"Hauptsache, du hast eine Meinung und einen eigenen Glauben": Positionalität 376684590X, 9783766845900


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"Hauptsache, du hast eine Meinung und einen eigenen Glauben": Positionalität
 376684590X, 9783766845900

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Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Herausgegeben von Anton A. Bucher, Gerhard Büttner, Petra Freudenberger-Lötz, Christina Kalloch, Anika Loose, Oliver Reis, Bert Roebben, Hanna Roose, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Martin Schreiner und Mirjam Zimmermann

»Hauptsache, du hast eine Meinung und einen eigenen Glauben« Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie Band 5 Herausgegeben von Mirjam Zimmermann, Friedhelm Kraft, Oliver Reis, Hanna Roose und Susanne Schroeder unter Mitarbeit von Steffi Fabricius

Calwer Verlag Stuttgart

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Calwer Verlag Stiftung. www.calwer-stiftung.com

eBook (pdf): ISBN 978–3–7668–4592–4 © 2022 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart – Alle Inhalte, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, Kopieren und Bearbeiten der Datei, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags.

ISBN 978–3–7668–4590–0 © 2022 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Mazowieckie Centrum Poligrafii – 05-270 Marki (Polen) – ul. Słoneczna 3C – www.buecherdrucken24.de E-Mail: [email protected] Internet: www.calwer.com

Öhler Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen

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Inhalt

I Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Mirjam Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie. Streiflichter zur Einführung, Kategorisierungsversuche und eine Problemanzeige in Frageform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Margit Stein / Veronika Zimmer Bildungsziel »Standpunktfähigkeit« bzw. »Positionalität«? – Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Georg Plasger Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Oliver Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität – Positionalität als Lösung und Problem der KJT im Zueinander von Tradition und subjektiven Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Hanna Roose Positionierung zwischen kinder- und jugendtheologischem Anspruch und alltäglicher Unterrichtspraxis. Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Steffi Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Gerhard Büttner / Friedhelm Kraft Positionierung der Kindertheologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Henrik Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie. Ein vorwärtsorientierter Rückblick auf eine Erfolgsgeschichte und ihre Nebenfolgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

6 II Positionalität im Diskurs

Tuba Işık / Naciye Kamcili-Yildiz »Ist Schweinegelatine halal oder haram?« – Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Mark Krasnov Positionalität im jüdischen Religionsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Matthias Krahe Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . 131 Friedhelm Kraft Religiöse Bildung oder humanistische Bildung »für alle«? Eine Fortsetzung des »religiös-säkularen« Gesprächs mit Matthias Krahe . . . . . . 141 Tobias Gutmann Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität – Herausforderungen beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen. . . . . . . 149 III Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Eva Wenig / Şenol Yağdı »Oder was anderes …« Empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern im christlich-islamischen Religionsunterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Anika Loose Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch? Überlegungen zur Förderung von Positionalität auf der Grundlage von Einzelinterviews . . . . . . . 176 Nadja Boeck »Es kann ja jeder glauben, was er will.« – Die Suche nach Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmandinnen und Konfirmanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Susanne Schroeder Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

Öhler Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen

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IV Buchbesprechung, Nachruf, Sonstiges

Anika Loose Gerhard Büttner, Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie. . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Bert Roebben / Annemie Dillen In memoriam. Henk Kuindersma – Der Pädagoge der Kindertheologie in den Niederlanden und Flandern . . . . . . . . 208 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

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Mirjam Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie – Exemplarische Streiflichter, Definitionsvorschlag, Kategorisierungsversuche und eine Problemanzeige in Frageform1 1. Vier Streiflichter 1.1 Erstes Streiflicht: Der (rechtliche) Rahmen für den Religionsunterricht

Wenn man zu Fragen der Positionalität im Kontext von Schule nachdenkt, kommt quasi automatisch der sogenannte Beutelsbacher Konsens2 von 1976 in den Blick. Als wichtiger Referenztext nennt er drei Prinzipien »guter« politischer Bildung im Blick auf Positionalität, auf die auch in anderen Fachdidaktiken wie z.B. der Religionspädagogik oder der Philosophiedidaktik Bezug genommen wurde und wird:  Überwältigungsverbot,  Kontroversitätsgebot,  Partizipationsfähigkeit als Stärkung der Urteilskraft Es wird deutlich, dass der Beutelsbacher Konsens vor allem die Schülerinnen und Schüler im Blick hat, die vor einer vereinnahmenden Position der Lehrkraft geschützt werden müssen und ihrerseits eine eigene Position finden und begründen sollen. So impliziert der Konsens eine Grundspannung, die die Diskussion um Positionalität von Anfang an begleitet: Es soll einerseits Positionalität (hier aufseiten der Lehrkraft) vermieden werden, es soll andererseits aber auch Positionalität (hier aufseiten der Schülerinnen und Schüler) gefördert werden. Was also

ist recht verstandene Positionalität und wie kann sie unterrichtlich angeregt werden? Das religionspädagogische Potenzia­l des Beutelsbacher Konsenses wurde an unterschiedlicher Stelle reflektiert.3 Es wird allerdings auch betont, dass 1 Ein ganz herzlicher Dank für die tatkräftige Unterstützung bei der Tagungsplanung »Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie« vom 7.–9.9.2021 in Berlin und der zuverlässigen Bearbeitung der Manuskripte geht an meine Mitarbeiterin Steffi Fabricius. 2 Vgl. https://www.lpb-bw.de/beutelsbacherkonsens [Zugriff: 19.04.2022]; sowie HansGeorg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, 173–184. 3 Vgl. z.B. Bernhard Grümme, Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts, Stuttgart 2009; Bernhard Grümme, Praxeologie. Eine religionspädagogische Selbstaufklärung, Freiburg i.Br. 2021; Thomas Schlag, Religiöse Bildung und Politik – eine Felderöffnung aus evangelischer Perspektive, in: Theo-Web 18 (2019) 2, 6–18; Joachim Willems, Indoktrination aus evangelisch-religionspädagogischer Sicht, in: Henning Schluß (Hg.), Indoktrination und Erziehung. Aspekte der Rückseite der Pädagogik, Wiesbaden 2007, 79–92; Joachim Willems, Religionsunterricht und Religionsfreiheit. Juristische, politische und pädagogische Perspektiven; in: Antonius Liedhegener / Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, Wiesbaden 2010, 280–295.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

sich Politik- und Religionsunterricht bildungstheoretisch und rechtlich deutlich unterscheiden und der Beutelsbacher Konsens für religiöse Bildung deshalb nur gebrochen rezipiert werden könne.4 Auch der im Jahr 2016 erschienene Sammelband »Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens?«5, welcher die Breite der politikdidaktischen Diskussion zum Beutelsbacher Konsens darlegt, wurde hinsichtlich seiner Denkanstöße religionspädagogisch aufgenommen. 6 Darüber hinaus liegt mit dem sogenannten Dresdener Konsens aus dem Jahr 20167 auch für den Philosophieund Ethikunterricht ein analoges Set an didaktischen Prinzipien vor, welches aufgrund der bildungstheoretischen Nähe religionspädagogisch besonders von Interesse ist. Explizit neu wird hier das Ziel »Bewusstsein von Suggestivität« (besonders in Bezug auf Bilder und Filme) ergänzt und das Überwältigungsverbot als »Gebot der weltanschaulichen und religiösen Neutralität« verändert. Obwohl die kritische Auseinandersetzung auch in Bezug auf religionspädagogische Diskurse an unterschiedlicher Stelle geführt wurde (s.o.), gibt es bisher keine entsprechende Empfehlung bzw. Leitlinien für die Religionspädagogik – weder von katholischer noch von evangelischer Seite oder von Seiten der anderen Religionsunterrichte. Die Herausforderung wird hierbei darin liegen, den Schutz vor Überwältigung der Schülerinnen und Schüler mit berechtigten Interessen der Religionsdidaktik nach Positionierung (die strukturell und inhaltlich begründet sind) zu vermitteln.

1.2 Zweites Streiflicht: Unterschiede zwischen Religionsunterricht und Wertefächern

Vor einiger Zeit war ich zur Teilnahme an einer Podiumsdiskussion mit dem Thema »Reli, Ethik, Philo – wie können Werte und Normen zeitgemäß vermittelt werden?« eingeladen, bei dem die Philosophiedidaktik, aber auch der Humanistische Verband und der Verband der Ethiklehrenden vertreten waren. Bei der Frage »Was kann der Religionsunterricht, was der Ethik-/Werte- und Normenunterricht bzw. der Philosophieunterricht nicht kann?« wurde engagiert und emotional diskutiert. Auch wenn religiöse Inhalte in allen Wertefächern ein Rolle spielen, wurden doch

4 Vgl. Bernhard Grümme 2021 (wie Anm. 3), 334; Jan-Hendrik Herbst, Offenbarung aus einem »brennenden Dornbusch im Schwarzwald« (G. Steffens)? Der Beutelsbacher Konsens und seine religionspädagogische Rezeption, in: Theo-Web 18 (2019) 2, 147–162; Jan-Hendrik Herbst, Kontroversität und Positionalität im konfessionellen Religionsunterricht. Religionspädagogische Perspektiven auf den Beutelsbacher Konsens, in: Johannes Drerup / Douglas Yacek / Miguel Zulaica y Mugica (Hg.), Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen? Demokratie, Bildung und der Streit über das Kontroversitätsgebot, Stuttgart 2022; Simone Hiller / Julia MünchWirtz, ›Neutral‹ unterrichten? Eine Lektüre des Beutelsbacher Konsenses hinsichtlich der Positionalität von Politik- und Religionslehrpersonen, in: ÖRF 29 (2021) 1, 124–141. 5 Benedikt Widmaier / Peter Zorn (Hg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn 2016. 6 Siehe die in Fußnote 4 aufgeführte Literatur: Grümme, 2021; Schlag, 2019. 7 Dresdener Konsens für den Philosophieund Ethikunterricht, in: ZDPE 3 (2016), 106.

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

über dies­ e inhaltlich unterscheidbare Schwerpunktsetzung hinaus noch zwei zentrale Differenzen beschrieben: Der katholische Kollege betonte als einen zentralen Unterschied die Positionalität der Lehrenden in Bezug auf religiöse truth claims und zum anderen die Möglichkeit, im konfessionellen Religionsunterricht Zugänge im religiösen Erfahrungsraum anzubieten, wie Gebet, christliche Lieder, Wege zur Mitte durch Meditation und Stilleübungen. Die Studierenden anderer Fächer als der Theologie kritisierten gerade diese beiden positionellen Aspekte besonders für Schülerinnen und Schüler der Grundschule, die sich nicht wehren könnten, als eine Nichtbeachtung des Überwältigungsverbots. Bei diesem Streiflicht wird sichtbar, dass es offenbar genuin mit dem Gegenstand des RU verbundene Inhalte und Praktiken gibt, die Position beziehen und sich dabei von anderen Wertefächern unterscheiden. In welcher Weise diese unterrichtlich dargestellt und gefördert werden sollen, bleibt hingegen strittig. 1.3 Drittes Streiflicht: Einschätzung von Positionalität durch unterschiedliche Akteure

Das folgende Streiflicht versucht, anhand neuerer empirischer Studien einen Einblick in die Wahrnehmung und Einschätzung von Positionalität im und um den Religionsunterricht zu geben. Ulrich Riegel und Mirjam Zimmermann haben 2019/20 eine Evaluation des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts (kokoRU) in NRW

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durchgeführt. Hieraus liegen uns Daten von Eltern (n = 117), kokoRU Lehrkräften (n = 355), Schulleitungen (n = 228) und Schülerinnen und Schülern (t1 n = 12682) vor. 8 Ergänzt werden können die Antworten zu einer alle Studien durchlaufenden Frage nach Positionalität durch Daten aus der Befragung von Studierenden (n = 2766) von 2020.9 Jeweils konnten die Befragten ihre Einschätzung von Positionalität gemäß vorgegebenen Aussagen zu Positionalität aus einer fünfstufigen Skala (sehr gut / eher gut / teilsteils / eher nicht gut / gar nicht gut) abgrenzen. (Angaben von »eher nicht gut« und »gar nicht gut« nach dem Schrägstrich in der Tabelle.)

8 Vgl. Ulrich Riegel / Mirjam Zimmermann, Forschungsbericht zur Befragung der Schulleitungen (2020); Ulrich Riegel / Mirjam Zimmermann, Forschungsbericht zur Befragung der Eltern (2021a); Ulrich Riegel / Mirjam Zimmermann, Forschungsbericht zur Befragung der Lehrkräfte (2021b); Ulrich Riegel / Mirjam Zimmermann, Forschungsbericht zur Befragung der Schülerinnen und Schüler (2021c); alle unter: https://www.uni-siegen.de/phil/eval_kokoru_nrw/?lang=de#Publikationen [Zugriff: 21.4.2022]. 9 Vgl. Ulrich Riegel / Mirjam Zimmermann, Studium und Religionsunterricht. Eine bundesweite empirische Untersuchung unter Studierenden der Theologie, Stuttgart 2022, 51: 3.568 Studierende haben den Fragebogen angeklickt, aber nur 2.766 Studierende haben die zentralen Fragen zu Studium und Religionsunterricht beantwortet.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Finde es sehr gut / eher gut, wenn10

die Lehrperson sagt, dass sie an Gott glaubt.

die Lehrkraft von ihren eigenen Erfahrungen mit Gott erzählt.

die Lehrkraft mit den SuS das Beten, Meditieren und Segnen ausprobiert.

die Lehrperson kritisch gegenüber der Kirche ist.

Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler von dem eigenen Glauben überzeugen wollen.

Schulleitungen n = 228

84% / 3%

72% / 8%

65% / 10%

32% / 16%

8% / 67%

Lehrkräfte n = 355

91% / 1%

78% / 5%

61% / 12%

37% / 13%

5% / 74%

Eltern n = 117

81% / 4%

70% / 10%

60% / 15%

36% / 24%

8% / 73%

Schülerinnen und Schüler n = 12682

63% / 3%

Frage nicht gestellt

29% / 32%

22% / 33%

8% / 67%

Studierende11 n = 2766

74% /3%

67% /9%

54% / 14%

52% /10%

7% / 74%

Tab. 1: Bewertung von Positionalität bei Lehrkräften (Riegel / Zimmermann, 2020f)

Durchgängig zeigen alle befragten Gruppen eine erstaunlich positive Bewertung der Positionalität der Religionslehrkraft. Am wenigsten eindeutig ist hier die Gruppe der Schülerinnen und Schüler (63%), wenn es um ihre Erwartungen geht, dass ihre Lehrkräfte sagen, dass sie an Gott glauben. Die anderen drei Gruppen bewerten dieses Vorgehen allerdings zu (fast) Dreivierteln als positiv. Etwas weniger Zustimmung findet sich zum Item, dass die Lehrkraft von ihren eigenen Erfahrungen mit Gott erzählt. Diesbezüglich sind die Studierenden mit wenig Abstand am skeptischsten, wobei auch hier zwei Drittel zustimmen.12 Deutlich niedriger fällt die Zustimmung dazu aus, dass diese religiöse Positionalität sich auch in praktischen didaktischen Unterrichtssettings zeigt, indem reale Gestaltungsformen wie Beten, Segnen, Meditieren eine Rolle

spielen und unterrichtlich verwendet werden. Während von den Schulleitungen, (angehenden und praktizierenden) Lehrkräften und Eltern das noch zwei Drittel als (didaktisch) sinnvoll erachten und nur 10–15% es dezidiert ablehnen, ist die Einschätzung von Schülerinnen und Schülern stark davon unterschieden: Hier befürworten solche religiösen Gestaltungselemente nur etwa ein Drittel, und ein Drittel lehnt diese Formen von Positionalität explizit ab. In Abweichung dazu zeigt sich aus der Analyse beobachteten Religionsunterrichts, aber auch aus vielen Religions10 Es werden sowohl die beiden zustimmenden Skalen (stimme voll zu / stimme eher zu) als auch an zweiter Stelle die beiden ablehnenden Skalen (stimme eher nicht zu / stimme nicht zu) aufgeführt. 11 Vgl. Ulrich Riegel / Mirjam Zimmermann (wie Anm. 9), 87. 12 Diese Frage wurde im Schülerfragebogen der nötigen Kürze wegen ausgespart.

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

lehrkräfte-Befragungen, dass Religionslehrende sich mehr als Moderatoren oder neutrale Vermittler denn als »›Zeugen‹ (…) für die Glaubwürdigkeit christlicher Überzeugungen«13 sehen. Bei der Frage nach truth claims vermeiden Lehrkräfte es weitgehend, als Repräsentantinnen und Repräsentanten christlichen Glaubens aufzutreten14; auf Schülerinnenund Schülerfragen und Nachfragen nach theologischen Positionen der Lernenden gehen sie oft nicht dezidiert ein und umgehen solche Diskurse, wie Unterrichtsanalysen zeigen.15 Dieses Streiflicht schärft noch einmal den Blick dafür, dass Positionalität im RU eng mit einzelnen Akteuren verbunden ist, die bestimmte Rollen einnehmen, welche Positionalität in unterschied­ lichem Maße ermöglichen oder erfordern. 1.4 Viertes Streiflicht: Kindertheologische Unterrichtspraxis

Ein unterrichtspraktisches Seminar an der Uni Siegen: Es geht um das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31), bei dem die Sechstklässler den zweiten Teil nach dem Tod der beiden Protagonisten erst selbst weitergeschrieben haben und jetzt mit dem Original vergleichen.16 Eine Schülerin fragt – sichtlich emotional beteiligt wegen der Gnadenlosigkeit Gottes – die Studentin: »Ja, aber glauben Sie auch, dass Gott so hart ist, so unnachgiebig, wenn man ihn bittet und sogar bereut?« Die Studentin gibt die Frage an die Klasse weiter und bleibt selber auch im Verlauf der Diskussion eine Antwort schuldig. In der anschließenden

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Stundenbesprechung entfacht sich eine heftige Diskussion, wie deutlich Religionslehrkräfte Position beziehen sollen und dürfen bzw. ob Neutralität z.B. in diesem Fall kritisch als standpunktlose Unentschiedenheit zu interpretieren sei, die den Schülerinnen und Schülern eben gerade nicht helfe, ihre eigene Position zu finden und zu vertreten. Das Streiflicht 1.4 lenkt den Blick auf das gemeinsame Anliegen einer reflektierten Positionalität der Kinder- bzw. Jugendtheologie, sowohl auf Seiten der Lehrkräfte, aber auch auf Schülerinnenund Schülerseite. Die Kinder- und Jugendtheologie hatte von Anbeginn an das Ziel, gegenüber einer Vermittlungsdidaktik von oben die Ideen und Meinungen

13 Rudolf Englert / Burkhard Porzelt / Annegret Reese / Elisa Stams, Innenansichten des Referendariats. Wie erleben angehende Religionslehrer/innen an Grundschulen ihren Vorbereitungsdienst? Eine empirische Untersuchung zur Entwicklung (religions)pädagogischer Handlungskompetenz, Berlin 2006, 228. 14 Vgl. Ulrich Riegel / Eva Maria Leven, How do German RE teachers deal with truth claims in a pluralist classroom setting?, in: Journal of Religious Education 64 (2016), 75–86. 15 Vgl. Mirjam Zimmermann, In der (konfessionellen) Selbstauflösung? Zum Berufsverständnis von Religionslehrerinnen und Religionslehrern in religionspädagogischen Handlungsfeldern – Betrachtungen aus der Innen- und Außenperspektive, in: Bernd Schröder / Thomas Schlag, Praktische Theologie und Religionspädagogik: Systematische, empirische und thematische Verhältnisbestimmungen, Leipzig 2020, 377–411, dort finden sich ausführliche Verweise auf verschiedene vorliegende Studien. 16 Vgl. zum Gesamtablauf: Mirjam Zimmermann, Die Gnade der Kindertheologie. Zur Erklärung eines religionspädagogischen Zu­ gangs am Beispiel der Auslegung von Lk 16,19–31, in: Lebendige Seelsorge (2017) 5, 355–359.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum zu rücken. Insofern diese »Theologie der Kinder« reflektiert und begründet ist und als existenziell bedeutsam kommuniziert werden kann, wird sie zu einer Position. Die Kinder- und Jugendtheologie hat zugleich gezeigt, dass diese Position komplexer und gefestigter werden kann, wenn sie durch eine »Theologie für Kinder« herausgefordert wird. Die Ausbalancierung zwischen den Zugängen einer Theologie von, für und mit Kindern/Jugendlichen kann somit leicht auf die Herausforderungen der Entwicklung einer reflektierten Positionalität17 von, für und mit Kindern/ Jugendlichen übertragen werden. 1.5 Fazit

Aus diesen Streiflichtern werden verschiedene Ebenen und Facetten von Positionalität deutlich: Die Diskussion nach Maß und kritischer Selbstreflexion von Positionalität wird auch in anderen Fachdidaktiken wie der Politik- oder der Philosophiedidaktik geführt. Das Ringen um eine konsensuale Lösung innerhalb verschiedener Fachdiskurse zeigen vorliegende Positionspapiere wie der Beutelsbacher Konsens (Politikdidaktik) oder der Dresdener Konsens (Philosophiedidaktik). Ein entsprechender Konsens fehlt für die Religionsdidaktik. Gleichzeitig hat Positionalität im Kontext von Art. 7 Abs. 3 GG eine wichtige religionspolitische Bedeutung, da hier explizit der bekenntnisorientierte konfessionelle Religionsunterricht geschützt wird. Positionalität ist in dieser Hinsicht ein wesentliches Differenzkriterium zwischen christlichem bzw. andersreligiösem Religionsunterricht und anderen

Wertefächern wie Praktischer Philosophie oder Ethik. Empirische Studien haben ergeben, dass unterschiedliche Akteure im schulischen Kontext zu großen Teilen Positionalität positiv einschätzen: Eltern, deren Kinder den Religionsunterricht besuchen, ebenso wie Schulleitungen und angehende und aktive Religionslehrkräfte. Kritischer dazu, aber immer noch grundsätzlich positiv bewerten Schülerinnen und Schüler verschiedene abgefragte Aspekte von Positionalität. Auch auf der Ebene praktischer religionspädagogischer Bildung an Universitäten und Studienseminaren wird die Frage, in welcher Art und Weise Positionalität sinnvoll in den Unterricht einzubringen sei, immer wieder kontrovers diskutiert und als Herausforderung angesehen. Die theoretische Einschätzung entspricht hier nicht unbedingt dem, wie die Studierenden bzw. die Lehrkräfte dann auch in der Praxis agieren. Die Frage nach Positionalität im Religionsunterricht ist damit sowohl eine politische, eine theologische als auch eine religionspädagogische bzw. -didaktische. Ausgehend von diesen Streiflichtern aus der religionspädagogischen Theorie und Praxis, soll nun im Folgenden danach gefragt werden, was Positionalität überhaupt ist (2.) und welche Ebenen von Positionalität man unterscheiden kann (3.). Abschließend sollen die Beiträge dieses Buches in dieses Raster eingeordnet und kurz zusammenfassend vorgestellt werden (4.). 17 Vgl. dazu Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 22012.

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

2. Was ist überhaupt Positionalität?

»Positionalität« nennt man die spezifische Haltung/Meinung/Stellung innerhalb eines Fachdiskurses von Subjekten oder Institutionen zu einem Sachverhalt, die begründet werden kann, nicht zufällig ist und längerfristig zur Verfügung steht.18 In Zuspitzung und Abgrenzung des prozesshaften Begriffs der Positionierung betont Steffi Fabricius den stärker existenziellen Charakter der Positionalität als »Zustandscharakter einer Person: Man hat eine Position.«19 Im religions­ pädagogischen Kontext ist es die Aufgabe religiöser Bildung, Menschen zu solchen begründeten Stellungnahmen zu religiösen Fragen und Themen zu befähigen. Sie sollen lernen, Positionen einzunehmen (Positionierung/Standpunktfähigkeit), diese unter Umständen spielerisch zu wechseln (Perspektivenwechsel), sie weiterzuentwickeln und dabei gute von schlechten Gründen für solche Positionen zu unterscheiden. So können sie längerfristig eine individuelle (dauerhaftere) Positionalität entwickeln. Positionalität gibt es aber nicht nur auf der Ebene des Individuums, sondern, wie aus den einführenden Streiflichtern deutlich wurde, auch auf Ebene von Institutionen, konkret der Organisation von (konfessionellem) Religions- oder Werteunterricht20, (theologischer) Wissenschaft und des Systems Schule und schulischer Bildung allgemein. Sie betrifft alle an der Schule beteiligten Akteure. Im Blick auf den konfessionellen Religionsunterricht besteht zugleich eine inhaltliche Spezifizierung der Positionalität, die zutiefst mit dem Gegenstand des Religionsunterrichts verbunden ist, wie

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ich hier an folgendem Beispiel erläutern möchte: Martin Luthers historisch nicht verbürgter Ausspruch auf dem Reichstag zu Worms 1521 – »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen« – wird immer wieder als so etwas wie die reformatorische Urszene protestantischer Positionalität dargestellt: »In einer dergestalt mythisierten Geschichtsschreibung wurde wirkmächtig inszeniert, dass das Für-etwas-Stehen – und mit seiner Person auch Dafür-Einstehen – ein Wesensmerkmal des spezifisch protestantischen Habitus sei, also öffentliches Bekennen in diesem Sinne kein Problem darstelle. Zugleich mit inhaltlichen Positionen von Schrift- und Gewissensbezug ist dem Protestantismus von daher ein konfessorisches Moment eingeschrieben.«21

18 Vgl. Steffi Fabricius, Art. Positionalität (2022), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Positionalität_Lehrende.201013, PDF vom 07.02.2022); Mirjam Schambeck, Hilfe! Muss ich dauernd von Gott reden? Warum es sich lohnt, Positionalität im Religionsunterricht weiter zu fassen. Auch ein Beitrag zur Debatte um den bekenntnisorientierten und religionskundlichen Unterricht, in: Winfried Verburg (Hg.), Welche Positionierung braucht religiöse Bildung?, München 2017, 26–45. 19 Steffi Fabricius (wie Anm. 18), 1. 20 Vgl. Ulrich Riegel, Wie Religion in Zukunft unterrichten? Zum Konfessionsbezug des Religionsunterrichts von (über-)morgen, Stuttgart 2018. 21 Hans-Günter Heimbrock / Felix Kerntke, Positionalität von Religion in lebensweltlicher Perspektive. Gelebte Konfessionalität von Religionslehrer/innen, in: Christian Wiese / Stefan Alkier / Michael Schneider (Hg.), Diversität – Differenz – Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin 2017, 379–400, 379.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Heute findet sich der Begriff Positionalität in religionspädagogischen Kontexten oftmals auch als »Standpunktfähigkeit«22, die ebenfalls darauf zielt, eigene Überzeugungen zu erkennen, zu begründen und zu kommunizieren. Eine solche Kompetenz spielt vor allem im Zusammenhang mit konfessionell-kooperativem23 und interreligiösem Lernen24 eine Rolle: »Die Begegnung mit anderen Religionen stellt an dieser Stelle eine riesige Chance dafür dar, die Kontingenz und damit Begründungspflichtigkeit der eigenen Überzeugungen zu erkennen.«25 Klaus von Stosch macht gerade im Kontext interreligiöser Begegnung deutlich, dass wir andersgearteten gesellschaftlichen Tendenzen zum Trotz eine solche Positionalität unbedingt brauchen: »Leider gibt es allerdings in unserer Gesellschaft vielfach die Erwartungshaltung, sich in religiösen Fragen neutral zu verhalten und religiöse Überzeugungen im Privaten zu lassen. Begründete Wahrheitsansprüche werden des Absolutismus verdächtigt, und apologetische oder dogmatische Bemühungen sind aufgeklärten und kritisch denkenden Menschen verdächtig geworden. Religiöse Glaubenssätze werden als Geschmacksfragen wahrgenommen, über die sich bekanntlich (nicht) streiten lässt. Auf diese Weise wird die im Christentum und Islam über Jahrhunderte hinweg eingeübte diskursive Begründungspraxis für religiöse Überzeugungen marginalisiert und weicht einer diffusen Toleranz für all das, was niemandem weh tut. Auf diese Weise wird aber der auf Diskursivität angelegte Charakter der Glaubenssätze von Islam und Christentum verleugnet. Denn beide Religionen bezeugen den einen guten Gott, und – wie schon Thomas von Aquin wusste –

drängt das Gute danach, sich mitzuteilen. Wenn aber dem objektiv als gut, wahr und schön Erfahrenen der öffentliche Raum genommen wird, um sich mitzuteilen und in rational widerspruchsfreier Weise zu artikulieren, entstehen Grauzonen, in denen Glaube vermittelt und bezeugt wird. Positionierungen werden so ihrer dialektischen Vermittlung entkleidet, und Glaubenszeugnisse stehen in der Gefahr fundamentalistischer Verkürzungen. Von daher braucht es den öffentlich geförderten Begründungsraum für reflektierte Positionalität in Sachen der Religion.«26

Die Missio canonica bzw. Vocatio als kirchliche Beauftragung verweist in Bezug auf Religionslehrkräfte auf die Rückbindung der Lehrpersonen an die Positionen einer 22 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts, Würzburg 2016, 10. 23 Vgl. Mirjam Zimmermann / Ulrich Riegel / Benedict Totsche / Steffi Fabricius, Standpunktfähigkeit und Perspektivenwechsel als Anforderungen an die Lehrperson im konfessionell-kooperativen Lernsetting aus der Sicht von betroffenen Religionslehrkräften, in: Religionspädagogische Beiträge 44 (2021), 1 (doi. org/10.20377/rpb-93). 24 Vgl. Stefanie Lorenzen, Entscheidung als Zielhorizont des Religionsunterrichts? Religiöse Positionierungsprozesse aus der Perspektive junger Erwachsener, Praktische Theologie heute 174, Stuttgart 2020. – In ihrer Studie zu Positionierungsprozessen junger Erwachsener, die allerdings nicht spezifisch auf den interreligiösen Bereich ausgerichtet ist, kommt Lorenzen zu dem Ergebnis, dass eigene religiöse Positionierungen durch Rekurs auf Erfahrungen von »Verdichtung« (Lorenzen, 2020, 136– 150) erklärt werden, also dem persönlichen Nahe-Kommen religiös aufgeladener Situationen mit entsprechenden »Passungsreaktionen« (Lorenzen, 2020, 161–172). 25 Klaus von Stosch, Entwicklungsperspektiven für den Dialog der Religionen an den Universitäten, in: Theo-Web 19 (2020) 1, 282–289, 283. 26 Ebd., 284.

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

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Wozu bezieht man Position? (Gegenstand)

Wer bezieht Position? (Akteure) Lehrkraft Schüler*in Eltern, Schulleitung Institution(en)

theologische Position, Gottesglaube als Truth Claims Bekenntnistraditionen der Religion und Kirche Religiöse Praktiken (Gebet, Rituale etc.) Theologie der Kinder und Jugendlichen

Positionalität im Religionsunterricht

In welchen Kontexten steht die Position? (Rahmenbedingungen)

Wie wird Positionalität unterrichtet? (Didaktik)

Grundgesetz Art. 7 Abs. 3 Beutelsbacher bzw. Dresdener Konsens Missio/Vocatio Religionsunterricht im Fächerkanon Religion und andere Wertefächer

(selbst)kritische Reflexion von Positionen Kontroverse Meinungen wahrnehmen und tolerieren Anspruch von Neutralität Entfaltung von eigener Urteilsfähigkeit (entwicklungspsychologisch angemessen) Förderung einer positionellen Kinderbzw. Jugendtheologie

Abb. 1: Facetten von Positionalität im Religionsunterricht

konkreten Religionsgemeinschaft und ermöglicht die eigene Bezugsreligion im Sinne authentischer Erfahrung bzw. aus der »Erste-Person-Perspektive« zu erleben.27 Von der katholischen Kirche wird diese Form von Positionalität im Falle der Missio canonica sogar als Zeugenschaft interpretiert.28 Zusammenfassend möchte ich in Gestalt eines Schaubilds die unterschiedlichen Facetten des Begriffs der Positionalität im Blick auf den Religionsunterricht festhalten (s. Abb. 1).

27 Vgl. Mirjam Schambeck, Interreligiöse Kompetenz. Basiswissen für Studium, Ausbildung und Beruf, Göttingen/Stuttgart 2013, 164f; Evangelische Kirche in Deutschland, Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014, 50–53. 28 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofkonferenz (Hg.), Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, in: Die deutschen Bischöfe 56 (1996), 77, 83f; Sekretariat der Deutschen Bischofkonferenz (Hg.), Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Die deutschen Bischöfe 80 (2005), 34.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

3. Facetten der Positionalität im Kontext von Religionspädagogik und Religionsunterricht

Die Frage nach der Positionalität im Kontext von Schule und Religionsunterricht stellt sich, wie aus den Schlaglichtern und den definitorischen Annäherungen an Positionalität ersichtlich wurde, von verschiedenen Seiten. Jeweils sind damit aber offene Fragen verbunden, über die es in einem Diskurs nachzudenken gilt und die teilweise in den im Sammelband vereinten Beiträgen angerissen oder ausgeführt werden. An dieser Stelle sollen die verschiedenen Ebenen von Positionalität im Kontext von Religionspädagogik und Religionsunterricht in heuristischer Absicht abgesteckt werden, um Aspekte der folgenden Sammelbandbeiträge in dieses Raster einzuordnen und den Leserinnen und Lesern Fragen im Leseprozess mitzugeben. 3.1 Die strukturelle-institutionelle Positionalität in Bezug auf das System Schule (Rahmenbedingungen I)

Man wird schnell Einigkeit darüber erreichen, dass es die Aufgabe der Schule ist, Heranwachsende bei der Herausbildung ihrer je eigenen wertgestützten Position zu begleiten, ohne direkten inhaltlichen Einfluss auf das Ergebnis dieser Positionierung zu nehmen. Aber ist es heute angesichts der mannigfaltigen und existenzbedrohenden Herausforderungen der Gesellschaft (Klimakrise / Krieg) darüber hinaus nicht notwendig, konkrete (konsensuale) Werte als elementare Wertebasis unserer Gesellschaft zu vermitteln und damit natürlich klar

positionell zu sein?29 Wie können einerseits das Überwältigungsverbot gewahrt, andererseits aber auch Grenzen beliebiger individueller Positionen aufgezeigt werden, wenn diese ein Zusammenleben oder Überleben erschweren oder verhindern würden? Wie brisant diese Frage ist, wurde etwa bei der Debatte um eine »neutrale Schule«30 deutlich, an die man sich im Zusammenhang mit den sogenannten Meldeplattformen der Partei AfD erinnert.31 Das ist ein klares Beispiel für die Forderung nach Positionalität im Zusammenhang mit ethischer Bildung, die gerade auch in den Religionsunterrichten relevant ist. Wie zu dieser Frage verschiedene Religionsunterrichte (islamisch, jüdisch u.a.) stehen, wird in den Beiträgen von Kraft, Işık/Kamcili-Yildiz, Krahe, Krasnov und Gutmann deutlich. Beobachtet und reflektiert werden muss dabei neben der theoretischen Diskussion auch die Unterrichtspraxis in Bezug auf Positionalisierungsprozesse auf Lehrkraft- und Schülerseite, was in Bezug auf die verschiedenen Religionsunterrichte in den Beiträge von Roose, Fabricius, Wenig/Yağdı, Loose, Boeck und Schröder in unterschiedlicher Art 29 Vgl. z.B. Katrin Bederna, Die Klimakrise im Lichte der Coronakrise, oder: Kann Religionsunterricht zu zukunftsfähigem Handeln motivieren?, in: ÖRF 28 (2020) 2, 28–46. 30 Vgl. Gerhard Eikenbusch, Neutralität ist keine Option. Bildung für politisches Engagement in der Schule, in: Pädagogik 72 (2020) 4, 6–9. 31 Vgl. Helmut Däuble, Politisches Lehren und Lernen in Zeiten digitaler »Meldeplattformen«. Mit dem »Beutelsbacher Konsens« in der politischen Bildung gegen die AfD, in: Lehren und Lernen 45 (2019) 6, 20–24. Dem Problem widmet sich die ganze Ausgabe von »Lehren und Lernen«.

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

und Weise explizit und teils implizit aufgenommen wird. 3.2 Die theologische Positionalität in Bezug auf die Grundlagen des (evangelischen) Glaubens im Kontext des Religionsunterrichts (Gegenstand)

Aus der biblischen Offenbarung und dem Bekenntnis zum jüdisch-christlichen Gott folgt eine klare theologischethische Positionierung der Kirche. Auch in sozialethischer Hinsicht sind die Selbstverpflichtungen »Option für die Armen«, »Option für die Marginalisierten« oder »Option für die Unterdrückten und Leidenden« christliche Parteinahmen, die eindeutig Position beziehen. Kann es somit überhaupt eine neutrale christliche Theologie und Ethik geben, oder ist es nicht ihr Markenkennzeichen, dass sie positionell ist? Muss im konfessionellen Religionsunterricht nicht auch diese Positionalität zur Sprache kommen, wenn er als solcher erkennbar bleiben will? Unterscheidet sich nicht schon damit diese theologische Positionalität des Religionsunterrichts grundlegend von der einer Positionalität im Politik- oder Philosophieunterricht relevanten? Hier vertritt der Beitrag von Georg Plasger eine eindeutige Position. 3.3 Die konfessionell-religiöse Positionalität in Bezug auf den christlichen Religionsunterricht (Rahmenbedingungen II)

Der Religionsunterricht nach Artikel 7.3 GG ist positionell, weil er nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaf-

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ten verantwortet wird. Angefragt wird hier grundsätzlich: Ist das heute noch oder gerade heute angemessen in einer demokratischen Schule mit ihrem emanzipatorischen und partizipativen Selbstverständnis? Oder brauchen wir nicht eher eine Organisationsform, bei der das konfessionell-positionelle im Titel und im Konzept entfällt? Wie ist das außerdem im Kontext einer konfessionellreligiösen Positionalität im Reigen der Wertefächer zu bewerten? Hier führt das Streitgespräch zwischen Kraft und Krahe, ausgehend von der Berliner Situation, in ihren Beiträgen eine kritische Reflexion der Problematik produktiv vor Augen. 3.4 Die entwicklungspsychologisch angemessene Positionalität (Didaktik und Akteure)

Sicherlich gibt es Unterschiede, ob in einer Grundschulklasse Werte, Haltungen und Einstellungen durch Einübung übernommen werden sollen (Wertübertragung) oder ob das in einer Oberstufenklasse gefordert wird, in der die Metareflexion von Werten oder theologischen Positionen eine größere Rolle spielen kann. Das zeigen auch die unterschiedlichen Zielperspektiven von Religionsunterricht, die Religionslehrkräfte von Grundschulen im Gegensatz zu Lehrkräften der Sek I und II angeben. Inwiefern darf und muss deshalb entwicklungspsychologisch adäquat in Bezug auf verschiedene Altersgruppen mehr oder weniger positionell agiert werden, und was heißt das konkret? Wie äußert sich das in Bezug auf konfessionelle bzw. christliche Positionalität im interkon-

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

fessionellen bzw. interreligiösen Dialog? Denkanstöße gibt hier der Beitrag von Stein/Zimmer. 3.5 Die individuelle Positionalität aufseiten der Beteiligten am Religionsunterricht (Akteure)

Positionalität in Bezug auf die verschiedenen am Religionsunterricht beteiligten Gruppen unterscheidet sich hinsichtlich der Ausrichtung. Alle Gruppen bewerten diese in der kurz skizzierten Umfrage aber tendenziell im Blick auf die abgefragten Items positiv. Welche Bedeutung haben aber solche empirisch erfassten Einstellungen zur Positionalität? Haben die Ergebnisse aus einer deskriptiven Beschreibung dann auch normative Konsequenzen, oder dienen sie nur dazu, Probleme klarer zu erkennen? Muss darauf z.B. didaktisch reagiert werden, indem eine sogenannte »theologische« die bisher vertretene religiöse Kompetenz ergänzt?32 Brauchen Lehrkräfte verstärkt mehr Bewusstsein dafür, was Positionalität für den Religionsunterricht bedeutet und wie eine solche kritisch reflektiert und adäquat umgesetzt werden kann? Zumindest weiterführende Fragen und Ansätze von Antworten dazu liefern die Beiträge von Roose, Reis und Fabricius. Sicherlich ließen sich, die Aspekte des Schaubilds aufnehmend, noch mehr Ebenen finden, auf denen Positionalität religionspädagogisch und kinder- bzw. jugendtheologisch eine Rolle spielt. Aus den exemplarischen Streiflichtern, einer ersten Definition und einer Systematisierung betroffener Ebenen zeigt sich, wie vielfältig, komplex und herausfordernd

die Frage nach der Positionalität nicht nur in der Kinder- und Jugendtheologie, sondern auch in vielen Feldern der Religionspädagogik und -didaktik ist. Diese Einleitung abschließend, sollen nun die Beiträge des Sammelbandes kurz vorgestellt werden. 4. Positionalität in den Beiträgen dieses Sammelbandes

In einem ersten Teil werden grundsätzliche Fragen zum Thema Positionalität aus entwicklungspsychologischer, theologischer und religionspädagogischer Perspektive gestellt. Zum Auftakt des Bandes nehmen Margit Stein und Veronika Zimmer eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive ein. In dieser fragen die Autorinnen, wie das Bildungsziel Standpunktfähigkeit als Kernziel der Erziehung erreicht werden kann. Diese Erziehung bewege sich hierbei im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit, eigenständige Werte, Einstellungen und Überzeugungen zu entwickeln, und der Notwendigkeit, durch geteilte Werte gesellschaftliche Kohäsion zu schaffen. In einem ersten Schritt wird unter der Input-Perspektive oder der erziehungswissenschaftlichen Perspektive der Frage nachgegangen, welche Erziehung am meisten geeignet ist, Heranwachsende zu einem eigenen Standpunkt zu führen. Hierbei erweist sich eine autoritativ-demokratische Erziehung am erfolgreichsten, bei den Heranwachsenden 32 Vgl. Mirjam Zimmermann (wie Anm. 17).

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

eine eigenständige, intrinsisch gefestigte Wertebasis zu schaffen. In einem zweiten Schritt gehen die Autorinnen dann unter der Output-Perspektive oder entwicklungspsychologischen Perspektive der Frage nach, wie sich ein eigener Standpunkt aufseiten der Heranwachsenden zeigt. Das Ideal hierbei stellt die erarbeitete Identität dar, bei der sich der oder die Einzelne auf bestimmte Wertpositionen festlegt, die selbst ausgewählt wurden. Georg Plasger vertritt, ausgehend vom aufklärerischen Erziehungsgedanken zur Toleranz, eine systematisch-theologische Perspektive und fragt: Steht Positionalität der Toleranz gegenüber? Dies wird verneint, denn der Versuch vermeintlicher Neutralität führe – das macht er an Lessings »Nathan« deutlich – zu einer neuen Positionalität (hier zur Vernunftreligion). Vor allem aber sei, so Plasger, theologisch vom vorgegebenen Raum der Wahrheit zu reden. Sich dann zu dieser göttlichen Wahrheit zu bekennen, wäre eine theologische Tugend. Das Bekenntnis zur Wahrheit könne und dürfe aber nicht mit der Wahrheit selber identifiziert werden: Christenmenschen sind nicht im Besitz der Wahrheit, sondern bleiben Zweifelnde. Positionalität – auch die der Lehrkraft im Religionsunterricht – überspielt diese Spannung nicht, sondern nimmt die Kontingenzerfahrungen auf – und ist so gerade Ausdruck von Toleranz, weil sie von der Wahrheit Gottes nicht überzeugen muss, sondern darauf vertraut, dass Gott sich als Handelnder selbst bezeugt. Oliver Reis nimmt als Erster konkret auf das religionsdidaktische Konzept der Kinder- und Jugendtheologie Bezug. In

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seinem Beitrag »Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität – Positionalität als Lösung und Problem der KJT im Zueinander von Tradition und subjektiven Überzeugungen« geht er der Forderung nach Positionalität auf Schülerinnenund Schülerseite im Unterricht nach. Ausgangspunkt ist, dass die Kinder- und Jugendtheologie gegenwärtig vielleicht das ehrgeizigste religionsdidaktische Konzept ist, um theologische Inhaltlichkeit mit einem subjektorientierten Verfahren zu verbinden. Gleichzeitig werde in empirischen Studien deutlich, dass die Verknüpfung des offenen Verfahrens mit eingespeisten theologischen Deutungen davon abhänge, dass sich die Schülerinnen und Schüler positionell in die Unterrichtsprozesse einbringen. In seinem Beitrag untersucht er diese Forderung und verbindet sie mit einer Analyse zur notwendigen Beschaffenheit von Theologie in den theologischen Gesprächen. Die zentrale Erkenntnis besteht in der besonderen Bedeutung theologischer Modelle, die als Positionierungen im sozialen Raum differente Positionen koordinieren können. Hanna Roose arbeitet in ihrem Beitrag zum christlichen Religionsunterricht praxisbasiert anhand empirischer Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht und bewertet Positionierung zwischen kinder- und jugendtheologischem Anspruch und alltäglicher Unterrichtspraxis. Ihr Ausgangspunkt ist: Kinder- und Jugendtheologie zielt auf die Thematisierung existenzieller Fragen und bedarf daher eines geschützten Raumes. Dieser geschützte Raum muss sich gegen Strukturmomente von Unterricht (Partizipationszwang, pädago-

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

gische Asymmetrie, Massenunterricht) behaupten. In ihrem Beitrag fragt sie danach, wie Unterricht in seinen Praktiken einen geschützten – oder auch einen ungeschützten – Raum herstellt und welche Positionierungen von Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern sich dabei zeigen. Sie betrachtet dazu Unterrichtsszenen aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen (Oberstufe, Mittelstufe und Primarstufe). In keinem der gezeigten Beispiele bringe – so Roose – Unterricht Klassenöffentlichkeit homogen als geschützten Raum hervor. Der Beitrag gibt außerdem kinder- und jugendtheologisch inspirierte Impulse, wie die Klassen­ öffentlichkeit als geschützter Raum zwischen Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern neu und graduell anders ausgehandelt werden kann. Steffi Fabricius fragt im Blick auf Lehrkräfte, ob relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht dienen könnte. Dabei kann sie mithilfe der konzeptuell-metaphorischen Analyse einer Gruppendiskussion Religionslehrender über Positionalität im RU – im Kontext einer groß angelegten Evaluierung der Einführung des konfessionell-kooperativen RU in NRW – zeigen, dass das Reden über Positionalität unter Verwendung von Begriffen, die auf Erfahrungen mit Räumlichkeit verweisen (z.B. die Präposition »in«, beziehen, einbringen), eine der prägnantesten sprachlichen bzw. konzeptuellen Konstellationen in den Gesprächen ist. Deutlich wird aus der Analyse, dass diese zutage tretende Raumstruktur des Positionalitätsbegriffs im religionsunterrichtlichen Rahmen eine relationale Komponente aufweist, welche ein positionelles In-Be-

ziehung-Treten im materiellen wie diskursiven Raum hervorhebt. Anknüpfend an dieses Ergebnis fragt Fabricius: Was kann eine demnach relational gedachte Positionalität oder eine Positionalität in Relation im RU kinder- und jugendtheologisch bedeuten? Zwei Gründerväter der Kindertheologie, Gerhard Büttner und Friedhelm Kraft, die sich mit diesem Band aus dem Herausgeberkreis der »Kinder- bzw. Jugendtheologiejahrbücher« verabschieden, bündeln ihre Meinung zur Positionalität (und darüber hinaus) in Form von Thesen, die markant und verdichtet zentrale Positionen festhalten. Daran anschließend weitet Henrik Simojoki mit seinem Beitrag Die didaktische Solidierung der Kindertheologie – ein vorwärtsorientierter Rückblick auf eine Erfolgsgeschichte und ihre Nebenfolgen den Blick international und verfolgt zwei Anliegen: Ausgehend vom Synodenwort der EKDSynode in Halle, will er zum einen deutlich machen und würdigen, was Gerhard Büttner und Friedhelm Kraft – stellvertretend für die Pioniergeneration der Kinder- und Jugendtheologie – für die religionsdidaktische Etablierung dieses Ansatzes im deutschsprachigen Raum geleistet haben. Zum anderen führt der Beitrag vor Augen, dass der ursprüngliche Entdeckungszusammenhang der Kindertheologie transformatorische An­sprüche in Bezug auf Gesellschaft, Kirche und Theologie einschloss, die im aktuellen Diskurs der Kinder- und Jugendtheologie – als ungewollte Nebenfolge der didaktischen Solidierung – teilweise aus dem Blickfeld geraten sind. In den Jahren der Corona-Krise ist deut-

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

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lich geworden, wie wichtig es ist, dass die Theologie in ihrer ganzen Breite für das Kind Position bezieht und Anliegen von Kindern repräsentiert. Daher sollte die Kinder- und Jugendtheologie den Dialog mit sozial-ethischen und internationalen Diskursbemühungen in Richtung einer kindorientierten Theologie künftig intensivieren.

Spannungsverhältnis auf der Grundlage von empirischen Studien zur Professionalisierung von muslimischen Religionslehrkräften in Deutschland und Österreich. Als ein gangbarer Weg verweisen die Autorinnen auf die Ambiguitätstoleranz, von der das Denken in der Entstehungszeit des Islam stärker geprägt war als heute.

In einem zweiten Teil werden unterschiedliche Beiträge zusammengestellt, die Positionalität in anderen Religions- und Wertefächern darstellen, so z.B. im islamischen und jüdischen Religionsunterricht, aber auch in Wertefächern wie Praktische Philosophie u.a.:

Um die Frage der Positionalität im Fach Jüdische Religion erläutern zu können, stellt Mark Krasnov zuerst dar, wie sich der jüdische Religionsunterricht im staatlichen Schulsystem in Deutschland verortet. Es werden dann Chancen und Grenzen diskutiert, die sich für den jüdischen Religionsunterricht in Hinblick auf Positionalität ergeben. Dabei zeigt sich, dass man im Fach Jüdische Religion, soziohistorisch bedingt, nicht ohne Weiteres unbefangen über Standpunkte sprechen kann. Vielmehr stellt sich heraus, dass Positionalität im jüdischen Religionsunterricht ein mehrdimensionales Phänomen ist. Hierbei werden Aspekte berücksichtigt, die die bisher gängige religionspädagogische Definition der »Standpunktfähigkeit« um drei neue Dimensionen erweitern, indem der Autor Unterschiede zwischen impliziter, aufgedrängter und freiwilliger Positionalität herausarbeitet.

Tuba Işık und Naciye Kamcili-Yildiz stellen, ausgehend von einer Schülerfrage »Ist Schweinegelatine halal oder haram?«, das Spannungsverhältnis muslimischer Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz dar. Muslimische Lehrkräfte sind im islamischen Religionsunterricht oft mit der Situation konfrontiert, ihre persönliche religiöse Überzeugung zu einer Frage theologisch zu formulieren und zu begründen. Muslimische Schülerinnen und Schüler, Eltern, aber auch Schulleitungen erwarten von ihnen eine eindeutige Position. Damit stehen sie allzu oft in der Spannung zwischen dem Anspruch religiöser Bildung, junge Musliminnen und Muslime zu begründeten eigenen Stellungnahmen im Kontext von religiösen Themen und Fragen zu befähigen, und der Gefahr, den Islam auf ein Konglomerat aus theologischen Kernaussagen und rechtlichen Normen zu reduzieren, d.h., die unterschiedlichen Zugänge zum Islam auszuhöhlen. Der Beitrag verdeutlicht dieses

Im Beitrag von Matthias Krahe geht es dann um die Frage nach Positionalität im Humanistischen Lebenskundeunterricht, wie er in Berlin erteilt wird. Seine These ist: Um für konfessionsfreie Kinder und ihre Familien attraktiv zu sein, wende sich der evangelische Religionsunterricht vom Bekenntnis ab und verspräche religiöse Bildung für alle. Gleichzeitig werde so jedoch eine diffuse Religiosität propagiert.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Der Verzicht auf Positionalität im Sinne einer religiösen Standpunktfähigkeit bei gleichzeitiger unterschwelliger Missionierung drohe hierbei, so Krahe, in die inhaltliche Beliebigkeit zu führen. Bekenntnisunterricht als legitime Form der religiösen Bildung bleibe auf der Strecke. Der Humanistische Lebenskundeunterricht in seiner dem Humanismus zugrundeliegenden fragenden Haltung komme hingegen ohne ein religiöses Bekenntnis aus und sei damit prinzipiell ein offeneres Angebot als der Religionsunterricht. Friedhelm Kraft antwortet im darauffolgenden Beitrag auf die kritischen Anfragen zur Begründung und Praxis des christlichen bzw. evangelischen Religionsunterrichts von Matthias Krahe. Kraft versucht, deutlich zu machen, dass der von Krahe propagierte Begriff eines »Bekenntnisunterrichts« nicht nur die aktuelle religionspädagogische Konzeptbildung ignoriere, sondern vielmehr den Religionsunterricht grundsätzlich als Bildungsaufgabe von Schule in Frage stelle. Stattdessen werde die humanistische Lebenskunde als Unterricht »ohne Bekenntnis« als bessere Alternative »für alle« propagiert. Zu fragen bleibe einerseits, wie ein bekenntnisgebundenes Fach ohne Bekenntnisinhalt seinen Platz in der Schule begründen kann. Andererseits bleibe bei Krahe offen, worin sich eine humanistische Lebenskunde dann von einem obligatorischen Ethikunterricht unterscheide. Von philosophiedidaktischer Seite aus betont Tobias Gutmann im Anschluss die Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität und benennt so Herausforderungen beim Philosophieren mit

Kindern und Jugendlichen. In der heutigen Philosophiedidaktik spielt der Gedanke eine zentrale Rolle, dass es gelte, Philosophieren zu lernen, und nicht, Philosophie zu lernen. Das zentrale Ziel des Philosophieunterrichts bestehe demnach in einer systematischen Schulung der Urteilskraft der Schülerinnen und Schüler, die sie dazu befähigen soll, selbstständig gut begründete Urteile fällen zu können, damit auch standpunktfähig zu werden und ihre Position vertreten zu können. Im Beitrag werden einige Überlegungen zur Begründung dieses Prinzips vorgestellt, und es wird erläutert, welche Bedeutung es für den Philosophieunterricht hat. Im Anschluss werden einige Herausforderungen diskutiert, die sich aus den Rahmenbedingungen des Philosophieunterrichts ergeben, und es wird kurz dargelegt, warum sich diese Herausforderungen im Kontext des Philosophierens mit Kindern und Jugendlichen mit besonderer Dringlichkeit stellen. Der abschließende dritte Teil wendet sich noch stärker der Praxis zu und stellt praktische (empirische) Projekte und Überlegungen zu Positionalitätsphänomenen im konkreten Religionsunterricht bzw. Konfirmandenunterricht bzw. in ihm verwendeten Medien (Schulbuch) vor: Eva Wenig und Şenol Yağdı geben so empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern im christlich-islamischen Religionsunterricht. Ihr Beitrag widmet sich der Positionalitätsbildung von Kindern und Jugendlichen im konfessionsübergreifenden christlich-islamischen Religionsunterricht. Dabei beleuchten sie

Zimmermann Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie

anhand der realen Unterrichtspraxis im Teamteaching – festgehalten durch Videografie und ausgewertet im Sinne der rekonstruktiven Sozialforschung nach Ralf Bohnsack –, wie Religionslehrkräfte im Unterricht religiöse Differenz verhandeln und welchen Einfluss die Einstellungen der Lehrpersonen auf die Standortbestimmung der Schülerinnen und Schüler nehmen. Auch die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Schülerinnen und Schüler selbst, die am interreligiösen Religionsunterricht teilgenommen haben, werden berücksichtigt und die zentralen Argumente, die in Gruppendiskussionen vorgebracht werden, mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp A.E. Mayring in Kategorien verdichtet und durch Zitate illustriert. Gezeigt wird, dass Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler durch die Vermittlung von Fachwissen, aber auch durch ihre Vorbildwirkung darin unterstützen können, eine eigene, kritische und reflektierte Positionalität zu entwickeln. Die Kinder und Jugendlichen ihrerseits legen ein starkes Bewusstsein für die verschiedenen Chancen und Herausforderungen des interreligiösen Dialogs an den Tag. Auch Anika Looses Blick ist auf konkreten Religionsunterricht gerichtet, wenn sie in ihrem Beitrag fragt: Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch? Dem Beitrag liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich Kinder in Gesprächen inhaltlich häufig nicht eindeutig festlegen. Sie mutmaßen, wägen ab oder verwerfen eine bereits gefundene Position wieder u.Ä. Der Beitrag eröffnet auf der Grundlage einer Interviewstudie zu Mk 4,30–32 par. einen Einblick in das Spektrum kindlicher Positionierungen und

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stellt diese systematisierend dar. Auf dieser Grundlage werden konkrete Vorschläge zur Förderung von Positionalität gemacht, die über bisherige Gesprächstechniken für das theologische Gespräch hinausweisen. Mit Nadja Boecks Beitrag »Die Suche nach Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmandinnen und Konfirmanden« wird der Lernort Religionsunterricht verlassen und der gemeindliche Kontext mit dem Konfirmandenunterricht und dortigen Positionalisierungsprozessen betreten. In ihrem Artikel analysiert sie empirisches Material aus ihrem Habilitationsprojekt auf die Frage nach der Positionierung von Jugendlichen zum Thema Auferstehung. Dabei steht im Fokus, wie die Jugendlichen zu Positionen finden, wodurch die Positionierung aber auch erschwert oder ganz verhindert wird. Boeck argumentiert, dass Jugendliche Positionierungen einüben müssen, weil sie unsicher sind, ob es Vorerwartungen an Positionierungen innerhalb der Gruppe oder auch von Lehrpersonen gibt. Dafür müssen geschützte Räume geschaffen werden, da die Fähigkeit zur Positionierung nicht nur von der religiösen Sprachfähigkeit abhänge, sondern zusätzlich auch stark von den Rahmenbedingungen des Theologisierens. Ausschnitte und Analysen von Gruppendiskussionen verdeutlichen diese These, zeigen aber auch die Fähigkeit der Jugendlichen, Positionen zu beziehen und in Ko-Konstruktionen Texte zu deuten. Susanne Schroeder vertieft die Frage nach Positionalität abschließend durch eine Analyse des zentralen Mediums von Re-

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

ligionsunterricht, indem sie der Frage nach Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen 1–3« nachgeht. Der Beitrag stellt dafür das innovative, der Kindertheologie verbundene didaktische Konzept des evangelischen Religionsbuchs vor, welches auf dialogisches Lernen fokussiert ist und besondere Akzente in Hinblick auf die interreligiöse Begegnung der

monotheistischen Religionen setzt. Positionierung wird hier – der Altersstufe entsprechend – in einem schwachen Sinn verstanden: Vorrangig geht es nicht darum, Standpunktfähigkeit zu beweisen, sondern im Gespräch über unterschiedliche religiöse Phänomene eigene Haltungen zu entdecken. Dies wird in diesem Schlussbeitrag analysiert und durch Beispiele veranschaulicht.

Stein / Zimmer Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive

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Margit Stein / Veronika Zimmer Bildungsziel »Standpunktfähigkeit« bzw. »Positionalität«? – Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive 1. Bildungsziel Standpunktfähigkeit als Kernziel der Erziehung Inwiefern ist die Standpunktfähigkeit ein Ziel der Erziehung?

