenden »phénomènes par excellence« ja als gesättigte Phänomene denken.

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geprägten Anschauungsbegriff im Anschluss an Kant darzustellen. Eine sich völlig hingebende Intentionalität ist ja für Anschauungsarten offen, die rein in ihrem Sich-Selbst-Geben bestehen und sich gegenüber jedem intentionalen Verstandesbegriff sperren: »gesättigte Phänomene«. Bei gesättigten Phänomenen wird die Funktion des Kategorialen restlos suspendiert. 216 Die Anschauung gibt sich darin ganz von selbst. So betont Marion bei seinen Überlegungen zum gesättigten Phänomen zunächst zweierlei: Einerseits fallen gesättigte Phänomene nicht aus einer Theorie allgemeiner Phänomenalität heraus. Die sich restlos gebenden Anschauungen und die sich hingebende Intentionalität bewegen sich nicht außerhalb der phänomenologisch verhandel- und erforschbaren Gegenstandsbereiche. Da, wie gesehen, die Phänomenologie auf die »donation« der Phänomene hingeordnet ist, gehören gesättigte, d. h. sich vorbehaltlos gebende Anschauungen vielmehr ins Zentrum ihrer Reflexion. Dies lässt sich anhand der für die Phänomenologie konstitutiven Binarität »Intention/Intuition« verdeutlichen. Während Anschauung von traditioneller Phänomenologie nur im Sinne einer mit der Intention ›gleichgeschalteten‹ Anschauung gedacht wurde, ist nun deren Übermaß zu denken, die sozusagen mit einer ›defizitären Intentionalität‹ korreliert ist. So gesehen bietet die Theorie phänomenaler Sättigung einfach eine Ergänzung zur klassischen Phänomendefinition. Statt Anschauung nur im Modus von ›Schwäche‹ (»par défaut«) anzuerkennen, wäre nun der Exzess ihres Sich-Gebens (»par excès«, »de surcroît«) zu denken. Die Annahme eines gesättigten Phänomens »résulte directement, à une correction près, de la définition commune du phénomène (Kant, Husserl) – laquelle met en relation deux termes (intuition et concept / signification) en n’utilisant que deux figures de leurs rapports (le défaut d’intuition et l’adéquation), mais en ignorant le troisième (le surcroît d’intuition ou / et le défaut de signification.« 217 Andererseits wird durch die Einführung des gesättigten Phänomens jener Bereich einer philosophischen Reflexion zugänglich, der von Kants Analyse des Erhabenen und von der Cartesischen Unendlichkeitsidee 218 vorbereitet wurde. Nach Kants 216 Vgl. »Nous esquisserons la description du phénomène saturé au fil conducteur des catégories de l’entendement définies par Kant. Mais le phénomène saturé excède ces catégories (comme les principes), puisqu’en lui l’intuition outrepasse le concept.« (ED 280). 217 Ebd., 277, vgl. ebd., 304. 218 Für Marion gelten auch der cartesische Staunensbegriff aus den »Passions de l’âme«

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»Kritik der Urteilskraft« ist die »ästhetische Idee« durch keinen Begriff des Verstandes einzuholen: »Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch ein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.« 219 Ebenso berührt die Unendlichkeitsidee Descartes’ zwar das Denken, diese lässt sich aber keinesfalls von ihm ergreifen: »Est enim de ratione infiniti, ut a me, qui sum finitus, non comprehendatur …« 220 Nach Descartes weiß sich das Denken von der Unendlichkeitsidee umfasst und ›signiert‹ : »Et sane non mirum est Deum me creando ideam illam mihi indidisse, ut esset tamquam nota artificis operi suo impressa.« 221 Insofern die Kompetenzen des reinen Verstandes angesichts der ästhetischen und unendlichen Idee jeweils versagen, markieren Kant und Descartes hier gesättigte, d. h. intentional unvorgreifbare Anschauungen. 222 Jedoch blieb es ein philosophisches Desiderat, auf den erkenntnistheoretischen Status dieser Anschauungsart zu reflektieren und deren Strukturalität zu ermitteln. 223 Marions Theorie des gesättigten Phäno-

sowie das Zeitverständnis Husserls aus dessen »Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein« als »gesättigte Phänomene« ›avant la lettre‹, weil in allen Fällen das Denken von einer Anschauung getroffen wird, das von seinen Begriffen nicht zu konstituieren ist, sonder selbst ›zu denken gibt‹. (Ebd., 281 f., 305–309). 219 Kant, I. Kritik der Urteilskraft, 413 f. 220 Descartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 46, 21–23. Vgl. ED 305 f. 221 Descartes, R. Meditationes de prima philosophia, Œuvres AT VII, 51, 15–17. 222 Darüber hinaus soll nach Marion Husserl in »Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins« ein gesättigtes Phänomen »avant la lettre« thematisiert haben. (Vgl. Husserl, E. Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, Hua X). Das hier nach Protention und Retention aufgespannte Bewusstsein liegt jeder Intentionalität zugrunde und wird als Ankunftsort von Urimpressionen gedeutet. (Vgl. ED 307 ff., DS 49). 223 Hier liegt natürlich ein problematischer Punkt in der Marionschen Systematik, weil einerseits das gesättigte Phänomen völlig jenseits der reinen Verstandeskategorien liegt. Andererseits möchte Marion dennoch diese Anschauungsart strukturieren und so denkbar machen. So scheint Janicauds Kritik an der Stelle berechtigt, wo Marion klassifikatorisch innerhalb des gesättigten Phänomens verfährt: »Ranger sous la bannière unique du ›phénomène saturé‹ (et vouloir produire un ›classement‹) des types de remplissement aussi différents que ceux qui sont censés affecter l’idée d’infini, le sublime, les ›événements historiques purs‹, les ›phénomènes de révélation‹ (idole, icône, théophanie) relève-t-il du tour de force phénoménologique ou du coup de force conceptuel?« (Janicaud, D. La phénoménologie éclatée, 64 f.). Vgl. die Anfragen bei: Depraz, N. Gibt es eine Gebung des Unendlichen?, 126 ff.

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mens will hier einen neuen Weg weisen. 224 Während nämlich die bisherige, intentional strukturierte Phänomenologie der Erkenntnislehre Kants und ihren Kategorien verbunden blieb, lassen sich allein in der »Phänomenologie des Sich-Gebens« solche Anschauungen, als gesättigte, rational einholen. Da gesättigte Phänomene quer zu jedem intentionalen Zugriff stehen und sich bedingungslos geben, sind diese allein dort zu denken, wo Intentionalität dezidiert als hingegeben begriffen wird. Infolgedessen sind Marions gesättigten Phänomene konsequent als Gegenentwurf zum Kantischen Anschauungsbegriff zu bestimmen. Entsprechend definiert Marion die gesättigten Phänomene, indem er sie den reinen Verstandesbegriffen der Kantischen Kategorientafel (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) entgegensetzt. Denn die Rahmenfunktionen jener Kategorien sind verantwortlich für das bei Kant zu kurz greifende Verständnis von Anschauung. 225 Dem entgegen zeichnet sich das gesättigte Phänomen dadurch aus, dass es (1) in quantitativer Hinsicht nicht vorauszusehen und (2) in qualitativer nicht zu ertragen ist. Weiter ist es (3) im Blick auf die Kategorie der Relation absolut und (4) von seiner Modalität her unanschaulich: »Le phénomène saturé excède en effet les catégories et les principes de l’entendement – il sera donc invisable selon la quantité, insupportable selon la qualité, absolu selon la relation, irregardable selon la modalité.« 226 Gesättigte Anschauungen verhalten sich zu jedem intentionalen Vorgriff inkongruent. 227 Ihre Wucht lässt sich weder berechnen noch ertragen. Ihre Helle blendet so sehr, dass mit ihr radikale Finsternis einhergeht. Zudem lässt sich das gesättigte Phänomen in keine zeitlichen Relationen einbinden. Es ist durch keine apriorische Verknüpfung mit anderen Phänomenen zu ›zähmen‹. Im Ganzen ist zu sagen, dass sich das gesättigte Phänomen durch keinen kategorialen oder 224 Vgl. »Le phénomène saturé n’a rien donc d’une hypothèse extrême ou rare: il s’agit d’une figure de la phénoménalité si essentielle que des pensées même peu phénoménologiques (Descartes, Kant) y recourent aussi bien que les plus phénoménologiques (Husserl), dès lors que la chose même l’exige, lorsqu’elle apparaît selon l’excès et non la pénurie de l’intuition.« (ED 309, vgl. ebd., 279). 225 Vgl. Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 118 f. 226 Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 106., vgl. ED 296, DS 135, Kühn, R. »Sättigung« als absolutes Phänomen, 339. 227 Vgl. »Such a phenomenon is ›saturated‹ in that it contains much more than what appears. In other words, there is a fundamental lack of adaequatio between the intuition of the ›object‹ and the object itself.« (Benson, B. E. Graven ideologies. Nietzsche, Derrida & Marion on modern idolatry,191 f.).

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intentionalen Akt konstituieren lässt. Im Kontrast dazu wird man unter dem gesättigten Phänomen eine Paradoxie verstehen müssen, weil dieses sich wesenhaft gegenläufig zu jeder Form von Intentionalität verhält. 228 Marion bringt dies auch dadurch zum Ausdruck, dass er von einer ›Gegen-Erfahrung‹ spricht 229 , die das gesättigte Phänomen bewirkt. Das gesättigte Phänomen besteht in seinem unvorgreifbaren Sich-Geben. Seine Verhältnismäßigkeiten und Strukturen bestimmen sich ganz von seinem autarken Sich-Geben her. Weil nach Marion aber die Phänomenwelt zutiefst von der »donation« her bestimmt ist, andererseits das ›Subjekt‹ in seinem Ursprungsbereich hingegeben ist, ist diese dem gesättigten Phänomen zu eigene Paradoxalität und Gegen-Erfahrung reflexiv eingeholt. 230 5.4.3. Phänomenale Ortsbestimmungen am Leitfaden sich gebender Anschauungen Unter der Voraussetzung, dass sich die Phänomenwelt im Ganzen gibt und dadurch erstmalig gesättigte Phänomene zum Vorschein kommen dürfen, lässt sich die zu Beginn angefragte Differenz zwischen sich gebenden Phänomene nun näher denken. Dabei ist von folgenden Beobachtungen auszugehen: Erstens kann Marion seine Theorie des gesättigten Phänomens als eine ideengeschichtliche Novität entwickeln, weil die Intentionalität erstmalig als hingegeben begründet ist. Genauer: Nur für den Fall, dass in der »donation« der Fluchtpunkt der Phänomenologie liegt und zum Anderen die Subjektivität in ihrem präreflexiven Bereich an das Sich-Geben der Wirklichkeit hingegeben ist, werden gesättigte Phänomene, die über die Kantische Kategorialität und jede Form von Intentionalität hinausführen, rational vertretbar. 231 Aber es gilt noch mehr: Den gesättig228 Vgl. »La visibilité de la parence surgit ainsi à contre-courant, la visibilité à l’encontre de la visée. Paradoxe signifie certes ce qui va à l’encontre (para-) de l’opinion reçue, comme aussi de l’apparence, selon les deux sens obvies de la doxa.« (ED 315). 229 Vgl. ebd., 300. 230 Vgl. »Il faut déterminer le phénomène saturé comme un phénomène non objectif ou plus exactement non objectivable; cette dénégation n’a rien d’un refuge dans l’irrationnel ou l’arbitraire, puisqu’il s’agit d’une phénoménalité qui échappe non pas tant à l’objectivité […], que plus essentiellement à l’objectité …« (Ebd., 298 f.). 231 Dabei ist davon auszugehen, dass das gesättigte Phänomen auf der in RD vorgetragenen Argumentation aufbaut. Demgegenüber haben die Ausführungen in ED, zum Beispiel der Unterschied zur transzendentalen Apperzeption Kants oder die Theorie

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ten Phänomenen ist ein phänomenologischer Vorrang einzuräumen, veranschaulichen sie doch an sich selbst die als ursprünglich begründete Gebung in ihrer (kategorialen, intentionalen) Irreduzibilität. Zweitens: Die Frontstellung, die Marion zwischen dem gesättigten Phänomen und dem von Kant geprägten Anschauungsbegriff entwickelt, hat einen systematischen Sinn bei der differenzierten Behandlung sich gebender Anschauungen. Wenn nämlich davon auszugehen ist, dass sich die Phänomenwelt in einem nachdrücklich universalen Sinn gibt, dann müsste zur Phänomenologie der Gebung nicht nur das gesättigte Phänomen gehören, sondern auch die Anschauungsform, die bisher als eine mit Intentionalität und Kategorialität ›gleichgeschaltete‹ (Kant, Husserl etc.) zur Sprache kam. Ansonsten könnte die Phänomenologie der Gebung keine Universalität beanspruchen und bezöge sich nur auf besondere Phänomenarten wie die gesättigten Phänomene. Deshalb ist auch der traditionelle Anschauungstyp im Anschluss an Kant neu von seinem Sich-selbstGeben her zu bestimmen, wenngleich dessen Gebungsintensität gegenüber dem gesättigten Phänomen nun nachzuordnen sein wird. 232 Drittens: Mit Blick auf eine differenzierte Bestimmung phänomenaler Gebungen galt die Einsicht, dass an der Intensität der Anschauung die Grade des Sich-Gebens abzulesen sind. 233 Der Gegensatz, den Marion zwischen dem gesättigten und dem ›kategorial‹ geprägten Phänomen hergestellt hat, verdeutlicht jetzt, dass es Anschauungen gibt, die sich nur in schwacher Form geben können. Demgegenüber geben sich gesättigte Phänomene mit unerträglicher Wucht, Helle, des Gemäldes, nur verdeutlichende, keine argumentativ-begründende Funktion. Zwar nehmen die in ED vorgetragenen Gedankengänge den ›Habitus‹ einer philosophischstrengen Argumentation an. Jedoch ist auf die werkgeschichtlich entscheidende Beobachtung zu verweisen, dass Marion in seinem zwei Jahre nach RD erschienenen Aufsatz »Le phénomène saturé« die Weichen zu dieser Theorie gelegt hat. So erscheint gut begründet, die Theorie des »gesättigten Phänomens« mit der Argumentation in RD eng zu verknüpfen. Vgl. Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 79–128. 232 Vgl. »Les différents types de phénomène peuvent se définir comme autant de variations de l’automanifestation (se montrer en et à partir de soi) suivant le degré de donation (se donner en et à partir de soi).« (ED 310). Da sich die folgende Ortsbestimmung der sich gebenden Phänomene von der Frontstellung bisheriger Erkenntnistheorie versteht, müsste man darin keinen Rückfall in metaphysische Kategorien o. ä. wahrnehmen. Anders: Kühn, R. Radikalisierte Phänomenologie, 182 f. Dagegen wäre die Frage, ob Marion mit seinen Kategorisierungen in eine metaphysische Haltung zurückfällt, an der Stelle zu diskutieren, wo Marion innerhalb des gesättigten Phänomens selber Klassifizierungen vornimmt. 233 Vgl. 5.4.

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Dunkelheit etc, die als modellhafte bzw. paradigmatische Phänomene gelten dürfen, weil sich in ihnen die Ursprünglichkeit von »donation« manifestiert. Festzuhalten ist von dort her, dass es zum einen Phänomene gibt, die arm an Anschauung sind und die bei Kant, wie auch in bisheriger Erkenntnistheorie thematisch waren. Diese stehen zum anderen solchen Anschauungsarten gegenüber, die sich durch Sättigung, d. h. durch eine hohe Intensität ihres Sich-Gebens auszeichnen und als solche erst durch Marions »Phänomenologie der Gebung« ans Licht kommen. Wenn sich die Phänomenwelt insgesamt dadurch auszeichnet, dass sie sich gibt, dann ist auf der Basis dieser Differenz ein Raster unterschiedlicher Anschauungs- bzw. Gebungsintensität aufzustellen: »topique du phénomène«. 234 Entsprechend ihres intuitiven Sich-Gebens sind nach Marion vier Phänomentypen voneinander zu unterscheiden. a) Anschauungsarme Phänomene. Bei dieser Phänomenart geben sich Anschauungen nur in einem Modus von Schwäche. Marion fasst darunter formallogische und mathematische Anschauungen, die nur Idealitäten (wie geometrische Figuren oder logische Operationen) darbieten und sich durch Anschauungsarmut auszeichnen. Wichtig ist, dass formallogische bzw. geometrische Phänomene traditionellerweise für die zuverlässigsten Phänomentypen gehalten wurden, weil man in ihnen bislang ein Höchstmaß an Exaktheit und Evidenz wahrnahm. 235 Anders gesagt: Die in diesen Kontexten noch nicht hingegebene Intentionalität glaubte sich in einer idealen Anschauung (geometrische Figur o. ä.) zu erfüllen. Dagegen ist entsprechend der Marionschen Phänomenologie der Gebung für diesen Bereich eine intuitive Schwäche bzw. 234 Vgl. ED 309. J. Greisch sieht in dieser Ortsbestimmung eine Entsprechung zu den Seinsweisen Heideggers: »Le mot ›topique‹ est choisi avec soin pour souligner qu’il s’agit de bien plus que d’une simple typologie: c’est l’équivalent de la diversité des manières d’êtres au sens de Heidegger.« (Greisch, J. Le buisson ardent et les lumières de la raison. L’invention de la philosophie de la religion Bd. 2, 324). Beim Ausdruck »topique« wäre aber vor allem an die aus der aristotelischen Rhetorik stammende Einteilung von sprachlichen Allgemeinplätzen zu denken, die einer rhetorischen Innovation zugrunde liegen. In Entsprechung hierzu wird auch Marions Kategorisierung die phänomenologischen Beschreibungsmöglichkeiten erweitern. Vgl. OG 171 ff., Art. topique, in: Le grand Robert de la langue française, 1284. 235 Vgl. DS 134. Dafür lassen sich beispielhaft die geometrischen Sätze des Euklid anführen, die bis dato als Vorbild jeder exakten Wissenschaft gelten. (Vgl. Art. Euklid, in: Müller, M.; Halder, A. Philosophisches Wörterbuch, 84).

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Armut charakteristisch. Weil sich aber die Anschauung logischer, geometrischer Operationen äußerst sparsam gibt, besetzt dieser Bereich das unterste Niveau des phänomenalen Sich-Gebens: »… la manifestation ici ne [se] donne pas (ou peu), puisqu’elle ne livre ni intuition réelle, ni individu, ni temporalisation d’événement, bref aucun phénomène accompli.« 236 Erfüllte sich also traditionellerweise in mathematischen und logischen Operationen die Intentionalität, so sind diese Phänomene nun lediglich als schwach sich gebende zu bestimmen. 237 b) ›Allgemeingesetzliche‹ Phänomene 238 . Marion denkt hier an Phänomene, deren Anschauung sich ebenfalls nur schwach gibt. Allerdings unterscheiden sich diese vom ersten Phänomentypus dadurch, dass traditioneller Weise die hier akute Anschauungsschwäche dazu verführt hat, das Phänomen als verfügbare, sinnliche Materie ergreifen zu wollen. 239 Zu dieser PhänomenED 311. Darin wiederholt sich die Einsicht Marions, das mathematische Gegebenheiten nur als unvorgreifbare »donations« zu verstehen sind. (Vgl. ebd., 93). 238 Marions »phénomènes de droit commun« meinen Phänomene, deren Status selbstverständlich ist. Entsprechend bezieht sich der französische Ausdruck »droit commun« auf unmittelbar beurteilbare Straffälle, die keines besonderen Urteils bedürfen (Vgl. Mestre, C.; Oellers-Frahm, K. Introduction au français juridique, 6 f.). Durch die Einführung dieser Phänomenklasse, v. a. durch ihre Betitelung mit »de droit commun«, hat sich Marion die Kritik zugezogen, die davon abzusetzenden gesättigten Phänomene würden sich anders als die ›allgemeingesetzlichen‹ nur in seltenen Augenblicken geben. Die »donation« könne folglich keine Universalität beanspruchen, weil sie sich nur auf außergewöhnliche Phänomentypen bezieht. Vgl. »Quel besoin y-a-t-il ici d’aller chercher des intuitions exceptionelles?« (Benoist, J. L’écart plutôt que l’excédent, 87., ähnlich Falque, E. Phénoménologie de l’extraordinaire, 54). Als Reaktion auf diese Einwürfe erinnert Marion daran, dass die allgemeingesetzlichen Phänomene ebenso der »donation« entspringen und deshalb auch zur Sättigung veranlassen können müssten. Dies liegt daran, dass in den gesättigten Phänomenen das Paradigma jedes Phänomens liegt und diese deshalb unter bestimmten Umständen auch ›sättigen‹ können. Marion legt diesen Unterschied zum Beispiel dadurch dar, dass der Wein als technisch, industriell hergestelltes Produkt (»phénomène de droit commun«) in Betracht kommen kann, als auch wenn seine Qualität in einer Weinprobe ›erfahren‹ wird und jeder dabei angewandte Begriff vor der Selbstgebung dieser Erfahrung nichtig ist (»phénomène saturé«). (Vgl. Marion, J.-L La banalité de la saturation, 157 ff.). Bei dieser Abhandlung wäre aber noch genauer darzulegen, wie sich die in ED behandelten »phénoménès saturés« zu diesen ›Sättigungsmöglichkeiten‹ allgemeingesetzlicher Phänomene verhalten können. 239 Man wird diese Kategorie wohl den ›anschauungsarmen Phänomenen‹ zuordnen dürfen. Zwar betont Marion zunächst: »Les phénomènes de droit commun doivent donc 236 237

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kategorie zählen technische Objekte, der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften und industrielle Produkte. 240 Gibt sich Intentionalität noch nicht restlos hin, dann scheint sie sich hier in einem Zugriff auf einen sinnlichen Gegenstand zu erfüllen. Diesen ›allgemeingesetzlichen Phänomenen‹ ist aber nach Auffassung Marions primär ihr ursprüngliches Sich-Geben zu eigen. 241 Dabei sind ›allgemeingesetzliche‹ Phänomene in der Gebungsphänomenologie jedoch ebenfalls als Phänomene mit schwacher Anschaulichkeit zu bestimmen. Folglich nehmen sie auch nur das unterste Niveau phänomenalen Sich-Gebens ein. Im Sinne Marions sind technische Gegenstände und industrielle Produkte als »allgemeingesetzliche« Phänomene zu bestimmen, deren Anschaulichkeit sich nur in schwacher Weise gibt. 242 c) Gesättigte Phänomene. Was anschauungsarme und allgemeingesetzliche Phänomene nur in defizitärer Form bieten, bzw. was bei ihnen traditionellerweise der se définir selon la variation qu’ils apportent en propre à la donation, non point par référence aux phénomènes pauvres.« (ED 311). Doch steht auch ihre intuitive Kraft auf derselben Ebene wie die »phénomènes pauvres«: »la déficience de l’intuition assure au concept de maîtriser l’ensemble du procès de la manifestation, donc […] d’atteindre un degré de certitude comparable (au moins tangentiellement) à celui des phénomènes pauvres.« (Ebd.). Insofern an der Anschauung der Grad phänomenaler Gebung abzulesen ist, kommen die Kategorien a) und b) also miteinander überein. 240 Insbesondere lässt sich die Haltung gegenüber diesen Phänomenen auf die Kantische Gegenstandstandskonstitution zurückführen: Vgl. »Es sind aber zwei Bedingungen, unter denen allein die Erkenntnis eines Gegenstandes möglich ist, erstlich Anschauung, dadurch derselbe, aber nur als Erscheinung gegeben wird; zweitens Begriff, dadurch ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht.« (Kant, I. Kritik der reinen Vernunft, 131). 241 So arbeitet die industrielle Produktion in den Augen Marions stets auf Kosten ursprünglich rein in ihrer Anschaulichkeit sich gebender Phänomene: »L’objectivation du phénomène demande elle-même la restriction du donné intuitif à ce qui confirme (ou plutôt n’infirme pas) le concept.« (ED 312). Zu der hier nur angedeuteten Technikkritik Marions ausführlicher: Vgl. Marion, J.-L La banalité de la saturation, 154 f. 242 Vgl. »en principe, ce remplissement peut devenir adéquat (intuition égalant l’intention); pourtant, de prime abord et la plupart du temps, il reste inadéquat et l’intention comme son concept restent partiellement non confirmés par l’intuition, non parfaitement donnés.« (ED 311). Dass sich die Welt technischer Gegenstände letztlich gibt, stellt Marion in DS am Beispiel des Vorlesungssaales dar: »Même cette salle apparaît, en effet, sur le mode de l’événement.« (DS 37). In einer wohl vom Wachsbeispiel aus den Descarteschen Meditationen inspirierten Abhandlung zeigt Marion ferner, dass ein simpler Gegenstand, wie seine Tabakdose, als dreidimensionales Objekt der Technik, immer erst

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Intentionalität zum Opfer fiel, stellt sich bei einem gesättigten Phänomen exemplarisch ein: Das reine Sich-Geben von Anschauung. Marion subsumiert unter diese Kategorie Phänomenarten wie das historische Ereignis, das Idol bzw. Kunstwerk, der eigene Leib und die Ikone bzw. der Blick des anderen Menschen. 243 Ein gesättigtes Phänomen gibt seine Anschauung mit einer solchen Wucht, dass auf Anhieb jeder Zugriffsversuch seitens der Intentionalität aporetisch wäre. Denn in gesättigten Phänomenen drängt sich die Anschauung restlos als eine Sich-Gebende auf, die kein intentionaler Zugriff konstituieren könnte und die allein einer völlig hingegebenen Intentionalität offen steht: »Ainsi se montre-t-il [sc. le phénomène saturé / T. A.] bien parce qu’il se donne d’abord – par anticipation sur toute visée, libre de tout concept, selon un arrivage qui en délivre le soi.« 244 Ein gesättigtes Phänomen appelliert und gibt sich unablässig dem Bewusstsein. Es lässt sich auf keinen Begriff reduzieren, sondern in ihm entfaltet die Anschauung eine irreduzible Eigendynamik: ein Sich-Geben. Das Bewusstsein ist völlig an das gesättigte Phänomen hingegeben und das gesättigte Phänomen gibt sich ganz als es selbst. Über das anschauungsarme und allgemeingesetzliche Phänomen hinaus verdeutlicht das gesättigte Phänomen in besonderer Weise, dass Anschauungen eigene Kräfte in sich bergen können und hinter jeder Anschauung noch eine Gebung steht. Gesättigte Phänomene bezeichnen indes nicht nur eine Phänomenklasse unter anderen. Vielmehr äußert sich ja in ihnen unübertroffen, dass sich die Phänomene geben. 245 So macht Marion deutlich, kraft einer unsichtbaren Seite konstituiert wird (Ebd., 125). Demnach kommen auch technische Objekte immer von der »donation« her. 243 Andere Beispiele (der spezifische Duft von Parfum, aber auch die Phänomenalität von Tod und Geburt) werden vorgelegt in DS 46 f., 49 f., Marion, J.-L. La banalité de la saturation,157 ff. Die jüngste Abhandlung Marions »Le phénomène érotique« entwickelt Verhältnismäßigkeiten und Bedeutung eines gesättigten Phänomens (der Leib) bei der körperlichen Liebe. Zu Beginn betont Marion programmatisch den phänomenologischen Ort von Liebe im Unterschied zu »allgemeingesetzlichen Phänomenen«: »Entre ce phénomène saturé (ma chair) et les phénomènes pauvres de l’objectité, il se creuse une césure défintive.« (Marion, J.-L. Le phénomène érotique. Six méditations, 29. vgl. 72). 244 ED 315. 245 Zwar wird man das gesättigte Phänomen auch als ein »phénomène par excellence« bestimmen dürfen. Im Unterschied zu den vorangegangenen Konzeptionen ist jedoch zu betonen, dass sich das gesättigte Phänomen nur dort entfalten kann, wo sich die Intentionalität restlos hingegeben hat. Aus diesem Grund müsste man es als ein paradoxes »phénomène par excellence« bestimmen.

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dass das gesättigte Phänomen für alle Phänomene, näherhin für das anschauungsarme oder das ›allgemeingesetzliche‹ Phänomen paradigmatisch ist. Im gesättigten Phänomen wird wie an keinem anderen Ort anschaulich, worauf die bisherigen Phänomentypen nur in schwacher Form verwiesen haben: dass sich nämlich die Phänomenwelt primär und universal gibt. »Toute notre entreprise tend au contraire à penser le phénomène de droit commun et à travers lui, le phénomène pauvre à partir du paradigme du phénomène saturé, dont ils n’offrent l’un et l’autre que des variantes affaiblies et dont ils dérivent par exténuations progressives.« 246 Weil deshalb das gesättigte Phänomen wie kein anderes die Gebung der Phänomenwelt veranschaulicht, scheint es durch alle Phänomentypen von schwacher Anschauungsgabe hindurch. Umgekehrt sind diese auf gesättigte Phänomene hingeordnet, da sich ja die Phänomenwelt in einem universalen Sinne gibt, was aber paradigmatisch am gesättigten Phänomen aufscheint. 247 Das gesättigte Phänomen kommt also in den anschauungsarmen und ›allgemeingesetzlichen‹ Phänomenen durch die hier bestehende schwache Anschauungsgebung verweishaft zum Vorschein.248 Es ist demnach als die Gedankenfigur zu bezeichnen, in der sich die Marionsche Phänomenologie des Sich-Gebens zusammenfasst und in der sie sich von allen bisherigen Phänomenkonzeptionen unterscheiden will. Denn das gesättigte Phänomen bestimmt sich als Anschauungstyp, dessen Sich-Geben so überwältigend ist, dass er nur bei konsequent hingegebener Intentionalität zu denken ist. Während sich aber geometrische Figuren oder technisch hergestellte Produkte nur geringfügig bzw. schwach geben, äußert sich in gesättigten Phänomenen die ganze Potentialität phänomenalen Sich-Gebens. 249 Deshalb stellt sich in ihnen der Primat und die Ursprünglichkeit von »donation« unübertroffen dar. ED 316. Vgl. »Le phénomène saturé établit à la fin la vérité de toute phénoménalité, parce qu’il marque, plus que tout autre phénomènes la donation dont il provient.« (Ebd., 317), »the saturated phenomenon concerns phenomenality itself, a phenomenality that is very close to revelation. Like revelation, the saturated phenomenon is not a phenomenon ›of something‹ but it contains the appearance of phenomenality itself.« (Welten, R. Saturation and Disappointement, Marion according to Husserl, 82). 248 Vgl. »Certes, tous les phénomènes ne relèvent pas du phénomène saturé, mais tous les phénomènes saturés accomplissent l’unique paradigme de la phénoménalité« (ED 316). 249 Man wird wohl nicht falsch liegen, wenn man diese Gliederung als »Stufen des 246 247

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d) Das Offenbarungsphänomen. Marion entwickelt weiter die christliche Offenbarung als phänomenologische Möglichkeit. Das Offenbarungsphänomen zeichnet sich dadurch aus, dass es die Sättigung im Maximalmodus bietet. Einmal wird man es als die höchste Form phänomenaler Sättigung bestimmen dürfen, weil in der Offenbarung alle vier gesättigten Phänomene (Ereignis, Idol, Leib, Ikone) in kondensierter Weise akut sind. Zwischen den »gesättigten Phänomenen« und dem »Offenbarungsphänomen« liegt bereits von dort her ein qualitativer Sprung. 250 Wenn Marion aber von der Offenbarung als einer »saturation des saturations« spricht, ist die christliche Offenbarung darüber hinaus als ein Phänomenbereich verstanden, in dem sich die sich gebende Anschauung als Anschauung hingibt. Appelliert nämlich im gesättigten Phänomen die sich gebende Anschauung unendlich an das Bewusstsein, so entäußert sich in der Offenbarung das Phänomen auch noch aller Anschaulichkeit und bietet eine »donation pure«. Schließlich zeichnet sich das Offenbarungsphänomen dadurch aus, dass die hier manifeste »donation pure« vom Blick eines anderen Menschen (Christus) ausgeht. Die Offenbarung ist damit der phänomenologisch einzige Fall, in dem alle gesättigten Phänomene in einem Blick (Ikone) koinzidieren, der jede anschauliche Gestalt hingegeben hat. 251 Sie macht in hervorstechender und paradigmatischer Weise deutlich, dass hinter der Anschauung noch die unanschauliche Gebung des Wirklichen steht. 252 Denn im Falle von Offenbarung entäußert sich die Anschaulichkeit ihrer selbst, indem sich ein Blick ganz hingibt. Wie die gesättigten Phänomene und das die Offenbarung von ihrer spezifischen Gebensstruktur auszulegen sind, ist im Folgenden zu besprechen. Staunens« bestimmt, bei denen sich die Provokation, die Ereignishaftigkeit und der Hingabecharakter von Seiten des Subjektes sukzessive steigert. 250 1992 brachte Marion das Offenbarungsphänomen noch in eine Reihe mit den gesättigten Phänomenen. Vgl. Marion, J.-L. Le phénomène saturé, 79–128. Von dem in ED entwickelten Standpunkt aus trifft allerdings die einfache Identität von Gott und dem gesättigten Phänomen nicht zu. Zu einem anderen Befund kommt J. Smith: »In short, if one has the faith to believe it, the saturated phenomenon is God, the ›being-given par excellence‹ …« (Smith, J. K. A. Respect and Donation: A critique of Marions Critique of Husserl, 528 f.). 251 Marion verzichtet weitgehend darauf, das Offenbarungsphänomen noch als besonderen Fall von Ikonizität zu präzisieren. Im Hintergrund dürfte nicht nur das Bemühen stehen, eine eilfertige Synopsis mit seinem »Frühwerk« zu vermeiden. Mehr noch gilt es Offenbarung allein aus der Gebungsphänomenalität heraus zu erschließen. 252 Vgl. Kap. 5.1.2.