Aufgabe der Erziehung ist es, Heranwachsende bei der Herausbildung ihrer eigenen wertegestützten Position zu begleiten. Diese Aufgabe stellt sich nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule, die etwa laut der Bayerischen Verfassung (Art. 131, Abs. 1) »nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter« bilden soll. Die Aufgabe der Erziehenden ist es dabei, sich selbst in dem Maße überflüssig zu machen, in dem die Heranwachsenden in Verantwortung für sich, die unmittelbare soziale Gruppe und die Gesellschaft ihre eigenen Werte, Einstellungen und Überzeugungen in Auseinandersetzung mit der materialen und sozialen Welt entwickelt und internalisiert gefestigt haben. Diese Erziehung hin zu einem eigenen Standpunkt bewegt sich dabei ideologisch zwischen den beiden Polen der autoritären Erziehung mit starren Erziehungszielen und der laissez faire Erziehung, die sich gerade durch die völlige Abwesenheit jeglichen Erziehungsziels auszeichnet. Die erstere Erziehungsphilosophie (autoritäre Erziehung) verfügt über ein nicht veränderbares oder verhandelbares Set an Erzie-

hungszielen und zu vermittelnden Werten und strebt danach, diese in der nachwachsenden Generation zu reproduzieren. Ziel ist dabei, die Werte der Elterngeneration in Familie, Schule und Gesellschaft, welche von der Kirche strukturiert wurden, möglichst deckungsgleich weiterzugeben. Die Entwicklung und Herausbildung eines eigenständigen Standpunkts wird dabei nicht unterstützt, sondern gefürchtet, so dass jegliches kindliche Abweichen von den Erziehungsvorstellungen rigoros auch unter Zuhilfenahme autoritärer Erziehungsmittel des Zwangs, aber auch der Belohnung bei Konformität sanktioniert wurde.1 Diese Erziehungsmaxime dominierte über Jahrhunderte hinweg – von wenigen reformpädagogischen Bemühungen im Sinne von Gegenströmungen abgesehen. Hierzu gehörte etwa die sogenannte natürliche Erziehung Rousseaus (18. Jhd.), bei welcher das Kind zunächst losgelöst von den Ansprüchen der Gesellschaft in der Natur ohne Sanktionen durch Konsequenzlernen erzogen wird, die holistische Erziehung Pestalozzis (19. Jhd.), die eine reine Wissensvermittlung zugunsten von charakterlicher und handwerklicher Erziehung aufbricht (Kopf, Herz und Hand) oder die Bemühungen von Montessori oder Korczak (20. Jhd.) 1 Vgl. Katharina Rutschky (Hg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1977.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

im Sinne einer Pädagogik vom Kinde aus ohne sinnentleerte erzieherische Zwänge.2 Trotz der Bemühungen der autoritären bürgerlichen Erziehung, den Ausgang der Erziehung im Sinne zu vermittelnder Werte und Positionen planbar zu machen, war Erziehung jedoch schon immer ein ergebnisoffener Prozess und der Ausgang der Erziehungsbemühungen stets unwägbar. Die zweite Erziehungsphilosophie (laissez faire) am anderen Ende des Kontinuums benennt bewusst keine zu vermittelnden Erziehungsziele und bezweifelt, ob es angesichts des Verlusts verbindlicher Werte überhaupt eine (wertegestützte) Erziehung geben könne. Die Post-Postmoderne sei eine Zeit, wo selbstverständliche Werte wegbrechen und es keine verbindenden Institutionen wie die Kirche oder (vermeintlich) einheitliche kulturelle Traditionen der moralischen und sinnstiftenden Lebensgestaltung mehr gäbe. Mit dem Wegbrechen eines verbindlichen gesellschaftlichen Wertekonsens wurde auch – teilweise geschürt etwa durch die antiautoritären Erziehungsansätze der 1960er und 1970er Jahre oder auch durch aktuelle Ansätze wie der Strömung »Unerzogen« – davon ausgegangen, dass Erziehung nicht mehr umsetzbar sei. Diese Strömungen waren Gegenentwicklungen angesichts der eben skizzierten Schwarzen Pädagogik, welche Sekundärtugenden wie Fleiß, Sauberkeit, Ordnung und Gehorsam als primär bedeutsame Erziehungsziele benannte. Mit dem Wegbrechen von allgemein verbindlichen Werten und Überzeugungen könne es auch keine verbindenden Erziehungsziele mehr geben. Ohne ein Ziel der Erziehung, könne, so die Annahmen, auch

der Weg dahin durch Erziehung nicht mehr beschritten werden. Als einzig verbindender Wert der postmodernen Gesellschaft könne angesichts der Mannigfaltigkeit der vielfältigen Standpunkte, Werte und Einstellungen die Toleranz ausgemacht werden.3 Beide Positionen stellen Extremhaltungen dar. Diese genannten Extrempole gesellschaftlicher Erziehungsbemühungen stehen mit eher negativen Entwicklungen in Bezug auf die soziale Entwicklung des Kindes in Zusammenhang, da es nicht gelingt, die Kinder zu souveränen Persönlichkeiten mit einer eigenständigen, begründbaren, intrinsisch gefestigten Werteüberzeugung heranzubilden4. In der heterogener werdenden Gesellschaft wird es jedoch stets wichtiger, angesichts der Fülle an unterschiedlichen, auch miteinander in Konflikt stehenden Werteüberzeugungen und Einstellungen, Kinder und Jugendliche darin zu unterstützen, eine eigene wertegestützte Position in der Welt finden und diese in Verantwortung für sich und die Mitwelt in Freiheit und Souveränität auszufüllen. Hierbei bestehen vielfältige neue Herausforderungen in einer zunehmend dynamisierten, interdependenten und risikobehafteten Welt.5 Ein Rückzug in einen vertrauten, weitgehend statischen Mikrokosmos, der etwa wie in früheren 2 Vgl. Margit Stein, Allgemeine Pädagogik, München 32017. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Margit Stein, Wie können wir Kindern Werte vermitteln? Werteerziehung in Familie und Schule, München 2008. 5 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin 191986. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Berlin 6 2008.

Stein / Zimmer Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive

Jahrhunderten und Jahrzehnten vorzeichnete, welchen beruflichen und privaten Lebensweg der einzelne einschlägt, ist nicht mehr möglich. Theoretisch sind diese Vorzeichnungen heute nicht mehr existent und dem einzelnen steht es frei, sich selbst in sozialer, lebensanschaulicher, ja sogar in geschlechtlicher Selbstkonstruktion neu zu denken, auch wenn häufig oftmals unsichtbare, als gläsern bezeichnete sozioökonomische und soziokulturelle Schranken Grenzen für den einzelnen markieren und berufliche und private Entwicklungen behindern. Zur Herausforderung, die in der Mannigfaltigkeit möglicher individueller Lebensentwürfe besteht, treten Herausforderungen der Gesellschaft hinzu, welche Klafki unter dem Begriff der Schlüsselprobleme der Menschheit6 subsummierte, welche die heranwachsende Generation zu lösen hat. Ziel der Erziehung ist eine Befähigung zum lösungsorientierten und zukunftszugewandten Umgang mit der Um- und Mitwelt im weitesten Sinne hinsichtlich der Frage, wie wir in weltweiter Verantwortung auch gegenüber zukünftigen Generationen unser Leben und die Weltgesellschaft gestalten sollten. Diese Schlüsselprobleme werden etwa durch die Nachhaltigkeitsdebatte, die Interkulturelle Pädagogik oder die Demokratie- und Friedenserziehung sowie die Menschen- und Kinderrechtsbewegung aufgegriffen, welche alle einer nachwachsenden Generation bedürfen, welche sich ihrer Werteüberzeugungen bewusst ist. Heranwachsende müssen hierbei von den Eltern, aber auch Lehrkräften, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen sowie Erzieherinnen und Erziehern wertschätzend begleitet werden. Die Werte, Einstellungen, Haltungen und Fähigkeiten

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sollen nicht nur durch Einübung blind übernommen werden, sondern in einer Reflexion, in Abwägung verschiedener Lebensstile und -ziele bewusst für sich selbst als sinnvoll erkannt werden.7 Um dies zu erreichen, sind »konjunktive Erfahrungsräume des Aufwachsens zu schaffen und Erziehung so zu gestalten, dass sich Kinder und Jugendliche mit kulturellen Normen auseinandersetzen und sich gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen bewähren können«, wie es Prof. Dr. Anja Schierbaum in ihrem Geleitwort zu einer Tagung an der Universität Köln 2021 mit dem Titel »Erziehung – quo vadis?« formulierte. Hierbei sollen Kinder und Jugendliche durch direkte Erziehungsbemühungen, aber auch durch die indirekte Schaffung eines Settings bzw. Erfahrungsräume, die die eigenständige Entfaltung unterstützen, begleitet werden.8 Hinzu kommt die Reflexion der eigenen Erziehung, die Eltern, Lehrkräfte, Pädagoginnen und Pädagogen im Elternhaus erlebt haben, um darauf basierend zu erfassen, wie wir selbst erziehen möchten, um nicht die selbst erlebte Erziehung einfach zu wiederholen. Erziehung ist ein ganzheitlicher Prozess, der den Menschen in seinem Wesen, seinen Zielen und seinen Werten holistisch berührt. Erziehung ist dabei ein ergebnisoffener Prozess. Bei Erziehung muss auch immer eine Metakomponente mit bedacht werden im Sinne eines Nachdenkens und Reflektierens über Erziehung selbst, ihre Ziele, Mittel, Möglichkeiten und Gren6 Vgl. Wolfgang Klafki, Schlüsselprobleme im Unterricht, Weinheim 1995. 7 Vgl. Margit Stein (wie Anm. 4). 8 Vgl. Margit Stein (wie Anm. 4).

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

zen und darüber, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wollen wir eine freie Gesellschaft, in welcher der einzelne in seiner Würde und Individualität ernst genommen wird in Verantwortung für die Gesellschaft insgesamt oder eine Gesellschaft, in welcher wir den einzelnen als Teil des Ganzen sehen und auch er in seinem sozialen Agieren nur als Rädchen im System als Humanressource betrachtet wird? Ein Beispiel hierzu wäre etwa die sogenannte Sozial- oder Werteerziehung, wie sie in China umgesetzt wird im Sinne eines Sozialpunktesystems. Gibt es eine konsensuale gemeinsame Wertebasis als Grundlage der Erziehung?

Als große Aufgabe stellt sich die Herausbildung einer gemeinsamen elementaren Wertebasis der Gesellschaft vor dem Hintergrund einer gegenwärtig immer heterogener werdenden Gesellschaft in sozialer, ethnischer und weltanschaulichreligiöser Hinsicht. Hier versucht die Werteforschung auf wissenschaftlichem Wege nicht nur frühere und gegenwärtige Wertevorstellungen aufzudecken, sondern auch die Diskussion über ein zukünftiges Wertesystem anzuregen. Diese Aufgabe hat sich insbesondere die sogenannte »Positive Psychologie« zur Aufgabe gemacht.9 Während die Theologie Jahrhunderte lang das Monopol auf die Festschreibung und Erfassung von Werten und Normen erhob, ist die heutige Werteforschung sozialwissenschaftlich ausgerichtet und speist sich aus Strömungen der Psychologie, Pädagogik, Soziologie, Politologie, Theologie und Philosophie. Um geteilte, überindividuell und auch übergesellschaftlich und über-

zeitlich konsensuale Überzeugungen in der Gesellschaft und der Erziehung wissenschaftlich herauszuarbeiten, wurden etwa Dokumentenanalysen von religiösen und weltanschaulichen Schriften durchgeführt; zudem befassen sich sozialwissenschaftliche Umfragen empirisch mit geteilten Überzeugungen. Auf theoretischer Basis erarbeiteten Dahlsgaard, Peterson und Seligman (2005) anhand eines Vergleichs grundlegender Wertekonvergenzen die Grundtugenden der größten Religionen und Glaubensrichtungen (Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus, Hinduismus, Judentum, Christentum, Islam) und wichtiger philosophischer Strömungen (athenische Lehren) sowie moderner Konzepte von psychologischem Wohlbefinden und Reife. Dabei wurde ein geteilter Wertekanon mit insgesamt sechs Grundtugenden mit 24 Untertugenden herauskristallisiert, der in allen Weltreligionen und wichtigen philosophischen Hauptströmungen als verbindlich gilt und auf folgenden Werten basiert10: 1. Weisheit und Wissen: Kreativität, Neugier, geistige Offenheit, Wissbegierigkeit, Perspektivenübernahme 2. Mut: Tapferkeit, Ausdauer, Integrität, Vitalität 9 Vgl. Nansook Park / Christopher Peterson / Martin E.P. Seligman, Strengths of Character and Wellbeing, in: Journal of Social and Clinical Psychology 23/5 2004, 603–619. Christopher Peterson / Martin E.P. Seligman, Character Strengths and Virtues. A Handbook and Classification, Oxford 2004. 10 Vgl. Christopher Peterson / Martin E. P. Seligman (wie Anm. 9), ix–xi; Übersetzung Margit Stein. Katherine K. Dahlsgaard / Christopher Peterson / Martin E.P. Seligman, Shared Virtue: The Convergence of Valued Human Strengths Across Culture and History, in: Review of General Psychology 9/3 2005, 203–213.

Stein / Zimmer Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive

3. Menschlichkeit: Nächstenliebe, Freundlichkeit, Soziale Intelligenz 4. Gerechtigkeit: Gemeinschaftssinn, Fairness, Führungsqualitäten 5. Mäßigung: Bereitschaft zu vergeben, Bescheidenheit, Anstand, Selbstkontrolle 6. Transzendenz: Wertschätzung des Schönen und Wahren, Dankbarkeit, Hoffnung, Humor, Spiritualität In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Küng im Rahmen des »Projekt Weltethos«, der als »Maximen elementarer Menschlichkeit« in allen Religionen die fünf großen Gebote herausstellt: »(1) nicht töten; (2) nicht lügen; (3) nicht stehlen; (4) nicht Unzucht treiben; (5) die Eltern achten und die Kinder lieben«11. Küng diskutiert hierbei das Dilemma, dass der demokratische Staat »im Gegensatz zum mittelalterlich-klerikalen (›schwarzen‹) oder zum modern-totalitären (›braunen‹ oder ›roten‹) [diktatorischem Regime …] von seinem Selbstverständnis her nun einmal weltanschaulich neutral sein muss«12. Gleichzeitig steht er hierbei vor dem Dilemma, dass die Gesetze allein nicht ausreichen, um eine kohäsive, verantwortliche und lebenswerte Gesellschaft zu formieren und insbesondere heterogene Gesellschaften auf einen Grundkonsens an Werten angewiesen sind. Als zukunftsträchtig arbeitet Küng im »Projekt Weltethos« eine sogenannte »Ethik der Verantwortung« heraus13, die für die Umwelt, die Mitwelt sowie die Nachwelt Verantwortung übernimmt. Diese »Ethik der Verantwortung« grenzt sich von einer bloßen Erfolgsethik ab, bei der das Ziel die Mittel heiligt (wie etwa im Sozialpunktesystem Chinas) oder einer bloßen Gesinnungsethik, die für sich isolierte abstrakte Werteideen wie Gerechtigkeit oder Nächstenliebe postuliert. An-

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ders als diese Gesinnungsethik würde die »Ethik der Verantwortung« dezidiert mit Kindern in der Familie oder Jugendlichen im schulischen und außerschulischen Bereich in die Diskussion gehen, was Werte wie Gerechtigkeit und Nächstenliebe konkret an Handlungen für unsere Gesellschaft bedingen müssten, um diesen Zielen Rechnung zu tragen. Auf der »Weltkonferenz der Religionen für den Frieden« wurde folgender wertebasierter Text konsensual im Sinne geteilter Erziehungsziele erarbeitet:  »eine Überzeugung von der fundamentalen Einheit der menschlichen Familie, von der Gleichheit und Würde aller Menschen;  ein Gefühl für die Unantastbarkeit des Einzelnen und seines Gewissens;  ein Gefühl für den Wert der menschlichen Gemeinschaft;  eine Erkenntnis, dass Macht nicht sich selbst genügen kann und nicht absolut ist;  der Glaube, dass Liebe, Mitleid, Selbstlosigkeit und die Kraft des Geistes und der inneren Wahrhaftigkeit letztlich größere Macht haben als Hass, Feindschaft und Eigeninteressen;  ein Gefühl der Verpflichtung, an der Seite der Armen und Bedrückten zu stehen gegen die Reichen und die Bedrücker;  tiefe Hoffnung, dass letztlich der gute Wille siegen wird.«14 11 Hans Küng, Projekt Weltethos, München 4 1999, 82. 12 Ebd., 48. 13 Vgl. ebd., 52. 14 Maria Alberta Lücker (Hg.), Religionen, Friede, Menschenrechte. Dokumentation der ersten »Weltkonferenz der Religionen für den Frieden«, Kyoto 1970, 110.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

In empirischer Hinsicht stellt Schwartz fußend auf repräsentative Befragungen ein Wertekonzept vor, das weltweite Gültigkeit hat und die drei Wertegruppen Universalismus, Altruismus/Mildtätigkeit und das Streben nach Sicherheit als die drei wesentlichen Determinanten mensch­ licher Werteüberzeugungen herausstellt. Schwartz und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter belegen anhand weltweiter Studien die Gültigkeit dieser allgemein verbindenden Werte.15 Insgesamt postulieren die Autorinnen und Autoren zehn Werte, die jeweils durch Unterwerte

definiert werden und sich in einem Kreismodell in ihren Zusammenhängen abbilden lassen. Schwartz führt aus, dass neben den zehn Wertetypen noch ein elfter Wert besteht, der sich auf die Wichtigkeit bezieht, seinem Leben Sinn und Bedeutung über das unmittelbar Sichtbare hinaus zu geben (»spirituelles Leben in innerer Harmonie«)16. Die spirituellen Werte bleiben jedoch in seinem Circumplexmodell unberücksichtigt, da Schwartz explizit ein überreligiöses und überkulturelles Theoriegebäude sowie entsprechend zugeordnete Fragebögen entwirft.

Hauptwerte

Unterwerte

Macht:

Sozialer Status und Prestige, Kontrolle von oder Dominanz gegenüber anderen Menschen und Ressourcen (Sozialer Einfluss, Autorität, Wohlstand, Wahrung des eigenen Images in der Öffentlichkeit, soziale Anerkennung)

Leistung:

Persönlicher Erfolg durch Kompetenz gemäß der sozialen Standards (erfolgreich, fähig, ehrgeizig, einflussreich; intelligent, selbstbewusst)

Hedonismus:

Vergnügen und Belohnungen für das Selbst (Vergnügen, Lebensgenuss)

Stimulation:

Aufregung, Neuheit und Herausforderungen im Leben (Wagemut, ein abwechslungsreiches Leben, ein aufregendes Leben)

Selbstbestimmung:

Unabhängiges Denken und Handlungsauswahl, Kreativität, Investigation (Kreativität, Neugierde, Freiheit, eigene Zielsetzung, Unabhängigkeit)

Universalismus:

Verständnis, Wertschätzung, Toleranz und die Sorge für das Wohlergehen aller Menschen und für die Natur (Umweltschutz, eine Welt der Schönheit, Einheit mit der Natur, Generalismus, soziale Gerechtigkeit, Weisheit, Gleichheit, eine Welt in Frieden, innere Harmonie)

Mildtätigkeit:

Bewahrung und Verbesserung des Lebens der Menschen mit denen man in überdauerndem persönlichem Kontakt steht (Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Vergebung, Loyalität, Verantwortungsübernahme; wirkliche Freundschaft, spirituelles Leben, reife Liebe, Lebenssinn)

Tradition:

Respekt und Akzeptanz der Konventionen und Ideen, die die traditionelle Kultur und die Religion anbietet (Selbstzurücknahme, Akzeptanz der eigenen Situation, Demut, Maßhalten, Respekt für Traditionales, Bescheidenheit)

15 Shalom H. Schwartz, Are there Universal Aspects in the Structure and Contents of Human Values?, in: Journal of Social Issues 50 1994, 19–45. 16 Vgl. ebd., 23; Übersetzung Margit Stein.

Stein / Zimmer Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive

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Konformität:

Beschränkung von Aktionen und Impulsen, die andere stören oder verletzen könnten oder soziale Erwartungen und Normen antasten (Höflichkeit, Respekt gegenüber Eltern und Älteren, Gehorsam, Selbstdisziplin)

Sicherheit:

Harmonie und Stabilität von Gesellschaft, Beziehung und der eigenen Person (Sauberkeit, nationale Sicherheit, soziale Ordnung, Familienstabilität, Gegenseitigkeit, Gesundheit, Gefühl, Zugehörigkeit)

Tab. 1: Die zehn Wertetypen nach Schwartz und zugeordnete 56 Unterwerte (Unterziele werden jeweils in der Reihenfolge der Stärke des Zusammenhanges mit dem Wertetyp genannt)17

2. Die Input-Perspektive oder erziehungswissenschaftliche Perspektive in Bezug auf das Erziehungsziel »Standpunktfähigkeit« Welche Erziehung ist am meisten geeignet, Heranwachsende zu einem eigenen Standpunkt hinzuführen?

In den Erziehungswissenschaften wird bei der Betrachtung der Erziehung und ihrer Auswirkungen die Input- von der Outputorientierung unterschieden. Die Inputorientierung befasst sich speziell bezogen auf das hier im Mittelpunkt stehende Thema der Positionalität mit der Frage, welche Erziehungsstile, -mittel und -methoden im Sinne eines Inputs genutzt werden (sollten), um Kinder und Jugendliche in ihrer Standpunktfähigkeit zu stärken. Der Blick ist hierbei in erster Linie auf die Erziehenden, etwa die Eltern oder Lehrkräfte, gerichtet. Davon zu unterscheiden ist die Outputorientierung, welche sich mit den Entwicklungen – hier eines eigenen Standpunktes bzw. einer eigenständigen Werteorientierung – befasst. Der Blick ist hierbei in erster Linie auf die zu Erziehenden, also die Kinder und Jugendlichen, gerichtet. Gegenwärtig findet in der Erziehungswissenschaft ein Para-

digmenwechsel statt von der Input- zur Outputorientierung. Im Rahmen des Abschnitts 2 wird nun betrachtet, welche Erziehungsstile, -ziele und -mittel in den Familien und Schulen in Bezug auf das Erziehungsziel Standpunktfähigkeit bzw. das Fördern des Einnehmens einer eigenständigen Position als besonders wirksam zu betrachten sind. Historisch grundlegend sind bezüglich der Forschung zu relevanten Erziehungsstilen, die jeweils durch bestimmte Erziehungsziele und -methoden charakterisiert sind, die Arbeiten der US-Psychologin Baumrind.18 Diese definierte zunächst die nachfolgend dargelegten drei Erziehungsstile, die etwa durch Martin und Maccoby erweitert wurden19.

17 Vgl. ebd., 33; Übersetzung Margit Stein. 18 Diane Baumrind, Effects of Authoritative Parental Control on Child Behavior, in: Child Development, 37/4 1966, 887–907. – Diane Baumrind, Some Thoughts about Childrearing, in: Urie Bronfenbrenner / Maureen A. Mahoney (Hg.), Influences on Human Development, Hinsdale IL 1975, 270–282. 19 Eleanor E. Maccoby / John A. Martin, Socialization in the Context of the Family: ParentChild Interaction, in: Paul H. Mussen (Hg.), Handbook of Child Psychology, New York 4 1983, 1–70.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

 Autorität: Charakteristisch sind ein festes, starres, nicht näher begründetes Set an Erziehungszielen und Werten, die mit Hilfe disziplinatorischer Maßnahmen rigoros durchgesetzt und in den Heranwachsenden reproduziert werden sollen. Die Herausbildung eines eigenständigen Standpunktes auf kindlicher Seite steht nicht im Mittelpunkt und wird eher gefürchtet als gefördert.  Permissive-laissez faire: Bei diesem Erziehungsstil legen die Erziehenden, um Beeinflussungen zu vermeiden, ihre Werte und Ziele nicht offen. Alle Standpunkte und Positionen des Heranwachsenden werden begrüßt und nicht sanktioniert oder gesteuert.  Autoritativ-demokratisch: Bei diesem Erziehungsstil besteht ein warmherziges, freundschaftliches und positives Verhältnis zwischen Eltern und Kind. Die Werteorientierungen und abgeleiteten Erziehungsziele werden offen gelegt; die Erziehenden thematisieren aber auch, dass sie über diese Werte mit dem Kind ins Gespräch kommen möchten und dieses in seinem eigenen Standpunkt fördern und akzeptieren werden, auch wenn dieser ihren Überzeugungen zumindest teilweise zuwider laufen sollte. Die beiden ersteren Erziehungsstile erweisen sich in Bezug auf die moralische, kognitive und soziale Entwicklung von Heranwachsenden als wenig hilfreich. Die eigenständigste Werteentwicklung erfolgte beim autoritativ-demokratischen Erziehungsstil. Solchermaßen erzogene Heranwachsende hatten zudem mehr Selbstvertrauen und waren in der Interaktion mit Gleichaltrigen und Erwachsenen sozial kompetenter und verant-

wortungsbewusster. Beim permissiven Erziehungsstil gelang es Heranwachsenden am schlechtesten, einen eigenständigen Standpunkt einzunehmen, während autoritär Erzogene ein schwaches Selbstwertgefühl entwickelten und nur extrinsisch motiviert ohne hohes Reflexionsniveau Werte der Autorität übernahmen.20 Die genauen Mechanismen der Erziehung hin zu einer eigenständigen Position vollziehen sich gemäß der LifEStudie (»Lebensverläufe von der späten Kindheit ins frühe Erwachsenenalter«)21 über folgende zwei Mechanismen22:  »kommunikative und argumentative Prozesse«: Eltern sowie schulische und außerschulische Erziehende müssen sich dem Kind als Modell eines eigenständigen Standpunkts präsentieren. Diese von den Erziehenden selbst als wichtig erachteten Werte müssten in einem ersten Schritt mit Hilfe der sogenannten kommunikativen und argumentativen Prozesse dem Kind kommuniziert werden, so dass sie erkennbar sind. Die Kommunikation ist altersadäquat so zu gestalten, dass die Werte präsent werden und vom Kind eventuell in die eigene Wertestruktur aufgenommen werden im Sinne einer eigenen intrinsischen kognitiven 20 Vgl. Diane Baumrind (wie Anm. 18) und Eleanor E. Maccoby / John A. Martin (wie Anm. 19). 21 Vgl. Helmut Fend, Was die Eltern ihren Kindern mitgeben – Generationen aus Sicht der Erziehungswissenschaft, in: Harald Künemund / Marc Szydlik (Hg.), Generationen. Multidisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2009, 8–104. Helmut Fend / Fred Berger / Urs Grob (Hg.), Lebensverläufe, Lebensbewältigung, Lebensglück. Ergebnisse der LifE-Studie, Wiesbaden 2009. 22 Vgl. ebd., 94.

Stein / Zimmer Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive

internen Repräsentation. Dies wird dann umso eher umgesetzt, je mehr das Kind sich mit den Eltern, Lehrkräften, Erzieherinnen und Erziehern affektiv identifiziert.  »affektive Loyalitäten«: Um die Werte selbst auch als handlungsleitend zu akzeptieren ist die affektive Loyalität zu den Autoritäten bedeutsam, die durch einen freundschaftlichen, warmen Kontakt bzw. eine solche Bindung und eine starke Identifikation mit den Eltern bzw. Lehrkräften gekennzeichnet ist. Interessanterweise waren die affektiven Loyalitäten und die Art der Werte voneinander relativ unabhängig, d.h. unabhängig von den Werten der Eltern und Lehrkräfte übernahmen die Kinder und Jugendlichen diese umso mehr, je stärker man sich freundschaftlich identifizierte. Egal also, ob die Eltern rechts- oder linksextreme Einstellungen aufweisen, stark religiöse oder atheistische Überzeugungen, übernehmen die Kinder die Werte umso eher, je besser das Verhältnis zu den Eltern ist. Anhand der beiden thematisierten Prozesse wird deutlich, warum sich der autoritativ-demokratische Erziehungsstil als der richtungsweisendste in Bezug auf die Herausbildung eines eigenständigen Standpunkts erweist: Die Erziehungsberechtigten thematisieren hier klar ihre Ziele und Vorstellungen, dem Kind wird aber auch Raum für eigenständige Entwicklungen und Interpretationen gegeben. Zudem ist das Verhältnis durch Freundschaft und Wärme geprägt, so dass die kindliche intrinsische Motivation steigt, sich mit den angebotenen Werten zu befassen. Der autoritäre Stil vermittelt zwar ebenfalls klar

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im Sinne der argumentativen Prozesse den gewünschten Standpunkt, eigenständige Interpretationen werden aber abgelehnt und das Verhältnis ist kühl und distanziert, was die Bereitschaft zur Werteübernahme sinken lässt. Beim permissiv-laissez faire Stil werden keine Werteerwartungen an das Kind herangetragen, so dass hier keine Orientierung erfolgen kann, auch wenn das Verhältnis freundschaftlich wäre und hiermit gute Voraussetzungen bestehen würden, Werte zu übernehmen. Die LifE-Studie erfasst hinsichtlich der Inhalte, die betrachtet werden, was auch für die Leserinnen und Leser des Jahrbuchs für Kinder- und Jugendtheologie besonders interessant sein könnte, wie sich das Inanspruchnahmeverhalten von Gottesdiensten bei der Kindergeneration entwickelt. In Abhängigkeit der entsprechenden Verhaltensweisen der Eltern, deren Erklärungen hierfür und in Abhängigkeit des Verhältnisses ElternKind, zeigte sich hier ebenfalls, dass diejenigen Personen der Kindergeneration dann eher den Gottesdienst besuchen, wenn dies bei den Eltern beobachtet wird, wenn diese dem Kind plausibel erklären, warum ihnen der Besuch wichtig ist und das Verhältnis zwischen Eltern und Kind positiv ist.23 Ähnliche Zusammenhänge manifestieren sich in der Herausbildung eines eigenständigen Standpunkts in Abhängigkeit der erlebten Erziehung und Bildung in der Schule. Auch hier ist es am positivsten für die Entwicklung eines eigenen Standpunkts, wenn die Lehrkräfte die Schülerinnen und Schüler demokratisch23 Vgl. Helmut Fend (wie Anm. 21) und Helmut Fend / Fred Berger / Urs Grob (wie Anm. 21).

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

autoritativ einbeziehen. Hierbei ist die indirekte Werteerziehung im Sinne einer Gestaltung von Settings wirkmächtiger als die direkte Werteerziehung, etwa im Sinne von Projektarbeiten.24 3. Die Output-Perspektive oder entwicklungspsychologische Perspektive in Bezug auf das Erziehungsziel »Standpunktfähigkeit« Wie stellt sich ein eigener Standpunkt auf Seite des Heranwachsenden dar?

Die Outputorientierung fokussiert das angestrebte Erziehungsziel des eigenen Standpunktes bzw. der eigenständigen Werteorientierung auf Seiten der Heranwachsenden als Teil einer eigenständigen, selbsterarbeiteten Identität. Gemäß der klassischen Identitätstheorie nach Erikson25 verläuft die Identitätsentwicklung in acht Phasen, welche jeweils durch bestimmte Entwicklungsaufgaben charakterisiert sind. Als Ergebnis gehen aus jedem Stadium Stärken bzw. grundlegende Tugenden hervor. Die Phasen sind durch folgende Konflikte gekennzeichnet:  erste Phase: Vertrauen versus Misstrauen; entwickelte Stärke: Hoffnung,  zweite Phase: Autonomie versus Scham und Zweifel; entwickelte Stärke: Willen,  dritte Phase: Entschlusskraft versus Schuldgefühl; entwickelte Stärke: Entschlusskraft,  vierte Phase: Überlegenheit versus Unterlegenheit; entwickelte Stärke: Kompetenz,  fünfte Phase: Identität versus Verwirrung; entwickelte Stärke: Treue,  sechste Phase: Vertrautheit versus Isolation; entwickelte Stärke: Liebe,

 siebte Phase: Generativität versus Stagnation; entwickelte Stärke: Fürsorge,  achte Phase: Integrität versus Verzweiflung; entwickelte Stärke: Weisheit. Laut Erikson erfolgt die Entwicklung des Ichs parallel zu den Phasen der psychosozialen Entwicklung, wobei die Aufgabe im Jugendalter in der Autonomie von den Eltern bzw. der Entwicklung eines eigenen Standpunkts bzw. eigenständigen Wert- und Normsystems besteht und die Identität »sowohl ein dauerndes inneres Sich-Selbst-Gleichsein wie ein dauerndes Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen«26 umfasst. Marcia27 unterschied vier Kategorien bei der Identitätssuche bzw. Identitätskonstruktion, die sich anhand der Dimensionen Krise (Unsicherheit, Beunruhigung und Rebellion), Verpflichtung (Umfang des Engagements / Bindung in Lebensbereichen) und Exploration (Erkundung des Lebensbereichs) beschreiben lassen. Jede dieser Kategorien steht mit unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensmustern in Bezug auf das erlebte Selbstwertgefühl oder die erlebte Selbstwirksamkeit in Zusammenhang sowie mit unterschiedlichen kognitiven Stilen oder Bindungsmustern im Sozialkontext. Die Tabelle 2 stellt diese Zusammenhänge im Überblick dar. 24 Vgl. Margit Stein (wie Anm. 4). 25 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Berlin 281973. 26 Ebd., 124. 27 Vgl. James E. Marcia, The Status of the Statuses: Research Review, in: James. E. Marcia / Alan S. Waterman / David R. Matteson / Sally L. Archer / Jacob L. Orlofsky (Hg.), Ego Identity. A Handbook for Psychosocial Research, New York 1993, 22–41.

Stein / Zimmer Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive

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untersuchtes Merkmal

diffuse Identität

Moratorium

übernommene Identität

erarbeitete Identität

Selbstwertgefühl

niedrig

hoch

niedrig (männl.) hoch (weibl.)

hoch

Autonomie

external

internal

external

internal

Kognitiver Stil

impulsiv, extreme kogn. Komplexität

reflexiv, kognitiv komplex

impulsiv, kognitiv simpel

reflexiv, kognitiv komplex

Intimität

stereotype Bezie- fähig zu tiefen hungen Bindungen

stereotype Bezie- fähig zu tiefen hungen Bindungen

soziale Interaktion

zurückgezogen, Peers und Autoritäten (außer Eltern) sind wichtig

ruhig, wohlerzogen, glücklich

frei, streben intensive Beziehungen an

nicht-defensive Stärke, können sich für andere ohne Eigennutz einsetzen

Tab. 2: Zusammenhänge zwischen dem Identitätsstatus und Persönlichkeitseigenschaften28

Die einzelnen Kategorien der Identität könnten also folgendermaßen genauer beschrieben werden: Diffuse Identität: Es erfolgt keine Festlegung auf bestimmte Werte. Ein eigener Standpunkt wird auch nicht gesucht oder erarbeitet, wodurch das persönliche Verhalten mehr von den Umständen abhängig ist als von der eigenen Überzeugung. Übernommene Identität: Der oder die Heranwachsende legt sich auf die elter­ lichen oder von der Autorität her rührenden Werte fest und müht sich um die Erfüllung der erwarteten Rollen, ohne diese zu hinterfragen oder andere alternative Lebensweisen in Betracht zu ziehen. Moratorium: Hier erfolgt gegenwärtig eine intensive Auseinandersetzung mit Wertefragen. Eine Identität ist noch nicht abschließend erarbeitet, aber das Individuum müht sich aktiv, alternative Lebensweisen zu explorieren und hinterfragt die Vorgaben der Gesellschaft. Erarbeitete Identität: Eine Festlegung auf bestimmte Wertpositionen, die selbst ausgewählt wurden, ist möglich.

Westliche Gesellschaften gewähren meist eine Zeit des Rollen-Experimentierens, ein psychosoziales Moratorium, um dem heranwachsenden Menschen seinen Platz finden zu lassen. Im besten Falle bei progressiven Verläufen erreicht der oder die Heranwachsende über das Moratorium die erarbeitete Identität, während bei stagnierenden Verläufen bei der übernommenen Identität verweilt wird und bei regressiven Verläufen die Identitätssuche bei einer diffusen Identität endet.29 Insgesamt kann man also davon ausgehen, dass kaum ein Aspekt die Fähigkeit des einzelnen, einen eigenständigen Standpunkt einzunehmen, so sehr beeinflusst, wie das erlebte Erziehungsverhalten, insbesondere im Elternhaus.

28 Vgl. Rolf Oerter / Leo Montada, Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, Weinheim 21987, 399. 29 Vgl. James E. Marcia (wie Anm. 27).

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Georg Plasger Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive

»Ist es nicht intolerant, wenn beispielsweise Lehrer und Lehrerinnen im Religionsunterricht Position beziehen?« In dieser Frage ist ein Gegenüber von Toleranz und Positionalität zu vernehmen, wobei der Vorstellung der Toleranz ein positiver und damit zugleich der Positionalität ein tendenziell negativer Akzent anhaftet. Als Beispiel für Toleranz im Verhältnis der Religionen wird auch im Religionsunterricht nicht selten Lessings Drama »Nathan der Weise« behandelt – mit der Ringparabel im Zentrum.1 Ein Vater, dem alle drei Söhne gleich lieb sind, vermag einen »Ring von unschätzbarem Wert« nicht nur einem der Söhne übergeben und fertigt deshalb zwei vom Original nicht unterscheidbare Duplikate an. Nach dem Tode des Vaters kommt es zum Streit zwischen den Brüdern um die rechtmäßige Erbschaft. Weil er den wahren Ring nicht herausfinden kann, urteilt der kluge Richter, der von den Söhnen angerufen wird, dass jeder seinen Ring behalten und ihn für den echten halten möge: »Wohlan! / Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe jeder von euch um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen!«2

Das Zitat am Ende der Ringparabel aber zeigt nicht nur die nicht von außen entscheidbare Wahrheitsfrage auf, sondern

belegt die für Lessing insgesamt kennzeichnende Vernunftreligion, die oberhalb aller positiven Religionen steht. Damit fordert Lessing letztlich von den Religionsvertretern eine »Selbstrelativierung«3 zugunsten einer Vernunftreligion – das bedeutet aber wiederum eine neue Positionierung, ohne sie selber zu benennen. Das zeigt sich auch in der Erziehung der von Nathan angenommenen Recha. Trotz der christlichen Erzieherin Daja wird sie weder in der jüdischen noch in der christlichen Tradition erzogen; vielmehr heißt es in den Worten des Tempelherrn von Nathans Erziehung: »er habe / Das Mädchen nicht sowohl in seinem, als / Vielmehr in keinem Glauben auferzogen, / Und sie von Gott nicht mehr nicht weniger / Gelehrt, als der Vernunft genügt.«4 1 Klaus Zahlmann-Nawitzki hat in seiner Oldenburger Dissertation: Interreligiöses Verstehen und Handeln in der Tradition von Lessings ›Nathan der Weise‹. Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung der Lehrpläne, Richtlinien und Lehrbücher der Länder der Bundesrepublik Deutschland für die Klassen 9 und 10 der weiterführenden Schule, Oldenburg 1996, aufgeführt, wie häufig und wo Lessings Nathan besprochen wird – ihm freilich immer noch zu wenig. 2 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, Stuttgart 1964, 75. 3 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt 2003, 407. 4 Ebd., 94.

Plasger Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive

Während Nathan von sich noch sehr bewusst aussagen kann: »Ich bin ein Jud«5, kann Recha sich weder als Jüdin noch als Christin verstehen. Recha erfährt keine Erziehung in einer bestimmten Religion. Helmut Fuhrmann bringt das Problem auf den Punkt, wenn er sagt: »Nathan (und mit ihm wahrscheinlich Lessing) … kann zwar sich selbst noch zum Judentum (Christentum) bekennen, aber andere nicht mehr zum Judentum (Christentum) erziehen.«6 Aber es ist nötig, genau darauf zu achten, was diese nichtreligiöse Erziehung der Recha für das Verständnis von Toleranz heißt. Der jüdische Autor Gottfried Fittbogen7 hat 1923 wohl erstmals auf das Problem hingewiesen. Während »Nathan selbst sich erst allmählich über seinen alten Glauben hat herausarbeiten müssen, steht Recha von vornherein ›über‹ jeder positiven Religion. Daher bedeutet ihr Dasein bereits einen Schritt über Nathan hinaus. Sie ist die erste Repräsentantin der neuen Menschheit, völlig unbehindert durch die Schranken irgend einer positiven Religion.«8 Fittbogen geht also so weit, dass er in der Nicht-Unterweisung der Recha die bei Lessing intendierte Aufhebung jeglicher positiver Religion schon erkennt; das heißt: Die Toleranz im Sinne Nathans führt letztlich konsequent zur Aufhebung jeglicher positiver Religion und damit zur Aufhebung von Judentum, Islam und Christentum; im Nathan gelangt »die Menschheitsreligion zum Siege«9. Was heißt das für die Fragestellung von Positionalität, nicht zuletzt im Religionsunterricht? Es ist zu simpel, Toleranz und Positionalität als Alternative zu verstehen. Nach Rainer Forst kann es

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nämlich neben einem Zuwenig auch ein Zuviel an »Selbstrelativierung« geben10 – das Zuwenig würde letztlich auf eine Selbstverleugnung hinauslaufen. Toleranz ist als »Fähigkeit zu einem differenzierten Ja und Nein«11 zu verstehen – und damit die Positionalität als Ausdruck von Toleranz. Damit die Toleranz deshalb nicht zur Intoleranz verkommt, werde ich im Folgenden einige theologische Aspekte reflektieren. 1. »Dass ich nicht mir, sondern Jesus Christus gehöre«

Der Heidelberger Katechismus, ein evangelisch-reformierter Schlüsseltext aus dem Jahre 1563, beginnt mit der Umkehrung einer Frage. Die Frage lautet: »Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?«12 Diese Frage ist die nach dem Lebenshalt, nach dem Grund. Es ist eine existentielle Frage, die von der Trostbedürftigkeit ausgeht – und man könn5 Ebd., 69. 6 Helmut Fuhrmann, Lessings Nathan der Weise und das Wahrheitsproblem, in: LessingYearbook 15, 1983, 63–94, hier: 76. (Hervorhebung von Fuhrmann) 7 Gottfried Fittbogen, Die Religion Lessings (= Paelestra. Untersuchungen und Texte aus der deutschen und englischen Philologie 141), Leipzig 1923. Vgl. Ernst Simon, Lessing und die jüdische Geschichte, in: Brücken, GA, HD 1965, 213–219. 8 Ebd., 161. 9 Ebd., 162. 10 Vgl. Rainer Forst (wie Anm. 3), 668. 11 Ebd., 660. 12 Heidelberger Katechismus von 1563, in: Georg Plasger / Matthias Freudenberg (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, 151–186, 154.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

te jetzt darüber nachdenken, was unter »Trost« zu verstehen ist und inwiefern Trost und Vertröstung zu unterscheiden sind und inwieweit nicht das 16. Jahrhundert mit den eigenen Herausforderungen hier hinter dieser Frage steht. Mir liegt jetzt mehr an der Antwort. Sie beginnt: »Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.«13 Die Antwort geht noch weiter – mir liegt jetzt nur an der Umkehrung der Perspektive. Die Antwort zielt nämlich daraufhin, dass das antwortende Subjekt nicht mehr sich selbst im Mittelpunkt sieht, sondern bekennt: »Ich gehöre nicht mir selbst, sondern Jesus Christus.« Es bleibt das Subjekt, das hier bekennt (dazu mehr im nächsten Abschnitt) – aber der Inhalt des Bekenntnisses dieses Subjektes ist nicht: Ich gehöre zu Jesus Christus, sondern ich bin Jesu Christi eigen, so die Formulierung von 1563. Damit vollzieht der Heidelberger Katechismus eine Blickrichtung, die gleichsam einen Subjektwechsel vollzieht, indem sie von Gott als Subjekt redet, wenn denn gilt, – aber davon geht der Heidelberger Katechismus als Bekenntnis der Kirche aus – dass wir von Jesus als »wahrem Menschen und wahren Gott« zu sprechen haben. Diese Grundperspektive prägt nicht nur den Heidelberger Katechismus, sondern faktisch alle Grundtexte des christlichen Glaubens. Und nicht zuletzt die Bibel. Ihre Mitte besteht darin, dass sie Gottes Kommen in Jesus Christus bezeugt. Die Evangelien und die Paulus­briefe und auch alle anderen Texte sind voll davon, dass sie gerade diese Mitte bestaunen: Gott selber war sich nicht zu niedrig, nicht zu gering, um selber Mensch zu werden und als dieser Jesus von Nazareth auf

die Erde zu kommen. Gott war sich selber nicht zu schade, Mensch zu werden, ans Kreuz zu gehen und auferweckt zu werden – dieser Weg in die Niedrigkeit und in die Höhe ist Gottes ureigener Weg. Das ist die Mitte des Neuen Testaments. Und das Neue Testament sagt ebenfalls, dass Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist –, dessen Weg im Neuen Testament bekannt wird, kein anderer ist als Gott, dessen Weg im Alten Testament bezeigt wird, der sein Volk Israel ausgesucht hat und durch die Weltgeschichte an bis heute begleitet, ja, der die Welt geschaffen hat und erhält und der verheißen hat, dass es eine neue Welt geben wird und dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Eine Grundperspektive, die die Eigenart Gottes zusammenfasst, lautet – jetzt in einem Wort aus dem 2. Timotheusbrief: »Sind wir untreu, so ist er doch treu: er kann sich selber nicht verleugnen.«14 Dieser eine Vers fasst das ganze Evangelium zusammen. Gott ist dem Menschen treu, er bleibt dem Menschen, uns, mir zugewandt, auch wenn ich nicht nach dem Willen Gottes lebe. Gott ist der treue Gott. Er ist sich selber treu, seinen Verheißungen und damit auch den Menschen. Und dann heißt es: er kann sich nicht verleugnen. Es geht also nicht um die Zuschreibung irgendwelcher Eigenschaften, um Gottes Weg und sein Handeln zu beschreiben. Allmacht, Allwissenheit oder ähnliches sind Zuschreibungen, die als solche oft gar nicht hilfreich sind. Sondern die eher zu Spekulationen einladen. Von Gott ist dann nach 2. Tim 2,13 zu sagen, dass er nicht alles kann: Er kann 13 Ebd. 14 2. Tim 2,13.

Plasger Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive

sich selber nicht untreu werden. Das bedeutet, dass Gottes Weg als verlässlich bezeichnet wird. Viele andere Male ist ähnliches in der Bibel zu lesen. So beispielsweise auch, als Gott sich Mose im brennenden Dornbusch zu erkennen gab: »Ich bin, der ich bin.«15 So wie ich bin, bin ich. Das ist keine Aussage, mit der Mose Gott definieren und festmachen könnte. Aber ein Name, der Verlässlichkeit ausstrahlt. In eher evangelikalen Kreisen wird in diesem Zusammenhang oft Johannes 14,6 zitiert, um – nicht zuletzt im Gespräch mit Angehörigen anderer Religionen – die Wahrheit des christlichen Glaubens zu betonen: »Jesus Christus spricht: ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Aber auch hier haben wir zu fragen, was denn mit »Wahrheit« gemeint ist. Haben wir es hier zu tun mit einem von uns einzulösenden Wahrheitsanspruch? Einmal angenommen, dass Jesus diesen Satz selber gesprochen habe. Dann hat er den Satz auf aramäisch gesprochen. Aber es gibt weder im Aramäischen noch im Hebräischen ein Wort für »Wahrheit«. Im Alten Testament gibt es also das Wort »Wahrheit« gar nicht. In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, gibt es hingegen das Wort »Wahrheit« – aläteia – und im Hebräischen steht dafür dann das »ämät«. Und »ämät« heißt nicht Wahrheit, sondern Treue – und ist als Lehnwort noch in unserem Wort »Amen« erkennbar. Der Satz »Ich bin der Weg, die Treue und das Leben« ist kein Satz der Rechthaberei, der sich abgrenzt, sondern eine Zusage, dass in Jesus Christus die Treue Gottes zum Ausdruck kommt. Jesus Christus ist damit als Inbegriff der Treue Gottes zu verstehen, er ist gleichsam die personifizierte Treue Gottes. Hier ist bei Lichte besehen zu er-

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kennen, wie Gottes Treue ist – in den Tod und durch den Tod hindurch. Diese Treue Gottes ist letztlich nur als Geschichte zu erzählen – und nicht als System einer Weltanschauung. Die ganze Bibel erzählt in vielen einzelnen Akzenten die Geschichte Gottes in Form von vielen Geschichten, aber auch Argumentationen – und in allem geht es um das Handeln Gottes, um den Weg Gottes. Aber jetzt ist noch ein Akzent hinzunehmen: Wie kommen Menschen dazu, dass sie daran glauben, dass das wahr ist, dass diese Treue tatsächlich in Jesus Christus gegeben ist. Was ist der Grund, dass Menschen glauben? Ich frage jetzt nach der theologischen Antwort (es gibt natürlich auch andere) – und diese lautet mit den Worten Martin Luthers: »Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben; in welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am Jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christus ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewisslich wahr.«16 15 Exodus 3,14. 16 Martin Luther, Der Kleine Katechismus, in: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde. Im Auftrag der VELKD hg. vom Lutherischen Kirchenamt, Gütersloh 1986, 527–578, 545.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Das Zustandekommen des Glaubens, dass also jemand sagt, dass er nicht sich selbst gehört, sondern Jesus Christus, ist die Binnenaussage des christlichen Glaubens, dass sich dieser selbst einer Aktivität Gottes verdankt. Und der theologisch angemessene Gestus ist hier das Staunen über Gottes wunderbaren Weg. Positionalität? Wahrheitsanspruch? Ja, aber nicht der der Christinnen und Christen, sondern der Gottes. Gott bezieht Position, so könnte man sagen. Er ist ganz auf der Seite des Menschen, der überfordert ist und sich selbst zu verlieren droht. Er ist ganz auf der Seite des Menschen, der die Welt zu erkennen glaubt, und doch darauf angewiesen ist, dass nicht er Gott erkennt, sondern Gott ihn. Der christliche Glaube, die Theologie nötigt den Christenmenschen zum Perspektivwechsel und will ihn herausholen aus der Meinung, er brauche Gott nicht, um in der Welt zu überleben. 2. »Lass mich deine Nägelmale sehen«

Nun ist es aber notwendig, der eben genannten Perspektive eine ganz andere zur Seite zu stellen. Denn der eben genannten großen Linie des Weges Gottes steht mein kleiner Glaube gegenüber, der vieles von dem, was eben gesagt wurde und was die Bibel zum Inhalt hat, nicht so wirklich nachvollziehen kann. Es tauchen Fragen auf, die verschiedene Bereiche berühren. Einmal können es Fragen und Einwände sein, die den christlichen Glauben selber von innen betreffen: Warum lässt Gott so viel Ungerechtigkeit in der Welt zu? Warum bleibt er so schweigsam,

wenn es ihn doch gibt? Oder: Ist Jesus wirklich auferstanden? War das nicht eher ein Wunsch, den die ersten Christen hatten – weil sie so enttäuscht waren, dass Jesus nicht mehr da ist. Oder: So richtige Gründe für den Glauben gibt es doch gar nicht. Und die Entstehung der Welt lässt sich auch ohne Gott denken. Andere Anfragen scheinen noch grundsätzlicher zu sein und betonen die Kontingenz des christlichen Glaubens noch stärker: Es gibt so viele Religionen in dieser Welt: Warum soll der christliche Glaube der Richtige sein? Oder: Ich bin halt in einem christlichen katholischen oder evangelischen Umfeld aufgewachsen, in dem der christliche Glaube »normal« war und bin darum hineingewachsen. Das ist doch reiner Zufall, dass ich zur Kirche gehöre. Und noch ein anderes Fragenfeld könnte religionspädagogisch auftauchen (darauf gehe ich im dritten Abschnitt dann etwas mehr ein): Ist nicht der Glaube so privat, dass ich meinen Schülern und Schülerinnen einen eigenen Weg ermöglichen muss? Überfordere ich die Schüler und Schülerinnen nicht damit, mich als Christenmensch im Religionsunterricht zu positionieren? Ist die Pluralität der Religionen nicht schon der Beweis dafür, keine Position beziehen zu dürfen oder zu können? Mit diesen Fragen, die auf die Kontingenz des Glaubens verweisen, möchte ich mit Ihnen in die biblische Geschichte vom gläubigen Thomas hineinschauen. Im Johannesevangelium lesen wir von den Jüngern nach der Auferstehung Christi – ich zitiere zunächst Joh 20,18f: »Maria aus Magdala geht und sagt zu den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen,

Plasger Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive

und berichtet ihnen, was er ihr gesagt hat. Es war am Abend eben jenes ersten Wochentages – die Jünger hatten dort, wo sie waren, die Türen aus Furcht vor den Juden verschlossen –, da kam Jesus und trat in ihre Mitte, und er sagt zu ihnen: Friede sei mit euch!«17

Maria hatte den Jüngern von der Auferstehung Jesu berichtet, also davon, dass das Größte und Schönste passiert ist, was den Jüngern passieren konnte. Was aber taten die Jünger? Sie schließen sich ein. Aus Furcht davor, dass man ihnen eine Nähe zu Jesus unterstellt, der hingerichtet worden war? Vermutlich. Jedenfalls schließen sie sich ein. Sie glauben der Maria aus Magdala nicht. Man kann nicht mal sagen, dass sie zweifelten – vielleicht noch eher: Nicht einmal das. Sie verbarrikadieren sich – und sie werden über die Aussage der Maria geredet haben. Und sie gleichzeitig nicht ernst genommen haben. Vielleicht sogar, weil sie Frau war, wer weiß. Und dann kommt eine Passage, die ich jetzt nur kurz aufgreife: Jesus kommt zu ihnen – durch die verschlossene Tür hindurch. Er zeigt sich ihnen als Auferstandener, verheißt ihnen den Heiligen Geist und sendet sie. Und was wird von den Jüngern erzählt: Sie freuten sich, als er ihnen die Hände und seine Seite zeigte. Sie freuten sich, weil sie den Herrn sahen. Mehr wird nicht erzählt – und daran sieht man, wie nüchtern und zurückhaltend die Bibel erzählt. Dann ist Jesus wohl wieder weg. Und die Geschichte geht weiter: »Thomas aber, einer der Zwölf, der auch Didymus genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die anderen Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn ge-

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sehen. Er aber sagte zu ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und nicht meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite legen kann, werde ich nicht glauben. Nach acht Tagen waren seine Jünger wieder drinnen, und Thomas war mit ihnen. Jesus kam, obwohl die Türen verschlossen waren, und er trat in ihre Mitte und sprach: Friede sei mit euch! Dann sagt er zu Thomas: Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagt zu ihm: Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Selig, die nicht mehr sehen und glauben!«18

In vielen Bibeln hat diese Geschichte die Überschrift: »Der ungläubige Thomas« – und dieser Thomas ist als solche in die Geschichte eingegangen. Aber stimmt das? Ist er ein Ungläubiger? Zunächst einmal sehen wir ihn zweifeln. Er hört die anderen Jünger erzählen: »Wir haben den Herrn gesehen!« – und ist skeptisch. Interessant ist es, wenn wir jetzt einmal die beiden Passagen der Geschichte im Zusammenhang wahrnehmen. Maria hatte den Jüngern erzählt, was sie gesehen hatte – und die Jünger schließen sich ein. Und dann begegnet Jesus ihnen – und jetzt geben sie vollmundig weiter: »Wir haben es gesehen – Wir haben ihn gesehen!« Voller Glaubensgewissheit wenden sie sich an Thomas: »Wir haben ihn gesehen. Vorher waren sie kleinlaut – und jetzt fast selbstsicher. Wir haben ihn gesehen. Das

17 Joh 20,18f. 18 Joh 20,24–29.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

ist doch ein Grund zum Glauben. Wenn wir Dir sagen, was passiert ist, dann kannst Du uns doch glauben.« Und – das wissen wir ja längst: Thomas glaubt ihnen nicht. Er glaubt nicht einfach Menschen, die ihm irgendetwas erzählen, was eigentlich gar nicht passiert ist. »Ich kann das nicht glauben, was Ihr mir erzählt.« Ungläubiger Thomas? Nein, ein Zweifelnder, einer, der auch seinen Mitjüngern nicht alles glaubt. »Ich will es erst selber sehen! Ich will die Nägelmale sehen und meine Finger reinstecken und meine Hand in seine Seite legen, in die die Soldaten eine Lanze gestochen haben. Ich will es sehen und selber spüren. Sonst kann ich es nicht glauben.« Und wie reagiert Jesus drauf? Er kommt eine Woche später wieder zu ihnen, zu den Jüngern. Thomas ist wieder dabei. Und wo befinden sich die Jünger? Wieder im gleichen Raum – und wieder hatten sie die Türen verrammelt. Eigentlich merkwürdig. Haben sie aus Furcht die Türen verschlossen? Wenn das der Fall wäre, dann müsste man sagen: »Habt Ihr noch gar nicht verstanden, was Ihr letzte Woche erlebt habt? Warum verrammelt Ihr Eure Türen, wenn der Herr doch die Tür des Todes durchbrochen hat?« Aber irgendwie sind die Jünger nicht so weit, schon verstanden zu haben, was da geschehen ist. Jesus kommt also, wieder durch die geschlossene Tür, zu den Jüngern. Und er wendet sich nach dem Friedensgruß zu Thomas. Er tadelt ihn nicht. Er sagt zu ihm nicht: Du hättest aber deinen Brüdern ruhig glauben können! Und auch nicht: Zweifeln darfst Du nicht. Sondern: »Leg deinen Finger hierher und schau meine Hände an, und streck deine Hand

aus und leg sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!«19 Der letzte Satz: »Sei nicht ungläubig, sondern gläubig« hat wohl dazu geführt, dass der zweifelnde Thomas immer wieder sehr negativ dargestellt wurde. Er war ungläubig. Zweifel ist Unglaube. Der griechische Text ist da nicht ganz so eindeutig. Das griechische Wort »und« – und sei nicht mehr ungläubig, kann auch verstanden werden als ein damit: »Lege deine Hand in meine Seite, damit du nicht unglaubend bist, sondern glaubend.« Das bedeutet dann aber, dass es kein Vorwurfssatz ist, wie er oft verstanden worden ist, sondern eher als Einladung zum Glauben. Ist Thomas bis hierher anders als die anderen Jünger gewesen? Sie hatten der Maria nicht geglaubt – und er den Jüngern nicht. Aber eins macht er besser als die Jünger: Er will es wissen. Er äußert seine Zweifel und behält sie nicht einfach für sich. Er sagt laut und deutlich: »Ich kann euch solch eine Botschaft nicht einfach glauben, sondern ich will ihm selber begegnen und mich überzeugen.« Er ist damit eigentlich weiter als die anderen Jünger. Ich halte den Thomas, ehrlich gesagt, für deutlich mutiger als die anderen Jünger. Er nennt seine Skepsis beim Namen, verschweigt sie nicht bloß und bezieht so Position. Jesus zeigt sich ihm so wie er sich den anderen auch gezeigt hat. Er zeigt dem Thomas seine Hände und seine Seite. Und jetzt fällt beim genauen Hinsehen noch etwas Anderes auf. Die anderen Jünger, so heißt es, freuten sich. Und Thomas? Thomas antwortet mit einem Satz, dessen Bedeutung nicht hoch ge19 Joh 20,27.

Plasger Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive

nug eingeschätzt werden kann. Er sagt zu Jesus: »Mein Herr und mein Gott.« Und das klingt vielleicht für uns christliche Ohren nicht besonders interessant. Aber im Johannesevangelium ist es das erste Mal, dass ein Mensch Jesus so anredet. Die Leser des Johannesevangeliums wissen schon seit dem Anfang, dass Jesus von Gott her ist. »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott – und das Wort wurde Fleisch.« Aber im Johannesevangelium wird deutlich: Dass Jesus wirklich von Gott herkommt und also göttlich, Gott selber ist, weiß außer den Lesenden kein anderer. Vielmehr zeigen sich im Johannesevangelium ständig Missverständnisse, weil Jesus eben z.B. als Prophet verstanden wird – und diejenigen, die den Anfang kennen, sagen: Nein, mehr … Und jetzt? Jetzt nach der Auferstehung erkennt Thomas als erster, mit wem die Menschen, mit wem die Welt es mit Jesus wirklich zu tun hat. Er ist nicht nur ein Prophet, sondern Gott selber ist in ihm da. Das sieht nur Thomas – und kein anderer. Ungläubiger Thomas? Nein: Er allein hat erkannt, wer der Auferstandene ist. Die Aufforderung Jesu: »Sei glaubend« findet genau in diesem Satz seine sehr schnelle Antwort. Thomas ist der Glaubende, nicht der Ungläubige. Der Zweifelnde – er wird von Jesus nicht negativ angesehen, sondern Jesus nimmt seinen Zweifel ernst. Der Zweifel – kein Hindernis beim Glauben, sondern geradezu eine Voraussetzung bei Thomas. Zweifel und Fragen sind deshalb nicht zu verurteilen, sondern eminent relevant. Der Glaube ist ja kein festes System, bei dem es nur um das Akzeptieren oder

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Nicht-Akzeptieren ginge. Glauben heißt nicht einfach: »Ja sagen« zu dem, was die Kirche immer schon gelehrt hat. Sondern Glaube ist eine Beziehung, in der Fragen erlaubt sind. Es gibt Christenmenschen und vielleicht sogar theologische Konzeptionen, in denen Fragen eher ein Problem darstellen (… ich habe übrigens auch von manchen Religionspädagogen und -pädagoginnen gehört, dass deren Unterricht genau so sei). Vielleicht stehen hier die Angst und die Unsicherheit im Hintergrund, den Glauben zu verlieren. Dieses klingt eher nach den anderen Jüngern, die nicht gefragt haben. Sie werden von Jesus ja auch nicht verurteilt – aber sie kommen nicht so weit wie Johannes, der das richtige Bekenntnis ausspricht: »Mein Herr und mein Gott!« Übrigens auch hier: Es ist keine Aussage einer allgemeinen Wahrheit, sondern Thomas weiß, wer sein Herr ist. Der Zweifel und damit auch die Kontingenzerfahrung sind keine Infragestellung des Glaubens, sondern essentieller Bestandteil – und also auch nicht klein zu schreiben oder gar zu verbergen. Glaube ist keine Selbstsicherheit, sondern gerade das Bekenntnis zur eigenen Unsicherheit. 3. Positionalität als Bekenntnis zur unverfügbaren Wahrheit

Die Frage nach der Gewichtung der beiden vorherigen Abschnitte ist immer schon strittig gewesen – und ist es zwischen verschiedenen theologischen Ansätzen auch heute noch. Die Betonung der Glaubenserfahrung als theologischen Ausgangspunkt zu neh-

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

men bedeutet letztlich, die Inhalte an die zweite Stelle zu rücken und die Bibel nur als Sammlung von Glaubenserfahrungen zu verstehen – eigentlich muss dann hinter den geschriebenen Worten immer die Erfahrung gesucht werden, die das entscheidende Moment darstellt. Und die Akzentsetzung alleine auf das Handeln Gottes zu legen bedeutet, theologische Lehre und also Inhalte für sich zu nehmen und den Menschen mit seinen Erfahrungen sekundär zu sehen oder gar für unwichtig zu erklären. In der Theologie geht es hier aber nicht nur um den Streit verschiedener Schulen, sondern es stehen ja ernsthafte und auch ernst zu nehmende Fragen und Sorgen im Mittelpunkt: »Nehmen wir die Erfahrungen der heutigen Schüler und Schülerinnen ernst genug?« fragen die einen, während die anderen Sorge haben, dass sich die biblische Botschaft, das Evangelium auflöst in Bedürftigkeitsbefriedigung. In diesem Spannungsfeld ist die Frage nach der Positionalität auch von Lehrkräften etwa an Schulen theologisch zu verorten. Ich gehe zunächst einmal einen Zwischenschritt, bevor ich das Gespräch von hier wieder aufnehme. Rechtlich gesehen ist der Religionsunterricht in Art. VII des Grundgesetzes verankert – und dort heißt es, dass »der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt« werden soll. Ich habe zwei dieser Grundsätze der Religionsgemeinschaften heute zitiert – den Heidelberger Katechismus und Luthers Kleinen Katechismus; sie gehören zu den Bekenntnistexten der Evangelischen Kirche. Wenn nach diesen Grundsätzen der

Religionsunterricht erteilt werden soll, ist damit eine deutliche Tendenz vorgegeben. Die Vokatio macht deutlich, dass die Religionslehrer und -lehrerinnen gleichsam im Auftrag der Kirche in den Schulen tätig sind. Damit sind sie schon von daher nicht neutral, sondern durch ihr Dasein positioniert. Und jetzt könnte ich einen Punkt machen, weil damit ja alles gesagt sein könnte. Aber das mache ich (noch) nicht. Denn die rechtliche Frage, die natürlich auch theologisch interpretabel ist, ist nicht selber schon theologisch – die rechtlichen Rahmenbedingungen können sich ja auch verändern. Deshalb frage ich eher in systematisch-theologischer Perspektive, die nur als Binnenperspektive möglich ist. Theologie ist keine Religionswissenschaft – und deshalb ist die Wahrheitsfrage nicht prinzipiell ausgeschlossen, sondern ihr inhärent und notwendig. Aber es ist zu einfach, sie mit der Frage auch schon für beantwortet zu halten, weil dann eine vielleicht bewusst vorgenommene Positionierung selber schon als Antwort gilt. Mein Bekenntnis zur Wahrheit (so umschreibe ich jetzt »Positionierung«) darf und kann eben nicht mit der Wahrheit identifiziert werden. Und auch die Bekenntnisse der Kirche sind mit der Wahrheit nicht identisch – ja nicht einmal die Bibel als grundlegendes Buch der Kirche. Sie alle – Bibel, Bekenntnisse und Christenmenschen – sind bestenfalls Zeugen der Wahrheit, oder genauer: Zeugen der Treue Gottes. Fehlbare, unvollkommene, beeindruckende, schwierige und auf Vergebung angewiesene Zeugen, deren Bekenntnis zur Treue Gottes die Treue Gottes weder gültig noch wahr macht.

Plasger Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive

Sind hier nur die Lehrkräfte gemeint? Keineswegs! Denn auch den Schülern und Schülerinnen ist grundsätzlich diese Positionalität zuzutrauen, ja sie ist sogar irgendwie auch zu erwarten, wenn sie am Religionsunterricht teilnehmen. Ob sie sich selber dabei als Christenmenschen und also als Glaubende verstehen, ist dabei nicht in jedem Fall vorausgesetzt: Im faktischen Vollzug entdecken Schüler und Schülerinnen immer wieder Dimensionen der Treue Gottes – etwa in biblischen Texten oder anderen Themen und Gegenständen. Und die können auch die Lehrkräfte überraschen! Eine objektive Positionierung gibt es nicht. Sie gibt es auch nicht bei Gotthold Ephraim Lessing, weil die Vernunftreligion auch ein Bekenntnis zu einer religiösen Auffassung darstellt, die sich zwar irgendwie als neutraler versteht, in Wirklichkeit aber alle anderen Wahrheitsansprüche ausschließt. Christlich theologisch kann ich selber keinen Wahrheitsanspruch vertreten, weil ich nicht selber dafür einstehen kann. Ambroise Bierce hat in seinem

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Wörterbuch des Teufels einmal gesagt: Glaube heißt: »Dinge für wahr halten, für die es keine Parallele und keinen Beweis gibt und die jemand verkündet, der über kein Wissen verfügt.«20 Aber ist das alles? Sind die leeren Hände wirklich das Letzte, das zu sagen ist? »Der Glaube ist – jeden Morgen neu! – eine Geschichte. Er darf also mit ›Gläubigkeit‹ nicht verwechselt werden. Der Glaube ist kein Zustand, den man ein für alle Mal hätte. Ja, genau gesehen: Man ›hat‹ den Glauben nicht. Denn wenn er uns so geschenkt ist, dass wir nicht darüber verfügen können, dann ›haben‹ wir ihn nicht. Deswegen kann man den Satz ›Ich glaube‹ immer nur mit der Bitte sagen: Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben.«21

20 Ambroise Bierce, Aus dem Wörterbuch des Teufels. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von D.E. Zimmer, Frankfurt 1966, 42. 21 Karl Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962, 83.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Oliver Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität – Positionalität als Lösung und Problem der KJT im Zueinander von Tradition und subjektiven Überzeugungen 1. Ausgangslage: positionale Voraussetzungen der Kinderund Jugendtheologie

Die Kinder- und Jugendtheologie hat zunehmend die komplexen Voraussetzungen ihrer Vollzüge im Blick: z.B. die Milieugebundenheit und Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, der Bezug zu den Unterrichtslogiken oder dem Lernort.1 An dieser Stelle geht es um das notwendige Verhältnis der Kinder und Jugendlichen zum Unterrichtsgegenstand: Wie stark müssen sie selbst religiös involviert sein, müssen sie unabhängig von ihrer Religion oder Weltanschauung zu einer theologischen Positionierung bereit sein? In diesem Beitrag werden diese spezifischen Bedingungen der für die Kinder- und Jugendtheologie produktiven Positionierungen der Akteure Schüler, Lehrkraft und Unterrichtsgegenstand herausgearbeitet. Zentral ist die Modellierungsaufgabe der Schüleräußerungen wie der Unterrichtsgegenstände, die die Anschlussfähigkeit der Diskursbeiträge erhöht. Die Frage nach den Voraussetzungen, wie sich Schülerinnen und Schüler zum Gegenstand verhalten müssten, wurde für mich zum ersten Mal in der jugendtheologischen Studie von Annike Reiß virulent, die die für die KJT typische folgende These transportiert:

»Auf der Suche nach Antworten auf die Schülerfragen vermag ein Angebot fachwissenschaftlicher Deutungsmöglichkeiten den Horizont der Jugendlichen zu erweitern und somit Orientierung zu bieten.«2

Auf der anderen Seite aber zeigt sich empirisch – und damit steht Reiß keineswegs allein –, dass genau dieses Einspielen nicht funktioniert: »Die Analyse der von den Studierenden moderierten Theologischen Gespräche zeigt, dass diese Aufgabe häufig ungelöst bleibt. Im Ergebnis sind Gespräche zu beobachten, in denen die Schüler/innen ihre persönliche Interpretation des Themas äußern – es werden jedoch keine 1 Vgl. z.B. Dörthe Vieregge, Wer bleibt außen vor? Exklusionen im Kontext einer lebenslaufbezogenen Religionspädagogik, in: Theo-Web, Jg. 17 2018, Heft 2, 142–155; Katharina Kammeyer, Theologisieren in heterogenen Lerngruppen, in: Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 191–210; Hanna Roose, Kindertheologie und schulische Alltagspraxis. Eine Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht, Stuttgart 2019; Oliver Reis / Thomas Schlag / Hanna Roose / Patrick C. Höring, »Weil man halt ja nebenbei, so etwas gelernt hat …«. Lernortspezifische Jugendtheologie in Schule und Gemeinde, Jahrbuch für Kinderund Jugendtheologie, Bd. 4, Stuttgart 2020. 2 Annike Reiß, »Man soll etwas glauben, was man nie gesehen hat«. Theologische Gespräche mit Jugendlichen zur Wunderthematik, Kassel 2015, 431.

Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität

weiterführenden Deutungsperspektiven eingebracht.«3

Diese Störung um die Einführung fachlicher Positionen herum entsteht m.E. nicht zufällig, sondern repräsentiert ein allgemeines religionspädagogisches Problem, das eben auch in die KJT hineinragt, für deren Bearbeitung sie wie geschaffen ist, deren Bearbeitung sich ihr aber entzieht.4 Rudolf Englert brachte dies so auf den Punkt, dass der Religionsunterricht entweder instruktional über die Gegenstände spricht oder bei den individuellen Meinungsäußerungen stehen bleibt.5 Es entsteht ein Positionierungsproblem, eben weil sich Gegenstandsrelativierung und Äußerungsbeliebigkeit bzw. Gegenstandsobjektivierung und reproduktive Aneignung zu zwei binären Unterrichtsstilen verstärken, die beide nicht produktiv für theologische Auseinandersetzungen sind. In einer Rezension zu der Studie von Reiß komme ich zu der folgenden Beobachtung: »An der Arbeit wird aber auch deutlich, dass gerade das ›Logisch-denken-Wollen‹ der Jugendlichen immer wieder zu einer Rede über Modelle, über Religion und letztlich auch über Gott führen kann, in der das Ringen um die Wirklichkeit und die Lebendigkeit der Gegenstände gegen einen formalen Abgleich mit den eigenen autoritativ gesetzten subjektiven Vorstellungen ausgetauscht wird. Dazu passt, dass die Arbeit wenig Konzeptwechsel oder Konzeptüberschreibungen oder Konzeptrekonstruktionen im Sinne eines substantiellen Weiterlernens sichtbar machen kann. Werden diese ›theologischen‹ Gespräche den Gegenständen gerecht?«6

Die Gegenstände werden schematisiert und der inneren Mehrdeutigkeit entzo-

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gen. Aber die Haltung, mit der über die Gegenstände gesprochen wird, ist auch so, dass aus ihr heraus in großer Distanz und selbst unbetroffen über die Dinge gesprochen wird. Hieraus entstand zunächst die titelgebende Vermutung, dass es auf eine bestimmte Art der Bindung in der Positionierung der Schülerinnen und Schüler ankommt. Nimmt man aber den Begriff der Position ernst, dann ist dies nach Dressler, Lorenzen und Gottschalk et al. unweigerlich eine Position in Raum und Zeit und damit auch eine Vereindeutigung in Relationen zu anderen Positionen, in Nähe und Distanz, in adaptiver und oppositioneller Anschlussfähigkeit.7 Man 3 Ebd., 519. 4 Vgl. Oliver Reis, Lernortspezifische Jugendtheologie als Marker religionspädagogischer Grundfragen – ein Ta-gungsprotokoll, in: Oliver Reis / Thomas Schlag / Hanna Roose / Patrik C. Höring (Hg.) (wie Anm. 1), 267276, 275f; Oliver Reis / Hanna Roose, »Warum können wir denn jetzt nicht sagen, dass die Sophia wirklich Recht hat?« – Norm und Relativierung in religionspädagogischen Bildungsprozessen, in: Special Interest Group »Relativität, Normativität und Orientierung« an der Universität Tübingen (Hg.) (zur Publikation angenommen, im Erscheinen). 5 Vgl. Rudolf Englert, Religion reflektieren – nötiger denn je, in: Kirche und Schule, 33. Jg. 2006, Heft 139, 9–14. 6 Oliver Reis, Buchbesprechung Annike Reiß (wie Anm. 2), in: Hanna Roose / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt«. Kindertheologie im Unterricht (JaBuKi, Bd. 15), Stuttgart 2016, 191ff. 7 Vgl. Aenne Gottschalk / Susanne Kersten / Felix Krämer, Doing Space While Doing Gender: Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Doing Space While Doing Gender. Vernetzungen von Raum und Geschlecht in Forschung und Politik, Bielefeld 2018, 7–42, 7f; Bernhard Dressler, Die Frankfurter Studie im Kontext empirischer Forschung zur Professionalität

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

kann mit Lorenzen und Lüdtke weiter schließen, dass Positionierungen eben nicht nach eigenen Überlegungen im luftleeren Raum eingenommen werden, sondern dass Akteure in der Differenz zu anderen Positionierungen – z.B. auch von Unterrichtsgegenständen – zu relationalen Positionierungen in Rahmungen aufgefordert werden, zu denen dann auch Unterricht/Schule oder auch Institutionen wie die Kirchen gehören.8 Mit Blick auf die theologischen Gesprächen bei Reiß wird der Unterrichtsgegenstand Wunder in kognitiver Dissonanz zu den Rationalitätserwartungen der Schülerinnen und Schüler gesetzt. Sie sind damit alle gleich weit weg davon in emotionaler, persönlicher Indifferenz entfernt. Die kognitiven Positionen sind auch Positionierungen, aber die Relationen zum Gegenstand und untereinander werden hier abgedämpft, um die inhaltlichen Differenzen und damit auch Konflikte zwischen den Schülerinnen und Schülern gering zu halten. Die von Reiß untersuchten unterrichtlichen Praktiken verweisen auf das Problem, dass die KJT Positionalität voraussetzen müsste, die sie bilden will. 2. Die Konstellation von Schüler-/ Schülerinnenäußerungen und Positionen am Beispiel

Das folgende Unterrichtsbeispiel aus einer sechsten Realschulklasse zeigt die Konstellation der Positionierungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler bzw. der Lehrkraft, des Unterrichtsgegenstandes und des Unterrichtsverfahrens sehr deutlich:

Felix: Ich hab mal ’ne Frage: Man hört so (starke Dehnung und Betonung) viele Geschichten damals, wie Gott war. Aber so in der heutigen Zeit sind da keine Geschichten mehr von ihm vorhanden. Lehrerin: Ja, wie ist das denn überhaupt? Das ist ja spannend! (setzt sich mit ihrem Stuhl in die Mitte und schaut die Klasse an). (Einige Schüler/-innen reden durcheinander und melden sich anschließend.) Lehrerin: Jonas! Jonas: Vielleicht früher, da haben die Leute meinetwegen den ja äh … gesehen oder so und dann äh … wussten sie ja, was der gemacht hat. Aber heutzutage gibt’s den ja nicht mehr oder so. Weiß ja keiner. Dann weiß man nicht, was man aufschreiben soll. Lehrerin: Paul! Paul: Ich hab zwei Sachen: Vielleicht gibt es auch schon genug Geschichten. Deswegen! Oder sie haben keine Lust mehr Geschichten aufzuschreiben. Lehrerin: Theresa. Theresa: Also ich will jetzt auch mal sagen. Die Geschichten, die, die kommen einem gar nicht so viel vor. Wenn man so die ganze Bibel jetzt durchliest, ja, da brauchst du Stunden für. Wirklich! Lehrerin: Aber wir sollten uns … Ramona: (ruft dazwischen) Deswegen sollte man sie ja weiterschreiben. von Religionslehrkräften, in: Hans-Günter Heimbrock (Hg.), Taking Position. Empirical Studies and Theoretical Reflections on Religious Education and Worldview. Teachers Views About Their Personal Commit-ment in RE Teaching. International Contributions, Münster 2017, 81–92; Stefanie Lorenzen, Entscheidung als Zielhorizont des Religionsunterrichts? Religiöse Positionierungsprozesse aus der Perspektive junger Erwachsener, Stuttgart 2020, 20. 8 Vgl. ebd.; Antonia Lüdtke, Confessional Gap. Konfessionalität und Religionsunterricht denken, Stuttgart 2020, 241. Siehe auch den Beitrag von Steffi Fabricius in diesem Band.

Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität

Lehrerin: Aber wir sollten uns da noch weiter auf den Weg machen! Christian: (Schüler ruft dazwischen) Aufn Weg? (Lehrerin ruft Schüler wiederholt namentlich auf.) Christian: Also vielleicht ist es ja auch so: Früher waren ja erstens die Christen, bevor sein Sohn kam, sowieso sehr wenige. Zweitens, wenn sie da waren, wurden sie verfolgt. Und jetzt geht es den Christen ja wunderbar. Es sind so viele, das ist ja eigentlich eine der Weltreligion, dass keine die … Und vielleicht hat er einfach keine Lust mehr, große Sachen zu machen. Und vielleicht geht er ja … ohne Scheiß … auch Gott will ja auch Urlaub haben. (Felix versucht sich in die Diskussion einzubinden.) Felix: (fällt Christian ins Wort) Aber es geht ja nicht drum, dass man Geschichten aufschreibt, sondern: Wieso hört man nichts mehr? Man muss es ja nicht unbedingt aufschreiben. (Christian versucht vergeblich zu intervenieren.) Felix: Und der hat halt ein ganz anderes Zeitgefühl als wir. Vielleicht 2000 Jahre ist für den wie für uns eine Woche. Hast du mal eine Tat, so die Sachen, die stehen doch bis zum Jahre 1100 und danach sind es noch ganz wenige Sachen, dann hört es doch auf. Oder hast du …. (Christian versucht weiter Felix zu unterbrechen. Die Kinder haben Blickkontakt.) Felix: Oder hast du irgendein Wunder von Gott gesehen? Christian: Ja, ich habe dir doch eben zwei Gründe genannt: Erstens, die Christen können jetzt auf sich selbst aufpassen … Und zweitens, Gott möchte auch mal Ruhe haben.9

Auch wenn dieser Ausschnitt nicht aus einer möglichen Einspielung fachlicher Positionen stammt, zeigt sich schon die Struktur, dass …

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a) Schülerinnen und Schüler in ihren Äußerungen bis auf wenige Ausnahmen immer neue Argumente für das scheinbare oder offensichtliche Schweigen Gottes bringen, b) die Lehrkraft keine Argumente bzw. externe Positionen als Argumente einführt, sondern sich auf die Moderationsrolle konzentriert, c) an den Stellen, an denen sich Christian und Felix aufeinander beziehen, die Bezugnahmen aus der eigenen Meinung heraus assoziativ erfolgen, aber nicht so, dass das eigene Modell und das des anderen zugänglich ist. Eine Weiterentwicklung der Position, die Bearbeitung der Frage, ein Lösen von dem eigenen Modell, ein Anerkennen der anderen Position ist nicht beobachtbar: »Zu einer ernsten Klärung des Problems oder einer Abwägung der genannten Hypothesen kommt es leider nicht, auch nicht in einer anschließenden Positionierung der Lehrerin. Um das theologische Sprach- und Denkvermögen der Schüler/-innen zu qualifizieren, wäre hier entweder ein fachliches Feedback der Lehrperson notwendig oder eine Vertiefung und Weiterarbeit an den Beiträgen der Schüler/-innen. Leider erfolgt beides nach unseren bisherigen empirischen Erkenntnissen viel zu selten.«10

In diesem Fall entsteht das Problem aus Sicht von Reese-Schnitker nicht, weil die Kinder kein Material bereitstellen und es 9 Die Unterrichtsszene ist dokumentiert bei: Annegret Reese-Schnitker, Interaktive Lernprozesse im Kontext biblischen Lernens. Eine sequenzielle Gesprächsfeinanalyse, in: Mirjam Schambeck / Ulrich Riegel (Hg.), Was im Religionsunterricht läuft. Wege und Ergebnisse religionspädagogischer Unterrichtsforschung, Freiburg i.Br. 2018, 233–251, 237–247. 10 Ebd., 249.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

gar nicht zum Gespräch kommt, sondern weil die Äußerungen Meinungen bleiben und sie nicht auf ihre Grenzen, aber auch Erkenntnisse hingewiesen werden. ReeseSchnitker bezieht das Problem auf das Verhalten der Lehrkraft, die das Potenzial des Gesprächs nicht ausschöpft. Aus meiner Sicht liegt das Problem strukturell in (theologischen) Gesprächen verankert. Das Aufeinanderausrichten von Aussagen – man könnte auch sagen: Anschlussfähigkeit herstellen – geschieht eben nicht einfach assoziativ über semantische Nähe, das eine Wort gibt das andere, sondern darüber, dass ein klarer gemeinsamer sozialer Rahmen – hier Klärung der Frage von Felix – durch Anreicherungen mit neuen Perspektiven bearbeitet wird.11 Felix erhält Deutungen, von Christian eine Fast-Anreicherung, die ihn immerhin die Frage klarer stellen lässt: Wie ist das: Handelt Gott, dessen Akteurstatus an sich nicht hinterfragt wird, noch an der Welt, wenn man doch

offenbar nichts mehr von ihm hört? Was fehlt ist, dass die Interagierenden die Anreicherungen auf eine Differenz hin vollziehen können, diese dafür aber auch sehen und bearbeiten können müssten. 3. Anreicherungen, Modellierungen und Positionalität in den Verfahren der KJT

Die KJT ist grundsätzlich für diesen Prozess der Anreicherung sensibel, aber sie sieht in meinen Augen noch nicht die Konsequenzen für die Positionierung der Kinder und Jugendlichen bzw. des Verfahrens scharf genug, wie Positionalität im Sinne einer normativen Erwartung gezeigt werden müsste. Um dieser Erwartung nachzugehen, wähle ich als Modell für die Verfahrensstruktur der KJT die Strukturierung von FreudenbergerLötz/Reiß (Abb. 1), die ich im Diskurs für idealtypisch halte.

Lehrkraft

Schüler/innen



Förderung des eigenständigen theologischen Denkens von Kindern



Deutungen der Schüler/innen ins Gespräch bringen

Wahrnehmen, wie die Schüler/innen das Thema verstehen

Weiterführende Deutungsmöglichkeiten anbieten

Thema

Abb. 1: Das didaktische Dreieck und die Interventionen der KJT12

11 Vgl. Theresa Kohlmeyer / Oliver Reis / Franziska Viertel / Katharina Rohlfing, Wie meinst du das? Begriffserwerb im Religionsunterricht, in: Theo-Web, 19. Jg. 2020, Heft 1, 334– 344, 336ff.

12 Petra Freudenberger-Lötz / Annike Reiß, Kognitive Aktivierung im theologischen Gespräch mit Jugendlichen, in: Andreas Feindt / Volker Elsenbast / Peter Schreiner / Albrecht Schöll (Hg.), Kompetenzorientierung im Religionsunterricht, Münster 2009, 247–262, 260.

Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität

Auch wenn Abb. 1 hier eine zyklische Struktur entwickelt, kann man doch von den realen Lernprozessen her eine Reihung vornehmen: zuerst die Wahrnehmung der Verständnisse, dann die Fügung der Deutungen zueinander und schließlich das Angebot weiterführender Deutungen. Ich möchte gerne mit diesem dritten Schritt beginnen. Denn hier begegnet wieder das oben bei Reiß schon gesehene Element a) der Weiterführung der Schüler-/Schülerinnendeutungen b) mithilfe angebotener c) weiterführender Deutungen. Es lohnt sich aus der Perspektive der KJT, diesen Zielpunkt und die Bewegung bis dahin unter dem Gesichtspunkt der Positionierung genauer zu analysieren. Angebot ist ein beliebter religionspädagogischer Begriff: Er signalisiert, dass die Positionen ohne Übergriffigkeit, ohne Asymmetrie, ohne Übernahmeerwartung hingestellt werden. Sie sind jetzt da. Sie sind als Deutungen eingehegt: Deutungen von Menschen, die sich zu einer Frage Gedanken gemacht haben. Lüdtke würde sagen, dass in dieser Vorstellung der Positionierungscharakter einer theologischen Aussage unterschlagen wurde, die Menschen in sozialen Ordnungen Plätze und Handlungsmöglichkeiten zuweisen, die auch in Bezügen mit Institutionen stehen. Theologische Aussagen sind deshalb auch nie ohne Aufforderungscharakter. Genau das macht eine (theologische) Position, besser Positionierung, aber erst zu einem bildenden Gegenstand. Der Ausdruck der angebotenen Deutung erhält diesen Zusammenhang nur noch schwach und betont das Handeln der Schülerinnen und Schüler im Umgang mit dem Aussagegehalt, der scheinbar in seiner eigenen Rationalität

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Überzeugungskraft für das eigene Denken entwickelt. Übersehen wird dabei, dass Argumente und damit auch Positionen Positionierungen zum Gegenstand sind, deren Überzeugungskraft an die Kontexte, die sozialen Lagen und deren Ordnungen gebunden sind. Wenn die Lehrkraft – wie in dem Beispiel – vor allem das Verfahren sichert, ermöglicht das gerade keine freie Auseinandersetzung mit fachlichen Positionen, sondern verhindert, dass Positionen überhaupt Positionierungen auslösen können, weil sie in bestimmten Kontexten einen Unterschied machen. Die Verfahrensvorstellung (Abb. 1) sieht für den zweiten Schritt vor, dass die Deutungen der Schülerinnen und Schüler miteinander ins Gespräch gebracht werden. Von dem zweiten Schritt auf den dritten geschaut, fällt auf, dass der übergreifende Begriff der ›Deutung‹ eine strukturelle Gleichartigkeit zwischen den Schüler-/Schülerinnendeutungen und den weiterführenden Deutungen voraussetzt. Deshalb können die Deutungen der Schülerinnen und Schüler untereinander in Beziehung gesetzt werden und später können die fachlichen Positionen dazu treten. Jede Deutung zu dem Thema – z.B. wie spricht Gott heute? – ist schon in sich so, dass sie als anschlussfähig gedacht wird, weil sie ja eine Äußerung zum Thema ist. Aber stimmt diese angenommene Gleichartigkeit? Ich denke nicht. Was werden nicht alles für Ideen genannt, warum Gott nicht spricht: Er macht Urlaub, es gibt schon genügend Erzählungen, die Menschen sind autonom, früher konnten die Menschen ihn sehen, heute nicht mehr. Nur: Die Aussagen »Früher/heute«, »Gott macht Urlaub.« und »Die Menschen sind

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

autonom.« liegen auf verschiedenen Differenzlinien bzw. die Polarität ist noch zu verdeckt:  Felix ringt um die Frage, ob Gott heute noch etwas zu sagen hat, letztlich, ob er mit der Welt noch etwas vorhat und wie das erkannt werden kann. Es geht inhaltlich um die Frage der Wirklichkeit Gott und epistemisch um die Verifizierbarkeit. Er setzt voraus, dass zwischen biblischen Aussagen als Wirklichkeit und heutiger Wirklichkeit eine Kontinuität besteht, wie dies auch die kirchlich-theologische Hermeneutik auf indirekte Weise tut. Auf dieser Differenzlinie liegen z.B. fundamentalistische Positionierungen, die von einem direkten Zusammenhang ausgehen, oder radikal hermeneutische, die eine interpretative Übersetzung der Menschen annehmen. In dieser Differenzlinie ist Kontinuität vorausgesetzt, das Differenzangebot »früher/heute« trägt nichts bei.  Die Aussage zur Autonomie der Menschen bezieht sich auf das Thema. Und sie ist auch eine gewisse Anreicherung, weil sie die inhaltliche und die epistemische Seite der Frage neutralisiert. Aber sie ist zugleich (noch) keine weiterführende Antwort, weil sie die Grundpositionierung von Felix radikal verändert und damit eine eigene Gott-Welt-Konstruktion zeigt. Wenn Christian weiter überlegt hätte, was die Autonomie der Menschen für Gott selbst bedeutet, dann wäre es spannend geworden, denn erst dann lägen die beiden Positionen auf einer gemeinsamen Differenzlinie »Theismus/Deismus« und könnten nicht mehr gleichzeitig bestehen. Felix und Christian vertreten dementsprechend, ohne es zu wissen, zwei verschiedene theologieaffine Modelle13, die sich als

Positionen im Diskurs anreichern könnten. Es sind also aufwändige Operationen zu vollziehen, die die Äußerung zu Positionierungen verarbeiten, die in Differenz zueinander einen Unterschied machen. Auf der Gesprächsebene ist es nicht einfach, die Äußerungen als modellierende Deutungen wirklich in einem differenzbezogenen Diskurs gesetzt zu sehen. Die Schülerinnen und Schüler leisten dies in den additiven Redebeiträgen nicht. Felix versucht es im Gespräch mit Christian, dort ahnt er eine Differenzlinie. Vor allem aber die Lehrkraft ist nicht orientiert, worin der vertiefte gemeinsame Weg des Nachdenkens besteht. Sie modelliert die Äußerungen nicht, ordnet sie nicht Klassen von Positionen mit einer gemeinsamen Bedeutungsstruktur zu und sieht auch nicht die fehlenden Positionen, die sie dann im dritten Schritt einführen könnte. Es fehlt deshalb im ersten Schritt (Abb. 1), die Schüler-/Schülerinnenäußerungen nicht nur als propositionale Äußerungen zum Thema wahrzunehmen. Die Äußerungen müssten gleich als Positionierungen gelesen werden, die zu einer bestimmten Frage in Form zu bringen sind, damit nicht Meinungen ausgetauscht werden, sondern der Meinungsaustausch eine Arena für die Modelle im Sinne von Positionen eröffnet.14 Die echte Äußerung wird den Kindern und Jugendlichen dabei entfremdet. Es geht nicht mehr um diese, es geht um 13 Vgl. Gerhard Büttner / Oliver Reis, Modelle als Wege des Theologisierens. Religionsunterricht besser planen und durchführen, Göttingen 2020, 16f. 14 Siehe auch den Beitrag von Steffi Fabricius in diesem Band (Kap. 3–5).

Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität

das, was mit der Äußerung strukturell zum Thema gesagt wird.15 Die Lehrkraft müsste die individuellen Äußerungen nicht als persönlichen Lebenszustand lesen, sondern als Fachunterrichtsbeitrag. Nicht die Individualität der Äußerung macht sie besonders, sondern ihre Modellierbarkeit als Positionierung für den Fachunterricht. Die Schülerinnen und Schüler müssten komplementär dazu zweierlei tun: 1. Sie lassen zu, dass ihre Äußerungen als Positionierung in Raum und Zeit sowie in einer sozialen Lage gelesen werden, die Folgen gegenüber anderen im Raum vorhandenen Positionierungen besitzt. Sie müssen also der Übersetzung der spontanen Äußerung in deren Modellierung folgen und sich damit auch im Raum positionieren lassen. 2. Im zweiten und dritten Schritt ist es dann nötig, die Positionierung des Modells einzunehmen und damit auch die Inanspruchnahme mit einer Positionierung auszuhalten, sie zu verteidigen, andere zu kritisieren. Dann muss sie aber auch losgelassen werden. Es müssen andere erprobt und die eigene kritisiert werden, bevor auch die eigene wieder neu getestet wird. Erfolgt diese Schrittfolge, dann haben sie die Erwartung einer normativen Konzeption von Positionalität bewältigt und man könnte schließen, dass auch das konkrete theologische Gespräch dann erfolgreich sein kann. Diese Struktur wäre das, was Lorenzen eine »reflektierte Positionalität«16 nennt. Sie ist notwendig, wenn der Religionsunterricht wie in der KJT versucht, große Fragen einerseits über die Kinder und Jugendlichen als theologisierende Subjekte und anderseits über die Verwicklung mit reflektierten Positionierungen bearbeiten will.17

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Um sich die Größe dieser Aufgabe klarzumachen, ist es hilfreich, sie an den Dimensionen der Differenzarbeit von Karlo Meyer zu spiegeln. Meyer unterscheidet zwei Arten von Stereotypen: das Stereotyp über die anderen schon alles zu wissen, ohne sich fachlich differenziert mit den Unterschieden zu beschäftigen, und das Stereotyp, anderen etwas nachzuplappern, ohne existenziell betroffen zu sein. Meyer verortet übrigens die KJT als Gegenkonzept zu diesem zweiten Stereotyp, trennt damit die existenzielle Betroffenheit von der differenzierten Beforschung des Gegenstandes. Ich meine, dass die KJT zumindest in der hier vertretenen Verfahrensstruktur beides verbinden will, damit aber auch die Komplexität enorm steigert. Denn nach Meyer kann das Stereotyp nur in Ambiguität bearbeitet werden: die Ambiguität, dass es keinen eindeutigen Gegenstand mehr gibt, sondern sich Gegenstände in unauflösbaren Differenzen darstellen, und die Ambiguität, sich selbst in dieser Uneindeutigkeit zu positionieren und damit auszuhalten, dass es keine richtige Position mehr gibt, sondern nur noch eine in den verschiedenen Lagen.18 Die Ambiguität der Sache und die Ambiguität der Positionierung im sozialen Raum steigern sich gegenseitig, wenn man die 15 Vgl. ebd, 32; Oliver Reis, Systematische Theologie für eine kompetenzorientierte Religionslehrer/innenbildung. Ein Lehrmodell und seine kompetenzdiagnostische Auswertung im Rahmen der Studienreform (Theologie und Hochschuldidaktik, Bd. 4), Münster 2014, 167ff. 16 Stefanie Lorenzen (wie Anm. 7), 345. 17 Vgl. ebd., 342. 18 Vgl. Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2019, 289–293.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

KJT wie in der bisherigen Verfahrensstruktur (Abb. 1) so denkt, dass sie beide Stereotype bearbeiten will. Wie stark diese doppelte Ambiguität sein kann, wird in dem Satz von Felix erahnbar: »Oder hast du irgendein Wunder von Gott gesehen?« Hier hilft nur noch eine differenzierte Inhaltlichkeit und Mitpositionierung, um sich von dieser Frage mitbetreffen zu lassen und im gemeinsamen Positionieren die Frage aushaltbar zu machen. Felix und Christian zeigen Teile der reflektierten Positionalität. Um sie ganz auszuführen, müsste sie über die Modelle zueinander in Differenz geführt werden und wären weitere Positionierungen nötig, die beide weiter herausfordern, Gottes Wirklichkeit unter Wahrung der Autonomie von Mensch und Welt zu denken. Das unterbleibt, wie Reese-Schnitker feststellt, und damit bleibt es beim Staunen über die vielfältigen Positionen und den abschließenden Versuch der Lehrkraft, eine bestimmte Position dominant zu setzen. Für den Beitrag hier zeigt sich aber für mich etwas Wesentliches: Das, was sich die KJT als diese starke natürliche Kraft des Diskurses zu einem Thema vorstellt, ist eine komplexe Modellierung der Kinder und Jugendlichen, die in der Lage sein sollen, den Austausch von Positionen mithilfe der Lehrkraft in einen Modelldiskurs zu überführen, dessen blinde Flecken die systematische Erweiterung durch externe modellbezogene Positionierungen benötigt. Wo die Positionierung hinter der Position und die Modellierung hinter der Positionierung nicht aufgenommen werden, sind kinder- bzw. jugendtheologische Lernprozesse im Rahmen der entwickelten Struktur unwahrscheinlich.

4. Welche Theologie braucht es beim Theologisieren?

Kann die Theologie an sich bei diesem Problem helfen? Und wenn ja, in welchem Modus müsste sie in der KJT betrieben werden? Die Frage nach der Theologie in der KJT ist schon häufiger gestellt worden,19 ich möchte sie nicht in der Hinsicht stellen, wie nahe das Theologisieren von Kindern und Jugendlichen dem wissenschaftlichen oder kirchlichen Theologiebegriff kommen kann und muss. Produktiver finde ich es, einer Spur zu folgen, die Brieden aufmacht, wenn er mit Englert20 u.a. die folgenden drei Formen von Theologie unterscheidet: die hybride Theologie – das Individuum reflektiert seinen Lebensglauben über die Leitdifferenz trägt/ trägt nicht, der Geltungsbereich ist auf das Individuum eingeschränkt –, die Lehramtliche Theologie – die Kirche selektiert religiöse Praktiken und Theologien mit universalem Geltungsanspruch und hoher Sanktionierung über die Leitdifferenz legitim/illegitim – und wissenschaftlicher Theologie – Akteure der Hochschulen strukturieren die hybride und die lehramtliche Theologie über die Leitdifferenz von wahr/falsch. Brieden sieht in 19 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Rückfragen – Klärungen – Perspektiven, in: Dies. (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritische Diskussion, NeukirchenVluyn 2012, 165–180; Bernhard Grümme, Theologie bei Jugendlichen? Skizzen einer jugendtheologischen Topographie, in: Oliver Reis / Thomas Schlag / Hanna Roose / Patrick C. Höring (Hg.) (wie Anm. 1), 45–53. 20 Rudolf Englert, Geht Religion auch ohne Theologie? (Veröffentlichungen der PapstBenedikt XVI.-Gastprofessur), Freiburg i.Br. 2020, 15–39.

Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität

den Theologieformen eine produktive Wechselwirkung: »[I]n religiösen Bildungsprozessen können jedoch hybride Theologien der Individuen in einen Dialog untereinander und mit verschiedenen religiösen Traditionen gebracht werden. Das Angebot theologischer Alternativen könnte auf diese Weise eine Distanz zur eigenen Theologie erwecken – zumindest dann, wenn den Lernenden die Grenzen ihrer Theologien aufscheinen. […] Der hohe ›Verbindlichkeitsanspruch‹ lehramtlicher Theologie im Dienst der Glaubenswahrheit dient somit ebenfalls nicht der Distanzierung vom eigenen Glauben, sondern möchte einladen, sich mit dem Glauben einer religiösen Gemeinschaft zu identifizieren. Allerdings stößt diese Verbindlichkeit viele Menschen ab, so dass sie sich von einem solchen Geltungsanspruch distanzieren, anstatt die Einladung anzunehmen. Für religiöse Bildungsprozesse ist die lehramtliche Theologie jedoch unverzichtbar, weil sie mit ihren verbindlichen Deutungsperspektiven Anlässe für Lernende schafft, sich von diesen Perspektiven zu distanzieren, an der Auseinandersetzung mit ihnen zu wachsen und sie gegebenenfalls auch für sich zu übernehmen.«21

Wieder treffen wir auf das Angebot von den theologischen Alternativen, die im Dialog eingebracht werden. Ebenfalls soll die lehramtliche Theologie keine Identifikationserwartung ausstrahlen, sondern die Einladung, sich vom Glauben zu distanzieren. Fast schon paradoxerweise macht Brieden dann aber darauf aufmerksam, dass es gerade die verbindliche Rahmung der lehramtlichen Theologie und genauso auch das Beharren auf der Unterscheidung von wahr/falsch der wissenschaftlichen Theologie sind, die die Distanz auslösen. Es sind also die

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spezifischen Formen und die Geltungsansprüche, die keine individualisierten Deutungen, sondern begründungsfähige und mit Institutionen bewehrte Positionierungen in Raum und Zeit sind, die soziale Ordnungen auslösen. Das heißt im Umkehrschluss: Die Lehramtliche (Identifikationsauftrag) und Wissenschaftliche Theologie (Codierung wahr/falsch) brauchen eine Rahmung, die ihre Geltung und dann auch die Operationen sichern: Wie würde es wirken, wenn die Lehrerin zu Felix sagt: »Für die Katholische Kirche hat Gott der Welt in Jesus Christus alles Wichtige gesagt. Und die Taten, ja die Taten Gottes, die siehst du doch in der ganzen Geschichte bis heute, bis hierher. Das ist unser fester Glaube.« Und wenn diese Rahmung im Unterricht Widerstand auslöst (»Das mit der Geschichte, das kann ich so gar nicht sehen. Was ist mit den vielen verhungernden Kindern jedes Jahr?«), dann müsste sie zumindest mit ihrer Rahmung gerahmt in den Unterricht geholt werden: »Felix, diese Lehre der katholischen Kirche hält zumindest daran fest, dass wir Gott in dieser Geschichte suchen können. Sie gibt uns die Aufgabe, Gott in der Welt und der Geschichte zu entdecken. Was das für Gott und sein Handeln heißt, wenn wir ihn in unserer Zeit suchen wollen, das wäre etwas für unseren Religionsunterricht.« Diese Rahmung der Rahmung ist der Schlüssel. Und diese Rahmung der Rahmung kann unterrichtlich erfolgen – nicht zwangsläufig

21 Norbert Brieden, Paradoxien entfalten und bearbeiten. Beobachtungen zu Differenzierungspraktiken in der Religionspädagogik, Stuttgart 2022, 367f.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

lehramtlich oder wissenschaftlich, sicher aber auch nicht hybrid. Sie müsste die lehramtlichen und die wissen­schaft­lichen Positionierungen unter der Annahme sprechen lassen, dass die binnenreligiösen inhaltlichen Geltungsansprüche als Voraussetzung weiterer Operationen berechtigt sind, die mich in dem unterrichtlichen Rahmen unter Zugzwang der Klärung setzen. Die eigene Position entsteht in der individuellen Verunsicherung, die zur sozial-institutionellen Positionierung auffordert. 5. Wird die KJT weniger subjektorientiert? – Ein Ausblick

Die bisherigen Überlegungen verändern die Art, wie KJT subjektorientiert sein kann. Lorenzen bringt das Problem einerseits gut auf den Punkt: »Orientiert man religionsunterrichtliches Handeln am Zielbegriff der reflektierten Positionalität, dann erscheint die Berührung durch andere Orientierungen notwendig, weil nur so die selbstverständlichen eigenen Orientierungen der primären Orientierungsebene aufgedeckt werden können. Deutlich wird aber auch, dass die an die Verdichtung anschließende Reflexion der weiteren Erkundung dieser eigenen Stimme in ihrem primären Resonanzraum dienen muss. Die Frage, wie dies in einem unterrichtlichen Setting mit sehr heterogenen Orientierungen seitens der Kinder und Jugendlichen so gestaltet werden kann, dass deren Individualität genügend berücksichtigt wird, stellt meines Erachtens eine bislang ungelöste Herausforderung dar.«22

Andererseits lassen sich aus der Untersuchung zwei Dinge festhalten: Die Irri-

tation der primären Orientierungsebene erfolgt erstens nicht in »Berührung« mit anderen Orientierungen, sondern in der Konfrontation mit Positionierungen als sozialen Lagen. Die KJT muss es vermutlich erst neu lernen, die Schüler-/ Schülerinnenäußerungen nicht als Propositionen, sondern eher als Moves der sozialen Aushandlung über Wirklichkeiten zu lesen. Lorenzen spricht vom »aufgeladenen Wirkzentrum«23, in denen mit ganz unterschiedlichen Formen individuelle oder auch soziale Verdichtung passiert, die intim berührt, die spannungsvoll ist. Deshalb ist zweitens auch die Fokussierung eines primären eigenen Resonanzraums zu schwach. Lorenzen folgt hier nachvollziehbar religionspädagogischen Prämissen, aber wir können von der KJT her zumindest sagen, dass der individuelle Resonanzraum immer schon sozial gebildet ist und dass aus didaktischer Sicht Unterricht sozial heterogene Felder erzeugen muss, damit die Spannung entsteht und es um etwas geht.24 Sonst gibt es keine Resonanz. Die offene Frage lässt sich also präzisieren: Es geht nicht um eine der drei Formen von Positionalität – wie der Titel des Beitrags vermuten lässt –, die reflektierte Positionalität hält alle drei aus. Es geht aber schon darum, dass die (theologischen) Gespräche darauf angewiesen sind, dass die Schülerinnen und Schüler kennt-

22 Stefanie Lorenzen (wie Anm. 7), 343. 23 Ebd., 137. 24 Vgl. Jörg Ramseger, Das Korallenriff oder: Die Grenzen der Inklusion, in: Susanne Peters / Ulla Widmer-Rockstroh (Hg.), Gemeinsam unterwegs zur inklusiven Schule (Beiträge zur Reform der Grundschule), Frankfurt a.M. 2014, 298–305, 302f.

Reis Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität

lich machen, in welchen religiösen oder weltanschaulichen Positionen sie selbst verhaftet sind. Hier entstehen Positionierungen, die modellhaft und trotzdem noch mit intimer Nähe verbunden sein können. Sie werden aber als Modelle der Arena zur Verfügung gestellt, in der lehramtliche und wissenschaftliche Theologien systematisch mit ihren Geltungsansprüchen als Motoren der Auseinandersetzung eingesetzt werden, bis der Zielpunkt der Ambiguität erreicht ist. Dieser Punkt wird eher vermieden. Aber erst hier sind alle Modelle bedeutsam, ohne eines verdrängen zu können, so dass die Selbstdistanzierung und die Erprobung anderer Modelle nötig werden. Heikler Moment ist der Überstieg von der Äußerung in das Modell, das allen zur Verfügung steht, mich gleichzeitig bindet, damit ich in der modellgeleiteten Positionierung den Erkenntnisprozess für alle vorantreiben kann. Die reflektierte Positionalität ist eben nicht nur eine kognitive Leistung, sie umfasst ebenfalls Einstellungen, Praktiken und Institutionenbezug. Ganz deutlich wird hier, wie voraussetzungsvoll die KJT in der Positionalität wird, wenn sie damit theologische Tradition und die Lebenswelten der Subjekte aufeinander beziehen will. Die Frage stellt sich im Rahmen der Tagung schon, ob die KJT wirklich ein allgemei-

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ner religionsdidaktischer Ansatz für alle sein kann. Die Modellierung erfordert zwar nicht von allen Schülerinnen und Schülern religiöse oder religionsbejahende Positionierungen, aber doch eine Positionierung, die auf eine bestimmte Weise positional eingebracht wird. Nicht-Positionierung, die Ablehnung des positionalen Umgangs mit der eigenen Positionierung und der der Anderen oder auch technisch das Unterlaufen angezeigter Modellierungslinien sind nicht folgenlos möglich.25 Will und kann die KJT diese Erwartung vorbereiten und kommunizieren? Kann die KJT Positionierungen von Anfang an in Äußerungen sichtbar machen, ohne den Charakter des offenen, symmetrischen Gesprächs zu verlieren? Wie geht die KJT damit um, wenn Kinder und Jugendliche diese Erwartungen nicht erfüllen können oder wollen? Die Einführung der Positionalität der Schülerinnen und Schüler als Forderung innerhalb der KJT ist ein Doppeltes: Sie ist eine notwendige Bedingung, damit die KJT konsistent funktioniert, sie macht zugleich die große Hürde beschreibbar, die erklärt, warum die Praxis so ist, wie sie ist. Sie ist Lösung und Problem zugleich. 25 Siehe den Beitrag von Anika Loose in diesem Band.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Hanna Roose Positionierung zwischen kinder- und jugendtheologischem Anspruch und alltäglicher Unterrichtspraxis. Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht 1. Die Fragestellung

»Das Theologisieren bietet Kindern und Jugendlichen einen geschützten Raum, in dem sie ihre eigene Religiosität reflektieren und weiterentwickeln können.«1 Thomas Schlag führt diesen Aspekt weiter aus: »Weil theologische Gespräche existenzielle Themen berühren können, ist es notwendig, dass Lehrende zuerst einmal die notwendige Vertrauensbasis schaffen, damit Kinder und Jugendliche sich überhaupt frei zu äußern bereit sind. Es bedarf einer Atmosphäre offener und gleichberechtigter Dialogkultur ›auf Augenhöhe‹, weil sich Lernende nur dann mit ihren Aussagen wirklich wahr- und ernstgenommen fühlen können. Dies beginnt mit einem möglichst hierarchiearmen Setting, in dem eine solche Kommunikationspraxis stattfinden kann, konkret etwa der Positionierung von Lernenden und Lehrenden im Raum.«2

Diese programmatischen Zielperspektiven mit einem Votum für den Religionsunterricht als einem »geschützten Raum« spiegeln einen weitgehenden Konsens in der kinder- und jugendtheologischen Forschung. In der Praxis muss sich der Unterricht als »geschützter Raum« gegenüber den Strukturmomenten von Unterricht behaupten. Dabei steht die »Vertrauensbasis« einem schulischen Partizipationszwang3

gegenüber, die Fokussierung auf die individuelle, »eigene Religiosität« dem »Massenunterricht«4, in dem die Lehrkraft nicht einem einzelnen Kind oder Jugendlichen sondern einer ganzen Klasse gegenübersteht, und die »gleichberechtigte Dialogkultur ›auf Augenhöhe‹« der für Unterricht konstitutiven pädagogischen Asymmetrie5. Meine Fragestellung bezieht sich angesichts dieser Spannung zwischen 1 Annike Reiß / Petra Freudenberger-Lötz, Didaktik des Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen, in: Bernhard Grümme / Hartmut Lenhard / Manfred Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven in der Religionsdidaktik, Religionspädagogik innovativ Bd. 1, Stuttgart 2012, 133–145; 133. 2 Thomas Schlag, Kinder- und Jugendtheologie, in: Ulrich Kropač / Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Studienbücher Theologie Bd. 25, Stuttgart 2021, 232–238; 236–237. 3 Zwar besteht rechtlich die Möglichkeit der Abmeldung vom konfessionellen Religionsunterricht, erfolgt diese jedoch nicht, gilt in dem Fach der gleiche Partizipationszwang (zur aktiven, regelmäßigen Teilnahme, zur Beantwortung von Fragen und Bearbeitung von Arbeitsaufträgen) wie in den anderen Fächern. 4 Marcelo Caruso, Lernbezogene Menschenhaltung. (Schul-)Unterricht als Kommunikationsform, in: Wolfgang Meseth / Matthias Proske / Frank-Olaf Radtke (Hg.), Unterrichtstheorien in Forschung und Lehre, Bad Heilbrunn 2011, 24–36. 5 Hanna Roose, Das religionspädagogische Leitbild der Kinder- und Jugendtheologie in kontingenzsensibler Perspektive, ZPT 67 (2015), 37–47; 43–44.

Roose Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht

kinder- und jugendtheologischer Programmatik einerseits und den genannten Strukturmomenten von Unterricht andererseits auf die unterrichtliche Alltagspraxis. Sie konkretisiert sich in zwei Fragen: 1. Wie stellt Unterricht in seinen Praktiken einen geschützten – oder auch einen ungeschützten – Raum her? 2. Welche Positionierungen von Lehrkräften und Schülerinnen und Schüler zeigen sich dabei? Den Begriff der Positionierung verstehe ich – im Unterschied zum Begriff der Positionalität – analytisch. Prozesse von Positionierungen und ihren Verschiebungen sind empirisch beschreibbar.6 Im Fachunterricht vollzieht sich die Konstitution des fachlichen Gegenstands in den Adressierungen und ReAdressierungen: Beiträge werden als relevant, irrelevant, falsch oder richtig, weiterführend oder störend markiert.7 Aus religionsunterrichtlicher Perspektive geht es um die Frage, wie sich Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler zum fachlichen Gegenstand positionieren und ihn in Adressierungen konstituieren. Kinder- und Jugendtheologie streben an, dass die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkraft sich im theologischen Gespräch auf Augenhöhe mit »großen Fragen« im Horizont biblischchristlicher Tradition befassen. 2. Empirische Einblicke in alltägliche Unterrichtspraxis

Ich betrachte Unterrichtsszenen aus unterschiedlichen Jahrgangsstufen (Oberstufe, Mittelstufe und Primarstufe). Bei

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den Szenen handelt es sich nicht um best practice Beispiele zur Kinder- und Jugendtheologie, sondern um Einblicke in den schulischen Alltag des evangelischen Religionsunterrichts, die den Blick dafür schärfen können, auf welche Unterrichtspraxis kinder- und jugendtheologische Ansprüche treffen.8 Ich fokussiere dabei klassenöffentliche Unterrichtssequenzen, da theologische Gespräche in der Regel Klassenöffentlichkeit voraussetzen. Zur besseren Vergleichbarkeit der Szenen beziehe ich mich jeweils auf biblischen Unterricht. 2.1 Oberstufe, 11. Jahrgang: »Was hast du über die Figuren und über dich erfahren?« Die Erzählung vom Sündenfall

Schülerinnen und Schüler eines 11. Jahrgangs sollen in Einzelarbeit für sich eine »Erkenntnis« aus der Erzählung vom Sündenfall ziehen. Nachdem sie Standbilder »gespielt« haben, sollen sie in Einzelarbeit schriftlich formulieren, was sie über Adam und Eva und über

6 Vgl. Methodologisch und methodisch rekurriere ich auf die Adressierungsanalyse: vgl. Norbert Ricken / Nadine Rose / Anne Otzen / Nele Kuhlmann, Die Sprachlichkeit der Anerkennung. Theoretische, methodologische und empirische Beiträge zur Erforschung von Anerkennung in schulischen Unterrichtspraktiken. Wiesbaden (i.E.). 7 Vgl. Uwe Hericks, Anerkennung in Fachkulturen, in: Jenny Lüders (Hg.), Fachkulturforschung in der Schule, Opladen 2007, 209–228. 8 Vgl. Hanna Roose, Kindertheologie und schulische Alltagspraxis. Eine Studie zum Verhältnis von kindertheologischen Normen und eingeschliffenen Routinen im Religionsunterricht, Stuttgart 2019, 13–18.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

sich erfahren haben und welche »Erkenntnis« sie aus der biblischen Erzählung für sich ziehen. Anschließend fordert die Lehrerin einzelne Schülerinnen und Schüler dazu auf, ihre Ergebnisse im Plenum vorzulesen.9 177 L: […] Was hast du über die Figuren und über dich erfahren? […] 186 L: […] Und jetzt eure Erkenntnis. (.) Jetzt eure Erkenntnis. Du könntest vorlesen! (1) Dustin, ja hier is jetzt nix mehr mit spielen. (…) Dustin. 187 Dustin: Wir haben drei Erkenntnis- drei Erkenntnisse. Und zwar188 L: Also Folgen. Genau. 189 Dustin: /em/ (??) enthalten oder mit den Konsequenzen leben. [L: Mhm.] /em/ Nicht jedem alles glauben. Und die dritte, die Schuld nicht immer bei den anderen suchen, denn die Wahrheit kommt oft ans Licht. 190 L: Mhm, mhm. Weiter. (.) Torben! Lies mal ganz vor. 191 Torben: Nein. 192 L: Du hast keine Erkenntnis gewonnen? [Torben: (??)] Kannst du v- kannst du die vielleicht formulieren? (5) Hm? 193 Torben: Nein. (leise) 194 L: Aber kannst du dem folgen, was was Dustin [Torben: Ja, schon.] eben grad gesagt hat? Mhm. (1) Joel.

Waren die Schülerinnen und Schüler zunächst in den Rollen von Adam und Eva, geht es jetzt um sie selbst, und zwar individuell (»über dich erfahren«). Diese Selbsterkenntnis wird zunächst in Einzelarbeit formuliert, soll dann aber im Plenum präsentiert werden. Die Äußerung der Lehrkraft markiert die Klassenöffentlichkeit damit als einen geschützten Raum, in dem im Zuge des Partizipationszwangs eingefordert werden kann, dass die Schülerinnen und

Schüler auch ohne den Schutz der indirekten Positionierung als Adam oder Eva und ohne den Schutz der Sozialform der Einzelarbeit ihre Selbsterkenntnisse vorlesen. Die Schüleräußerungen hingegen bringen die Klassenöffentlichkeit als einen ungeschützten Raum hervor, der »Schutzmaßnahmen« erfordert. Diese fallen unterschiedlich aus: Dustin weicht in ein »wir« aus, das sich auf ihn und einzelne Mitschüler bezieht, mit denen er offenbar zusammengearbeitet hat (187). Er formuliert allgemeine ethische Forderungen, ohne ein Subjekt zu benennen (189). Diese Verschiebung vom Individuellen in ein gruppenbezogenes »wir« und weiter in ein allgemeingesellschaftliches »man« bzw. »jeder« schützt davor, den Beitrag individuell zuzurechnen. Er »versteckt« sich im Gruppenbezogenen, Allgemeinen. Was vorher die indirekte Positionierung über die biblischen Figuren geleistet hat, leistet jetzt das »wir« bzw. das »jeder«. Diese Verschiebung wird von der Lehrkraft validiert (190), obwohl es inhaltlich in dem Beitrag nicht um das geht, was Dustin über sich erfahren hat. Der nächste Schüler wird aufgerufen. Torben reagiert auf die Aufforderung, »mal ganz« vorzulesen (190), mit einem »nein« (191). Er verweigert sich

9 Die Sequenz ist entnommen aus: Martina Kumlehn, »Ihr seid Eva – ihr seid Adam – ich bin Gott«: Dramaturgische Performanz und das reflexive Ringen um die Hermeneutik am Beispiel der Paradieserzählung (Gen 3) – Fallanalyse »Richter«, in: Bernhard Dressler / Thomas Klie / Martina Kumlehn, Unterrichtsdramaturgien. Fallstudien zur Performanz religiöser Bildung, Stuttgart, 119–148; 141–142.