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5.4.4. Vier Beispiele für gesättigte Phänomene Die Theorie des gesättigten Phänomens, die bislang rein formal und in Abgrenzung zu traditionellen Phänomenbegriffen entwickelt wurde, erweitert das Spektrum phänomenologischer Beschreibungsmöglichkeiten. Dies lässt sich an vier verschiedenen Beispielen zeigen. Wie bereits erwähnt, entwirft Marion als gesättigte Phänomene das historische Ereignis, das Kunstwerk, den eigenen Leib und die Ikone, die jeweils auf ihre Weise eine der Kantischen Verstandeskategorien ›sättigen‹ bzw. übersteigen. Zunächst sind hierzu vier Bemerkungen zu machen: Erstens wurde mit der skizzierten »Theorie des gesättigten Phänomens« bislang nur eine formale Kategorie bereitgestellt. Doch sollen nach Auffassung Marions mit deren Hilfe bestimmte Phänomene in neuer Weise beschreibungsfähig werden. Und genau um den Erweis dieser neuartigen Beschreibungsfähigkeit geht es Marion, wenn seine »Phänomenologie der Gebung« in der Innovation des gesättigten Phänomens kulminiert. Da nämlich die Phänomenologie unter dem paradoxen Horizont der »donation« zu ihrer wahren Bestimmung findet, wären nach Ansicht Marions erst jetzt die Möglichkeiten phänomenologischer Beschreibbarkeit ganz auszuschöpfen. 253 Deshalb ist nun nach dem konkreten Auftreten gesättigter Phänomene zu fragen, weil diese sich ja von ihrem bedingungslosen Sich-Geben her definieren. 254 Zweitens: In den im Folgenden zu beschreibenden Beispielen gesättigter Phänomene löst sich nicht einfach der phänomenologische Vorrang der »donation« ein, so dass deren Ursprungscharakter auf einzelne gesättigte Phänomene zu übertragen wäre. Vielmehr sind die vier gesättigten Phänomene von der je ursprünglicheren »donation« her und als herausragende Orte, 253 Vgl. »toute notre entreprise s’applique en effet à libérer la possibilité dans la phénoménalité, à délier le phénomène des équivalences supposées qui en bornent le déploiement …« (ED 326). Vgl. »Il devient alors possible d’aborder […] les phénomès saturés …« (Ebd., 314, Hervorh. / T. A.), »Une figure possible de la phénoménalité …« (Ebd., 326). In dem Vorhaben, die phänomenologischen Möglichkeiten auszuschöpfen, nimmt Marion ein Motiv Heideggers auf: Vgl. »Die Erläuterungen des Vorbegriffes der Phänomenologie zeigen an, dass ihr Wesentliches nicht darin liegt, als philosophische »Richtung« wirklich zu sein. Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit. Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit.« (Heidegger, M. Sein und Zeit, 38). 254 Vgl. »Quels phénomènes gardent en eux la trace de leur donation, au point que leur mode de phénoménalisation non seulement ouvrirait un tel accès à leur soi originaire, mais le rendrait incontestable.« (DS 36 f.).

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an denen sich diese anschaulich manifestiert, zu lesen. Die vier gesättigten Phänomene sollen ja vor allem verdeutlichen, welche neuartigen Denkmöglichkeiten sich in der »Phänomenologie der Gebung« eröffnen. Entsprechend entwirft Marion die folgenden Phänomenbereiche lediglich als Beispiele gesättigter Phänomene 255, die alle gleichermaßen das zuvor gegen Kant entwickelte irreduzible SichGeben der Anschauung verdeutlichen. 256 Drittens behauptet Marion, dass jedes der folgenden gesättigten Phänomene von einem französischen Philosophen ›ante litteram‹ entwickelt wurde. Konkret: Marion will das Denken von Ricœur, Derrida, Henry und Lévinas in seine Konzeption integrieren. Dabei behauptet er, dass diese Denker gesättigte Phänomene problematisiert hätten, ohne gleichsam davon zu wissen: das historische Ereignis (Ricœur), das Kunstwerk (Derrida), den eigenen Leib (Henry) und den anderen Menschen (Lévinas). Bei dieser Relecture setzt Marion jedoch einen völlig neuartigen Akzent auf diese Phänomenbereiche. Denn durch seine Sättigungstheorie werden Phänomene in einem positiven Sinn beschreibungsfähig, die zumindest bei Derrida, Henry und Lévinas einer rein negativphänomenologischen Behandlung anheim fielen. Von der »différance«, dem »Leib«, dem »anderen Menschen« als »Un-phänomene« 255 Dass es sich hier nur um Beispiele handeln kann, hat Marion in seinem jüngsten Aufsatz »La banalité de la saturation« deutlich gemacht. Dort zählt Marion noch andere gesättigte Phänomene auf, die sich aber nicht in das Raster aus ED integrieren lassen. Dies könnte zu Recht einige Verwirrung auslösen, weil die hier dargestellten Fälle von Sättigung nicht wie in ED systematisch in Abgrenzung zu den Kantischen Kategorien gedacht werden. 256 An dieser Stelle wäre auf ein weiteres befremdliches Moment in der Marionschen Konzeption hinzuweisen. Einerseits betont Marion, dass es unter den gesättigten Phänomenen keine Hierarchie gibt: »Nous distinguerons donc, sans aucune hiérarchie, quatre types de phénomès saturés …« (ED 317). Andererseits sieht er im gesättigten Phänomen der Ikone die Grundzüge der anderen Phänomentypen repräsentiert: »L’icône offre enfin une caracteristique surprenante (ou plutôt attendue): elle rassemble en elle les caractères particuliers des trois récédents types de phénomène saturé.« (Ebd., 324). Bei genauerem Zusehen ist diese Präferenz der Ikone für die Konzeption des Offenbarungsphänomens, das sich von den gesättigten Phänomenen qualitativ unterscheiden soll, von Bedeutung. Zwar beteuert Marion auch hier am Anfang die Egalität aller gesättigten Phänomene: »Le phénomène de révélation […] se définit donc comme un phénomène concentrant en soi seul les quatres acceptions du phénomène saturé …« (Ebd., 328). Doch wird der qualitative Sprung zwischen gesättigten Phänomenen und dem Offenbarungsphänomen damit erklärt, dass alle gesättigten Phänomene mit der Ikone übereinkommen: »Nous retrouvons donc bien, dans la figure du Christ, non seulement les quatres types du paradoxe, mais le redoublement de la saturation qui définit le dernier d’entre eux. [sc. L’icône, T. A. ].« (Ebd., 335).

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soll der Weg gebahnt werden zur »différance«, dem »Leib«, dem »anderen Menschen« etc. als gesättigte Phänomene, deren Anschaulichkeit sich bedingungslos gibt und an die das Bewusstsein restlos hingegeben ist. 257 Über die vier Beispiele gesättigter Phänomene nimmt Marion die phänomenologischen Beiträge dieser Philosophen von ihrer ursprünglichen Gebestruktur her in den Blick und entreißt sie weitestgehend ihrer ehemals negativen Konfiguration. 258 Viertens: In Anbetracht der hier virulenten Sättigung, bei der sich die Anschauung ganz und irreduzibel gibt, konkretisieren sich in diesen Beispielen die unter 7.2. und 7.3. dargelegten Formalfiguren des sich gebenden Phänomens und der hingegebenen Subjektivität. Im Klartext: Weil sich in gesättigten Phänomenen die Ursprünglichkeit von »donation« unübertroffen darstellt, lassen sich an ihnen die oben entwickelten Formalfiguren der Gebungsphänomenologie auf bevorzugte Art und Weise konkretisieren. 259 Das bedeutet einerseits, dass sich 257 Vgl. Erstens: Lévinas. »Das Gesicht ist gerade das Ausbleiben der Phänomenalität. Nicht weil es für das Erscheinen zu roh oder zu heftig wäre, sondern weil es in einem bestimmten Sinne zu schwach ist, Nicht-Phänomen, weil ›weniger‹ als das Phänomen.« (Lévinas, E. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 199). Zweitens: Derrida. »Eine Phänomenologie der Schrift ist ebenso unmöglich wie eine Phänomenologie des Zeichens im allgemeinen. Keine Intuition kann sie dort vollenden, wo tatsächlich ›die Zwischenräume‹ zum Wichtigsten werden.« (Derrida, J. Grammatologie, 119). Drittens: Henry. Nach Auffassung Henrys steht hinter den Phänomenen eine »ontologische Dunkelheit« der zurückgezogenen Ipseität der sich selbst erfahrenden Affektivität. (Vgl. Kühn, R. Leiblichkeit als Lebendigkeit. Michel Henrys Lebensphänomenologie absoluter Subjektivität als Affektivität, 226). 258 Diese Rückbindung herausragender Phänomene an die »donation« bzw. »die Theorie des gesättigten Phänomens« hat überraschend wenig Kritik ausgelöst. Es finden sich nur sporadisch Kommentare aus dem Schülerkreis der hier in einen eigenständigen Phänomenologieentwurf ›integrierten‹ Denker. So fürchtet R. Kühn einen Rückfall des Marionschen Denkens in die Metaphysik, weil die von Henry herausgestellte Affektivität des Leibes in Marions formaler Sättigungstheorie keine Ursprünglichkeitsbedeutung mehr hat: »Mangel, Ohnmacht, Geblendetheit etc. können allerdings nur im Leben und – durch es – als Affektionen empfunden werden. Wenn Jean-Luc Marion diesen letzten Schritt beim absolut-gesättigten Phänomen zur Lebensrealität hin nicht durchführt, dann ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, dass er selbst einer Metaphysik verhaftet bleibt, die die letzte Möglichkeit der Urphänomenalisierung noch nicht ausschöpft.« (Kühn, R. »Sättigung« als absolutes Phänomen, 343, vgl. Das reine Sich-Geben als lebendig-leibliche Urphänomenalisierung, in: ders. Zur Phänomenalität des »Es gibt« als reines Sichgeben, 225 ff.). Im Anschluss an Ricœur weist J. Greisch auf die Notwendigkeit einer hermeneutisch-narrativen Vermittlung des historischen Ereignisses hin: Vgl. Greisch, J. Index sui non dati, Les paradoxes d’une phénoménologie de la donation, 40. 259 Vgl. Kühn, R. Mehr Reduktion – Mehr Gebung. Zur Diskussion eines phänomenologischen Prinzips bei J.-L. Marion, 110.

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in allen Fällen die gesättigten Phänomene rein und ausschließlich in ihrem individuellen Sich-Geben entfalten, um authentisch anzukommen. In gesättigten Phänomenen stellt sich deshalb das Phänomen in seiner genuinen Anamorphose, seiner berührungshaften Kontingenz, seinem individuellen »arrivage« etc. dar. Andererseits sind gesättigte Phänomen nur dadurch denkbar, dass die Subjektivität als eine restlos hingegebene bestimmt ist. Das Bewusstsein, welches gesättigte Phänomene gewahrt, ist diesen völlig ausgesetzt und hingegeben. Es kann sich gegenüber ihrem irreduziblen Sich-Geben nicht in eine objektivistische Haltung retten. Gesättigte Phänomene bleiben vielmehr vor ihrem radikalen Empfangenwerden anonym. Gibt sich das Bewusstsein dem gesättigten Phänomen ganz hin, dann erhält es ferner als »répons« ein individuelles Antlitz. 260 a) Das geschichtliche »Ereignis«: Quantitative Sättigung durch Unvorhersehbarkeit Eine phänomenale Sättigung kann durch ein geschichtliches Ereignis ausgelöst werden. Darunter ist jedoch kein beliebiges Geschehen zu verstehen, sondern ein »événement porté à son excellence« 261 . Genauer: Wenn sich die Bedeutung eines Geschehens der Geschichte nicht auf Einzeldaten reduzieren bzw. nicht von seinen analytisch zu erhebenden Ursachen her erklären und voraussehen lässt, dann ist es als gesättigtes Phänomen zu bestimmen. 262 Marion verdeutlicht dies am Beispiel der Schlacht von Waterloo und ihren literarisch-historiographischen Reaktionen darauf. Die Phänomenalität eines solchen Ereignisses übersteigt unendlich jede historische Kausalkette. Seine Bedeutung wäre folglich nicht angemessen verstanden, wenn man aus ihm Zeit, Ort und die daran beteiligten Personen in ihren Motivationen etc. isolieren und zur Deutung synthetisieren würde. Ein geschichtlicher Vorgang, der die Tragweite eines gesättigten Phäno260 Bislang scheint Marion die Formalfiguren des sich gebenden Phänomens (Kap. 5.2 / 5.3.) und der sich hingebenden Subjektivität nur unsystematisch angewandt zu haben. (Vgl. z.B: »En tous les cas, le temps [de la réduction érotique / T. A.] se déploie essentiellement sur le mode d’un événement, comme l’arrivage imprévisible d’un ailleurs …« (Marion, J.-L. Le phénomène érotique. Six méditations, 63, vgl. a. 44, DS 44 ff. etc.). Die konsequente Umlegung der Formalfiguren auf die gesättigten Phänomene bildet deshalb eine bemerkenswerte Lücke im Marionschen Ansatz und wäre als ein dringliches Desiderat künftiger Arbeiten zu bezeichnen. 261 ED 318. 262 In diesem Zusammenhang hebt Marion auf den Unterschied zwischen »Geschichte« und »Historie« ab (Vgl. ebd., 318 f.).

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mens annimmt, löst vielmehr einen Schock aus und besteht in seinem reinen Sich-Selbst-Geben. Dem »adonné« bleibt nur noch, über diese »donation« zu staunen. So bemerkt Marion zur »Schlacht von Waterloo«: »La bataille passe et se passe toute seule, sans que personne ne la fasse à proprement parler, ni ne la décide.« 263 Aufgrund ihres unableitbaren Sich-Gebens von Anschauung (im weitesten Sinne) ist für die Sättigung durch ein Ereignis der Geschichte eine unendliche Vielfalt von Deutungsversuchen charakteristisch. 264 Ein geschichtliches Ereignis ›mit Sättigungsformat‹ löst deshalb eine unendliche Hermeneutik aus. 265 Die dabei angelegten Deutungen geben jeweils mehr Auskunft über das persönliche Erleben des Berichtenden als über die erhebbaren historischen Fakten selbst. 266 Ferner finden sie ihren Ausdruck in einer endlosen Narrationskette, die ihrerseits ›Geschichte schreibt‹. Die in einem Narrationsakt geäußerte Position könnte ferner selbst zu einem Faktum der Geschichte werden. Wegen der hier bestehenden Aporie, die Bedeutung eines geschichtlichen Vorganges nicht auf seine historischen Bestandteile zurückführen zu können, sättigt das geschichtliche Ereignis in quantitativer Hinsicht. Denn anders als in Kantischer Kategorientheorie ist ihm jede Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit genommen. In besonderer Weise hat nach Marion P. Ricœur in »Temps et recit« diese Gestalt des gesättigten Phänomens entwickelt. 267 Marion bindet damit den von Ricœur angewandten Ereignisbegriff an die ursprüngliche »donation« der Phänomenwelt zurück. 268 Ebd., 318. Vgl. DS 43. 265 Die »Schlacht von Waterloo« brachte entsprechend eine Vielzahl von Deutungsmustern im literarischen Leben des 19. Jahrhunderts hervor. Für Marion dokumentiert sich darin der Appell- und Gabecharakter eines historischen Ereignisses, in dem das Bewusstsein von einer genuinen Selbst-Gebung berührt wird und kein abschließendes Urteil über einen solchen Vorgang möglich ist. 266 So wird durch die Gebung des Ereignisses der »adonné« in seiner »répons«-haften Zeugenschaft und als Individuum sichtbar. 267 Vgl. v. a. Ricœur, P. Zeit und Erzählung, Bd. 3. 268 In DS vertritt Marion die Ansicht, die Ereignishaftigkeit beziehe sich nicht nur auf geschichtliche Vorgänge, sondern auf die Phänomenalität im Allgemeinen. (Vgl. Marion, J.-L. L’événement ou le phénomène advenant, in: DS 35–63, zuvor abgedruckt als: Marion, J.-L. L’événement, le phénomène et le révélé, 4–25). Zu diesem weiten Ereignisbegriff gehört der Saal, in dem aktuell ein Vorlesung stattfindet. Denn dieser dient hier als Inszenierungsfläche eines sich völlig selbst gebenden und unwiederholbaren Ereignisses (der Vorlesung), um deren Ausgang niemand weiß und das sich nicht konstituieren lässt (Vgl. DS 37 ff.). Marion markiert hier zum ersten Mal die Übergängig263 264

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b) Das Idol / Kunstwerk 269 : Qualitative Sättigung durch Unerträglichkeit Eine phänomenale Sättigung wird im Gemälde bzw. im Kunstwerk allgemein möglich, weil dieses eine Anschaulichkeit bzw. Sichtbarkeit bedeutet, die sich gibt. Marion bestimmt an dieser Stelle das Gemälde als idolische Sättigung, weil in ihm Sichtbarkeit in Reinform gegeben wird. Das Gemälde, Idol, Kunstwerk entfaltet seine genuine Bedeutung in einem irreduziblen Sich-Geben. Im Vergleich zum Frühwerk Marions ist auf die damit einhergehende Neubewertung des Idolphänomens hinzuweisen. Zunächst kommt es diesbezüglich zu einem Konflikt zwischen »Idol« und der bislang entwickelten »Theorie des gesättigten Phänomens«, in der ja auf dem »reinen Sich-Geben der Anschauung« abgehoben wurde. Weil nämlich das Gemälde bzw. Idol kraft seiner intrinsischen Anschaulichkeit einen Blendeeffekt darbietet, scheint es zuerst so, als würde diese Phänomenart jede unsichtbare Gebung geradezu ausschließen: »L’idole accomplit la réduction phénoménologique du donné visible au vu pur. Elle reconduit ce donné à la surface sans retrait, sans vide ni profondeur.« 270 Doch erweist sich bei näherem Zusehen das Gemälde als abkünftig von der in seinem Hintergrund stehenden, unsichtbaren Gebung, die die Radikalität seiner Anschaulichkeit erst begründet. 271 Denn mit Marion ist von der tieferen Einsicht auszugehen, dass das Gemälde bzw. Idol dem ›natürlichen Blick auf Welt‹ keit zwischen den »phénomènes saturés« und »phénomès de droit commun«. Denn ein Saal kommt in allgemeingesetzlicher Sicht als Gegenstand in Betracht. Weiter sind nach DS Tod und Geburt als völlig sich selbst gebende und darum gesättigte Phänomene im Sinne des Ereignisses zu beschreiben (Vgl. DS 46 ff., 49 ff.): »Le phénomène de la naissance exemplifie le phénomène en général […] mais, du même coup, il institue l’adonné, originairement a posteriori puisque se recevant de ce qu’il reçoit, le premier phénomène (rendant possible la récéption de tous les autres.« (DS 51). Angesichts der Phänomenalität von Offenbarung, die auch als Ereignis der Geschichte verstanden wird, bleibt jedoch zu fragen, ob diese Interpretation in DS nicht eher neue Unklarheiten schafft. 269 Vgl. »L’occurence privilégiée de l’idole reste à l’évidence le tableau […] pour ne pas dire trop génériquement l’œuvre d’art.« (ED 320). In Ergänzung dazu ist von Maas das gesättigte Phänomens auch auf die Musik angewandt worden: Vgl. Maas, Sander van On preffering Mozart, 97–110. 270 DS 90. Im Frühwerk brachte Marion diese Einsicht mit dem Gedanken des »unsichtbaren Spiegels« zum Ausdruck. (Vgl. Kap. 2.3.). 271 Vgl. »Ce que masque l’idole« (DS 90). Darin liegt die Übergängigkeit zwischen Idol und Ikone, die Marion seit 1991 zunehmend vertritt und hier (v. a. ED 338) explizit macht. Im Unterschied zu den Ausführungen des Frühwerkes (Vgl. Kap. 2.3.) haben Idol und Ikone nach ED gemeinsame Züge, genauer: die Ikone radikalisiert das Idol. Vgl. »Comme l’idole, elle [l’icône/ T. A.] réclame d’être vue et revue, quoique sur le mode de l’endurance inconditionné; elle exerce donc comme elle (mais sur un mode plus radical) une individuation sur le regard qui l’affronte.« (ED 325, Hervorh. / T. A.).

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neue Sichtbarkeit hinzufügt. Um diese Dimension aber zu würdigen, ist der Rekurs auf Unsichtbarkeit, von der her sich die Sichtbarkeit der Kunst gibt, unabdingbar. Das unsichtbare Sich-Geben bewirkt, dass die im Gemälde manifeste Sichtbarkeit als je neue und unerwartete ankommt. Das Gemälde / Idol ist als reines Sich-Geben von Sichtbarkeit zu bestimmen und erfüllt deshalb die Bedeutung eines gesättigten Phänomens. 272 Angesichts eines Kunstwerkes / Idols kommt der Blick vor ein Phänomen, dessen Anschaulichkeit sich irreduzibel gibt. 273 Oder: Seine Anschauungsart wird ganz von einem reinem Sich-Geben her fassbar.

Weil das Gemälde / Idol nur von seinem Sich-Geben her angemessen verstanden ist, ist es für den Blick ›unerträglich‹. Diese ›Unerträglichkeit‹ des Idols bzw. von Kunst ist so zu verstehen: Soll die Bedeutung des Gemäldes als Gemälde beim Rezipienten ankommen, dann weiß dieser sich von einem Anruf- und Gebungsgeschehen (»convocation«) angegangen. 274 Das Gemälde möchte dabei als ein Selbst, das sich gibt, entgegengenommen werden. 275 Seine Bedeutung erschöpft sich nicht durch einen einzigen, identifizierenden Blick. Vielmehr stellt es an den Rezipienten Forderungen und ruft ihn dazu auf, seine Position stets zu verändern, um einen neuen Aspekt seiner Selbstgebung entgegenzunehmen. Die Bedeutung eines Gemäldes kommt nur an, wo sich der Rezipient unter die Pflicht stellt, seinen Blick je neu der Gebung von Sichtbarkeit hinzugeben. »Cet arrivage, dont 272 Der Unterschied zum Frühwerk und dessen Polarität »Idol / Ikone« leuchtet nun auf: Wurde dort das Idol lediglich als »unsichtbarer Spiegel« (Vgl. z. B. DsE 21) bestimmt bzw. der Ausbruch aus der Idolatrie nur über die inchoative Offenbarung Jesu Christi denkbar, so bricht nun im Idol selber die Erfahrung durch, dass dieses dem »invu« entstammt. Im Tiefengrund des Idols nimmt der »adonné« angesichts des Kunstwerkes die unsichtbare Gebung seiner Sichtbarkeit wahr. So liegt hier eine neuartige Argumentationslinie vor. Erst macht Marion klar: »dans le tableau, il ne reste que du visible entièrement présenté, sans plus promettre rien d’autre à voir que ce qui s’offre déjà« (DS 76). Dann aber wird die Abkünftigkeit des Idols aus einer ikonischen Struktur behauptet: »Le tableau consigne en idole un invu nouveau venu dans le visible …« (DS 84). In DS zeichnet Marion diese neue Verhältnismäßigkeiten anhand der Kunstentwicklung M. Rothkos nach. 273 Dem entspricht, dass Marion das Gemälde zu Beginn nicht nur aus der Husserlschen Gegenständlichkeit, sondern auch aus seiner Vereinnahmung als Seiendes befreien will: Vgl. »Le tableau n’est pas un étant, pas plus qu’il n’appartient aux objets et usuels.« (ED 72). 274 Vgl. ebd., 321. 275 Von dort her überschneiden sich Ethik und Ästhetik, was Marion am Vergleich zwischen Rothko und Lévinas deutlich macht, die beide um die Unzulänglichkeit eines rein auf Sichtbarkeit reduzierten Verständnisses von Kunst wissen: »… il [sc. Rothko] marque sans ambiguïté ce que masque l’idole – la face, le visage, autrui en son épiphanie –; picturalement il confirme ce que Lévinas établit en phénoménologie.« (DS 95).

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l’intuition sature tout concept possible, le tableau l’atteste en convoquant non seulement à venir le voir, mais surtout à venir le revoir.« 276 Ausgehend von diesem Anspruchscharakter versteht sich, dass die gesättigte Phänomenalität von Kunst eine Vielzahl von aufeinander irreduziblen Perspektiven und Verstehenszugängen freisetzt. Weil das Kunstwerk / Idol nur von seiner provokativen Blendung her, die sich irreduzibel gibt, angemessen verstanden ist, ist es als der Typ des gesättigten Phänomens zu bestimmen, der die Kantische Qualitätskategorie überwindet. Nach Marion vertritt die Philosophie J. Derridas diese Gestalt des gesättigten Phänomens, obwohl dieser »Anschauung« / »Intuition« im Namen der »différance« dekonstruieren will. Da die »différance« aber auch in der Hermeneutik von Kunst ein fruchtbares Prinzip bildet 277 , genauer: sich die »différance« auch im (anschaulichen) Kunstwerk erfahren lässt 278 , wäre hierin deren phänomenal positiver Ausdruck zu sehen. 279 c) Der Leib: ›Relationale Sättigung‹ durch Absolutheit Der Leib ist als ein Phänomen in den Blick zu nehmen, dessen Anschauung sich unvordenklich gibt bzw. sättigt. Während die Virulenz gesättigter Phänomene bislang am Denken Ricœurs und Derridas exempliziert wurde, entwickelt Marion den »Leib« als gesättigtes Phänomen in Auseinandersetzung mit der Philosophie M. Henrys. Im Anschluss an dessen »Phänomenologie des Leibes« versteht auch Marion den Leib als Selbst-Affektion. »Dans la chair, l’intérieur (le sentant) ne se dissipe plus de l’extérieur (le senti); ils se confondent

ED 320. Marion verweist hierbei auf Derridas Schrift »La vérité en peinture«. (Vgl. Derrida, J. Die Wahrheit in der Malerei, 1992). Leider hat Marion das Verhältnis zwischen dem gesättigten Phänomen von der Art des Idols und Derridas Kunsttheorie nur äußerst marginal entwickelt. 278 Mit Blick auf »La vérité en peinture« hat M. Kelly auf dieses Verhältnis von Kunstund Texthermeneutik im Zeichen der »différance« hingewiesen. Vgl. »What thus emerges as the foundation of Derridas argument about the van Gogh painting – and moreover, about art in general – is a combination of (a) the principle of undecidability of the meaning of art (and hence the interpretation thereof) because of art’s ›intrinsic obscurity‹ or ›essential crypt‹, and (b) the principle of indeterminacy …«, »Derridas applies these principles to philosophical texts as well.« (Kelly, M. Iconoclasm in Aethetics, 104, Anm. 6). 279 Im Ausgang dieser Verflechtung mit künstlerischer »Anschaulichkeit« wäre die »différance« als gesättigtes Phänomen zu bestimmen. 276 277

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dans un unique sentiment – se sentir sentant.« 280 Mit Henry geht Marion überdies in der Einsicht konform, dass jeder emotionalen Affektion von Außen das ursprüngliche Sich-Selbst-Fühlen des Leibes als Bedingungsmöglichkeit zugrunde liegt: »toute phénoménalisation du monde pour moi passe par ma chair.« 281 Doch wird nach Marion diese Selbstaffektion des Leibes selbst noch durch ihre ursprüngliche Gebung, an die das Subjekt hingegeben ist, vermittelt. 282 Vor jeder Intentionalität weiß sich infolgedessen das Bewusstsein an die Selbst-Affektion seines Leibes hingegeben. Das Subjekt nimmt in diesem Hingegebensein leibliche Gestalt an. Besser noch: Es »leibt«, aber indem es sich (hin-)gibt. 283 Die Phänomenalität meines Leibes übersteigt jeden Intentionalakt. Sie erschließt sich mir einzig aus ihrem unableitbaren SichSelbst-Geben, an das meine Intentionalität je schon und restlos hingegeben ist. Von dort her geben sich mir alle mit der Leiblichkeit verbundenen Erscheinungen unmittelbar und ›als sie selbst‹, mag es sich um Schmerzen 284 , eine tödliche Krankheit oder erotische Lust handeln: 285 »La chair s’auto-affecte ainsi dans l’agonie, la souffrance et la douleur, comme dans le désir, le sentir ou l’orgasme.« 286 Mit Blick auf die beschriebenen Formalfiguren kann man sagen, dass mich der Leib in seiner »Selbst-Affektion« vorlädt und sich mir Marion, J.-L. Le phénomène érotique. Six méditations, 65, vgl. DS 106. Ebd., 107. 282 Wenn Marion in DS die Phänomenalität des Leibes von der »Leibung« (»prise de chair«) in Abhängigkeit bringt, dann markiert er dadurch (v. a. gegen Henry) den Vorrang von »donation«. Vgl. »L’ego ne se fixe que quand il prend chair. Il ne prend que quand il prend chair – quand il prend dans et comme sa chair. Et d’emblée définitivement, car, dès que sa chair le prend, elle ne le lâche plus«. (Ebd., 110, vgl. ebd., 120). Dass diese Leibung als Hingegebensein zu deuten ist, bestätigt Marion am Schluss seiner Ausführungen: »Et, avec cette reconduction, il accomplit la dernière réduction possible – celle du phénomène au donné, ce qui, dans le cas du phénomène de l’ego, signifie la prise de chair de l’adonné.« (Ebd., 123). 283 »La prise de chair« wäre mit »Leibung« zu übersetzen. »Leibung« würde dabei auf den Vorgang zielen, bei dem das »Ich« seine Leiblichkeit ursprünglich übernimmt. Der Übersetzungsvorschlag Marions »Einverleibung« ruft dagegen falsche Konnotationen wach, vgl. Marion, J.-L. La prise de chair comme donation du soi. 284 Vgl. »Mais jamais je ne pourrai précéder l’intuition de remplissement de ma douleur de chair par une visée intentionelle sachant la prévoir, la choisir et l’organiser.« (DS 120). 285 In Marion jüngster Monographie »Le phénomène érotique« werden die Züge der Gebung am Beispiel der Liebe und erotischen Lust entwickelt. (Marion, J.-L. Le phénomène érotique. Six méditations). Es überrascht jedoch, dass Marion die Ausführungen hier nur selten mit seiner Theorie des gesättigten Phänomens in Beziehung setzt. 286 ED 322. 280 281

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in völliger Anonymität gibt. Tatsächlich lässt sich ja nicht voraussehen, was aus mir und meiner Leiblichkeit wird, weil ich ihm völlig hingegeben bin. Über die Gebung des Leibes, an den ich restlos hingegeben bin, erhalte ich ferner mein individuelles Antlitz: »En recevant ma chair, je me reçois moi-même – je suis ainsi adonné à elle.« 287 »L’individuation […] se fait donc […] par la prise de chair.« 288 d) Die Ikone / der andere Mensch: Modale Sättigung durch Unanschaulichkeit Ein Phänomen kann auch in einem ikonischen Sinne sättigen. Darunter ist der Blick zu verstehen, den ein anderer Mensch auf mich richtet. Bei seinen Ausführungen zur Ikone weist Marion auf das ethische Geschehen zwischen dem Selbst und dem Anderen hin, das von Lévinas entwickelt wurde. Demnach weiß sich das Bewusstsein durch das Antlitz des anderen Menschen radikal angegangen. Die Ikone, bzw. das mir begegnende Antlitz des Anderen, entfaltet ihre Bedeutung in einem irreduziblen Sich-Geben. Damit hat Lévinas zwar ein gesättigtes Phänomen beschrieben. Doch geht Marion nun an zwei Stellen über den Lévinasschen Ansatz dezidiert hinaus. Erstens ist nach seiner Auffassung die Phänomenalität des anderen Menschen dem Bewusstsein restlos gegeben und dieses an ihn restlos hingegeben: »Le regard qu’autrui pose et fait peser sur moi ne se donne donc pas à regarder, ni même à voir – ce regard invisible ne se donne qu’à endurer.« 289 Die phänomenale Bedeutung des anderen Menschen ist also allein von dessen unvordenklichem Sich-Geben her zu bestimmen. Der Phänomenalität des anderen Menschen liegt eine noch ursprünglichere Gebungsstruktur zugrunde. Zweitens denkt Marion das Geschehen zwischen dem Selbst und dem Anderen als eine bestimmte Art von Sättigung. Da sich der Sättigungsbegriff aber auf exzessive Formen von Anschauung bezieht, hat das Verhältnis zwischen dem Selbst und dem Anderen für Marion immer auch ästhetische Valenz. 290 So manifestiert sich im Blick des anderen MenDS 119. Ebd., 118, vgl. » il n’appartient même qu’à ma chair de m’individualiser …« (ED 323), »Dans la prise de chair, je suis donné sans retour à moi-même, selon un donné pur – donné à fond à moi-même pour y faire mon temps. « (DS 116). 289 ED 324. 290 Damit markiert Marion einen beachtlichen Gegenpol zu Lévinas. Denn dessen Philosophie des anderen Menschen distanziert sich weitestgehend vom Bereich der Kunst oder des Ästhetischen. Während das Geschehen zwischen dem Anderen und dem Selbst 287 288