Roose Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht

dem Auftrag zur klassenöffentlichen Präsentation seines Ergebnisses. Die Lehrkraft gibt daraufhin nicht an einen anderen Schüler weiter. Sie fragt nach. Die Nachfrage bringt Torbens Weigerung als ein Nicht-Können (und nicht als ein Nicht-Wollen) hervor. Sie unterstellt, dass Torben dem Arbeitsauftrag nachkommen möchte, dies aber nicht kann, weil er keine Erkenntnis für sich gewonnen hat. Torbens Antwort – die so leise erfolgt, dass sie nicht dokumentiert ist – geht offenbar in die Richtung, dass der Schüler sehr wohl etwas erkannt hat. Auf diese Erkenntnis verweist die Anschlussbitte der Lehrkraft (»kannst du die vielleicht formulieren?«). Die Nachfrage verortet das »nein« von Torben wiederum auf der Ebene des Nicht-Könnens, nicht des Nicht-Wollens. Obwohl diese Bitte zurückhaltend formuliert wird (»vielleicht«), sind die anschließende Pause (5) und – auf erneute Nachfrage (»hm?«) – das wiederholte »nein« (193) auch hier keine anerkennbare Reaktion von Torben. Der anschließende Beitrag der Lehrkraft (194) adressiert wiederum die Frage des Könnens und eröffnet gleichzeitig eine »Ausweichmöglichkeit«, die dazu führt, dass Torben zustimmt und der nächste Schüler aufgerufen wird – die unterrichtliche Routine kann weitergehen. Die Ausweichmöglichkeit ist in sich schillernd. Das »folgen« kann entweder ein rein kognitives Nachvollziehen ohne persönliches Einverständnis meinen oder ein Einverständnis mit dem, was Dustin vorgelesen hat. Im ersten Fall wird Torben als Beobachter zweiter Ordnung positioniert, als »sitting on the fence«. Diese Positionierung erfordert keine Präsentation einer eigenen Er-

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kenntnis. Im zweiten Fall wird Dustin in einem »wir« positioniert, in dem er sich »verstecken« kann. Die lehrerseitigen Beiträge markieren die Klassenöffentlichkeit also als einen geschützten Raum. Sie fordern die Schülerinnen und Schüler dazu auf, sich klassenöffentlich individuell zu einer Selbsterkenntnis zu positionieren. Die Weigerung von Torben wird einem Nicht-Können zugeschrieben, für dessen Bearbeitung die Lehrkraft unterstützend zuständig ist. Durch diese Modellierung halten die lehrerseitigen Beiträge an der Markierung der Klassenöffentlichkeit als eines geschützten Raumes fest. Die Lehrkraft positioniert sich als Moderatorin, die individuelle, klassenöffentliche Präsentationen einfordert und die Schülerinnen und Schüler bei (vermeintlichem) Nicht-Können unterstützt. Die schülerseitigen Beiträge markieren die Klassenöffentlichkeit als ungeschützten Raum. Sie weichen aus in ein »wir«, in eine Verweigerung oder in eine Beobachtung zweiter Ordnung. Unterrichtlicher Partizipationszwang zeigt sich in der lehrerseitigen Nicht-Anerkennbarkeit der Verweigerung. Das Ausweichen in ein »wir« und in eine Positionierung als Beobachter zweiter Ordnung werden dagegen als anerkennbar hervorgebracht. Hier zeigt sich eine Verschiebung in der Anerkennbarkeit gegenüber der Formulierung im Arbeitsauftrag. Die Verschiebung ermöglicht den weiteren Unterrichtsfluss, bei dem die unterschiedlichen Markierungen der Klassenöffentlichkeit als geschützter (lehrerseitig) und als ungeschützter (schülerseitig) Raum nebeneinander stehen bleiben.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

2.2 Grundschule, 3. Klasse: »Aber heute passiert das doch gar nicht mehr, dass Gott mit einem spricht?« Die Erzählung vom brennenden Dornbusch

Biblischer Unterricht in der Grundschule zeichnet sich über weite Strecken dadurch aus, dass die Unterrichtspraxis »in« der biblischen Geschichte verbleibt.10 Die Kinder werden in der biblischen Geschichte positioniert und sollen z.B. überlegen, was David oder Goliath denken, als sie sich gegenüberstehen.11 Anders als in der zitierten Sequenz aus dem 11. Jahrgang werden sie anschließend nicht dazu aufgefordert, aus der biblischen Erzählung herauszutreten. Der Beitrag eines Schülers, dass David Gott um Hilfe bittet (David: »Bitte, Gott hilf mir!«), führt nicht zu einem Gespräch darüber, ob bzw. wie Gott uns heute hilft oder ob der betreffende Schüler Gott schon einmal um Hilfe gebeten hat. Die Erzählung wird klassenöffentlich auch nicht auf eine allgemeine moralische Botschaft hin thematisiert, obwohl das in der dokumentierten Stunde eingesetzte Arbeitsblatt das vorsieht. Die Kinder bleiben in der biblischen Geschichte. Selten ist zu beobachten, dass Schülerinnen und Schüler von sich aus die Welt der biblischen Erzählung verlassen. In der folgenden Sequenz zur Erzählung vom brennenden Dornbusch aus einer 3. Klasse ist das der Fall.12 Marie: Ich hab noch eine Frage. Ehm also, aber heute passiert das doch gar nicht mehr, dass Gott mit einem spricht? L: Nein. Mit den meisten Menschen nicht. Aber vielleicht gibt es doch den ein oder anderen, mit dem Gott schon mal gesprochen hat.

Erstaunte und zweifelnde Geräusche aus der Klasse. L: Das ist auch damals in der Zeit, als dies hier passierte, nur ganz, ganz wenigen Menschen passiert. Mose ist einer von denjenigen, mit denen Gott gesprochen hat. Auch dort ist es mit den meisten Menschen nicht passiert. Marie: Hat er denn mit dir schon mal gesprochen? Stimme aus der Klasse: Ja. L: Nein, hat er nicht. Stimme aus der Klasse: Mit mir aber. L: Aber angeblich soll es Menschen geben, ich kann nur sagen, was ich gehört habe, ich hab noch nie mit so einem Menschen gesprochen, mit dem er schon gesprochen hat. Aber wie gesagt, es passiert nur ganz selten.

Die Lehrerin erzählt die Geschichte vom brennenden Dornbusch nach. Marie formuliert eine Frage – genau genommen einen Einwand –, der die Welt der biblischen Geschichte verlässt. Auf diesen Einwand reagiert die Lehrerin. Spontane Reaktionen aus der Klasse werden nicht weiter thematisiert. Die Nachfrage Maries adressiert die Lehrerin als religiöse Zeugin. Die Lehrerin verweigert die Stellungnahme nicht, formuliert sie aber sehr zurückhaltend. Auf spontane Äußerungen aus der Klasse geht sie nicht ein, die Beantwortung von Fragen übernimmt sie selbst, weitere Nachfragen lässt sie nicht zu. 10 Katharina Frank spricht von einer »figuralen Religionsvermittlung« (Schulischer Religionsunterricht. Eine religionswissenschaftlichsoziologische Untersuchung, Stuttgart 2010, 135–136), die sie v.a. in den Grundschuljahrgängen beobachtet hat (213–214). 11 Die betreffende Szene ist dokumentiert in Hanna Roose (wie Anm. 8), 78–79. 12 Die Szene ist ausführlicher analysiert in Hanna Roose (wie Anm. 8), 32–37.

Roose Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht

Vergleicht man diese Gesprächsführung mit derjenigen aus dem Morgenkreis, so stellt man fest, dass sich ähnliche Regelhaftigkeiten dort zeigen, wo Fragen und Themen als (zu) privat für die Klassenöffentlichkeit gerahmt und eingehegt werden (z.B. die Trennung der Eltern). Das heißt: »Dort, wo es um ›große‹ Fragen geht, werden Kinder davor ›geschützt‹, sich selbst im halböffentlichen Raum des Unterrichts positionieren zu müssen.«13 Grundschullehrkräfte markieren die Klassenöffentlichkeit damit tendenziell als ungeschützten Raum, in dem einzelne Schülerinnen und Schüler davor geschützt werden, sich zu privaten und persönlich-religiösen Fragen unmittelbar zu äußern. Biblische Erzählungen bieten einen solchen Schutz, indem sie indirekte, geschützte Positionierungen in der biblischen Welt ermöglichen.

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Grundschülerinnen und -schüler markieren die Klassenöffentlichkeit dagegen weitgehend als geschützten Raum. Sie äußern sich spontan, erzählen von zu Hause, fragen nach. Direkte Positionierungen zu religiösen Fragen werden im Zuge einer figuralen Religionsvermittlung, die nicht aus der biblischen Geschichte heraustritt, jedoch oft gar nicht zugelassen, geschweige denn eingefordert. 2.3 Zwischenfazit

Die beiden Unterrichtsszenen weisen damit auf eine doppelt polare Struktur hin, die die Markierung von Klassenöffentlichkeit als eines (un)geschützten Raumes strukturieren.

Lehrkräfte

SuS

GS

Bringen Klassenöffentlichkeit als ungeschützten Raum hervor, der geschützt werden muss: Bleiben in der biblischen Erzählung. Übernehmen selbst die Beantwortung »großer Fragen«. Rahmen »große Fragen« als (zu) privat.

Bringen Klassenöffentlichkeit als geschützten Raum hervor. Sie äußern sich spontan zu privaten und religiösen Fragen.

Sek II

Bringen Klassenöffentlichkeit als geschützten Raum hervor: Fordern die klassenöffentliche Präsen­ tation individueller »Botschaften« biblischer Texte ein. Deuten Weigerung als Nicht-Können. Unterstützen beim Nicht-Können.

Bringen Klassenöffentlichkeit als ungeschützten Raum hervor: Weichen ins »wir« aus. Verweigern klassenöffentliche religiöse Positionierung. Weichen in Beobachtung 2. Ordnung aus.

Tab. 1: Klassenöffentlichkeit als (un)geschützter Raum

13 Hanna Roose (wie Anm. 8), 174.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Als »geschützte« klassenöffentliche Positionierungen erweisen sich in der unterrichtlichen Praxis Positionierungen »in« der biblischen Erzählung, Positionierungen im »wir« oder im »man« sowie Positionierungen zweiter Ordnung. Als »ungeschützte« Positionierungen zeigen sich individuelle Stellungnahmen zu biblischen Erzählungen in der Klassenöffentlichkeit. Die Verteilung dieser Positionierungen ist jahrgangsspezifisch: Lehrerseitige Aufforderungen zu »ungeschützten« Positionierungen sind in der Grundschule selten. Hier zeigen sich Positionierungen (ausschließlich) »in« der biblischen Erzählung. In den Sekundarstufen sind lehrerseitige Aufforderungen zu »ungeschützten« Positionierungen häufiger zu beobachten. Das Klassengespräch tritt auch aus der biblischen Erzählung heraus. Schülerseitig bringt die Aufforderung zu »ungeschützten« Stellungnahmen »geschützte« Positionierungen im »wir« oder »man« sowie Positionierungen zweiter Ordnung hervor. 2.4 Mittelstufe, 7. Klasse: „Ich glaube nicht an Gott.“

Wie sieht es in der Mittelstufe aus? Hier zeigt sich bei einigen Schülerinnen und Schülern ein Aushandeln und Austesten lehrerseitiger Markierungen und Positionierungen. Betrachten wir dazu eine Szene aus einer 7. Klasse zur Erzählung von der Heilung eines Gelähmten (Lk 5,17–26). Nach einigen Arbeitsphasen zum biblischen Text sollen die Schülerinnen und Schüler anhand der 5-Finger-Methode in Einzelarbeit formulieren, welche »Botschaft« für sie in einer

Heilungserzählung steckt.14 Sie malen ihre Hand auf ein Papier und beschriften die Finger:  »Das hat mir besonders gut an der Bibelgeschichte gefallen.« (Daumen)  »Diese Botschaft steckt für mich in der Bibelgeschichte.« (Zeigefinger)  »Das hat mir nicht so gut gefallen an der Bibelgeschichte.« (Mittelfinger)  »Meine Deutung der Bibelstelle hat sich nach der Bearbeitung der Aufgaben verändert.« (Ringfinger)  »Diese Fragen sind offen geblieben.« (kleiner Finger) In der anschließenden Präsentationsrunde stellt ein Schüler seine Ergebnisse vor: Dennis: ich glaube nicht an Gott, also nichts, (2) äh Zeigefinger (2) gab für mich steckt gar keine Botschaft drin, (2) mir hat das meiste nich gefallen an der Geschichte (.) weil (.) also kein Wunder, meine Deutung hat sich auch nich verändert. L: ok, Dennis: und keine Fragen. L: danke für deine Ehrlichkeit. Dennis: ja.

Die Lehrkraft folgt zunächst ihrer Routine, jeden Beitrag minimal mit einem Nicken, einem zustimmenden »mhm« oder einem »ok« zu evaluieren. Dennis fährt mit einem betonten »und« fort: Er beansprucht, wie die anderen auch, alle Finger vorzustellen. Daraufhin elabo14 Die Szene ist ausführlicher analysiert in Hanna Roose, Norm-Habitus-Spannungen. Das biblische Gespräch in Lehrerfortbildung und evangelischem Religionsunterricht aus der Perspektive der Dokumentarischen Methode, Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 10 (2021), 127–144.

Roose Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht

riert die Lehrerin ihre Evaluation. Der Dank für »Ehrlichkeit« drückt Wertschätzung aus. Diese Wertschätzung gilt aber nicht dem Inhaltsaspekt von Dennis Positionierung. Er wird nicht für seine atheistische Positionierung gelobt, sondern für seine Ehrlichkeit. Ehrlichkeit erfordert Mut – sonst verdient sie nicht gelobt zu werden. Insofern markiert der Kommentar der Lehrkraft Dennis atheistische Positionierung indirekt als eine, deren klassenöffentliche Präsentation im Religionsunterricht Mut erfordert. Sie erfordert Mut, weil sie eigentlich nicht vorgesehen und auch nicht anerkennbar ist. Ein inhaltlicher Anschluss erfolgt nicht, sondern die Lehrerin weicht auf eine andere Ebene aus: Dennis Charakter. Die Szene bewegt sich insgesamt am Rande der Anerkennbarkeit: Die Lehrerin darf von Dennis das Einverständnis im Glauben nicht einfordern, sie muss atheistische Positionierungen inhaltlich akzeptieren. Gleichzeitig markiert ihre Antwort diese Positionierung indirekt als nicht anerkennbar. Dennis Beiträge bewegen sich ebenfalls am Rande der Anerkennbarkeit: Er erfüllt formal den Arbeitsauftrag und schreibt in jeden Finger etwas hinein. Er stellt seine Ergebnisse vor und beharrt darauf, alle Finger vorzustellen. Das abschließende »ja« am Ende der Sequenz mit doppelter Hebung der Stimme lässt ihm das letzte Wort. Die Szene kann als ein Beispiel dafür gelten, wie Grenzen des geschützten Raumes ausgetestet werden. Sie zeigt, dass evangelischer Religionsunterricht zwar atheistische Positionierungen zulassen muss, sie gleichzeitig aber als nicht anschlussfähig hervorbringt. Damit eignen sich atheistische Positionierungen

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zur Provokation, zum Austesten von Grenzen. Es ist bemerkenswert, dass Religionslehrkräfte einhellig angeben, nicht missionieren zu wollen15, der Religionsunterricht jedoch durchaus atheistische Positionierungen inhaltlich als nicht anschlussfähig hervorbringt. Aus jugendtheologischer16 Perspektive wirft die Sequenz die Frage auf, welche Anschlussmöglichkeiten an atheistische Positionierungen sie bereithält. Eine »Theologie für Jugendliche« würde die atheistische Positionierung theologisch überschreiben. Sollte ein jugendtheologisch inspirierter Unterricht also auch nicht-theologische (z.B. humanistische) Modelle einspielen? Oder sollte er Jugendlichen ermöglichen, eine Beobachterposition zweiter Ordnung einzunehmen? 2.5 Zusammenfassung der empirischen Beobachtungen

In keinem der gezeigten Beispiele bringt Unterricht Klassenöffentlichkeit homogen als geschützten Raum hervor. Es zeigen sich vielmehr Brüche, die auf Normverschiebungen und implizite Aushandlungsprozesse hinweisen. Dabei ergibt sich für die Primarstufe einerseits und die Sekundarstufen andererseits sowie für die Lehrkräfte einerseits und die Schülerinnen und Schüler andererseits ein differenziertes Bild. In der Pri-

15 Vgl. den Beitrag von Mirjam Zimmermann in diesem Band. 16 In der Grundschule habe ich bisher keine explizit atheistischen Positionierungen beobachtet.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

marstufe fällt insbesondere auf, dass die Praktiken der Lehrkräfte die Klassenöffentlichkeit tendenziell als ungeschützten Raum markieren, in dem die Thematisierung »großer Fragen« prekär ist. Schutz bieten das Bleiben in der biblischen Erzählung sowie das Einhegen »großer Fragen« durch implizite Gesprächs­regeln, die schülerseitige Nachfragen und Beiträge unterbinden und die Antwort allein der Lehrkraft zuordnen. In der Sekundarstufe II sind es dagegen die Praktiken der Schülerinnen und Schüler, die die Klassenöffentlichkeit als ungeschützten Raum markieren, der Ausweichstrategien erfordert: das Ausweichen ins kollektive »wir«, das Verweigern einer klassenöffentlichen Positionierung sowie den Rückzug auf eine Beobachterposition zweiter Ordnung. In der Sekundarstufe I zeigte sich besonders deutlich, wie Schülerinnen und Schüler Grenzen des geschützten Raumes austesten. Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler bringen eine atheistische Positionierung als nicht anerkennbar und damit als Grenzfall des geschützten Raumes hervor. 3. Fragen an und Impulse für die Kinder- und Jugendtheologie

Die empirischen Beobachtungen legen nahe, dass es gilt, die Klassenöffentlichkeit als geschützten Raum zwischen Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern neu und graduell anders auszuhandeln. Im Bereich der Grundschule stünde es Lehrkräften an, weniger »Scheu« zu haben und »große Fragen« nicht implizit als (zu) private Fragen zu rahmen, die keine Rückfragen zuließen. Sie sollten biblische Erzählungen auch

verlassen und Schülerinnen und Schüler zu direkten religiösweltanschaulichen Positionierungen in der Klassenöffentlichkeit ermutigen. Im Bereich der Sekundarstufen stellt sich die Ausgangslage anders dar. Aus jugendtheologischer Sicht ergibt sich insbesondere die Herausforderung, atheistische Positionierungen und Positionierungen zweiter Ordnung hinsichtlich ihrer jeweiligen Anerkennbarkeit explizit und gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern zu reflektieren. Die Klassenöffentlichkeit zeigt sich hier schülerseitig nicht (immer) als geschützter Raum. Daher ist die Art des Partizipationszwangs im Plenum zu überdenken: Welche Ausweichmöglichkeiten sollen in der Kinder- und Jugendtheologie anerkennbar sein?  Das literarische Gespräch, das dem theologischen in wesentlichen Aspekten ähnlich ist, setzt die Redepflicht explizit aus. Schülerinnen und Schüler dürfen schweigen.17 Diese Möglichkeit zu schweigen offeriert den Schülerinnen und Schülern die Chance, sich einer klassenöffentlichen Positionierung zu entziehen. Gefordert ist eine Positionierung im »geschützten« Format des Lerntagebuchs.  Gerhard Büttner und Oliver Reis schlagen vor, zwischen den individuellen Beiträgen der Schülerinnen und Schüler und theologischen Positionen 17 Vgl. Nele Ohlsen, »Zwischen Stolper- und Meilensteinen«. Probleme und Chancen literarischer Gespräche in der Grundschule, in: Marcus Steinbrenner / Joachim Mayer / Bernhard Rank (Hg.), »Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander.« Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs in Theorie und Praxis, Baltmannsweiler 2011, 337–360.

Roose Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht

aus der biblisch-christlichen Tradition anhand von Modellen zu vermitteln18: »Überhaupt wird durch den Modellcharakter Distanz zur Person ermöglicht, die schützt.«19  Das Ausweichen in ein »wir« schattet die individuelle Subjektorientierung ab, die in der Klassenöffentlichkeit dazu führen kann, dass Schülerinnen und Schüler exponiert werden. Gerhard Büttner hat auf die Notwendigkeit einer »ekklesiologischen Fundierung« der Jugendtheologie hingewiesen20. Empirisch zeigt sich, dass das »wir« Schutz bieten kann. In dem gesehenen Beispiel geht es um ein unterrichtliches »Gruppen-wir«, nicht um ein ekklesiales »wir«. Jugendliche zeigen sich aber als sensibel dafür, dass ein »wir« dem Einzelnen Schutz bieten kann. Diese Sensibilität lässt sich ekklesial ausmünzen, z.B. im Blick auf den Gottesdienst mit seinen Praktiken des gemeinsamen Sprechens des Glaubensbekenntnisses oder des gemeinsamen Singens. Das Ausweichen in eine religiös-weltanschaulich unmarkierte Beobachtung zweiter Ordnung ist deshalb prekär, weil in der Differenz zwischen religiöser Position als Beobachtung erster Ordnung und religiös-weltanschaulich unmarkierter Position als Beobachter zweiter Ordnung die Differenz zwischen konfessionellem und religionskundlichem Unterricht verortet wird.21 In dem Maß, in dem theologische Gespräche Involviertheit verlangen, sind Positionierungen in der Beobachtung zweiter Ordnung (als Reden »über«) ein Störfaktor. Allerdings sehen theologische Gespräche strukturell eine Positionierung als Beobachtung zweiter Ordnung vor, beziehen

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diese jedoch nur auf die Lehrkraft: Sie soll als Moderatorin die Positionen der Schülerinnen und Schüler wahrnehmen, reformulieren, ordnen und aufeinander beziehen.22 Genau diese Position eröffnet sich Torben (Szene 1). Gerade in höheren Klassenstufen können auch Schülerinnen und Schüler streckenweise in dieser Beobachterposition adressiert werden. Theologische Gespräche fordern von der Lehrkraft auch die Positionierung erster Ordnung, also inhaltliche Positionierungen »auf Augenhöhe«. Zu entscheiden ist, ob für Schülerinnen und Schüler dasselbe gilt, oder ob sie sich in theologischen Gesprächen auch ausschließlich in einer Beobachterposition zweiter Ordnung verorten dürfen. Das Ausweichen in atheistische Positionierungen ist in theologischen Ge-

18 Vgl. Gerhard Büttner / Oliver Reis, Modelle als Wege des Theologisierens. Religionsunterricht besser planen und durchführen, Göttingen 2020. 19 Oliver Reis, »Öffnen kann ja jeder!« – von der hohen Kunst des Schließens beim Theologisieren mit Kindern, in: Hanna Roose / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt«. Kindertheologie im Unterricht, Jahrbuch für Kindertheologie Bd. 15, Stuttgart 2016, 44–55; 53. 20 Vgl. Gerhard Büttner, Braucht die Jugendtheologie eine »ekklesiologische« Fundierung?, in: Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 70–78. 21 Vgl. Eva Kenngott, Art. Religionskunde (2017), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Religionskunde.100127, PDF vom 20.09.2018), Abschnitt 1. 22 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007, 41–44.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

sprächen (und im konfessionellen Religionsunterricht insgesamt) deshalb prekär, weil Kinder- und Jugendtheologie keine Anschlussmöglichkeiten bereithält. Das Überschreiben einer atheistischen Positionierung mit einem theologischen Modell wirkt übergriffig. Entweder müssten theologische Gespräche neben einer Theologie für Kinder und Jugendliche immer auch eine (passende) Philosophie für Kinder und Jugendliche parat haben, oder sie müssten schülerseitige Positionierungen in der Beobachtung zweiter Ordnung anerkennen. Schutz gewährt auch die Kopplung von Nachhaltigkeit an die unterricht­

liche Kommunikation, nicht an die Positionierungen der Schülerinnen und Schüler. »›Zufällige‹ Theologien können ein Unterrichtsgespräch durchaus bereichern – gerade weil sie nicht als nachhaltige Positionierungen behandelt werden müssen.«23

23 Hanna Roose, Nachhaltigkeit als Qualitätskriterium in der Kinder- und Jugendtheologie?, in: Hanna Roose / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt«. Kindetheologie im Unterricht, Jahrbuch für Kindertheologie Bd. 15, Stuttgart 2016, 56–61; 61.

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

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Steffi Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

Wie kann Positionalität relational sein, wird doch meistens mit dem Begriff Position etwas Statisches wie ein Standpunkt in Verbindung gebracht, den man eher eigenständig, ganz autonom behaupten muss und dabei womöglich noch in Opposition zu anderen rückt? Interessant scheint besonders die Raummetaphorik zu sein, welche mit dem Positionalitätsbegriff und mit Positionierungsprozessen oft assoziiert wird. So beschreibt Lorenzen den Prozess der Positionierung als »das Zustandekommen bzw. das Einnehmen einer Position. Positionierungen entwickeln sich aus dem Zusammenspiel von Orientierung vermittelnden ›Umgebungen‹ bzw. ›Räumen‹ und sich orientierenden Subjekten.«1 In Anbetracht des cognitive turn in der Linguistik und der daraus resultierenden Idee der konzeptuellen Metapher – nämlich eine Erfahrung, im Sinne einer anderen zu verstehen – ist es angebracht, sich der Positionalität scheinbar unterliegenden Raummetaphorik endlich genauer zu widmen. Daher soll im folgen-den Beitrag die räumlich-konzeptuelle Struktur des Positionalitätsbegriffs im religionsunterrichtlichen Kontext konzeptuell-metaphorisch beleuchtet sowie die Ergebnisse der hermeneutischen Gedankengänge für die Kinder- und Jugendtheologie ertragreich gemacht werden. Top-down wird im Kontext der embodied mind theory sowie der Theorie der

konzeptuellen Metapher und Integration (2.) zunächst über die Sprache allgemein (1.) und dann religionsunterrichtlich spezifisch (3.) gezeigt, dass Positionalität im RU als Raum verstanden wird. Für Letzteres wird ein exemplarischer Auszug aus einem Diskurs Lehrender über Position/ali­­tät im RU herangezogen und konzeptuell-metaphorisch analysiert. Durch den Prozess der konzeptuellen Integration lässt sich weiterhin darauf schließen, dass im religionsunterrichtlichen Kontext nicht einfach nur von einem räumlichen Charakter der Positionalität ausgegangen werden kann, sondern dass Positionalität relational oder in Relation gedacht wird (4.). Diese ggf. überraschende Annahme – denn warum sollte das Sich-Positionieren als ein relationales Ereignis und nicht einfach nur als ein selbstbehauptendes erfahren werden? – wird gerade kinder- und jugendtheologisch bedeutsam, wenn

1 Stefanie Lorenzen (mit Verweis auf Hüttenhoff, 2001, 154f), Art. Positionierung im Religionsunterricht, interreligiös (2021), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi. org/10.23768/wirelex.Positionierung_im_Religionsunterricht_interreligis.200876, PDF vom 03.02.2021). Siehe auch Stefanie Lorenzen, Entscheidung als Zielhorizont des Religionsunterrichts? Religiöse Positionierungsprozesse aus der Perspektive junger Erwachsener, Stuttgart 2020.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Unterrichtsgespräche und Glaubensäußerungen vermehrt im Zentrum des Religionsunterrichts stehen (5.). 1. Eine linguistische Perspektive: Was sagt das Wörterbuch zur Position?

Die typischen Verbindungen, welche der Begriff Position eingeht und die der Duden2 automatisch aus dessen Textsammlung von über vier Milliarden Wortformen aus unterschiedlichen Textsorten generiert, weisen auf den räumlichen und relationalen Charakter von Position hin: Die Kollokationen »eine Position beziehen, vertreten, einnehmen, festigen« sowie »eine führende Position haben« oder »jemanden bzw. etwas in eine Position bringen«3 eröffnen je nach Diskurskontext Assoziationen von Räumlichkeit, Bewegung im Raum, aber auch von Hierarchie (oben-unten-Relation). Schon jetzt wird deutlich: Durch die hier aus dem Duden entnommenen Kollokationen lässt sich vermuten, dass Position/alität4 sowie Positionierungsprozesse einen relationalen Anteil haben, indem sie dazu führen, dass man sich innerhalb eines Positionierungsraumes aufeinander zu oder voneinander weg bewegt. Bezieht man auch noch die Synonyme, die der Duden u.a. auflistet5, als weitere semantische Relationen mit ein, verhärtet sich der Verdacht, dass Position/alität konzeptuell primär auf einen Orientierungspunkt im Raum verweist: Die Synonyme 1. »Einstellung, Haltung, Standpunkt« haben eine leib-räumliche Konnotation6, 2. »Anschauung, Ansicht, Betrachtungsweise, Sicht(weise)« sind räumlich-visuell konnotiert und 3. »Lage, Ort, Stellung, Platz, Standort« kommt

eine rein räumliche, ortsgebundene Bedeutung zu. Allen drei synonymischen Domänen ist gemein, dass sie in ihrer Konzeption auf sensomotorische Erfahrungen mit Räumlichkeit beruhen. Der positionelle Orientierungspunkt innerhalb eines Raumes ist jedoch (bezieht man die oben angeführten Kollokationen in den Diskurs mit ein) dynamisch, er kann sich im Raum bewegen und auch Verbindungen eingehen. Je nach Distanz/ Nähe wäre die Relation der Positionen enger oder ferner – bzw. entfremdeter. Interessant ist auch, dass die Präposition in, welche als typische Kollokation im Duden keine Erwähnung findet, mit ihren entsprechenden Wortformen und 193.870 Tokens7 hochgradig kookkurrent mit dem Konzept Position ist. Dies bekräftigt die Annahme, dass Position/alität semantisch in Verbindung mit Räumlichkeit steht. 2 https://www.duden.de/rechtschreibung/Position, [Zugriff: 04.11.2021]. 3 https://www.duden.de/hilfe/typische-verbindungen, [Zugriff: 04.11.2021]. 4 Für das übergreifende Moment wird die Schreibweise Position/alität verwendet, welche sowohl auf eine temporär eingenommene Position wie auch auf die eigene, beständiger wirkende Positionalität, die eher einer Haltung ähnelt, verweist. Auch wenn davon ausgegangen wird, dass Position/alität nichts Festes sein muss und sich in stetiger Dynamik und Entwicklung aufhält, ist der Positionierungsprozess davon insoweit unterschieden, als dass dieser noch nicht einmal einen temporären Fixpunkt erfährt. Dennoch kann trotzdem gesagt werden, dass jegliche Position/alität immer ein Stück weit auch ein Positionierungsprozess bleibt. 5 https://www.duden.de/synonyme/Position, [Zugriff: 04.11.2021]. 6 Ähnlich der Propriozeption, dem leib-räumlichen Bewusstsein. 7 Deutsches Referenzkorpus (DeReKo) des IDS, 50,6 Milliarden Wörter (Stand 02.02.2021).

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

Blicken wir nun zuerst auf linguistische und kognitionswissenschaftliche Entwicklungen, die für die sprachliche Analyse des Diskurses zwischen Religionslehrenden zu Position/alität im RU (3. und 4.) relevant sind: den erkenntnistheoretischen Prozess des conceptual mapping (in Form der konzeptuellen Metapher und Integration) und des sogenannten embodied realism. 2. Der cognitive turn: einverleibte Wirklichkeit und konzeptuelle Integration als Bedeutungskonstruktion

Die noch nicht lange zurückliegenden Erkenntnisse der Kognitiven Linguistik haben gezeigt, dass Sprache grundlegend metaphorisch ist. In ihrem Hauptwerk Metaphors We Live By8 führten Lakoff und Johnson die Idee ein, dass wir nicht nur metaphorisch reden, sondern wir vor allem metaphorisch denken. Die sogenannte konzeptuelle Metapher beschreibt, wie der Verstand ganz habituell das Eine

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im Sinne eines Anderen versteht,9 z.B.: Unsere Erfahrung mit Argumentationen ist zutiefst davon geprägt, dass wir denken – und sogar danach handeln – eine Argumentation sei eine Art Kampf. Unsere Sprache ist in diesem Fall kein Zufall. »Sie verteidigte ihre Argumente«, »Sie griff an«, »Mit den Argumenten, könnte man sie schlagen« sind sprachliche Manifestationen der dahinter liegenden konzeptuellen Metapher: Argumentationen sind Kämpfe.

8 Vgl. George Lakoff / Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago / London 1980. Weiterführend dann auch George Lakoff / Mark Johnson, Philosophy in the Flesh, New York 1999; Zoltán Kövecses, Metaphor: A Practical Introduction, Oxford 2002. 9 Vgl. George Lakoff / Mark Johnson, Metaphors (wie Anm. 8), 5. 10 Vgl. Barbara Dancygier, Figurativeness, Conceptual Metaphor, and Blending, in: Elena Semino / Zsófia Demjén, The Routledge Handbook of Metaphor and Language, Oxon / New York 2017, https://www.routledgehandbooks. com/doi/10.4324/9781315672953.ch2, 30.

War Argument military conflict

verbal conflict

combat

exchange of utterances

military strategies

discourse strategies

actions: attack, defend

actions: express a view, express an opposite view

participants: at least two enemies

participants: discussants allgned with two views

results: win, lose

results: presenting more/less convincing points

tools: weapons

tool: expressions addressing specific aspects of the dispute

Abb. 1: Konzeptuelle Metapher zu Argumentationen sind Kämpfe10

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Fauconnier und Turner entwickelten in The Way We Think11 die klassische konzeptuelle Metapherntheorie weiter. Während die konzeptuelle Metapher nach Lakoff und Johnson stets einseitig wirkt (vgl. Abb. 1), d.h., das conceptual mapping geschieht immer von einer Quelle zu einem Ziel, stellen Fauconnier und Turner noch viel komplexere Wege heraus, wie der Verstand konzeptuelle Verbindungen eingeht und Bedeutung konstruiert: conceptual blending. Die konzeptuelle Integration ist ein Verstehensprozess, in dem der Verstand zwei bereits bekannte Denkbereiche in einem neuen gemeinsamen mentalen Space vereint.12 Wenn wir eine Verbindung zwischen zwei Bedeutungsfeldern zeichnen, und Input 1 War military conflict combat military strategies

11 Vgl. Gilles Fauconnier / Mark Turner, The Way We Think: Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2002. 12 Vgl. Gilles Fauconnier / Mark Turner (wie Anm. 11), 6. 13 Vgl. Barbara Dancygier (wie Anm. 10), 33.

Input 2 Argument

cross-mapping

actions: attack, defend participants: at least two enemies results: win, lose tools: weapons

s el e

nicht einfach nur eine Sache im Sinne einer anderen verstehen, erlaubt uns dies etwas komplett Neues zu denken: Denn das Aufeinandertreffen zweier mentaler Spaces produziert einen dritten Space, ein neues Bedeutungsfeld, an welchen beide bereits bekannten Konzepte Teile ihrer Struktur abgeben (vgl. Abb. 2). Das sogenannte conceptual mapping geschieht also multi-direktional und nicht einseitig, eben als konzeptuelle Integration.

c ti v

ep

r oje

c t io

verbal conflict exchange of utterances discourse strategies actions: express a view, express an opposite view participants: discussants aligned with two views results: presenting more/less convincing points tools: expressions addressing specific aspects of the dispute

n

s el e

c ti

ro ve p

je c t

io n

The blend Argument understood as War verbal / military conflict exchange of utterances / combat moves discourse / military strategies actions: express a view, express an opposite view / attack, defend participants: discussants aligned with two views / enemies results: presenling more/less convincing points / winning, losing tool: expressions addressing specific aspects of the dispute / weapons Abb. 2: Konzeptuelle Integration zu Argumentationen sind Kämpfe13

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

Die konzeptuelle Metapher und konzeptuelle Integration deuten Verstehensprozesse als Verbindungen, die zwischen verschiedenen Denkbereichen gemacht werden,14 i.e. conceptual mappings. Diese Theorie setzt das Verständnis voraus, dass Wissen einverleibt ist. Der erkenntnistheoretische Prozess beruht auf dem Prinzip des von Lakoff und Johnson betitelten »embodied realism« oder auch »embodied cognition«15, welcher seinen Ursprung u.a. in Merleau-Pontys Leibphänomenologie16 und John Deweys »transactional bodies«17 hat, i.e. der Leib als Vollzugsinstanz eines sinnhaft wahrnehmenden und aktiven ZurWelt-Seins. Die Kognitionswissenschaften haben das Gehirn, den Körper und die Welt wieder zusammengeführt,18 mit dem Ergebnis, dass der Mensch als jemand angesehen wird, der sich mit und durch seine Umwelt entwickelt (transact/interact) und dessen Bedeutungskonstruktion und Wissen in der körperlichen Bewegung in der Welt wurzeln.19 Bedeutung wird gegensätzlich zum Cartesianischen Modell als konzeptuelle Struktur, die durch die Interaktion mit der Umwelt einverleibt wurde, angesehen; diese konzeptuellen Strukturen werden versprachlicht:20 Schon von Geburt an erfahren wir durch unsere sensomotorische Wahrnehmung, was es heißt, sich in Räumen zu befinden und sich in diesen fortzubewegen: das Kind ist im Leib der Mutter und wird ausgetragen, das Baby krabbelt in einem Raum zu einem Ball und rollt diesen Ball an die Wand, das Kind greift nach einem Keks in der Keksdose und steckt sich diesen in den Mund. Diese beispielhaften, immer wiederkehrenden Erfahrungen bilden das mentale Konzept »containment«21, welches schemenhaft als ein Punkt (meistens das wahrgenommene Ich) innerhalb

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einer geschlossenen oder auch teils von außen/innen zugänglichen Umgebung beschrieben werden kann. Diese Erfahrungen mit Räumlichkeit sind zum einen universell, weil davon ausgegangen werden kann, dass alle Lebewesen ähnliche Erfahrungen mit Orientierungspunkten innerhalb einer Begrenzung machen. Zum anderen sind die Erfahrungen individuell, weil jede Person diese subjektiv für sich einverleibt und entsprechend konzeptualisiert, d.h. Bedeutung konstruiert. Conceptual mappings geben uns daher nicht nur eine Einsicht in das Wie-wir-Denken, sondern auch in das Wer-wir-Sind.22 14 Vgl. Gilles Fauconnier / Mark Turner, Rethinking Metaphor, in: Ray Gibbs (Hg.), Cambridge Handbook of Metaphor and Thought, New York 2008, 53–66. 15 Vgl. George Lakoff / Mark Johnson, Philosophy (wie Anm. 8); Gilles Fauconnier / Mark Turner (wie Anm. 11). 16 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnemung, 1945. 17 John Dewey, Experience and Nature, Chicago / London 1925. https://archive.org/details/experienceandnature [Zugriff: 04.11.2021]. 18 Diese Phrase ist dem Titel von Clark entnommen: Andy Clark, Being There: Putting Brain, Body, and World Together Again. Cambridge 1997. 19 Für eine einfache (vor allem deutschsprachige) Definition zum Begriff embodied cognition siehe: Werner Stangl, (2021), Art. Embodied Cognition, in: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, https://lexikon.stangl.eu/14550/ embodied-cognition, [Zugriff: 08.11.2021]. 20 Vgl. hierzu die vier grundlegenden Prinzipien in: Vyvyan Evans / Melanie Green, Cognitive Linguistics. An Introduction, Edinburgh 2006, 156–163. 21 Vgl. Mark Johnson, The Body in the Mind: The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago 1987 sowie Mark Johnson, The Meaning of the Body: Aesthetics of Human Understanding, Chicago 2008. 22 Vgl. Erin Kidd, The Subject of Conceptual Mapping: Theological Anthropology across Brain, Body, and World, in: Open Theology, 4 2018 (1), https://doi.org/10.1515/opth-2018-0009, 118.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Dieser kurze Ausflug zeigt, dass wir nur schwer ein direktes Verständnis von Position/alität haben können und dieses erst durch andere, direkte Erfahrungen wie das der Räumlichkeit konstruieren und dahingehend versprachlichen. Über die nähere Betrachtung der Sprache und das Reden über Positionalität im RU gelangt man also zu den an der Bedeutungskonstruktion beteiligten Konzepten und wie diese konzeptuell mappen. Betrachtet man nun einen Auszug aus einer Kleingruppendiskussion Religionslehrender über Position/alität im RU mit einer conceptual mapping-Brille und analysiert im Diskurskontext die Verben, Präpositionen u.a., die bei der Rede über Position/alität und Positionierung im RU auftauchen, lässt sich eben der vorher schon aus dem Duden eruierte vermutete räumliche Charakter von Position/ alität (neben anderen, die für uns hier in diesem Beitrag leider keine Rolle spielen können) auch hier im religionsunterrichtlichen Diskurskontext qualitativ primär wiederfinden. Darüber hinaus zeigt die Analyse des Diskursausschnittes (3.), dass dem Verständnis der Lehrenden von Position/alität im RU noch eine relationale Komponente zukommt, welche die offensichtliche Raummetaphorik übersteigt (4.). 3. Position und Raum: Wie reden Religionslehrende über Position/alität im RU? 3.1 Zum Textauszug

Der folgende Auszug23 ist Aufzeichnungen einer Regionalkonferenz am 02. März 2020 in Düsseldorf zur Evaluation des

kokoRU in NRW entnommen.24 An den dort durchgeführten Gruppendiskussionen waren Lehrpersonen aller Schulformen beteiligt, die den kokoRU erteilen oder erteilen möchten, sowie Moderatorinnen und Moderatoren, d.h. diejenigen Personen, die für die kokoRU-Schulung von Lehrkräften verantwortlich sind. Die hier verwendeten Auszüge zur Leitfrage »Haben Sie im Unterricht erlebt, dass Schülerinnen oder Schüler in konfessioneller Hinsicht Position bezogen haben?« sind einer Kleingruppendiskussion von Religionslehrenden aus dem Sekundarschulbereich entnommen. Der Auszug ist lediglich ein qualitatives Beispiel um über die Sprache der Religionslehrenden zu zeigen, dass diese Position/alität und Räumlichkeit im religionsunterrichtlichen Kontext konzeptuell integrieren, und erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Durchsicht der gesamten Transkriptionen der Regionalkonferenz hat allerdings ähnliche Schlüsse ergeben. Auch wenn die Frage nach der Positionalität im RU hier spezifischer im Kontext des kokoRU gestellt wurde und auf die Positionalität von Schülerinnen und Schülern verweist, bezieht sich der Diskurs der Kleingruppe auf das Positionbeziehen und auf Erfahrungen mit Positionalität im RU 23 Der gesamte Auszug befindet sich mit hervorgehobenen Metaphernmarkern, i.e. die Wörter, welche das conceptual mapping zweier Erfahrungsbereiche besonders hervorheben, separiert im Anhang. 24 Die Regionalkonferenz und die darin erhobenen qualitativen Daten sind Teil eines größeren Projektes zur Evaluation des kokoRU in NRW unter der Leitung von Mirjam Zimmermann und Ulrich Riegel: https://www.uni-siegen.de/ phil/eval_kokoru_nrw/.

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

allgemein, d.h. auch auf die Lehrperson und den konfessionellen RU. Denn die Teilnehmenden unterrichteten Religion oder tun dies zum Teil noch im klassischen konfessionellen Modell. 3.2 Analyse des Textauszuges

Zusammengefasst lässt sich aus dem Diskurs konzeptuell-metaphorisch ableiten, dass die beteiligten Sprecher ihre konzeptualisierte körperliche Erfahrung mit dem Sein-in sowie mit Bewegung-in Räumen benutzen, um Position/alität und Positionalisierungsprozesse im RU zu verstehen. Die Erfahrung des Sich-ineinem-Raum-Befindens und darin seinen Standpunkt zu finden verknüpft sich konzeptuell mit dem kognitiven Prozess eine Position einzunehmen oder Position zu beziehen: Position/alität ist demnach ein Orientierungspunkt in einem Raum (ggf. auch direkt an Personen gebunden wie z.B. die evangelische oder katholische Religionslehrkraft), zu dem man sich hin oder weg bewegen kann. Sich zu positionieren ist folglich sich im Raum zu bewegen. Die folgenden Schemata versuchen anhand der spezifischen O-Töne zu zeigen, wie differenziert die Wahrnehmung von Räumlichkeit das Konzept der Lehrenden von Position/alität im RU strukturiert. Dabei beginnen wir mit dem einfachsten Schema des Raumes an sich und werden dann komplexer in der Darstellung:  Das Raum-Schema (Abb. 3): Die OTöne »im Unterricht abbildest«, »und euch miteinander in einem Dialog bewährt« verweisen durch die Präpositionen im und in darauf, dass der

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RU und der Dialog von den Lehrpersonen im Sinne eines Raumes selbst verstanden werden, in dem man sich verorten, d.h., in dem man sich positionieren kann, in dem Positionierung geschieht. Sowie man sich in einen Raum begeben kann, so kann man sich in einen Dialog und in den Religionsunterricht begeben.  Raum-Schema mit statischem Orientierungspunkt (Abb. 4): Die O-Töne »wo sind diese Standpunkte verortet?«, »›Und wie ist denn so deine Position?‹«, »guck, dass du gut aufgestellt bist« deuten auf feste Orientierungspunkte in einem Raum hin, d.h., das Positionen innerhalb eines Dialoges bzw. innerhalb des RU fest vorgegeben oder vorab angenommen sein können.  Raum-Schema mit reflexivem Orientierungspunkt (Abb. 5): Dynamischer wird es, betrachtet man die O-Töne »Also die positionieren sich«, »mal konfessionell positionieren«, »christlich positionieren«, »sich in diesem … S09: Zu positionieren.«, welche auf eine orientierende Bewegung innerhalb des Raumes deuten, die dann zu einem Halt kommt, wenn eine Position gefunden wurde.  Raum-Schema mit dynamischem Orientierungspunkt (Abb. 6): Die folgenden O-Töne verweisen durch präpositionale Wendungen wie (hin) ein und (her)aus auf eine dynamische Bewegung zum Orientierungspunkt hin bzw. weg oder des Orientierungspunktes selbst: »Ich beziehe selber auch eine Position«, »dass es Standpunkte gibt, die man beziehen kann«, »wenn ich Positionalität einbringe«, »bringt seine persönliche Expertise

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

ein oder nochmal auch seinen persönlichen Standpunkt«, »Schüler aus ihrer konfessionellen Perspektive heraus argumentieren«, »aus der christlichen Motivation her Position beziehen«. Die Aussagen verweisen auf eine Bewegung, die von außen in den (diskursiven) Raum hineintreten oder aber auch von einem Punkt im inneren des Raumes zu einem anderen Punkt gehen kann, sodass man – je nachdem wo man sich im Raum befindet – eine andere Sicht einnimmt. Dies kann Vielerlei bedeuten: Positionen können

Raum-Schema

Raum-Schema mit statischem Orientierungspunkt

in den Dialog hineingetragen werden (»wenn ich Positionalität einbringe«, »bringt seine persönliche Expertise ein oder nochmal auch seinen persönlichen Standpunkt«), Positionen existieren bereits im Dialog, die man dann einnehmen kann (»Ich beziehe selber auch eine Position«, »dass es Standpunkte gibt, die man beziehen kann«), oder eine Position entsteht innerhalb des Dialoges von innen aus einem selbst heraus (»Schüler aus ihrer konfessionellen Perspektive heraus argumentieren«).

Raum-Schema mit reflexivem Dynamisches Raum-Schema: Bewegung von Orientierungspunkt: Beweaußen nach innen (rechtes Bild) ODER AUCH gung innerhalb des Raumes Bewegung innerhalb eines Raumes (von innen aus einem selbst heraus [linkes Bild])

Abb. 3–6: Raum-Schema zu Position/alität25

Der dynamische Charakter der Raummetaphorik, der besonders im letzten Schema (Abb. 6) über die Sprache hervortritt, bedarf noch einer genaueren Betrachtung. Denn es lässt sich der Gedanke nicht verwehren, dass mit der Bewegung im Raum verstärkt auch eine Beziehungskomponente zum Konzept Position/alität im RU hinzukommt. Didaktisch ist zu fragen, wie diese Beziehungskomponente zustande kommt. Es lässt sich vermuten, dass durch die Bewegung des Orientierungspunktes im Raum, also des sich bewegenden Men-

schen im Raum und dessen Wahrnehmung von Räumlichkeit, eine relationale Komponente generiert wird, die mehr ist als die Relationalität des Raummodells an sich26 und welche das Verständnis der Lehrenden über Position/alität im RU ausmacht. Dieser Vermutung kann anhand der Konzeptuellen Integration nachgegangen werden. 25 Eigene Grafiken 26 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, besonders ihr Konzept der Struktur- und Handlungsdimension des Raumes.

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

4. Konzeptuelle Integration: ein relationaler Charakter der Positionalität

Der Mensch ist ein relationales Wesen, welches immer in Beziehung tritt und steht: man kann sich in einem Raum begegnen (materiell). Denn von klein auf haben wir auch die Erfahrung gemacht, dass Menschen Räume betreten, verlassen und sich darin bewegen können: Durch ihr Platziertsein und des SichPlatzierens treten sie in Relation zum Raum, bringen eine Handlungsdimension mit hinein, die Resonanz schafft.27 Die vorgegebene statische Bezogenheit des Raumes gerät durch die Beeinflussung des handelnden Subjektes in Bewegung. Als Raum wirksam werden die im RU platzierten Positionen dadurch, dass der Mensch diese aktiv zu einem diskursiven Raum verknüpft.28 Dementsprechend können sich Schülerinnen und Schüler sowie Lehrende im Dialog begegnen (diskursiv). Sowie Orientierungspunkte in einem Raum in Beziehung treten können, können im religionsunterrichtlichen Dialog verschiedene Positionen in Beziehung treten (i.e. oppositionell, gemeinschaftlich, unterschiedlich, nebeneinanderstehend, nah, fern). Die Erweiterung der Raummetaphorik ist somit wie folgt anzunehmen: Der Dialog wird von den Lehrenden konzeptuell als ein Begegnungsraum für unterschiedliche Positionen konsitutiert: darin bewegt man sich, darin positioniert man sich. Auf diese Weise generiert das In-Beziehung-Treten innerhalb eines diskursiven Raumes Position/alität, die relational erscheint. Die konzeptuelle Integration zeigt auf, was kognitiv verknüpft wird und wie das Verständnis einer relational-

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räumlich durchwirkten Positionalität bei den Lehrkräften zustande kommt. Als Weiterentwicklung (nicht Aufhebung!) der Theorie der konzeptuellen Metapher geht die konzeptuelle Integration29 davon aus, dass durch das conceptual mapping zwischen zwei (oder auch mehreren) Konzepten tatsächlich etwas Neues entsteht, eine neue konzeptuelle Struktur, die so vorher nicht explizit in den Konzepten gegeben war. In diesem Sinne kommt das eigentliche Verständnis der Metapher als kreativer Prozess zur Geltung, dass durch die Übertragung (hier von Raum und RU auf Position/alität, siehe Abb. 7) etwas Neues geschöpft werde.30 Blickt man nicht nur mit dem einseitig verlaufenden conceptual mapping auf die konzeptuelle Verbindung zwischen Raum und Position, sondern konzeptuell integrativ, lässt sich annehmen, dass zwei bereits bekannte Erfahrungs- und Denkbereiche mit multi-direktionalen Verbindungen an der Bedeutungskonstruktion von Position/alität im RU bei den Religionslehrenden beteiligt sind: Input 1 – der Religionsunterricht als diskursiver Raum (da der Diskurskontext Positi27 Vgl. den Begriff des Spacing, i.e. den Akt des Platzierens bzw. des Platziertseins bei Martina Löw (wie Anm. 26). 28 Auch hier: vgl. den Begriff der Syntheseleistung bei Martina Löw (wie Anm. 26). 29 Vgl. Gilles Fauconnier / Mark Turner (wie Anm. 14); Gilles Fauconnier / Mark Turner (wie Anm. 11). 30 Vgl. auch Erin Kidd (wie Anm. 22), 128: »While our environments shape the most primary elements of meaning-making, we are not blank slates who only passively receive an imprinting from without. The unpredictability of complex blending demonstrates that human meaning-making is not determined, but involves a free creativity.«

80 Input 1: RU

Input 2: Raum

Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

RL SuS Dialog Unterrichtsinhalte Lernarrangements bewegte Handlung

Blended Space: Relationale Position/alität im RU Dialog/Inhalte Begegnungsraum RL/SuS bewegen sich im Raum/sprachliches Handeln dynamische Orientierungspunkte: eintreten/austreten Relationalität

Innen Außen Grenzen Dinge Öffnungen/ Aus-/ Eingänge

Abb. 7: Konzeptuelle Integration als relationale Positionalität31

on/alität im RU thematisiert, scheint dies nur plausibel), sowie Input 2 – allgemeine Erfahrungen mit materieller Räumlichkeit (siehe Abb. 7). Diese zwei mentalen Spaces geben Teile ihrer Struktur an einen neuen dritten Space ab, den ich hier relationale Positionalität im RU nennen möchte. Durch das Zusammentreffen dieser zwei Denkbereiche ist eine neue Konstruktion entstanden, welche in der Form in den beiden Input Spaces so noch nicht präsent war: Die relationale Strukturdimension des Raumes aus Input 2 sowie die bewegte Handlungsdimension und der Dialog aus Input 1 werden u.a. im Blended Space integriert. So entsteht im Blended Space eine – man möchte sagen – erweiterte Relationalität, welche die relationale Struktur- und Handlungs­dimension auf neue Art in sich konstruiert, und welche einen Teil des Verständnisses der Lehrenden von Position/alität im RU ausmacht (in Abb. 7 unterstrichen). Was hierbei im Blended Space noch stärker zum Vorschein kommt, ist, wie

der materielle (RU-)Raum zu einem diskursiven – und zwar zu einem dialogoffenen Raum und damit zu einem Beziehungs- bzw. zu einem Begegnungsraum – wird, in dem Position/alität in Relation geschehen und sich entwickeln kann: Die Religionslehrenden und Schülerinnen und Schüler sind (auch mit ihrer eigenen Position/alität) dynamische Orientierungspunkte im diskursiven Raum, welche diesen betreten und verlassen, in welchem sie sich aufeinander zu und voneinander weg bewegen können, indem sie Positionen einnehmen, suchen, beziehen.32 Bei diesen Prozessen geraten die Beteiligten in Beziehung, sobald sie den diskursiven Raum betreten: die 31 Eigene Grafiken. 32 Vgl. hierzu auch in diesem Band den Beitrag von Anika Loose, bes. Kap. 4, 178ff: Die von ihr entdeckten verschiedenen Arten und Weisen wie sich Kinder in einem theologischen Gespräch – auch immer wieder neu – positionieren, zeichnet den von den RL wahrgenommenen diskursiven Beziehungs-/Begegnungsraum, in welchem Position/alität relational geschieht, gut nach.

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

Raumbezogenheit des Subjektes bringt Relationalität mit ein. Dieses In-BeziehungTreten geschieht nicht nur diskursiv, sondern vor allem auch leiblich. Es scheint beinahe, als werde der materielle Raum (i.e. RU-Raum), den man mit seinem materiellen leiblichen Körper betritt, zu einem dialogoffenen diskursiven Raum, in welchem man sich mit seinem diskursiven Körper bewegt.33 Die Sprache über Position/alität im RU im analysierten Diskurs der Religionslehrenden verweist daher nicht einfach nur auf eine vom Individuum ausgehende diskursive Räumlichkeit, sondern auf einen Wirklichkeitszustand, der über eine entsprechende Leiblichkeit definiert wird. Um Georg Plasger aus diesem Band hier anlehnend aufzunehmen: Man hat nicht Positionalität, man vollzieht Positionalität, es ist ein Positionierungsvollzug.34 Nun mag man einer relational-räumlich gedachten Position/alität einen extremen Relativismus unterstellen, dass plurale Positionen im Raum nebeneinander stehen blieben. Dies muss aber nicht der Fall sein. Wie bereits Schweitzer et al. feststellen, ist die Religionspädagogik mit ihrer konfessionellen Ausrichtung den jeweiligen christlichen Wahrheitsansprüchen unterworfen, sodass der religiöse Pluralismus diese dazu zwingt, innerhalb der im konfessionell-kooperativen, -integrativen und multireligiösen Religionsunterricht verschiedenen zusammentreffenden Wahrheitsansprüche Position zu beziehen.35 In diesem Sinne ist der Religionsunterricht zu einem Raum geworden, in dem sich die Beteiligten während des Unterrichtsgeschehens in einem Spannungsverhältnis religiöser Pluralität, individueller Religiosität sowie weltanschaulicher und säkularer Ansichten wiederfinden. Hanna Roose skizziert

81

in ähnlicher Weise den konfessionellen Religionsunterricht als ein räumliches Spannungsfeld zwischen »entscheidbaren [i.e. Wissens-] und unentscheidbaren [i.e. Glaubens-] Fragen sowie von Überwältigungsverbot und Positionierungsgebot«36, in welchem sich die Lehrperson unterschiedlich positionieren muss. Die Lehrperson und ihre Schülerinnen und Schüler befinden sich in einem relationalen Geflecht, welches die individuelle Positionalität eines jeden in Schwingung versetzt: eine Schwingung, die die eigene Position festigen, revidieren und entwickeln kann.37 5. Kinder- und Jugendtheologische Horizonte einer relationalen Positionalität im RU

Die in sprachlicher Weise so zu Tage tretende Raummetaphorik verleitet in ihrer Dimensionalität dazu, sich mit seiner individuellen (Nicht-)Religiosität in Relation zu den anderen in diesem Raum zu po33 Vgl. Erin Kidd (wie Anm. 22), 129f zum Verhältnis materieller und diskursiver Leiblichkeit, die sich im Kontext der embodied mind Theorie einander bedingen oder sogar kongruent sind. 34 Siehe Punkt 3 mit Verweis auf Karl Barth: »Man ›hat‹ den Glauben nicht«, 47. 35 Vgl. Friedrich Schweitzer / Rudolf Englert / Ulrich Schwab / Hans-Georg Ziebertz, Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Gütersloh/Freiburg 2002. 36 Hanna Roose, Unentscheidbare Fragen zwischen Überwältigungsverbot und Positionierungsgebot. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zur Frage einer »Fachkultur« Religion, in: Evangelische Theologie 6, 2013, 450. 37 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Oliver Reis in diesem Band.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

sitionieren, sich mit den anderen auseinanderzusetzen. Vermutlich – und wie die Äußerungen zeigen – verlässt man die eigene Position niemals ganz: Man verharrt zu einem gewissen Teil in der eigenen Positionalität, kommt aber darüber und von dort aus miteinander ins Gespräch: Man tritt von seiner Position aus in den Dialog. So ist es »eine Positionalität, die nie abgeschlossen und fertig«38, sondern in Bewegung ist: eine Position/alität, die ihre Dynamik dadurch erfährt, dass sie innerhalb eines Raumes in Beziehung zu anderen Positionen steht und tritt. Im Unterschied zu bestehenden Ansätzen schlagen die hier gemachten Betrachtungen einverleibter Sprache über Positionalität im RU eine verstärkt epistemologisch begründete Relationalität vor. Diese erlaubt eine Perspektive auf das Theologisieren, welche an konkrete Wirklichkeitsstrukturen und Wahrheitsansprüche anknüpft: Dem Theologisieren würde so ein relationaler Charakter zu Teil, indem die bewegte Handlung des Von/Für/Mit den Raum und seine Akteure, die ihn konstituieren, in eine relationale Spannung versetzt. Die Raummetaphorik ist nicht die einzige konzeptuell-metaphorische Struktur, die in den Kleingruppendiskussionen diskursanalytisch aufzufinden war39 und die das Konzept der Positionalität von Religionslehrenden strukturiert: (a) »Position verteidigen«, »Position einnehmen«, »Position rechtfertigen«, »jmd. in eine Position zwingen«, »vereinnahmen«. Ein leibliches Verstehen des sich Positionierens im RU im Sinne einer kämpferischen Auseinandersetzung (wie eben auch die bekannte konzeptuelle Metapher von Lakoff/Johnson Argument is War) hebt Abgrenzung und distanzschaffendes Verhal-

ten im diskursiven Raum hervor. Zweifel und Kontingenzerfahrungen werden aber vielleicht gerade durch dieses kämpferische/oppositionelle Verständnis von Position/alität – was eben nicht weniger relational sein muss! – ermöglicht. (b) »eine klare Positionierung ist schon wichtig«; »dass die Lehrkräfte sich bewusst und transparent konfessionell positionieren«; »durch die fehlende Transparenz über die Position der Lehrkraft, ist mir die Gefahr der Vereinnahmung zu groß«. Das Verständnis der Lehrpersonen einer Position/alität, die im RU transparent und sichtbar ist, relativiert den oft assoziierten überwältigenden Gehalt von Position/alität (vgl. Beutelsbacher Konsens, Überwältigungsverbot), im Sinne: Solange Positionen sichtbar, offen und transparent sind, kann keine Überwältigung stattfinden. Wenn auch diese konzeptuell-metaphorischen Strukturen Teil des Verstehens von Position/alität im RU sind, könnte das Verständnis und die Erfahrung von Positionalität in Relation nicht so gemeinschaftlich sein, wie man durch die strukturgebende Raummetaphorik allein annehmen mag. Denn an sich 38 Religionspädagogisches Institut der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Verschiedenheit achten – Gemeinschaft stärken. Dokumentation eines dialogischen Unterrichtsprojekts aus der Theodor-HeussBerufsschule in Offenbach, Marburg 2017, 7. 39 Vgl. Steffi Fabricius / Ulrich Riegel / Mirjam Zimmermann / Benedict Totsche, Between Fight and Theatrical Performance: Conceptual Metaphors of Positionality in Communication about Cooperative Religious Education in Germany, in: Religious Education. The official journal of the Religious Education Association, 2022, https://doi.org/10.1080/00344087.20 22.2070375.

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

scheint die Raummetapher, wie sie auf das Verständnis von Position/alität im RU mit ihrer Relationalität wirkt, erst einmal neutral, ist vielleicht eben gerade durch die Beziehungskomponente sogar eher positiv konnotiert. Dennoch kann sogar das »Position beziehen« je nach (Diskurs-) Kontext schon einen strategischen oder auch oppositionellen Charakter haben. Wenn die Kinder- und Jugendtheologie eine gemeinschaftliche Atmosphäre für gelingendes Theologisieren voraussetzt, wie ist das mit einem auch kämpferischen/ oppositionellen Verstehen von religionsunterrichtlicher Position/alität möglich? Wie oben bereits erwähnt, muss dieser Aspekt nicht weniger relational im positiven Sinne sein. Denn besonders das Herausfordern anderer Position/alitäten von seinem festen Standpunkt aus bietet Chancen zur Verteidigung und Kräftigung der Position/alität. Position/alität wird durch die Konfrontation entwickelt und im besten Fall wird der breite Relativismus des »Anything goes!« – um die wohlwollende sichere Atmosphäre im Unterrichtsraum zu wahren – abgeflacht. Wie auch Oliver Reis in diesem Band beschreibt, kann positionellem Relativismus besonders durch positionelle Ambivalenzen, Ambiguität (»Ambiguität der Sache und die Ambiguität der Positionierung im sozialen Raum«40) und mit notwendiger Verunsicherung entgegengewirkt werden (vgl. parallel dazu auch das Kontroversitätsgebot im Beutelsbacher Konsens). Für die Kinder- und Jugendtheologie hieße das, dass die implizite Vorannahme einer sicheren, wohlwollenden Atmosphäre und ihre Bedeutung noch einmal überdacht werden müsse. Verlangt nicht gerade ein im schulischen und, spezifischer noch, religionsunterrichtlichen

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Kontext politisch-korrekter positioneller Einheitsbrei (alla »Ich muss das jetzt so sagen, ich muss meine Position anpassen, weil wir sind im Religionsunterricht und ich möchte eine gute Note«) von der Religionslehrperson, dass diese selbst kontrovers Position bezieht und ggf. sogar die Schülerinnen und Schüler in abweichende Positionen zwingt, sodass diese tatsächlich ihre Positionalität ausbilden können?41 Eine sichere Atmosphäre des Theologisierens mag sich doch wohl nicht allein dadurch auszeichnen, dass alles gesagt bzw. dass jede Position bezogen werden kann, sondern gerade dadurch, dass sie tatsächlich voll und ganz im religionsunterrichtlichen Kontext eingenommen werden darf! Die Gefahr der Vereinnahmung, die manche Religionslehrende durch nicht klare transparente Positionen im RU befürchten, wäre dann vielleicht wirklich eine Position/alität in Relation, die durch versteckte Übergriffigkeit fehlschlägt. Sichtbarkeit und Transparenz von Position/alität bringen Authentizität in das Konzept hinein. Wenn auch zugleich mit Recht bezweifelt werden muss, dass die Position/alität der Religionslehrperson bzw. alle Positionen im RU wirklich immer sichtbar wären. Zum einen kann ich mir nicht darüber bewusst – »im Klaren« – sein, dass oder welche Position/alität ich als Religionslehrperson sichtbar nach außen trage – und die Position/alität, die ich meine nach außen zu tragen, ist vielleicht nicht die gleiche, die von außen gesehen bzw. wahrgenommen wird. Sichtbarkeit und Transparenz von Positionalität hat 40 In diesem Band, Kap. 3, 52–56, und vgl. bes. auch Kap. 4, 56f. 41 Ähnlich dem Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses.

84

Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

dann auch immer etwas mit innerer und äußerer Wahrnehmung zu tun. Und auch hier spielt die grundlegende relationale Raummetaphorik von Position/alität eine Rolle: nämlich im Sinne von Perspektivität (siehe oben Punkt 1 zu den visuellen Synonymen). Je nachdem wie mein Standpunkt ist, sehe ich auch die anderen Positionen, nehme diese entsprechend wahr. Beziehe ich selbst eine andere Position, verschiebt sich auch meine Sichtweise auf die Positionen im Raum. Dieser Positionswechsel geht vielleicht nicht nur mit einer Veränderung der Sichtbarkeit und -weise einher, sondern auch mit einer Veränderung meiner Einstellung gegenüber den Positionen: vielleicht wird sie oppositioneller, kontroverser. Spannend ist es nach diesen Überlegungen weiter zu fragen: Sind die konzeptuell-metaphorischen Strukturen, i.e. Raum, Kampf, Sichtbarkeit, gleichzeitig oder unterschiedlich aktiv? In welchen Unterrichtssituationen des Theologisierens käme welches conceptual mapping stärker zum Tragen? Vielleicht wäre ein relational-räumliches Verständnis der Position/alität im RU nicht einfach nur ein Verstärker des extremen Relativismus, sondern tatsächliche Offenheit durch ernsthaftes In-Beziehung-Treten und in-Beziehung Sein, eben weil das Verständnis von Position/alität auch konzeptuell-metaphorische Strukturen von Kampf und Un-/Sichtbarkeit innehat. Anhang (Gruppendiskussion Sekundarstufe, Pos. 581–596) S09: Ich sage mal, eine zweite Frage, die sich gerade darauf bezog: Haben Sie im Unter-

richt erlebt, dass Schülerinnen oder Schüler in konfessioneller Hinsicht Position bezogen haben? Wie waren die2Reaktionen der anderen in der Lerngruppe?42 Das drückt ja schon aus, wie also jetzt das Setting hier ist oder wie das Verständnis der Erheber, sage ich jetzt mal, hier von dem Unterricht ist, ne? Dass wirklich halt Schüler aus ihrer konfessionellen Perspektive heraus argumentieren. Aber/ S08: Ich habe es definitiv nicht erlebt. (Zustimmung) S09: Das habe ich bisher so noch nicht erlebt. Also/ S08: Also ich kann mich erinnern an eine Stunde in der 12 oder 13 oder so, wo auch evangelische Schülerinnen und Schüler drin waren. Und dann habe ich irgendwann gedacht, du musst auch mal was für die evangelischen Schülerinnen und Schüler tun und mal Texte von evangelischen Theologen lesen oder so. Und dann habe ich irgendwie gefragt hinterher: »Und wie ist denn so deine Position?« Und das war völlig egal. Also ob die nun evangelisch oder nicht evangelisch war, also das war/ für die war wahrscheinlich die Position interessant. Und nicht, ob das nun ein evangelischer oder ein katholischer Theologe war. S05: Also ich unterrichte ja selbst nicht, aber so bei Unterrichtsbesuchen erlebe ich diese Sache zwischen evangelisch, katholisch nicht so sehr. Aber was ich eben eher so von evangelischer Seite, weil ich da im Ostwestfälischen eher so eine Majorität von Evangelischen habe, ist dann die positionelle Sache von Evangelisch-Freikirchlichen, Mennoniten, Baptisten und so weiter. Also entweder sitzen die dann schweigend da mit Kopf runter, wenn ir-

42 Die Leitfrage wird in die Analyse nicht miteinbezogen, da diese nicht dem Diskurs der Lehrenden ursprünglich entsprang, sondern von den Erhebenden vorgegeben wurde.

Fabricius Relationale Positionalität als Zielperspektive (des Theologisierens) im Religionsunterricht?

gendwas kommt, oder eben umgekehrt mutig und sagen: »So und so«, und zitieren die passende Bibelstelle dazu. Also die positionieren sich. Und dann denke ich manchmal: »Oh je.« Nein, nicht »Oh je«, sondern: »Wäre schön, wenn ihr anderen Evangelischen jetzt auch mal den Mund aufmacht und euch miteinander in einem Dialog bewährt und jetzt nicht einfach nur denkt: Ach, die schon wieder«, ne? S02: Also ich bin manchmal schon froh, wenn sie sich nicht mal konfessionell positionieren, sondern grundsätzlich christlich positionieren. Also wenn es um die Entscheidung da des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Sterbehilfe geht, da habe ich bei meinen Zwölfern ganz wenige, die aus der christlichen Motivation her Position beziehen. Die meisten sagen: »Nein, alles in Ordnung, kein Problem. So soll es sein. Selbstbestimmung siegt.« Ja. Da brauche ich konfessionell nicht zu differenzieren. S07: Ich meine, letztlich, wenn ich Positionalität einbringe, nehmen wir jetzt mal auf ein Thema, wo Unterschiede und Weltanschauung krasser auseinandergehen bei so einem Thema, meinetwegen Sterbehilfe. Was mache ich? Im Sinne einer Wertekommunikation bringe ich unterschiedliche Positionen und deren Begründung zur Sprache. Was spricht dafür? Das. Oder so. Und dann das stelle ich zur Diskussion, überlege mir natürlich vorher auch, was ist meine eigene Grundlage, was ist meine Position? Was ist auch meine christliche Position? Und wie bringe ich was argumentativ zur Sprache? Und mache das natürlich auch letztlich von der Anlage des Lernprozesses her erstmal offen, dass Schüler zu einem eigenständigen unabhängigen Urteil kommen können. Unabhängig davon, dass ich natürlich meine Position darstelle und dann damit mehr oder weniger auch plausibel bin. S09: Sehe ich auch so.

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S07: Jetzt mal ganz stumpf gemünzt, warum soll das jetzt da ganz anders sein? So. Ne? Ich lege unterschiedliche Verständnisse dar, wenn es darum geht, gemeinsam Eucharistie oder Abendmahl zu feiern. Ich beziehe selber auch eine Position. Ich lege nochmal unterschiedliche Theologien dar, also altersstufenangemessen, ist natürlich klar. Und lasse Schüler da draufgucken. Und im Idealfall, das ist ja die Idee vom KoKoRU, kommt nochmal ein zweiter Kollege dazu und macht das in ähnlicher Weise nochmal, bringt seine persönliche Expertise ein oder nochmal auch seinen persönlichen Standpunkt, und Schülerinnen und Schüler sind angehalten, sich in diesem … S09: Zu positionieren. S07: … Angebot mit den Argumenten auseinanderzusetzen und werden dann sicherlich von sich aus auch eine oder andere Position als plausibler oder authentischer oder/ S01: Das wäre dann aber eben konfessorische Kompetenz und nicht konfessionelle Kompetenz. S07: Ja. S01: Also ich glaube, dass auch das tatsächlich das wichtigere Ziel im Moment ist. Wir leben in Zeiten, in denen so ein anything goes ist. Und dann ist es mal wichtig, dass man denen überhaupt beibringt, dass es Standpunkte gibt, die man beziehen kann. Und dann kann man schauen, wo sind diese Standpunkte verortet? S08: Und wie kann man sie begründen und wie haltbar oder wie gut ist das Fundament, auf dem sie stehen? S07: […] Das ist für mich unterm Strich höchstens nochmal ein Hinweis in Richtung: Erweitere nochmal dein Sachwissen, guck, dass du gut aufgestellt bist und eben auch eine entsprechende Vielfalt im Unterricht abbildest. Also ich sehe da nicht so die ganz große Problematik in der Didaktik dadrin. (Längere Pause)

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Gerhard Büttner / Friedhelm Kraft Positionierungen der Kindertheologie

1. Fragestellung

Jede neue religionspädagogische Konzeption entspringt dem Empfinden des Ungenügens am Status Quo. Es ergibt sich dadurch die Notwendigkeit der Abgrenzung durch die Profilierung des je Eigenen. Erweist sich eine Konzeption als erfolgreich, dann besteht die Gefahr der Verwässerung, weil exkludierte Praktiken sich als Varianten des erfolgreichen Konzepts verstehen möchten. Dies zwingt dann zu neuen Justierungen. Nach 20 Jahren Kindertheologie erscheint es uns sinnvoll, über die Positionierungen dieses Konzepts nachzudenken. 2. Zur Situierung der Kindertheologie im religionspädagogischen Diskurs

Das Projekt Kindertheologie entwickelte sich im Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende. Um zu zeigen, wogegen es sich in Stellung brachte, muss man einen größeren Horizont aufspannen. Bis zum Jahr 1970, das eine Art Wasserscheide darstellt, war die Evangelische Unterweisung1 und ihr katholisches Äquivalent für die Religionspädagogik bestimmend. Es ging dabei – verkürzt gesagt – um eine angemessene Präsentation biblischer Geschichten für Kinder. Das Programm war auf die Schüler und Schülerinnen der

Volksschule gemünzt. D.h., dass die Religionspädagogik für Gymnasialschüler und -schülerinnen hier eher im Hintergrund stand. Diese Sichtweise ist nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in den Nachkriegsjahrzehnten das Gros der Schüler und Schülerinnen die (in der Regel achtjährige) Volksschule besuchten. Dazu kommt – und das ist für unser Thema wichtig – eine weitere Beobachtung. Wenn wir das damals spätere Erreichen des Pubertätsalters in Rechnung stellen, handelt es sich bei den Adressaten der Evangelischen Unterweisung noch um Kinder. Die Pubertät der Abschlussklassen wurde z.T. an Bedeutung überlagert durch den bevorstehenden Berufseintritt. So gesehen war diese Konzeption – freilich auf ihre Art – eine »Theologie für Kinder«. Angesichts dieser Voraussetzungen werden zwei maßgebliche Veränderungen relevant: die Akzelleration der psycho-sexuellen Entwicklung und die Zunahme der Übertritte auf weiterführende Schulen veränderten zwangsläufig die Blickrichtung. Die Reformen um das Jahr 1970 herum wurden vielfach angestoßen von Schülern und Schülerinnen des Gymnasiums – von Pubertierenden und Adoleszenten. Das seitdem letztlich 1 Vgl. Gerhard Büttner (Hg.), Die Praxis der Evangelischen Unterweisung – neue Zugänge zu einem ›alten‹ Konzept, Jena 2004.

Büttner / Kraft Positionierungen der Kindertheologie

bestimmende Paradigma des »Problemorientierten Religionsunterrichts«2 ist geprägt von den Fragestellungen dieser Altersgruppe. Dies schlägt sich in den Themen der Lehrpläne und der religionspädagogischen Zeitschriften nieder. Es sind Problemstellungen der jugendlichen Lebenswelt wie Sexualität oder Drogen oder aus dem öffentlichen Diskurs wie Frieden oder die Klimakrise. Die Perspektive der Grundschüler und -schülerinnen taucht dabei – wenn überhaupt – nur am Rande auf. Im Religionsunterricht der Grundschule hält sich die Praxis der Evangelischen Unterweisung noch eine geraume Weile, faktisch aber unthematisiert. Das erklärt sich daraus, dass diese Praxis offensichtlich nach wie vor als kindgemäß empfunden wurde, aber theologisch und religionspädagogisch als unangemessen galt. Die biblische Exegese postulierte ›Richtigkeiten‹, die mit dem kindlichen Zugang zur Bibel kaum kompatibel waren – für das AT etwa eine Historisierung in einem Alter, in der aus gutem Grund noch kein Geschichtsunterricht erteilt wird. Mit diesen Ausführungen wird klar, warum die Rezeption entwicklungspsychologischer Stu-dien die Differenzen sichtbar machen sollten, die zur Konzeptionierung einer Kindertheologie führen sollten.3 3. Die sich widersprechenden Konsequenzen der Piaget-Rezeption

Das Interesse an der Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen führte zu einer vermehrten Rezeption sozialwissenschaftlicher Studien, darunter auch der kognitivistischen Entwicklungspsychologie Jean Piagets.4 Dieser hatte gezeigt,

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dass Kinder in einer spezifisch anderen Weise denken, weil sie andere Schemata benutzen als Jugendliche und Erwachsene. Seine Studien zum Weltbild und zur moralischen Entwicklung waren demnach von besonderer Bedeutung für den Religionsunterricht. Doch besonders wichtig waren die Studien von Ronald Goldman. In einer empirischen Studie konnte er zeigen, dass Kinder die biblischen Geschichten mehr oder weniger wörtlich verstehen und diese so in ihr Weltbild assimilieren.5 Diese Erkenntnis ist für Kenner des »Kinderglaubens« erst einmal nicht überraschend. Doch im Lichte moderner Theologie weckte das die Frage, ob ein Religionsunterricht, der sich auf dieses Niveau einlässt, nicht einem fundamentalistischen Denken Vorschub leistet bzw. eine Glaubensvorstellung stützt, die im Jugendalter zwangsläufig zu Krisen führen muss. Konsequenterweise fordert Goldman in einem späteren Buch, dass man den Religionsunterricht der Grundschule möglichst von solchen Stoffen freihalten solle, die in diesem Sinne Anlass zu Missverständnissen gäben6 – und das betraf den Großteil des biblischen Materials (z.B. 2 Vgl. Thorsten Knauth, Problemorientierter Religionsunterricht – eine kritische Rekonstruktion, Göttingen 2003. 3 Vgl. Klaus Wegenast, Die empirische Wendung in der Religionspädagogik, in: ders., Glaube – Schule – Wirklichkeit. Beiträge zur Theorie und Praxis des Religionsunterrichts, Gütersloh 1970, 41–58. 4 Vgl. Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes, vollst. üa. Aufl. Stuttgart 2015. 5 Vgl. Ronald Goldman, Religious Thinking from Childhood to Adolescence, London 1968. 6 Vgl. Ronald Goldman, Vorfelder des Glaubens – kindgemäße religiöse Unterweisung, Neukirchen-Vluyn 1972.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Jesu Wundergeschichten). Damit war eine Begründung für die Ablehnung der Evangelischen Unterweisung gegeben und gleichzeitig der Blick der »erwachsenen« Perspektive im Sinne moderner Theologie kanonisiert. Gewissermaßen als Gegenbuch lässt sich Anton A. Buchers Studie zum Gleichnisverstehen bei Kindern und Jugendlichen verstehen. Bucher untersucht – ähnlich wie Goldman –, wie Kinder und Jugendliche neutestamentliche Gleichnisse verstehen. Maßstab ist auch für ihn die Interpretation im Sinne der exegetischen Wissenschaft. Nicht überraschend entsprechen die Deutungen der Kinder und auch die vieler Jugendlicher diesen Vorgaben nicht. Im Sinne Goldmans müsste Bucher demnach bei vielen Gleichnissen von einem unterrichtlichen Einsatz abraten. Doch Bucher interessiert sich für die »falschen« Antworten der Kinder, wenn diese etwa im Gleichnis vom verlorenen Schaf nur eine »Tiergeschichte« sehen.7 Für Anton Bucher ist das kindliche Verstehen biblischer Geschichten eine legitime Variante. In einem späteren Aufsatz macht er sich explizit für das naive Verstehen der Kinder stark und verteidigt es gegen den Zwang, diese Sichtweise möglichst schnell zu überwinden.8 Es ist von daher durchaus folgerichtig, dass Bucher zu einem der Protagonisten der Kindertheologie wird. 4. Der Hegemonialanspruch der Sekundarstufenperspektive – das Beispiel der Symboldidaktik

Es war eines der vornehmsten Ziele des problemorientierten Ansatzes, möglichst früh und konsequent die Stufe naiver

kindlicher Religiosität zu überwinden. Zu Beginn der 80er Jahre entwickelte Hubertus Halbfas aus seiner Kritik dieses Programms ein eigenes Konzept unter dem Stichwort »Symboldidaktik«.9 Halbfas geht davon aus, dass die Annahme unzutreffend sei, man müsse im Religionsunterricht vorhandene Religiosität nur reflexiv überformen. Er möchte dagegen den Kindern erst einmal Erfahrungen ermöglichen, die dann mit einer religiösen Semantik codiert werden können. Trotz einiger Eigenwilligkeiten fand das Programm in der Praxis breite Zustimmung. Doch ein Großteil der religionspädagogischen Diskussion fand zwar das Konzept einer »Symboldidaktik« attraktiv, aber in der Halbfasschen Version nicht kritisch genug. So entwarf etwa Peter Biehl eine solche kritische Version – allerdings anhand von Beispielen aus der Sekundarstufe.10 Uns scheint diese Entwicklung paradigmatisch, weil auch hier ein Konzept inhaltlich begründet wird – unter Invisibilisierung der entwicklungspsychologischen Voraussetzungen. Rainer Oberthür war einer der wenigen, der explizit die Passung und Leistungsfähigkeit von Halbfas‹ Ansatz

7 Vgl. Anton A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen – strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln, Freiburg/CH 1990. 8 Vgl. Anton A. Bucher, Wenn wir immer tiefer graben, kommt vielleicht die Hölle. Plädoyer für die Erste Naivität, in: KatBl 114 (1989), 654–662. 9 Vgl. Hubertus Halbfas, Das dritte Auge – religionspädagogische Anstöße, Düsseldorf 5. Aufl. 1992. 10 Vgl. Gerhard Büttner, Zwischen Halbfas und Biehl. Diskussionsbeiträge zur Symboldidaktik, in: EvErz 46 (1994), 56–64.

Büttner / Kraft Positionierungen der Kindertheologie

herausstrich.11 Und es ist wohl kein Zufall, dass dieser – nicht zuletzt in Weiterführung dieser Gedanken – das bis heute überzeugende Werk vorlegte, das man als Manifest einer Kindertheologie ansehen kann.12

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in Bezug auf metakommunikative Aussagen, auch noch für die Sekundarstufe gelten. Von diesen Voraussetzungen her ist es dann nicht weiter überraschend, dass die ersten programmatischen Aussagen in Richtung Kindertheologie von der Entwicklungspsychologie und der Kinderphilosophie angeregt waren.

5. Der Aufbruch der Kindertheologie in den 90ern

Von der modernen Theologie konnte die Religionspädagogik kaum Impulse erhalten für ein Denken vom Kinde aus. Doch inzwischen kamen viele Impulse für das schulische Lernen vor allem von Vertreterinnen und Vertretern der Reformpädagogik, besonders aus der Tradition Maria Montessoris.13 Impulse wie Stilleübungen und freie Arbeit fanden allmählich auch Aufnahme außerhalb der Grundschule. Die Ausweitung des Ethikunterrichts auf die Grundschulen, ließ in der Philosophiedidaktik spannende Ideen zum Philosophieren mit Kindern entstehen.14 Diese zeigten, dass die ›naiven‹ Grundschulkinder durchaus in der Lage waren, über die ›Großen Fragen‹ nachzudenken, die ihnen der Religionsunterricht nicht zutraute.15 Die Piaget-Nachfolger Kohlberg, Fowler und Oser hatten zudem plausibel gemacht, dass es kaum denkbar ist, bestimmte Vorstellungen von Gott bis Gerechtigkeit zu denken unter Absehung von kognitiven Niveaus. Wenn aber ein Kind diese Begriffe zwangsläufig anders denkt als Jugendliche oder gar Erwachsene, dann muss auf jeder Altersstufe bedacht werden, was eine bestimmte Aussage bedeuten kann und soll. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis dämmerte dem Didaktiker, dass diese Unterscheidungen etwa

6. Die Entdeckung der Theologie der Vorschulkinder

Mit der einsetzenden Rezeption der Theorien der Glaubensentwicklung bzw. des Religiösen Urteils von James Fowler bzw. Fritz Oser in den 80ziger Jahren in Deutschland wurde für die Religionspädagogik klar, dass religiöse Inhalte zwangsläufig im Plural erscheinen müssen. Zudem enthielten die religionsbezogenen Theorien im Gegensatz zu Kohlberg differenzierte Aussagen zu jüngeren Kindern. Das machte erst richtig deutlich, dass die deutschsprachige

11 Vgl. Rainer Oberthür, Sehen lernen. Unterricht mit Bildern von Relindis Agethen aus dem Grundschulwerk von Hubertus Halbfas, Essen 1992. 12 Vgl. Rainer Oberthür, Kinder und die großen Fragen – ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 1995. 13 Vgl. Horst Klaus Berg, Montessori für Religionspädagogen – Glauben erfahren mit Hand, Kopf und Herz, Stuttgart 1994; Tanja Pütz, Maria Montessoris Pädagogik als religiöse Erziehung – Polarisierung der Aufmerksamkeit und Meditation im Vergleich, Münster 2006. 14 Vgl. Stephan Engelhart, Perspektiven der Kinderphilosophie, Heinsberg 1997. 15 Vgl. Gerhard Büttner, Die khindlen haben so feine gedanken de deo [über Gott] (Martin Luther), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie, Stuttgart 2021, 13–27.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Religionspädagogik kaum Interesse für das religiöse Wissen von Vorschulkindern entwickelt hatte.16 Das zeigt sich ironischerweise gerade an dem ambitionierten Versuch von Christoph Scheilke und Friedrich Schweitzer, eine entsprechende Arbeitshilfe für Erzieherinnen und Erzieher bereit zu stellen.17 Es dominiert ein moralisches Programm im Sinne einer progressiven Pädagogik – mit sehr dünner empirischer Fundierung. Wer willens war, sich an der Fülle empirischer Studien aus der englischsprachigen Psychologie zu orientieren, konnte dort kindertheologisch relevante Aussagen zur Lebenswelt der Vorschulkinder finden. Es war von daher naheliegend, diese Altersstufe bei der Entwicklung einer Kindertheologie von Anfang an mit zu berücksichtigen. Und in der Tat sind in diesem Bereich weiterführende Qualifikationsarbeiten entstanden, die empirisch fundiert, ein kindertheologisches Profil dieser Altersstufe erlernen lassen.18 7. Kindertheologie im Zeichen des »Perspektivenwechsels«

Der Ruf nach einer »empirischen Wende« (Klaus Wegenast) und die Wahrnehmung von Krisenerscheinungen im Religionsunterricht haben seit den 70er Jahren in der Religionspädagogik eine lange Tradition. Wie auch immer die Krise des Religionsunterrichts wahrgenommen wurde, mit der Erhebung des »Ist-Zustandes« sollten Perspektiven von Veränderungen aufgezeigt werden. In der evangelischen Religionspädagogik ist insbesondere die auf der Synode der EKD im Jahre 1994 erhobene Forderung »von den Kindern her zu den-

ken« und »die eigene Sicht der Kinder von Leben und Welt« neu zu würdigen unter dem Stichwort »Theologisieren mit Kindern« aufgenommen und weitergeführt worden. Insofern hat der oft zitierte »Perspektivenwechsel« Impulse für einen Richtungswechsel in der religionspädagogischen Arbeit mit Kin-dern freigesetzt, die sich auch auf das Feld der empirischen religionspädagogischen Forschung ausgewirkt haben. Insgesamt geht es darum, die »Religion des Kindes« sowie die Produktivität und Fähigkeit der Kinder zu theologischer Reflexion neu zu entdecken. Damit hatte die Frage, inwieweit die Perspektive von Kindern im Blick auf Glaube und Religion empirischer Forschung zugänglich ist, eine neue Dringlichkeit erfahren.19 Arbeiten zur empirischen Unterrichtsforschung haben seitdem einen festen Platz in der aktuellen religionspädagogischen Debatte.20 Allerdings gilt auch hier: Es gibt keine Patentrezepte, wie sich das religionspädagogisch Gewünschte in kon16 Vgl. Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2016. 17 Vgl. Christoph Th. Scheilke / Friedrich Schweitzer (Hg.), Kinder brauchen Hoffnung, Gütersloh / Lahr 2000ff (Bde.). 18 Vgl. Exemplarisch: Katharina Kammeyer, »Lieber Gott, Amen!« – theologische und empirische Studien zum Gebet im Horizont theologischer Gespräche mit Vorschulkindern, Stuttgart 2009. 19 Vgl. Dietlind Fischer / Albrecht Schöll (Hg.), Religiöse Vorstellungen bilden. Erkundungen zur Religion von Kindern über Bilder, Münster 2000. 20 Vgl. zum Stand der Diskussion: Mirjam Schambeck / Ulrich Riedel (Hg.), Was im Religionsunterricht so läuft. Wege und Ergebnisse religionspädagogischer Unterrichtsforschung, Freiburg i.B. 2018.

Büttner / Kraft Positionierungen der Kindertheologie

krete Praxis übertragen lässt. Die Studie von Hanna Roose zum Zusammenhang von Kindertheologie und schulischer Alltagspraxis beleuchtet sehr eindrücklich die Frage der Unterrichtstauglichkeit und der damit praktischen Handhabbarkeit von religionspädagogischen Leitbildern.21 Das Aufdecken und die Bearbeitung der Spannung zwischen wissenschaftlich-empirischer Arbeit und der Komplexität unterrichtlicher Lehr-Lernprozesse ist gleichsam ein Markenzeichen kindertheologischer Diskurse. In diesem Sinne begreift sich Kindertheologie einerseits als kindertheologische Forschung und andererseits als Reflexion didaktisch-methodischer Praxis.22 Mit diesen Bestimmungen hat sich Kindertheologie als ein »didaktisches Leitbild« (Friedhelm Kraft) nicht nur im Kontext von Schule etabliert. Als didaktisches Leitbild für religiöse Lernprozesse akzentuiert Kindertheologie die »Hermeneutik der Aneignung« im Gegensatz zu einer »Hermeneutik der Vermittlung«. In der Orientierung am Kind als Subjekt des Lernens, der Ermöglichung selbstgesteuerter Lernprozesse und dem Ernstnehmen der Kinder als »Theologen«, die ihre religiösen Weltsichten konstruieren und explizieren, wird die Bedeutung von Aneignungsprozessen im Rahmen unterrichtlicher Lernvollzüge aufgezeigt. Der seit Halle vielfach zitierte »Perspektivenwechsel« wird im didaktischen Leitbild der Kindertheologie als eine Wendung des religionspädagogischen Blickwinkels von einer »Lehrperspektive« hin zu einer »Lernperspektive« vollzogen. »Theologisieren« ist damit eine Form der Aneignung von Religion und für religiöse Lernprozesse unverzichtbar geworden,

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die auf eine hermeneutische Kompetenz ausgerichtet sind und auf theologische Argumentationsfähigkeit und religiöse Urteilsfähigkeit zielen. 8. Kindertheologie als »kritischer Stachel« einer Didaktik der Kompetenzorientierung

Der Ruf nach einer »empirischen Wende« in der Religionspädagogik hat mit der empirischen Wende in der Bildungspolitik um die Jahrtausendwende eine neue Stoßrichtung bekommen. Ausgangspunkt waren die internationalen Studien zur Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme seit PISA 2000. In deren Folge sollten sich unter dem Mantra der Kompetenzorientierung alle Bereiche pädagogischen Handelns – von der Unterrichtsforschung bis zur Unterrichtspraxis – den Herausforderungen einer umfassenden Bildungsreform stellen. Dem sogenannten »Berliner Modell« (Benner / Schieder / Schluß) kommt eine Vorreiterrolle in der Erfassung religiöser Kompetenzen zu. Allerdings spiegelt es auch die Grenzen einer empirischen Erfassung von Kompetenzen wider. Das Forschungssetting ist von drei grundlegenden Kompetenzen (religionskundliche Grundkenntnisse, religiöse Deutungs- und Partizipationskompetenz) bestimmt, die sich jedoch nur bedingt – dafür steht beispielhaft die Partizipati21 Vgl. Hanna Roose, Kindertheologie und schulische Alltagspraxis, Stuttgart 2019. 22 Vgl. Friedhelm Kraft, Kindertheologie »vernetzt« – zum Konzept einer neuen Tagungsreihe im RPI Loccum, in: JaBuKi 5, Stuttgart 206, 171f.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

onskompetenz – empirisch abbilden lassen.23 Unstrittig ist, dass sich auch für den Religionsunterricht Kompetenzmodelle und Kompetenzen formulieren lassen, die angestrebten Lernergebnissen orientieren sollen. Hanna Roose und Friedhelm Kraft haben im Blick auf das Thema Christologie versucht zu zeigen, inwieweit Kinder und Jugendliche sich vorgegebene Kompetenzen aneignen bzw. Kompetenzvorgaben in Frage stellen.24 Aber auch hier wird deutlich, dass Kompetenzvorgaben ohne empirische Grundlegung eher einen normativen Anspruch formulieren als empirisch bestimmt zu sein. In kindertheologischer Perspektive hat Mirjam Zimmermann programmatisch die Förderung einer »theologischen Kompetenz« als Zielhorizont unterrichtlicher Lernprozesse formuliert. Ihr Begriff einer »kindertheologischen Kompetenz« ist Anschlussfähig an einen kompetenzorientierten Religionsunterricht, der auf Nachhaltigkeit und empirische Überprüfbarkeit setzt.25 Die Frage aber, ob »Nachhaltigkeit« als Qualitätskriterium für »gute« Kindertheologie« gelten kann, hat Hanna Roose kritisch angefragt. Da theologische Gespräche und das »Theologisieren« sich im Bereich der »unentscheidbaren« Fragen bewegen, dürfen Positionierungen durchaus »zufällig« und immer wieder neu erfolgen. Hanna Roose möchte dagegen Nachhaltigkeit »neu verorten: nicht mehr bei den einzelnen Akteuren, also den Schülerinnen und Schülern und ihren Positionierungen, sondern in der (Unterrichts)Kommunikation selbst«26. Deutlich wird hier ein veränderter Fokus: Nicht mehr die messbaren Ergebnisse von Unter-

richt, sondern der Rahmen und Prozesscharakter von Unterricht bestimmen Nachhaltigkeit als Kriterium »guter« Kindertheologie.27 Zu Fragen bleibt, ob hier die Rolle der Kindertheologie als »kritischer Stachel« zu einer Didaktik der Kompetenzorientierung bestimmt wird, die auf Überprüfbarkeit von Kompetenzzuwächsen und der Bestimmung von Niveaustufen setzt. Dies gilt umso mehr, wenn Kompeten-zen nur den »vielleicht unwesentlicheren Teil« – so die ernüchternde Aussage der Autoren einer »kompetenzorientierten Didaktik« – der erwünsch23 Vgl. Boris Kalbheim, Art. Empirische Wende (2017), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Empirische_ Wende.100241, PDF vom 20.09.2018), 8ff. 24 Vgl. Friedhelm Kraft, Jesus Christus als Thema des Religionsunterrichts – Ergebnisse eines Feldversuchs zur Kompetenzorientierung, in: Friedhelm Kraft / Petra FreudenbergerLötz / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Jesus würde sagen nicht schlecht!« Kindertheologie und Kompetenzorientierung, JaBuKi Sonderband, Stuttgart 2011, 17ff; Friedhelm Kraft / Hanna Roose, Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht. Christologie als Abenteuer entdecken, Göttingen 2011. 25 Vgl. Mirjam Zimmermann, Zur Dialektik einer aufgeklärten Kindertheologie. Die Notwendigkeit einer »Theologie für Kinder« im Blick auf Zielgruppe, Basiswissen, Nachhaltigkeit und Inhalt, in: Anton A. Bucher/ Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Darüber denkt man ja nicht von allein nach …« Kindertheologie als Theologie für Kinder, JaBuKi 12, Stuttgart 2013, 40ff. 26 Hanna Roose, Nachhaltigkeit in der Kinderund Jugendtheologie?, in: Hanna Roose / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt«. Kindertheologie im Unterricht, JaBuKi 15, Stuttgart 2016, 61. 27 Vgl. Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich / Hanna Roose, Einführung in den Religionsunterricht. Eine kompetenzorientierte Didaktik, Stuttgart 2015, 46.

Büttner / Kraft Positionierungen der Kindertheologie

ten »Ergebnisse« von Religionsunterricht beschreiben. Zurück zu den »Berlinern«: Auch der neue Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 10 bündelt die im Kompetenzmodell ausgeführten »grundlegenden Kompetenzbereiche« in einer Partizipations- und hinzugefügten Narrationskompetenz. Mit dem Ausweis von Themen und Inhalten sowie Kompetenzen auf der Grundlage von Niveaustufenkonkretisierungen wird hier ein Weg in einer unübersichtlichen Kompetenzdebatte beschritten, der die »Spannung von Inhalt und Kompetenz« (Boris Kalbheim) in neuer Weise in den Blick nimmt.28 9. Kindertheologie und die »Pflege religiöser Semantik«

Kinder- und Jugendtheologie sowie die performative Didaktik haben in den letzten Jahrzehnten entscheidend die religionspädagogische Debatte bestimmt. Für beide Ansätze ist konstitutiv, dass Religion in der Schule als ein »Modus der Welterfahrung« unverstellt ins Spiel zu bringen ist. Der Religionsunterricht soll Schüler und Schülerinnen eine Begegnung mit Religion eröffnen, er soll »in« Religion einführen und darf sich daher nicht auf einen Unterricht »über« Religion in einem religionskundlichen Sinne beschränken. Dennoch setzen Kindertheologie und performativer Religionsunterricht die Modi der Zugänge zu religiösen Kommunikationsprozessen unterschiedlich. Für die performative Didaktik ist die Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen religiöser Kom-

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munikation bzw. religiösen Sprechakten konstitutiv: zwischen Erlebnis und Reflexion, zwischen performativen und konstatierend-diskursiven Sprechakten, zwischen »religiösem Reden« und »Reden über Religion«. Erschließung von Religion im performativen Sinne heißt vordringlich, »die symbolischen und performativen Ausdrucksformen von Religion« (Bernhard Dressler) in Gebrauch zu nehmen. Erst in der »probeweisen« Partizipation an explizit »religiöser Rede« kann die »spezifische Semantik« von Religion Schülern und Schülerinnen gezeigt und erschlossen werden. Der probeweise Vollzug gelebter Religion bzw. die probeweise Ingebrauchnahme religiöser Praxis bestimmt das Anliegen des performativen Ansatzes.29 Aus performativer Perspektive gehört das Theologisieren in den Bereich des »Redens über Religion«, da hier eine unmittelbare »religiöse Rede« nicht stattfindet, sondern der diskursive Zugang zu Religion bestimmend ist. Allerdings muss einschränkend gesagt werden: diese Unterscheidung ist nur kategorial zu treffen, da auch sprechakttheoretisch gilt, dass Sprechakte von beiden Elementen bzw. Sprachaspekten bestimmt sind.30 Religiöse Lernprozesse sind durch Kommunikationsprozesse bestimmt, in denen der »spezifische Kommunikationscode« von Religion in der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz 28 Vgl. Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 10, hg. von Friedhelm Kraft, Berlin 2018. 29 Vgl. Bernhard Dressler, Unterscheidungen. Religion und Bildung, Leipzig 2006, 197ff. 30 Vgl. Hanna Roose, Performativer Religionsunterricht zwischen Performance und Performativität, in: Pelikan 3/06, 113.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Gestalt gewinnen soll.31 Mit anderen Worten: Theologisieren übt die Fähigkeit zur »Realitätsverdoppelung« und ist in diesem Sinne als Praxis religiöser Kommunikation zu begreifen. Theologisieren schafft Voraussetzungen, die für eine »teilnehmende« Beobachtung religiöser Praxis unverzichtbar sind: die Kenntnis der Regeln eines spezifischen Sprachcodes und die Bereitschaft zur Reflexivität. Indem nach der Eigenlogik religiöser Erfahrungen und Praxis gefragt wird, werden Schüler und Schülerinnen befähigt einer verfassten Religion zu begegnen. Zugleich entspricht Theologisieren als Praxis religiöser Kommunikation der Alltagskultur des Unterrichts. Damit entfällt die Inszenierung eines eigenen Raumes. Theologisieren entspricht in diesem Sinne den didaktischen Mustern unterrichtlicher Lehr-Lern-Prozesse. Weiterhin wird deutlich, dass die analytische Unterscheidung zwischen »Reden über Religion« und »religiöser Rede« im Blick auf die Praxis des Theologisierens ihre Trennschärfe verliert: Weder ist Theologisieren ein distanziertes Reden »über« religiöse Sachverhalte, noch eine Form unmittelbarer religiöser Praxis.32 Der Gebrauch religiöser Begriffe beim Theologisieren ermöglicht den an der Diskussion teilhabenden Schüler und Schülerin die Entwicklung ihrer eigenen religiösen Sprachkompetenz und sie schafft durch die Kommunikation selbst einen religiösen Sprachraum, der als Form religiöser Praxis begriffen werden kann. Theologisieren leistet damit einen Beitrag zur »Pflege religiöser Semantiken« (Luhmann) im Kontext der Schule und eröffnet Lernerfahrungen, die zur Teilhabe an der »Praxis« Religion befähigen.

10. Kindertheologie zwischen Grundhaltung und Methode

»Theologisieren ist eine wichtige Methode für meinen Religionsunterricht. Das Fragen üben, weiterbringen, ermöglichen, zulassen, wahrnehmen.« »Theologisieren ist für mich nicht eine neue Methode im Religionsunterricht, sondern eine Grundhaltung für meinen Unterricht: fragen – suchen – entdecken – weiterentwickeln – Offenheit.« Zitate von zwei gestandenen Religionslehrerinnen am Ende einer Kursreihe »Theologisieren und Philosophieren mit Kindern«. Deutlich wird: Das Leitbild Kindertheologie blieb nicht ohne Wirkung. Es wird einerseits als »Methode« in Anspruch genommen, insofern Unterrichtsgespräche eine neue Qualität 31 Vgl. Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich / Hanna Roose (wie Anm. 27), 49ff. 32 Die Unterscheidung zwischen »Reden über Religion« und »religiöser Rede« ist nach Dressler ein Axiom performativer Religionsdidaktik. Diese Unterscheidung ist nicht nur im Blick auf didaktische Transfers uneindeutig. Ebenso lädt die synonyme Verwendung der Begriffe Binnenperspektive – als Vollzug einer Religion – und Außenperspektive – als distanziertes Nachdenken über Religion – zu Missverständnissen ein. Nicht nur lässt sich die Paulinische Brieftheologie schwerlich in das Raster »religiöse Rede« bzw. »Reden über Religion« eintragen, ebenso gehört zum Merkmal »guter« Theologie, dass sie die »Fremdperspektive« bzw. die »Fremdbeobachtung« mit der eigenen binnenperspektivischen Verortung verbindet. Die für die englische Religionsdidaktik wichtig gewordene Unterscheidung von »learning about religion« – sachkundlicher Wissenserwerb – und »learning from religion« – eigenständiges religiöses Urteils- und Orientierungsvermögen – scheint mir gerade im Blick auf die Bestimmung religiöser Kompetenzen hilfreicher zu sein.

Büttner / Kraft Positionierungen der Kindertheologie

bekommen haben. Andererseits geht es um weit mehr: Eine veränderte Grundhaltung ist gefragt, die mit dem »Theologisieren« einhergeht. Das Unterrichtsgespräch ist noch immer das mit Abstand häufigste Handlungsmuster im Schulalltag. Unterricht ohne Fragen ist kaum denkbar. Und so ist nach wie vor die Lehrer/-innenfrage »das wichtigste Instrument zur Steuerung der Aufmerksamkeit der Schüler, zur Weckung von Problembewusstsein, zur Disziplinierung, Überprüfung und Ergebnissicherung«33. Dennoch: Auch hier hat der PISA-Schock die Diskussionslage verändert. Die traditionelle Dominanz des lehrer-/innenzentrierten Frage-Antwort-Spiels steht weithin in der Kritik. Gefragt ist ein neues Zusammenspiel von Lenkung und Offenheit im Rahmen eines klar strukturierten Unterrichtsprozesses. Mit anderen Worten: Es geht auch in theologischen Gesprächen um eine didaktische Neubestimmung des Unterrichtsgesprächs, ohne dass die »ordnende Hand« der Lehrkraft prinzipiell in Frage gestellt wird. Kerstin Tschekan beschreibt mit den Stichworten »Sicherheit« und »Verbindlichkeit« zwei entscheidende didaktische Kriterien. Mit »Sicherheit« ist gemeint, dass alle Schüler und Schülerinnen die Anforderungen im Unterricht erfüllen können, während »Verbindlichkeit« auf eine Unterrichtsgestaltung zielt, die deutlich macht, dass die Lerngruppe sich den Anforderungen nicht entziehen kann.34 In diesem Sinne sind theologische Gespräche durch eine prinzipielle Offenheit gekennzeichnet. Das Ergebnis des Gesprächs ist nicht vorgegeben, gerade weil die »großen« Fragen des Lebens keine

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für alle Beteiligten eindeutigen Antworten zulassen. Dies führt immer wieder zu Verunsicherungen, weniger auf der Seite von Schüler und Schülerinnen als bei Lehrkräften, die vielfach der Illusion eines fixierbaren Unterrichtsergebnisses erliegen. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Glaubensfragen und Wissensfragen. Theologische Gespräche reflektieren Glaubensfragen, die eher auf existentielle Betroffenheit als auf allgemeingültige Antworten zielen. Der eigene Standpunkt ist gefragt, die Bereitschaft, für den eigenen Glauben eine Sprache zu finden, soll gefördert werden. Lehrende, die nicht auf eine »richtige« Antwort warten, können sich in einer Haltung gemeinsamen Fragens und Suchens zeigen. Programmatisch kann dem kaum widersprochen werden. Aber die Praxis schreibt ihre eigenen Gesetze. Mit anderen Worten: Die Kindertheologie formuliert für das theologische Gespräch einen normativen Anspruch, der die schulische Interaktionslogik außer Kraft zu setzen scheint. Das theologische Gespräch durchbricht ritualisierte Rollenmuster und bildet gleichsam einen »Fremdkörper« (Hanna Roose) innerhalb schulischer Alltagspraxis.35 Insofern impliziert 33 Hilbert Meyer, Unterrichtsmethoden II: Praxisband, Berlin 61994, 206. 34 Vgl. Kerstin Tschekan, Kompetenzorientiert unterrichten. Eine Didaktik, Berlin 2011, 24ff. 35 Vgl. Hanna Roose, Theologische Gespräche in Schule und Kirche und die Elementarstrukturen unterrichtlicher Interaktion: Verhältnisbestimmungen, in: »Weil man halt ja nebenbei, so etwas gelernt hat …«. Lernortspezifische Jugendtheologie in Schule und Gemeinde, Oliver Reis / Thomas Schlag / Hanna Roose / Patrik C. Höring (Hg.), JaBuKiJu 4, Stuttgart 2020, 67ff.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

das theologische Gespräch eine Veränderung »habitualisierter Kommunikationsformen« und kann nicht auf eine »Methode« reduziert werden. Es geht – wie die zitierte Lehrerin sagt – um »eine Grundhaltung für meinen Unterricht«, ja um einen gemeinsamen Habitus bei Schüler und Schülerinnen und Lehrenden, ohne dass das »pädagogische Gefälle« zwischen Lehrenden und Lernenden negiert wird. Dass die Kindertheologie in den didaktischen Bestimmungen zum Religionsunterricht in der Grundschule einen unverzichtbaren Platz einnimmt, zeigt die aktuelle Ausarbeitung »Religiöse Bildung und Religionsunterricht in der Grundschule«.36 Spannend ist zu sehen, in welcher Breite hier die Kindertheologie zu einer festen Größe im religionsdidaktischen Diskurs avanciert ist. Sie prägt einerseits die Bestimmung von religiöser Bildung – »Bildung nach evangelischem Verständnis ermöglicht religiöse Orientierung im Sinne eines ›Theologisierens mit Kin-

dern‹ und hält damit die Gottesfrage offen« (6) –, andererseits wird die »Konzeption« der Kinder- und Jugendtheologie für eine »altersangemessene theologische Argumentationsfähigkeit« als praktisch unverzichtbares »Leitbild« gesetzt (24f). 11. Fazit

Die Kindertheologie hat – das darf ohne Übertreibung gesagt werden – die religionspädagogische Debatte der letzten Jahrzehnte entscheidend bestimmt. Gleichwohl stehen empirische und normative Ansprüche in einem eigentümlichen Wechselverhältnis, bilden ein spannungsvolles Gefüge, das immer wieder neu bestimmt werden muss.

36 Vorgelegt und diskutiert auf der Konferenz der Schulreferenten/-innen der EKD (BESRK) am 3./4. Juni 2021.

Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie

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Henrik Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie. Ein vorwärtsorientierter Rückblick auf eine Erfolgsgeschichte und ihre Nebenfolgen Auch wenn dieser Beitrag einen klaren Kasus hat – die Verabschiedung von Gerhard Büttner und Friedhelm Kraft aus dem Herausgeber- und Herausgeberinnenkreis des Jahrbuchs für Kinder- und Jugendtheologie1 –, verfolgt er eine systematische Leitfrage, die von grundsätzlicher Bedeutung für die in diesem Band reflektierte Frage nach der Positionalität in der Kinder- und Jugendtheologie ist, nämlich: Wie und auf welchen Ebenen positioniert sich die Kinder- und Jugendtheologie im Verhältnis zum Kind? Den Anlass für diese Frage bildet eine Erfolgsgeschichte, für die Büttner und Kraft besonders einstehen und die daher im ersten Teil des Aufsatzes in personaler Verdichtung rekonstruiert und gewürdigt wird: der schrittweise Ausbau der kindertheologischen Ursprungsidee zu einem religionsdidaktisch belastbaren Ansatz, der empirisch, konzeptionell wie operativ so solide fundiert ist, dass er Bildungs- und Planungsprozesse in der religionsunterrichtlichen Praxis wirksam zu orientieren und zu strukturieren vermag. Im weiteren Verlauf der Argumentation rücken dann ungewollte Nebenfolgen dieser didaktischen Solidierung in den Blick. Denn mit der didaktischen Fokussierung gehen auch Ausblendungen einher, die den Öffentlichkeits- und Gesellschaftsbezug der Kinder- und Jugendtheologie, ihre gesamttheologische Reichweite und ihre internationale Ein-

bettung betreffen. Indem der Beitrag beide Seiten der Medaille ausleuchtet und systematisch reflektiert, entwickelt er Perspektiven für zukünftige Arbeitsund Dialogschwerpunkte der Kinderund Jugendtheologie. Um zu diesem Ende zu kommen, ist es nötig, mit den Anfängen zu beginnen. 1. Ein erster Blick zurück: Die Anfänge der Kindertheologie und deren didaktische Solidierung

Bekanntlich liegt eine Wurzel der Kindertheologie in der EKD-Synode von Halle 1994, die sich in einer 175-seitigen Veröffentlichung2 und einer markanten Kundgebung3 samt Beschluss4 für einen Perspektivenwechsel im Verhältnis zum Kind ausgesprochen hat. Die am meisten zitierte und für den kindertheologischen Ansatz grundlegende Textpassage fordert Erwachsene auf, zu »erkennen, dass die Kinder selbständig ihre eigene Religion entwerfen«, und würdigt Kin-

1 Siehe dazu auch das Vorwort und den Beitrag von Büttner und Kraft in diesem Band. 2 Vgl. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Aufwachsen in schwieriger Zeit – Kinder in Gemeinde und Gesellschaft, Gütersloh 1994. 3 Vgl. ebd., 99–111. 4 Vgl. ebd., 112–114.

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der als »aktive Erkunder ihrer immer wieder neu überraschenden Welt und eigenständige Entdecker von möglichen Antworten auf die Rätsel, die sich ihnen auftun«5. Dann kommt der entscheidende Satz: »Jedes Kind entwickelt gleichsam seine eigene Theologie; dies ist zumindest sehr wahrscheinlich dort der Fall, wo in einer Gesellschaft insgesamt von Gott noch die Rede ist.«6 Die Einschränkung zeugt von der nach der Wiedervereinigung verstärkten Säkularitätswahrnehmung, nimmt aber der vorangestellten These kaum an Radikalität. Unter einigermaßen günstigen Sozialisationsbedingungen wird jedem Kind die Fähigkeit zugetraut, eine »eigene Theologie« auszubilden. Mit dieser These verbindet sich eine selbstkritische Pointe: Dadurch, dass die Kirche die Fragen und Antworten der Kinder nicht hinreichend im Blick hat, beraubt sie sich selbst der Chance, von den originellen Perspektiven der Kinder zu profitieren und verarmt dadurch »auch selbst in ihrem Glauben und Leben«7. Diese damals bahnbrechende Positionierung im Verhältnis zum Kind war nicht das einzige, aber doch ein besonders wirksames Startsignal für den kindertheologischen Aufbruch der vergangenen Jahrzehnte. Dieser hat sich – was folgerichtig, aber keineswegs selbstverständlich ist – vor allem in der Religionspädagogik abgespielt, mit den Jahrbüchern für zunächst Kinder- und dann Kinder- und Jugendtheologie als zentralem Forum. Bei der konzeptionellen Etablierung der Kindertheologie kann man zwischen mehreren, sich überlappenden Phasen mit je eigenen Schwerpunkten unterscheiden.8 Am Anfang stand sicherlich, Friedrich Schweitzers Differenzie-

rungsvorschlag aufnehmend, die Theologie von Kindern.9 Die kindertheologische Bewegung bezog und bezieht ihre Dynamik aus einer neuen Sicht auf die Kinder, die als theologisch produktive Subjekte wahr- und ernstgenommen werden – eine Sichtweise, die gerade hinsichtlich der behaupteten Theologizität kindlichen Glaubensdenkens keineswegs unumstritten war und ist. Man spürt in den Beiträgen aus den frühen 2000er Jahren immer noch, wie augenöffnend diese Einsicht war. In ihren Anfängen litt die Diskussion um Kindertheologie jedoch unter einer gewissen Unausgewogenheit zwischen programmatischem Anspruch und didaktischer Konkretion: Während das theologische Potenzial kindlichen Fragens, Reflektierens und Argumentierens eindrücklich zutage trat, gingen die einschlägigen Veröffentlichungen kaum auf die Frage ein, wie denn die emphatisch beschworene gemeinsame Wahrheitssuche unter den Realbedingungen des Religionsunterrichts didaktisch ertragreich gestaltet werden kann. Mit der Zeit trat immer deutlicher zutage, dass die Perspektive einer Theologie von Kindern zu eng war, um Prozesse religiöser Bildung wirksam zu orientie5 Ebd., 70. 6 Ebd. 7 Ebd., 71 8 Zu den Hintergründen und den Konstitutionsdiskursen der Kindertheologie vgl. Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 2010, 3–130. 9 Vgl. Friedrich Schweitzer, Was ist und wozu Kindertheologie, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), »Im Himmelreich ist keiner sauer«. Kinder als Exegeten (JaBuKi 2), Stuttgart 2003, 9–16.

Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie

ren. Um ihren eigenen Vorstellungen über Gott und Welt reflexiv nachzugehen, sind Kinder auf ein Gegenüber und auf Impulse von außen angewiesen. Denn Kinder theologisieren nicht einfach auf Knopfdruck. Oft haben sie, alters- oder sozialisationsbedingt, große Schwierigkeiten, sich in der Gedanken- und Sprachwelt des Gottesglaubens zurechtzufinden – sei es, weil sie ihre Antworten nicht verbalisieren können, sei es, weil sie keinen Zugang zu der verhandelten Frage finden. Und wenn sie mal richtig ins Sprudeln kommen, sieht sich die Lehrkraft mit einer Fülle an unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Deutungen konfrontiert, so dass das verheißungsvoll begonnene Gespräch leicht zerfasert.10 Folglich standen in den letzten Jahrzehnten Fragen der didaktischen Konzeptualisierung und Operationalisierung der Kindertheologie im Vordergrund, ebenso deren Ausweitung auf das Jugendalter. Hier kommen Gerhard Büttner und Friedhelm Kraft ins Spiel, die sich in besonderer Weise und mit je eigenen Schwerpunkten darum bemüht haben, den emphatisch vollzogenen Perspektivenwechsel hin zum Kind für das Alltagsgeschäft des Religionsunterrichts fruchtbar zu machen und didaktisch zu konkretisieren. Wie bemerkenswert diese Leistung ist, wird deutlich, wenn man sich die Herausforderungen vor Augen führt, die mit ihr verbunden waren.  Erstens musste die Hinwendung zum Kind in methodisch kontrolliertes Theologisieren überführt werden. Büttner hat die damit verbundene Herausforderung in seinem einschlägigen Beitrag zum Handbuch Theologisieren mit Kindern auf den Punkt

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gebracht: Wenn man Theologisieren als eine professionelle Anforderung an Religionslehrkräfte versteht, dann ist es mit bloßer Empathie und einer veränderten Grundhaltung nicht getan. Es braucht auch methodisch kontrollierte Strukturierung.11 An anderer Stelle streicht Büttner die Kontinuität der Kindertheologie mit der ihr vorausgehenden Arbeit an Unterrichtsmethoden und -materialien heraus. Für die unterrichtliche Umsetzung des Theologisierens müsse und solle man »das Rad nicht ein zweites Mal erfinden«12 – wohl aber seien bestehende didaktische Konzepte und Lernangebote daraufhin zu überprüfen, ob sie dem auf Mündigkeit und theologisch-reflexive Eigenproduktivität abhebenden Anspruch der Kinder- und Jugendtheologie genügen.  Zweitens gewann die didaktische Operationalisierung der Kindertheologie dadurch weiter an Komplexität, dass sie mit dem zeitgleich aufgekommenen Paradigma einer kompetenzorientierten Bildungssteuerung und Unterrichtsplanung vermittelt werden musste – und zwar, wie Kraft in sei10 Vgl. Henrik Simojoki / Konstantin Lindner, Theologisieren mit Kindern, in: Georg Hilger u.a. (Hg.), Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts. Überarbeitete Neuausgabe, Stuttgart / München 2014, 344–351, 347f. 11 Vgl. Gerhard Büttner, Theologisieren mit Kindern – zwischen Empathie und Strukturierung, in: Ders. u.a. (Hg.), Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden, Stuttgart / München 2014, 19–25. 12 Vgl. Gerhard Büttner, Kindertheologie – beobachtet. Dekonstruktive Ansichten, in: TheoWeb. Zeitschrift für Religionspädagogik 6 (2007), H. 1, 2–11, 8.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

nem diesbezüglichen Grundsatzbeitrag aufgezeigt hat,13 gleich auf mehreren Ebenen: Zunächst erfordert die dialogische Form des Theologisierens mit Kindern von Religionslehrkräften ein hohes Maß an professioneller Kompetenz.14 Allerdings hat die Professionalisierung von Lehrkräften eine primär dienende Funktion: Sie hat ihr Ziel in der Befähigung von Kindern zu einer mündigen, argumentativ unterlegten und auch in dialogischexpressiver Hinsicht kompetenten Glaubensreflexion. Eine solche Befähigung kann aber nur gelingen, wenn der entsprechende Kompetenzerwerb kumulativ angelegt ist und in den gesamten schulischen Bildungsgang eingezeichnet wird. Im Konstruktionsdesign des aktuellen, maßgeblich von Kraft geprägten »Rahmenlehrplans für den Evangelischen Religionsunterricht« für Berlin und Brandenburg ist die Zusammenführung von Kompetenzorientierung und Kinder- und Jugendtheologie besonders konsequent umgesetzt. Das Zusammenspiel von in Niveaustufen ausdifferenzierten Bildungsstandards und thematisch ausgewiesenen Lebensfragen bahnt eine Kompetenzentwicklung an, in der »Schülerinnen und Schüler ihre eigenen theologischen Vorstellungen im Lichte der biblisch-christlichen Tradition bedenken und verorten können«15.  Eine solche Kompetenzanbahnung setzt voraus, dass die theologischen Perspektiven und Deutungen der Kinder in ein produktives Wechselverhältnis mit Deutungsangeboten der biblischen Überlieferung, der christlichen Tradition und, im Sinne

des für Bildungsprozesse konstitutiven Moments der kritischen Reflexion, der wissenschaftlichen Theologie gebracht werden kann. Friedhelm Krafts und Hanna Rooses Buch »Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht« ist insofern ein besonders praxisdienliches Beispiel einer solchen Zusammenführung, als die mehrperspektivisch angelegte Suche »nach Überschneidungen, Anknüpfungspunkten und Differenzen zwischen der wissenschaftlichen Christologie und den Christologien der Kinder«16 in zwei ausführlich präsentierten Unterrichtssequenzen mündet.  Allerdings konnte diese Verschränkung nur gelingen, weil das federführende Tandem auf empirische Untersuchungen zur Christologie von Kindern zurückgreifen konnte. Hier kommt Gerhard Büttners Untersuchung »Jesus hilft«17 eine hervorgehobene Bedeutung zu, die als eine der 13 Vgl. Friedhelm Kraft: Theologisieren mit Kindern und Kompetenzerwerb, in: Gerhard Büttner u.a. (Hg.), Theologisieren mit Kindern. Einführung – Schlüsselthemen – Methoden, Stuttgart / München 2014, 26–31. 14 Vgl. dazu grundlegend Petra FreudenbergerLötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007. 15 Evangelische Kirche Berlin-Brandenburgschlesische Oberlausitz (Hg.), Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 10, Berlin 2007, 5. 16 Friedhelm Kraft / Hanna Roose, Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht. Christologie als Abenteuer entdecken, Göttingen 2011, 12. 17 Gerhard Büttner, »Jesus hilft!«. Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002.

Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie

frühen und bahnbrechenden Arbeiten kindertheologischer Forschung angesehen werden kann. Auch danach hat Büttner in zweifacher Weise zur Profilierung von Kinder- und Jugendtheologie als Forschung beigetragen: zum einen durch metatheoretische Rahmungen, in der für ihn charakteristischen Melange aus konstruktivistischen und systemtheoretischen Ingredienzen,18 zum anderen dadurch, dass er existierende kindertheologische Forschung zum Ausgangspunkt religionsdidaktischer Modellierungen genommen hat, zuletzt gemeinsam mit Oliver Reis in dem Buch »Modelle als Wege des Theologisierens«19. Es ist ohne Frage der religionspädagogischen Lebensleistung von Büttner und Kraft zu verdanken, dass der anfangs teils wildwuchernde kindertheologische Aufbruch didaktisch solidiert werden konnte. Mittlerweile hat sich die Kinderund auch Jugendtheologie als ein religionsdidaktischer Ansatz etabliert, der in keinem Lehrbuch mehr fehlt und längst seinen Weg in den Unterrichtsalltag deutscher Schulen gefunden hat. 2. Ein zweiter Blick zurück: Die Anfänge der Kindertheologie und die ungewollten Nebenfolgen ihrer didaktischen Solidierung

Die didaktische Durchschlagskraft der Kinder- und Jugendtheologie hat jedoch auch ungewollte Nebenfolgen. Um diese schärfer zu erfassen, lohnt sich ein erneuter Rückblick auf die Hallenser Synodenveröffentlichung, von der die bis­herige Argumentation ihren Ausgang nahm. Bei näherem Hinsehen wird nämlich

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deutlich, dass die Kindertheologie hier nur einen Teil eines viel umfassender gedachten Perspektivenwechsels darstellt, der weit über Bildung und Unterricht hinausreicht. Die eigentlichen Adressaten des geforderten Perspektivenwechsels sind nämlich einer­seits Politik und Gesellschaft, auf die Kirche und Theologie als Anwälte von Kindern einwirken sollen.20 Dabei sind die Forderungen der Beschlussfassung bemerkenswert konkret: Es geht, um nur einige Beispiele zu nennen, um die Etablie­rung einer Kinderberichtserstattung, um sozialen Wohnungsbau, um Anti-Aggressionsprogramme etc.21 Andererseits wird die Kirche selbst in die Pflicht genommen, für die, so die bemerkenswert selbstkritische Selbsteinschätzung der Synodenpublikation, der Perspektivenwechsel hin zum Kind eine noch unbewältigte Zukunfts­ herausforderung darstellt. Ungeschönt wird festgehalten: »Kinder werden auch in der Kirche keineswegs überall als eigenständige Menschen wahrgenommen.«22 Folgerichtig ist im Synodenbeschluss auch nicht primär die Religionspädagogik, sondern die gesamte Theologie adressiert, die als Ganze in Forschung und Lehre den Perspektivenwechsel hin zum Kind vornehmen und vorantreiben soll.23

18 Vgl. Gerhard Büttner, Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie, Stuttgart 2021, 49–108. 19 Gerhard Büttner / Oliver Reis: Modelle als Wege des Theologisierens. Religionsunterricht besser planen und durchführen, Göttingen 2020. 20 Synode der EKD (wie Anm. 2), 102–106. 21 Vgl. ebd., 112f. 22 Ebd., 107. 23 Vgl. ebd., 114.

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Vor diesem Hintergrund lässt sich eine erste Engführung der kindertheologischen Programmatik beobachten: Der originäre Zusammenhang zwischen der Kindertheologie und dem im Synodenwort ausgerufenen Ziel einer »kinderfreundliche[n] Gemeinde und Gesellschaft«24 hat sich im Zuge der didaktischen Inanspruchnahme der Programmformel partiell aufgelockert. Immerhin hat sich die Kinder- und Jugendtheologie in den letzten Jahren stärker für Fragen von Ungleichheit und Marginalisierung geöffnet. Auch hier haben übrigens Büttner und Kraft maßgebliche Impulse gesetzt, besonders als verantwortliche Herausgeber des 13. Jahrbuchs für Kindertheologie zum »Theologisieren mit Kindern aus bildungs- und religionsfernen Milieus«25. Den Ausgangspunkt für diesen Fokus bietet die scharfsinnige Beobachtung der beiden Herausgeber, dass der Sitz im Leben der Kindertheologie sowohl in konzeptioneller Hinsicht als auch bezüglich des empirischen Fokus im bildungsbürgerlichen Milieu zu finden sei.26 Nimmt man sich die in dem Band veröffentlichten Beiträge genauer vor, treten die Stärken dieser Bahnbrechung ebenso deutlich zutage wie deren Grenzen. Die implizite Mittelschichtsorientierung der Kindertheologie wird kritisch aufgedeckt.27 Korrespondierend dazu werden religionsdidaktische Prinzipien und Impulse für ein auch im Blick auf Milieudifferenzen inklusives Theologiesieren entfaltet.28 Gleichwohl bleibt auch hier der Religionsunterricht der durchgängig bestimmende Rahmen aller Beiträge. Der im Synodenwort von Halle angedeutete Zusammenhang war hingegen umfassender gedacht: Das Wahr- und

Ernstnehmen der theologischen Konzeptualisierungen von Kindern ging einher mit dem transformativen Anspruch von Theologie und Kirche, den Perspektiven und Anliegen von Kindern auch gesellschaftlich Gehör und Geltung zu verschaffen. An dieser Stelle kommt eine zweite Nebenfolge der didaktischen Profilierung ins Blickfeld: Die religionspädagogische Erfolgsgeschichte der Kindertheologie hat im deutschsprachigen Raum keine Entsprechung in anderen theologischen Disziplinen. Auch wenn es in den Anfangsjahren des kindertheologischen Aufbruchs durchaus auch außerhalb der Religionspädagogik Vorstöße gab, die Perspektive des Kindes umfassender in das theologische Nachdenken zu integrieren,29 wird die Kindertheologie in anderen theologischen Disziplinen vornehmlich als ein religionsdidaktisches Konzept angesehen – und nicht als ein Anstoß zum Perspektivenwechsel, der

24 Ebd., 112. 25 Gerhard Büttner / Friedhelm Kraft (Hg.), »He! Ich habe viel Stress! Ich hasse alles«. Theologisieren mit Kindern aus bildungs- und religionsfernen Milieus (JaBuKi 13), Stuttgart 2014. 26 Gerhard Büttner / Friedhelm Kraft, Vorwort, in: Dies. (wie Anm. 25), 7–10, 7f. 27 Vgl. Bernhard Grümme, Unter Ideologieverdacht. Bildungsferne und arme Kinder in der Kindertheologie, in: Büttner / Kraft (wie Anm. 25), 11–24. 28 Vgl. Katharina Kammeyer, Inklusives Theologisieren in Gesprächen und darüber hinaus. Anregungen zur Klärung von Teilhabemöglichkeiten durch fachdidaktische Niveaudifferenzierung, in: Büttner / Kraft (wie Anm. 25), 25–43. 29 Vgl. bes. Rüdiger Lux (Hg.), Schau auf die Kleinen … Das Kind in Religion, Kirche und Gesellschaft, Leipzig 2002.

Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie

die Theologie in ihrer Gesamtheit betrifft, herausfordert und transformieren soll. 3. Die Stimme der Kinder in der globalen Pandemie – oder: Sollte man die Rede von einer Theologie für Kinder, Theologie mit Kindern und Theologie von Kindern auch umfassender interpretieren?

Wie auf der ganzen Welt, steht das öffentliche und private Leben in Deutschland zum Abfassungszeitpunkt dieses Beitrages immer noch im Zeichen der Corona-Pandemie. Die Frage nach der richtigen Strategie zur Eindämmung pandemischer Risiken und zum Einfinden in ein Leben mit ihnen wird seit mehr als eineinhalb Jahren intensiv und kontrovers geführt. In dieser Zeit zeigte sich, wie wenig selbstverständlich der 1994 so emphatisch herbeigeschworene Perspektivenwechsel immer noch ist.30 Zunächst kam die Perspektive der Kinder kaum vor, dann rückte die Frage, ob Schulen geöffnet oder geschlossen werden sollen, ins Zentrum der sogenannten Corona-Debatte. Jedoch wurde dabei fast durchgängig über Kinder gesprochen; die eigene Stimme der Kinder fand kaum Gehör und wurde auch nicht aktiv angefragt. Noch weniger waren Kinder und Jugendliche im Blickfeld der theologischen Debatte um die Deutung der Pandemie. Auch diese ist durchaus intensiv geführt worden. Einzelne Theologen, wie etwa Günter Thomas, sind sogar so weit gegangen, Umrisse einer »CoronaTheologie« zu entwickeln.31 Aber Kinder und Jugendliche stehen dabei bislang

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bestenfalls am Rande des Aufmerksamkeitshorizonts. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie in seinen Folgen weitreichend: Theologie wird von Erwachsenen betrieben, die, explizit oder implizit, ihre Fragen und Antworten, Erfahrungen und Perspektiven in die Theoriebildung einbringen. An dieser Stelle will ich die von Friedrich Schweitzer eingeführte Unterscheidung zwischen einer Theologie von Kindern, mit Kindern und für Kinder aufnehmen, sie aber jetzt bewusst auf die wissenschaftliche Theologie beziehen und auf die Frage zuspitzen: Wie wird die Perspektive der Kinder eigentlich in der heutigen Theologie repräsentiert? In der Pandemiezeit ist besonders deutlich geworden, dass die Theologie der Erwachsenen auch und gerade eine Theologie für Kinder sein muss. Diese Notwendigkeit spitzt sich auf dem Feld der theologischen Sozialethik besonders zu. Sie ist unter dem Gesichtspunkt von Deutungsmacht insofern besonders brisant, als die hier marginalisierte Personengruppe, anders als beispielsweise in der feministischen Theologie, ihre Stimme nicht unmittelbar in den theologischen Diskurs einbringen kann. Das aber bedeutet: Will die Theologie der Erwachsenen mit Ernst eine Theologie für Kinder sein, wird es nicht genügen, die Perspektive 30 Vgl. zum Folgenden Henrik Simojoki, Reli­ giöse Bildung in der Weltrisikogesellschaft – ein Update in Zeiten von Corona, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 72 (2020), 400–412, 410–412. 31 Vgl. Günter Thomas, Theologie im Schatten der Corona-Krise, in: Markus Heidingsfelder / Maren Lehmann (Hg.), Corona. Weltgesellschaft im Ausnahmezustand, Weilerswist 2021, 296–322.

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der Kinder durch wohlmeinende Vermutungen und Generalisierungen »von oben« zu konstruieren. Vielmehr muss diese Perspektive, gewissermaßen »von unten«, in Interaktion mit Kindern als Interpreten ihrer eigenen Lebenswirklichkeit eingeholt werden. Eine Theologie für Kinder muss also eine Theologie mit Kindern sein und dabei akribisch darum bemüht sein, die Theologie von Kindern in ihre Theoriebildung einzubeziehen. Folglich darf es keine »CoronaTheologie« geben, ohne Bezug auf das, was Kinder in dieser Zeit bewegt, was sie leiden und, nicht zu vergessen, hoffen lässt. Eine solche sinnerschließende Hinwendung zu den Pandemiedeutungen und -erfahrungen der Kinder bildet die Voraussetzung dafür, ihre Stimme in den öffentlichen Corona-Diskurs theologisch einzubringen. Damit deutet sich bereits an, dass eine solche sozialethisch dimensionierte Theologie für Kinder auf die Zusammenarbeit mit der religionspädagogischen Kindertheologie angewiesen ist – und vice versa. Nur stellt sich dann die Frage: An welche Diskurse genau ist bei einer solchen notwendigen Verschränkung eigentlich zu denken? 4. Für das Kind Position beziehen – Impulse aus dem internationalen Diskurs um eine kindorientierte Theologie

Die Kindertheologie ist, so kann man wohl sagen, vornehmlich ein Konzept der deutschsprachigen Religionspädagogik. Zwar gelang es den Initiatoren und Initiatorinnen der Reformbewegung auch einen internationalen Austausch über Kindertheologie zu etablieren. Da-

für stehen vor allem die 2009 erstmals in Loccum und dann im Zwei-JahresRhythmus veranstalteten internationalen Netzwerktagungen, an denen auch Beiträgerinnen und Beiträger insbesondere aus Belgien, den Niederlanden und Norwegen mitgewirkt haben.32 Allerdings fällt auf, dass die internationale Vernetzung des jüngsten kinder- und jugendtheologischen Diskurses aktuell eher rückläufig ist. Beispielhaft zeigt sich das am zum Abfassungszeitraum jüngsten, mit 22 Beiträgen beeindruckend facettenreich angelegten Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheologie, das ausschließlich von Autorinnen und Autoren aus dem deutschen Sprachraum getragen wird.33 Diese regionale Konzentration dürfte mit den spezifischen Kontextbedingungen zu tun haben, an die das Konzept der Kindertheologie gebunden ist. Versteht man, wie in der deutschsprachigen Diskussion, den schulischen Religionsunterricht

32 Vgl. als Tagungspublikationen Friedhelm Kraft / Hanna Roose / Gerhard Büttner (Hg.), Symmetrical Communication? Philosophy and Theology in Classrooms across Europe, Loccum-Rehburg 2011; Henk Kuindersma (Hg.), Powerful Learning Environments and Theologizing and Philosophizing with Children (Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie 24), Kassel 2013; Petra Freudenberger-Lötz / Gerhard Büttner (Hg.), Children’s Voices. Theological, Philosophical and Spiritual Perspectives (Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie 32), Kassel 2015; Anton A. Bucher / Gerhard Büttner / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), Children’s book. Nurture for children’s theology (Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie 39), Kassel 2018. 33 Vgl. Oliver Reis u.a. (Hg.), »Weil man halt ja nebenbei, so etwas gelernt hat …«. Lernortspezifische Jugendtheologie in Schule und Gemeinde (JaBuKiJu 4), Stuttgart 2020.

Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie

als vornehmlichen Realisierungsort der Kinder- und Jugendtheologie, sind ihrer internationalen Implementierung von vornhinein eher enge Grenzen gesetzt. Denn sie setzt dann einen Religionsunterricht voraus, in dem Glaubensüberzeugungen im Modus theologischer Reflexion kommuniziert werden. In den ja gar nicht so vielen Weltregionen, in denen sich eine wissenschaftliche Religionspädagogik ausgebildet hat, gibt es nur noch wenige Länderkontexte, auf die diese Bedingung zutrifft. In gewisser Weise spitzt sich hier die Kehrseite der didaktischen Solidierung zu – und gewinnt fast dilemmatische Züge: Je konkreter, differenzierter und gehaltvoller die Kinder- und Jugendtheologie auf die schulischen Realitäten des konfessionellen Religionsunterrichts bezogen wird, desto schwerer wird die internationale Plausibilisierung des Konzepts. In dieses Bild fügt sich auch das vermeintliche Gegenbeispiel Norwegens ein, wo Elisabeth Tveito Johnsen, Dagny Kaul, Sturla Sagberg und Sturla Stålsett auch gegenüber der deutschsprachigen Theoriebildung eigenständige Konzepte der Kindertheologie entwickelt haben.34 Denn die norwegische Barneteologi, die ihre Hochphase in den 2000er-Jahren hatte, ist in der gemeindlichen Bildungsarbeit verwurzelt, insbesondere in der hier breitflächig institutionalisierten Sonntagsschule. Zudem arbeitet sie – besonders in der befreiungstheologisch inspirierten Grundlegung durch Stålsett – stärker einer Aufwertung von Kindern in Theologie, Kirche und Gesellschaft zu. Letzteres gilt noch viel mehr, worauf bereits Friedrich Schweitzer und Katharina Kammayer hingewiesen ha-

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ben,35 für entsprechende Vorstöße in der US-amerikanischen Praktischen Theologie. Besonders zu nennen ist hier Bonnie J. Miller-McLemores vielbeachtetes Buch »Let the Children Come«36. Die 34 Vgl. Elisabeth Tveito Johnsen, Barneteologi møter trosopplæring til gjensidig kritisk dialog, in: Sturla Sagberg (Hg.), Barnet i trosopplæringen. Pedagogiske og teologiske refleksjoner over barneteologi, Oslo 2008, 10–33; Dies. / Friedrich Schweitzer, Was ist kritische Kindertheologie? Vergleichende Perspektiven aus Norwegen und Deutschland, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), »Gott gehört so ein bisschen zur Familie«. Mit Kindern über Glück und Heil nachdenken (JaBuKi 10), Stuttgart 2011, 25–36; Dagny Kaul (2004), »Men jeg tror da på Gud!« Barns Gudsrelasjon i et barneteologisk perspektiv, in: Prismet – religionspedagogisk tidsskrift 54 (2004), 14–25; Dies., »Skjønte dere ikke at jeg måtte være i min Fars hus?« – premisser for en grenseoppgang mellom barneteologi og religionspedagogikk, in: Elisabeth Tveito Johnsen (Hg.), Barneteologi og kirkens ritualer – perspektiver på trosopplæring, barn og konfirmanter, Oslo 2007, 55–92; Sturla Sagberg, Barns tro, »barnetro« og »voksentro«. Om barns møte med konvensjoner for tro, in: Ders. / Kjetil Steinsholt (Hg.), Barnet. Konstruksjoner av barn og barndom, Oslo 2003, 119–134; Ders., Theologie mit Kindern: Mahnungen und Ausblicke, in: Hanna Roose / Elisabeth E. Schwarz (Hg.), »Da muss ich dann auch alles machen, was er sagt«. Kindertheologie im Unterricht (JaBuKi 15), Stuttgart 2016, 106–117; Sturla Stålsett, »Barna roper i helligdommen«. For en urovekkende barneteologi, in: Elisabeth Tveito Johnsen (Hg.), Barneteologi og kirkens ritualer – perspektiver på trosopplæring, barn og konfirmanter, Oslo 2007, 31–42. 35 Vgl. Friedrich Schweitzer, Kindertheologie und Elementarisierung. Wie religiöses Lernen mit Kindern gelingen kann, Gütersloh 2011, 85f; Katharina Kammeyer, Kindheitsforschung und Kindertheologie. Ein kindertheologischer Blick auf Beiträge soziologischer Kindheitsforschung, in: Theo-Web 11 (2012), H.2, 38–63, 45–47. 36 Vgl. Bonnie J. Miller-McLemore, Let the Children Come. Reimaging Childhood from a Christian Perspective, Minneapolis 22019.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

Zielgruppe des Buches reicht über die akademische Theologie hinaus. Jedoch wird aus dem Vorwort zur Neuausgabe von 2019 deutlich, dass es der Autorin mit ihrem Buch um nicht weniger als eine Dekonstruktion und Neubegründung der eingespielten Ordnungskategorien und Arbeitsweisen der akademischen Theologie geht, die, so der zentrale Vorwurf, in ihrer Schleiermacherschen Architektur die Tuchfühlung zu vordringlichen Lebensfragen heutiger Menschen weitgehend eingebüßt habe.37 Ihrer »Practical Theology of Children« liegt die Ausgangsannahme zugrunde, dass in der Relation zum Kind bzw., wie die Autorin schreibt, im Verhältnis zu den »embodied lives of children«38, die Lebensdienlichkeit der Theologie insgesamt auf dem Spiel steht. Die Bewegung hin zum Kind wird nun zum Testfall für eine Theologie, die sich – im Gefolge der Theologie der Befreiung und der feministischen Theologie – zwei Hauptanliegen verpflichtet weiß: »reflection on daily life as central to theology, and respect to the voices of the marginalized as a guiding norm.«39 Dieser Weg in Richtung einer eminent positionellen »childaffirming theology and church«40 wird dann in Joyce Mercers umfassender angelegten Praktischen Theologie der Kindheit weitergeführt. Das Buch, das von einem Vorwort von Miller-McLemore eingeleitet wird, richtet sich gegen die Instrumentalisierung von Kindern durch Erwachsene im weiteren Kontext der kapitalistischen Konsumkultur. Dagegen mobilisiert sie die subjektförderlichen Potenziale der christlichen Botschaft, die allerdings nur dann zur Entfaltung kämen, wenn Gemeinden ihre Leitbilder, Strukturen

und Angebote konsequent daraufhin überprüfen, ob sie den Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern dienlich oder hinderlich sind. Die Programmschrift von Mercer ist auch insofern religionspädagogisch interessant, als sie ein eigenes Kapitel zur Bildung von Kindern in Gemeinden enthält.41 Gerade hier zeigt sich, wie fruchtbar es wäre, die Diskurskreise der deutschsprachigen Kindertheologie und der US-amerikanischen Bemühungen um eine kindorientierte Theologie stärker zu verschränken.42 Die deutschsprachige Diskussion würde dadurch an gesellschaftlicher und theologischer Weite gewinnen, die US-amerikanische Diskussion könnte sich neue Möglichkeiten erschließen, das Anliegen der Kindorientierung in didaktisches Denken und Handeln zu transformieren und zudem empirisch stärker an die »Erste-Person-Perspektive« von Kindern rückzubinden. Aktuell gibt es ermutigende Anzeichen für eine solche wechselseitige Bereicherung. Der an den Universitäten von Notre Dame und Salzburg tätige katholische Sozialethiker Clemens Sedmak hat 2020 das Konsultationsprojekt »Towards a Social Theology of

37 Vgl. ebd., xviii. 38 Ebd., xxi. 39 Ebd. 40 Joyce Mercer, Welcoming Children. A Practical Theology of Childhood, St. Louis 2005, x. 41 Vgl. ebd., 210–238. 42 Vgl. Karen Marie Yust, »Als Christ/ Christin aufwachsen«: Kindertheologie im US-amerikanischen Kontext, in: Anton A. Bucher u.a. (Hg.), »Gott gehört so ein bisschen zur Familie«. Mit Kindern über Glück und Heil nachdenken (JaBuKi 10), Stuttgart 2011, Stuttgart, 11–24.

Simojoki Die didaktische Solidierung der Kindertheologie

the Child« gestartet und dazu Systematische Theologinnen und Theologen sowie Religionspädagoginnen und -pädagogen aus dem englisch- und deutschsprachigen Wissenschaftsraum in einen Dialog gebracht.43 Ebenfalls noch nicht ausgeschöpft sind die Wechselwirkungen mit der »Child theology movement«, einer von der Church of England aus koordinierten, dezidiert internationalen Bewegung, die sich eine am Kind orientierte Transformation von Theologie und Kirche auf die Fahnen geschrieben hat. Die Konsultationsergebnisse sind auf der einschlägigen Homepage44 verfügbar und beeindrucken durch die globale Vielfalt an diskursiv eingespielten Reflexionsperspektiven und -kontexten. Besondere Aufmerksamkeit verdient der 2021 aus dieser Bewegung hervorgegangene, von Marcia Bunge herausgegebene Band »Child Theology: Divers Methods and Global Perspectives«, in dem ein illustrer Kreis von Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Länderkontexten, Disziplinen und Denkrichtungen der akademischen Theologie sich der Aufgabe stellt, »to strengthen theological reflection across the church by rethinking, reintepreting, and reevaluating fundamental Christian beliefs and practices with attention to children«45. Allerdings zeigt die Publikation, an der aus Deutschland Michael Welker beteiligt ist, auch an, dass die theologische Sensibilisierung für die Perspektive von Kindern nicht gleich auf der religionspädagogischen Habenseite verbucht werden sollte. Denn nicht nur ist die Religionspädagogik in dem Band personell unvertreten; es fehlt auch ein ausdrücklicher Bezug auf religiöse Bildung und Erziehung.

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5. Fazit: Positionelle Theologie von Kindern aus – und auf Kinder hin

Der vorliegende Beitrag verfolgte zwei Anliegen: Ausgehend vom Synodenwort der EKD-Synode in Halle ging es zum einen darum, deutlich zu machen, was Gerhard Büttner und Friedhelm Kraft – stellvertretend für die Pioniergeneration der Kinder- und Jugendtheologie – für die Etablierung dieses Ansatzes im deutschsprachigen Raum geleistet haben. Beide haben auf je eigene und besondere Weise dazu beigetragen, dass die Kindertheologie sich von einer programmatischen Idee zu einem didaktisch ausgewiesenen Ansatz entwickelt und dadurch ihren Weg in die Praxis des Religionsunterrichts in Deutschland gefunden hat. Ohne diese Kärrnerarbeit hätte es gut sein können, dass die »Entdeckung« der Kindertheologie in den 1990er Jahren und der von ihr ausgelöste Aufbruch versandet wären – wie es vielen Programmbegriffen ergeht, sobald der Glanz des Neuen an Strahlkraft einbüßt. Zum anderen zielte die Gedankenführung auf den Aufweis, dass der ursprüngliche Entdeckungszusammenhang der Kindertheologie transformatorische Ansprüche in Bezug

43 Zu den Projektzielen und -prozessen siehe https://uni-salzburg.elsevierpure.com/en/projects/towards-a-social-theology-of-the-child (18.12.2021). 44 Siehe https://childtheologymovement.org/ about-ctm/ (18.12.2021). 45 Marcia J. Bunge / Megan Eide, Introduction: Strengthening Theology by Honoring Children, in: Marcia J. Bunge (Hg.), Child Theology. Diverse Methods and Global Perspectives, New York 2021, xiv–xxv, xvi.

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Positionalität – Einführung und Grundsatzfragen

auf Gesellschaft, Kirche und Theologie einschloss, die im aktuellen Diskurs der Kinder- und Jugendtheologie – als ungewollte Nebenfolge der didaktischen Solidierung – teilweise aus dem Blickfeld geraten sind. Vor diesem Hintergrund spricht religionspädagogisch viel dafür, den Dialog mit sozialethischen und internationalen Diskursbemühungen in

Richtung einer kindorientierten Theologie künftig zu intensivieren. Eine solche Wechselwirkung würde nicht nur den beteiligten Dialogpartnern, sondern der Positionierungsfähigkeit der Theologie insgesamt zugutekommen, die ja in der vernetzten Vielfalt ihrer Disziplinen bereit und fähig sein sollte, von Kindern her und auf sie hin zu denken.

Isik ˛ / Kamcili-Yildiz Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz

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Tuba Isık ˛ / Naciye Kamcili-Yildiz »Ist Schweinegelatine halal oder haram?« – Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz 1. Einführungsszenario

Eine muslimische Religionslehrerin wird von einem Kollegen auf eine schwierige Situation in seinem Unterricht angesprochen. Eine muslimische Schülerin hatte Geburtstag und hat Weingummis mit Schweinegelatine eines bekannten Herstellers verteilt, die in kleineren Tüten abgepackt zu kaufen sind. Einige muslimische Schülerinnen und Schüler hätten nicht nur die Annahme verweigert, sondern sie auch als »haram« bezeichnet. Die muslimische Religionslehrerin greift in ihrem Religionsunterricht die Thematik auf und erarbeitet, dass es innerhalb der islamischen Theologie verschiedene Positionen zum Verzehr von Schweinegelatine gibt. Eine Schülerin meldet sich und fragt: »Essen Sie Weingummis mit Schweinegelatine? Sind sie nun haram oder halal?« Die Schülerin fordert mit der ersten Frage die Religionslehrerin heraus, indem sie als Vorbild angesprochen wird. Mit der zweiten Frage verlangt sie eine eindeutige und klare Antwort in der Sache. 2. Heterogenität unter Musliminnen und Muslimen

Die hier beschriebene Situation ist durchaus realistisch und verdeutlicht, dass innerhalb der islamischen Theologie, aber auch unter Musliminnen und Muslimen unter-

schiedliche Glaubensüberzeugungen und -praxen existieren. Kaum irgendwo bilden sich die vielfältigen Überzeugungen und Positionen so ab wie im schulischen islamischen Religionsunterricht (im Folgenden IRU). Dieser ist seit etwa zehn Jahren in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen (NRW) und Baden-Württemberg ein weiteres Regelangebot für muslimische Schülerinnen und Schüler, das von der Grundschule bis in die gymnasiale Oberstufe wahrgenommen werden kann. Während das Angebot für die christlichen Schülerinnen und Schüler nach Konfessionen getrennt stattfindet – so gibt es z.B. in NRW neben evangelischem und katholischem RU noch syrisch-orthodoxen, orthodoxen und mennotischen RU, insgesamt fünf verschiedene christliche Unterrichtsangebote – ist der Unterricht für die muslimischen Schülerinnen und Schüler ähnlich wie der jüdische Religionsunterricht auch ein Einheitsunterricht für alle muslimischen Glaubensströmungen. Eine offizielle Statistik darüber, ob die muslimischen Religionslehrkräfte der sunnitischen, oder der schiitischen Konfession angehören, existiert derzeit nicht.1 In Baden-Württemberg gehören 1 Ab Mitte des achten Jahrhunderts haben sich Rechtsschulen und theologische Denkschulen gebildet. Ab Mitte des neunten Jahrhunderts haben sich einige allmählich etabliert und gegen andere durchgesetzt. Bei den Rechtsschulen

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Positionalität im Diskurs

alle muslimischen Religionslehrkräfte dem sunnitischen Islam an, da der Religionsunterricht dort eine sunnitische Prägung aufweist.2 Einen Einblick über die unterschiedlichen religiösen Praktiken erhalten wir durch den Überblick der Zuordnung zu den jeweiligen Rechtsschulen über die Studie von Naciye Kamcili-Yildiz zu fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Kompetenzen von muslimischen Religionslehrkräften in Nordrhein-Westfalen. Von den an der Erhebung beteiligten 68 muslimischen Religionslehrkräften gaben 1,5% an, der ǧa’farītischen Rechtsschule anzugehören. 98,5% gehörten einem der vier großen sunnitischen Rechtsschulen an, davon waren 79,4% hanafītisch, 13,2% mālikītisch und 13,2 % šāfi ’ītisch.3 Auch wenn die Studie keinen Anspruch auf Repräsentativität erhebt, ist unter Hinzunahme der Herkunftsländer der Musliminnen und Muslime in Deutschland davon auszugehen, dass die große Mehrheit der muslimischen Religionslehrkräfte sunnitisch sind. Ähnlich verhält es sich bei den am IRU teilnehmenden muslimischen Schülerinnen und Schülern, deren Konfessionen nicht erfasst werden. Von den geschätzten 5,3 bis 5,5 Millionen muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sind 71,7% sunnitisch, 9,5% alevitisch und 4,4% von ihnen schiitisch.4 Auf dieser Grundlage lässt sich zunächst festhalten, dass der IRU sowohl auf der Ebene der Lehrkräfte als auch der Schülerschaft von einer innermuslimischen konfessionellen Vielfalt geprägt ist, die sich in der praktizierten Glaubenswelt abzeichnet. Hinzu kommt noch die individuell-religiöse Perspektive sowohl der Lehrkräfte, als auch der Schülerinnen und Schüler, welche sich

gemäß religiöser Sozialisation von der konfessionsspezifischen Meinung unterscheiden kann. So gaben in einer aktuellen repräsentativen Erhebung 75,3% der befragten Frauen und 65,6% der Männer an, aus religiösen Gründen Getränke- und Speisevorschriften einzuhalten.5 Die Daten zeigen, dass ein Drittel der befragten Personen sich nicht an religiöse Speisevorschriften halten. Ungeklärt bleibt, ob und wenn ja, welchen Speiseregeln sie wohl folgen. Zu klären bleiben beispielweise folgende Fragen: Verzichten Sie grundsätzlich auf den Verzehr von Schweinefleisch? Wie gehen sie mit Schweinegelatine um? Kaufen sie nur halal-zertifiziertes Fleisch? Essen sie Produkte mit Rindergelatine oder achten hierbei auch auf eine Halal-Zertifizierung? Essen sie nur vegane Weingummis? wie die Hanafiyya geht es um die Regelung von religiöser Praxis – vereinfacht gesagt. Konfessionen im Sinne einer Zusammenfassung von Glaubensgrundsätzen sowie des Glaubensbekenntnisses können wir heute und in Deutschland als das Sunnitentum, Schiitentum und allenfalls Alevitentum festhalten. Ein Muslim, der einer Konfession angehört, kann sich in der Ausrichtung auf seine Rechtsschule von den anderen Muslimen unterscheiden. In Deutschland versteht sich das Alevitentum als eine eigenständige Religionsgemeinschaft, sodass sie in manchen Bundesländern wie etwa NRW ihren eigenen Religionsunterricht hat. 2 Vgl. http://www.sunnitischer-schulrat.de/index. php/lehrbefugnis, 2021 [Zugriff: 30.03.2022]. 3 Naciye Kamcili-Yildiz, Zwischen Glaubensvermittlung und Reflexivität. Eine quantitative Studie zu professionellen Kompetenzen von islamischen ReligionslehrerInnen, Münster 2021, 157. 4 Katrin Pfündel / Anja Stichs / Kerstin Tanis, Muslimisches Leben in Deutschland 2020 – Studie im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz. Forschungsbericht 38 des Forschungszentrums des Bundesamtes, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2021, 58. 5 Ebd., 95.

Isik ˛ / Kamcili-Yildiz Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz

Auch die Kriterien, wann ein Produkt als Halal zertifiziert wird, unterscheiden sich stark voneinander. Denn längst sind Halal-Siegel in Deutschland zu einem neuen Geschäftsmodell geworden. Während für manche Rechtsgelehrtinnen und -gelehrten die Betäubung des Tieres bei der Schlachtung kein Problem darstellt, lehnen andere diese ab.6 Ähnlich ist es auch bei Gelatine: Die Diskussionen und damit die Erlaubnis in Rechtsdiskussionen kreisen zum einen um die Herkunft der Gelatine und die chemischen Veränderungsprozesse, die die tierischen Bestandteile durchlaufen. Einige Rechtsgelehrte betrachten den Verzehr auch von Schweinegelatine enthaltenden Produkte als halal, da bei der Verarbeitung des Kollagens die tierischen Knochen chemische Prozesse durchlaufen und bei einer Analyse die Herkunft nicht nachgewiesen werden kann; kurzum Stoff A plus Stoff B (Verarbeitungsprozess) gleich Stoff C (ein neuer Stoff ist entstanden). Eine zweite Auffassung hingegen geht vom Verbot des Verzehrs von Schweinen aus, lehnt den Verzehr von Produkten mit Schweinegelatine ab und befürwortet den Einsatz von Gelatine von halal-zertifizierten Rindern oder veganen Geliermittel wie Agar Agar. Das eingangs ausgeführte Beispiel verdeutlicht, dass sowohl muslimische Schülerinnen und Schüler als auch die muslimischen Religionslehrkräfte in unterrichtlichen Zusammenhängen, aber auch außerschulisch mit einer innerislamischen Vielfalt konfrontiert sind, die kontroverse Positionen aufweisen können. Während der Moscheeunterricht von den Frömmigkeitsvorstellungen der Lehrenden und der Gemeinde dominiert

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und in jeder Moscheegemeinde eine weitestgehend homogene Vorstellung vom Islam vermittelt wird, treffen sich im schulischen Raum Angehörige verschiedener muslimischer Traditionen und religiösen Herkunftskulturen und bringen ihre Perspektiven und Ansichten in den Unterricht ein, was die muslimischen Lehrkräfte vor eine ganz besondere Herausforderung mit ihrer bzw. dieser Positionalität stellen. Zum einen ist es für die muslimischen Schülerinnen und Schüler wichtig, innerislamische Vielfalt erst einmal wahrzunehmen und als islamische Tradition jenseits der eigenen Position kennenzulernen. Zum anderen fordert die Befähigung der muslimischen Schülerinnen und Schüler zum Umgang mit den Zugängen innerhalb des breiten islamisch-theologischen Spektrums die muslimischen Religionslehrkräfte heraus, wenn sie, wie im Beispiel gefordert, ihre individuelle Position offenlegen sollen. 3. Schulische Herausforderungen

Wenn die muslimische Schülerin die konkrete Frage an die islamische Religionslehrkraft richtet, ob Schweinegelatine nun halal oder haram ist und wie sie persönlich damit umgeht, wird von ihr eine konkrete begründete Stellung-

6 Siehe https://www.ml.niedersachsen.de/startseite/themen/tiergesundheit_tierschutz/tierschutz_allgemein/islamisches-opferfest-4217. html [Zugriff: 29.3.2022]; siehe Arnulf von Scheliha / Eveline Goodman-Thau (Hg.), Zwischen Formation und Transformation. Die Religionen Europas auf dem Weg des Friedens, Osnabrück 2011.

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Positionalität im Diskurs

nahme erwartet und eingefordert. Die Lehrkraft steht in der Spannung, einerseits eine konkrete Position einzunehmen und andererseits der zentralen Zielsetzung religiöser Bildung gerecht zu werden, die prinzipielle Mehrdeutigkeit und Interpretation in der islamischen Tradition darzulegen. Schließlich kann sich in der persönlichen Entscheidung, auf Weingummis mit Gelatine zu verzichten, deutlich mehr verbergen, was in der Haram-Halal-Dichotomie nicht sichtbar wird. Längst ist der Trend, möglichst regionales und saisonales Obst und Gemüse oder Fleisch aus artgerechter Tierhaltung zu verzehren und auf industriell verarbeitete Lebensmittel zu verzichten, Musliminnen und Muslimen vertraut und geläufig, worunter auch der Verzicht auf zuckerhaltige Produkte fallen dürfte. Manche Musliminnen und Muslime bewerten den Verzicht nicht nur aus der Perspektive der islamischen Jurisprudenz, sondern sehen darin eine individuell begründete Wahlhandlung, die ihre religiöse Identität in Abgrenzung zu der andersgläubigen Mehrheitsgesellschaft formt. Vom Umgang mit schwierigen Situationen, die die inhaltliche Bearbeitung von Positionalität im IRU verdeutlichen, berichten muslimische Religionslehrkräfte in Österreich, die Mehmet H. Tuna im Rahmen seines Dissertationsprojektes interviewte. Tuna benennt vier ThemenKontext-Spannungsverhältnisse, die er als a) säkulare Themen im islamischen Kontext, b) islamische Themen im säkularen (österreichischen) Kontext, c) ungeklärte innerislamische Diskurse im Kontext islamischer und gesellschaftlicher Vielfalt sowie d) Islamisierung der Politik und Radikalisierung bezeichnet.

Aus der Perspektive der interviewten Lehrkräfte erzeugen Themen wie Evolution, Schwimmunterricht und Homosexualität Probleme und Spannungen, da sie im islamischen Kontext nicht eindeutig geklärt seien oder die islamische Annäherung an sie eine andere ist als die der säkularen Gesellschaft.7 Dabei geht es bei den Themen, die Differenzen und Widersprüchlichkeiten enthalten, sowohl um lebensweltliche, kulturelle Themen innerhalb der islamischen Gesellschaften, aber auch um unterschiedliche theologische Argumentationen, wozu das Gummibärchenthema subsummiert werden würde. Der bewusste Verzicht auf Gummibärchen mit Schweinegelatine ist für manche Muslime in Deutschland auch ein Identitätsmarker, worin sie eine Einhaltung des Schweinefleischverbotes in jeglicher Hinsicht als eine religiös identitäre Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft verstehen.8 Den beschriebenen Umgang mit diesen Themen ordnet Tuna zwei Handlungsweisen zu. Zum einen gehen die muslimischen Religionslehrkräfte auf potenziell verfängliche Themen nach Möglichkeit nicht ein und sehen dazu auch keine speziellen Unterrichtseinheiten vor. Zum anderen versuchen sie die Themen so zu behandeln, dass sie dabei allen Beteiligten gerecht werden. Dabei agieren sie so, dass Spannungen und Konflikte 7 Vgl. Mehmet Tuna, Islamische Religionslehrkräfte auf dem Weg zur Professionalisierung, Münster 2019, 218. 8 Vgl. Tuba Işik / Naciye Kamcili-Yildiz, Ein Streitgespräch über Konfessionalität im Religionsunterricht, in: Jan Woppowa / Tuba Işik / Katharina Kammeyer / Bergit Peters (Hg.), Kooperativer Religionsunterricht. Fragen – Optionen – Wege, Stuttgart 2017, 108–123, hier 110.

Isik ˛ / Kamcili-Yildiz Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz

vermieden werden. Tuna kommt auf dieser Grundlage zum Ergebnis, dass nach Ansicht der befragten Religionslehrkräfte das Aushalten von Differenzen und Widersprüchlichkeiten nicht vorgesehen ist.9 »Selbst wenn die IRL über Diversität sprechen, gehen sie kaum auf das Aushalten von Differenzen und Widersprüchlichkeiten ein – im Gegenteil: Man will entweder sämtliche Standpunkte bedienen oder das betreffende Problem überhaupt nicht thematisieren.«10 Das Vorgehen mit als schwierig empfundenen Themen weist so Züge eines Learning about Religion auf, bei der die Weitergabe von Wissen im religionskundlichen Stil erfolgt, ohne auf religiöse Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler Bezug zu nehmen. Die von Tuna beschriebene Situation zeigt aus unserer Perspektive auf folgende Problemlagen hin: 1. Die Lehrkräfte im Dilemma zwischen Loyalität und eigenen Überzeugungen

Tuna beschreibt die Situation der befragten österreichischen Religionslehrkräfte als ein Dilemma von an sie herangetragenen vermeintlich eindeutigen theologischen Vorstellungen. Auf der einen Seite geht es um die Konformität von religiösen Überzeugungen mit denen der Moscheegemeinden. Tuna führt aus, dass bei Inhalten, die der Lehre der Moschee widersprechen oder im Unterricht andere Interpretationsmöglichkeiten aufzeigen, die Lehrkräfte dann von den Moscheegemeinden offen herausgefordert werden. So werden z.B. Zweifel an der religiösen Kompetenz und Autorität der Religionslehrkraft angemeldet, was auch zur Abmeldung vom Religionsun-

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terricht führen kann.11 Auf der anderen Seite werden die Lehrkräfte bei Themen wie Kopftuch, Terror oder Gewalt gegen Frauen mit Fremdzuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert. Sich auf diese Themen einzulassen und sich zu rechtfertigen lässt bei ihnen Gefühle wie Wut, Ärger und Ohnmacht aufkommen. Beispielsweise berichtet eine Religionslehrkraft, dass die Schulleitung von ihr eine klare Positionierung zum Nichtfasten in der Schule einforderte. Solche erzwungenen Positionierungen empfinden die Religionslehrkräfte als eine Einschränkung der Religionsfreiheit.12 2. Im Öffentlichen Diskurs dominieren Themen der islamischen Normenlehre

In Zugängen von Musliminnen und Muslimen zu ihrer Religion hat die theologische Auseinandersetzung mit Gottesnarrativen, die in den Bereich der Kalāmwissenschaft fallen, eine deutlich geringere Bedeutung als der Bereich des Fiqh, der sich mit religiösen Normen befasst. Insbesondere mit dem Aufkommen des Fragenkontextes um »Muslimsein im Westen«, d.h. der Kontextualisierungsbemühungen des Islam auf westlichen Kontinenten13, erfährt das islamische Recht ein gewisses Übergewicht gegen-

9 Vgl. Mehmet Tuna (wie Anm. 7), 226. 10 Ebd., 227. 11 Vgl. ebd., 252. 12 Vgl. ebd., 222. 13 Sabine Schmitz / Tuba Işik (Hg.), Muslimische Identitäten in Europa. Dispositive im gesellschaftlichen Wandel, Bielefeld 2015. Ein typisches Werk in diesem Zusammenhang bildet das Buch von Tariq Ramadan, Muslimsein in Europa. Untersuchung der islamischen Quellen im europäischen Kontext, Köln 2001.

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Positionalität im Diskurs

über anderen Wissensdisziplinen, die Bezugskoordinate für ihre Reflexionen einzunehmen. Ein dichotomisches Denken für den Umgang mit neuen Gegebenheiten und Fragen erscheint als ein plausibler und einfacher Weg, mit einer sich rasant wandelnden Welt und ihren Herausforderungen zurecht zu kommen. Muslime oszillieren förmlich zwischen dem Pol ultraorthodoxer Vereindeutigung der Welt und religiöser Meinungspluralität und dem Pol der Notwendigkeit einer Ambiguitätstoleranz. Diesen zwei Redeweisen des Oszillierens liegen zwei sehr unterschiedliche Gottesvorstellungen zugrunde. Auf der einen Seite steht ein gerechter und barmherziger, dem Menschen Freiheiten zugestehender Gott, der in seiner Ontologie die Vielfalt impliziert und diese Vielfalt in der Welt manifestiert sehen möchte, und zum anderen ein rigider und strafender Gott, der die Einhaltung der göttlichen Gebote und Verbote als Passierschein für den Himmel voraussetzt.14 Hierbei lassen sich nicht nur Lehrkräfte, sondern auch Gläubige insbesondere bei lebenspraktischen Fragen stark verunsichern, wenn v.a. wahhabitische Stimmen laut werden. Diese Tendenz ist allerdings nicht nur in religiösen Gesellschaften zu beobachten, sondern auch in der sozialen Lebenswirklichkeit, wie bspw. in den sog. Social media, die eine eindeutige und authentische, ja profilierte Selbstdarstellung der eigenen Identität erwarten.15 3. Der Bildungsauftrag wird als Glaubensvermittlung interpretiert

Untersuchungen zum IRU zeigen, dass die muslimischen Eltern Erwartungen an die Religionslehrkräfte formulieren, die eher den Zielvorstellungen eines Mo-

scheeunterrichts entsprechen. So zeigt die wissenschaftliche Begleitung des IRU in NRW, dass die befragten muslimischen Eltern erwarten, dass ihre Kinder im schulischen IRU lernen, Koransuren aufzusagen (76,6%), den Koran auf Arabisch zu lesen (53,4%) oder Bittgebete aufsagen (82,9%).16 Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass zumindest die befragten Eltern noch keine Vorstellung darüber entwickelt haben, dass sich die religiösen Bildungsziele im öffentlichen Raum der Schule sich von denen der Moscheeunterweisung unterscheiden. Andere Untersuchungen zeigen, dass diese auch die Zielvorstellungen von muslimischen Religionslehrkräften sind. Nach der qualitativen Erhebung mit 34 angehenden muslimischen Religionslehrkräften bzw. Lehrkräften im Schuldienst in Niedersachsen zur Religiosität und religiösen Selbstverortung wurden 14 Der Psychologe Georg Milzner argumentiert in seinem Buch »Religion und Gehirn« (2013) sowie in »Religiöse und spirituelle Sinnsuche in der Psychotherapie« (Georg Milzner und Michael Utsch im Gespräch mit Uwe Brit-ten, 2019) in Anlehnung an Studien, dass Kinder glücklicher sind, wenn sie eine spirituelle Orientierung haben, die u.a. den Respekt gegenüber anderen Menschen und deren Lebensformen postulieren, diese Zufriedenheit allerdings dann kippen könne, wenn es sich um eine Erziehung mit einer rigiden Auslegung der Religion handelt. 15 Vgl. Ansgar Schnurr, Die bildende Seite der Ambiguität, in: Ansgar Schnurr / Sabine Dengel / Julia Hagenberg / Linda Kelch (Hg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeld 2021, 27–54, hier 36. 16 Vgl. Stiftung Zentrum für Türkeistudien (Hg.), Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitung der Einführung des islamischen Religionsunterrichts (IRU) im Land Nordrhein-Westfalen, Essen 2018, 168.

Isik ˛ / Kamcili-Yildiz Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz

14 befragte Personen in die Gruppe der Wissensvermittlung eingeordnet. Für diese Gruppe steht die Vermittlung von Wissen über die Religion und die Werte in deutscher Sprache, aber auch die Vermittlung der Glaubensgrundlagen und des Wissens über deren Umsetzung an die Schülerinnen und Schüler im Vordergrund. Damit meinen sie vor allem die Ausübung von Ritualen und das Einhalten der Gebote unter Beachtung der Verbote.17 Auch die quantitative Untersuchung zu Kompetenzen von muslimischen Religionslehrkräften in NRW kommt zum gleichen Ergebnis, nämlich dass 45,6% der befragten Lehrkräfte davon ausgehen, dass das Bildungsziel eines schulischen Religionsunterrichts das Lernen zentraler Glaubensaussagen und die Anwendung des erlernten Wissens in der religiösen Praxis ist. 45,2% sehen in dem Bildungsauftrag der Schule für den religiösen Bereich, dass der islamische Religionsunterricht zum Glauben führen müsse.18 Solche Zielvorstellungen, die auf religiöse Inhalte und auf die Frömmigkeit abzielen, ohne dass man sie subjektiv angeeignet hat, stehen im Widerspruch zu den kompetenzorientierten Kernlehrplänen. Nach dem Lehrplan in NRW ist es die Aufgabe des islamischen Religionsunterrichts, »[…] in der Begegnung mit islamischer Glaubensüberzeugung und -praxis zu einer tragfähigen Lebensorientierung beizutragen.«19 Derzeit gibt es in der islamischen Religionspädagogik im deutschsprachigen Raum keine einheitliche Definition, was unter religiöser Bildung im schulischen Kontext verstanden wird.20 Wir als Vertreterinnen unserer Disziplin gehen davon aus, dass ein IRU in der Schule die Aufgabe hat, Reflexionsprozesse anzusto-

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ßen, in denen die Lebenswirklichkeit der muslimischen Schülerinnen und Schüler und ihre Glaubensüberzeugungen wechselseitig ins Gespräch gebracht werden. Das heißt, dass sie befähigt werden, religiöse Phänomene und besonders die eigene Religion historisch, hermeneutisch, ästhetisch und expressiv zu verstehen und zu deuten, um auf dieser Grundlage eine verantwortbare Position in Glaubensfragen einzunehmen. 4. Zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass unterschiedliche Faktoren muslimische Religionslehrkräfte in ihrer Positionierung herausfordern und teilweise behindern. Sowohl die Elternperspektiven, als auch Vorstellungen von Verbandsvertreterinnen und -vertretern sowie Schulleitungen fordern muslimische Religionslehrkräfte heraus, eindeutige Antworten bereitzustellen, die möglicherweise der eigenen Position der Lehrkraft widersprechen. An diesem Punkt spielen religiöse bzw. gesellschaftlich erwünschte Vereindeutigungen eine entscheidende Rolle, die auf Kosten der multiperspektivischen Zugänge zum religiösen Feld bevorzugt werden sollen.

17 Vgl. Rauf Ceylan / Veronika Zimmer / Margit Stein, Religiosität und religiöse Selbstverortung muslimischer Religionslehrer/innen sowie Lehramtsanwärter/innen in Deutschland. In: Theo-Web, 2. Jahrgang 2017, Heft 2, 347ff. 18 Vgl. Naciye Kamcili-Yildiz (wie Anm. 3), 185. 19 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan Islamischer Religionsunterricht, Düsseldorf 2014, 9. 20 Vgl. Naciye Kamcili-Yildiz (wie Anm. 3), 21– 52.

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Positionalität im Diskurs

Überspitzt formuliert könnte man von einer aufgezwungenen Positionalität und damit einer verhinderten Ambiguitätsintoleranz sprechen, da die multiplen Rollenerwartungen, die Entwicklung einer reflektierten Ambiguitätstoleranz verhindern. Damit muslimische Religionslehrkräfte ihre Selbstwirksamkeit und Rollen- bzw. Selbstreflexionskompetenzen entwickeln können, bedarf es in allen Phasen der Religionslehrkräftebildung eines beruflichen Selbstkonzeptes in Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens- und Glaubenspraxis als auch einer Stärkung der Berufsrolle im Kontext der oben beschriebenen Erwartungen von Seiten der Eltern, anderer Lehrkräfte, der Schulleitungen etc. Hierbei kommt aus unserer Perspektive der Ambiguitätstoleranz eine entscheidende Bedeutung zu. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer erinnerte an dieses Konzept der Ambiguitätstoleranz, die er der islamischen Tradition genuin zuspricht: »Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann.«21

Bauer illustriert anhand von unterschiedlichen Themenbereichen, welche Aufge-

schlossenheit bzw. Toleranz gegenüber der Pluralität nebeneinander bestehender Diskurse in der islamischen Tradition auffindbar sind. Es bleibt kritisch festzuhalten, dass in allen Phasen der Ausbildung von muslimischen Religionslehrkräften die Entwicklung einer Ambiguitätstoleranz und damit eine Ambiguitätsförderung angesichts der geschilderten Beispiele von Bedeutung für ihre künftige Religionslehrkraftrolle ist. Eine monolithisch gedachte islamische Theologie in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit entspricht nicht dem muslimischen Selbstverständnis, da selbst das Sunnitentum oder Schiitentum vielfältige Denk- und Rechtsschultraditionen und -praxen in sich vereint. In Anlehnung an Karlo Meyer übernehmen wir für religionspädagogische Settings den Begriff des konstruktiven Ambiguitätsmanagements, was das Ziel ausdrückt, mit Ambigem angemessen umzugehen. Damit ist die Fähigkeit angesprochen, »[…] Ambiguität zu erkennen und auszuhalten, aber auch auf diese hin solche Entscheidungen zu fällen, durch die Neues und Vielfalt gegebenenfalls auch begrenzt wird, und so in der Spanne zwischen völliger Offenheit auf alles hin und intoleranter Einkapselung auch eine mittlere Position einzunehmen, die ausdrücklich beide Bestrebungen zu kombinieren versteht.«22 Inwiefern lässt sich diese Fähigkeit zur Perspektivenvielfalt, in dem Sinne das theologisch und kulturhistorisch Mehr21 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islam, Berlin 2011, 27. 22 Karlo Meyer, Grundlagen interreligiösen Lernens, Göttingen 2019, 288.

Isik ˛ / Kamcili-Yildiz Islamische Religionslehrkräfte zwischen Vereindeutigung und Ambiguitätstoleranz

deutige und Widersprüchliche aushalten als auch zunächst tolerieren und später dann sogar respektieren zu können, überhaupt bilden? Auf welche Weise kann sie in religionspädagogischen Lernsettings entwickelt werden? Inwiefern werden im Studium oder in der Ausbildung von islamischen Religionslehrkräften theologische Unterschiede der Denk- und Rechtschultraditionen vorgestellt und diskutiert? Bislang ist eine ausformulierte Didaktik zum Umgang mit der innerislamischen Vielfalt in der muslimischen Religionslehrkräftebildung für schulische bzw. hochschulische Lehr- und Lernprozesse ein Forschungsdesiderat. Zum konstruktiven Ambiguitätsmanagement gehört es aber, theologische und kulturelle Traditionen der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime zu thematisieren. Eine zu entwickelnde Didaktik hat deshalb die Voraussetzung, dass in der Ausbildung von muslimischen Religionslehrkräften eine solche Fähigkeit eingeübt werden kann. Insofern braucht es eine solche Didaktik für die Religionslehrkräftebildung wie auch eine für die Schülerinnen- und Schülerbildung. Die Didaktik für die Lehrkräfte­bildung aber braucht wiederum die Bereitschaft der islamischtheologischen Disziplinen, Studierende in theologische Argumentationen zu verwickeln, die den (typisch) islamischen Kontext bei Differenzen aufzeigt. Hier mag das didaktische Dreieck aus dem Konzept der Kinder- und Jugendtheologie hilfreich sein, bei dem unterschiedliche theologische Auffassungen zu einem theologischen oder ethischen Problem im Klassenzimmer eingeholt, systematisiert und dargestellt werden, dann durch die Lehrkräfte erweitert und abschließend

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von den Schülerinnen und Schülern diskutiert werden, damit diese ihre je eigene Position finden.23 Auf der Empfängerebene bedarf es dafür aber Studierende, die Bereitschaft aufzeigen, Neues oder Unvertrautes als Anstoß für das eigene theologische Denken aufzunehmen. Für Studierende des Faches öffnet sich mit dem Beginn des Studiums ein großes Feld theologischer Ansätze und Fragen, in die sie ihre Jugendreligiosität mitbringen, die sich aus ihren Erfahrungen in Familie, Moschee und Gesellschaft speist. Um dem Antagonismus aus individuellen Erfahrungen und persönlichen Herausforderungen des Studiums zu begegnen, bietet sich eine frühzeitige Auseinandersetzung mit der künftigen Rolle als Religionslehrkraft und den von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren an sie herangetragenen Erwartungen an, die der Lehrkraft die Balance zwischen divergierenden Anforderungen und gesellschaftlichen Herausforderungen abverlangen.24 Um Reflexionen über die eigenen Positionen auf den Weg zu bringen und sie auch begründet darstellen zu können, bedarf es der Vergegenwärtigung der eigenen biographischen Zugänge genauso wie das Kennenlernen und die Wertschätzung anderer Haltungen. Um auf die Anfangssituation zurückzukommen: Wenn eine muslimische Religionslehrkraft es schafft, dass muslimische Schülerinnen und Schüler argumentativ eine eigene religiös plausibilisierte Position begründen, ob sie Weingummis mit 23 Vgl. Beitrag vom Mirjam Zimmermann in diesem Band. 24 Vgl. Mehmet Tuna (wie Anm. 7), 232ff.

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Schweinegelatine (nicht) essen, ohne dabei andere (theologische) Positionen abzuwerten, war der IRU ambiguitätsfördernd. Genauso legitim ist mit Sicherheit, dass Schülerinnen und Schüler noch keine Position beziehen können, weil Religion und religiöse Praxis eben auch eine Herzensangelegenheit sind. Der Überzeugung zu sein, dass Fruchtgummis mit Schweinegelatine halal sind, aber sie trotzdem nicht

essen zu wollen, ist ein Ausdruck dieser Haltung. Wenn die Lehrkraft Positionen einbringen kann, die in der Gruppe nicht vertreten sind, und auch die eigene Position ausführen kann, die sich möglicherweise von der muslimischen Mehrheitsmeinung unterscheidet, betreibt sie ein gutes Ambiguitätsmanagement. Es bleibt zu hoffen, dass solche Positionierungen häufiger gelingen.