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schen das gesättigte Phänomen vom Typ der Ikone. 291 Bei der Ikone handelt es sich um die phänomenale Situation, in der dem Bewusstsein ein fremder und individueller Blick gegeben wird, der nicht zu konstituieren ist, sondern durch welchen sich das Bewusstsein selbst angeschaut weiß. Dem Bewusstsein wird eine Anschauung, die durch keinen intentionalen Zugriff zu bewältigen ist und die deshalb restlos sättigt, gegeben. Das von Lévinas entwickelte Verantwortungsgeschehen ist im Sinne Marions als ikonische Sättigung auszulegen. Aufgrund der Rückbindung des intersubjektiven Geschehens an die »donation« ergeht nach Marion mit besonderer Dringlichkeit die ethische Forderung, für den anderen Menschen verantwortlich zu sein. Denn zum einen gilt das Bewusstsein als an diese sättigende Anschauung restlos hingegeben, noch bevor dieser irgendein satzhafter Imperativ zu entnehmen wäre. 292 Zum anderen wäre die bei Lévinas fast obsessive Konzentration auf den »Anderen« relativiert und eine verantwortliche Haltung gegenüber dem generellen und individuellen Sich-Geben des Wirklichen als ursprünglich entwickelt. 293 Denn: Anders als bei Lévinas, in dessen Philosophie das ethische Geschehen zwischen dem Selbst und dem Anderen ein phänomenologischer Sonderfall darstellt, bei dem das Selbst zur Verantwortung gerufen wird, ist das Subjekt im Sinne Marions je schon an das Sich-Geben der Wirklichkeit hingegeben. Dadurch realisiert es

Zeit eröffnet, bewegt sich die Phänomenalität von Kunst auf der Ebene der Anonymität des Seins. Vgl. Wohlmuth, J. Bild- und Kunstkritik bei Emmanuel Lévinas und die theologische Bilderfrage, 31 ff. 291 Vgl. »C’est pourquoi il [sc. le visage / T. A.] doit se définir non seulement comme l’autrui de l’éthique (Lévinas), mais plus radicalement comme l’icône qui impose son appel.« (DS 143), »Nous avons tenté pourtant d’avancer un pas de plus, en pensant le visage comme icône adressant un appel, bref comme m’envisageant.« (Ebd.). 292 Die provokativen Anfragen, die Marion an den Lévinasschen Ansatz richtet, sind deutlich. Marion stellt unverhohlen den in diesem als (vor-)ursprünglich gedeuteten Befehl des Anderen (etwa »Du wirst nicht töten!«) in eine Reihe zu gegensätzlichen Parolen wie »Werde Du selbst!« etc. Damit verweist er darauf, dass dem Anruf des Anderen eine Anrufstruktur zugrunde liegt, die als ›Sich-dem-Geben-Hingeben‹ zu bestimmen wäre. Vgl. »Befohlen wird die Verantwortung für den anderen Menschen, die Güte, durch die das Ich seiner unwiderstehlichen Rückkehr zu sich selbst entrissen wird …« (Lévinas, E. Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz, 264). Dagegen Marion: »Ces injonctions s’imposeraient aussi fortement sans doute. Elles ne le pourraient point si justement l’injonction n’adressait un appel à une instance qui peut les entendre.« (DS 142). 293 Während Lévinas den ethischen Anspruch des anderen Menschen als eine Geschehen von Ursprünglichkeit deutet, behauptet Marion mit Blick auf die Husserlsche Appräsentation, dass der Anspruch der Gebung des Wirklichen generell noch vor jedem intersubjektiven Akt steht. »L’apprésentation intervient donc dès la connaissance de l’objet, avant et indépendamment de l’accès à autrui.« (DS 126).

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aber in diesem Ursprungsbereich je schon eine verantwortungsvolle Haltung. 294 Doch profiliert sich innerhalb dessen die individuelle Selbstgebung des anderen Menschen als ikonische Sättigung, in der ich an den Blick des anderen Menschen hingegeben bin. Verglichen mit Lévinas würde, mehr noch, durch diese Einordnung der Ethik in das universale Sich-Geben von Wirklichkeit der andere Mensch in seiner Individualität verstanden. Wie nämlich zu sehen war 295, wird in der »Phänomenologie der Gebung« das Phänomen in seiner Individualität ganz neu gewürdigt. Dieser Aspekt kommt dann in der von der »Phänomenologie der Gebung« neu beschriebenen ethischen Situation zum Tragen, weil das Bewusstsein an die sich gebende Individualität des anderen Menschen hingegeben ist. 296

Angesichts einer ikonischen Sättigung weiß sich das Bewusstsein angeschaut. Der intentionale Blick wird hier restlos umgekehrt. Das wird an seinem Verhältnis zur Sichtbarkeit deutlich, worauf sich der intentionale Blick für gewöhnlich richtet. Die Bedeutung der Ikone, also des ›Angeschautwerdens‹, wäre nicht von ihrer Sichtbarkeit her zu verstehen. Genauer: Wollte man unter dem Wunsch nach Sichtbarkeit den Blick auf die Ikone gerichtet halten, dann würde man nur das unsichtbare Nichts einer leeren Pupille erreichen: »C’est-à-dire que nous fixons dans le visage le seul lieu, où précisément rien ne se peut voir.« 297 Die phänomenale Bedeutung der Ikone liegt aber darin, dass das Bewusstsein selbst Adressat einer Gebung ist. Die Ikone bietet von daher eine Anschauungsart, die im Letzten unanschaulich ist, weil sich Anschauung ganz (hin-)gibt. Würde umgekehrt das Bewusstsein versuchen, der Bedeutung dieses Blickes durch seinen eigenen, auf Sichtbarkeit sinnenden Blick zu ›widerstehen‹, dann wäre diese Phänomenalität degradiert. Denn die Bedeutung eines fremden Blickes kann sich nur dort entfalten, wo das Bewusstsein sich restlos 294 Vgl. Kap. 5.3.4. So spricht Kühn im Hinblick auf den Marionsche Ansatz zurecht von einem »Gleiten der Phänomenalitätsbeschreibung in den im weitesten Sinne ethischen Bereich«. (Vgl. Kühn, R. »Sättigung« als absolutes Phänomen, 343). 295 Vgl. Kap. 5.2.5. 296 Wie »Individuation« und »Individualität« in einer Ethik zu denken seien, stellt eine das Denken Marions seit dem Frühwerk beherrschende Fragestellung dar. Vgl. PC 113 ff. Durch die Bestimmung der Phänomenwelt von ihrem individuellen Sich-Geben her eröffnet sich nun auch der Horizont, Individualität in der Ethik zu denken. Denn in der ikonischen Sättigung wird dem Bewusstsein ein individueller Blick gegeben, der durch keinen Begriff (wie der Andere etc.), aufzuheben ist. Vgl. Marion, J.-L. D’autrui à l’individu, 287–308. Zur Erläuterung: Wohlmuth, J.; Marion, J.-L. Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, 43. 297 DS 138.

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hingibt, die ›Augen verschließt‹ und so auf jeden ›Sichtbarkeitsvorgriff‹ verzichtet. 298 »Autrui ne m’apparaît qu’à partir du moment où je m’expose à lui, donc où je ne le maîtrise plus, ne le constitue plus et admets qu’il s’exprime sans signification.« 299 Die Bedeutung der Ikone erschließt sich mir erst dadurch, dass ich sie in radikaler Hingebung empfange. Über den Sinn der Ikone lässt sich außerhalb ihres Sich-Gebens nichts ahnen. Dort bleibt sie restlos »anonym«. Ferner entspringt der Ikone keine propositionale Botschaft. Aus dem unanschaulichen Antlitz, das sich dem Bewusstsein in aller Radikalität gibt, geht vielmehr eine irreduzible Gebung oder ein Appell hervor, der eine unendliche Vielfalt an Deutungen und (verantwortlich und individuell handelnden) Antworten hervorbringt: »Car le visage ne montre que ce qu’il exprime, mais il n’exprime jamais une signification ou un complexe de signification défini.« 300 Statt dass sich der ikonische Blick auf eine einfache Botschaft reduzieren ließe, ist das Bewusstsein durchgängig an ihn ausgesetzt bzw. hingegeben. Denn der Blick der Ikone erschließt sich allein aus seinem irreduziblen Sich-Geben und bestimmt sich deswegen als gesättigtes Phänomen. Innerhalb der skizzierten Beispiele gesättigter Phänomene nimmt die Ikone eine Sonderstellung ein. Denn an ihr sind Grundzüge erkennbar, die schon für die anderen gesättigten Phänomene bestimmend waren. Die Ikonizität ruft erstens, wie im historischen Ereignis, eine unendliche Hermeneutik auf den Plan. Kein Verstehenszugang kann die ursprüngliche Selbstgebung des anderen Blickes erfassen und ausschöpfen, den der andere Mensch auf mich richtet. Dieser ruft vielmehr je neue und unabschließbare Antworten hervor. Zweitens appelliert die Ikone an das Bewusstsein wie das Idol / Kunstwerk, das immer neu gesehen werden will. Schließlich und drittens affiziert die 298 Doch fordert Marion auf der anderen Seite auch, dass im intersubjektiven Bereich der ›andere Mensch‹ sich an mein Antlitz hinzugeben hat. Unter der verweigerten Hingabe wäre die phänomenologische Bedeutung von Lüge zu verstehen. Denn dabei würde der andere Mensch so tun, als verfüge er über die Bedeutung seines phänomenalen Sich-Gebens: »L’éventualité que ce visage me ment ou, comme il arrive le plus souvent, se mente d’abord à lui-même résulte […] de l’écart irréductible entre l’expression à partir de vécus infinis et la signification conceptualisable, dicible et toujours inadéquate.« (Ebd., 144 f.). 299 Ebd., 146, vgl. »Ce visage, comme ce regard, ne me donne rien à voir – mais se donne en pesant sur moi […].« (ED 324). 300 DS 145 f.

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Ikone das Bewusstsein wie der Leib. Durch das Hingegebensein an die Ikone wird ferner die Individualität des ›adonné‹ begründet. Dadurch ergibt sich eine Nähe zum Individuationsprozess, der auch durch den selbst-affektiven Leib in Gang gesetzt wird. 301 Im Verhältnis zwischen dem Phänomen der Ikone und den anderen Sättigungen ist aber noch eine vierte Gemeinsamkeit zu erkennen. Zwar geben sich alle gesättigten Phänomene irreduzibel in die Anschauung. Gerade weil ihre Anschaulichkeit aber allein durch dieses radikale Sich-Geben bestimmt ist, sind alle gesättigten Phänomene dadurch bestimmt, dass sie sich der Anschauung zugleich entziehen. Im historischen Ereignis, Idol und Leib drängt sich dem Bewusstsein die reine Gebung einer Anschauung auf, doch zugleich hält sie sich daraus wieder zurück. Die Anschauung dürfte ja nicht ihr Kriterium verkörpern, sondern dass sich in ihnen die Anschauung gibt. Ereignis, Idol und Leib sättigen deshalb, gerade weil sie sich in keine absolute Anschaulichkeit überführen lassen: 302 »Le même paradoxe se vérifie pour l’événement historique, le tableau (l’idole) et la chair: il n’y a proprement rien à voir lorsqu’ils se donnent pour tels.« 303 Damit tragen aber alle gesättigten Phänomene den paradoxen Grundzug der Ikone an sich, letztlich eine unanschauliche Anschauung zu sein. Die Ikone macht ja wie kein anderes gesättigtes Phänomen die Gebung als solche ›anschaulich‹, weil sie ›Anschaulichkeit überhaupt‹ ad absurdum führt und sich damit bei ihr eine ›reine, unanschauliche‹ (»irregardable« 304 ) Gebung einstellt. Folglich ist die Ikone nicht nur als gesättigte Anschauung zu bestimmen, sondern in ihr sättigt sich die Anschaulichkeit als Anschaulichkeit und eröffnet eine gleichsam »reine Gebung«. Marion bringt diese verdoppelte Sättigung durch den Terminus »saturation des saturations« (bzw. »paradoxes des paradoxes«) 305 zum Ausdruck. Die Tatsache, dass aufgrund dieser Unanschaulichkeit alle anderen Sättigungsarten mit der Phänomenalität der Ikone übereinkom-

Vgl. ED, 325. Allein von diesem Befund wäre der Begriff der Sättigung zu revidieren und von einer ›Über‹-Sättigung o. ä. zu sprechen. 303 Ebd., 338. Ungeklärt bleibt, warum Marion an dieser Stelle nicht ausdrücklich von der Ikone spricht, wo sich diese doch durch die Bestimmung »modale Sättigung durch Unanschaulichkeit« auszeichnet. 304 ED 324. 305 Vgl. z. B. ebd., 328, 337. 301 302

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men, bedeutet ein argumentatives Vehikel bei der konzeptionellen Weiterführung der Sättigungstheorie im Offenbarungsphänomen. Doch wäre damit nicht einfach zum Ausdruck gebracht, dass alle gesättigten Phänomene sich auf das Phänomen der Ikone reduzieren ließen? Vielmehr wäre jetzt der Fall zu denken, bei dem das formal skizzierte Verhältnis der Ikone zu den anderen gesättigten Phänomen wirksam wird. 5.4.5. Die Offenbarung Jesu Christi als paradoxe Koinzidenz gesättigter Phänomene Die phänomenale Bedeutung des geschichtlichen »Ereignisses«, des Idols, des Leibes und der Ikone lässt sich nur vom irreduziblen SichGeben ihrer Anschauung her verstehen. Der Exzess, der sich hier anschaulich manifestiert, kann deshalb nur dort reflexiv eingeholt werden, wo sich Phänomenwelt und Subjektivität / Intentionalität korrelativ geben. Es handelt sich dann in allen Fällen um gesättigte Anschauungen, deren Bedeutung und ›Symptomatik‹ phänomenologisch (d. h. mittels der formalen Züge der Gebungsphänomenologie) beschrieben werden können. Auf der Linie dieser Argumentation liegt nun Marions Abhandlung zum Offenbarungsphänomen. Wenn die Phänomenwelt insgesamt auf die »donation« hingeordnet ist, und in ihr aufgrund dessen gesättigte Phänomene rational zugänglich werden, dann lässt sich nach seiner Ansicht auch die christliche Offenbarung als phänomenale Möglichkeit denken. Dafür sei zunächst das strukturelle Raster zusammengefasst. Unter einer ersten Hinsicht sind in der Offenbarung Jesu Christi alle vier gesättigten Phänomene (Ereignis, Idol, Leib, Ikone) akut. In der Offenbarung manifestiert sich ein geschichtliches »Ereignis«, in ihr wird das erkennen wollende Bewusstsein von einem Idol geblendet, von einer leiblichen Gestalt beansprucht und vom Blick eines anderen Menschen vorgeladen. Doch übersteigt die Offenbarung die ›einfachen Sättigungen‹ noch im Hinblick auf eine andere Struktur: Im Geschehen der Offenbarung manifestiert sich eine Sättigung aller Sättigungen in dem Sinne, dass sich hier die gesättigten Phänomene ihrer Anschaulichkeit völlig entäußern. Dies lässt sich der Szene aus dem Markusevangelium entnehmen, in der der römische Hauptmann vor dem am Kreuz sterbenden Herrn das Ergangensein der Offenbarung in Jesus Christus mit den Worten bekennt: »Wahrhaf374 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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tig, dieser Mensch war Gottes Sohn.« 306 Wenn man diesen Vorgang als herausragenden Ort von Offenbarungserkenntnis bestimmt und phänomenologisch erhellt, dann ist zu sagen, dass sich hier ein Phänomen seiner Anschaulichkeit ganz hingibt. Aber noch mehr: Diese Hingabe jeder Anschaulichkeit geht vom Schrei oder Blick Christi (also einer Ikone) aus, der als irreversibler Anspruch und reine Gebung vernommen wird. Bei der phänomenologischen Erhebung der Offenbarung ist also von drei Strukturmomenten auszugehen: Erstens fallen in ihr alle gesättigten Phänomene zusammen (1). 307 Zweitens gibt die Gestalt Christi jede Anschaulichkeit hin (2) und drittens gibt sie bei dieser ›Entähnlichung‹ dem Bewusstsein ihren unanschaulichen Blick (3). Mit dem zweiten und dritten Strukturmoment löst sich in der Offenbarung Jesu Christi aber jenes Wesenmerkmal ein, in dem sich alle anderen Sättigungen mit der Ikone trafen. »Nous retrouvons donc bien, dans la figure du Christ, non seulement les quatres types du paradoxe, mais le redoublement de la saturation qui définit le dernier d’entre eux. [sc. l’icône, T. A.].« 308 Die Offenbarung stellt infolgedessen die Situation einer »donation pure« dar, die im Phänomen der Ikone vorentworfen wurde, als deren Kompatibilität mit anderen Sättigungen angesichts ihrer wesenhaften Unanschaulichkeit zuletzt ans Licht kam. Doch bestimmt sich Offenbarung in ihrer Einmaligkeit vor allem durch den Zusammenfall aller drei Strukturmomente. 309 Bevor im Einzelnen die Virulenz dieser drei Strukturmomente in der Offenbarung aufzuzeigen ist, sind zwei Irritationen auszuräumen, die eine Bemerkung Marions am Anfang seiner Überlegungen zum Offenbarungsphänomen auslöst. Erstens: Marion gibt einerseits vor, mit dem Offenbarungsphänomen lediglich die phänomenologischen Beschreibungsmöglichkeiten ausloten zu wollen. »Il s’agit certes d’une saturation du cinquième type, non qu’elle en ajoute un nouveau (arbitrairement inventé Mk 15, 39. Aus diesem Grund kommen im Offenbarungsphänomen auch alle formalen Züge des sich gebenden Phänomens und der sich hingebenden Subjektivität zum Tragen. Doch unterblieb im Œuvre Marions bislang eine systematische Umlegung des Offenbarungsphänomens auf diese Formstrukturen. Bei der Beseitigung dieses Desiderats wäre vor allem darzustellen, wie sich die Individualität als Zeugenschaft der Offenbarung gestaltet. 308 ED 335. 309 Vgl. die zutreffende Grafik bei Bossche, Stijn van der God does appear in immanence after all. Jean-Luc Marion’s Phenomenology as new first philosophy for Theology, 340. 306 307

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pour faire droit au droit supposé divin) aux quatre premiers (seuls descriptible), mais parce qu’en les confondant en elle, elle sature la phénoménalité au second degré, par saturation des saturation.« 310 Die phänomenologische Behandlung von Offenbarung würde sich von dort her scheinbar einfach aus der Motivation erklären, die durch die Theorie des gesättigten Phänomens mögliche Neubeschreibung der Phänomenwelt auch an der Offenbarung Jesu Christi (entsprechend der oben genannten vier Beispiele gesättigter Phänomene) zu exemplifizieren. 311 Marion suggeriert damit, an der Offenbarung lediglich die Virulenz gesättigter Phänomene nachweisen zu wollen: »non […] un nouveau [type], mais […] elle sature au second degré …« 312 Andererseits wäre darauf hinzuweisen, dass die christliche Offenbarung als eine eigene, ebenso formal gefasste Phänomenart 313 vertreten wird, die sich von den ›einfachen‹ Sättigungen unterscheidet. Sie ist nämlich einmal der herausragende Ort, an dem alle gesättigten Phänomene (1) zugleich wirken. Ferner bestimmt Marion das Offenbarungsphänomen als Maximalmodus von Sättigung 314 oder als »Sättigung aller Sättigungen« 315 , weil sich die oben skizzierten gesättigten Phänomene, in denen sich die Anschaulichkeit irreduzibel gibt, in der Offenbarung auch noch diese ihre Anschaulichkeit (2) durch den Blick Christi (3) völlig hingeben. 316 Wichtig ist also, dass Marion an dieser Stelle eine eigene, besondere Klasse von Sättigung entwickelt, die allein auf die christliche Offenbarung zugeschnitten ist, und damit die bisherige Sättigungstheorie konzeptionell weiterführt. Durch diesen formalen und theoretischen Zugriff bei der phänomenologischen Erhebung der Offenbarung bewegt sich diese Reflexion nicht mehr auf der Ebene einer bloßen Erhebung phänomenologischer Beschreibungsmöglichkeiten. Eigentlich ist mit dieser formalen Theorie von Offenbarung die Grenze zum Bereich der Theologie überschritten, weil diese ja in bevorzugter Weise den ED 327. Vgl. Kap. 5.4.4. (Anfang). 312 ED 327. 313 Vgl. Kap. 5.4.3. 314 Vgl. »un phénomène portant la saturation à son maximum« (ED 326). 315 Vgl. ebd., 337. 316 Vgl. »Nous nommerons les phénomènes de la révélation, où l’excès du don peut endosser l’aspect de la pénure, du titre de l’abandonné.« (Ebd., 341). Von diesem qualitativen Unterschied her wäre zu fragen, ob die Rede von einer maximalen Sättigung, bei der sozusagen noch eine skalarische Verbindung zu den einfachen Sättigungen insinuiert wird, nicht fallen zu lassen wäre. 310 311

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Glauben an das Ein-für-Allemal der Offenbarung Jesu Christi als Möglichkeit allgemeiner Rationalität zu denken sucht. 317 Zweitens: Aufgrund des damit offen liegenden Berührungspunktes mit der Theologie ist eine zweite Vorgabe Marions um so nachdrücklicher zu kritisieren. Mit der Rede davon, beim Offenbarungsphänomen nur phänomenologische Möglichkeiten zu eruieren, möchte sich Marion von der Offenbarungstheologie, als einer theologischen Disziplin, distanzieren. Er argumentiert so: Zwischen Theologie und Phänomenologie liegt ein klarer Gegensatz, weil in der Theologie über die Faktizität, in der Phänomenologie aber lediglich über die Möglichkeit von Offenbarung befunden wird. Während der Offenbarungstheologie, als theologischer Disziplin, die Faktizität von Offenbarung anvertraut ist, sollte Marions phänomenologischer Beitrag zur Offenbarung bloß deren Möglichkeit erwägen. 318 Doch befremdet diese Unterscheidung 319 , weil die Theologie, auch wenn sie vom Faktum der Offenbarung ausgeht, dieses theoretisch nie erweisen kann. Genauer: Kann die Offenbarung als ›Faktum‹ allenfalls Thema der Glaubenspraxis (Liturgie, pastorales Handeln etc.) sein, so weiß sich die Theologie ihrerseits dazu aufgerufen, diesen Glauben an die Offenbarung Jesu Christi als Möglichkeit allgemeiner Rationalität zu erweisen. 320 Darum wäre das Verhältnis von phänomenologischer Möglichkeit und Faktizität der Offenbarung gerade nicht auf die Grenze zwischen dem von Marion vertretenen Konzept von Phänomenologie und theologischen Aufgabenstellungen zu übertragen. Entgegen Marions eigener Beteuerung, dass das Offenbarungs317 Vgl. »T.[heologie] ist ›Glaubenswissenschaft‹, d. h. das reflektierende, methodisch geleitete Erhellen und Entfalten, der im Glauben erfassten und angenommenen Offenbarung Gottes.« (Rahner, K. Art. »Theologie«, in: Sacramentum Mundi, Bd. IV., 861 f.). 318 Vgl. ED 327, »Nous ne somme tenus ici – en phénoménologie, où la possibilité reste la norme, et non l’effecitvité – qu’à le [sc. le phénomène de la révélation] décrire dans sa possibilité pure et dans l’immanence réduite de la donation; nous n’avons pas ici à préjuger de sa manifestation effective, ni de son statut ontique, qui restent l’affaire propre de la théologie révélée.« (Ebd., 329, Hervorh. / T. A.). 319 Insbesondere irritiert der hier betonte Gegensatz zwischen Wissenschaft und Theologie: Vgl. »le fait (s’il en est un) de la Révélation excède l’empan de toute science, y compris de la phénoménologie; seule une théologie, et à condition de se laisser constuire à partir de ce fait seul (K. Barth ou H. U. von Balthasar, plus sans doute que R. Bultmann et K. Rahner) pourrait événtuellement y accéder.« (ED 329, Anm. 1, Hervorh. / T. A.). 320 Möglicherweise wiederholt sich hier Marions im Frühwerk eifrig vertretene Meinung, das theologische Denken solle sich an den liturgischen Lobpreis anlehnen. (Vgl. z. B. Kap. 5.7.5.).

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phänomen von spezifisch theologischen Reflexionen zu unterscheiden sei, erfüllt sein phänomenologisches Denken der Offenbarung nämlich eine, wenn nicht sogar die schlechthinnige Aufgabe christlicher Theologie. Die allgemeine Rationalität wird hier ja als offen entworfen für die einmalige, im Kommen Jesu Christi offenbare Zuwendung Gottes an die Welt. 321 5.4.5.1. Die Verdoppelung gesättigter Phänomene nach dem Neuen Testament Das Geschehen der Offenbarung Jesu Christi zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm alle vier gesättigten Phänomene virulent sind und diese zugleich noch einmal ›ikonisch‹ überstiegen werden. Marion weist diese Strukturen am Neuen Testament auf, in denen die Offenbarung bezeugt wird. Nach seiner Auffassung kann über die Offenbarung als »factum brutum« keine philosophische Aussage getroffen werden. Diese ist vielmehr nur in vermittelter Form ›phänomenal‹. Den Evangelien kommt dabei aber ein besonderer Stellenwert zu, weil hier die phänomenale Wucht dieses Offenbarungsgeschehens erstmalig, ja ›kanonisch‹ bezeugt wird. Nach Marion sind sie als Reflexe auf jene Offenbarungssituation zu nehmen, die oben in der markinischen Szenerie zur Darstellung kam. 322 Deshalb ist ihnen auch das besondere Wirken gesättigter Phänomene zu entnehmen. So interpretiert Marion die vier Evangelien mit Rücksicht auf das oben dargestellte Raster der »Sättigung aller Sättigungen«, wobei er seine Bibelexegese dezidiert als eine phänomenologische Lesart versteht und den historisch-kritischen Methoden entgegensetzt. 323 Dazu nun im Einzelnen. 321 Man wird wohl in diesen »prières d’insérer« zum Offenbarungsphänomen einen taktischen, inhaltlich aber verengten Spielzug Marions sehen müssen, der mehr als Symptom für die teilweise polemisch geführte Debatte um den »tournant théologique de la phénoménologie française« (Janicaud, D., Benoist, J.) zu bewerten ist. Vgl. »Ce sont ces incursions qui ont pu donner l’impression qu’on a affaire à une phénoménologie impure qui ne cesse de ›loucher‹ du côté d’une certaine théologie dogmatique.« (Greisch, J. Le buisson ardent et les lumières de la raison Bd. II, 331). 322 Hier wiederholt sich die Einsicht aus dem Frühwerk: »L’événement christique a laissé ses traces sur des textes, comme une explosion nucléaire laisse des brûlures et des ombres sur les murs.« (DsE 204). 323 In dieser Herangehensweise dient ihm insbesondere H. U. v. Balthasar als Vorbild: »pourquoi ces derniers [les théologiens / T. A.] n’entreprennent-ils pas ou si peu (H. U. von Balthasar restant ici insuffisant et exceptionnel) de lire phénoménologiquement les

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a) Die verdoppelte Sättigung des historischen Ereignisses Die Sättigung im Sinne eines historischen Ereignisses wurde oben durch die totale Unvorhersehbarkeit bestimmt. So verhält es sich zunächst (1) auch beim Kommen Jesu Christi, das erstens von universaler Bedeutung ist und eine »saturation globale« 324 auslöst: »Denn wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein.« 325 Zweitens erfüllen sich im Kommen Jesu Christi zwar die prophetischen Verheißungen, jedoch war die Offenbarung über diese nicht zu antizipieren. Im Ereignis Jesu wird deshalb, wie in der Sättigung durch ein Ereignis, jede zeitliche Linearität entkräftet: »Noch ehe Abraham wurde, bin ich.« 326 Bezüglich der Wiederkunft Christi liegen drittens die gleichen Verhältnisse vor: Der Aspekt des Unvorhersehbaren, der reinen Ereignishaftigkeit charakterisiert wesentlich die in einem paradoxen, ›ikonoklastischen Sinne‹ zu ›erwartende‹ Parusie des Herrn. »Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt.« 327 Die Zeugen und Jünger Christi sind damit gehalten, sich jedes Versuches, dem eschatologischen Geschehen vorzugreifen, zu enthalten und sich dem reinen Sich-Geben dieses Ereignisses hinzugeben. Insofern wäre bei der Offenbarung und Wiederkunft Christi das gesättigte Phänomen in der Gestalt eines »historischen Ereignisses« am Werk, dessen phänomenale Bedeutung auf keine quantitativen oder additiven Akte zu reduzieren wären. Die in der Offenbarung virulente Sättigung durch ein ›historisches Ereignis‹ erhält aber über eine einfache ›Sättigung‹ hinaus eine neue Qualität. Denn die das Ereignis begründende Figur Jesu Christi gibt sich selbst diesem reinen Ankommen bzw. der geschichtlichen Ereignishaftigkeit hin (2). Wenn Christus im Johannesevangelium als der »Kommende« 328 bezeichnet wird, wird damit ausgedrückt, événements de révélation consignés dans les Écritures, en particulier dans le Nouveau Testament, au lieu de toujours privilégier des herméneutiques ontiques, historiques ou sémiotiques?« (DS 34). Mit diesem Zitat hat Marion aber zugleich schon zuviel gesagt. Denn an ihm verdeutlicht sich, dass er die in ED betonte Trennung von Theologie und Phänomenologie selbst nicht durchhält, fordert er hier doch explizit von der Theologie die Übernahme seiner phänomenologischen Bibellektüre. 324 ED 332. 325 Mt 24, 27. 326 Joh 8, 58. 327 Mt 24,42. 328 Vgl. Joh 1,15.

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dass das Ereignis die menschliche Gestalt Christi selbst ganz durchprägt und in Anspruch nimmt. 329 Jesus selbst willigt in seine Ereignishaftigkeit vorbehaltlos ein, weil er sich vom Vater gesandt weiß, in dessen Namen er »kommt«. 330 Er stellt sich damit selbst der Ereignishaftigkeit der Offenbarung und des zu erwartenden Reiches Gottes zur Verfügung. Dieses radikale Sich-Hingeben der Gestalt Jesu an die Ereignishaftigkeit der Offenbarung findet einen weiteren Ausdruck darin, dass dem »Sohn« der Zeitpunkt seiner (eigenen) Wiederkunft, bei der das Reich Gottes aufgerichtet werden soll, entzogen bleibt: »Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.« 331 So sind bei der Offenbarung Jesu Christi nicht nur auf der Seite der Zeugen, sondern auch an der Christusgestalt selbst die Bestimmungsgrößen der Sättigung durch ein historisches Ereignis »par excellence« nachweisbar. Da sich aber genauer die Anschaulichkeit der Christusfigur dem Ereignis der Offenbarung ganz hingibt, kommt hier jenes unanschauliche Moment zur Geltung, für das das Ikonenphänomen »par excellence« stand. So ergibt sich aus der Position desjenigen, der Christus erkennt, eine Verdoppelung der Sättigung, in der die anschauliche Gestalt Christi zugleich sättigt und ihre Anschaulichkeit selbst gibt. Aufgrund dieser Verdoppelung wäre beim geschichtlichen Ereignis der Offenbarung Jesu Christi von einer Sättigung der Sättigung zu sprechen. Über Marion hinausgehend müsste aber noch mehr gesagt werden: In der Sättigung durch das geschichtliche Ereignis, die zur Hingabe jeder Anschaulichkeit führt, fällt der Blick Christi auf den Menschen (3). Der Zeuge erfährt sich ganz von Christus angeschaut. An der offenbarungsspezifischen Sättigung durch das geschichtliche Ereignis tritt das Ikonenphänomen selber ganz auf. Deshalb kann man sagen, dass der hier nun in seiner Ereignishaftigkeit perspektivierte Blick Christi sich aufgrund der ausgelöschten Anschaulichkeit ganz gibt. b) Die verdoppelte Sättigung des Idols Die Gestalt Jesu Christi löst wie im Kunstwerk eine Blendung aus, die von keinem Blick zu erfassen oder zu ertragen ist (1): »Noch vieles 329 Vgl. »La venue suivant laquelle il provient le définit si essentiellement qu’elle englobe et le précède.« (ED 330). 330 Vgl. Joh 8, 43. 331 Mk 13,32.