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Mark Krasnov Positionalität im jüdischen Religionsunterricht

1. Ausgangslage

Das Fach Jüdische Religion hat sich in einigen Bundesländern bereits erfolgreich als ordentliches, versetzungsrelevantes Regelfach etabliert. Allerdings kann jüdischer Religionsunterricht aufgrund vieler unterschiedlicher Faktoren noch nicht flächendeckend in ganz Deutschland angeboten werden. Denn jüdischer Religionsunterricht kann sinnvollerweise nur in Städten eingerichtet werden, in denen es eine Jüdische Gemeinde mit entsprechend demographischer Mitgliederstruktur gibt. Ebenso entscheidend ist die Frage nach qualifizierten Lehrkräften, sodass die Unterrichtsversorgung und -organisation im Fach Jüdische Religion nicht einheitlich, sondern standortabhängig geregelt ist. Derzeit gibt es in Deutschland nur fünf vollständig ausgebildete jüdische Religionslehrkräfte mit einem Zweiten Staatsexamen, wobei ein weiterer Lehramtsanwärter gerade sein Referendariat absolviert. Vier Lehrer sind im staatlichen Schuldienst1 tätig, unterrichten an Gymnasien in Hamburg, Köln, Nürnberg oder Wiesbaden und lehren neben Jüdischer Religion noch mindestens ein weiteres säkulares Fach wie Spanisch, Informatik, Geschichte, Deutsch oder Politik. Bedingt durch diesen akuten Mangel an ausreichend examinierten Lehrkräften wird das Fach Jüdische Re-

ligion je nach Standort qua Amt vom Rabbiner oder Kantor der jeweiligen Jüdischen Gemeinde oder von anderweitig qualifizierten Mitgliedern (z.B. durch ein abgeschlossenes Judaistikstudium) unterrichtet, denen die Jüdische Gemeinde eine Unterrichtsbefähigung zuerkennt und denen von staatlicher Seite dann eine Unterrichtserlaubnis erteilt wird. Während das Fach Jüdische Religion nur in Wiesbaden, Heidelberg, Mannheim und Karlsruhe unter dem Dach eines staatlichen Gymnasiums erteilt wird, stellt vielerorts die Jüdische Gemeinde selbst einen Unterrichtstraum zur Verfügung.2 Der jüdische Religionsunterricht wird für alle Klassenstufen und Schulformen angeboten. Hieraus ergibt sich, dass Jüdische Religion im Gegensatz zu den anderen Religionsfächern bzw. Ethik nicht nur klassen-, sondern auch jahrgangs- und sogar schulübergreifend durchgeführt 1 In Hessen und Baden-Württemberg wird jüdischen Religionslehrkräften, die in den staatlichen Schuldienst aufgenommen werden, ein sog. Ischur (hebr.: Erlaubnis) verliehen. Der Ischur gilt analog zur Missio Canonica und der Vocatio, die katholischen bzw. evangelischen Religionslehrkräften ausgehändigt wird, als offizielle Bevollmächtigung zur Erteilung des Religionsunterrichtes in allen Klassenstufen und Schulformen. 2 Vgl. Mark Krasnov, II.4 Religionsunterricht in jüdischer Perspektive, in: Ulrich Kropač / Ulrich Riegel (Hg.), Handbuch Religionsdidaktik, Suttgart 2021, 93.

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wird und folglich als sog. Stadtleiste nur am Nachmittag stattfinden kann. Dieses Unterrichtsmodell beinhaltet somit eine Kooperation aller Schulen, wodurch das Unterrichtsangebot in Jüdischer Religion von allen Schülerinnen und Schülern im gesamten Schulamtsbezirk wahrgenommen werden kann und die jeweils geltende, schulgesetzlich vorgeschriebene Mindestteilnehmerzahl gewahrt ist.3 Des Weiteren gibt es in Deutschland insgesamt 16 jüdische Privatschulen.4 Träger dieser staatlich anerkannten Ersatzschulen in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, München oder Stuttgart ist die jeweilige Jüdische Gemeinde. Diese konfessionellen Schulen zeichnen sich durch ihr genuin jüdisches Profil aus und können daher natürlich nicht gleichermaßen mit dem jüdischen Religionsunterricht im staatlichen Schulsystem verglichen werden. 2. Beitrag des jüdischen Religionsunterrichtes zur Positionalität der Lernenden

Das Fach Jüdische Religion hat zweifelsohne eine bedeutende identitätsstiftende Funktion und befähigt die Schülerinnen und Schüler, sich in einer zunehmend komplizierten Welt zu orientieren und zu unterschiedlichsten Sachverhalten begründet Stellung zu nehmen. Des Weiteren werden die Lernenden zu Selbstständigkeit sowie Toleranz erzogen und dazu angeregt, sich in einem liberalen Staat und einer multireligiösen, pluralistischen Gesellschaft aktiv und selbstbewusst mit ihrer eigenen jüdischen Identität auseinanderzusetzen. Ebenso wie in den anderen Religionsfä-

chern und dem Ersatzfach Ethik sollen sich die Schülerinnen und Schüler auch im jüdischen Religionsunterricht Kenntnisse über ihre Religion aneignen, indem sie sich konstruktiv, kritisch und reflektiert mit traditionellen und modernen Texten beschäftigen. Zentral ist zudem das Kennenlernen ethischer und kultureller Werte der jüdischen Tradition.5 Genau an dieser Stelle wird deutlich, dass sich die Ziele und Inhalte des jüdischen Religionsunterrichtes aus dem eigenen, historisch gewachsenen Selbstverständnis des Judentums ergeben. Das Bekenntnis zum jüdischen Volk drückt sich nämlich seit der Haskala, der jüdischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, nicht mehr einzig durch Religion aus. Die infolge dieses Paradigmenwechsels neu definierte Positionalität, areligiös und trotzdem vollwertig jüdisch zu sein, erfolgt seitdem zunehmend auch durch ethnische Zugehörigkeit. So identifizieren sich bis heute viele jüdische Menschen auf der ganzen Welt über kulturelle Aktivitäten, d.h. durch Pflege und Bewahrung jüdischer Bräuche und jüdischer Kultur, mit ihrem Judentum.6 Dieses sog. »Kulturjudentum« ermöglicht daher ganz ohne religiöse Praxis eine gleichermaßen selbstbewusste Teilhabe am sowie eine stolze Verbundenheit mit dem Judentum.7 3 Vgl. ebd. 4 Hierbei sind neun jüdische Privatschulen im Primar- und sieben im Sekundarstufenbereich verortet. 5 Vgl. Mark Krasnov (wie Anm. 2), 95. 6 Vgl. Arno Herzig / Cay Rademacher (Hg.), Die Geschichte der Juden in Deutschland, Hamburg 2007, 120–121. 7 Vgl. Leo Trepp, Die Juden. Volk, Geschichte, Religion, Hamburg 81998, 93–95.

Krasnov Positionalität im jüdischen Religionsunterricht

Wie jede Lehrkraft nimmt die jüdische Religionslehrkraft bei allen Lernprozessen selbstverständlich wichtige Aufgaben im Sinne der fachbezogenen Aufklärung wahr und trägt im konkreten Fall des Religionsunterrichtes zu einem religionskundlichen Erkenntnisgewinn bei den Schülerinnen und Schülern bei. Doch die Funktion, die eine Religionslehrkraft implizit innehat, ist für die Heranwachsenden insbesondere im Hinblick auf die Positionalität von weitreichenderem Ausmaß, als es für gewöhnlich bei Lehrkräften der profanen Fächer der Fall ist. Dies hängt damit zusammen, dass nur im Religionsunterricht ganz persönliche Glaubens- und Gewissensfragen den eigentlichen Unterrichtsgegenstand bilden und derartige Fragestellungen daher mit ausgiebigen zeitlichen Ressourcen in den Fokus des Unterrichtsgeschehens rücken. Die Schülerinnen und Schüler mögen zwar berechtigterweise in vielen ihrer Lehrerinnen und Lehrer gewisse Vorbilder sehen, doch betrachten die Lernenden oftmals gerade ihre Religionslehrerin bzw. ihren Religionslehrer als Maxime für ihr eigenes moralisch richtiges Handeln. Unter Berücksichtigung der bisher gängigen Definitionen ließe sich dieser Sachverhalt daher als »implizite Positionalität« bezeichnen. Aus diesem Grund ist es umso wichtiger, dass eine Religionslehrerin bzw. ein Religionslehrer authentisch ist und tatsächlich für die von ihr bzw. ihm tradierten Werte und Prinzipien steht. Das Gegenteil könnte erfahrungsgemäß für den Stellenwert von Religion im Leben der Heranwachsenden verheerende Folgen haben. Diese Konsequenzen können trotz einer potentiellen Identifikation über das zuvor beschriebene »Kulturjudentum« sogar bis

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zur gänzlichen Entfremdung bzw. Abwendung vom Judentum selbst führen (vgl. auch den Beitrag von Eva Wenig und Şenol Yağdı, »Oder was anderes …« Empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern im christlich-islamischen Religionsunterricht). Wie kein anderes Fach schafft der (jüdische) Religionsunterricht einen geschützten Raum, in dem die Schülerinnen und Schüler im staatlichen Schulsystem, wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum, unter sich sein können (vgl. auch den Beitrag von Hanna Roose, Positionierung zwischen kinder- und jugendtheologischem Anspruch und alltäglicher Unterrichtspraxis. Empirische Beobachtungen zum »geschützten Raum« im evangelischen Religionsunterricht). Allem voran ermöglicht dies, dass die Lernenden ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, welches, wie bereits aufgezeigt, zugleich religiös als auch ethnisch geprägt sein kann. In diesem Zusammenhang setzen die Schülerinnen und Schüler sich im Rahmen der formellen Erziehung8 unbefangen mit Themen auseinander, die durch die Kerncurricula vorgegeben und für sie als Mitglieder derselben Religionsgemeinschaft relevant sind. Darüber hinaus befassen sich die Heranwachsenden auch mit Themen, die sie als religiöse Minderheit in einer pluralistischen Mehrheitsgesellschaft betreffen. So leistet der jüdische Religionsunterricht schon allein

8 Im Rahmen der informellen Erziehung (Jugendarbeit) erfolgt in den Jugendzentren der Jüdischen Gemeinden sowie in Ferienlagern und auf Jugendtreffen jüdischer Organisationen der informellen Erziehung (Jugendarbeit) eine ähnliche Auseinandersetzung »unter sich« bzw. Beschäftigung »mit sich«.

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durch die bewusste Entscheidung, daran teilzunehmen, einen besonderen Beitrag zur Positionalität der Schülerinnen und Schüler, die ihn besuchen. So wäre auch hier von »impliziter Positionalität« zu sprechen. Natürlich ist auch im jüdischen Religionsunterricht die Dichotomie zwischen Lernenden und Lehrkraft grundsätzlich gegeben. Allerdings zeigt die Unterrichts­praxis, dass die Grenzen hier wesentlich fließender als bei anderen Schulfächern sind. Dies hängt einerseits, wie schon im Rahmen der Glaubens- und Gewissensfragen erläutert, mit dem Fach Religion selbst, andererseits aber auch mit dem familiären Hintergrund der Eltern- und Schülerschaft zusammen. Viele Schülerinnen und Schüler, die heute in Deutschland den jüdischen Religionsunterricht besuchen, stammen aus Familien, die einen Migrationshintergrund aus der ehemaligen Sowjetunion aufweisen und deren Eltern als Jugendliche im Laufe der 1990er Jahre nach Deutschland eingewandert sind. Bedingt durch die religiöse Unterdrückung sowie eine areligiöse, atheistische Erziehung in der ehemaligen Sowjetunion hatten sich die meisten zugewanderten Familien der jüdischen Religion längst, teilweise sogar schon über mehrere Generationen hinweg völlig entfremdet. Aus diesem Grund fehlen den Familien bis heute jedwede Kenntnisse über das Judentum, sodass die meisten Schülerinnen und Schüler aus nicht praktizierenden Familien stammen.9 Nur wenige Kontingentflüchtlinge hatten noch die ein oder andere Familientradition oder -erinnerung bewahrt, die auf das Judentum zurückzuführen war. Es ist daher sogar angebracht, diesen prekären Zustand als »aufgedrängte Positionalität«

zu deklarieren. Immerhin war die Abwendung von der Religion keine bewusst freiwillige Entscheidung, sondern eine vom politischen Regime erzwungene. Trotz dieses soziohistorischen Hintergrundes und den zahlreichen daraus resultierenden Herausforderungen in den zurückliegenden dreißig Jahren waren einige jüdische Familien sehr darum bemüht, dieses Defizit selbst zu korrigieren und sich doch in der ein oder anderen Weise wieder ihrer Religion zu nähern. Allerdings waren viele Familien nicht in der Lage, dieses Vorhaben in der gewünschten Intensität zu verfolgen, da andere alltägliche Verpflichtungen sämtliche zur Verfügung stehenden freien Zeitressourcen in Anspruch nahmen. Dementsprechend sind diese Eltern glücklich darüber, dass für ihre eigenen Kinder ein Unterrichtsangebot in Jüdischer Religion besteht und es den Familien nun möglich ist, durch ihre Kinder zu Hause eine gewisse Renaissance des Judentums zu erleben. Die Eltern profitieren folglich vom Erkenntnisgewinn ihrer Kinder, um ihr eigenes, jahrelang bestehendes Manko auszugleichen. So erklärt sich, weshalb eine jüdische Religionslehrkraft im Zuge ihrer eigentlich neutralen Lehrtätigkeit und Wissensvermittlungsfunktion hin und wieder Aufgaben wahrnehmen muss, die unter anderen Umständen an und für sich den Eltern selbst vorbehalten wären. Obwohl es im Judentum zahlreiche religiöse Richtungen gibt, ist in Deutschland die orthodox geführte 9 Vgl. Martin Goodman, Die Geschichte des Judentums. Glaube, Kult, Gesellschaft, aus dem Englischen übersetzt von Susanne Held, Stuttgart 2020, 581.

Krasnov Positionalität im jüdischen Religionsunterricht

»Einheitsgemeinde« vorherrschend. Dementsprechend ist auch der jüdische Religionsunterricht traditionell ausgerichtet und thematisiert letztendlich das gesamte Spektrum des Judentums. Auf diese Weise lernen die Schülerinnen und Schüler ein facettenreiches Judentum kennen und können ganz im Sinne der Positionalität ihr eigenes religiöses Selbstverständnis gestal-ten und ausprägen. Dies erlaubt es ihnen, sich selbstständig zu positionieren und ihre eigene Nische zu finden, mit deren Gesamtheit an unterschiedlichen religiösen, areligiösen und bzw. oder kulturellen Ausprägungen des Judentums sie sich am meisten identifizieren und in der sie sich persönlich wohlfühlen.10 Die Lehr- und Lerntradition stellt seit den Ursprüngen des jüdischen Volkes einen bedeutenden Grundpfeiler im Judentum dar. Schon seit der Antike waren die jüdischen Gemeinden selbst für die religiöse Unterweisung ihrer Kinder und Jugendlichen zuständig. Auch nach den Schrecken der Scho’ah war der Religionsunterricht eine der ersten Instanzen, die in den DP-Camps eingerichtet und institutionalisiert worden sind.11 An diesen Beispielen aus der Geschichte des jüdischen Volkes wird deutlich, dass der Religionsunterricht ein wesentlicher Bestandteil der jüdischen Gemeinschaft und ihr ursprünglich genuin ist. Dennoch kann das klassische Konzept von Positionalität, wie es uns beispielsweise aus dem katholischen und evangelischen Religionsunterricht bekannt ist, nicht ohne Weiteres auf den jüdischen Religionsunterricht angewandt werden. Aufgrund der zuvor dargestellten soziohistorisch bedingten Vergangenheit der heutigen jüdischen Schüler- und Eltern-

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schaft in Deutschland liegen beim Fach Jüdische Religion bedauerlicherweise noch lange nicht dieselben Voraussetzungen vor, die in den anderen Schulfächern sowie beim Religionsunterricht anderer kleiner Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften viel selbstverständlicher sind (vgl. auch die Beiträge von Tobias Gutmann, Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität – Herausforderungen beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen; Naciye KamciliYildiz / Tuba Işık, Positionalität im islamischen Religionsunterricht; Matthias Krahe, Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive). Es bedarf – sofern dies überhaupt erwünscht ist – sowohl im staatlichen als auch im privaten Schuldienst noch intensiver Bemühungen seitens der Lehrkräfte und der sie unterstützenden Verwaltungsorgane, um primär die Elternschaft vom Stellenwert des Faches Jüdische Religion zu überzeugen, d.h., den jüdischen Religionsunterricht tatsächlich als ebenbürtig zu den anderen Schulfächern wahrzunehmen, anstatt ihm aus den unterschiedlichsten Beweggründen eine nachgeordnete Stellung einzuräumen. Wenn sich hier einst das angestrebte gesunde Selbstverständnis etabliert haben wird, wird auch der Positionalität im jüdischen Religionsunterricht eine insgesamt größere Bedeutung beigemessen werden können (vgl. auch den Beitrag von Oliver Reis,

10 Vgl. Mark Krasnov (wie Anm. 2), 95. 11 Vgl. Yad Vashem / Die Behörde zum Gedenken an die Märtyrer und Helden des Holocaust (Hg.), »Trotz alledem lebe ich«. Jüdisches Leben in den DP-Lager 1945–1956, https://www. yadvashem.org/yv/de/exhibitions/dp_camps/ index.asp, [Zugriff: 13.04.2022].

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Weltanschauliche, religiöse oder theologische Positionalität – Positionalität als Lösung und Problem der KJT im Zueinander von Tradi­ tion und subjektiven Überzeugungen). 3. Praxisnahe Beispiele zur Förderung der Positionalität

Dem Bildungsauftrag des bekenntnisorientierten Religionsunterrichtes gerecht werdend, erwerben die Schülerinnen und Schüler im jüdischen Religions­ unterricht durch verschiedene Inter­ aktionen grundlegende Kompetenzen zur Partizipation am reichhaltigen jüdischen Leben. Dies wird umso tragender, wenn man bedenkt, dass das Judentum in vielen Familien ein »Buch mit sieben Siegeln« ist. Gerade deswegen haben religionskundliche Themen ebenfalls ihren berechtigten Stellenwert im jüdischen Religionsunterricht. Hierbei bedient sich der jüdische Religionsunterricht einerseits seines ganz eigenen, der traditionellen jüdischen Lehr- und Lerntradition genuinen Repertoires an Methoden, verwendet andererseits aber natürlich auch moderne religions­ pädagogische Konzepte der Kinder- bzw. Jugendtheologie. Die Schülerinnen und Schüler erhalten demnach keine dogmatischen Handlungsweisen, die sie »blind« ausführen sollen, sondern setzen sich auf einer Metaebene kritisch und reflektiert mit den jeweiligen Unterrichtsgegenständen auseinander, beleuchten diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln und verstehen dadurch, was sie weshalb machen. Diese reflexive Auseinandersetzung mit der Glaubenspraxis fördert die kinderbzw. jugendtheologische Kompetenz der Schülerinnen und Schüler.12 Zudem be-

fähigt diese reine Sachkenntnis die Schülerinnen und Schüler wiederum dazu, als rational denkende Wesen bewusst und eigenständig zu entscheiden, wie sie künftig in Bezug auf die verschiedenen Unterrichtsthemen agieren wollen. Dies schließt ein, dass bestimmte neu erlernte Handlungen in Zukunft konsequent beibehalten, nur sporadisch fortgeführt, erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen oder eben gar nicht weiterverfolgt werden. Theologische Fragen zu stellen, ist eine der grundlegendsten Methoden des Judentums. Denn aus traditioneller Sicht ebnet eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion den Weg zu einem höheren spirituellen Niveau. Besonders deutlich wird dies beispielsweise am berühmten Lied (»Ma nischtana haLajla hase mikol haLejloth?« / »Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?«), den sog. »vier Fragen«, die alljährlich an Pessach vom jüngsten Familienmitglied im Laufe des Sederabends gestellt und anschließend von der Tischgesellschaft beantwortet werden.13 Um diese vier Fragen überhaupt erst artikulieren zu können, setzt – ganz im Sinne der Kinder- und Jugendtheologie – voraus, dass die Heranwachsenden die besonderen Sachver12 Vgl. Mirjam Zimmermann, Art. Kindertheologie (2015), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex. de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Kindertheologie.100020, PDF vom 20.09.2018). 13 Vgl. Dovid Zaklikowski, Why Ask the Four Questions on Passover?, https://www.chabad.org/holidays/passover/pesach_cdo/ aid/1483424/jewish/Why-Ask-the-Four-Questions-on-Passover.htm, [Zugriff: 13.04.2022].

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halte des Sederabends zunächst physisch als auch mit all ihren Sinnen wahrgenommen haben. Indem die Kinder die prominente Aufgabe erhalten, Fragen zu stellen, werden sie ganz selbstverständlich als gleichberechtigte Dialogpartner14 in die Liturgie eines der für das Judentum wichtigsten Feste involviert. Hierdurch wird zudem eine Grundhaltung der jüdischen Lern- und Lehrtradition offenkundig: Heranwachsende werden beim Theologisieren ausnahmslos immer vollkommen ernst genommen.15 Die erhaltenen Antworten werden von den Kindern gedanklich durchdrungen und in einem dritten hermeneutischen Schritt weiterentwickelt, differenziert und flexibilisiert.16 Dies führt schließlich dazu, dass die Kinder den Sinn von Pessach begreifen und verstehen, dass die Bedeutung dieses wichtigen Festes darin liegt, dass man nur als freier Mensch und keinesfalls wie einst während der Knechtschaft in »Mitzrajim« (Ägypten) als Sklave Fragen stellen und eine eigene Meinung haben darf. Dieser mentale Reflexionsprozess des Heranwachsenden erhält seinen Ausdruck durch eine daran anknüpfende verbale Äußerung durch das Kind selbst.17 Der Sederabend ist ein hervorragendes Beispiel, wie Kinder und Jugendliche entscheidend in ihren »theologischen Kompetenzen«18 gefördert werden können, zu denen im Einzelnen Wahrnehmung und Darstellung, Deutung, Urteil, Dialog, Gestaltung und Handlung gehören19. Der Tanach bietet mit seinen zahlreichen Erzählungen einen nahezu unermesslichen Fundus an Inhalten und Themen. Es ist weithin bekannt, dass wir den Tanach (die Heilige Schrift) dank unter­schied­­­licher Rezeptionsmög-

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lichkeiten als zusammenhängende Geschichte des jüdischen Volkes betrachten können. Darüber hinaus können wir uns gezielt mit den einzelnen Schilderungen über No’ach, die Stammväter und -mütter, die zwölf Stämme, Mosche, Aharon und Mirjam, die Propheten, Richter und Könige sowie über die vielen anderen biblischen Persönlichkeiten auseinandersetzen. Diese Erzählungen können dann für sich allein genommen unter ausschließlich ethisch-moralischen Aspekten betrachtet werden. Ausgehend von den Taten der biblischen Persönlichkeiten arbeiten die Schülerinnen und Schüler Handlungsmaximen für die verschiedensten Lebenssituationen heraus und übertragen diese im Rahmen der Korrelationsdidaktik auf sich selbst. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls auf die didaktische Reduktion zu verweisen, der bekanntlich jeder Unterrichtsgegenstand unterzogen 14 Vgl. Annike Reiß, Art. Jugendtheologie (2015), in: Das wissenschaftliche-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Jugendtheologie.100022, PDF vom 20.09.2018). 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Annike Reiß / Petra Freudenberger-Lötz, Didaktik des Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen, in: Bernhard Grümme / Hartmut Lenhard / Manfred L. Pirner (Hg.), Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, Stuttgart 2012, 133. 17 Vgl. Mirjam Zimmermann (wie Anm. 12). 18 Vgl. Mirjam Zimmermann, Kindertheologie als theologische Kompetenz von Kindern. Grundlagen, Methodik und Ziel kindertheologischer Forschung am Beispiel der Deutung des Todes Jesu, Neukirchen-Vluyn 22012, 131–164. 19 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011, 138.

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wird. So eignet sich beispielsweise Gen 18,1–16 zur Thematisierung von »Gastfreundschaft«. Dagegen stellt Gen 27,1– 41 das Thema »Geschwisterliebe und -hass« in den Mittelpunkt. Anhand von Gen 9,4–6 sowie Ex 19,1–20,21 können »Mindestregeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens« und mit Ex 22,20–26 »soziale Gerechtigkeit« thematisiert werden. Viele Erzählungen sind auch hervorragend geeignet, um Themen wie »Mut« (1. Sam 17,48–51), »Vertrauen« (Num 20,2–13), »Gehorsam und Ungehorsam« (Gen 19,17.26; Ex 32,1–20; Dtn 11,26–28) oder »Frauenrollen« (Ri 4,4–5,31; Est) zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Die Lernenden erweitern durch die Auseinandersetzung mit den biblischen Erzählungen ihr alltägliches Handlungsrepertoire und werden zusätzlich ganz im Sinne der religionspädagogischen Definition von Positionalität dazu befähigt, eigene Handlungsweisen zu begründen und ihrem Gegenüber adäquat zu kommunizieren. Solch ein Vorgehen fördert außerdem die Empathiefähigkeit der Heranwachsenden. Der hierbei angestrebte Perspektivwechsel sensibilisiert sie zur besseren zwischenmenschlichen Verständigung (vgl. auch den Beitrag von Anika Loose, Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch? Überlegungen zur Förderung von Positionalität auf der Grundlage von Einzelinterviews). Die religionspädagogischen Konzepte der Kinder- und Jugendtheologie sowie ihre besondere hermeneutische Vorgehensweise lassen sich bei der Beschäftigung mit dem Tanach natürlich par excellence anwenden. Hierbei muss jedoch unbedingt berücksichtigt werden, dass Theologie so wie jede andere Wissenschaft, die uns im schulischen Bereich begegnet, niemals

mit der Gesamtheit der eigentlichen Disziplin gleichgesetzt werden darf. Hieraus folgt, dass Heranwachsende lediglich auf dem Niveau eines Laien theologisieren können und dass dieses Theologisieren aufgrund fehlender bzw. noch nicht ausreichend ausgeprägter kognitiver Fähigkeiten sowie ausschließlich schulbezogener Fertigkeiten verständlicherweise niemals in wissenschaftlichen Dimensionen erfolgen kann (vgl. auch den Beitrag von Margit Stein und Veronika Zimmer, Positionalität. Eine erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Perspektive).20 Ein weiterer Aspekt, bei dem sich bei den Lernenden Positionalität manifestiert, ist die aktive Teilhabe und -nahme am Gemeindeleben. Indem die Schülerinnen und Schüler des Oberstufenkurses Jüdische Religion anlässlich des Jahrestages der Reichspogromnacht bei der städtischen Gedenkveranstaltung einen eigenen Programmpunkt gestalten, eröffnet sich ihnen eindeutig ein Zugang zur jüdischen Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft. Die Schülerinnen und Schüler sind sich der Verantwortung, die sie bei solch einer Gedenkveranstaltung als junge Generation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland tragen, sehr wohl bewusst und nehmen zweifelsohne mit der erforderlichen Pietät an einer solchen Veranstaltung teil. Des Weiteren wird im jüdischen Religionsunterricht Schülerg’’ttesdiensten eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Diese werden von den Schülerinnen und Schülern der verschiedenen Lerngruppen mit jeweils unterschiedlicher 20 Vgl. ebd., 47.

Krasnov Positionalität im jüdischen Religionsunterricht

Schwerpunktsetzung eigenständig vorbereitet und selbstständig in der Synagoge durchgeführt. Schülerg’’ttesdienste erweisen sich stets als aussichtsreiche generationsübergreifende Projekte, bei dem die engagierten Schülerinnen und Schüler im Vorfeld alle Mitglieder der Gemeinde in die Synagoge einladen. Fachkundig leiten die Heranwachsenden durch den G’’ttestdienst, motivieren alle anwesenden Gemeindemitglieder zur Partizipation und erklären ihnen in diesem Zusammenhang die verschiedenen Bestandteile der Gebete und des Kultes. Somit handelt es sich um eine weitere hervorragende Gelegenheit, bei der Eltern und Großeltern, die sich, wie zuvor erläutert, gar nicht bzw. kaum im synagogalen Ritus auskennen, von ihren Kindern bzw. Enkeln lernen. Außerdem ist es mittlerweile an mehreren staatlichen Schulen Brauch, dass die Schülerinnen und Schüler an Chanukkah im Rahmen des jüdischen Religionsunterrichtes gemeinsam die Kerzen des achtarmigen Leuchters entzünden. Auch anlässlich von Tu biSchwath, dem Neujahrsfest der Bäume, nehmen die Lernenden jedes Jahr zusammen an einer wohltätigen Baumspendenaktion des Jüdischen Nationalfonds KKL teil, um für die Aufforstung und Begrünung des Landes Israel sensibilisiert zu werden. Dies sind zwei gute Beispiele, bei denen bestimmte traditionelle jüdische Handlungsweisen gezielt in den regulären schulischen Alltag integriert werden. Solche Maßnahmen haben identitätsstiftende Funktion und sollen bei den Heranwachsenden einen selbstverständlicheren Umgang mit ihrer Religion fördern. Ebenso wie die Schülerg’’ttesdienste sollen solche gemeinsamen Aktionen den

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Schülerinnen und Schülern begreiflich machen, dass der künftige Fortbestand eines aktiven Gemeindelebens sowie einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft schlechthin letzten Endes in ihrer Hand liegt. Von diesem Standpunkt aus befähigt der jüdische Religionsunterricht die Schülerinnen und Schüler, indem er ihnen die dafür erforderlichen Werkzeuge aufzeigt und sie im Verlauf der Schulzeit zum richtigen Umgang mit diesem wertvollen Gut anleitet. Durch die biblisch und kultisch bedingte enge Verbundenheit des jüdischen Volkes mit dem Land Israel erhält schließlich auch die sog. »Israelkunde« ihren berechtigten Platz im jüdischen Religionsunterricht. Die Beschäftigung mit der Geo- und Topographie des Landes ist schon allein für ein besseres Verständnis des Tanachs und der darin tradierten Geschichte des jüdischen Volkes unabdingbar. Doch ebenso wichtig wie die biblische Überlieferung ist die Kenntnis der Geschichte des jüdischen Volkes bis in die heutige Zeit. Dementsprechend beinhalten die Kerncurricula der verschiedenen Länder in der gymnasialen Oberstufe auch eine vertiefende Auseinandersetzung mit der zionistischen Bewegung bis hin zur Gründung des modernen Staates Israel. Die historische Unterweisung gerade im jüdischen Religionsunterricht erlaubt es, dieses an sich brisante politische Thema möglichst neutral und emotionslos zu behandeln. Im geschützten Raum, den der jüdische Religionsunterricht bekanntermaßen per se schafft, wird schon im Vorhinein ausgeräumt, dass die jüdischen Schülerinnen und Schüler in eine defensive Rechtfertigungshaltung gedrängt werden könnten. Auf diese Weise haben die

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Positionalität im Diskurs

Schülerinnen und Schüler tatsächlich die faire Möglichkeit, zu diesem Sachverhalt eine unbefangene, fundierte eigene Meinung zu entwickeln. Gleichzeitig bereitet es die Heranwachsenden angemessen darauf vor, im späteren Leben nicht in Diskussionen über Israel zu verfallen, die lediglich Stammtischniveau haben. So leistet der jüdische Religionsunterricht ebenfalls im Kontext der Geschichte des jüdischen Volkes einen besonders wertvollen Beitrag zur Positionalität (vgl. auch den Beitrag von Steffi Fabricius, Relationale Positionalität als Zielperspektive [des Theologisierens] im Religionsunterricht?). 4. Aktuelle Herausforderungen, die es noch zu meistern gilt

Es wurde gezeigt, dass die Schülerinnen und Schüler in vielen Bereichen des jüdischen Religionsunterrichtes hinsichtlich ihrer Positionalität gefördert werden. Zudem lernen sie im Zuge der Identitätsstiftung, selbstbewusst mit ihrem Judentum umzugehen, und dass sie stolz darauf sein dürfen, jüdisch zu sein. Dennoch ergeben sich hin und wieder gewisse Situationen, in denen es den Heranwachsenden trotz aller Standpunktfähigkeit schwerfällt, sich zu behaupten, bzw. auf die sie sich gar nicht erst einlassen wollen. Solche Situationen können als »aufgedrängte Positionalität« deklariert werden und stehen im Gegensatz zu einer selbst gewählten »freiwilligen Positionalität« zu einem bestimmten Thema. An dieser Stelle soll auf den regulären Klassenverband im staatlichen Schulsystem hingewiesen werden, in dem es oft, wenn überhaupt, nur eine jüdische Schülerin bzw. einen jüdischen Schüler pro

Klasse gibt. Diese eine Schülerin bzw. dieser eine Schüler wird bei der Beschäftigung mit der Scho’ah immer wieder gebeten, zu berichten, wie und wo die eigene Familie die Zeit während des nationalsozialistischen Regimes verbracht hat. Mit solch einer Aufforderung können jüdische Schülerinnen und Schülern natürlich ganz unterschiedlich umgehen.21 So gibt es sicherlich Heranwachsende, denen es nichts ausmacht, ihre familiären Angelegenheiten im Plenum zu besprechen. Allerdings muss bedacht werden, dass es wiederum Jugendliche gibt, die in dieser Hinsicht zurückhaltender sind und aus den unterschiedlichsten Gründen die dunkelsten Seiten ihrer Familiengeschichte nicht mit all ihren Klassenkameraden teilen möchten. Ein ähnliches Beispiel tritt im Politikunterricht auf. Hier kommt es nicht selten vor, dass die jüdische Schülerin bzw. der jüdische Schüler mit der aktuellen politischen Lage im Nahen Osten konfrontiert oder gar dafür beschuldigt wird. Einige jüdische Heranwachsende werden regelrecht aufgefordert, Stellung zu den dortigen Geschehnissen zu beziehen. In solchen Fällen muss die Klasse aufgeklärt werden, dass eine religiöse Zugehörigkeit nicht automatisch eine nationale Angehörigkeit impliziert, d.h., dass ein Mensch jüdischen Glaubens nicht zwingend israelischer Staatsbürger sein muss.

21 An dieser Stelle soll bewusst keine Unterscheidung nach extro- und introvertierten Schülerinnen und Schülern erfolgen. Ebenso kann in diesem Zusammenhang auch nicht von einem starken oder schwachen Selbstbewusstsein der Heranwachsenden gesprochen werden.

Krasnov Positionalität im jüdischen Religionsunterricht

Verschärft wird das Ganze, wenn jüdische Schülerinnen und Schüler in den Social Media verfälschten Informationen und sog. »Fake News« über das Judentum oder Israel begegnen. Wie aufgezeigt, erwerben jüdische Heranwachsende im Rahmen des jüdischen Religionsunterrichtes ein entsprechendes Faktenwissen und sind dadurch durchaus in der Lage, verkehrte Sachverhalte zu widerlegen und korrekt darzustellen. Jedoch ist es wohl ratsamer, den Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, dass im Internet zu viele Falschinformationen kursieren, als dass man sie alle korrigieren könnte. Stattdessen scheint es in solchen Situationen angebrachter, den Heranwachsenden bestimmte Selbstschutzmechanismen gegen das generelle Phänomen »Fake News« aufzeigen. Es wird auch von Schulwandertagen berichtet, bei denen die Klasse die Synagoge der lokalen Jüdischen Gemeinde besichtigen möchte und der jüdischen Schülerin bzw. dem jüdischen Schüler kurzerhand die federführende Organisation der Exkursion übertragen wird. Auch hier liegt dann ein gravierender Fehlschluss vor, wenn angenommen wird, dass die jüdische Schülerin bzw. der jüdische Schüler einen gewissen »Heimvorteil« hat und daher aus Altruismus sowie intrinsischer Motivation bereit ist, alle Unterredungen mit der Jüdischen Gemeinde zu führen und diesen Klassenausflug zu organisieren. Zu diskutieren wäre noch das Verhältnis zwischen »freiwilliger Positionalität« und der latenten Furcht vor antisemitischen Anfeindungen durch die Mehrheitsgesellschaft. Jüdische Schülerinnen und Schüler stellen sich aufgrund der nicht nur jüngsten soziopolitischen

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Entwicklungen in Deutschland hin und wieder die Frage, ob sie ihr Judentum öffentlich zeigen sollen bzw. wollen. Diese Überlegungen gehen sogar so weit, dass jüdische Eltern aus Sorge um das Wohl ihrer eigenen Kinder diese anhalten, in der Öffentlichkeit Halskettchen und Ohrringe mit dem Davidstern oder einem anderen jüdischen Symbol nicht mehr sichtbar zu tragen. Verbunden mit dieser Problematik ist weiterhin, dass die Schülerinnen und Schüler sich zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Schullaufbahn entscheiden, am ordentlichen Lehrfach Jüdische Religion teilzunehmen. Diese Tatsache erweist sich in den ohnehin schon äußerst heterogenen Lerngruppen (s. Abschnitt 1) für den sukzessiven Aufbau von inhalts- und prozessbezogenen Kompetenzen trotz eines Spiralcurriculums als hinderlich und wirkt sich damit letztendlich auch nachteilig auf eine solide Orientierungs- und Standpunktfähig­ keit aus. Für Außenstehende kaum vorstellbar und fernab von jeglicher selbstbewusster Positionalität ist es, wenn jüdischen Kindern heutzutage von ihrem Elternhaus beigebracht wird, ihr Judentum zu verheimlichen bzw. zu verleugnen. Dies liegt teils darin begründet, dass besorgte Eltern ihre im 21. Jahrhundert in Deutschland geborenen Kinder aus Angst vor antisemitischen Anfeindungen mit einem Gedankengut erziehen, welches zu einer anderen Zeit, in einem anderen Land und einem anderen politischen Regime vorherrschend war. Einen Teil seiner eigenen Identität zu unterdrücken, stellt vor allem in der heutigen Zeit eine verheerende Schieflage dar und sollte uns allen zu bedenken geben.

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Positionalität im Diskurs

Ein jüdisches Selbstverständnis ist in Deutschland ungewollter Weise leider noch nicht für alle Menschen jüdischen Glaubens eine Selbstverständlichkeit, weswegen sich die Frage nach Positionalität im jüdischen Religionsunterricht momentan nur kontrovers beantworten lässt. Es bedarf sicherlich noch viel Idealismus und Überzeugungsarbeit, um diesen status quo zufriedenstellend, nachhaltig und dauerhaft zu verbessern. Sobald wir gemeinschaftlich die in diesem Abschnitt geschilderten Herausforderungen gemeistert haben werden, wird auch in Deutschland in Hinblick auf das jüdische Selbstverständnis endlich die vielfach ersehnte und längst überfällige Normalität einkehren. Erst dann werden wir beim jüdischen Religionsunterricht

davon sprechen können, dass zur Förderung der Positionalität unserer Schülerinnen und Schüler dieselben Voraussetzungen vorliegen, wie es in den anderen Schulfächern seit jeher ganz selbstverständlich der Fall ist. Auch wenn der Weg zu diesem Ziel noch lang und zumindest stellenweise beschwerlich zu sein scheint, sollten wir nach wie vor zuversichtlich bleiben und uns natürlich auch bei solchen Vor-haben in unserer demokratischen, durch westliche Werte geprägten Gesellschaft gegenseitig unterstützen. Voller Optimismus bietet es sich daher an, mit den Worten des Visionärs Benjamin Ze’ev (Theodor) Herzl zu schließen: (»Im tirzu, ejn so Agaddah.« / »Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen.«).

Krahe Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive

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Matthias Krahe Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive

Extra muros ecclesiae wird der Begriff der Positionalität nicht häufig gebraucht. Er wird vor allem bildungstheoretisch in Aufnahme Helmut Plessners Anthropologie und seines Begriffes der exzentrischen Positionalität beforscht. Damit ist grob gesagt gemeint, dass der Mensch sich im Gegensatz zum Tier von außerhalb seiner selbst wahrnehmen, sich selbst erleben kann. In der kritischen Sozialwissenschaft wird andererseits mit Positionalität genau das beschrieben, was einer objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis (in den Sozialwissenschaften) aufgrund des je eigenen individuellen Standpunktes im Wege steht. Mehr noch, der eigene Standpunkt als Gesamtheit des eigenen Geworden-Seins der Forschenden sei selber überhaupt nur sehr schwer in den Blick zu bekommen. Es drängt sich also die Frage auf, warum der Evangelischen Kirche in Bezug auf die Kinder- und Jugendtheologie der Begriff der Positionalität so wichtig erscheint. In diesem Beitrag wird zunächst versucht, aus Sicht des Humanistischen Verbandes darzulegen, warum die Kirche nach Positionalität fragt – auch wenn dies – angesichts des knappen Raumes sicher eine Zuspitzung erfährt. In einem zweiten Schritt soll die Besonderheit des Humanistischen Lebenskundeunterrichts vorgestellt und aufgezeigt werden,

welche Herausforderung sich diesem bezogen auf die Frage nach Positionalität stellt. 1. Warum Positionalität in der Kinder- und Jugendtheologie?

Schaut man sich neuere Veröffentlichungen zu diesem Thema im Rahmen des Religionsunterrichtes an, so ist festzustellen, dass die deutliche Zunahme von Artikeln und Arbeiten durch einen bestimmten Druck getrieben zu sein scheint, den es zumindest zu Beginn der Bundesrepublik so noch nicht gab. Die Religionsfreiheit wurde in das Grundgesetz aufgenommen in einer Zeit, in der 95% Prozent der westdeutschen Bevölkerung Mitglied in einer Kirche waren. Im Religionsunterricht waren fast alle Schülerinnen und Schüler getauft – es herrschte quasi eine religiöse Homogenität vor. Ein bekenntnisgetriebener Religionsunterricht war damit auch möglich. Er sollte ein vertieftes Verständnis des Evangeliums und dessen Kontext ermöglichen und richtete sich mit größerer Selbstverständlichkeit als heute an die vielen konfessionellen Schülerinnen und Schüler. Erst 1994 wurde in der EKD-Denkschrift festgestellt, dass der evangelische Religionsunterricht als allgemeiner Bildungsauftrag verstanden

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Positionalität im Diskurs

werde.1 Bezüglich des Katholischen Religionsunterrichts wurde 1976 im Beschluss der Würzburger Synode erklärt, dass sich der Religionsunterricht auch als Fach versteht, welches die Identitätsbildung junger Menschen unterstützt und vor falschen Absolutheitsansprüchen schützen möge.2 Die Lage hat sich seitdem freilich deutlich verändert: Jährlich treten hunderttausende Menschen aus den Kirchen aus. Diese Entwicklung spiegelt sich seit geraumer Zeit auch in der Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht wider. Wenn in religionspädagogischen Zusammenhängen heute die Frage nach Positionalität gestellt wird, dann überwiegend vor dem Hintergrund nun völlig heterogener Gruppen im Religionsunterricht. Die drängende Frage lautet: Wie kann ein Religionsunterricht stattfinden, der sich nicht nur an religiöse, sondern auch konfessionsfreie Kinder und Jugendliche, nicht nur an evangelische, sondern auch katholische richtet? Und was bedeutet dies für die Positionalität der Religionslehrkräfte und die der Schülerinnen und Schüler? Hinter diesen Fragen stehen mehrere Prämissen bzw. Verkennungen, die es gilt, kritisch zu reflektieren: 1. Religionsunterricht könne religiöse Bildung für alle sein 2. Religionsunterricht sei kein Bekenntnisunterricht 3. Religionsunterricht sei ein legitimer Ort der Missionierung Diese Prämissen und Verkennungen sind programmatisch beschrieben in der 2020 erschienenen Strategieschrift der EKD »Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit«.3

1.1 Die postulierte Bedeutung religiöser Bildung für alle

Die EKD Schrift zeichnet bereits mit der Bezeichnung »Konfessionslose« ein eigentümliches Bild von nicht-religiösen Menschen, insofern damit ein Mangel (an Konfession) insinuiert wird. Während sich konfessionsfreie Menschen tatsächlich in ihrer Freiheit von religiösen Dogmen, Orthodoxie und Orthopraxie verstehen, attestiert die EKD ihnen mit Régis Debray »religiösen Analphabetismus«4. Es wird suggeriert, geschichtliches und kulturelles, gar gesellschaftliches Bewusstsein sei ohne religiöse Bildung nicht möglich, jedenfalls nicht hinlänglich. Zur Vervollkommnung der allgemeinen Bildung sei auch konfessionsfreien Schülerinnen und Schülern demnach eine religiöse, besser: religionsbezogene Bildung zu ermöglichen.5 Diese sei »eine Aufgabe für all diejenigen Bildungsbereiche, die eine große öffentliche Reichweite haben – also: frühe Bildung (in Kindertagesstätten), Erwachsenenbildung und vor allem die Schule.«6 In einer Zeit, in der der Religionsunterricht immer weniger junge Menschen erreicht, sollen andere Bildungsbereiche aufgeschlossen werden. 1 Vgl. Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1994, 11f. 2 Vgl. Der Religionsunterricht in der Schule, in: Ludwig Bertsch u.a. (Hg.), Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 1976, 123–152 (Nr. 2.3.4.). 3 Vgl. https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/konfessionslosigkeit_2020.pdf, [Zugriff: 15.4.2022], im Folgenden EKD-Bildung zitiert. 4 Ebd., 111. 5 Vgl. ebd., 110. 6 Ebd., 112.

Krahe Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive

Die grundsätzliche Verkennung, die sich hier zeigt, ist einerseits das Verständnis von konfessionsfreien Menschen als Mangelwesen. Ein Mangel an Glauben (die Entsprechung wäre religiöse Bildung) oder ein Mangel an historischem, kulturellem Kontextwissen (die Entsprechung wäre religionsbezogene Bildung). Ein solches Verständnis »von oben herab« bedeutet mindestens eine Schieflage im Dialog. Andererseits geschieht eine Verkennung auf bildungs-theoretischer Ebene: Man darf sehr wohl der Auffassung sein, dass gewisse Kenntnisse über Religion zum Verständnis von gesellschaftlichen, ja gar globalen Entwicklungen durchaus nicht sinnlos sind. Allerdings: Dies ist ja bereits Gegenstand des Bildungskanons! Denn diese Wissensinhalte werden im Rahmen der allgemeinen schulischen Bildung in den ordentlichen Fächern wie Geschichte, Kunst, Politik, Sachkunde – religiös neutral – vermittelt. Aus Humanistischer Sicht ist hier allerdings zu fordern, die Rolle der (christlichen) Religionen konsequenterweise sowohl in ihrer historischen Macht- und Missionspolitik als auch in ihrer Bedeutung für den christlichen Antijudaismus und Antisemitismus zu reflektieren. Damit wäre eine religionskritische Bildung tatsächlich Auftrag aller Bildungsbereiche. Kritisch im Sinne wirklicher Unterscheidung. Dem müssten die Kirchen zustimmen können. 1.2 Religionsunterricht sei ohne religiöses Bekenntnis möglich

Religionsunterricht verhält sich zur Religionskunde wie die Theologie zur Religionswissenschaft. Was bedeutet das?

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Sowohl in der Religionskunde als auch in den Religionswissenschaften wird Religion selber zum Gegenstand. Es wird über Religion als Phänomen gelehrt und geforscht. In der Theologie hingegen wird aus dem Glauben heraus ein Gegenstand erforscht, der nur im Glauben überhaupt zu beforschen ist. Theologie redet von und nicht über Gott. Und selbst dies ist nur deutlich eingeschränkt machbar. Karl Barth bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden […].«7 Vor dem Hintergrund dieser Dialektik entfaltet sich Barths Theologie in seiner vielbändigen kirchlichen Dogmatik. Und diese ist alles andere als bekenntnisarm. Theologie ist das Reden von Gott aus dem Glauben heraus und so ist auch Religionsunterricht, im Unterschied zur Religionskunde oder religionsbezogenen Bildung, ein Ort des Lernens aus dem Glauben heraus, ein Ort der religiösen Praxis. Sollte es zumindest sein. Das Berliner Schulgesetz regelt, dass der Religions- und Weltanschauungsunterricht als freiwilliges Fach stattfinden darf. Anbieter sein dürfen neben den Weltanschauungsgemeinschaften nur Religionsgemeinschaften, »… deren Bestrebungen und Tätigkeiten auf die umfassende Pflege eines religiösen Bekenntnisses ausgerichtet und deren Mitglieder auf dieses Bekenntnis verpflichtet und durch es verbunden sind« (§ 13 Abs. 1 Satz 1). 7 Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1929, 158.

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Positionalität im Diskurs

Der Religionsunterricht wird ganz eindeutig vor dem Hintergrund der »Pflege« des religiösen Bekenntnisses verstanden und dieses daher vorausgesetzt. Nun wird unbestritten sein, dass Lehrkräfte, die Religion unterrichten, auch tatsächlich der Kirche angehören sollen und grundsätzlich eine klare religiöse Überzeugung haben und entsprechend Position beziehen können. Von der Gesamtheit der Schülerinnen und Schüler wird dies jedoch nicht zu sagen sein und damit steht und fällt eben auch die performative8 Positionalität der Lehrkraft. Zudem darf nun zu fragen sein: Inwieweit kann religiöse Positionalität, verstanden als religiöse Standpunktfähigkeit, bei allen Schülerinnen und Schülern noch Bildungsziel sein? Wie findet im Religionsunterricht dann also überhaupt noch Bekenntnispflege statt? Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass aus Sicht des Humanistischen Lebenskundeunterrichts auch ein bekenntnisbasiertes Unterrichtsfach selbstverständlich die Regeln des Beutelsbacher Konsenses einhalten sollte: damit sind gemeint Überwältigungsverbot, Kontroversität und Schülerinnen- und Schülerorientiertheit. Nur eines kann Religionsund Weltanschauungsunterricht eben nicht sein: religiös und weltanschaulich neutral. Auch die Behandlung ethischer Werte wird spätestens mit dem Fach Ethik/LER in Berlin/Brandenburg von staatlicher Seite organisiert und auch da wird von einer religiösweltanschaulich neutralen Position aus auf die religiösen Heimaten innerhalb der Ethikgeschichte verwiesen. Die Evangelische Kirche betrachtet den Ethikunterricht als natürlichen Dialogpartner9, die Kooperation wird bil-

dungspolitisch gesucht und somit soll die Bedeutung des Religionsunterrichts in der schulischen Praxis gesichert werden. Es bleibt jedoch darauf hinzuweisen, dass der wesentliche Unterschied damit kaschiert wird, denn auf der einen Seite geht es um ein weltanschaulich neutrales Unterrichtsfach und auf der anderen Seite um ein freiwilliges, religiöses Bekenntnisfach. Es handelt sich schlechterdings um eine konstruierte Nähe. Zumal es nicht zuletzt um die Frage von Teilnehmendenzahlen beim Religionsunterricht geht, die – selbst mit konfessionsfreien Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht – seit Jahren sinken. Schließlich lässt sich der Begriff des Bekenntnisses m.E. nicht ohne einen gewissen Wahrheitsanspruch verstehen. Wahrheit, insofern eine bestimmte reli8 In der Bildungsforschung fand zuletzt die Perspektive des Performativen Beachtung: Diese »Perspektive des Performativen rückt die Inszenierungs- und Aufführungspraktiken sozialen bzw. pädagogischen Handelns, deren wirklichkeitskonstitutive Prozesse sowie den Zusammenhang von körperlichem und sprachlichem Handeln, Macht und Kreativität in den Mittelpunkt. Mit der Idee, Prozesse der Interaktion und dramaturgische Sprach- und Handlungsvollzüge sowie Körperlichkeit und Materialität der Erziehungsund Bildungssituationen in den Mittelpunkt zu rücken, fokussiert der Blickwinkel des Performativen auf Rahmungen, Szenerien, mimetische Zirkulationsformen, Präsentationspraktiken und Darstellungssituationen.« (Christoph Wulf / Jörg Zirfas, Bildung als performativer Prozess – ein neuer Fokus erziehungswissenschaftlicher Forschung, in: Reinhard Fatke / Hans Merkens [Hg.], Bildung über die Lebenszeit. Schriftenreihe der DGfE, Wiesbaden 2006, 291) 9 »Wünschenswert ist deswegen zweitens eine verstärkte Kooperation von Religions- und Ethikunterricht als ordentliche Lehrfächer, welche die evangelische Kirche schon seit langem als ›Dialogpartner‹ versteht.«, EKD-Bildung (wie Anm. 3), 115.

Krahe Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive

giöse Überzeugung das Für-Wahr-Halten transzendentaler Wirklichkeit beinhaltet. Und hier liegt der tiefe Konflikt religiöser Positionalität im Religionsunterricht begründet. Kurz gesagt: Wie aus einer (geglaubten) Wahrheit heraus unterrichten, ohne dass diese Wahrheit bei den Schülerinnen und Schülern vorausgesetzt werden kann? Mehr noch, was wenn eine bedeutende Anzahl der Schülerinnen und Schüler eine gänzlich andere, nämlich eine nicht-religiöse Wahrheit für sich entdeckt hat oder durch seine Eltern vermittelt bekam? Es macht mitunter den Eindruck, als fliehe die Kirche zuweilen vor der eigenen Wahrheit, um noch irgendwie schmackhaft zu sein. Am Beispiel der Berliner Kampagne im Sommer 2021, in dem für den katholischen und evangelischen Religionsunterricht auf großformatigen Straßenplakaten geworben wird, zeigt sich der fehlende Wahrheitsanspruch sehr deutlich. Die Überschrift titelt mit »Glaubt Gott auch an mich?«. Sicher, hier wird ein Perspektivwechsel zu einem fragenden Kind hin vollzogen. Unübersehbar ist aber eben die fragende Haltung, eine suggerierte Offenheit, die es doch so gar nicht gibt, denn das christliche Bekenntnis kennt ja die Antwort. Aber auch im Kleingedruckten lässt sich die fehlende Positionierung erkennen: »Gibt es Wunder? Kommen Tiere in den Himmel? Kinder stellen große Fragen.« Wohlbemerkt: Das katholische Erzbistum ist hier der primäre Urheber des Plakates. Sodann folgt die Beschreibung dessen, was im Religionsunterricht passiert: »Der Religionsunterricht bietet den Freiraum, diesen Fragen mit Gleichaltrigen und Lehrer:innen nachzugehen und

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miteinander Antworten zu finden. Religionsunterricht hat Platz für das, was Kinder bewegt und interessiert.« Es fällt auf, dass der Glaube an Gott, das christliche Bekenntnis zum auferstandenen Christus in keiner Weise Gegenstand der Werbung ist. Dies wird erst dann verständlich, wenn berücksichtigt wird, dass auch um konfessionsfreie Kinder geworben wird. Die Botschaft spricht gezielt auch nicht religiöse Eltern an. Die im Christentum geglaubte Wahrheit indes wird auf dem Plakat unterschlagen, denn eine Werbung für einen bekenntnisbasierten Religionsunterricht, in dem der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes gelehrt wird, findet auf dem Markt der weltanschaulichen Sinnangebote heute kaum noch Nachfrage. Aber genau hier befände sich die Mitte des Evangeliums. Die logische Schlussfolgerung lautet freilich: Die offen gehaltene Positionalität hat eben System. Religionsunterricht soll offen sein für konfessionsfreie Kinder. 1.3 Der Religionsunterricht in seinem Verhältnis zur Missionierung

Angesichts der hohen Zahl von Kirchenaustritten wird auch in der besagten EKD-Schrift die Dialogfähigkeit mit den konfessionslosen – besser: konfessionsfreien Menschen betont. Die Geschichte christlicher Missionierung wird durchaus kritisch reflektiert – ohne freilich, da für die Kirche wesenhaft, aufgehoben werden zu können. »Kommunikation des Evangeliums«, »Mission« und »religiöse Bildung« seien zutiefst aufeinander bezogen und begründen den intendierten

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Positionalität im Diskurs

Dialog mit Konfessionsfreien. Damit ist die Mission jedoch in jeden Dialog zielhaft eingeschrieben. Sicher, auch Habermas fordert einen einander zugewandten Dialog auf Augenhöhe zwischen religiösen und säkularen Bevölkerungsteilen10. Auch er vermutete ein relevantes gesellschaftliches Erbe, welches in den abendländischen Religionen tradiert sei. Aber diese Art Dialog kann eben von Seiten der EKD nicht gemeint sein, sofern sie nämlich die Positionalität konfessionsfreier Menschen – wie oben beschrieben – infrage stellt und gleichsam den Dialog als Instrument der Missio Dei betreibt. Stattdessen wird unter anderem der Begriff der »Religiode«11 eingeführt. Darunter darf – kurz gesagt – alles verstanden werden, was eine nur irgendwie erkennbare Verwandtschaft mit oder Herkunft aus vormals religiösen Inhalten konserviert. Das können Haltungen, ethische Perspektiven, Fragestellungen und Teilpositionen sein. Insofern Profanierung – ganz im Sinne von Giorgio Agamben – als Bestandteil von Säkularisierung im Kern bedeutet, dass etwas ehemals Heiliges in den gemeinen Gebrauch übergeht – man denkt natürlich zuerst an entweihte Kirchen, die nun Seminarhäuser sind – ist es doch nur folgerichtig, dass dies eine Referenz auf die religiöse Vergangenheit beibehält. »OMG!« als jugendkultureller Ausdruck der Verwunderung, »Oh my God!« verweist selbstredend auf die einstige Selbstverständlichkeit eines vorherrschenden religiösen gesellschaftlichen Lebens. Auch die Frage »Warum passiert genau mir das?« – Krankheit, Verlust, Unglück – kann als Theodizeeproblem in eine klassische theologische Grund-

frage gewendet werden. Doch genauso wenig wie alle Seminarteilnehmenden in einer entweihten Kirche Gott suchen, bekunden Jugendliche mit jedem ihrer »OMG«-Ausrufe das Interesse an Taufe und Konfirmation. Und die Frage nach dem persönlich empfundenen Unglück fordert nicht zum Hinweis auf das Buch Hiob auf. Jedenfalls nicht bei konfessionsfreien Menschen. Was bedeutet das für den Religionsunterricht? Die gemeinsame Suche nach Antworten gestaltet sich als Suche nach »Religioden«. Es geht um nichts anderes als um Anschlussfähigkeit. Bezogen auf die konfessionsfreien Kinder im Religionsunterricht meint diese Suche im Grunde die Herstellung von Anschlussfähigkeit. Die Grundlagen für religiöse Sprache und deren Symbole sollen gelegt werden. Auf spielerische Art und Weise wird ein religiöses Gehör trainiert. Ohne jemals wirklich Bekenntnisunterricht zu erteilen – eben weil er offen für alle sein soll – wird es somit möglich, zukünftige Kirchenmitglieder zu gewinnen. Konfessionsfreie Eltern, die ihre Kinder beim Religionsunterricht anmelden, weil sie glauben, dass dort über Religion gelehrt wird, können nicht nachvollziehen, dass ihre Kinder subliminal religiös beschult werden. Und im Gegenzug besteht bei Kindern, die eigentlich evangelischen Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht erleben wollen, die Gefahr der Glaubensbeliebigkeit an-

10 Vgl. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt/Main 2001. 11 Vgl. EKD-Bildung (wie Anm. 3), 116.

Krahe Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive

gesichts der notwendigen Offenheit der Unterrichtspraxis. Aber ganz deutlich: Der Religionsunterricht ist kein legitimer Ort der christlichen Missionierung – wohl aber für einen expliziten Bekenntnisunterricht. Und viele Religionslehrkräfte, die dies sicher ebenso sehen, befinden sich im schmerzhaften Spannungsfeld zwischen eigenem religiösem Standpunkt und systematischer positionaler Offenheit gerade angesichts einer Strategie des angestrebten Dialoges mit Konfessionsfreien. Und dies bei vollem Bewusstsein über die Gefahr der Beliebigkeit der Unterrichtspraxis. 2. Positionalität im Humanistischen Lebenskundeunterricht

Weltlicher Humanismus kennt demgegenüber kein religiöses Bekenntnis. Als Weltanschauung ist er den Religionen deshalb gleichgestellt, weil auch atheistischer oder agnostischer Humanismus von bestimmten Grundannahmen über die Welt ausgeht, über deren Begründung er letztlich nicht verfügt. Man darf sicher davon ausgehen, dass gewisse humanistische Hintergrundüberzeugungen die Qualität eines Glaubens, eines weltlichen Glaubens freilich, besitzen können (auch wenn viele Atheistinnen und Atheisten an dieser Stelle bereits widersprechen werden). Weltlicher Humanismus versteht sich in seiner Weltanschauung in der Tradition antiker bis zeitgenössischer Philosophie, insofern die jeweilige Philosophie an einem vertieften Verständnis der Beziehung dieser Menschen zu dieser Welt interessiert ist. Weltlicher Humanismus

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ist der Aufklärung verpflichtet und erhebt Einspruch auch gegen Religion, wenn darin Unfreiheit organisiert und die Selbstbestimmung des Menschen verneint wird. Weltlicher Humanismus kennt und bekämpft die Gefahren von Totalitarismus – auch von antireligiösen und antikirchlichen Überzeugungen. Was religiöse und weltanschaulich humanistische Menschen unterscheidet, ist die humanistische Überzeugung, quasi das weltanschauliche Bekenntnis, dass die Welt aus sich heraus besteht und auch erklärbar ist. Die humanistische Anthropologie besteht allein in der Verhältnisbestimmung dieser Menschen zu dieser Welt. Sie bestreitet ein transzendentales drittes Element in seiner Weltbeziehung. Das Dilemma des Humanismus besteht gewissermaßen darin, dass sein weltanschauliches Selbstverständnis am klarsten in der Negation eines geglaubten Gottes zum Ausdruck kommt, in dieser Verneinung aber noch immer Gott mitführt. Karl Rahner, der bedeutende katholische Theologe hat diesen Gedanken angesichts der expliziten Verneinung und damit Verwendung des Wortes »Gott« durch Atheistinnen und Atheisten einmal wunderbar beschrieben.12 Wenngleich es ein humanistisches Selbstverständnis13 gibt: Ein positives und sich selbst genügendes weltanschauliches Bekenntnis, von dem sich in der Folge auch eine humanistische Dogmatik ableiten ließe, hat es schwer im Hu12 Vgl. Karl Rahner, Gnade als Freiheit, Freiburg i.Br. 1968, 12. 13 Für den Humanistischen Verband: https://humanismus.de/wp-content/uploads/2020/12/ humanistisches_selbstverstaendnis_hvd.pdf, [Zugriff: 16.04.2022].