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habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.« 332 Diese absolute Sichtbarkeit findet zunächst ihren Ausdruck in der Erzählung von Christi Verklärung. Dort nimmt die Christusfigur eine für die Welt unerträgliche Helle an: »Seine Kleider wurden strahlend weiß, so weiß, wie sie auf Erden kein Bleicher machen kann.« 333 Nach Auffassung Marions symbolisiert diese Erzählung vor allem, dass jedes einfache Erkennen Christi aporetisch ist. Die Gestalt Christi sättigt in dem Sinn, dass sie jedes Erkennen übersteigt, ihre Phänomenalität für die Anschauung schlechthin unerträglich ist. Mit anderen Worten: Die Gestalt Christi besteht in ihrem reinen, unveräußerlichen Sich-Geben: »En fait, l’insupportable tient à rien de moins qu’à la pure et simple reconnaissance du Christ comme tel.« 334 Damit entspricht die Phänomenalität Christi dem gesättigten Phänomen vom Typ des Idols, dessen Sichtbarkeit an das Bewusstsein unaufhörlich appelliert und allein von seinem reinen Sich-Geben her zu verstehen ist. Zu beachten ist jedoch, dass die im Neuen Testament bezeugte idolische Sichtbarkeit, mit radikaler Entzogenheit aus der Anschauung einhergeht (2). Die Sichtbarkeit bildet, ähnlich der oben darlegten Erfahrung von Kunst, nicht ihren letzten Horizont. Auf die Verklärung folgt die nüchterne Feststellung: »Als sie dann um sich blickten, sahen sie auf einmal niemanden mehr …« 335 In diesem Sinne lösen auch die Erscheinungen Christi an Ostern ambivalente Reaktionen aus, die zwischen Furcht und Freude oszillieren: »Sogleich verließen sie das Grab und eilten voll Furcht und großer Freude zu seinen Jüngern, um ihnen die Botschaft zu verkünden.« 336 Insofern deswegen die Sichtbarkeit der Christusgestalt an das Bewusstsein appelliert, gehört zu ihrer Phänomenalität der immer wiederkehrende Entzug aus der Sichtbarkeit. Christus ist nicht endgültig sichtbar zu machen, bzw. als sichtbare Gestalt zu erkennen. Diese Struktur ist weiter dort abzulesen, wo sich der auferstandene Herr in den Evangelien zwar zu erkennen gibt, aber sich gegen jeden Zugriff seitens seiner Zeugen sperrt. So finden sich in den johanneischen Osterperikopen immer beide Phänomenaspekte »Streck deine Hand aus« 337 332 333 334 335 336 337

Joh 16,12. Mk 9,3. ED 331. Mk 9,8. Mt 28, 8. Joh 20,27.

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und »Halte mich nicht fest.« 338 Die idolische Sichtbarkeit Christi geht mit radikaler Entzogenheit und Finsternis einher und lässt sich deshalb als »Sättigung einer Sättigung« zu bestimmen. Denn der idolisch anschaulichen Gebung ist eine klare Grenze eingeschrieben. Anders gesagt: Christus entäußert sich gerade bei seiner höchsten ›Leuchtkraft‹ aller Anschaulichkeit und bewirkt ein verstörendes Dunkel. Dadurch realisiert sich im Idolischen der Christusgestalt der unanschauliche Wesenszug, der für die Ikone typisch ist, wodurch sich erneut eine ›Sättigung aller Sättigungen‹, als »pénurie d’intuition« 339 bzw. reine Gebung einstellt. Auch an dieser Stelle ist zu ergänzen: Die Entzogenheit, in der sich das Idol seiner Anschaulichkeit begibt, manifestiert sich als Blick Christi (3). Es handelt sich also nicht nur um die generelle Phänomenalität der Kunst, sondern der jeder Anschauung ledige Blick Christi gibt sich ganz. So realisiert sich auch im Idol vollständig die ikonische Phänomenstruktur. c) Die verdoppelte Sättigung des Leibes Im Neuen Testament wird die leibliche Gestalt Christi in ihrer absoluten Bedeutung sichtbar (1): Der Leib Christi ist gegenüber allen Verknüpfungsakten in einer absoluten Position und bildet ein Phänomen, das unter relationaler Hinsicht sättigt. 340 Insbesondere lässt sich dies am Evangelium des Johannes nachvollziehen, wo der Hingang Jesu am Kreuz als leibliche Erhöhung gedacht wird. 341 Demnach ist der sich in einer tiefen Selbstaffektion gebende Leib Jesu Christi als absolut zu bezeichnen, weil er jeden denkbaren Horizont der Welt sättigt und jedes innerweltliche Verhältnis übersteigt: »Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.« 342 Weil die selbstaffektive Leiblichkeit Christi am Kreuz sich ganz und irreduzibel gibt, steht sie über allen Joh 20,17. Vgl. ED 341. 340 Ungeklärt bleibt, auf welche Weise der Anspruch der selbstaffektiven Leiblichkeit auf die ›äußerliche‹ Figur Jesu Christi übertragen werden kann. Dies scheint nur möglich im Sinne einer obsoleten Bewusstseinschristologie. Die Frage, wie es von der SelbstAffektivität des Leibes zu christologischen Aussagen überhaupt kommen kann, wird von Marion nicht gestellt. Vielmehr wird der phänomenologische auf den neutestamentlichen Leibbegriff übertragen und in beiden Fällen die relationale Sättigung durch Absolutheit konstatiert. 341 Leider unterbleibt bei Marion eine systematische Auslegung der Leiblichkeit auf das Johannes-Evangelium, auch wenn eine Präponderanz johanneischer Aussage an dieser Stelle nicht zu übersehen ist. 342 Joh 18, 36. 338 339

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weltlichen Verstehenszugängen. Ihre Absolutheit dokumentiert sich darin, dass in den Evangelien die Begrenztheit des Zeugnisgebens bekannt wird: »Wenn man alles aufschreiben wollte, so könnte, wie ich glaube, die ganze Welt die Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste.« 343 Von der Inkommensurabilität des Leibes her lässt sich die unendliche Hermeneutik verstehen, die der Offenbarung Jesu Christi nach Johannes folgt. Denn jede sprachliche Kultur der damaligen und gegenwärtigen Welt bleibt jeweils hinter dem Anspruch des Leibes Christi zurück und muss folglich die Unzulänglichkeit ihrer Aussagen angesichts der hier akuten Absolutheit eingestehen: »Aussi l’absolu du paradoxe de la chair du Christ ne peut-il se déployer dans la visibilité bornée des horizons mondains qu’en s’y démultipliant indéfiniment dans le temps et l’espace en autant d’approches parcellaires et provisoire du même éclat absolument sans égal, ni commune mesure, ni analogie.« 344 Gegenüber einer gewöhnlichen Vorstellung von Leiblichkeit ist aber hinsichtlich der Offenbarung zu betonen, dass der Leib Christi sich dort noch aller Anschaulichkeit begibt (2). Er füllt nicht nur jeden Horizont aus, sondern gibt sich ganz hin, indem er sich, d. h. seine Anschaulichkeit ›durchbohren‹ lässt. »Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben.« 345 Die Auslieferung Christi am Kreuz pervertiert jede leibliche Herrlichkeit und verkörpert dessen unanschauliche Ganzgebung: »La mort du Christ offre la figure la plus haute de sa visibilité.« 346 Wenn der Evangelist Markus den römischen Hauptmann angesichts des sterbenden Christus sagen lässt: »Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn« 347 , dann erfolgt dieses Bekenntnis, Marion zufolge, als Antwort auf die im Tod Christi virulente Auslöschung jeder leiblichen Anschauung. Christus gibt sich in einer tiefsten Selbstaffektion seines Leibes so radikal hin, dass sich der Sättigungscharakter seiner Leibphänomenalität noch einmal verdoppelt, und sich im Tod Christi jede Anschaulichkeit seines Leibes Joh 21,25. ED 333 f. 345 Joh 19, 37, Sach 12,10. 346 ED 332. 347 Mk 15, 39. Mit Blick auf eine autororientierte Exegese hätte Marion vielleicht besser auf Johannes verwiesen, der den Kreuzestod Christi als Erhöhung seines Leibes (Vgl. Joh 3,14; 8,28) deutet, und dadurch die Inkommensurabilität des Christusgeschehens mit der ›Welt‹ und ihren Relationen zum Ausdruck bringen könnte: »Mein Königtum ist nicht von dieser Welt.« (Joh 18,36). 343 344

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›erledigt‹ : »Sättigung aller Sättigung« mit Blick auf die Phänomenalität des Leibes. Über ihre Bedeutung wird in der Offenbarung Christi einmal der Strukturzug des Unanschaulichen erkennbar, der vom Phänomen der Ikone in bevorzugter Weise repräsentiert wird. Wenn in der Ganzgabe des Leibes aber jede Anschaulichkeit durchkreuzt wird, dann weiß sich derjenige, der diesem Geschehen beiwohnt, vom Blick Christi ganz beansprucht (3). Deshalb tritt in der ›gesättigten Sättigung‹ durch den Leib wiederum das Ikonenphänomen in seiner ganzen Wucht und als »donation pure« auf. d) Die verdoppelte Sättigung innerhalb der Ikonizität Die ›Phänomenalität Christi‹ lässt sich schließlich als ›einfache Ikone‹ denken (1). Im Phänomen der Ikone weiß sich das Bewusstsein zuerst angeschaut, wodurch die Blickrichtung umgekehrt und das Phänomen unanschaulich wird. Unter dieser Hinsicht löst auch die Gestalt Christi eine Inversion der Blickrichtung aus. In neutestamentlicher Perspektive fällt der Blick Christi stets zuerst auf die ihm nachfolgenden Menschen. Der von Christus getroffene weiß sich von seinem Blick umfangen: »Ensuite, le Christ constitue ses disciples en témoins en les élisant; il ne le peut légitimement que parce que c’est lui qui le premier les voit – avant qu’ils ne se voient eux-mêmes.« 348 Dass die Offenbarung Christi stets ein Angeschautwerden bedeutet, zeigt Marion an dem Dialog zwischen Jesus und dem »reichen Jüngling«, der die Frage stellte: »Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?« 349 Indem der reiche Jüngling sich mit dieser Frage an Jesus wendet, weiß er sich vom fremden Blick des Meisters angesehen. Dieses Angesehenwerden hält sich weiter an der Stelle durch, wo Jesus den reichen Jüngling über die Gesetze belehrt. Als dieser beteuert, den jüdischen Gesetzen stets entsprochen zu haben, wird der anschauende Blick Christi aber noch vertieft: »Da sah ihn Jesus an, und weil er ihn liebte, sagte er …« 350 In der daran anschließenden Aufforderung, sich seines Besitzes zu entäußern, ergeht aber noch eine weiterführende Sättigung (2): »Eines fehlt dir noch: Geh verkaufe, was Du hast, gib das Geld den Armen und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben.« 351 348 349 350 351

ED 334. Mk 10,17. Mk 10,21. Ebd.

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Grade und Beschreibungsmglichkeiten phnomenaler Gebung

Erst in diesem Ruf äußert sich das Spezifikum der christlichen Offenbarung. Über die Frage nach dem Privatvermögen hinaus ist mit Marion festzuhalten, dass Christus hier verlangt, sich ganz seinem Blick zur Verfügung zur halten, sich jedes Begehren auf Sichtbarkeit zu enthalten, schließlich: sich der reinen Gebung Christi hinzugeben. Damit wird deutlich, dass sich in der Offenbarung Jesu Christi die Sättigung durch die Ikone verdoppelt, denn dieser Ruf fordert, die Augen zu verschließen, d. h. auf jede Sichtbarkeit zu verzichten und sich Christus ohne anschaulichen Vorgriff ganz und ›ikonoklastisch‹ hinzugeben: »il faut non seulement respecter le regard des pauvres […] et, pour y parvenir, venir au-devant du regard irregardable du Christ, mais aussi annuler toute possession et toute originarité pour se ›donner‹ aux pauvres, donc au premier d’entre eux.« 352 Die hier akute Verdoppelung der Sättigung, die in der Darbietung einer reinen und unanschaulichen Gebung kulminiert, wird durch den Blick Christi angestoßen (3). Dieser Blick, der von außen trifft, blendet dabei in einer Radikalität, die zwei alternative Antworten eröffnet: Entweder ergreift der dadurch Angesprochene die Flucht: »Der Mann war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg …« Oder der vom Blick Christi Getroffene tritt in seine Nachfolge, in der er sich der unanschaulichen Ganzgebung selbst ganz hingibt: »Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er zwei Brüder …« 353 , »sogleich verließen sie das Boot und ihren Vater und folgten Jesus.« 354 Mit Blick darauf ergibt sich in der Phänomenalität von Offenbarung eine doppelte Sättigung, weil der Blick auf Christus sich ganz der Anschaulichkeit verweigert, sich rein gibt und darum nur von einem Sich-Geben ganz entgegengenommen werden kann, das die Nichtigkeit des Anschaulichen durchschaut hat. Im Geschehen der Offenbarung manifestiert sich somit der einmalige Fall einer »donation pure«, in der alle gesättigten Phänomene koinzidieren und sich im Blick des sterbenden Christus auch noch ihrer Anschaulichkeit hingeben. Zwischen den gesättigten Phänomenen und dem Offenbarungsphänomen liegt ein konzeptioneller Sprung. Denn über den unanschaulichen Blick Christi gibt sich das Phänomen total, als »donation pure«. 355 Allein in der Offenbarung Jesu Christi 352 353 354 355

ED 335. Mk 4, 18. Mk 4, 22. Es kommt nicht von ungefähr, dass Marion zwar vorsichtig, aber dennoch vernehm-

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

manifestiert sich die Gebung in ihrer Reinform, nicht weil sie zu wenig Anschauung böte, sondern weil dieses Phänomen mehr gibt als Anschauung überhaupt ertragen könnte. Marion nennt Offenbarung folglich ein »phénomène abandonné« – ein Phänomen, worüber hinaus Größeres nicht gegeben werden könnte. »Nous nommerons les phénomènes de révélation (saturation de saturation), où l’excès du don peut endosser l’aspect de la pénurie, du titre de l’abandonné.« 356 5.4.5.2. Kenosis der Anschauung in der sich rein gebenden Ikone Christi Überblickt man Marions phänomenologische Beschreibung der christlichen Offenbarung, dann wird eines deutlich: Die hier wirksamen Sättigungen bestimmen nicht nur das Leben der Zeugen Christi, sondern die Gestalt Christi selber willigt selber in die jeweilige Sättigung ganz ein. Christus öffnet sich der Anschauung gegenüber radikal. Er gibt sich selber ganz und gar der Sättigung durch das Ereignis, das Idol, den Leib und die Ikone der Offenbarung hin. Er ›inszeniert‹ diese Sättigungen nicht nur, sondern öffnet sich selbst ganz für sie. Auf Seiten der Zeugen Christi wird damit aber die Sättigung in verdoppelter Gestalt erfahrbar. Denn im Geschehen Christi werden die vier gesättigten Phänomene noch einmal paradox umgebrochen, weil die Person Jesu selbst ihre ganze Anschaulichkeit hingibt, um sich selbst der Sättigung durch das Ereignis, den Leib, das Idol und die Ikone hinzugeben. So eröffnet sich in der skizzierten Koinzidenz gesättigter Phänomene eine neue Qualität phänomenaler Gebung: Die Sättigung aller Sättigung. Hier manifestiert sich nicht nur die Anschauung, wie in der »einfachen Sättigung«, ihr irreduzibles Sich-Geben, sondern hier (ver-)gibt sich die Anschauung als Anschauung und eröffnet dadurch das Phänomen einer letztlich unanschaulichen »donation pure«. Aufgrund dessen ist Offenbarung als Auslieferung bzw. »Kenosis von Anschauung« zu bestimmen, bei der alle vier Sättigungen in einem Geschehen sich ihrer Anschaulichkeit begeben. Doch fällt in dieser anschaulichen Ganzhingabe der Blick bar von der christlichen Offenbarung als einem »paradigme du phénomène de révélation« spricht (ED 329). Dabei muss man sich die Doppelbedeutung von Paradigma als Beispiel und Modell vor Augen halten. (Vgl. Le Petit Robert de la langue française, 1581). 356 ED 341.

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Christi auf das Bewusstsein derer, die zu seinen Zeugen werden. Die »donation pure« bedeutet ein Blick, der mich trifft. Bei der Offenbarung weiß sich der Zeuge ganz von dieser Gebung angeschaut. Die Entäußerung der Anschaulichkeit, zu reiner Gebung hin, beansprucht den ›adonné‹. Denn dessen Blick kehrt sich restlos um. Er verweigert sich jeglicher Anschaulichkeit und ist dem unbedingten Sich-Geben des Blickes unbedingt hingegeben. Über die Koinzidenz mit anderen Sättigungsarten hinaus ist festzuhalten, dass sich in der Offenbarung das Phänomen der Ikone erfüllt. Bei der Frage, ob in der »Sättigung aller Sättigungen« jeweils das Phänomen der Ikone wirksam ist, äußert sich Marion aber nur in Ambivalenzen: Einerseits spricht er vorsichtig vom »visage« (nicht icône!) als bloß »un des paradigmes du seul phénomène saturé« 357 . Andererseits macht er klar, dass sich die Offenbarung durch eine völlige Anschauungsarmut »par excès« auszeichnet. Genauer: Im Unterschied zur Logik und den »allgemeingesetzlichen Phänomenen« übersteigt die Gebung der Anschauung die Möglichkeit des Anschaulichen selber. In der Offenbarung gibt sich die Anschauung ganz so, dass nur noch reine Gebung eröffnet wird. Das Offenbarungsphänomen ist das, worüber hinaus Größeres bzw. Manifesteres nicht gegeben werden kann: »la possibilité du phénomène de révélation, où l’excès d’intuition se redouble en un paradoxe des paradoxes: il s’agit donc de laisser venir à la manifestation un phénomène qui se donne de telle manière que rien de plus manifeste ne puisse se donner – id quo nihil manifestius donari potest.« 358 Dieser in der Offenbarung akute Exzess von Anschauung kulminiert in seiner verstörenden »pénurie«, bei der sich das Bewusstsein ohne jeden Sichtbarkeitsvorgriff hinzugeben hat. Aufgrund dieses Momentes würde aber das Offenbarungsphänomen genau das Kriterium der Ikone erfüllen. Von dieser hieß es ja: »Nous nommerons ce dernier type de phénomène saturé l’icône, parce qu’il n’offre plus aucun spectacle au regard, ni ne tolère le regard d’aucun spectateur, mais exerce à rebours son propre regard sur celui qui l’affronte.« 359 Deshalb scheint es legitim, die Ikone, wie hier geschehen, konsequent auf das Offenbarungsphänomen zu beziehen. Die Offenbarung Jesu Christi wäre als ikonisches Phänomen, als 357 358 359

Ebd., 338. Ebd., 339. Ebd., 323.

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

Manifestation der Urikone zu bestimmen. Doch fallen in der Urikone Christus alle anderen Sättigungsarten zusammen und die Gebung wird in ihrer Reinheit phänomenal. Somit wäre die Ikone, d. h. der Blick Christi als der höchste Fall einer reinen Gebung festgelegt, die sich jeder Anschaulichkeit entledigt hat. Dadurch eröffnet sich in der Ikone auf einmalige Weise die Gebung, auf die die Phänomenwelt insgesamt hingeordnet ist. In dieser Reflexion scheinen die theologischen Überlegungen von Marions Frühwerk philosophisch rekonstruiert. Im Frühwerk ereignete sich die Offenbarung als inchoativer Einbruch in die weltliche Rationalität. 360 Nun ist dieses Geschehen aber philosophisch expliziert, weil die Ikone Christi als »donation pure« und »Sättigung aller Sättigungen« formal verstanden ist. 361 Dass Marion aber auf eine eindeutige Identifizierung der Offenbarung mit der Ikone verzichtet, wäre als ein strategischer Spielzug zu bewerten. Denn angesichts des theologischen Frühwerkes, in dem die Ikone Christi im Mittelpunkt stand, wäre eine explizite Erwähnung der Ikone bei der Offenbarung wohl zu gewagt gewesen. Die theologische Programmatik der »Phénoménologie de la donation« läge dann zu offen auf dem Tisch, die Distanzierung von der Theologie wäre ihrer Rhetorik entkleidet. Denn Marion hätte dadurch unzweideutig gemacht, dass sein theologisches Frühwerk nun auf philosophischer Ebene expliziert ist.

5.4.5.3. Kritische Rückfragen: offenbarungtheoretische Leerstellen Im Allgemeinen müsste darüber Konsens bestehen, dass die in der oben dargestellten Weise entwickelte Offenbarungstheorie an den Vorgaben des Neuen Testamentes und, damit zusammenhängend, der christlichen Tradition zu messen wäre. Ein Denken der Offenbarung dürfte sich ja nicht in einem beliebigen Raum bewegen, sofern es um einen ernstzunehmenden theologischen Beitrag ginge. Infolgedessen wäre die Frage zu stellen, ob in dem von Marion verVgl. Kap. 2.2. Diese Übertragung der Theorie des gesättigten Phänomens leistet Marion in DS, wo die bereits im Frühwerk behandelte ikonische Struktur des pseudo-dionysischen Lobpreises als »le phénomène saturé par excellence« bestimmt wird. Vgl. DS 190 ff. Vgl. »The excess of intuitive givenness overflows and saturates the intention, so that it ›means‹ something like ›God! Goodness! Hallelujah!‹ That is a saturated phenomenon.« (Caputo, J. Apostles of the Impossible. On God and the Gift in Derrida and Marion, 194). 360 361

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tretenen »Offenbarungsphänomen« alle Wesensaspekte reflexiv eingeholt wären, die unabdingbar zu jenem Geschehen gehören, das die Christen als Mitte ihres Glaubens bekennen. An dieser Stelle kann diese Problematik keinesfalls erschöpfend diskutiert werden. Doch ist zumindest in aphoristischer Form an drei Punkten die Notwendigkeit einer spezifisch offenbarungstheologischen Diskussion mit Marion anzudeuten. Erstens: In Marions Konzeption scheint der im Geschehen von Offenbarung virulente Zusammenhang von Schuld und Vergebung, Gefangenschaft und Befreiung, schließlich Erlösung 362 unterbelichtet zu sein. Dass der Tod Christi als endgültige Vergebung der Sünden gedeutet wird, ist philosophisch nicht expliziert. Denn aus den sich gebenden Phänomenen, die keine Offenbarung darstellen, geht zu keinem Zeitpunkt die Dringlichkeit von Vergebung hervor. Man kann diese Anfrage aber noch allgemeiner formulieren: Offen bleibt, welchen soteriologischen Sprung die Offenbarung Jesu im Unterschied zur übrigen Phänomenwelt bietet. Jeder unverbildete Christ wird doch in der Offenbarung Jesu seine Frage nach Heil beantwortet sehen bzw. in ihr die heilbringende Zuwendung Gottes an die Menschen erkennen. Die zahlreichen Wundergeschichten des Neuen Testamentes scheinen dieser Erfahrung literarischen Ausdruck zu geben. Bei Marion ist jedoch nicht zu erkennen, warum die Welt der Offenbarung im Sinne von Heilung bedürfte, wie es der Glaube bekennt. Genauer: In den Phänomenen, die gegenüber der Offenbarung minderen (Sättigungs-)Grades sind, liegt in sich keine Aporie, aus der erst die Offenbarung Jesu Christi herausführen würde. Wenn aber das Evangelium eine heilbringende und freisetzende Botschaft sein soll, dann müsste an diesen Phänomenen irgendeine Struktur bestehen, deren Problematik erst mit der Offenbarung Jesu Christi überwunden wäre. 363 Zweitens: Marion lässt die Tatsache unbearbeitet, dass sich die christliche Offenbarung im Kontext der Geschichte bewegt. Dagegen macht er am Christusgeschehen eine Art übergeschichtliches Ereignis geltend und misst dessen alttestamentlicher Vorgeschichte keinen 362 Beispielhaft für diese Deutung des Kreuzesgeschehen sei auf die paulinischen Briefe hingewiesen: V. a. Röm 3,17 ff.; 5,12 etc. 363 Interessanterweise lagen in DsE Ansätze zu einer solchen Überlegung vor. Marion versuchte dort die Möglichkeit zu denken, dass eine idolfreie Wirklichkeitsauffassung auch ohne die Offenbarung erreicht wird. So konnte er den Begriff der »vanitas« neu explizieren (Vgl. DsE 158 ff.).

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

tragenden Stellenwert zu. Dass sich in Christus die Verheißungen der Propheten erfüllen, sich die liebende Zuwendung Jahwes realisiert hat, diese und andere geschichtlichen Aspekte von Offenbarung bleiben unberücksichtigt. Die Offenbarung Jesu Christi steht bei Marion vielmehr im luftleeren Raum: Sie wird als ein Einbruch von Außen interpretiert, der in keinem näher entfalteten Verhältnis zum Gott Jahwes und sich deshalb auch nicht religionsgeschichtlich weiter vermitteln lässt. In den Spannungen zwischen dem Christentum und anderen Religionen scheint man mit Marions Konzeption nicht wesentlich weiterzukommen. Drittens: Weil Marion keinen Zusammenhang denkt, der zwischen der Offenbarung und der übrigen Phänomenwelt besteht, muss die Frage, ob sich in Jesus Christus das Ein-für-Allemal der Zuwendung Gottes ereignet hat, offen bleiben. Denn einerseits ließe sich wohl bei anderen Gestalten des alten Testaments und der allgemeinen Religionsgeschichte eine ähnliche Konfiguration gesättigter Phänomene entnehmen (Hosea, der jesajanische Gottesknecht, Boddhisattwa). Andererseits bestünde weiterhin die Möglichkeit eines neuen Falles von Offenbarung im beschriebenen Sinne. Wenn aber im Kommen Jesu Christi Gottes letztgültige, unüberholbare Zusage an den Menschen gegeben wird, dann müsste diese Definitivität eigens zu denken sein. Aus dem Blickwinkel Marions, der bereits die geschichtliche Seite von Offenbarung im Letzten ausgeklammert hat, scheinen sich aber keine Kriterien dafür ermitteln zu lassen. Vielmehr müsste der »adonné« als Adressat höchst unterschiedlicher Appelle oder Sättigungen gelten, über deren jeweilige Einforderung er keine Auskunft geben könnte, zumal wenn er konsequent gegen das »ego, cogito« entwickelt wird. Hinsichtlich der Marionschen Theorie von Offenbarung erweist es sich als besonders fatal, wenn der »adonné«, der nach Marion allein imstande wäre, die Offenbarung Jesu Christi entgegenzunehmen, einfach als ein verkehrtes »ego, cogito« konzipiert wird. Schon im Zusammenhang der allgemeinen Methodenfrage hatte sich die Frage nach einer positiven Verhältnisbestimmung zwischen beiden Subjektbegriffen nahegelegt, um in der auch Marion bekannten Frage weiterzukommen, wie zwischen gültigen und ungültigen Phänomengebungen zu unterscheiden wäre. 364 Jene Frage drängt sich aber besonders angesichts der christlichen Offenbarung auf, deren Ruf und Gabe einen Unbe364

Vgl. Kap. 5.3.5.

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Der Begriff »donation« im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften

dingtheitscharakter impliziert, der den »adonné« total verpflichtet. Wie der ›adonné‹ zwischen einer trügerischen und legitimen Offenbarung differenzieren könnte, müsste offen bleiben, wenn das »ego, cogito« einfach dazu aufgefordert wird, sein ursprüngliches Hingegebensein anzuerkennen. Denn unklar bleibt, ob das sich in solchem Hingegebensein mögliche Offenbarungsphänomen eine Verlässlichkeit von der Art bietet, dass der ›adonné‹ seine ganze Existenz, wie in der gelebten Nachfolge, auf dessen Konto setzen könnte. Stehen »ego, cogito« und »adonné« dagegen unvermittelt einander gegenüber, dann wäre die Möglichkeit bei der Offenbarung einem Schein oder Traum anzuhängen, nie ganz ausgeschlossen.

5.5. Der Begriff »donation« im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften, Philosophie und Theologie Bei der Frage, wie man sich auf andere, vielleicht konkretere Weise dem Marionschen Begriff »donation« annähern kann, lässt sich auch die alltägliche Situation des Gebens / Schenkens beleuchten. Entscheidend dafür ist, dass das französische Wort »donation« primär auf das Geben / Schenken als Handlung zielt. 365 So kommt es nicht von ungefähr, dass sich bei Marion zunehmend der Versuch erkennen lässt, die Ursprünglichkeit von »donation« auch auf einer ›handlungstheoretischen Ebene‹ zu begründen. 366 »Donation« wäre demnach als hermeneutischer Schlüssel der Gabehandlungen (»le don«) zu begreifen. Doch ergibt sich daraus ein neues Konfliktfeld. Marion steht nämlich nun vor der Aufgabe, seinen »donation«-Begriff angesichts der Sozial- und Kulturwissenschaften zu positionieren. Immerhin ist deren Theorieentwicklung bei der Problematik des »Gebens« / »Schenkens«, bzw. bei der »Gabe« als kulturelles Faktum bereits erheblich vorangeschritten. Ausgehend von dieser Einsicht versucht das folgende Kapitel den Marionschen Beitrag hierzu in den größeren Zusammenhang der meist französischen Gabetheorien zu stellen, die zunächst in der Ethnologie entwickelt wurden. Wenn die folgenden Untersuchungen deshalb den Rahmen Marionscher PhiVgl. Kap. 1.2. Die hier wegweisenden Ausführungen sind: ED 103–168, Marion, J.-L. Esquisse d’un concept phénoménologique du don, ders. La conscience du don, ders. La raison du don. 365 366

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

losophie auf den ersten Blick verlassen, dann soll damit einerseits die Sensibilität für eine in Deutschland weitgehend noch unbekannte Kontroverse geweckt werden. Andererseits gilt aber, dass der Standpunkt Marions hierzu sich erst innerhalb dieses Kontextes konturiert und verständlich wird. Dabei ist in erster Linie zu beachten, dass Marion die Frage nach der »Gabe als soziokultureller Akt«, wie keine andere Thematik seines Œuvres, von außen angetragen wurde. Im Klartext: Der Anstoß für Marions Beschäftigung mit den sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Gabetheorien scheint von Derrida ausgegangen zu sein. Tatsächlich vertritt Derrida seit Anfang der 90er Jahre ja eine Philosophie der Gabe und setzt sich in diesem Kontext gegen M. Mauss, dem Vorreiter ethnologischer Gabetheorien, ab. Insofern Marion nun seinen Begriff »donation« auf dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Gabetheorien ausbuchstabieren will, bewegt sich seine Argumentation nicht zufällig auch immer gegen Derrida, in dessen ›Denken der unmöglichen Gabe‹ er wohl eine Art Konkurrenz wahrnimmt. Von diesen Beobachtungen her legt sich nahe, in einem Querschnitt die Gabetheorien vorzustellen, die in den Kulturwissenschaften und der Philosophie seit Derrida entwickelt wurden. Letztlich haben diese nämlich die Marionsche Position in dieser Frage voran-, wenn nicht gar hervorgebracht. Doch ist im Blick auf die Ausgangsthese dieser Untersuchung hier noch ein Schritt weiter zu gehen: Angesichts des behaupteten fundamentaltheologischen Impetus’ der »Phénoménologie de la donation« würde Marion dort, wo er sich mit den kulturwissenschaftlichen Gabetheorien auseinandersetzt, neue Perspektiven für die Frage eröffnen, vor welchem Forum denn Fundamentaltheologie den christlichen Glauben zu verantworten habe. Konkret: Gegenläufig zu einer strengen, philosophischen Konzentration auf die säkulare Rationalität würde der Fundamentaltheologie demzufolge auch die Aufgabe obliegen, den Glauben auf kulturwissenschaftlicher Ebene zu explizieren. Eine Durchsicht durch die gabetheoretischen Positionen im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften und Philosophie scheint also auch aus diesem fundamentaltheologischen Blickwinkel aufschlussreich, der die Marionsche Reflexion selbst ja immer charakterisiert. Um zu den angedeuteten Diskussionen direkt vorzudringen, wäre zunächst die Theorie des Gebens zu skizzieren, die im Ansatz Marions angelegt ist.

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Der Begriff »donation« im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften

5.5.1. »Sich-einander-Hingeben« – »donation« in handlungstheoretischer Sicht Die Semantik, die Marion dem Begriff »donation« zukommen lässt, kann, neben dessen phänomenologischer Anwendung, mittels einer deskriptiven Reflexion auf das Schenken / Geben erhellt werden. Zu untersuchen wäre dabei, was im Schenken / Geben vor sich geht bzw. was zumindest in diesen dem Alltag geläufigen Handlungsformen vor sich gehen müsste. Folgt man der Interpretation Marions 367, dann wäre der genuine Sinn des Schenkens / Gebens nur unter seinem Niveau ausgelegt, wenn man den darin virulenten Akt (»donation«) in seiner Ursprünglichkeit verkennen würde, der, seinem ganzen Umfang entsprechend, interpersonal anspruchsvoll ist und auf die sich-gebende Eröffnung von Wirklichkeit verweist. 368 Bindet dagegen eine Handlungs- oder Kulturtheorie den Gabeakt an Bestimmungsgrößen zurück, die ihm selbst äußerlich sind, dann würde ihr diese originäre Bedeutung des Gebens verschlossen bleiben. Marion ist nämlich der Ansicht, dass sich das Schenken / Geben nur dort angemessen deuten lässt, wo der hier manifeste Akt als solcher, »donation«, in den Blick kommt. 369 Dieser müsste folglich in seiner ganzen Bedeutungstiefe durchleuchtet werden, so dass das Geben in Reinheit hervortreten und »donation« als ursprünglichste Bestimmung von Wirklichkeit an ihm aufscheinen könnte. Vermittels dieser radikalen Explikation des Schenkaktes lässt sich schließlich erkennen, worauf das alltägliche Schenken und Geben hingeordnet ist und wodurch dieses erst seinen Sinn erhält. 367 Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen liegt in: ED 124 ff. Dort entwickelt Marion den Begriff eines reinen Gebens, indem er Geber, Empfänger und Gabeobjekt einer Gabehandlung in Klammern setzt und »donation« als hermeneutischen Schlüssel dieses Geschehens postuliert (Vgl. dazu Kap. 5.5.3.3.). Dies weiterführend wird nun in einem positiven Sinne versucht, die Potentialität einer Gabetheorie auszuschöpfen, die konsequent unter dem Zeichen von »donation« steht. Allein unter dieser Vorgabe scheint es möglich, das Verhältnis näher ins Auge zu fassen, das zwischen dem Ansatz Marions und anderen Theorien des Gebens besteht. 368 Vgl. »La donation détermine autant et au même sens le don que le phénomène, parce que le phénomène ne se montre en tant que tel et à partir de lui-même que pour autant qu’il se donne.« (ED 167 f.). 369 Vgl. »L’exclusion de l’échange et la réduction des transcendances définit enfin le don comme purement immanent. La donation le caractérise de manière intrinsèque, non plus extrinsèque. Il nous reste donc à décrire la donation intrinsèque au don immanent.« (Ebd., 164).

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Metaphysik und Offenbarung im Zeichen der Gebung

Im Hinblick darauf lässt sich die Bedeutung von »donation« aus der Optik dessen entwickeln, dem ein Geschenk zuteil wird. Erstens: Lässt sich derjenige, der beschenkt wird, nicht auf den Akt selber ein, fixiert er vielmehr die davon losgelöst betrachtete, schenkende Person, dann verstellt sich umgehend das Geschehen. In den Vordergrund können sich dann Fragen schieben, die von der Ursprünglichkeit von »donation« ablenken: Welche (unter Umständen hinterlistige) Absicht verfolgt der Schenkende? Will er sich mir sympathisch machen, mich kaufen oder töten? Gibt er mir ohnehin nur das, was er selber nicht benötigt? 370 Damit deutet sich bereits die Ökonomie als mächtigster Gegenentwurf zu dem von Marion vertretenen Verständnis des Gebens als reiner Akt an – vorausgesetzt, man fasst unter Ökonomie alle Einstellungen, die bei der Frage nach dem Geben / Schenken von (subjektiven) Zwecken oder Gründen ausgehen. 371 Im Anschluss an Marion wird der Sinn des Schenkens / Gebens unterminiert, wo die daran beteiligten Akteure solche ökonomischen Interessen ›im Schilde führen‹ oder im jeweils anderen vermuten. Denn dadurch gerät das Geben als reiner Akt, »donation«, in den Hintergrund. So ergibt sich zweitens: Die gesuchte Reinheit des Gabeaktes wird erneut von einer ökonomischen Einstellung kontaminiert, wenn sich die Aufmerksamkeit des Beschenkten auf sich selbst, als eines vom Gabeakt isoliert betrachteten Akteurs, festklammert. Sätze wie »Hoffentlich kann ich mit dem Geschenk etwas Nützliches anfangen« hätten dafür seismographische Relevanz. Denn sie bezeugen eine im Schenken akute Haltung, bei der der Akt in seiner Reinheit nicht ›anschaulich‹, sondern vom Interesse des beschenkten Subjektes überdeckt wird. Nicht zuletzt würde man damit den Schenkenden beleidigen, wollte dieser doch dem Beschenkten eine Freude machen, die sich nicht sofort unter einem egoistischen Nützlichkeits- bzw. Ökonomiedenken aufzulösen hätte. 372 Drittens wird der Schenkakt, 370 Vgl. »Mais on peut surtout annuler le mérite du donateur en arguant qu’il n’a donné que ce qu’il pouvait donner; donc qu’il a donné de son superflu; or ce superflu, il pouvait s’en dispenser; donc il ne lui appartenait pas vraiment.« (Marion, J.-L. La raison du don, 10). 371 Nach Auffassung Marions entspricht diese ökonomische Deutung von »Gabe« einer metaphysischen Haltung in Phänomenologie und Philosophie: Vgl. »elle [sc. la donation / T. A.] doit donc aussi rompre avec les principes de raison suffisante et d’identité, non moins qu’avec la causalité quadriforme que suit, en son régime métaphysique, l’économie.« (ED 111). 372 Dieses Ökonomiedenken drängt sich insbesondere dann auf, wenn das im Schenkakt Gegebene wie eine Sache betrachtet wird, auf die der Beschenkte einen Anspruch hätte.

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Der Begriff »donation« im Schnittpunkt von Kulturwissenschaften

»donation«, verdunkelt, wenn der Beschenkte einfach das Geschenk selbst, d. h. das bloße Objekt des Schenkens, ins Visier nimmt. Bei dieser Deutung würde der von Marion intendierte reine Akt des Gebens / Schenkens in Materialität einrasten und so das Geschehen aufs Neue ›profanisiert werden‹. Ungehindert würden sich nun wieder ökonomische Interessen geltend machen. Die hier auf Materialität depotenzierte »donation« käme ja nur insofern in Betracht, als sie den Nutzen des Beschenkten befriedigen oder enttäuschen würde. Soll das Geschenk aber als Geschenk ankommen, dann müssten sich Schenkender und Beschenkter nicht nur einfach von allen ökonomischen Hintergedanken freimachen. Vielmehr müssten sich beide Akteure ganz und gar auf den Akt des Schenkens (»donation«) einlassen. Das bedeutet aber, dass sie sich im Schenken persönlich engagieren müssten. Genauer: Schenkender und Beschenkter müssten sich wechselseitig einander schenken bzw. hingeben. 373 Alle Beteiligten würden von ihren ökonomischen Interessen absehen und einander hingeben oder ›er-geben‹ sein. 374 Ferner würde sich das geschenkte Objekt im ›Fluss des Sich-Gebens‹ bewegen und völlig daraus verstanden werden. Der Akt des Gebens, »donation«, bestimmt dann die unveräußerliche, und damit ursprüngliche Sinnmitte dieser Szenerie. Unter dieser Voraussetzung wäre »donation« als ursprüngliche Wirklichkeitseröffnung an der Gabehandlung abzulesen. Besser: Die Gabe wird in dieser Sicht zu einer symbolischen Handlung, weil sich an ihr manifestiert, dass das Wirklichkeitsganze auf »donation« hingeordnet ist. 375 Der Gabeakt verkümmert dann zum Ausgleich einer Schuld: »Réciproquement, le donataire peut avancer de bons motifs pour recevoir un bien suivant le simple échange et dénier qu’il bénéficie là d’un don. Il lui suffit de soutenir que ce don prétendu lui arrive simplement comme un dû.« (Marion, J.-L. La raison du don, 11). 373 Vgl. »Le donateur en effet s’ignore le premier. […] Le donateur n’est pas conscient de lui-même.« (ED 139), »Giver and recipient are less the subjective agents of the gift than subjects subjected to, swept up in and acted upon by it.« (Caputo, J. Apostles of the Impossible, 202). 374 Vgl. »une détermination autrement radicale [du don / T. A.] – se donner sans interêt, donc sans motif, à partir de soi et par soi.« (ED 121). 375 Vgl. die offensichtlichen Bezüge zwischen der Figur des Gebers und dem »adonné«: »Le donateur donne d’autant plus parfaitement qu’il renonce au retour par soi à l’identité à soi, c’est-à-dire qu’il renonce non seulement à la conscience de soi – cogitatio sui –, mais à la cogitatio elle-même, telle que, dans son fond, elle reconduit à soi ce qu’elle cogite.« (Ebd.,141), »[…] ce don corrigé a aussitôt pris place dans le pli de la donation en général, tel qu’il gouverne universellement les phénomènes.« (Ebd., 168).

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Aufgrund dieser Ausrichtung konstelliert sich die Phänomenalität des Schenkens / Gebens folgendermaßen: Im Vergleich zu ökonomischen Interpretationen würde in ihm einerseits aufscheinen, dass es dem Schenkenden wirklich um das ›Glück‹ des anderen geht, weil dieser im Schenken einen Hingebungsakt, quasi ein vorbehaltloses ›Für-den-Anderen‹ vollzieht. Der Beschenkte würde über das Geschenk als unverhoffte Gebung an ihn staunen. Andererseits würde auch der Schenkende Anerkennung erfahren. Wenn nämlich der von ihm Beschenkte zum Staunen durchbricht, gibt er sich ebenfalls ganz der Gebung hin, was wiederum dem Schenkenden zum ›Glück‹ werden würde. Im Schenkakt können sich deshalb Permutationen zwischen Geben und Empfangen einstellen, weil der Schenkende empfängt (nämlich eine staunenswerte Offenheit, die ihm selber zum ›Glück‹ wird) und der Empfangende gibt (nämlich sich selbst, indem er sich für das Geschenk und die Gebung des anderen ganz öffnet). 376 Der reine Akt des Gebens (»donation«) verkörpert eine ›Synchronie von Gabe und Empfang‹, ein im Geben und im Empfangen jeweils radikales Hingegebensein aller Akteure aneinander. Das so aufgerollte Geschehen von »donation« dürfte nach Marion im Hintergrund jeder Handlung stehen, die als »Schenken« zu bezeichnen wäre. Überdies lässt sich darauf jedes Geben, jede Gabe zurückführen, da im Begriff »donation« Schenken und Geben ja identisch sind. 377 Zur Verortung und weiteren Diskussion dieser Konzeption lassen sich zunächst die grundlegenden Merkmale des hier entworfenen Gabegeschehens resümieren: Als Ausgangspunkt alles Weiteren gehört zur »donation« die Freiheit von Ökonomie bzw. ökonomisches Desinteresse (1): »L’économie fait l’économie du don […]« 378 Einziges Interesse dürfte das ›Glück des anderen‹ sein, bzw. der Wille, (sich) zu geben. Daraus folgt die Personalität des Gabeaktes (2). Geben meint auf beiden Seiten ein persönliches und unbedingtes Engagement für den anderen, ein Sich-der-Gebung-Hingeben. Das Geben kulminiert schließlich in einer reinen Gebung beider Akteure aneinander (3) und macht auf diese Art die Ursprünglichkeit von »dona376 Auf handlungstheoretischer Ebene wird in diesem Akt des Gebens die als ursprünglich begründete Korrelation von Sich-Geben der Welt und Sich-Hingeben des Subjektes lebendig. 377 Vgl. Kap. 1.2. 378 Marion, J.-L. La raison du don, 13, vgl. »Penser le don vers et à partir de la donation imposera de ne plus lui assigner pour vérité l’echange et le retour […].« (ED 121).

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tion« sichtbar. In diesem Hingegebensein, »donation«, der Akteure aneinander erfüllt sich dementsprechend der Sinn von Schenken und Geben. Hinsichtlich der Frage, wie sich der bei Marion angelegte Entwurf zu kulturwissenschaftlichen Auffassungen vom ›Schenken und Geben‹ verhält, ist vor allem auf dessen primäre Abgrenzung von jeder ökonomischen Interpretation dieses Geschehens hinzuweisen. 379 Unter das Licht ökonomischer Interessen (im weitesten Sinne) gestellt, würde sich nach Marion das Bild dieser Szenerie verzerren, an der ja die Ursprünglichkeit von »donation« aufscheinen sollte. Die ökonomische Interpretation impliziert hingegen, dass der Geber, ferner derjenige, dem die Gabe zuteil wird, und schließlich das Objekt der Gabe isoliert voneinander in Betracht kämen. Eine solche Deutung bekommt die am Gabeakt Beteiligten nicht in ihrem jeweiligen Hingegebensein aneinander, also als solche, die eine ursprüngliche »donation« vollziehen, in den Blick. 380 Gegenläufig dazu betrachtet sie das Gabegeschehen als einen Austausch von Gütern, die zwischen zwei oder mehr statisch verstandenen Akteuren zirkulieren und mit denen sich jeweils ökonomische Interessen verbinden. Insgesamt ist diese ökonomische Sicht, Marion zufolge, charakteristisch für die aus dem Bereich der Kulturwissenschaften rührenden Theorien des Gebens, die sich im Ausgang der Analysen M. Mauss’ zum zeremoniellen Gabentausch entwickelt haben. 381 Folglich ist nach Marion der Begriff »donation« auch vor diesem ›Forum‹ zu vertreten und dessen Ursprünglichkeit ebenfalls auf einer handlungstheoretischen Ebene 379 In der ökonomischen Haltung liegt nach Marion die gabetheoretische Entsprechung zu einer Metaphysik der Gebung, die über das Sich-Geben hinausgreifen und dessen ›causa‹ ausfindig machen will. (Vgl. Kap. 5.1.1.). Vgl. »les deux modèles qu’il s’agit de dépasser, l’interprétation causale de la donation et l’interprétation économique du don, se recouvrent de fait en un seul – le modèle standard. Dans son cadre, les partenaires de la donation – le donateur et le donataire au singulier ou au pluriel – qui commercent dans l’échange se découvrent déjà interprétés comme des causes, selon les acceptions métaphysiques du concept.« (ED 120). 380 Vgl. »Réduire le don à lui-même, c’est-à-dire à la donation pure et simple, implique de ne plus le penser dans l’économie d’un échange, où il transiterait simplement comme un objet entre le donateur et le donataire, mais de le penser comme tel, comme un pure donné.« (Marion, J.-L. Esquisse d’un concept phénoménologique du don, 84). 381 Vgl. »[…] la tentative d’un ›essai sur le don‹ (M. Mauss) garde une légitimité pleine et entière et nous n’avons pas manqué d’y trouver un indispensable appui; mais cet appui n’a permis que de nous en détacher, comme une prise d’élan s’efforce de s’écarter de son point d’impact. Car il suffit de remarquer et d’admettre que ces essais et cette critique ne concernent en rien le don et ne définissent […] que l’échange.« (ED 161).

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einsichtig zu machen. Bei der Darstellung dieser Auseinandersetzung ist zuerst auf das Faktum des Gebens / Schenkens einzugehen, wie es innerhalb der Ethnologie und Kulturwissenschaften seit M. Mauss interpretiert wurde. Die Position Marions konturiert sich so noch einmal aus einem anderen Blickwinkel spezifisch französischer Debatten heraus – dem sozial- bzw. kulturwissenschaftlichen Fragen nach der Bedeutung von Gabe, Geben, Schenken und ihrer philosophischen Kritik daran. 5.5.2. »Gabe« in kulturwissenschaftlicher, ethnologischer Perspektive Der in eine handlungstheoretische Perspektive gestellte Begriff »donation« leitete sich aus dem Kriterium »ökonomischer Interesselosigkeit« ab. Allerdings, die damit verbundene Gratuität, die wie eine ›Weiche‹ der gesamten Geschehensdeutung des Gebens als reine »donation« die Richtung vorgibt, ist der schwierigste Aspekt dieser Konzeption. Dieser ruft die meisten kritischen Einwürfe derer hervor, die auf die allgemeine bzw. soziale Faktizität des Gebens hinweisen. Ein reines Geben, das nicht auf irgendeinen Zweck hinausläuft oder von einer, wenn auch noch so heimlichen Intention geleitet wird, lässt sich kaum der gewöhnlichen Erfahrungswelt oder der sozialen Faktizität entnehmen. Vielmehr ist »Geben« demnach immer als ein »Geben, um zu …« zu verstehen. Im Blick auf diese Interpretation ist nun zu vermerken, dass in keiner anderen Disziplin diese allgemeine, soziale Faktizität des Gebens mit wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gewürdigt wurde wie in der vorwiegend französischen Ethnologie. In der Tat legt der globale Reichtum vielfältiger Gabeakte 382 , zu denen nicht nur, wie vielleicht im überwiegend europäischen und nordamerikanischen Schenken, die bekannten Fixpunkte biographischer und kollektiv relevanter Pläne 383 veranlassen, den Sozial- und Kulturwissenschaften 382 Dazu gehören z. B. der zeremonielle Gabentausch in vorkolonialen Gesellschaften, der erwidert wird (Marcel Mauss), aber auch der Frauentausch zwischen Clans als Heiratsgabe (Claude Lévi-Strauss). Zu denken wäre auch an den Befund politischer Schenkungen, Stiftungen, Spenden, Delegationen unterschiedlicher Art, Lehnstrukturen, Mitgifte, Grabbeigaben etc. 383 Z. B. Geburtstaggeschenke, aber bereits schon Geschenke zu einer Geburt, Geschenke bei Todesfällen, bei Eheschließungen, bei Jubiläen und Festtagen.

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einen eigenen Fragekomplex vor: Was ist »Gabe« bzw. »Geben«? Und, vor allem, warum wird zurückgegeben? Insbesondere scheint nun im Zurückgeben, d. h. Erwidern eines Geschenkes ein anti-ökonomisches Moment zu liegen, das zum Fragen und Forschen anregt. Vor dem Hintergrund der unter 5.5.1. skizzierten Analyse des Gebens, insbesondere der dort dezidiert a-ökonomischen Interpretation dieses Vorganges, ist zu beobachten, dass in der Ethnologie immer wieder die Einsicht transportiert wurde, in sog. prämodernen, ›nicht-westlichen‹ Gesellschaften seien Wirtschaftsformen virulent, die »nicht wie in den Industriegesellschaften die des ökonomischen Tausches, sondern die des zeremoniellen Gabentausches [sind].« 384 Der Konflikt zwischen westlicher Ökonomie und ›archaischen‹ Gabeakten, die von ökonomischer Mentalität scheinbar noch nicht affiziert sein sollen, steht seit Langem im Mittelpunkt ethnologischer Diskussionen. 385 Demnach sieht es im Verhältnis zwischen dem von Marion herkommenden Verständnis von Gabe und deren ethnologischer Theoretisierung auf den ersten Blick so aus, als würden beide gleichermaßen für ein interesseloses, ökonomiekritisches Geben plädieren. 386 Bezeichnend dafür ist, dass in der Ethnologie oft Unterscheidungen zwischen Gaben und Waren bzw. zwischen vormodernen Gaben- und westlichen Warengesellschaften getroffen werden. Neben dieser zunächst gemeinsamen Frontstellung gegenüber der Ökonomie ist ferner zu beachten, dass ethnologische Theorien von Gabe nie einfach bei der Erforschung einzelner Volksgruppen stehen geblieben sind. Vielmehr erheben diese immer wieder den Anspruch, über ›ethnographisch eruierte‹ Gabephänomene universal gültige Regeln des menschlichen Daseins bzw. des sozialen Miteinanderseins aufzustellen. Dadurch gestalten sich diese Theorien der Gabe immer wieder als generelle Interpretamente sozialer Wirklichkeit, wodurch 384 Görlich, J. Tausch als rationales Handeln. Zeremonieller Gabentausch und Tauschhandel im Hochland von Papua-Neuguinea, 190. 385 Weiter haben die hier ausgetragenen Kontroversen um das Gabephänomen auch in die Soziologie und Kulturanthropologie ausgestrahlt. Vgl. Sahlins, M. Kultur und praktische Vernunft, 85 ff., Bourdieu, P. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, 180 ff. 386 So geht auch die ethnologische Diskussion über den Tausch, gleichsam der Oberbegriff dieses ethnologischen Phänomenbereiches, beträchtlich über seine rein ökonomische Relevanz hinaus, und »zwar weil […] Tausch oft weite Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens in allen Gesellschaften bestimmt.« (Rössler, M. Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, 167. Hervorh. / T. A.).

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sich eine spannende Nähe zu der von Marion prätendierten Ursprünglichkeit von »donation« ergibt. 387 Trotz dieser vorläufigen Übereinstimmungen wird Marion darauf insistieren, dass das Phänomen der Gabe in kulturwissenschaftlichem Kontext unterreflektiert bleibt. Denn zum einen wird »Gabe« hier immer als »Gabentausch« gedeutet. Zum anderen, und darauf aufbauend, würden aber die hier beobachteten Akteure nicht in ihrem sich-hingebenden Verwiesensein aneinander thematisch werden. Vielmehr kommen die dort Beteiligten immer isoliert voneinander in Betracht. Nach Auffassung Marions wird das Gabegeschehen im ethnologischen Kontext deswegen nicht in seiner ursprünglichen Reinheit entworfen. Marion will entsprechend den Nachweis dafür erbringen, dass die in den Sozial- und Kulturwissenschaften problematisierte Gabe bestimmten Engführungen unterliegen, die erst dann überwunden sind, wenn das soziale Faktum des Schenkens und Gebens (»le don«) als reiner Akt, »donation«, verstanden ist. Zunächst hat man sich für das Verständnis dieser Diskussion aber einen Überblick über die ethnologischen bzw. kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf »Gabe« zu verschaffen. 5.5.2.1. M. Mauss: Gabe zwischen Nostalgie und Zwang Ohne Zweifel haben die Untersuchungen des französischen Soziologen und Religionshistorikers Marcel Mauss von 1924 den einflussreichsten Anstoß zu einer von der Ethnologie ausgehenden Reflexion auf »Gabe« geliefert. 388 Für dessen Beobachtungen ist die Einsicht zentral, dass »Gabe« ein Sozialphänomen benennt, mit dem nichtwestliche Gesellschaften zu charakterisieren sind. Die »Gabe« bestimme sich, so Mauss, als spezifisch ›prämoderner‹ Tauschvorgang, der von den kapitalorientierten Marktmechanismen der westlichen 387 Ungeklärt ist natürlich, inwieweit ethnologischen Gabentheorien philosophische Valenz zukommen soll. Man wird bei dieser Frage aber keine simplizistische Trennung von Philosophie und Sozialwissenschaften propagieren dürfen. Dies gilt insbesondere angesichts der erstphilosophischen Perspektive des Marionschen Ansatzes. Denn dieser impliziert ja, dass die philosophische Frage nach ›donation‹ allem weiteren wissenschaftlichen Forschen zugrunde liegt. (Vgl. Kap. 5.1.3.). Im Sinne einer authentischen Konfrontation und Zusammenarbeit beider Disziplinen kommt auch der folgenden Studie Leitfunktion zu: Hénaff, M. Le prix de la vérité: le don, l’argent, la philosophie. 388 Vgl. Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften.

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Welt klar zu unterscheiden sei. Sie gebe deshalb ein triftiges Gegenbeispiel gegen die im Anschluss an A. Smith 389 oft vertretene Vorstellung des »homo oeconomicus« ab. Ferner setzt sich der Mausssche Gabebegriff, denkgeschichtlich näher, dem von E. Durkheim vertretenen, merkantil bestimmten Begriff des gesellschaftlichen Vertrages entgegen. 390 Mauss erforschte zunächst vor allem das Leben polynesischer Volksgruppen und nordwestamerikanischer Indianerstämme. Zunehmend beschäftigte er sich dabei dann mit den »sozusagen freiwilligen, anscheinend selbstlosen und spontanen« 391 Gabe- und Schenkakten, die in diesen Sozietäten wiederkehrend und in zeremonieller Form geleistet werden (»Potlatch«). Diese hier auf den ersten Blick als selbstlos erscheinenden Gabehandlungen werden von Mauss schließlich auf ihre die jeweilige Gesellschaft integrierende Funktionalität hin ausgedeutet. 392 Diesbezüglich deckt Mauss zunächst auf, dass den in diesen Gesellschaften weit ausgreifenden Vorgängen des Gabentausches 393 das Prinzip der Reziprozität innewohnt. Mit diesem Prinzip gehe aber jeweils eine moralische Verpflichtung einher: Die Gabe soll angenommen und erwidert werden. Aufgrund dieses Vgl. Braun, E.; Heine f.; Opolka, U. Politische Philosophie, 157 ff., vgl. »Mauss sieht aufgrund der Analyse der ethnographischen Quellen klar, dass ein rein auf Materielles orientierter Begriff des Interesses, wie er in der Ökonomie zur Analyse des durch die Mechanismen des Marktes geregelten ökonomischen Tausches verwendet wird, zur Erklärung des zeremoniellen Gabentausches ungeeignet ist. […] Ebenso wie bei Malinowski führt dies zur Kritik eines verkürzten, nur auf das Materielle gerichteten Interessekonzeptes, so wie er in der ökonomischen Theorie zur Zeit Malinowskis und Mauss’ im Homo oeconomicus-Modell vorausgesetzt wird.« (Görlich, J. Tausch als rationales Handeln. Zeremonieller Gabentausch und Tauschhandel im Hochland von Papua-Neuguinea, 197). 390 Vgl. »Und dementsprechend will er [Durkheim / T. A.] den Begriff des Vertrages erst dann ohne Einschränkungen angewendet wissen, wenn er mit dem ökonomischen Tausch in Industriegesellschaften in Verbindung steht.« (Rössler, M. Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, 190). 391 Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 18. 392 Vgl. »Fast immer nehmen sie die Form des Geschenks an, des großzügig dargebotenen Präsents, selbst dann, wenn die Geste, die die Übergabe begleitet, nur Fiktion, Formalismus und soziale Lüge ist und es im Grunde um Zwang und wirtschaftliche Interessen geht.« (Ebd.,18). 393 In vormodernen Kulturen geht nach Mauss das Gabegeschehen über materielle Dinge hinaus. Auch symbolische Handlungen, Riten, militärische Hilfe und andere Leistungen, Frauen, Kinder, Tänze und Festlichkeiten zählen dazu. (Vgl. Rössler, M. Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, 170). 389

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moralisch-obligatorischen Charakters müsse man zwar Abstriche machen an der Vorstellung, die Gabe werde im »Potlatch« oder anderswo selbstlos und gleichsam in Reinform geleistet. Für Mauss wäre jetzt aber herauszustellen, dass die Gabe kraft dieser ›Moralität‹ eine eminente Funktion im gesellschaftlichen Leben dieser Volksgruppen einnimmt. Nach seinen Beobachtungen werden nämlich die gesamten Sozialsysteme jener Ethnien von der Gabe, d. h. den moralisch aufgeladenen Netzwerken gegenseitigen Gebens, Annehmens und Erwiderns von Gabe konstituiert und strukturiert. 394 Dies beziehe sich auch auf ihre religiösen, juristischen und ästhetischen Bereiche. 395 Mauss ist schließlich der Auffassung, auch das Selbstverständnis eines Individuums gehe auf gruppen- oder stammesinterne Gabehandlungen zurück. Um der universalen Relevanz von Gabe in diesen Gesellschaften Ausdruck zu geben, nennt Mauss die Gabe eine »totale Leistung« oder eine »totale gesellschaftliche Tatsache« 396 . Denn der Gabentausch hat in diesen Volkgruppen die Funktion, die Individuen gesellschaftlich zu integrieren und die Gesellschaft in sich selbst zu erhalten. 397 Zentral für die Maussche Studie ist die Frage nach der Genese dieses Gabephänomens: Warum, so formuliert Mauss, komme es überhaupt zu einem dem Schein nach ökonomisch desinteressierten Gabentausch? Deutlicher: Zu untersuchen wäre, warum eine erhaltene Gabe ursprünglich nicht eigennützig von den davon betroffenen Individuen ausgewirtschaftet, sondern mit einer Gegengabe beantwortet wird. 398 Wie es auch immer um die die Gesellschaft integrierende Geltung von Gabe bestellt sein mag: Dass man ein Geschenk 394 Vgl. »Nach Mauss ist also die freiwillig und uneigennützig erscheinende Gabe tatsächlich in einen Kontext der sozialen Verpflichtungen – der Verpflichtungen des Gebens, Annehmens und Erwiderns – eingebunden.« (Deterts, D. Die Gabe im Netz sozialer Beziehungen, 23). 395 »All dies sind gleichzeitig juristische, wirtschaftliche, religiöse, sogar ästhetische, morphologische Phänomene.« (Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 176). 396 Vgl. »[…] denn die totale Leistung bringt nicht nur die Verpflichtung mit sich, die empfangenen Geschenke zu erwidern; sie setzt auch zwei weitere ebenso wichtige voraus: einerseits die Verpflichtung, Geschenke zu machen, und andererseits die, Geschenke anzunehmen.« (Ebd., 36). 397 Vgl. das Gabegeschehen hat ein »Gleichgewicht innerhalb der sozialen Ordnung zur Folge.« (Ebd., 171). 398 Vgl. »Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?« (Ebd., 18).

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mit einem Geschenk erwidert, scheint unstreitig das bemerkenswert ökonomiefreie und uneigennützige Moment am Ursprung von Gabe zu sein. 399 Wie kommt es also zu diesem Erwidern der Gabe? Bei der Beantwortung dieser Frage rekurriert Mauss unter anderem auf Rechtsdefinitionen der polynesischen Gesellschaften (z. B. das sog. »Maori-Recht«) und ihrer ›Seelenlehre‹. Ihnen gemäß ist die Gabe vom »hau« bewohnt, d. h. vom Geber ›beseelt‹, wenn man diese Übersetzung in abendländische Begrifflichkeiten einmal zulässt. Dieser der Gabe, dem Geschenk inhärente »hau« möchte aber wieder an seine Ursprungsstätte zurückkehren. 400 Eine Gabe ist folglich mit einer Gegengabe zu beantworten, um diesem Movens des »hau« zu entsprechen. Umgekehrt: Mit der dargereichten Gabe übt der Geber nach vollzogener Gabehandlung eine psychologisch durchaus gravierende Macht auf den Empfänger aus, die erst durch die Erwiderung des Geschenkes in einer Gegengabe kompensiert wird. »[…] denn etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen annehmen, von seiner Seele; es aufzubewahren wäre gefährlich und tödlich, und zwar nicht allein deshalb, weil es unerlaubt ist, sondern weil diese Sache – die nicht nur moralisch, sondern auch physisch und geistig von der anderen Person kommt – weil dieses Wesen, diese Nahrung, diese beweglichen oder unbeweglichen Güter, diese Riten oder Kommunionen magische und religiöse Macht über den Empfänger haben.« 401 Bei verweigerter Gegengabe würde sich die psychologische Macht des Gebers zur Bedrohung verschärfen, die der Empfänger mitunter sehr peinigend erfahren würde. 402 Immer 399 Wahrscheinlich ließe sich die ganze Diskussion um die Gabe auf die kuriose und zum Fragen anregende Phänomenalität der Gabeerwiderung fixieren. 400 Vgl. ebd., 33 ff., vgl. »Da bei den Maori wie in vielen anderen Stammesgesellschaften keine strenge Trennung zwischen Personen- und Sachenrecht existiert, überreicht der Geber mit der Gabe einen Teil seiner Persönlichkeit an den Empfänger. Er gibt einen Teil seiner ›hau‹ (Seele), und dieses ›hau‹ ist es, welches wieder zu ihm zurückkehren möchte.« (Görlich, J. Tausch als rationales Handeln. Zeremonieller Gabentausch und Tauschhandel im Hochland von Papua-Neuguinea, 195). 401 Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 35 f. 402 Zu untersuchen wäre, inwieweit diese Bedrohungssituation sich in einem Hexenglauben verschärfen kann, der das Motto trägt: »Derjenige, der nicht gibt oder zurückgibt, ist ›verhext‹.« Dass eine solche Sicht der Dinge für die wirtschaftliche Stagnation in nicht-westlichen Kulturkreisen verantwortlich ist, hat D. Signer am Beispiel der Elfenbeinküste sehr eindrücklich dargestellt: Signer, D. Die Ökonomie der Hexerei oder warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt.

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will nämlich der Seelenteil des Gebers, der der empfangenen Gabe weiterhin innewohnt, wieder an seinen Ausgangsort zurück: »Es [das Geschenk / T. A.] verfolgt nicht nur den ersten Empfänger, eventuell sogar eine dritte Person, sondern jedes Individuum, dem das taonga [das Geschenk / T. A.] einfach überlassen wurde. Im Grunde ist es das hau, das zu dem Ort seines Ursprungs, zur geheiligten Stätte des Waldes und des Clans und zum Eigentümer zurückkehren möchte.« 403 Dass im Gabeobjekt eine geistige Substanz des Gebers wahrgenommen wird, die wieder an ihren Ursprung zurück tendiert, begründet, warum die Individuen, die eine Gabe empfangen haben, diese mit einer Gegengabe erwidern. Mauss weist ferner an vielen verschiedenen ethnischen Gruppen die skizzierte ›psychologische Befrachtung‹ des Gabentausches nach. Schließlich scheint er damit eine Art vorkapitalistische, gleichsam ›indigene‹ Weltsicht entwerfen zu wollen. Seine Beobachtungen führen Mauss zu der Behauptung, dass das von dieser ›Seelenlehre‹ bestimmte Geben, Annehmen und Erwidern der Gabe den westlichen, kapitalorientierten Wirtschaftsformen vorausginge und deren verschüttete Urform bilde. Der zeremonielle Gabetausch dieser Gesellschaften wird von Mauss ferner als Gegenmodell der vom Kapitalismus geprägten Situation der 20er Jahre eingesetzt. 404 Entsprechend fordert Mauss seine Leser in Schlussüberlegungen dazu auf, die eigene wirtschaftspolitische Situation als Abfall aus den ursprünglichen Vorgängen des Gabetausches wahrzunehmen. Dafür zeichnet er ein sozialromantisches Bild von Gesellschaften, die die ökonomischen Mechanismen noch nicht verdorben haben und die dem entgegen ganz im System des archaischen Gabentausches leben. 405 Der Maussche Ansatz begründet damit im Letzten 403 Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 34. 404 Vgl. »Und dieser Traum war in Mauss, in ihm, der, als er aus dem Krieg von 1914 kam, auf den Staat und die Großzügigkeit der Reichen baute, um es unseren westlichen Gesellschaften zu gestatten, den Weg des sozialen Fortschritts dadurch wieder aufzunehmen, dass sie sich weigerten, sich, so seine Worte, in der ›kalten Berechnung des Kaufmanns, Bankiers oder Kapitalisten‹ zu verbarrikadieren. Mauss träumte von einer Welt, in der die Wohlhabenden großzügig und der Staat entschlossen um die Konstruktion einer gerechteren Gesellschaft bemüht wären.« (Godelier, M. Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, Heilige Objekte, 292). 405 Vgl. »Das System, das wir das System der totalen Leistung zu nennen vorschlagen (Leistungen von Clan zu Clan, bei denen die Individuen und Gruppen alles untereinander tauschen), bildet die älteste Wirtschafts- und Rechtsordnung, die wir kennen und

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die Dualität von Gaben und Waren, von sozial integrativen Gabenund ökonomischen Warengesellschaften, bei denen allein der individuelle Profit zählt und der Einzelne seiner ursprünglichen Verwobenheit in die Gabegemeinschaft entfremdet werde. Vielleicht indiziert das Gabegeschehen im Anschluss an Mauss eine gewisse Alternative zu ökonomischen Mechanismen westlicher Art. Womöglich könnte dies, wie Mauss schließlich mit geradezu parteipolitischer Verve betont 406 , einen Anstoß dazu geben, das eigene Sozial- und Wirtschaftssystem kritisch zu überdenken. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass der hier ad hoc glorifizierte Gabentausch selbst von anderen, sozialen bzw. sozialpsychologischen Zwängen angetrieben wird, was die quasi romantische Sicht darauf wieder ein wenig trüben müsste. Dies lässt sich an mindestens vier Punkten deutlich machen: Mit Rücksicht auf u. a. indianische Volksgruppen macht Mauss klar: »Sich des Gebens oder Nehmens enthalten, das bedeutet – ebenso wie sich des Erwiderns enthalten – einen Verlust an Würde.« 407 Erstens würde demnach aus einer unerwiderten Gabe der soziale Ansehensverlust eines Individuums resultieren. Überdies steigert sich zweitens das gesellschaftliche Prestige des Gebers durch den Gabeakt, was in umgekehrter Richtung die Zwanghaftigkeit dieses Geschehens bekräftigt: »Geben heißt Überlegenheit beweisen, zeigen, dass man mehr ist und höher steht, magister ist; annehmen, ohne zu erwidern oder mehr zurückzugeben, heißt sich unterordnen, Gefolge und Knecht zu werden, tiefer sinken, minister werden.« 408 Der psychologische Zwang in der Gabe verfestigt sich uns vorstellen können. […] Und das ist gerade der Typus, auf den wir unsere eigenen Gesellschaften – nach ihren eigenen Verhältnissen – gerne würden zusteuern sehen.« (Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 164). In der ethnologischen Literatur wurde immer wieder kritisch auf diesen evolutionistischen Dynamismus der Maussschen Konzeption hingewiesen. Ähnlich wie Hobbes geht Mauss vom Urzustand des Krieges aller gegen alle aus, der erst durch Gabehandlungen zu überwinden ist: »Zuerst mussten die Menschen es fertig bringen, die Speere niederzulegen.« (Ebd., 181). Andererseits scheint Mauss ein erneutes Umkippen der Gesellschaft in den Kriegszustand zu befürchten, wo die Gabe von den westlichen Wirtschaftsformen aufgesogen wird. 406 Vgl. ebd., 159 ff. 407 Ebd., 99 f. 408 Ebd., 170 f., vgl. »Außerdem gibt man, weil man dazu gezwungen ist, weil der Geschenknehmer eine Art Eigentumsrecht auf alles hat, was dem Geber gehört.« (Ebd., 37 f., vgl. die Interpretation Rösslers »In Wahrheit sei bei vielen Systemen vor allem

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drittens dadurch, dass sich an der würdigen Rückgabe der claninterne und -externe Friede entscheiden soll: »Die Gaben an die Menschen und an die Götter haben auch den Zweck, den Frieden zu erkaufen.« 409 Weil die Gabe im Sinne Mauss’ aber ›der sichere Weg in die soziale Integration‹ darstellt, verknüpft sich an sie jeweils ein vierter Zwang seitens der Individuen: Bei deren Streben, Teil eines Gemeinwesen zu werden oder zu bleiben, dienen Gabehandlungen als bevorzugte Vehikel. Im Fazit ist zu sagen: Der Maussche Ansatz entdeckt zwar die tiefer liegende, gesellschaftsintegrierende Funktionalität von »Gabe« und erkennt dadurch deren universale Tragweite. Doch tritt deutlich hervor, wie das Gabephänomen von meist subversiven Verpflichtungs- oder Zwangsmechanismen begründet wird. 410 Dadurch verstellt sich aber der Blick auf die Gabe als reine »donation« im Anschluss an Marion.Von dort her lassen sich die Unterschiede zu dessen unter 5.5.1. entworfener Konzeption bereits benennen. Dass die »Gabe« einen ursprünglichen, ja totalen Akt darstellt, der das Selbstverständnis der an ihm beteiligten Individuen begründet, könnte Marion theoretisch noch unterschreiben. Allerdings trennen sich dessen Wege von der Mausschen Theorie dort, wo in dieser das Phänomen »Gabe« näher erfasst werden soll. Marion hatte ja eine reine originäre Gebung postuliert, die jeder Gabehandlung zugrunde liegen sollte. 411 »Donation« meinte die quasi unvordenkliche Andes zeremoniellen Gabentausches das Eigeninteresse jeder Partei von entscheidender Bedeutung.« (Rössler, M. Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, 170). 409 Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 45. 410 Vgl. »Das Almosen ist das Produkt eines moralischen Begriffs der Gabe und des Reichtums einerseits und des Begriff des Opfers andererseits. Die Freigebigkeit ist obligatorisch, da sich andernfalls die Nemesis für die Armen und die Götter an dem Übermaß an Glück und Reichtum einiger Menschen rächt, die sich seiner entledigen müssen: es ist die alte Moral der zum Gerechtigkeitsprinzip gewordenen Gabe.« (Ebd., 47). 411 Interessant ist, dass B. Malinowski, ein berühmter Erforscher der Argonauten und Trobiander, wohl als erster und noch vor Mauss auf die Tragweite ethnischer Gabeakte aufmerksam wurde. Malinowski hatte statt auf die bloß gesellschaftskonstituierende Bedeutung wohl noch die Theorie eines völlig reinen, interessefreien Gebens (im Sinne Marions?), vertreten: »Diese Kritik an einem verkürzten Interessebegriff führt bei Malinowski dazu, dass er im Zusammenhang mit der Analyse von sozialen Prozessen vermeidet, auf den Interessebegriff zurückzugreifen und darüber hinaus solche Kategorien wie das ›pure gift‹ oder ›free gift‹ einführt (= eine Gabe, die mit keiner Rückgabeerwartung gekoppelt ist).« (Görlich, J. Tausch als rationales Handeln. Zeremonieller Gabentausch und Tauschhandel im Hochland von Papua-Neuguinea., 198, vgl. Mauss M. Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, 168).

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kunft eines Geschenkes, dessen Bedeutung nicht nur allen ökonomischen, sondern auch allen sozial relevanten Interessenssphären entgegensteht. Im Marionschen Ansatz ist also die unendliche Gratuität von Gabe angelegt. Weil die Gebung als Schenkung in seinem Sinne das unvorhersehbare und infinite ›Glück des anderen‹ im Auge haben sollte, sollte in ihm eine vorbehaltlose, von äußerlichen Zwängen freie Hingebung ausgeführt werden. Die Gabehandlung als reine »donation« ist völlig zwangfrei. Im Unterschied dazu bestimmen beim Maussschen Ansatz die gesellschaftskonstituierenden Funktionen und die mit ihnen einhergehenden Zwänge das Gabegeschehen. Die Reinheit von »donation« wird hier in dem Maße lädiert, wie das Individuum geben und empfangen muss, um sich in die Gesellschaft zu integrieren, seine Position darin zu sichern und für allgemeinen Frieden zu sorgen. Die Gabe wird deshalb nicht in ihrem reinen Akt wahrgenommen, sondern dient bestimmten, extrinsischen Zwecken. Angeregt durch diesen Kontrast wird bei Marion die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob »Gabe« als solche und überhaupt phänomenal wird, wenn sie, wie bei Mauss, unter die Klammer des Gabentausches gestellt wird. Zuvor ist jedoch die Weiterentwicklung der Maussschen Theorie wenigstens grob nachzuzeichnen 5.5.2.2. Auf dem Weg in die ›entzauberte Gabe‹ : C. Lévi-Strauss, P. Bourdieu u. a. Ausgehend von den Mausschen Beobachtungen haben sich bis in die Gegenwart hinein zwei gegensätzliche Forschungsstränge in der vorwiegend angelsächsischen und romanischen Ethnologie und ihren sozialwissenschaftlichen Anrainerdisziplinen entwickelt. Im einen Fall lehnte man die Mausssche Vorstellung ›prä- bzw., anti-ökonomischer‹ Gabehandlungen ab. Im anderen hielt man an ihr mit gewissen Abänderungen vorläufig noch fest. So ist erklärlich, dass sich die ethnologischen Diskussionen vor allem an der Unterscheidung von ›ökonomiefreien‹ Gaben und kapitalistischen Waren entzündeten. Einerseits wurde der in der Mausschen Konzeption angelegte Unterschied zwischen Gaben und Waren für nichtig und unbrauchbar erklärt. Aufgrund seines sozialromantischen, quasi ›post-rousseauistischen‹ Anstriches 412 befand man ihn bald für unwissenschaftlich. Andererseits entnahm man der Mausschen Gabetypologie wichtige 412

Der Zusammenhang zu Rousseaus Rede vom »Edlen Wilden« scheint deutlich durch

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Anstöße bei der Analyse von wenigstens partiellen, ethnischen ›Reservaten‹, in denen man das ökonomisch unbeschlagene Wirken von »Gabe« wahrnehmen wollte. Unter dem Beschuss ›ökonomistischer‹ Fachvertreter scheint aber die Rede von einem eigenständigen Gabephänomen auch hier in zunehmendem Maße schwieriger geworden zu sein. Insgesamt lassen sich die an Mauss anschließenden Forschungsrichtungen als Ethnologien verstehen, die den Weg in die Entzauberung des Gabephänomens beschritten haben. In Rücksicht auf die Ausgangsfrage, wie sich kulturwissenschaftliche Gabetheorien und die Marionsche Konzeption zueinander verhalten, ist dieser weiteren Behandlung von »Gabe« nachzugehen. Für denjenigen Forschungsstrang, der die Mausssche Gabetheorie weiter tradieren wollte, war zunächst eine Art ›Entmythologisierung‹ nötig: Man hatte sich von der evolutionistischen Geschichtskonzeption und ihren moralischen, sozialromantischen Beiklängen loszusagen, die Mauss noch eifrig betonte. Dazu gehörte das Bemühen um eine differenzierte Lektüre des Gaben-/Waren-Gegensatzes. Es wurde darauf verwiesen, dass dieser nicht auf zwei voneinander getrennte Epochen innerhalb einer ökonomischen Evolution zu übertragen war. Entsprechend wurde beobachtet, dass Gabeobjekte ihren Status im Verlauf ihrer ›Dingbiographie‹ ändern und zu Waren mutieren können. 413 Selbst dem Warentausch war eine gewisse sozial integrative Funktion nicht abzusprechen. 414 Ebenfalls musste man anerkennen, dass Gaben und Waren in jeder Gesellschaftsform und Epoche miteinander koexistieren können. Von dort her wurde die Mausssche Unterscheidung zwischen Gaben und Waren als eine simplifizierende, ja eurozentrische Kategorisierung zurückgewiesen. Deren unkritische Anwendung auf außereuropäische Gesellschaften war starken Zweifeln ausgesetzt und die eigenständige, d. h. vom Warenbegriff unabhängige Phänomenalität von »Gabe« drohte immer mehr auch aus dieser ethnologischen Richtung verdrängt zu werden. 415 Allerdings: Dass man an der zumindest phänomenalen Diffedie Maussche Konzeption hindurch: Vgl. Rousseau, J.-J. Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité. 413 Vgl. Deterts, D. Die Gabe im Netz sozialer Beziehungen, 28 ff. 414 Vgl. Rössler, M. Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, 178. 415 Vgl. Deterts, D. Die Gabe im Netz sozialer Beziehungen 25, vgl. »Die Dichotomie Gabe-Ware lässt sich darüber hinaus sogar als eine Folge der Tatsache betrachten, dass die westliche Sozialwissenschaft eine exotische, romantische Ideologie der Gabe als Ge-

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renz von »Gabe« und »Ware« gelegentlich noch festhielt, beweist eine Definition bei C. Gregory von 1982. Ihr zufolge ist der Gabentausch (»gift exchange«) vom Warenhandel (»commodity exchange«) abzugrenzen. Nach Gregory sind die in der Gabe ausgetauschten Objekte unveräußerlich, d. h. zwischen ihnen und dem Geber besteht ein psychologisches Kontinuum. Anders gesagt: Die an der Gabe beteiligten Akteure bewegen sich in wechselseitiger und qualitativer Abhängigkeit zueinander. Just diese Merkmale treffen aber auf den Warentausch nicht zu. Die Unterscheidung Gregorys sei in voller Länge zitiert, um den nachhaltigen Einfluss der Mausschen Gabetheorie bis in die Gegenwart hinein zu unterstreichen: »Commodity exchange is an exchange of alienable objects between people who are in a state of reciprocal independence that establishes a quantitative relationship between the objects exchanged. This relationship springs from the methods of production and productive consumption, which means that the principle governing the production and exchange of things as commodities are to be explained with reference to control over productive labour. Gift exchange is an exchange of inalienable objects between people who are in a state of reciprocal dependence that establishes a qualitative relationship between the transactors. This relationship springs from the methods of consumption and consumptive production, which means that the principles governing the production and exchange of things as gifts are to be explained with reference to control over births, marriage and deaths.« 416 Trotz dieses interessanten Plädoyers zugunsten einer eigenständigen Phänomenalität von Gabe innerhalb der Ethnologie, die aufgrund der Konstituenten »Unveräußerlichkeit« und »personale Abhängigkeit« auch eine kleine Schnittmenge mit dem sich an Marion anschließenden Verständnis von Gabe haben könnte, scheinen sich in der gegenwärtigen Ethnologie 417 nur noch regional begrenzte Untersuchungen zu diesem Phänomenbereich zu finden. Der Anspruch, mit dem Mauss 1924 die universale Wirkmächtigkeit einer ökonomisch unberührten Gabe heraus- und den westlichen

gensatz zur Dominanz der Ware in der kapitalistischen Wirtschaft künstlich konstruiert hat.« (Rössler, M. Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, 178). 416 Gregory, C. A. Gifts and commodities, 100 f. 417 Vgl. z. B. die Arbeiten Deterts D. Die Gabe im Netz sozialer Beziehungen und Görlich, J. Tausch als rationales Handeln. Zeremonieller Gabentausch und Tauschhandel im Hochland von Papua-Neuguinea.

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Handel als deren Dekadenzform darstellen wollte, gilt in der Ethnologie weitgehend als überwunden. 418 Eine genuine Phänomenalität von Gabe zu denken, erwies sich zunehmend als obsolet. Diese ethnologische Verfallsgeschichte von »Gabe« dokumentiert sich gut an einigen Stellungnahmen von C. Lévi-Strauss. Der große strukturalistische Ethnologe spricht in seinen Analysen zum Frauentausch dem Gabegeschehen das Recht ab, ein ethnologisches Objekt mit eigenständiger Dignität zu sein. An seine Stelle wäre nun dezidiert der ›allgemeine Tausch‹ zu platzieren. Das Phänomen der Gabe wäre, prägnant gesagt, gegen das ›des Tausches einzutauschen‹. Die Gabe als autonomes Thema der Ethnologie scheint nach Auffassung Lévi-Strauss’ lediglich eine leicht durchschaubare Projektion europäischer bzw. nordamerikanischer Schenkkulturen auf exotische Zivilisationen darzustellen. Sie wäre deshalb auf den für den Gegenstandsbereich der Ethnologie zutreffenderen Tausch zu reduzieren: »Zweifellos ist die Gabe eine primitive Form des Austauschs. Sie ist jedoch gerade zugunsten des Tausches verschwunden, abgesehen von einigen Überbleibseln wie Einladungen, Fest und Geschenken, die sie in ungebührlicher Weise herausgestrichen haben.« 419 Anders als Mauss bindet Lévi-Strauss die als Tausch völlig verstandene Gabe an geistige Regelstrukturen zurück, die für universal bestimmend gehalten werden. Dachte Mauss der Gabeerwiderung noch die moralisch relevante Funktion zu, sozial integrativ zu wirken, so gerät die Gabe bei Lévi-Strauss unter die Herrschaft gleichsam apriorisch gedachter Regelstrukturen des menschlichen Geistes. Im Einzelnen: Lévi-Strauss zufolge ist die Regel der Gegenseitigkeit dem menschlichen Geist als starres Muster eingebrannt. Eine weitere von LéviStrauss entdeckte Struktur des menschlichen Geistes, die den Gabentausch bestimmen sollte, liegt im Verlangen nach Gleichheit und Sicherheit. 420 Bei ethnologischen Untersuchungen sei deshalb davon auszugehen, dass in den Tauschhandlungen die Individuen diesen universal gültigen Regeln Folge leisteten. Werde demnach eine Gabe mit einer Gegengabe beantwortet, dann verdanke sich dieses Geschehen den regelhaften Bedürfnissen nach »Gegenseitigkeit«, »Gleich418 Dagegen scheint über die Soziologie Bewegung in die Frage nach einem eigenständigen, ja ursprünglichen Gabephänomen zu kommen. Vgl. die Positionen in: Gestrich, C. (Hrsg.) Gott, Geld und Gabe. Zur Geldförmigkeit des Denkens in Religion und Gesellschaft. 419 Lévi-Strauss, C. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 119. 420 Vgl. ebd., 150.

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heit« und »Sicherheit«. 421 Klar ist deshalb, dass das Gabegeschehen bei Lévi-Strauss quasi verabsolutierten Geistesstrukturen nachgeordnet wird, zu deren Symptom sie mutiert. Zwar sieht es zunächst so aus, als hätte dies mit Ökonomie nur wenig gemeinsam. Doch legt sich die Deutung nahe, in der Interpretation Lévi-Strauss’ setze sich jener gabetheoretische Funktionalismus fort, der im Prinzip schon bei Mauss vorlag, wenn dieser die Gabe auf die soziale Integration, gesellschaftliche Konstitution etc. hin auslegte. 422 Damit wird aber die Rückbindung des Gabephänomens an ihm äußerliche Strukturen weiter vorangetrieben, wodurch sich, aus dem Blickwinkel der Marionschen Vorgaben, deren ökonomische Interpretation verfestigt. 423 Für das Verständnis der bei Lévi-Strauss maßgeblichen ›Regeln des menschlichen Geistes‹ ist ferner wichtig, dass sich diese auf die ›natürliche Kollektiverfahrung‹ 424 des universalen Kampfes aller gegen alle zurückführen lassen sollen. Die Regelstrukturen verkörpern damit das Ergebnis einer überwundenen Kampfessituation ›im Naturzustand‹. Mit ihrem Auftreten werde menschliche Kultur und Zivilisation hervorgebracht. In diesem Zusammenhang darf der Hinweis nicht fehlen, dass Lévi-Strauss seine phylogenetischen Prämissen durch die entwicklungspsychologischen Beobachtungen S. Isaacs abstützen will. Isaac hatte aber an der Erfahrung des Schenkens / Gebens eine tiefer liegende Feindschaft der Akteure untereinander plausibel gemacht. Der Bezug lag dabei vorwiegend auf Kindern und ihren Geschenkerfahrungen. Im Blick darauf wurde betont, Interpretationen dieser Situation kämen nicht an der Feststel421 Vgl. »[…] wir haben bereits angedeutet, dass das wesentliche Phänomen in unseren Augen nicht die duale Organisation ist, sondern das Prinzip der Gegenseitigkeit, dessen Kodifizierung sie in gewisser Weise bildet.« (Ebd., 132). 422 Eine »reine Gabe« wäre nach Lévi-Strauss undenkbar. In einer mit Lévi-Strauss hypothetisch angenommenen Freiheit vom struktural geregelten Gabentausch würde lediglich die Sehnsucht einzelner auf ungeteilte, egoistische Nutznießung der Gaben aufbrechen. Vgl. »To believe that the law of exchange can be evaded is to believe that one could gain without losing, enjoy without sharing; is to want something for nothing. The fantasy of freedom from exchange is the sociopath’s comfort blanket.« (Jarvis, S. The Gift in Theory, 202). 423 Unter einer ökonomischen Deutung wurde ja bereits in 5.5.1. jede Haltung verstanden, in der die Gabe einem Nutzen zugute kommen sollte. 424 Vgl. »Man kann also sagen, dass die Fähigkeit zu teilen oder ›zu warten, bis man an die Reihe kommt‹, Funktion eines wachsenden Gefühls der Gegenseitigkeit ist, das selbst aus einer erlebten Erfahrung der kollektiven Tatsache und dem tieferen Mechanismus der Identifizierung mit dem anderen entsteht.« (Vgl. Lévi-Strauss, C. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 151).

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lung eines grundlegenden Neides vorbei, den Kinder hier anderen gegenüber empfinden. Nach S. Isaac gilt deshalb hinsichtlich des Schenkens: »Alle Kinder […] sehen in den anderen Kindern wirkliche oder potentielle Rivalen.« 425 Durch die Übernahme dieser Sicht in seine ethnologische Konzeption hat Lévi-Strauss nicht nur die Gabe auf den regelhaften Tausch reduziert. Mehr noch wurden die Regeln des Tausches selbst an einen noch ursprünglicheren Kampf zurückgebunden, der sich weiterhin im kindlichen Schenken manifestiert. Die Gabe, das Geben und Schenken würde damit nur den tiefer liegenden Neid und Kampf aller gegen alle kaschieren. Dieser wäre die tiefste Wahrheit von Gabe. Dieser Überblick ist mit den Interpretationen von Gabe und Schenken abzuschließen, die der empirisch, ›praxistheoretisch‹ verfahrende Kultursoziologe P. Bourdieu vorgelegt hat. Die Forschungen Bourdieus erstrecken sich ebenfalls auch auf exotische Volksgruppen, wobei der Schwerpunkt auf den kabylischen Berberstämmen Südalgeriens liegt. An den in diesem Kontext auftretenden Schenkungen liest Bourdieu zwei Grundstrukturen ab: Die Erwiderung der Gabe habe zeitlich verschoben zu erfolgen und in ihr dürfe kein mit der Erstgabe identisches Objekt überreicht werden. 426 Bourdieu kommt auf der Basis dieser Beobachtung zu der generellen Einsicht, es gelte als verpönt, wenn erstens die Gabe mit einer material unterschiedslosen Gegengabe erwidert und zweitens wenn eine gewisse zeitliche Verzögerung zwischen Gabe und Gegengabe nicht eingehalten werde. Verstieße man gegen diese Konvention, dann würde der Gabentausch nicht funktionieren. Die als Konstituens von Gabe u. a. ausgemachte Zeitspanne, die zwischen Gabe und Gegengabe besteht, veranlasst Bourdieu aber zur folgenden, weiterführenden Interpretation: Wegen der Zeit, die zwischen Gabe und Gegengabe notwendig verstreichen muss, können sich mit dem ganzen Geschehen Erwartungen auf »soziales Kapital« verknüpfen. 427 Unter sozialem Kapital Isaac, S. Social Development in Young Children, 231. zit. n. ebd., 152. Vgl. »Tatsächlich kann man in jeder Gesellschaft beobachten, dass die Gegengabe, wenn sie nicht zur Beleidigung werden soll, zeitlich verschoben und verschieden sein muss, weil die sofortige Rückgabe eines genau identischen Gegenstands ganz offenbar einer Ablehnung gleichkommt.« (Bourdieu, P. »Sozialer Sinn«. Kritik der theoretischen Vernunft, 193). 427 Derrida sieht gerade in dieser dem Gabegeschehen wesenhaften Zeitspanne zwischen »don« und »redon« ein Indiz für eine ursprüngliche, von jeder Ökonomieform unberührte, d. h. reine Gabe. Vgl. »Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, 425 426

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versteht Bourdieu vor allem gesellschaftliche Achtung und Ansehen. So sieht er überall dort, wo generöse, freigiebige Handlungen von Gabe und Gegengabe durchgeführt werden, das subversive Verlangen der Individuen nach sozialem Kapital. Aufgrund dessen hänge das Gelingen eines Gabeaktes von Verschleierungen ab, die kollektiv unbewusst bleiben müssten. Daraus ergibt sich für Bourdieu folgendes Bild von Gabe: Einerseits werde eine Gabe als großzügige Leistung ausgegeben, andererseits liege deren objektiver, aber subkutaner Wert im Wunsch des Individuums nach gesellschaftlichem Prestige. Der sich daraus ergebende Symbolisierungsprozess in der Gabe mache sich vor allem in Gesellschaften oder gesellschaftlichen Segmenten geltend, in denen das Ansinnen auf ökonomisches Kapital unangebracht wäre: »[…] das symbolische Kapital ist jenes verneinte, als legitim anerkannte, also als solches verkannte Kapital (wobei Anerkennung im Sinne von Dankbarkeit für Wohltaten eine der Grundlagen dieser Anerkennung sein kann), das gewiss zusammen mit dem religiösen Kapital dort die einzig mögliche Form der Akkumulation darstellt, wo das ökonomische Kapital nicht anerkannt wird.« 428 Insgesamt ist der Gabentausch nach Bourdieu deshalb als soziales Spiel aufzudecken, das dadurch funktioniert, dass seine Teilnehmer sich weigern, der objektiven, unverschleierten Wahrheit von Gabe ins Gesicht zu blicken. Die ›objektive Wahrheit‹ von Gabe liege aber darin, dass die am Gabentausch Beteiligten »symbolisches Kapital« vermehren und ihr individuelles Ansehen steigern wollten. Dieses individuelle Privatinteresse werde in der Gabehandlung zu einer generös erscheinenden Oberflächenstruktur transformiert. Damit dieses Spiel der Gabe gelingt, müsse es als Spiel den individuellen Akteuren von Gabe aber unbewusst bleiben. Bourdieu nennt generöse Gaben deshalb Strategien zweiter Ordnung: »Unmittelbar auf imaginären Gewinn (z. B. auf das gesellschaftliche Kapital einer vorteilhaften Heirat) ausgerichtete Strategien werden häufig durch Strategien zweiter Ordnung verstärkt, die darauf abzielen, den Erfordernissen der offiziellen Regel dem Scheine nach zu keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld. Wenn der andere mir das, was ich ihm gebe, zurückgibt oder es mir schuldet, das heißt mir zurückgeben muss, wird es keine Gabe gegeben haben, ob diese Rückgabe nun unmittelbar erfolgt oder vorprogrammiert ist im komplexen Kalkül eines lang befristeten Aufschubs [différance]. Das ist überdeutlich, wenn mir der andere, der Gabenempfänger, unmittelbar dasselbe zurückgibt.« (Derrida, J. Zeit geben Bd. I. Falschgeld, 22 f.). 428 Bourdieu, P. »Sozialer Sinn«. Kritik der theoretischen Vernunft, 215.

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genügen und so seine eigenen Interessen zu befriedigen und zugleich das Ansehen oder die Achtung einzuheimsen, die fast überall Handlungen entgegengebracht werden, mit denen scheinbar kein anderer Zweck verfolgt wird als die Einhaltung der Regel.« 429 Mit Bourdieu kommt man wohl zu einem abschließenden Höhepunkt dieser ethnologischen Entzauberungsgeschichte von »Gabe«. Unbeschadet der Differenzen einzelner Theoretiker ist festzustellen, dass keine dieser Interpretationen mit der von Marion vertretenen Sicht auf das Geben als reine »donation« übereinstimmt. Vielmehr könnte sich die Marionsche Konzeption einer interesselosen »donation« jetzt, aus der Rückschau, als wenig bodenständig ausnehmen. Denn die ethnologisch-sozialwissenschaftliche Deutung von Gabe hat ein wie auch immer bestimmtes, praktisches Interesse als für die Gabe leitend erkannt. Bereits in der zunächst ökonomiekritischen Würdigung der Gabe nach Mauss rückte die soziale Integration in den Mittelpunkt. Das »Geben« wurde insoweit verstanden, als es die Gesellschaft konstituieren und die Individuen in sie integrieren sollte. Lévi-Strauss funktionalisierte das Gabephänomen schließlich auf universale Strukturen des Geistes hin und Bourdieu unterstellt in jeder geleisteten Gabe das individuelle Streben nach sozialem Kapital. Man kann im Resümee sagen, dass die Gabehandlung in all diesen Diskursen seit Mauss in Interessen eingebunden bleibt, die dem Geschehen als solchen äußerlich wären. Genau dieser Aspekt bildete aber die maßgebliche Angriffsfläche der Marionschen Gabetheorie. 430 Marion entwickelt, streng genommen, seine Vorstellung von Gabe in exakter Gegnerschaft zu den aufgezählten ethnologischen Theorien, an deren Anfang die Konzeption M. Mauss’ steht. Die Auseinandersetzung zwischen Marion und Mauss wird sich vor allem auf ein Element konzentrieren, das für die gesamte ethnologische Debatte um die »Gabe« folgenreich war und in dem der skizzierte Weg in ihre ›Entzauberung‹ angebahnt scheint. In der Mausschen Theorie erkennt Marion die, wenn man so will, ›phänomenologische‹ Leerstelle, dass »Gabe« immer als »Gabentausch« gedeutet wird. Der Tausch hebt die Erfahrung von Gabe aber gerade auf. Die »Gabe« als solche kommt, da stets als Tausch interpretiert, nicht in den Blick. Besser noch: Die originäre Phänomenalität und 429 430

Ebd., 200. Vgl. Kap. 5.5.1.

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Denkbarkeit von »Gabe« wird gerade dadurch aufgehoben, dass sie auf Anhieb als Tauschverfahren gedeutet wird. »Or le don devient impensable dans l’économie parce que celle-ci l’interprète comme nécessairement donnant-donnant, comme un échange de dons, où le premier don se retrouve dans le don qui lui revient en retour et où le don revenu s’enregistre comme le revenu du don initial.« 431 Gegenüber dieser jetzt nur angedeuteten Konfrontation wird man einmal den lapidaren, insgesamt aber doch wie selbstverständlich geäußerten Einwurf bringen, philosophische und kulturwissenschaftliche Reflexionen würden sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Allerdings wäre dagegen geltend zu machen, dass die ethnologischen Beobachtungen selbst einen gewissen der Phänomenologie nahestehenden Wirklichkeitszugang reklamieren: Beide beobachten durchaus ernsthaft die Wirklichkeit. Im Gegenzug dazu würde man in einer zweiten Überlegung einwenden, sozialwissenschaftliche Disziplinen würden die Frage nach reinen Begriffen und Phänomenen, nach der wahren Wirklichkeit nicht in dem Maße problematisieren wie die Philosophie. Dieses Argument würde aber ein von seinem Tun überzeugter Sozialwissenschaftler mit Sicherheit nicht stehen lassen. Aber auch mit Blick auf die Philosophie selbst könnte es etwas ziemlich Trotziges haben. Alles in allem scheint es ja wenig fruchtbar, wenn eine wissenschaftliche Disziplin von vornherein beanspruchen würde, der Wahrheit eo ipso näher als andere zu stehen. Statt ein philosophisches Refugium zu verteidigen, wäre mit dem mühsamen Geschäft des Argumentierens zu beginnen. Den Dialog mit den Sozialwissenschaften dürfte die Philosophie gerade jetzt nicht abbrechen lassen. Im Gegenteil müsste diese nun die Begriffe wirklich anstrengen, um eine größere Wahrheitsnähe, bzw. im Sinne Marions: um die handlungstheoretisch perspektivierte Ursprünglichkeit von »donation« auch vor den Sozialwissenschaften zur Anerkennung zu bringen. In der Diskussion zwischen der Marionschen Philosophie und den Ethnologien des »Gebens« wird in erster Linie M. Mauss’ »Essai sur le don« einer Kritik unterzogen: Marion richtet an Mauss die grundsätzliche Frage, ob »Gabe« überhaupt angemessen zum Thema wird, wenn sie, wie hier geschehen, auf Anhieb die Deutung »Gabentausch« erhält. Bei genauerem Zusehen ging der Anstoß zu dieser philosophischen Kritik an Mauss aber von J. Derrida aus. Seit Anfang 431

Marion, J.-L. La raison du don, 13.

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der 90er Jahre vertritt Derrida eine Philosophie der Gabe, die er auf der Negativfolie der Mausschen Gabetheorie entwickelt. 432 Marion greift seinerseits diese Auseinandersetzung zwischen Derrida und Mauss auf und führt sie weiter. Seine Position zur Gabe wäre deshalb nur aus dem Bezugsfeld des durch Derrida eröffneten Konfliktes heraus verständlich zu machen. So ist zuerst der zwischen Derrida und Mauss gewachsene Diskussionsstand in der Frage nach der Gabe nachzuzeichnen. 5.5.3. Gabetheoretische Rekapitulationen in der Phänomenologie Frankreichs Im Ansatz der Phänomenologie, die sich kritisch mit dem Denken M. Heideggers auseinandersetzt, eröffnet sich, in einem noch ganz allgemeinen Sinn, der Zugang zu einer Philosophie der Gabe. Zumindest ist allein dieser Strang philosophischer Reflexion auf »Gabe« von Interesse für die zu besprechende Situation des Marionschen Beitrages. Diesbezüglich ist aber zu beobachten, dass die kulturwissenschaftlichen und philosophischen Gabetheorien primär auf gänzlich verschiedenen Ebenen verhandelt wurden. 433 Zur direkten Kon432 Vgl. Derrida, J. Zeit geben I Falschgeld. Derridas Philosophie der Gabe erscheint wie eine Reaktion auf Marions »Réduction et Donation«: siehe vor allem die Anspielungen in ebd., 71 ff., Anm. 23. 433 Einige Anhaltspunkte zu dieser ›gabephilosophischen‹ Entwicklung, die zu den kulturwissenschaftlichen Theorien auf Distanz blieben. Erstens: Heidegger entwirft in seiner Spätphilosophie das Sein als ›Sich-Geben des Ereignisses‹. Vgl. z. B. »Wir sagen nicht: Sein ist, Zeit ist, sondern: Es gibt Sein und es gibt Zeit. […] Wir versuchen, das Es und sein Geben in die Sicht zu bringen und schreiben das ›Es‹ groß.« (Heidegger, M. Zur Sache des Denkens, 5). Man wird in dem an Heidegger nun kritisch anschließenden ›Denken der Gabe‹ jeweils den Versuch erblicken dürfen, den Gabebegriff aus der heideggerschen Umklammerung durch das »Sein« zu lösen. Das wird zunächst bei Lévinas sichtbar. Zweitens: Lévinas bringt die ›jenseits des Seins‹ verortete Phänomenalität des anderen Menschen immer wieder mit dem Begriff eines ursprünglichen »Sich-Gebens« zum Ausdruck: »Geben, für-den-Anderen-sein, wider Willen, doch dabei das Für-sich unterbrechend, heißt: sich das Brot vom Munde reißen, den Hunger des Anderen mit dem eigenen Fasten stillen.« (Lévinas, E. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, 134). Drittens: Lyotard betrachtet das Kunstwerk (v. a. die Gemälde B. Newmans) sowie das moralische Gesetz Kants als ein reines, unvorgreifbares Sich-Geben. Vgl. Lyotard., J.-F. L’inhumain. Causeries sur le temps, 104 f., dazu der Kommentar bei Wendel, S. Jean-Francois Lyotard: Aisthetisches Ethos, 66. Der Hinweis darf nicht fehlen, dass nach B. Waldenfels die französische Phänomenologieentwicklung insgesamt von einem beachtlichen Interesse an Gabe geprägt ist. Seiner Auffassung nach geht diese

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frontation zwischen beiden Bereichen kommt es erst mit J. Derrida 434 , darauf aufbauend mit J.-L. Marion. In Publikationen jüngeren Datums setzt sich auch P. Ricœur mit dem ethnologischen Verständnis von Gabe kritisch auseinander 435, wobei er sich auf die für die in diesem Themenfeld wohl maßgebliche Studie von M. Hénaff »Le prix de la vérité: le don, l’argent, la philosophie« 436 bezieht. 437 Mit gewisser Einhelligkeit werfen die genannten Vertreter eines philosophischen Gabebegriffes den ethnologischen Theorien vor, die Gabe nicht in ihrer ursprünglichen (Un-) Phänomenalität, ferner das Erkennen einer erfolgten Erstgabe nicht gründlich genug zu denken. 438 Im Hinblick auf die dargestellte Theorieentwicklung im BeTendenz der Phänomenologie Frankreichs auf Merleau-Ponty zurück, der als erster den für die Geschichte der Phänomenologie folgenreichen Akzent von einem »es gibt den Sinn« (Husserl, Heidegger) auf ein »es gibt Sinn« (französische Phänomenologie) verlegt haben soll. (Vgl. Waldenfels, B. Phänomenologie in Frankreich, 523). Neuerdings scheint E. Alliez mit Blick auf Marion diese Waldenfelssche Interpretation bestätigt zu haben. (Vgl. Alliez, E. De l’impossibilité de la phénoménologie. Sur la philosophie française contemporaine, 60). 434 Vgl. Derrida, J. Zeit geben I Falschgeld. 435 Vgl. Ricœur, P. Parcours de la reconnaissance, 320–355, zusammenfassend: Orth, S.; Reifenberg, P. (Hrsg.) Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, 154 ff. 436 Vgl. Hénaff, M. Le prix de la vérité: le don, l’argent, la philosophie. 437 Ein bemerkenswerter, an Derrida angelehnter Versuch, den philosophischen und sozialwissenschaftlichen »Gabe«-Begriff miteinander zu konfrontieren, liegt auch vor bei: Jarvis, S. The Gift in Theory. Jarvis wirft den genannten Gabetheorien, bzw. deren übergreifender Leitidee einer im weitesten, sozioökonomischen Sinne Kapitalvermehrung, vor, Präskription und Deskription zu vermischen. Ferner hängen sie aus seiner Sicht einem enggeführten Personenverständnis an, demzufolge von einer vorgeblich naturwüchsigen Unverbundenheit zwischen Subjekt und Weltdingen auszugehen wäre. »The aim of the whole paper is to offer some ressources for rethinking the nature of economism – by which I mean the dogma that the real und fundamental unit of social ontology is the self-interested exchange, and that all other ways of thinking about exchange are myths, fantasies, ideologies or irrelevancies. The paper, that is, aims to rethink economism in such a way as to make imaginable true, as well as false or bad, exits from it.« (Jarvis, S. The Gift in Theory, 204). Die Anfragen von Jarvis haben außerdem fundamentaltheologische Valenz. Will man nämlich in einer handlungstheoretischen Reflexion »donation« als Mitte des christlichen Glaubens verantworten, dann könnte man in der scheinbar unumstößlichen Einsicht der Sozialwissenschaften, jeder Gabeakt sei von gabeexternen Interessen und Zwecken bedingt, eine Ausprägung der Theodizeefrage sehen. In diesem Sinne vermerkt S. Jarvis: »Have we never been tempted to doubt the familiar assurance that, as a matter of fact, there’s no such thing as a free lunch? That slogan, when examined closely, turns out to be a kind of negative theodicy.« (Ebd., 203). 438 Vgl. R. Horners Rede von der »recognizability« von Gabe. (Horner, R. Rethinking God as Gift, 4).

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reich der Ethnologie wäre zudem zu sagen: Die philosophische Kritik Derridas, Ricœurs und Marions daran scheint ein Element der Maussschen Konzeption für die skizzierte Verfallsgeschichte ethnologischer Gabeinterpretation verantwortlich machen zu wollen. Gabe wird hier ungefragt und wie selbstverständlich als Gabentausch eingeführt. Dass sich in den Kulturwissenschaften, wie ausgeführt, die ›eigenständige Phänomenalität‹ von Gabe sukzessive auflöst, liegt aber in der Konsequenz dieser Ineinssetzung von Gabe und Tausch, mit der Mauss aufgetreten ist. 5.5.3.1. Die ›reine Gabe‹ als un-mögliches Phänomen: J. Derrida versus Mauss Derridas Philosophie der Gabe steht in der Tradition seiner dekonstruktivistischen Hermeneutik. Zu dem Zeitpunkt, als sich Derrida mit Mauss auseinanderzusetzen beginnt, liegt eine bereits lange währende Erfahrung dekonstruktivistischer Interpretationspraxis hinter ihm. Diese kommt bei seiner Relecture von Mauss’ »Essai sur le don« erneut zu Gebrauch. Infolgedessen liegt nahe, wenigstens die Grundgedanken dekonstruktiver Hermeneutik vorzustellen, bevor auf Derridas Denken der Gabe selbst eingegangen werden kann. Derrida begründet seine Kritik am abendländischen Logozentrismus damit, dass am Horizont und Ursprung der Phänomene keine Form von Präsenz, wie zuletzt Husserl noch dachte, zu erwarten sei. 439 Unter der Leitung der Präsenzvorstellung etablierte sich nach Derrida die Macht der traditionellen, logozentrischen Rationalität, deren Grundschema das Denken in binären Oppositionen (»groß / klein«, »gut / böse« etc.) bilde. In deren Kontext komme es durch den jeweils dominierenden Rationalitätstypus zu folgenschweren Marginalisierungen von Sinnmustern, die sich diesen logozentrischen und binär strukturierten Denkkonventionen verweigern. Die okzidentale Ideengeschichte sei im Anschluss an Derrida deswegen als Gewaltgeschichte, aber auch als Geschichte eines philosophischen Irrtums zu beschreiben, weil sie von einem Präsenzgedanken angetrieben werde, der philosophisch wie ethisch völlig zweifelhaft sei. Derrida betont deshalb, dass sich im Phänomen selbst allein die Spur von Gegenwart (oder Anschauung) markiere und das Phänomen sich

439

Vgl. Derrida, J. Die Stimme und das Phänomen, 79 ff.

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als solches im Letzten entzieht. Die Gegenwart dürfe demnach nicht mehr als philosophisches Kriterium fungieren. Im Ausgang dieser Überlegung rückt Derrida die Schrift in die Position eines quasi obersten (Un-) Phänomens. In der Schrift bringen sich ja primär nur Zeichen (»Signifikanten«) zur Erscheinung, deren Bedeutungen (»Signifikate«) seien aber ursprünglich abwesend und reichten nur als Spur in das ›graphische Feld‹ hinein. 440 Wegen dieser ›manifesten Abwesenheit‹ von Bedeutung bündelt sich in der Schrift die nach Derrida originäre Erfahrung einer bleibenden Entzogenheit von Gegenwart bzw. eines Aufschubes von Anschauung. Im Kunstwort »différance« kann Derrida diese spezifische Stellung der Schrift zum Ausdruck bringen, weil hier eine Differenz aufscheint, die sich allein schriftlich, d. h. als unhörbares »a«, manifestiert und so allen traditionellen Differenzbegriffen entgegensteht. Derrida ist nun der Auffassung, dass dieser mit der Schrift und ihrer »différance« eröffnete (Un-)Phänomenbereich jeder philosophischen Verstehensbemühung zugrunde liegt. 441 Darum fordert er zunächst, die philosophische Rationalität von ihrer Suche nach einem Ursprung und nach der Einheit mit sich selbst zu lösen. Denn damit verbinde sich stets die Erwartung der bereits desavouierten Präsenzvorstellung. Am ›Ursprung‹ des Phänomens und der Rationalität stünde aber nur die Spur bzw. die »différance«. Und gerade dieser Gedanke wäre nun in einer neuen Form von Hermeneutik umzusetzen: in der Dekonstruktion. Die auszulegenden Texte sollen dabei ge-spurt, d. h. auf jenen nie gegenwärtigen Ursprung der Spur, »différance«, hingeordnet werden. Konkret: Die konventionellen Sinngebungen von Texten aus der abendländischen Tradition sind dekonstruktiv zu zerlegen, indem die sie bestimmenden Binaritäten unterwandert und neue, bislang marginalisierte Verstehenszugänge eröffnet werden. So lässt sich der aller Rationalität zugrunde liegende Bedeutungsaufschub, der

440 Vgl. »Die Identität des Signifikats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich unaufhörlich. Das Eigentliche des ›representamen‹ [Signifikanten] besteht darin, es selbst und ein Anderes zu sein, als eine Verweisstruktur zu entstehen und sich von sich selbst zu trennen. Das Eigentliche des ›representamen‹ ist es, nicht eigentlich, dass heißt vollkommen bei sich zu sein.« (Derrida, J. Grammatologie, 86). 441 Vgl. »In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, dass es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die Différance, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen.« (Ebd., 114).

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im Schriftphänomen ›par excellence‹ erfahrbar wird, in den Vordergrund der Interpretationspraxis rücken. Wenn dadurch aber bislang an den Rand gedrängte Textbedeutungen zur Geltung kommen, darf die Hermeneutik nicht aufs Neue in logozentrische Starrheiten zurückfallen. Vielmehr müsste in einer dekonstruktiven Hermeneutik der Text als bleibend offener sichtbar werden. Wenn Derrida deshalb von »Disséminationen« spricht, meint er damit, dass die in der Dekonstruktion zu erhebende Textbedeutung unversammelt und dauerhaft ›verstreut‹ vorliegt. Sie wäre nie in eine fest umrissene Sinngebung zu überführen. Bei einer so verfahrenden Interpretation würde sich ja wieder die obsolete Vorstellung von Präsenz zurückmelden. Gegenläufig dazu ist zu betonen, dass die »différance« der Signifikanten zu immer neuen Interpretationen veranlassen, liegen die Signifikate ja nur als verstreute vor. In »Zeit geben. Falschgeld« wendet Derrida am Anfang der 90er Jahre seine dekonstruktive Hermeneutik auf M. Mauss’ »Essai sur le don« an. Bei der Beschäftigung mit Mauss scheint sich für Derrida aber mehr und mehr die Möglichkeit herauszukristallisieren, das Ganze seines Denkansatzes unter die Perspektive der Gabe zu stellen – nicht so, als würde Derridas »Philosophie der Gabe« im Unterschied zu seinen bisherigen Produktionen eine Wende, Kehre oder dergleichen vollziehen. Im Gegenteil: Ausgehend von der Gabethematik scheint sich die Sache der Dekonstruktion insgesamt noch einmal auf den Punkt bringen, wenn nicht sogar neu begründen zu lassen. Dazu im Einzelnen. Zuerst geht es Derrida darum, »Gabe« als das (Un-)Phänomen darzustellen, das nicht nur, wie Mauss dachte, der ökonomisch-kapitalistischen Einstellung in einem einfachen, gesellschaftlichen oder kulturellen Sinne gegenübersteht. Vielmehr ist die von Mauss geäußerte Ökonomiekritik noch radikaler auf das Thema der Gabe zu beziehen. ›Ökonomisch‹ wäre nach Derrida jede Interpretation von Gabe, die davon ausginge, man könne Gabe in einem generellen Sinne als quasi präsentisches und sichtbares Phänomen verhandeln. So kehrt Derridas bereits in früheren Texten geäußerte Kritik an einer Metaphysik der Präsenz in seiner Maussinterpretation zurück. Seiner Ansicht nach ist die Gabe als ein (Un-)Phänomen zu begreifen, das dort unter seinem Bedeutungsniveau ausgelegt wäre, wo es, wie bei Mauss, präsentisch verstanden würde. Will man die »Gabe« aber 420 https://doi.org/10.5771/9783495998410 .

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in ihrer Originarität denken, dann müsste ihre Unterbrechung oder Störung von Präsenz herausgearbeitet werden. 442 Von dort her kritisiert Derrida Mauss an folgenden Einzelpunkten. Unbegreiflich ist für ihn zunächst, dass M. Mauss »Gabe« und »Tausch« als Synonyme und gar als ein Wort »Gabentausch« gebraucht. Dadurch verfällt die Gabe zum einen der Schematik einer metaphysischen, binären Opposition, bei der »Geben« stets mit »Nehmen« korreliert wird. Derrida argumentiert zum anderen aber weiter, aufgrund dieser Gleichsetzung würde Mauss die Einsicht entgehen, dass die Gabe durch den damit angedachten Tausch gerade annulliert werde. 443 Bei Mauss’ Einbettung der Gabethematik in das soziale Tauschgeschehen macht sich also ein Präsenz- oder Einheitsbewusstsein geltend, das der originären Bedeutung von Gabe widerspricht: »Oder genauer gesagt, problematisiert werden muss gerade das Zusammensein, das Zur-selben-Zeit sein, die Synthese, die Symmetrie, die Syntax oder das System, kurz das syn, das zwei Prozesse zusammenfügt, die de iure so unvereinbar sind wie der der Gabe und der des Tausches.« 444 In der Mausschen Analyse von Gabe wird also die Tatsache ausgeblendet, dass die Gabe ›als solche‹ nur in der Zeit bis zur Rückgabe bzw. bis zum Tausch erfahrbar ist. Anders gesagt: Unberücksichtigt bleibe hier, so Derrida, dass die Rückgabe bzw. der Tausch die (Erst-)Gabe aufhebt. Sobald die Gabe an ein ihr äußerliches Phänomen zurückgebunden werde, verwässere sich ihr Eigengehalt. 445 Es lässt sich infolgedessen sagen, dass Derridas Kritik an Mauss dahin geht, die Besonderheit der Gabe als ursprüngliche Erst-

Vgl. Hammerschmied, G. J. »Milde Gabe«. Bruchstücke einer Philosophie der Spender, 100. 443 Vgl. »In dem Moment, wo mit einer Gabe eine Verpflichtung zur Gegengabe und somit eine Verschuldung einhergeht, kann nach Derrida nicht mehr von Gabe gesprochen werden. Während die Grundlage des Tausches das Prinzip der Begleichung ist, gibt es Gabe nur in der Unterbrechung der Erwiderungspflicht.« (Busch, K. Geschicktes Geben, Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, 88). J. Milbank hat diesen philosophischen Einwand kritisiert. Nach seiner Meinung hebt die Rückgabe die Erstgabe nicht auf, weil eine ursprüngliche Differenz zwischen dem Geber und dem Empfänger besteht, die im Rückgabeakt weiterhin bewusst bleibt. Vgl. Milbank, J. Can a gift be given?,131 f. 444 Derrida, J. Zeit geben I Falschgeld. 54 f. 445 Vgl. »Once there are ›strings attached‹, what is given is no longer a gift, but a sign of something else.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, Marion, Derrida and the limits of phenomenology, 1). 442

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gabe herauszustellen und sie theoretisch zu würdigen. 446 Wenn man in diesem Sinne der eigenständigen Phänomenalität von Gabe gerecht werden will, dann muss man, Derrida zufolge, nicht nur jeden Versuch abwehren, die Gabe auf eine Tauschbeziehung des »do ut des« zurückzuführen. Es wäre im Gegenteil darauf hinzuweisen, dass der Gabentausch selbst auf der vorausgehenden und ursprünglicheren Erfahrung des Aufschubes und der durch sie eröffneten Zeit beruht. 447 Derrida geht aber noch weiter: Im gegebenen Ding macht sich primär die »différance« geltend: »Die différance, die nichts (ist), ist (im oder) das [gegebene / T. A.] Ding selbst. […] Sie, die différance, das Ding (selbst). Sie, und nichts anderes. Sie, sonst nichts. Sie, nichts. 448 Aufgrund der so verstandenen Gabe, der ursprünglich in ihr gegebenen »différance«, würde der Gabentausch erst seinen Impuls erhalten. Sie würde, wenn man so will, die ›treibende Kraft‹ zur Gegengabe und zum Gabentausch bilden. Wenn man deshalb die Erfahrung von Gabe selbst adäquat denken wolle, dann müsse man, so Derrida, auf diesen ursprünglich von der (Erst-)Gabe ausgelösten Aufschub, die gegebene Zeit, die gegebene »différance« etc. aufmerksam werden. Umgekehrt dürfe man nicht den Kurzschluss machen, die Phänomenalität der Gabe ad hoc innerhalb eines Tauschvorganges zu betrachten. Genau genommen würde dadurch die Bedeutung von Gabe ›sui generis‹ ja annuliert werden. Wer zurückgibt, ›erledigt‹ nach Derrida nämlich den Anspruch der Gabe und setzt sich ihrer Erfahrung nicht weiter aus. Hinsichtlich einer angemessenen Behandlung des Gabethemas resultieren für Derrida daraus drei miteinander verbundene Kriterien: Die Gabe kommt erstens mit keinem Konzept von Reziprozität überein. Sie darf zweitens nicht umgekehrt bzw. zurückgegeben werden, wenn sie als solche verstanden sein will. Die Rückgabe stellt sich ja insbesondere als Auflösung der (Erst-)Gabe heraus. Drittens dürfte die Gabe nach Auffassung Derridas beim Empfänger nicht einmal ein Schuldgefühl auslösen, weil dadurch schon auf einer quasi ersten psychologischen Ebene ihre sinnwidrige Reduktion auf den Tausch eingeleitet wäre. 449 Denn das Bewusstsein von Schuld leitet die Deu446 Und dies geschieht in Entsprechung zu einer Verdrängung der Wirklichkeit als Erstgabe. 447 Vgl. das (gegebene) Ding »erfordert folglich die ›Zeit‹, den ›Termin‹, den ›Aufschub‹ oder das ›Intervall‹.« (Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 57). 448 Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 58. 449 Vgl. »Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen

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tung von Gabe in die Bahnen einer ökonomischen, präsenzlastigen Hermeneutik und verwirkt es, deren tiefere Bedeutung zu gewahren. Derrida geht viertens sogar so weit zu sagen, Gabe dürfe vom Empfänger gar nicht als Gabe wahrgenommen werden. Denn diese Wahrnehmung von Gabe würde automatisch ein Schuldbewusstsein auslösen, das Verlangen nach Rückgabe begründen und dadurch der Annullierung von Gabe zuarbeiten. 450 Die als Gabe wahrgenommene Gabe muss zwingend in ihrer Annullierung enden: »Letztlich darf der Gabenempfänger die Gabe nicht einmal als Gabe anerkennen [reconnaître].« 451 Derrida kommt so zu der paradoxen Folgerung, dass die Gabe nur gewahrt bleibe, wenn sie vergessen werde. 452 Denn nach Derrida gestaltet sich jedes Denken oder Wahrnehmen der Gabe als der Versuch, eine Schuld abzutragen, wodurch deren inadäquate, präsentisch-ökonomische Interpretation, und sei es in einem nostalgischen Sinne, vorherrschend bleibt. Es versteht sich von selbst, dass die Aussage Derridas, die Gabe müsse vergessen werden, um ihre Bedeutung zu erhalten, die meisten Irritationen hervorgebracht hat und in der Diskussion unterschiedlich beurteilt wurde. 453 Nach Derrida bedeutet dieses Vergessen der Gabe nicht ihre Nicht-Erfahrung [non-expérience]. 454 Zwar ist Gabe vom Denken undarstellbar, d. h. sie besteht nur im Vergessen. Aber die Gabe bricht Tausch, weder Gegengabe noch Schuld. Wenn der andere mir das, was ich ihm gebe, zurückgibt oder es mir schuldet, das heißt mir zurückgeben muss, wird es keine Gabe gegeben haben, ob diese Rückgabe nun unmittelbar erfolgt oder vorprogrammiert ist im komplexen Kalkül eines lang befristeten Aufschubs [différance]. Das ist überdeutlich, wenn mir der andere, der Gabenempfänger, unmittelbar dasselbe zurückgibt.« (Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 22 f., vgl. a. Gabellieri, E. Un don sans retour ? Pour une »analogie« et une »catalogie« du don, 76). 450 Vgl. »C’est son entrée même dans la visibilité qui objectivise le don, l’adapte à l’échange économique et, à la fin, le soustrait à la donation.« (ED 113 f.). 451 Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 24, vgl. ebd. 36. 452 Vgl. Horner, R. Rethinking God as Gift. Marion, Derrida and the limits of phenomenology, 7 f. 453 Derrida scheint diese Interpretation auch gegen Marion einsetzen zu wollen. Doch kommen seine Bemerkungen zu Marion nicht über Andeutungen hinaus. Vgl. v. a. Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 71 ff., Anm. 23. 454 Vgl. Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 29, vgl. »Yet Derrida claims not that there can be no gift but that a gift cannot be known as such; in other words he claims that no phenomenon of gift can be known.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, 18); »Derrida: What I am interested in […] is precisely the experience of the impossible. This is not simply an impossible experience. The experience of the impossible.« (On the Gift. A Discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion, Moderated by Richard Kearney, 72).

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ins Denken gleichsam als Ereignis ein. 455 Das Phänomen »Gabe« kommt für Derrida nur unter der Bedingung adäquat zur Geltung, dass ihr exzessiver Charakter, der jedem ökonomischen Tausch, Präsenz, synthetisierendes Denken etc. vorausgeht, bedacht bleibt. »Das Problem der Gabe ist ursächlich verknüpft mit ihrer von vornherein exzessiven, a priori übertriebenen Natur. Eine Gabenerfahrung, die sich nicht a priori irgendeinem Unmaß überließe, eine gemäßigt oder maßvolle Gabe wäre keine Gabe.« 456 Dieser exzessive Charakter von Gabe impliziert ein eigenartiges, noch zu problematisierendes Verhältnis zur »différance«, »Zeit«, »Spur« etc. In Anbetracht des gesamten Derridaschen Denkens wird man diese Gabephilosophie folgendermaßen verorten müssen: Im Voraus ist zu beachten, dass Derridas Behandlung der Gabe eine Dimension im Auge hat, die hinter der Zeit, dem Aufschub, der »différance« steht. Für Derrida gilt die Zeit oder die »différance« als Gabe. 457 Entsprechend weist er darauf hin, dass in der Gabe die Zeit und die »différance« gegeben werden: »Der Unterschied zwischen einer Gabe und einem beliebigen anderen Tauschvorgang liegt darin, dass die Gabe die Zeit gibt. Dort, wo es die Gabe gibt, gibt es die Zeit. Das, was es gibt, was die Gabe gibt, ist die Zeit, aber diese Gabe der Zeit ist zugleich ein Verlangen nach Zeit.« 458 Ferner bricht die Gabe ›an sich selber‹, wenn man so noch sagen dürfte, in die Zeit ein: »Gabe gäbe es nur in dem Augenblick, wo der paradoxe Augenblick (in dem Sinne wie Kierkegaard vom paradoxen Augenblick der Entscheidung sagt, er sei ein Wahnsinn) die Zeit zerreißt.« 459 Der Stellenwert der DerriVgl. »Derrida: I try in Given Time and in other texts to account for, to interpret, the anthropo-theological reappropriation of the meaning of the event on the groundless ground of what I call khora, the groundless ground of a ›there is‹, ›it takes place‹, ›the place of taking place‹ …« (Ebd., 67). 456 Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 55. 457 Vgl. »C’est pourquoi le seul don réel, pour Derrida, est anonyme, impersonnel, c’est le don du temps: car ›donner le temps‹, c’est donner, non pas un objet que l’on pourrait rendre, mais la condition de tous les dons et de tous les échanges possibles.« (Gabellieri, E. Un don sans retour ? Pour une »analogie« et une »catalogie« du don,76). 458 Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 58 f. 459 Ebd., 19. Treffend formuliert K. Busch: »Das gegebene Ding wird mit einer Gabe von Zeit verbunden. Dies hat eine Zurückfaltung der transzendentalen Bedeutung der Zeit auf das zeitgebende Geschenk zur Folge.« (Busch, K. Geschicktes Geben, Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, 94). Zu beobachten ist, dass Derrida damit die kultursoziologische Einsicht Bourdieus philosophisch bzw. im Sinne seiner Onto-Semiologie entfaltet. Bereits für Bourdieu konstituierte die gegebene Zeit das Gabephänomen. Vgl. »Tatsächlich kann man in jeder Gesellschaft beobachten, dass die Gegengabe, wenn sie 455

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daschen Begriffe »différance«, Spur etc. scheint von diesen Aussagen her neu bemessen werden zu müssen. Allgemein scheinen Derridas Reflexionen auf die Gabe nur unter dem Stichwort einer Ethik aufgenommen worden zu sein. 460 Doch wird man in der Bewertung seiner Gabephilosophie noch einen Schritt weiter gehen müssen. Zu beachten wäre, dass Derrida hier konsequent ein Jenseits der Sprache, der »différance« etc. zu denken sucht. Konkret: Für Derrida galt bislang, dass die temporierende »différance« jenes (Un-)Prinzip bilden solle, das in der dekonstruierenden Hermeneutik umzusetzen wäre. Doch stünde, nach »Zeit geben«, die »Gabe« noch im Hintergrund von »différance«, Zeit, Aufschub, Spur. Auf dieser Linie scheint zu liegen, wenn Derrida den literarischen Text selbst als »Ort einer sich versendenden Gabe« 461 bestimmt und die Rückkehrlosigkeit textueller Dissemination mit der Rückkehrlosigkeit von Gabe parallelisiert: »Diese Hypothese einer rückkehrlosen Dissemination würde die Redewendung daran hindern, zirkulär zu ihrem Sinn zurückzukehren. Sie betrifft also auch, paradox gewendet, die Rückkehrlosigkeit der Gabe. Für sie spricht aber die Sprache selber, die Erfahrung, die wir jedes Mal machen, wenn in ihr die Worte ›Gabe‹, ›geben‹, ›gegeben‹, ›Gebung‹, ›Geber‹ oder ›Gabenempfänger‹ vorkommen.« 462 Insgesamt kann man sagen, dass die Dissemination des Textes, »différance« hier noch als einer Gabe einwohnend gedacht wird. Mit einem gewissen Recht wird man Derridas Konzeption der »Gabe« als die konzeptionelle Fortführung und Entfaltung des absoluten Vokativs verstehen, den Derrida nur sporadisch in der »Grammatologie« angedeutet hat. Dort hatte Derrida zum ersten Mal die Möglichkeit eines Jenseits von Sprache und »différance« erwogen, dass sich der Präsentation entzieht. 463 Die in »Zeit geben« aber manifeste Rückbindung der »différance« an die Gabe, die sich gegenüber jeder Wahrnehmung und Präsenz sperrt, führt dieses Motiv weiter aus. So nicht zur Beleidigung werden soll, zeitlich verschoben und verschieden sein muss […].« (Bourdieu, P. »Sozialer Sinn«. Kritik der theoretischen Vernunft, 193). 460 Vgl. v. a. Wetzel, M.; Agamben, G. (Hrsg.) Ethik der Gabe: Denken nach Jacques Derrida. 461 Busch, K. Geschicktes Geben, Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, 91. vgl. ebd., 98 ff. 462 Derrida, J. Zeit geben I. Falschgeld, 68. 463 Vgl. »Benennen, die Namen geben, die es unter Umständen untersagt ist auszusprechen, das ist die ursprüngliche Gewalt der Sprache, die darin besteht, den absoluten Vokativ in eine Differenz einzuschreiben, zu ordnen, zu suspendieren.« (Derrida, J. Grammatologie, 197).

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wäre das Ganze des Derridaschen Ansatzes vom Denken der unmöglichen Gabe, die erst die »différance« hervorbringt, noch einmal neu expliziert worden. 464 5.5.3.2. Die unveräußerliche Anerkennung im Gabeakt – P. Ricœur versus M. Mauss Als Ergänzung zu der von Derrida eröffneten Diskussion zwischen philosophischen und ethnologischen Gabetheorien sei kurz auf den Beitrag P. Ricœurs hingewiesen. In seiner jüngsten Monographie »Parcours de la reconnaissance« hat sich Ricœur ausführlich mit M. Mauss auseinandergesetzt. Ricœur will hier zunächst seine in »Soi-même comme un autre« entwickelte Hermeneutik des Selbst reformulieren 465 und dabei eine Philosophie der Anerkennung ausarbeiten. Im Schlusskapitel dieser Studie beschäftigt er sich mit der Mausschen Theorie des Gabentausches und interpretiert, angeregt durch die Studie von M. Hénaffs »Le prix de la vérité« 466 , das Geschehen von Gabe und Gegengabe als symbolische Handlung für die wechselseitige Anerkennung. Gegen Mauss richtet Ricœur dabei Einwürfe, die auf den ersten Blick an die Derridasche Kritik erinnern. Bei der ethnologischen Konzeptualisierung von Gabe kommt auch für Ricœur die Frage nach der Erstgabe zu kurz. Dadurch dass 464 Angesichts dieser Interpretationsmöglichkeit wäre zu fragen, ob der Gedanke eines absoluten Vokativs, der jenseits sprachlicher Propositionen steht, in Derridas Philosophie der Gabe« fortgesetzt wird. Ansätze, diesem Derridaschen Motiv weiter auf die Spur zu kommen, liegen schon bei J. Valentin vor: »Neben diesem transzendentallogischen Ansatz einer Begründung ist auf ein im späteren Werk Derridas leider nicht weiterverfolgtes Begriffsfeld im weitesten Sinne transzendentalgenetischer Valenz hinzuweisen. Im einzigen ›systematisch‹ zu nennenden Werk Derridas, De la grammatologie, findet sich eine Reflexion auf die Notwendigkeit, ein Jenseits der Sprache zu denken. Derrida spricht hier von einem immer schon in verschiedenen Spuren versprengten und nur noch zu ahnenden Anruf an das Subjekt, eines absoluten Vokativs, der von einer Ursprünglichkeit her wirkt, die ihn den herkömmlichen, propositionalen Zuweisungen entzieht.« Valentin, J. Différance und autonome Negation. Zur (Un)vereinbarkeit von Dekonstruktion und idealistischer Philosophie, 111. 465 Vgl. die Bezüge in: Ricœur, P. Parcours de la reconnaissance, 140 ff., 360. 466 Vgl. Hénaff, M. Le prix de la verité: le don, l’argent, la philosophie. Hénaff zeigt, dass die in den Kulturwissenschaften analysierten Gabehandlungen sich primär der Erfahrung eines »Sans prix« oder »Hors prix«, die sich in der Erstgabe manifestiert, verdanken. Dafür stellt er sich ganz auf das Terrain der an Mauss anschließenden Ethnologie und fordert schließlich den Gabeaakt im Ausgang der Lévinasschen Philosophie des anderen Menschen zu lesen.

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sich die ethnologische Deutung ad hoc auf einen von Pflicht geprägten Gabentausch konzentriert, bleibe unterbelichtet, was eine Gabe ›phänomenologisch‹ erst zur Gabe macht: »L’obligation de rendre, réinterpretée par la logique de la réciprocité en termes de double bind, reste largement une construction de faible teneur phénoménologique.« 467 Alle kulturwissenschaftlichen Deutungen von Gabe lenken nach Ricœur den Blick von der Erstgabe weg. Dabei würde nicht nur deren spezifische Bedeutung ausgeblendet werden. Offen bliebe vor allen Dingen die Frage, wodurch eine Gabe von den an ihr beteiligten Akteuren überhaupt als Gabe erkannt wird. Ricœur führt aus: »Il faut alors être attentif aux traits des ›opérations discrètes entre les acteurs‹, puisque c’est d’elles qu’émerge le système et se concentrer […] sur ce que font les acteurs quand ils reconnaissent le don comme don.« 468 Wo dieser erste Gabeakt nicht in seiner Spezifizität erkannt wird, da könnte sich mit der Rückgabe auch kein gabeexternes Interesse verknüpfen. 469 Zu fragen ist nun, was im Erkennen der Gabe als (Erst-)Gabe wahrgenommen wird. Ricœur ist der Ansicht, die Erstgabe geschehe ursprünglich wie ein unerwarteter und irreduzibler Akt. Ursprünglich liege in ihm eine überraschungsvolle Gratuität vor. Weil in der Gabe zuerst Großzügigkeit und »⁄g€ph« wahrgenommen werde, steht sie im Grundsatz allen ökonomischen Interpretationsregistern entgegen: »à la faveur du contraste avec le marché, l’accent tombe sur la générosité du premier donateur, plutôt que sur l’exigence du retour du don.« 470 So ist nach Ricœur vor allen gabespezifischen Interessen und vor jedem Ökonomiedenken die »Generositas« herauszustellen, die in der Erstgabe ursprünglich vernommen werde. Aber noch mehr: Für die Erstgabe ist nach Ricœur typisch, dass der Gebende primär ein Risiko eingeht. Dieses Risiko besteht zuvörderst nicht darin, selber nichts zurückzugewinnen. Vielmehr ist das Geben riskant, weil die gegebene Gabe erst angenommen werden müsste. In der Erstgabe liegt also ein Risiko und ein Vertrauensvorschuss, die zum unveräußerlichen Bestand des Gabephänomens zählen. »Le risque du premier don, avec son mouvement d’offre, ne gardait-il pas quelque chose du caractère

467 468 469 470

Ricœur, P. Parcours de la reconnaissance, 350. Ebd., 334. Vgl. ebd., 329. Vgl. ebd., 336.

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désinteressé de l’attente qui va d’abord à la récéption du don avant de se refermer en attente du retour du don?« 471 Da bei der Frage nach dem Geben für Ricœur zuerst die generöse und risikoreiche Erstgabe zu betonen ist, wäre dies auch als Modell für die potentielle Rückgabe zu bewerten. Unter wohl impliziter Kritik an Derrida bemerkt Ricœur, das die Rückgabe die Erstgabe nicht annulliert, sondern deren »Generositas« erneuert. »À la limite, il faut tenir le premier don pour le modèle du second don, et penser, si l’on peut dire, le second don comme une sorte de second premier don.« 472 So wäre die zwischen Gabe und Gegengabe verstreichende Zeit als der Horizont zu bestimmen, unter dem sich die überraschungsvolle und unerwartete »Generositas« der Gegengabe erneut ereignen könnte. Mit kritischem Blick auf die kulturwissenschaftlichen Gabetheorien formuliert Ricœur: »Cette attente même, qui peut être indéfiniment différée, voire perdue de vue et franchement oubliée, peut aussi se faire attente d’une surprise, mettant le second don dans la même catégorie affective que le premier, ce qui fait de ce second don autre chose qu’une restitution.« 473 Die Gegengabe dürfte deshalb als ursprünglicher Antwortversuch auf jenen Vertrauensvorschuss gelten, der in der großzügigen Erstgabe geleistet wurde. Ricœur meint deshalb, dass sich an der Rückgabe primär Dankbarkeit manifestiere, die, anders als bei Derrida, die zuerst erhaltene Gabe nicht aufheben, sondern anerkennen würde. Das führt zu folgendem Bild von Gabe: In der Erstgabe wird kraft ihrer unerwarteten »Generositas« ein Anerkennungsakt gesetzt, dem als Dankbarkeit ein erneuter Anerkennungsakt folgt. 474 Gabe und Rückgabe seien somit als ursprüngliches Geschehen wechselseitiger Anerkennung zu interpretieren. Die wechselseitige Anerkennung fungiert bei Ricœur als das Interpretament von Gabe, das tiefer als alle kulturwissenschaftlichen Vorstellungen von Gabentausch, obligatorischer Reziprozität etc. anzusetzen wäre: »Dies brachte mich darauf, die Gegenseitigkeit, als das ›Zwischen den Menschen‹, der Logik der Reziprozität entgegenzusetzen, also einer Logik, bei der die Akteure nur einfach vom Zirkel der Reziprozität umschlossen werden. Sollen Vgl. ebd., 351. Ebd. 350. 473 Vgl. ebd., 351. 474 Ricœur hebt dabei insbesondere auf die Doppelbedeutung von »reconnaissance« als »Anerkennung« und »Dankbarkeit« ab. Vgl. ebd., 351 f. 471 472

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diese aber wirklich die Urheber der Gegenseitigkeit sein, so ist der einzig gangbare Weg dafür, zu sagen, dass die Gabe das Pfand und der Stellvertreter einer wechselseitigen Anerkennung ist, die sich selbst als solche nicht (wieder-)erkennt.« 475 5.5.3.3. Gabe als reine Gebung: J.-L. Marion versus Mauss In der Diskussion zwischen den kulturwissenschaftlichen Gabeinterpretationen und dem Marionschen Entwurf des Gebens als »reiner Akt« (oder ursprüngliche »donation«) muss man auf mehrere Besonderheiten hinweisen. Zunächst ist festzuhalten, dass Marion erst auf Anstoß Derridas begann, sich mit M. Mauss’ »Essai sur le don« zu beschäftigen und damit seine eigene Position gegen die kulturwissenschaftlichen Gabetheorien zu konturieren. So geht seinen Stellungnahmen zu dieser Frage meistens eine Auseinandersetzung mit Derridas »Donner le temps« voraus. 476 Aus der Perspektive Marions erscheint die von Derrida entwickelte Gabephilosophie fast wie eine Konkurrenz zu seinem eigenen Bemühen, die Ursprünglichkeit von »donation« zu denken. Daraus erklärt sich, dass Marions Interpretation von Gabe eine ambivalente Haltung gegenüber dem Beitrag Derridas zugrunde liegt: Einerseits folgt Marion Derrida darin, dass die Bedeutung von Gabe selbst aus dem Blick gerät, wo diese wie bei Mauss als Tausch zwischen separat betrachteten Individuen interpretiert wird. Im Anschluss an Derrida bestimmt Marion diese Deutung ebenso als ökonomischen Kurzschluss, unter dessen Dominanz das Gabegeschehen als solches verblasst. Die von Mauss für konstitutiv gehaltenen Koordinaten »Geber«, »Empfänger / Zurück-Geber«, »Gabeobjekt« erklären in seinem Sinne nicht den ursprünglichen Gehalt von »Gabe«. Mehr noch als Derrida parallelisiert Marion den Mausschen Entwurf mit einem metaphysischen Kausalitätsmodell. 477 Marion ist also in Weiterführung der Derridaschen Position Orth, S.; Reifenberg, P. (Hrsg.) Facettenreiche Anthropologie. Paul Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, 157. 476 Das wird v. a. an der ersten Äußerung Marions zu diesem Themenbereich sichtbar: Marion, J.-L. Esquisse d’un concept phénoménologique du don, 76 ff. 477 Marions Abhandlung zum Thema »Gabe« bewegt sich innerhalb der »Phénoménologie de la donation«. Deshalb müsste in der Phänomenalität von »Gabe« auch die Ursprünglichkeit von »donation« aufscheinen. Vgl. »Ce qui interdit au don de rester dans la donation et le ravale au rang d’objet à échanger ne consiste […] qu’en la présence, prise comme la subsistance permanente de l’étantité.« (ED 114). 475

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davon überzeugt, man müsste Gabe ganz aus den Bezügen von Kausalität und Ökonomie lösen, um sie in ihrer Originarität zu denken. Andererseits widerspricht er Derrida an der Stelle, wo dieser behauptet, eine jenseits der Ökonomie zu denkende Gabe dürfe nicht zur Erscheinung kommen. Die Ansicht Derridas, eine von Tausch, Ökonomie, schließlich ›Kausalität‹ unbelastete Gabe könne gar nicht erscheinen, weil kraft eines solchen Erscheinens bereits der Weg zu seiner ökonomischen Interpretation geebnet würde, will Marion dementieren. So legt er sein Augenmerk auf eine zu überwindende Aporie in der Derridaschen Gabephilosophie: »ou bien le don se présente dans la présence […] pour s’inscrire dans le système économique de l’échange; ou bien le don ne se présente pas, mais il n’apparaît plus du tout, refermant ainsi toute phénoménalité de la donation.« 478 Angesichts des hier verdeutlichten Dilemmas bei Derrida steht Marion vor der Aufgabe, eine Theorie von Gabe zu entwickeln, bei der Geber, Empfänger, Gabeobjekt als ökonomielastige Konstituenten ausgeklammert werden können und bei der die »Gabe« als solche dennoch ins Feld des Erscheinbaren hineinreichen kann. 479 Dieser Aufweis hat schließlich zum Ergebnis, dass Gabe nur dort angemessen verstanden ist, wo der reine Akt, »donation« ihre ursprüngliche Sinnmitte bilden darf und als solcher in den Blick kommt. Verkörpert »donation« den ›hermeneutischen Schlüssel‹ der Gabehandlung, dann kommen die an ihr beteiligten Akteure und Elemente nicht als ökonomisch interessierte bzw. kausale Größen in den Blick. Vielmehr bestimmen sie sich als Hingegebene, deutlicher: als von »donation« bestimmte und ›überholte‹, die ihre ökonomischen Absichten ursprünglich preisgegeben haben. Außerdem: Anders als bei Derrida wäre die Gabe hier nicht als Vorgang bestimmt, der nur durch das Nicht-Erscheinen bzw. Vergessen gewahrt bliebe. Die Gabe würde nun nämlich ganz in ihrer ursprünglichen, a-ökonomischen »donation« erscheinen. Um in diesem Sinne den hermeneutischen Vorrang von »donation« bei der Frage nach der Gabe nachzuweisen, rekurriert Marion auf Beispiele aus der Phänomenwelt, denen zufolge eine Gabe als Ebd., 114. Vgl. »For Derrida, the gift cannot be phenomenologically described; we cannot reach the gift through phenomenology. This judgement will place Derrida in direct opposition to Marion, for whom phenomenology remains a viable way to approach even phenomena that cannot be seen.« (Horner, R. Rethinking God as Gift, 18). 478 479

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Gabe erkannt wird, ohne dass die von Mauss gesetzten, ökonomisch interessierten Konstituenten »Geber«, »Empfänger / Zurück-Geber« und »Gabeobjekt« zum Tragen kommen. Anders gewendet: »Geber«, »Empfänger / Zurück-Geber« und »Gabeobjekt« sind hier als interesselose und völlig hingegebene Bezugsgrößen dieses Vorganges auszumachen, wodurch sich »donation« selbst als gabetheoretisch ursprünglich bestimmen lässt. Dass »donation« die ursprüngliche Sinnmitte von »Gabe« bildet, begründet Marion darum erstens an der Möglichkeit, den Empfänger im Sinne eines ökonomisch Interessierten zu reduzieren. 480 Seiner Ansicht nach ist der auf ökonomischen Gewinn gerichtete Empfänger, bzw. derjenige, dem die Gabe zuteil wird (»le donataire«) für das Erkennen von Gabe deswegen nicht konstitutiv. Gegen Mauss argumentiert Marion: Wird der Adressat der Gabe für konstitutiv hinsichtlich der Gabehandlung gehalten, dann steht zunächst einmal der ökonomischen Interpretationen von Gabe nichts mehr im Wege: »Dans le regard du donataire, humilié ou ému, le donateur voit disparaître son don en un simple placement à intérêt, une avance sur arrière; il gagne une reconnaissance – mais de dette.« 481 Darüber hinaus ist für Marion aber einzusehen, dass eine Gabe als solche zu erkennen ist, wo sie sich an einen Empfänger richtet, der weder willens noch in der Lage ist, diese anzunehmen (»l’ennemi« 482 ) – geschweige denn, einen ökonomischen Nutzen daraus zu ziehen. Die Gabe wird entsprechend auch in der Situation phänomenal, in der sich ihr der »donataire« verweigert. »Geben« ohne angenommen zu werden, ein reines Sich-Ausliefern, ohne auf eine Rückgabe zu hoffen, müsste nach Marion deshalb zum Bestand gabetheoretischer Reflexion zählen. Marion geht aber noch einen Schritt weiter: Die phänomenale Gestalt von Gabe tritt als solche nicht nur trotz, sondern aufgrund ihrer möglichen Verweigerung durch einen Feind hervor: »Seul l’ennemi rend le don possible: il met en évidence le don en lui déniant justement la réciprocité – au contraire de l’ami.« 483 Dasselbe gilt für den Fall, wenn die Gabe auf Undankbarkeit fällt und nicht zurückgeben werden will. Marion verdeutlicht, dass der undankbare Adressat einer Gabe deren phänome480 Wenn Marion Geber, Empfänger und gegebenes Ding reduziert, will er diese als ›hingegeben‹ bestimmen. So bringt er in seiner Gabeaakttheorie erneut die Devise »Autant de réduction, autant de donation« zur Geltung. 481 ED 125. 482 Vgl. ED 128. 483 Ebd., 129.

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nale Gestalt nicht vereitelt: »l’ingrat manifeste a contrario dans toute sa pureté le don réduit à la donation, puisqu’il prouve que ce don s’accomplit parfaitement sans consentement du donataire.« 484 Vielmehr wird hier sichtbar, dass im Gabegeschehen vom Empfänger, der einen ökonomischen Gewinn verfolgt, abgesehen werden muss und die Gabe auf den tiefer liegenden Gabeaakt (»donation«) zurückzuführen ist. Von hier aus wäre die Bedeutung des Empfängers erst neu auszulegen – als ein an die Gebung ›Hingegebener‹. Zweitens: Bei der Sichtung der phänomenalen Gestalt von Gabe lässt sich auch der Geber in seinem ökonomischen Interesse ›reduzieren‹. Marion macht dies an der Situation klar, in der es aus Krankheit, Tod oder Unbekanntheit unmöglich ist, sich im Gabeaakt auf einen Geber zu beziehen. In all diesen Fällen ist den davon Betroffenen bewusst, dass etwas gegeben wurde. Doch muss dabei der ökonomische Bezug auf den Geber entfallen, so dass die Gabe als ›reiner Akt‹ hervortreten kann, dessen Geber quasi hingegeben ist: »Ici, la disparition elle-même donne – le don de ce donataire par excellence absent, inconnu, inaccessible, apparaît certes comme un don, sans nul doute comme un bienfait.« 485 Wenn dem Empfänger einer Gabe in solchen Fällen bewusst wird, dass er vom Interesse des Gebers zwangsläufig absehen muss und ihn deshalb ein Schuldgefühl befällt, das sich nicht abtragen lässt, dann eröffnet sich nun »la voie royale pour réduire le don à lui-même, c’est-à-dire à la donation.« 486 Der Empfänger erfährt sich angegangen von einer unhintergehbaren und ursprünglichen Gebung, die er durch keinen ökonomischen Akt ausgleichen kann, bei dem aber paradoxerweise gerade deswegen die ganze Phänomengestalt von ›Gabe‹ aufscheint. Damit ist gegenüber Mauss festzuhalten, dass die Gabe erst dort phänomenal wird, wo ein gewinnheischender Geber just aus dem Sichtfeld verschwindet. Lässt sich der ökonomisch gesinnte Geber aber reduzieren, dann tritt aufs Neue der Gabeaakt als solcher, »donation«, in den Mittelpunkt des Geschehens. Den Geber selbst wird man gegenüber der »donation«

484 Ebd., 131. Marion möchte dabei der thomasischen Definition zu neuem Recht verhelfen: »donum proprie est datio irredibilis secundum philosophum idest quod non datur intentione retributionis et sic importat gratuitam donationem.« (Thomas von Aquin Summa theologiae Ia, q. 38, a. 2, in: S. Thomae Aquinatis Opera omnia, Bd. 2., 241). 485 Ebd., 138 f. 486 Ebd., 143.

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ins zweite Glied rücken und von ihr her neu als Hingegebener bestimmen müssen. Der dritte Reduktionsschritt, der zum Erscheinen von Gabe führt, besteht darin, von dem in der Gabehandlung transportierten, ökonomisch relevanten Gegenstand abzusehen und diesen als von »donation« geprägten zu begreifen. Infolgedessen dürfte diesem Objekt keine konstitutive Bedeutung für die Gabehandlung zukommen. Zunächst lässt sich dies daran aufzeigen, dass sich »Gabe« auch dort erfüllt, wo das gegebene Objekt im Unterschied zu seiner Bedeutung von geringem Wert ist. Dies trifft beispielsweise auf die Königskrone, das Pallium o. ä. zu, die zur Übergabe von Macht überreicht werden. Das gegebene Objekt verschwindet gleichsam unter der Dominanz seiner un-gegenständlichen Bedeutung. Ferner ist an den Verlobungs- oder Ehering zu denken, bei der sich eine Person einer anderen gibt und das gegebene Objekt das Symbol dieser interpersonalen Gebung verkörpert. Während sich das hier akute Gabegeschehen noch mit einem Objekt verbindet, lassen sich Situationen von Gabe benennen, in denen jede ökonomisch befrachtete Gegenständlichkeit ausfällt. Marion hebt dabei auf die Vorstellung ab, wenn man sich ein Wort oder Versprechen gibt. Tatsächlich müsste zur Erfahrungswelt von Gabe ein völlig objekt-, und somit ökonomiefreies Versprechen gehören. Denn auch dieses wird gegeben: »La parole donnée se donne donc non seulement au futur, mais elle ne s’accomplit que selon le futur, avec le statut d’une stricte possibilité, qui ne peut, ni ne doit s’effectuer dans un objet ou un étant. Il s’agit bien d’un don – la véracité d’une parole habilitant la relation intersubjective – qui régit des objets et des étants, mais d’un don qui lui-même ne se donne pas comme un objet ou un étant.« 487 Für Marion ist wichtig, dass sich die phänomenale Gestalt von Gabe durch solche objektfreien Handlungen erst ursprünglich konturiert. Weil demnach nämlich die Gabehandlung ohne ökonomischen Nutzen auskommt, zeigt sich, dass in der reinen »donation« selbst die Sinnmitte dieses Geschehens besteht. Die Gabehandlung ist damit erneut auf den Akt »donation« zu beziehen, der das Verständnis des gegebenen Objektes begründet. Auf der Basis dieser Beobachtung gilt für Marion, dass ein in der Gabehandlung weitergereichtes Geschenk immer erst dem Kriterium seiner ›Gebbarkeit‹ (»donabilité« 488 ) und ›Empfangbarkeit‹ (»accepta487 488

Ebd., 151. Vgl. ebd., 152.

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bilité« 489 ) entsprechen müsste. Ein zu gebendes Objekt müsste, mit anderen Worten, erst auf seine Kompetenz hin geprüft werden, ob es sich in den ursprünglichen Akt, »donation«, restlos integrieren lässt – und damit als ›Hingegebenes‹ entworfen wird. Nach Marion soll an diesen Beispielen deutlich werden, dass a) die Gabe unabhängig von allen ökonomischen Bestimmungsgrößen ist, die ihr die kulturwissenschaftlichen Gabetheorien seit Mauss zugedacht haben. Geber, Empfänger und Gabeobjekt ließen sich ja reduzieren und damit als ›hingegeben‹ verstehen. Doch meint Marion damit nicht nur, ein Verständnis von Gabe zu erreichen, das ohne jeden ökonomischen Bezug auskommt. Dieses Ergebnis wäre ja einfach identisch mit der Position Derridas. Marion geht aber über Derrida hinaus, weil er diese a-ökonomische Seite von Gabe auf einer phänomenalen Ebene darlegt. Damit kann er die Aporie Derridas überwinden, der zufolge eine an-ökonomische Gabe nie erscheinen könne. Dies führt zu dem Ergebnis, dass b) in der Gabe der reiner Akt, »donation« aufscheint. In dem Maße, wie sich Geber, Empfänger und Gabeobjekt ausklammern lassen, zeigt sich, dass die »donation« den tiefsten Phänomenkern dieses Vorganges bildet. Weil sich alle ökonomischen Konstituenten auf die reine »donation« reduzieren lassen, müsste an den Gabehandlungen deren Ursprünglichkeit anschaulich werden. Wird »donation« in ihrer Reinheit unter Ausklammerung des Empfängers, Gebers und des Gabeobjektes thematisch, dann tritt »Gabe« in ihrer ganzen Phänomenfülle hervor. Und von dort her: Empfänger, Geber und Gabeobjekt werden hingegebene Bezugsgrößen eines einzigen, irreduziblen Aktes von »donation«. 490 Marion sieht seinen Beitrag deswegen nicht als bloße Ergänzung zu den kulturwissenschaftlichen Gabetheorien. Vielmehr verdeutlicht er, dass die Gabe erst dort zum Phänomen werde, wo die reine »donation« (als das Andere der Ökonomie) an ihr aufleuchtet. Was »Gabe« bedeutet, tritt nach Marion also erst dort hervor, wo Geber, Empfänger und Objekt, als ökonomisch interessierte Konstitutionsmomente der Mausschen Theorie durchgestrichen werden und der Akt, also »donation«, in seiner Ursprünglichkeit erkennbar wird: Vgl. ebd., 155. Dieser Beitrag wäre deshalb missverstanden, würde man meinen, die von Mauss aufgestellten Konstituenten könnten einfach entfallen. Weil man demgegenüber von ihnen als ökonomisch interessierte absehen kann, zeigt Marion, dass sie alle als ›Hingegebene‹ zu bestimmen sind. 489 490

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»Or l’analyse de la donation a déjà établi d’abord que les relations transcendantes de l’échange et du commerce, telles qu’elles mettent en scène le don et abolissent dans l’économie métaphysique, doivent tomber sous le coup de la réduction, et ensuite que le don ainsi réduit, loin de disparaître, apparaît enfin comme tel.« 491 Positiv gedreht: In der reinen »donation« liegt der Phänomenkern des intersubjektiven Gebens und alle Aufbaustücke einer Gabehandlung erweisen sich als an diesen Akt hingegeben und von ihm überholt. 492 Für die Einschätzung dieses Standpunktes zur Gabe ist wichtig, dass Marion zunächst beteuert, sich von allen kultur- und sozialwissenschaftlichen Überlegungen zur Gabe distanzieren zu wollen. Seiner Ansicht nach wären diese übereinstimmend als ›modèle standard du don‹ zu bestimmen, der sich als das Andere dessen ausnimmt, um was es Marion geht. Die Gabe sei hier, so Marion, nicht in ihrer Ursprünglichkeit als reiner Akt erfasst, weil an extrinsische Bestimmungsgrößen zurückgebunden: »Le modèle standard du don élimine en fait le don […] si la vérité du don se tient dans le rendu, elle le raval au rang d’un prêté. Rendu au commerce, le don s’est déjà dépouillé de sa pauvreté, il a échangé sa gratuité contre un prix.« 493 Allerdings: Wenn Marion seinen Beweis durchführt, dass in der »donation« der unveräußerliche Bedeutungskern von Gabe liegt, dann greift er auf Szenen und Motive zurück, die eigentlich in das Themenfeld ›sozialer Wirklichkeit‹ hineinragen und deswegen ursprünglich auch einer kulturwissenschaftlichen Reflexion offen stehen dürften. 494 Deshalb scheint der Marionsche Ansatz in einer viel engeren Berührung zum Gegenstandsbereich kulturwissenschaftliche Gabetheorien zu stehen, als seine erste Abwehr diesen gegenüber plausi491 Ebd., 172, vgl. »En réalité, seule une phénoménologie radicale de la donation permet de tirer au clair les multiples significations de ce phénomène anthropologique fondamental que nous appelons ›don‹.« (Greisch, J. Le buisson ardent et les lumières de la raison, Bd. 2, 324). 492 Welches Verständnis sich daraus für das alltägliche Geben und Schenken ergibt, wurde in Kap. 5.5.1. ausgeführt. 493 ED 120 f. 494 Vgl. »Marion: The description of the gift can be made, but only in a very particular way. For we cannot make this description, which brackets one or perhaps two of the elements of the so-called economical gift, if we have not previously, in a pragmatic experience, enacted by ourselves a gift without a receiver, or a gift without a giver, or a gift without anything given.« (On the Gift. A Discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion, Moderated by Richard Kearney, 64).

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bel machen wollte. Zu betonen ist darum, dass in Marions philosophischer Kritik die Aufmerksamkeit auf Situationen gelenkt wird, die auch in kulturwissenschaftlichem Sinne zu erschließen wären. 495 Aufgrund dessen wäre die in der Tradition Mauss’ stehende Behandlung von Gabe im Ausgang der Marionschen Überlegungen auf verschärfte Weise zu kritisieren. Dabei müsste man sich nicht nur auf die Frage beschränken, ob die Kulturwissenschaften die »Unmöglichkeit von Gabe« (Derrida) bzw. das »Erkennen von (Erst-)Gabe« (Ricœur) zureichend bedenken würden. Darüber hinausführend hat der Marionsche Ansatz ja auf Phänomenbereiche im Umfeld von »Gabe« hingewiesen, deren auch soziokulturelle Relevanz und Beheimatung nicht zu übersehen ist. Eine (hier nur anzudeutende) Diskussion mit den Sozial- und Kulturwissenschaften könnte im Anschluss an Marion deshalb von folgenden Fragen ausgehen: Wie ist auf sozialwissenschaftlichem Terrain die Situation zu beurteilen, in der eine Gabe abgelehnt wird, aber gerade aufgrund dieser Ablehnung ja als solche erkannt wird? Lässt sich das Phänomen »Undankbarkeit« als kulturelles Faktum von Gabe aufarbeiten? Ist es im kulturwissenschaftlichen Zugriff auf Gabe legitim, Szenen auszublenden, bei denen der Geber abwesend ist und so jede Rückgabe- bzw. Tauschmöglichkeit im Keim erstickt wird? Wäre nicht auch der kulturwissenschaftliche Horizont auf Phänomene zu ausweiten, in der mehr wie nur Objekte, vielleicht Versprechen etc. gegeben werden? Noch schärfer gefragt: Sollte nicht auch eine Gabe zum ethnologischen Gegenstandsbereich gehören, die quasi blind darauf vertraut, angenommen zu werden, dafür jede Sicherheitsstruktur verlässt und sich ganz gibt? Im Reizklima solchen Fragens kommt zunehmend das in christlicher Offenbarung virulente Geben in den Blick. 496 Das Denken Marions eröffnet somit auch die Möglichkeit einer Konfrontation zwischen den kulturwissenschaftlichen Gabetheorien und dem christlichen Geben bzw. Sich-Hingeben. Denn aufgeworfen ist nun die Frage, ob der von der christlichen Offenbarung angestoßene Begriff des Gebens auch angesichts kulturwissenschaftlicher Gabetheorien zu vertreten wäre. Doch resultiert daraus eine Erweiterung fundamentaltheologischer 495 Dieser Aspekt bringt es mit sich, dass die Marionsche Position mehr als die von Derrida für die interdisziplinäre Diskussion um das Geben empfänglich ist. 496 Symptomatisch dafür ist vor allem, dass Marion die Situationen, in denen ein reines Geben in seinem Sinne zu vernehmen ist, immer mit Beispielen aus dem Neuen Testament verdeutlicht. (Vgl. ED 128, 133, 140 f.).

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Aufgabenstellungen. Konkret: Bezieht man das Marionsche Denken, wie in dieser Studie versucht wurde, auf den Ansatz der Fundamentaltheologie, dann böte sich jetzt dieser Diszplin noch ein weiteres Forum, vor dem sie ihre Rechenschaftsablage durchführen könnte. Wenn Marion das in der Offenbarung Jesu Christi akute Geben angesichts sozial- und kulturwissenschaftlicher Erkenntnisse behaupten will, dann hätte er damit die Weichen gestellt für eine Fundamentaltheologie, die den christlichen Glauben auch vor der sozialbzw. kulturwissenschaftlichen Vernunft zu verantworten sucht.

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