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Positionalität im Diskurs

manismus. Man kann dies bedauerlich finden. Hierin mag aber auch eine Chance liegen. Denn die Zulässigkeit diverser Zugänge im Humanismus nimmt damit den Anspruch der Weltlichkeit des Humanismus und seine Ablehnung von orthodoxen Wahrheiten erst wirklich ernst. Weltanschauliche Überzeugung kann aus humanistischer Perspektive ausschließlich als eine menschliche Konstruktion verstanden werden. Sie ist historisch und diskursiv und kann und muss stets aufs Neue reflektiert und kritisiert werden. Die Zulässigkeit muss sich zudem auf dem Prüfstand wissenschaftlicher Diskurse und Erkenntnisse erweisen. Außerhalb dessen dürfen Vermutungen angestellt und Fantasien geträumt werden: »Manchmal fühle ich, dass alles mit allem verbunden ist.« Sie sind allerdings als solche zu kennzeichnen. Die Welt bleibt aber bei aller Forschung und wissenschaftlichen Fortschritts auch für Humanistinnen und Humanisten ein einigermaßen unfassbarer Ort, demgegenüber eine fragende Haltung die nachhaltige und aufrichtige zu sein scheint – aus humanistischer Sicht auf die Frage »Warum bin ich?« wird im Humanistischen Lebenskundeunterricht genauso wenig eine über die biologische Begründung hinausgehende Antwort gegeben werden können wie auf die Frage nach dem Sinn des Lebens – insofern ein äußerer Sinn nun eben aus humanistischer Überzeugung heraus schlechterdings nicht existiert. Auch Humanistinnen und Humanisten können die Welt gleichsam als »wunderbar« oder »apokalyptisch« erleben. Auch bei ihnen kann das Erfahren von Wirklichkeit »Faszination« und ein Gefühl der Ergriffenheit auslösen. Auch

weltlich humanistische Menschen kennen das »Schaudern« angesichts der Weite des Alls. An dieser Position allerdings kennzeichnen sie kein Göttliches in der Welt. Die Erfahrung wird nicht als religiöses Erleben qualifiziert und ist für sie auch keines. Und wahr ist, dass auch Humanistinnen und Humanisten am So-Sein der Welt verzweifeln können. Am Abgrund der Sinnlosigkeit des Seins – ein schöner Ausdruck von Paul Tillich – jedenfalls fühlen sie sich nicht von der Hand Gottes gehalten und bestreiten ein sich hier offenbarendes Unbedingtes. Humanistische Lebenskunde möchte einen Beitrag leisten, sich in Verbindung mit anderen Menschen zu verstehen, die ähnlich empfinden, und durch den Abgrund hindurch, der Sinnlosigkeit zum Trotz, zu einer bewussten Bejahung des Lebens zu finden. Gerade weil es für Humanistinnen und Humanisten keinen Plan für das Leben der Menschen gibt, sondern der Mensch in der Lage ist, sich selbstbestimmt Ziele zu setzen, und weil der Sinn des Lebens nicht gefunden, sondern dem eigenen Leben durch einen selbst nur gegeben werden kann, ist es für konfessionsfreie Menschen wichtig, Selbstbestimmung zu meistern und sich Methoden und Kompetenzen anzueignen, um mit der eigenen Freiheit auch angesichts biografischer Rückschläge in ein verantwortliches Handeln zu gelangen. Genau deshalb besteht das primäre Ziel des Humanistischen Lebenskundeunterrichts in der Aneignung »weltanschaulicher Sprach- und Handlungsfähigkeit« im Sinne des weltlichen Humanismus. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Statt sich mit der Frage zu beschäfti-

Krahe Die Frage nach der Positionalität. Eine humanistische Perspektive

gen, ob der verstorbene Hamster in den Himmel kommt, wird im Lebenskundeunterricht zunächst freigelegt, woher überhaupt die Vorstellung kommt, es gäbe einen Himmel. Unterschiedliche Ideen kommen zu Wort und alle haben in der kindlichen Fantasie und im Lebenskundeunterricht ihre Berechtigung. Entscheidend ist aber die Hinwendung zur Thematisierung des Verlustes und des Umgangs mit dem Verlust. Weder ein jenseitiger Ort nach dem Tod, noch der Tod selber in irgendeiner sinnhaften Bedeutung für das Leben müssen problematisiert und näher vertieft, noch ein Glaube an die Auferstehung von den Toten vermittelt werden. Indem die Lehrkraft danach fragt, welche positiven Erinnerungen mit dem verstorbenen Tier verbunden sind, wird der Weg frei gemacht für die Fragen: Wie geht es mir eigentlich? Benötige ich Hilfe? Was kann ich jetzt für mich tun? Was können wir Menschen für einander tun? Der Tod wird ernst genommen, aber vor allem als eine wichtige Angelegenheit für die Lebenden. Zu der Frage, was nach dem Tod kommt, wird die Lebenskundelehrkraft jedenfalls keine positive Aussage treffen können, sondern die Fragestellung selber mitsamt ihren Voraussetzungen thematisieren. Humanismus gibt auch handfeste Antworten: dass es etwa gut und hilfreich ist, wenn ein Mensch da ist, der zuhört, der in der Lage ist, dich zu verstehen, der deine Gefühle anerkennt, der dich tröstet und ermutigt. Damit ist die weltanschauliche Positionalität im Lebenskundeunterricht im Grunde auch umschrieben: Im Gegensatz zu einem religiösen Bekenntnisunterricht kann der Humanistische Le-

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benskundeunterricht in der fragenden Haltung bleiben. Auf dem Fundament wissenschaftlicher Erkenntnisse wird humanistische weltanschauliche Überzeugung als grundsätzlich menschliche Konstruktion und notwendigerweise unabgeschlossen verstanden. Weltanschaulicher Humanismus bedeutet demnach, diese Unabgeschlossenheit zu ertragen. Er bekennt sich folgerichtig zum Sichinfrage-Stellen oder Sich-zur-Frage-Werden als conditio humana. Die Gretchenfrage oder die Frage nach Gott, von Kindern gestellt, trifft selbstverständlich auch Lehrkräfte des Humanistischen Lebenskundeunterrichts. Sie fordert ohne Umschweife zur Positionierung heraus. So wird die Lehrkraft zum einen den eigenen atheistisch, agnostischen oder skeptischen Standpunkt benennen und ferner ihr Verständnis von Religion einord-nen. In altersgerechter Sprache werden sechs Postulate thematisiert, die dem Humanistischen Lebenskundeunterricht grundgelegt sind: Naturzughörigkeit, Verbundenheit, Gleichheit, Freiheit, Vernunft und Weltlichkeit. Das pädagogische Leitbild14 des humanistischen Lebenskundeunterrichtes fordert entlang dieser Postulate auch die Lehrkräfte heraus, sich in ihrem pädagogischen Handeln zu reflektieren. Das Postulat der Naturzugehörigkeit fordert u.a. zu einem umweltschonenden Umgang mit Materialien im Unterricht auf. Das Postulat der Verbundenheit auch zur Reflektion des pädagogischen 14 Vgl. https://humanistisch.de/sites/humanistisch.de/files/humanistische-lebenskunde/ docs/2021/04/paedagogisches_leitbild_hlk. pdf, [Zugriff: 16.04.2022].

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Positionalität im Diskurs

Einsatzes von digitalen Tools. Das Postulat der Gleichheit zwingt auch in die Auseinandersetzung der pädagogischen Haltung hinsichtlich Beteiligung von Schülerinnen und Schülern und fragt nach Machtdispositiven in der Schüler-/ innen-Lehrkraft-Beziehung. Das Postulat der Weltlichkeit verlangt nach einer klaren weltanschaulich Humanistischen Haltung und fordert die Lehrkräfte heraus, die lebenskundlichen Lerninhalte diesseitsbezogen zu thematisieren. Was unterscheidet also letztlich den Humanistischen Lebenskundeunterricht vom Religionsunterricht als Bekenntnisfach? Der Religionsunterricht darf sein religiöses Bekenntnis nicht in das Zentrum seines Unterrichts stellen, will er auch weiterhin offen auch für konfessionsfreie Kinder- und Jugendliche sein. Nur darf auch keine Missionierung stattfinden. Und ob sich der Religionsunterricht dann noch vom Humanistischen Lebenskundeunterricht unterschiede, darf hinterfragt werden.

Demgegenüber hat der Humanismus kein religiöses Bekenntnis, seine Weltanschaulichkeit geht in seinem Bekenntnis zur Weltimmanenz auf: Die menschliche Würde wird aus den Menschen selbst hervorgebracht und es ist unsere Aufgabe, diese Würde zu verwirklichen. Dieses Bekennen bildet stets das Zentrum des Humanistischen Lebenskundeunterrichts. Dabei helfen uns die Prinzipien der Selbstbestimmung in Verantwortung und die humanistischen Postulate. Und aber genau aus diesem Grund darf nur er – der Humanistische Lebenskundeunterricht – ein Lernangebot für alle Kinder sein, zumal ihm kein Missionsauftrag gegeben ist. Und genau aus diesem Grund drückt ihn auch das Problem der Positionalität nicht so arg. Dieser Beitrag möchte als Einladung zum religiös-säkularen Dialog verstanden werden. Dies sei gesagt ganz im Respekt gegenüber dem christlichen Glauben und fest in der Position des weltlichen Humanismus.

Kraft Religiöse Bildung oder humanistische Bildung »für alle«?

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Friedhelm Kraft Religiöse Bildung oder humanistische Bildung »für alle«? Eine Fortsetzung des »religiös-säkularen« Gesprächs mit Matthias Krahe Matthias Krahe hat sich mit bemerkenswerter Offenheit in seinem Beitrag im Rahmen der Netzwerktagung Kindertheologie September 2021 mit dem evangelischen Religionsunterricht auseinandergesetzt.1 Die zentrale Fragestellung des Beitrages, die Frage nach »Positionalität« im humanistischen Lebenskundeunterricht wird in einem ersten Schritt im Blick auf eine humanistische Betrachtung des Selbstverständnisses und der Praxis des evangelischen Religionsunterrichts – unerwartet ausführlich – entfaltet. Auch wenn die provokanten Thesen zum Religionsunterricht zum Widerspruch herausfordern, wird deutlich, dass hier die »humanistische Perspektive« nicht in einer plumpen Religionskritik profiliert wird, sondern in Form eines Gesprächsangebots. Der Autor formuliert seine durchaus überraschenden Thesen in einer respektvollen Haltung gegenüber Religion und Glaube. Das ist wohltuend und zeigt, dass der weltanschauliche Humanismus seinen Geltungsanspruch nicht mehr allein in der Bekämpfung von Religion sucht. Mit dieser Tonlage ist ein »religiös-säkularer« Dialog möglich, zu dem der Autor einlädt und der an dieser Stelle fortgesetzt werden soll. Im Zentrum der Ausführungen von Krahe steht die These, dass der evangelische Religionsunterricht seinen Auftrag und Charakter als »Bekenntnisunter-

richt« verloren hat, da »er offen für alle sein soll« (136). Er attestiert dem Religionsunterricht die »Gefahr der Glaubensbeliebigkeit angesichts der notwendigen Offenheit der Unterrichtspraxis« (136f). Rückblickend wird gesagt: Der Religionsunterricht war ein »bekenntnisgetriebener« Unterricht, »er sollte ein vertieftes Verständnis des Evangeliums (ermöglichen)« (131 der Folge, »Religionsunterricht sei kein Bekenntnisunterricht« (132) mehr. Die Belege für seine Thesen findet Krahe in dem als »Strategieschrift« deklarierten Grundlagentext der EKD »Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit. Aufgaben und Chancen« aus dem Jahre 2020. Weitere Literatur zum Religionsunterricht wird für die Argumentation nicht herangezogen. Dass der Religionsunterricht sich kritischen Anfragen zu seinen theoretischen Grundlagen wie praktischen Gestaltungen stellen muss, gehört zum Selbstverständnis eines Faches mit einer elaborierten und weit über den nationalen Kontext anerkannten Fachwissenschaft als Bezugsdisziplin. In diesem Sinne hat die Wahrnehmung von Krisenerscheinungen im Religionsunterricht seit den 70er Jahren in der Religionspädagogik als »Theorie religiöser Bildung« (Martin 1 Siehe in diesem Band S. 131–140.

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Positionalität im Diskurs

Rothgangel) eine lange Tradition. Der Wandel und die Neuakzentuierung von religionsdidaktischen Konzeptionen verdeutlichen, wie auf Herausforderungen, veränderten Rahmenbedingungen und des Empfindens eines Ungenügens über den Status Quo Aufgaben und Ziele des Religionsunterrichts neu bestimmt wurden. Mit diesem Hinweis versteht es sich von selbst, dass die kritischen Anfragen von Krahe erst einmal ernst zu nehmen sind, auch wenn hier ein »Außenblick« formuliert wird, der von den pluralen und vielfältigen Entwürfen der Religionspädagogik in seltsamer Weise unberührt bleibt. Angesichts einer zunehmenden Kirchendistanz bei gleichzeitiger religiöser Pluralisierung und einer Zunahme von Konfessionslosigkeit formuliert Krahe seine Anfragen: »Inwieweit kann religiöse Positionalität, verstanden als religiöse Standpunktfähigkeit, bei allen Schülerinnen und Schülern noch Bildungsziel sein? Wie findet im Religionsunterricht dann also überhaupt noch Bekenntnispflege statt?« (134) Anders formuliert: Wie kann im Religionsunterricht aus einer »(geglaubten) Wahrheit heraus unterrichtet« werden, »ohne dass diese Wahrheit bei den Schülerinnen und Schülern vorausgesetzt werden kann?« (135) Spannend ist nun zu sehen, dass Krahe in seiner Analyse dem Religionsunterricht nicht nur einen »tiefe(n) Konflikt« attestiert, sondern ihm einen humanistisch inspirierten Weg aus der scheinbaren Krise weist. Der Religionsunterricht soll (wieder) »Bekenntnisunterricht« werden, in dem »der Glaube an den gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes

gelehrt wird« (135) und sich – hier wird das eigentliche religionspolitische Anliegen formuliert – nur noch explizit an evangelische Schülerinnen und Schüler wendet. Soweit der von Krahe freundlich vorgetragene »fremde« Blick auf den evangelischen Religionsunterricht. Deutlich wird dennoch ein »garstiger Graben« (G.E. Lessing), der tiefgreifende bildungstheoretische sowie schul- und religionspolitische Dissense offenbart. Diese sollen zumindest in Ansätzen angezeigt werden. 1. Religionsunterricht als »Kirche in der Schule«

Krahes Bild von Religionsunterricht erinnert an Diktionen eines Konzepts, das den Religionsunterricht nach 1945 als »Evangelische Unterweisung« prägte und eine offenbarungstheologische Grundierung hatte. Dass Krahe in seinem Beitrag Karl Barth zitiert, passt in dieses Bild. In der Tat war die Evangelische Unterweisung in der Tradition der Bekennenden Kirche von der Theologie Karl Barths geprägt, sie verstand sich als »nachgeholter Taufunterricht«, als »Kirche in der Schule«. Dieser Ansatz bildete ebenso die Grundlage für den Religionsunterricht in Berlin. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Bekennenden Kirche war dem damaligen verantwortlichen Leiter der Kirchlichen Erziehungskammer – Hans Lokies – evangelischer Religionsunterricht nur noch als »kirchliche Veranstaltung« in enger Anbindung an die Gemeinde denkbar. Der Blick in die Geschichte des »Berliner Modells« kann an dieser Stelle nicht vertieft wer-

Kraft Religiöse Bildung oder humanistische Bildung »für alle«?

den. Nur so viel: Mit dem sogenannten »Berliner Modell« eines von der Kirche verantworteten Religionsunterrichts hat sich in Berlin eine kirchlich-katechetische Tradition und damit ein Verständnis religiöser Bildung entwickelt, in dem Religionsunterricht gleichsam zu einem Sonderbereich schulischen sowie kirchlichen Handelns erklärt wurde. Die Bemühungen der Kirchen, Religionsunterricht aus diesem Sonderbereich in die »ordentliche« Struktur des Fächerkanons der Schule zu überführen, sind – so wissen wir – schulpolitisch gescheitert. Dazu hat auch der Humanistische Verband in Berlin aktiv beigetragen.2 2. »Bekenntnisunterricht« als »Kampfbegriff«

Im Zentrum der Argumentation von Krahe steht die Formel vom »bekennenden Unterricht«. Religionsunterricht wird als »freiwilliges, religiöses Bekenntnisfach« im Gegensatz zu »weltanschaulich neutralen« Unterrichtsfächern bestimmt (134). Unstrittig ist, dass, sowie die Theologie eine »bekenntnisgebundene« Wissenschaft ist, auch der Religionsunterricht ein an das Bekenntnis einer Religionsgemeinschaft gebundener Unterricht ist. Krahe spricht an einer Stelle seines Beitrages richtig von einem »bekenntnisbasierten« Unterrichtsfach. Allerdings werden die rechtlichen Grundlagen des Religionsunterrichts damit nicht hinreichend beschrieben. In Berlin ist Religions- und Weltanschauungsunterricht ebenfalls eine in abgestufter Form »gemeinsame Angelegenheit« (res mixta) von Staat und Religions- und Weltanschau-

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ungsgemeinschaften, auch wenn Art. 7 GG in seiner Bestimmung des Religionsunterrichts als »ordentliches« Lehrfach keine Gültigkeit hat. Der Religionsund Weltanschauungsunterricht wird in der Berliner schulpolitischen Tradition nach 1945 als »Sache der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften« (§13 SchulG) bestimmt. Die rechtlichen Bestimmungen eröffnen den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze für Erziehung und Bildung einen eigenen Gestaltungsraum in der Schule. Die Lehrpläne werden von der Bildungsverwaltung auf Übereinstimmung mit den Wertorientierungen der Berliner Schule geprüft.3 Das »Recht auf Religion« von Kindern und Jugendlichen wird in der Berliner Schule (leider oft nur) formal gewahrt. Und nicht zuletzt: Der Religions- und Weltanschauungsunterricht wird zu einem weit überwiegenden Anteil vom Berliner Senat finanziert. In den Jahren des »Berliner Glaubenskrieges« bzw. »Berliner Kulturkampfes«, der mit dem Scheitern des Volksentscheides am 26. April 2009 die öffentliche Diskussion zur Statusfrage des Re2 Vgl. als kurze Hinführung: Der Religionsunterricht – ein Bildungsangebot der EKBO mit Zukunft, hg. von Friedhelm Kraft, Berlin 2019, 13ff. 3 »Die jeweiligen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bestimmen die Unterrichtsinhalte, müssen aber die Rahmenlehrpläne genehmigen lassen, damit gewährleistet ist, dass der Religionsunterricht den gleichen Maßstäben wie für den allgemeinen Unterricht gerecht wird.« Es dürften nur Lehrkräfte unterrichten, die ein »fachwissenschaftliches Studium« absolviert haben. Vgl. Website der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (www.berlin. de/sen/bildung/unterricht/faecher-rahmenlehrplaene/religion-und-weltanschauung/, [Zugriff: 16.4.2022]).

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Positionalität im Diskurs

ligionsunterrichts erst einmal beendete, avancierte die Formel »bekennender Unterricht« zum entscheidenden Kampfbegriff der sogenannten Gegner eines Wahlpflichtmodells. Es ging darum, mit der Formel »Bekenntnisunterricht« die prinzipielle Differenz und Unvergleichbarkeit zu einem »allgemeinen« (neutralen) Unterricht zu markieren.4 Krahe reiht sich in diese Argumentationslinie ein, wenn er – ohne zwischen juristischen und didaktischen Begründungsebenen zu differenzieren – Religionsunterricht verkürzend als »Bekenntnisunterricht« (ab)qualifiziert. Ihm geht es damit augenscheinlich weniger um die verfassungs- und schulrechtlich unstrittige »konfessionelle Positivität und Gebundenheit« des Religionsunterrichts, sondern um die Bestreitung und Infragestellung des prinzipiellen Fachanspruchs im Zusammenspiel der anderen schulischen Fächer. Dass Religionsunterricht von seinem Selbstverständnis her ein spezifischer Beitrag zu den Bildungsaufgaben von Schule darstellt, dass er daher schul- und bildungstheoretisch im Rahmen einer Fachdidaktik begründet und konzipiert werden muss, wird mit der Formel »Bekenntnisunterricht« bewusst unterschlagen. 3. »Performative Positionalität« der Lehrkräfte

Religionsunterricht soll und muss »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« (Art. 7 GG) erteilt werden. Ohne diese »Übereinstimmung« kann von Religionsunterricht in Deutschland nicht gesprochen werden. Die EKD hat bereits im Jahre

1971 in einer bis heute maßgebenden Stellungnahme ihr Verständnis und ihre Auslegung dieser Bestimmung formuliert.5 Deutlich wird hier ein Verständnis von theologischer Grundlegung, indem Theologie als kritische Reflektion der Glaubensbekenntnisse und ihrer Geschichte und Gegenwart begriffen wird. Der hermeneutisch-theologische Zugang zu Glaubensaussagen und Bekenntnissen gilt damit als »Grundsatz« auch für den Religionsunterricht. Die Stellungnahme verweist auf die konfessionelle Bindung der Religionslehrkräfte, die die konfessionelle Ausrichtung des Religionsunterrichts bestimmen, wenn der Unterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft erteilt wird.6 Auch Krahe konstatiert die konfessionelle Zugehörung der Religionslehrkräfte, die den Religionsunterricht als »konfessionellen« Unterricht ausweist, stellt aber die »performative Positionalität« der Lehrkräfte grundsätzlich in Frage. Die Begründung ist überraschend: Schülerinnen und Schüler haben in ihrer Gesamtheit keine »klare(n) religiösen Überzeugungen«, daher kann die »per4 Vgl. Friedhelm Kraft, Religionsunterricht in Berlin – der öffentliche Streit um das von den Kirchen vorgeschlagene Konzept der Fächergruppe, in: Götz Doyé / Hildrun Keßler (Hg.), Konfessionslos und religiös. Gemeindepädagogische Perspektiven, Leipzig 2002, 159ff. 5 Vgl. Stellungnahme des Rates der EKD zu verfassungsrechtlichen Fragen des Religionsunterrichts (vom 7.7.1971), in: EKD-Kirchenkanzlei (Hg.), Die evangelische Kirche und die Bildungsplanung, Gütersloh 1972, 119ff. 6 Vgl. Gottfried Adam / Rainer Lachmann, Begründungen des schulischen Religionsunterrichts, in: Martin Rothgangel / Gottfried Adam / Rainer Lachmann (Hg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 2012, 151ff.

Kraft Religiöse Bildung oder humanistische Bildung »für alle«?

formative Positionalität« der Lehrkräfte nicht zum Tragen kommen (134). Mit anderen Worten: Da der Religionsunterricht auf die »Bekenntnispflege«7 ausgerichtet sein sollte, ein »Bekenntnis« aber bei Schülerinnen und Schülern nicht (mehr) vorausgesetzt werden kann, erweist sich die »Positionalität« der Lehrkräfte praktisch folgen- bzw. wirkungslos. Der Religionsunterricht verliert in dieser Logik sein konfessionelles Gesicht zugunsten einer programmatischen »Verkennung« (Krahe) als »religiöse Bildung für alle« (132). Wie bereits gesagt: kritische Anfragen an die Gestalt und Praxis des Religionsunterrichts sind erst einmal ernst zu nehmen. Unstrittig ist, dass der Religionsunterricht für immer mehr Schülerinnen und Schüler eine Erstbegegnung mit Religion und christlichem Glauben darstellt. Das mindert aber nicht seine bildungspolitische Bedeutsamkeit. Im Gegenteil: Weil der Religionsunterricht nicht mehr an selbstverständliche familiäre Formen gelebter und praktizierter Religion anknüpfen kann, hat er die Aufgabe Schülern und Schülerinnen in evangelischer Perspektive »Religion als eine Dimension der Wirklichkeit zu erschließen und elementare Zugänge zu Religion zu eröffnen«8. Nun wissen wir alle, dass es keine Patentrezepte gibt, wie sich das religionspädagogisch Gewünschte in konkrete Praxis übertragen lässt. Dass zwischen normativen Vorgaben und einer unterrichtlichen Praxis eine Spannung besteht, wird sich mit Sicherheit in allen Fachdidaktiken der Schule beobachten lassen. Das gilt ebenso für die humanistische Lebenskunde. Bereits Rudolph Englert hat in einem Beitrag aus dem Jahre 2015 auf eine

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vorherrschende Entwicklungstendenz zur »Versachlichung des Umganges mit Religion und religiösen Zeugnissen« hingewiesen. Englert spricht von einer Tendenz zur »Versachkundlichung« des Unterrichts.9 Inwieweit sich diese Diagnose einer »Versachkundlichung« des Unterrichts auch auf die humanistische Lebenskunde übertragen ließe, wäre noch zu erörtern. Dennoch steht diese Beobachtung in Spannung zur religionsdidaktischen »Großwetterlage«. In den aktuellen religionspädagogischen Ansätzen bzw. didaktischen Leitbildern sind Fragen nach »gelebter« Religion und die Begegnung mit »authentischer« Religion von wesentlicher Bedeutung. Religion soll »gezeigt« und – zumindest »probeweise« – mit allen Sinnen erfasst und erlebt werden. Anders gesagt: Religion soll als ein »Modus der Welterfahrung« in der Schule zur Geltung gebracht werden. Der Religionsunterricht soll Schülerinnen und Schülern eine Begegnung mit Religion 7 Der von Krahe geprägte Begriff der »Bekenntnispflege« ist aus dem Berliner Schulgesetz abgeleitet. Dort heißt es: »Als Träger von Religionsunterricht kommen nur solche Vereinigungen in Betracht, die die Gewähr der Rechtstreue und der Dauerhaftigkeit bieten und deren Bestrebungen und Tätigkeiten auf die umfassende Pflege eines religiösen Bekenntnisses ausgerichtet und deren Mitglieder auf dieses Bekenntnis verpflichtet und durch es verbunden sind« (§13 SchulG). 8 Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 10, hrsg. von Friedhelm Kraft, Berlin 2018, 5. 9 Vgl. Rudolf Englert, Das Prinzip der Konfessionalität und die Realität des Religionsunterrichts – Anstöße aus der Unterrichtsforschung, in: Ludwig Rendle (Hg.), Beobachtung und Teilnahme. Perspektivenwechsel im Religionsunterricht, München 2015, 13–22.

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Positionalität im Diskurs

eröffnen, er soll »in« Religion einführen und darf sich daher gerade nicht auf einen Unterricht »über« Religion in einem religionskundlichen Sinne beschränken. In diesem Sinne leistet Religionsunterricht einen Beitrag zur »Pflege religiöser Semantiken« (Niklas Luhmann) am Lernort Schule. 4. Religionsunterricht und Bildung

Wenn Krahe von »religiöser Positionalität« als »Bildungsziel« des Religionsunterrichts spricht, werden Erinnerungen an eine Religionspädagogik geweckt, die religiöse »Erlebnisse« (Richard Kabisch), später durch eine »verkündigende« Unterweisung Schülerinnen und Schüler in eine »Entscheidung« (Gerhard Bohne) oder religiös bedeutsame »Erfahrungen« als Aufgabe des Religionsunterrichts bestimmt haben. Karl Ernst Nipkow spricht in der Rückschau von religionspädagogischen Postulaten, die »eine ständige Gratwanderung zwischen zulässigen Zumutungen und unzulässigen Überforderungen«10 zur Folge hatten. Gemeinsam ist diesen Ansätzen ein zumeist ungeklärtes Verhältnis von Erziehung und Bildung. Es ist das uneinholbare Verdienst von Karl Ernst Nipkow, dass er den Bildungsbegriff als Leitkategorie für evangelische Bildungsverantwortung neu programmatisch verankert hat. In diesem Sinne hat der Religionsunterricht einen Platz in der Schule, wenn er Aufgaben und Ziele von dem Bildungsauftrag der Schule ableiten kann. Damit gehört zum unhintergehbaren Selbstverständnis des Religionsunterrichts, dass er als religiöse Bildung einerseits einen Beitrag zur religiösen Orientierung von Kindern und

Jugendlichen, andererseits einen Beitrag zu den übergreifenden Bildungsaufgaben der Schule leistet.11 Wird der Religionsunterricht als religiöse Bildung und nicht als religiöse Erziehung begriffen, kann »religiöse Positionalität« kaum als Zielorientierung Geltung haben. Wesentlich bescheidener formuliert der Rahmenlehrplan: Schülerinnen und Schüler erwerben Fähigkeiten und Fertigkeiten im Religionsunterricht, die die Entwicklung eines »eigenen Standpunktes im Blick auf religiöse Orientierungen« ermöglichen.12 Weiterhin muss gesagt werden: Weil der Religionsunterricht sich als Bildungsangebot versteht, kann er sich gerade nicht nur exklusiv auf evangelische Schülerinnen und Schüler beziehen, sondern ist prinzipiell ein Angebot an alle Schülerinnen und Schüler. Die Behauptung von Krahe, dass damit notwendigerweise ein Profilverlust einhergeht, lässt sich kaum empirisch belegen.13 Stattdessen zeigt der Beitrag von Krahe, dass in seiner Diktion eine bildungstheoretische Begründung für religiöse Bildung keinen Platz hat. Religionsunterricht wird faktisch von der Bildungsaufgabe der Schule abgekoppelt. Er hat lediglich als »Bekenntnisunterricht« für evangelische Schülerin10 Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 1990, 256. 11 Vgl. bis heute richtungsweisend: Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der EKD, Gütersloh 1994. 12 Rahmenlehrplan (wie Anm. 8), 8. 13 Auch im Blick auf die »Wahrheitsfrage« spricht der Rahmenlehrplan eine klare Sprache, indem als Aufgabe formuliert wird, »der Frage nach Wahrheit auch als einer persönlichen Gewissheitserfahrung einen Raum zu geben« (Rahmenlehrplan, 5).

Kraft Religiöse Bildung oder humanistische Bildung »für alle«?

nen und Schüler in den Räumen der Schule eine Berechtigung und darf sich daher nicht als Bildungsangebot auch für »konfessionsfreie« Schülerinnen und Schüler verstehen. An dieser Stelle reichen sich »säkulare« Bildungstheorie und »säkulare« Religionspolitik die Hände. Krahe agiert in aller Offenheit als Verbandspolitiker, der das Selbstverständnis des Humanistischen Verbandes als Interessenvertretung aller »konfessionsfreien« Menschen auf die Schule überträgt. Humanistische Lebenskunde ist das Fachangebot für alle Schülerinnen und Schüler, die keiner Konfession angehören. Dass sich ein bedeutsamer Anteil konfessionsloser Menschen als religiös bezeichnet, bleibt ebenso ausgeblendet, wie die Tatsache, dass sowohl am evangelischen Religionsunterricht als auch – noch mehr – am Lebenskundeunterricht muslimische Schülerinnen und Schüler teilnehmen. »Believing without belonging« gilt nicht nur für ein »anonymes Christentum« (Karl Rahner), sondern in einem viel stärkeren Maße für einen weltanschaulichen Humanismus, der sich als institutionelle Verortung aller Konfessionslosen versteht. Auch Krahe unterliegt letztlich dieser grandiosen Selbsttäuschung, wenn er für Schülerinnen und Schüler ohne konfessionelle Verankerung die humanistische Lebenskunde als das adäquate »Lernangebot« deklariert, während die verbleibenden »Evangelischen« den evangelischen Religionsunterricht im Sinne einer »Pflege des Bekenntnisses« besuchen dürfen. Die Unübersichtlichkeit des religiös-weltanschaulichen Pluralismus macht nicht vor den Toren der Schulen Halt. Daher nehmen »Religiöse« am Lebenskundeunterricht teil,

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wie »Nicht-Religiöse« am evangelischen Religionsunterricht. 5. Humanistische Lebenskunde: Bekenntnisunterricht ohne Bekenntnis

In seinem – weit weniger ausführlichen – zweiten Teil seines Beitrages stellt Krahe im Blick auf »Positionalität« Grundlagen und Selbstverständnis des humanistischen Lebenskundeunterrichts dar. Der »weltliche Humanismus« wird in Augenhöhe mit den Religionen beschrieben, insofern »atheistischer oder agnostischer Humanismus von bestimmten Grundannahmen über die Welt ausgeht, über deren Begründung er letztlich nicht verfügt« (137). Die humanistische Lebenskunde hat ein »weltanschauliches Bekenntnis« als Grundlage, ist also zumindest schulrechtlich wie Religionsunterricht ein »Bekenntnisunterricht«. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Krahe legt in bemerkenswerter Klarheit das Dilemma eines »weltlichen Glaubens« offen, der »sein weltanschauliches Selbstverständnis am klarsten in der Negation eines geglaubten Gottes« (137) zum Ausdruck bringt. Ein »weltanschauliches Bekenntnis« – wie Krahe mit Be-dauern formuliert – hat es »schwer im Humanismus« (137f). Humanistische Lebenskunde ist damit einerseits ein »bekenntnisbasiertes Unterrichtsfach«, andererseits praktisch ein Unterricht ohne Bekenntnisinhalte, da das »Bekenntnis zur Weltimmanenz« (140) sich primär der Abgrenzung von einer religiösen Weltsicht verdankt. Mit anderen Worten »humanistisch« formuliert: Religionsunterricht kennzeichnet die »Abwendung«

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Positionalität im Diskurs

vom »Bekenntnis«, humanistische Lebenskunde die Offenheit einer »fragenden Haltung« ohne »dogmatisierbares« Bekenntnis. Spannend ist nun zu sehen, dass Krahe die Schwäche der bekenntnisgebundenen humanistischen Lebenskunde ohne Bekenntnisinhalt gleichsam mit einem schulpolitischen »Zaubertrick« in eine vermeintliche Stärke wandelt. Ohne religiöses Bekenntnis und ohne Missionsauftrag »darf nur er – der Humanistische Lebenskundeunterricht – ein Lernangebot für alle Kinder sein« (140). Der Erfolg der humanistischen Lebenskunde gibt Krahe scheinbar recht. Die gesellschaftliche Akzeptanz und öffentliche Unterstützung der humanistischen Lebenskunde ist unübersehbar.14 Eine zentrale Frage bleibt jedoch offen: Worin unterscheidet sich eine humanistische Lebenskunde »für alle« von einem obligatorischen Ethikunterricht? Die Offenheit einer »fragenden Haltung« als pädagogische Maxime ist sicherlich wünschenswert für alle Unterrichtsfächer der Schule. Das Versprechen »weltanschaulicher Sprach- und Handlungsfähigkeit« als »primäre(s) Ziel«

(138) der humanistischen Lebenskunde verbleibt mit dieser Maxime nicht nur didaktisch in einem »luftleeren Raum«. Inwieweit das abstrakte »Bekenntnis zur Weltimmanenz« sich einer schulischen Vermittelbarkeit entzieht, ist aus kirchlicher Sicht keine Frage. Die theologische Einsicht in die Unverfügbarkeit des Glaubens gilt auch für einen »weltlichen« Glauben. Damit wird die unterrichtliche Bedeutung des Lebenskundeunterrichts für ethisches Lernen – und in Ansätzen religionskundliches Lernen – keineswegs gemindert. Im Gegenteil: Ein Unterricht, der Sinn- und Orientierungsfragen schülerbezogen thematisiert, leistet einen Beitrag zur Bildungsaufgabe von Schule, auch wenn er als solcher (noch) nicht ausgewiesen wird.

14 Lebenskunde hat in den Berliner Grundschulen im Vergleich zu Religionsunterricht die mit Abstand höchsten Teilnehmerzahlen. Insgesamt erreicht der Religionsunterricht mehr Schülerinnen und Schüler als die humanistische Lebenskunde, da das Unterrichtsangebot des HVD sich mit wenigen Ausnahmen an die Grundschulen richtet.

Gutmann Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität

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Tobias Gutmann Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität – Herausforderungen beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen 1. Einleitung

In der heutigen Philosophiedidaktik spielt der Gedanke eine zentrale Rolle, dass es gelte, Philosophieren zu lernen, und nicht Philosophie zu lernen. Gemeint ist damit, dass Schülerinnen und Schüler lernen sollen, selbstständig philosophische Fragen zu reflektieren; sie sollen also nicht bloß die philosophischen Gedanken anderer kennenlernen, nachvollziehen oder übernehmen. Das zentrale Ziel des Philosophie- und Ethikunterrichts1 besteht demnach in einer systematischen Schulung der Urteilskraft der Schülerinnen und Schüler, die sie dazu befähigen soll, selbstständig gut begründete Urteile fällen zu können, damit auch standpunktfähig zu werden und ihre Position vertreten zu können. Dieses hehre Ziel sieht sich allerdings mit einigen Herausforderungen konfrontiert. So besteht erstens ein Konflikt zwischen der Schulung der Urteilskraft und der Forderung, im Unterricht bestimmte Werte zu vermitteln. Die in den Schulgesetzen festgehaltene Orientierung des Philosophieunterrichts an den Wertvorstellungen und ethischen Normen des Grundgesetzes kann als derartige Forderung verstanden werden. Darüber hinaus wird in der Öffentlichkeit immer wieder die Erwartung laut, dass die Schule der Vermittlung gesellschaftlich anerkannter Werte dienen solle. Zuletzt können

auch die Lehrkräfte selbst den Wunsch haben, den Schülerinnen und Schülern ihre Wertvorstellungen nahezubringen. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der ebenfalls in den Schulgesetzen genannten Festsetzung, dass der Philosophieunterricht weltanschaulich neutral zu unterrichten sei. Diese kann als Aufforderung missverstanden werden, sich jeglicher Positionierung zu enthalten. Die Enthaltung vom Urteilen kann auch durch den problematischen Gedanken motiviert sein, dass es in der Philosophie keine intersubjektiv ausweisbar wahren und falschen Antworten gibt. Sowohl die direkte Vermittlung von Werten als auch der Versuch, sich jeglichen Urteils zu enthalten, stehen jedoch der Schulung der Urteilskraft im Wege. Im Folgenden wird zuerst die Idee vorgestellt, dass der Philosophieunterricht in erster Linie der Schulung der Urteilskraft dienen soll. Dies geschieht durch Angabe einiger begründender Überlegungen und die Darstellung der Bedeutung dieses Prinzips für den Philosophieunterricht. Es folgt eine Diskussion der eben benannten Herausforderungen; abschließend wird kurz dargelegt, warum sich diese im Kontext des Phi-

1 Im Folgenden ist nur noch vom Philosophie­ unterricht die Rede; der Ethikunterricht ist stets mitgemeint.

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Positionalität im Diskurs

losophierens mit Kindern und Jugend­ lichen mit besonderer Dringlichkeit stellen. 2. Philosophieren lernen statt Philosophie lernen

In der heutigen Philosophiedidaktik besteht ein Konsens darüber, dass die Schulung der Urteilskraft der Schülerinnen und Schüler das zentrale Lernziel ist.2 Diese Fokussierung kann auf verschiedene Weise begründet werden. Immanuel Kant, von dem die Formulierung stammt, dass es gelte, Philosophieren zu lernen und nicht Philosophie zu lernen, rechtfertigt diese Forderung zum einen unter Verweis auf den eigentümlichen Charakter der Philosophie. Dieser zeige sich an einem fehlenden Bestand an weithin geteiltem Wissen, wohingegen ein solcher Bestand in anderen Wissenschaften, etwa der Geschichts- und der Sprachwissenschaft, gegeben sei. So könne man jemandem beibringen, was gewesen ist, indem man auf entsprechende Werke – etwa des griechischen Historikers Polybios – verweise; aber »[u]m also auch Philosophie zu lernen, müßte allererst wirklich eine vorhanden sein. Man müßte ein Buch vorzeigen und sagen können: sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht; lernet es verstehen und fassen, bauet künftighin darauf, so seid ihr Philosophen.«3

Solange es kein solches Werk gibt, gelte es, »die Verstandesfähigkeit der anvertrauten Jugend zu erweitern und sie zur künftig reifern eigenen Einsicht auszubilden […].«4 Kants Betonung der eigenen Einsicht zeigt, dass für ihn darüber hi-

naus die Philosophie selbstverständlich dem aufklärerischen Ideal verpflichtet ist, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Dieser stärkeren Begründung zufolge ist es auch dann, wenn es dem Polybios entsprechende Werke der Philosophie gäbe, geboten, selbst über philosophische Fragen nachzudenken, und nicht die schon vorhandenen Antworten unkritisch zu übernehmen. Ähnliche Überlegungen finden sich in der aktuellen Debatte. So betont etwa Michael Hampe den nichtdoktrinären Charakter der Philosophie, der sie z.B. von der Biologie und der Physik unterscheide. Diesen erklärt er mit Hinweis darauf, dass sich jede Generation aufgrund neuer wissenschaftlicher, politischer und religiöser Erfahrungen einen eigenen Reim auf philosophische Fragen machen müsse. Das Philosophieren dürfe sich darum nicht auf eine bloße Rezeption vorhandener philosophischer Lehren beschränken.5 Eine weitere Begründung für die Unverzichtbarkeit des Selbst-Denkens liefert Julian Nida-Rümelins Konzeption eines erneuerten Humanismus. In deren Mittelpunkt steht der Mensch als ein Wesen, das sich von Gründen leiten lassen kann. Eine 2 Das konstatiert Donat Schmidt, Didaktik der Philosophie und Ethik, in: Peggy Breitenstein / Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophie. Geschichte, Disziplinen, Kompetenzen, Stuttgart und Weimar 2011, 443. 3 Immanuel Kant, Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765–1766, in: Immanuel Kant, Werkausgabe. Band 2: Vorkritische Schriften bis 1768, Frankfurt a.M. 81996, 909. 4 Ebd., Kursivierungen sind im Original gesperrt. 5 Vgl. Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, Frankfurt a.M. 2014, 52–62.

Gutmann Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität

Orientierung an vernünftigen Gründen in ethischen und auch erkenntnistheoretischen Fragen könne nun angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Welt nur denen gelingen, die vernünftige Überzeugungen ausbilden, ihr Leben autonom gestalten und Verantwortung übernehmen können. Voraussetzung dafür sei eben die Fähigkeit, selbstständig wohlbegründete Urteile bilden zu können.6 Diese Begründungen lassen zudem eine weitere Dimension der Rechtfertigung für das Primat der Schulung der Urteilskraft erkennen. Selbstverständlich ist nämlich die Fähigkeit, selbstständig wohlbegründete Urteile zu fällen nicht nur in der Philosophie von großer Bedeutung; vielmehr ist das eine Fähigkeit, die in vielen Lebensbereichen eine zentrale Rolle spielen sollte. Auf dieser Grundlage ist es gerechtfertigt, das Philosophieren als »elementare Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung« zu bezeichnen.7 Philosophie als Tätigkeit des selbstständigen methodischen Reflektierens dient damit erstens der gelingenden Gestaltung des eigenen Lebens. Darüber hinaus ist sie aber auch von zentraler Bedeutung für die Gestaltung des Zusammenlebens mit anderen. Diesen zweiten Aspekt rückt John Dewey in den Fokus, der die Rolle der Erziehung in einer demokratischen Gesellschaft erörtert. Eine solche Gesellschaft zeichnet sich ihm zufolge aus durch »eine dauernde Umgestaltung des sozialen Verhaltens, seine beständige Neuanpassung an die durch mannigfaltige Wechselwirkung entstehenden neuen Sachlagen.«8 Weil dieser Umgestaltungs- und Anpassungsprozess im Rahmen einer Diskussion der Bürgerinnen und Bürger geschieht, ist die

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Fähigkeit, selbstständig wohlbegründete Urteile zu fällen sozusagen das Herz des demokratischen Zusammenlebens, denn diese Fähigkeit ist eine Voraussetzung für ein gemeinsames argumentatives Gespräch, in dem intersubjektiv gültige Begründungen gesucht werden. Somit liegt hier eine politische Begründung des Primats der Schulung der Urteilskraft vor. Diese beschränkt sich freilich nicht auf die kognitive Fähigkeit, selbstständig wohlbegründete Urteile zu fällen, sondern erstreckt sich auch auf die Förderung von Haltungen, die eine Diskussion ermöglichen. Die Schülerinnen und Schüler sollen also zugleich lernen, sich gegenseitig Gehör zu schenken, sich in andere hineinzuversetzen, konträre Meinungen auszuhalten und sachliche statt personenbezogene Diskussionen zu führen. Kurz, sie sollen lernen, in zivilisierter Weise zu streiten. 3. Die Bedeutung dieses Primats im Unterricht

Was bedeutet das Primat der Schulung der Urteilskraft nun für den Philosophieunterricht? Es bedeutet sicherlich nicht, dass schon vorhandene philosophische 6 Vgl. Julian Nida-Rümelin, Bildungsziele des erneuerten Humanismus, in: Julian NidaRümelin / Irina Spiegel / Markus Tiedemann (Hg.), Handbuch Philosophie und Ethik. Band 1: Didaktik und Methodik, Paderborn, 22015, 18ff. 7 Vgl. Ekkehard Martens, Philosophie als Kulturtechnik humaner Lebensgestaltung, in: Julian Nida-Rümelin / Irina Spiegel / Markus Tiedemann (Hg.) (wie Anm. 6), 41–48. 8 John Dewey, Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik, Weinheim und Basel 52011, 120.

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Positionalität im Diskurs

Lehren darin nicht vorkommen sollten. Mit seiner polemischen Bemerkung über die moderne Sucht der Pädagogik, nicht den Inhalt der Philosophie zu unterrichten, sondern ohne Inhalt philosophieren zu wollen weist Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu Recht darauf hin, dass philosophische Reflektion nicht im luftleeren Raum stattfinden kann, sondern eines adäquaten Inhalts bedarf. Er behauptet außerdem, dass das Lernen philosophischer Lehren schon das Selbst-Denken impliziere. So sei es doch falsch, zu denken, dass, »wenn ich, was Substanz, Ursache, oder was es sei, lerne, ich nicht selbst dächte, als ob ich diese Bestimmungen nicht selbst in meinem Denken produzierte, sondern dieselben als Steine in dasselbe geworfen würde – als ob, ferner, indem ich ihre Wahrheit, die Beweise ihrer synthetischen Beziehungen, oder ihr dialektisches Übergehen einsehe, nicht selbst diese Einsichten erhielte, nicht selbst von diesen Wahrheiten mich überzeugte […].«9

Hier und an anderen Stellen betont Hegel zwar, dass es ihm zufolge tatsächlich einen Bestand an philosophischem Wissen gibt, den es zu lernen gelte10 – man kann seine Ausführungen aber auch im Sinne der Behauptung verstehen, dass das Lernen philosophischer Lehren schon eine kritische Auseinandersetzung mit ebendiesen voraussetzt. Am Ende einer solchen kritischen Auseinandersetzung haben sich die Schülerinnen und Schüler idealerweise eine eigene, intersubjektiv begründbare Meinung darüber gebildet, ob eine bestimmte philosophische Lehre wahr ist oder nicht. Genau dies ist die Idee, die im Zentrum der Philosophiedidaktik steht, die das Primat der Schulung der Urteilskraft vertritt.

Ein entsprechendes Vorgehen impliziert nicht den Verzicht der Thematisierung schon vorhandener philosophischer Lehren; vielmehr sind diese das Material, an dem die Fähigkeit des Urteilens ausgebildet wird.11 An einem Beispiel illustriert bedeutet das Primat der Schulung der Urteilskraft Folgendes: Am Ende einer gelungenen Unterrichtseinheit etwa zu Descartes’ methodischem Zweifel sollten die Schülerinnen und Schüler zum einen verstehen, worin dieser besteht, welche Rolle er im Denken von Descartes spielt und wie er ihn begründet. Zum anderen sollten sie sich kritisch mit dieser Begründung auseinandergesetzt haben; sie sollten also z.B. darüber nachgedacht haben, ob das Traumargument wirklich zeigen kann, dass wir unseren Sinnen niemals trauen können, und das heißt, dass sie einen oder mehrere Gründe nennen können, die ihnen zufolge zeigen, dass De9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien, in: Georg Wilhelm Friedrich Wilhelm Hegel, Nürnberger und Heidelberger Schriften (1808–1817), Werke 4, Frankfurt a.M. 1970, 411f. 10 So schreibt er ebendort: »Sosehr an und für sich das philosophische Studium Selbsttun ist, ebensosehr ist es ein Lernen – das Lernen einer bereits vorhandenen, ausgebildeten Wissenschaft. Diese ist ein Schatz von erworbenem, herausbereitetem, gebildeten Inhalt; dieses vorhandene Erbgut soll vom Einzelnen erworben, d.h. gelernt werden.« Allerdings ist eine Wissenschaft eben nicht nur ein Set an Inhalten; genauso wichtig sind Fertig- und Fähigkeiten, die im Rahmen dieser Wissenschaft ausgeübt werden, und das rechtfertigt die im Text vorgeschlagene Lesart Hegels. 11 Vgl. Matthias Tichy, Lehrbarkeit der Philosophie und philosophische Kompetenzen, in: Jonas Pfister / Peter Zimmermann (Hg.), Neues Lehrbuch des Philosophie-Unterrichts, Bern 2016, 43–60.

Gutmann Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität

scartes Recht hat oder eben nicht Recht hat.12 Eine solche kritische Auseinandersetzung kann auch zu einer Enthaltung eines Urteils darüber führen, ob Descartes nun Recht hat oder nicht – aber auch diese Enthaltung sollte begründet sein, z.B. durch den Hinweis darauf, dass gleichermaßen gute Gründe für als auch gegen Descartes’ Behauptung sprechen. Am Ende einer gelungenen Unterrichtseinheit sollten die Schülerinnen und Schüler also sagen können, was ihnen zufolge richtig oder falsch ist und gute, intersubjektiv begründbare Argumente für ihre Meinung anführen können. Sie sollten zudem mögliche Erwiderungen auf Einwände kennen, die gegen ihre Argumente vorgebracht werden. Kurz, sie sollten einen eigenen Standpunkt einnehmen und diese Positionierung begründen können. Die Rolle der Lehrkraft besteht im Rahmen einer Didaktik, die auf das Primat der Schulung der Urteilskraft setzt also darin, den Schülerinnen und Schülern beim Verständnis philosophischer Lehren zu helfen, indem sie es ihnen ermöglicht, die Argumente, die für und gegen diese Lehren vorgebracht werden, zu verstehen, zu durchdenken und zu kritisieren. Dagegen sollte die Lehrkraft es vermeiden, den Schülerinnen und Schülern zu sagen, was richtig und was falsch ist; vielmehr soll sie es ihnen ermöglichen, diese Frage selbst zu beantworten, indem sie entsprechende Gründe finden und diskutieren. Allerdings sollte sich der Philosophieunterricht nicht auf die Thematisierung genuin philosophischer Theorien beschränken. Im Rahmen der Lebensweltorientierung gilt, dass er sich gerade auch solchen philosophischen Fragen

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zuwenden sollte, die in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler verankert sind.13 Hier bieten sich die Praktische und die Politische Philosophie sowie die Angewandte Ethik als Ausgangspunkte an, in deren Einzugsbereich etwa die Fragen danach liegen, ob es gerecht ist, wenn in der Corona-Pandemie die Schulen geschlossen, die Betriebe aber offen bleiben, oder ob es legitim ist, für die Teilnahme an einer Demonstration von »Fridays for Future« den Unterricht zu versäumen. Aber auch viele Themen der Theoretischen Philosophie bieten Anknüpfungspunkte: So kann man etwa anhand von Fake-News darüber nachdenken, was eigentlich bloße Meinung von Wissen unterscheidet. Hier kann der Philosophieunterricht also sehr konkret dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler sich argumentativ mit gesellschaftlich relevanten Fragen auseinandersetzen und auf diesem Wege auf das Ideal hinwirken, das Dewey von einer demokratischen Gesellschaft zeichnet. Die Rolle der Lehrkräfte ändert sich freilich nicht, wenn solche lebensweltlich fundierten Fragen im Unterricht behandelt werden. Auch hier gilt, dass sie den Schülerinnen und Schülern helfen sollen, sich selbst zu positionieren, ohne ihnen diese Positionierung vorzugeben. Dies geschieht wiederum durch eine

12 Zur Diskussion siehe etwa Dominik Perler, Strategischer Zweifel. Die Funktion skeptischer Argumente in der Ersten Meditation, in: Andreas Kemmerling (Hg.), René Descartes. Meditationen über die erste Philosophie, Berlin/Boston 22019, 9–27. 13 Vgl. Hubertus Stelzer, Lebensweltbezug, in: Julian Nida-Rümelin / Irina Spiegel / Markus Tiedemann (wie Anm. 6), 79–85.

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Positionalität im Diskurs

Diskussion von Argumenten und Einwänden, die für bzw. gegen bestimmte Urteile vorgebracht werden können, also etwa zugunsten der Behauptung, dass es ungerecht ist, während der Pandemie die Schulen zu schließen, die Betriebe aber offen zu lassen. Nach einer gelungenen Unterrichtseinheit sollten die Schülerinnen und Schüler in diesem Fall sich ihre eigene Meinung darüber gebildet haben, ob es gerecht ist, die Schulen vorrangig zu schließen und entsprechende Argumente für ihr Urteil nennen können. 4. Die Herausforderungen

Schon für sich ist es eine schwierige Aufgabe, die Urteilskraft von Schülerinnen und Schülern zu schulen, stellt sie doch einen Aspekt des vieldiskutierten Rätsels der Erziehung dar, wie man Autonomie durch Fremdbestimmung herbeiführen kann.14 Abgesehen von dieser allgemeinen Herausforderung sieht sich diese Aufgabe im Kontext des Philosophieunterrichts mit spezifischen Problemen konfrontiert, die im Folgenden dargestellt und diskutiert werden sollen. Eine erste Herausforderung besteht darin, dass sich der Philosophieunterricht laut der Schulgesetze vieler Bundesländer an den Wertvorstellungen und ethischen Normen des Grundgesetzes orientieren solle.15 Das Grundgesetz ist bekanntlich Ausdruck substanzieller moralischer Werte, etwa der unantastbaren Würde jedes Menschen sowie der unveräußerlichen Menschenrechte. Aus diesen Werten lassen sich weitere moralische Urteile ableiten, etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und körperli-

che Unversehrtheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Freiheit des Glaubens und Gewissens sowie die Freiheit der Wissenschaft. Ein Konflikt mit der Forderung nach Schulung der Urteilskraft kann entstehen, wenn man die Formulierung »Orientierung am Grundgesetz« als Aufforderung an die Lehrkräfte versteht, die im Grundgesetz genannten moralischen Werte im Unterricht als Basis für die richtigen Antworten auf moralische Fragen vorzugeben. Dies widerspricht der Idee, dass die Schülerinnen und Schüler sich unabhängig von Vorgaben ihr eigenes Urteil bilden sollen. Markus Tiedemann weist zurecht darauf hin, dass sich »die Radikalität des philosophischen ›Sapere Aude‹ […] in seiner prinzipiellen Unverträglichkeit mit normativen Zielvorgaben [offenbart]«16, eben auch denen des Grundgesetzes. Ein Blick in die Philosophiegeschichte offenbart, dass auch gute Gründe gefunden werden können, die gegen Demokratie und universelle Menschenrechte sprechen – siehe etwa Aristoteles’ Bevorzugung der Aristokratie oder Hobbes’ Begründung eines totalitären Staates. Das macht deutlich, dass ein Beharren auf der – im Sinne 14 Zur Auseinandersetzung mit Kants Version dieser Frage siehe etwa: Johannes Giesinger, »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« Zu Kants Pädagogik, in: Pädagogische Rundschau 65, 2011, 259–270. 15 Eine Zusammenstellung entsprechender Gesetzespassagen findet sich in Rolf Roew / Peter Kriesel, Einführung in die Fachdidaktik des Ethikunterrichts, Bad Heilbrunn, 2017, 13ff. 16 Markus Tiedemann, Ethische Orientierung in der Moderne – Was kann philosophische Bildung leisten?, in: Julian Nida-Rümelin / Irina Spiegel / Markus Tiedemann (Hg.) (wie Anm. 6), 27.

Gutmann Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität

der Werte des Grundgesetzes – richtigen Antwort in manchen Fällen einem selbstständigen Urteil der Schülerinnen und Schüler widersprechen kann, die sich zur Begründung anderslautender Urteile etwa auf Aristoteles’ oder Hobbes’ Argumentationen berufen können. So verstanden sehen sich Lehrkräfte also mit einem Widerspruch zweier Vorgaben für den Philosophieunterricht konfrontiert. Die Vermittlung der sich im Grundgesetz ausdrückenden Werte konfligiert mit der Schulung der Urteilskraft, die eine direkte Vermittlung von Werten verbietet. In der Fachdidaktik besteht eine große Einigkeit darüber, dass in einem solchen Konflikt das Primat der Schulung der Urteilskraft obsiegen sollte.17 Diesen Gedanken kann man unter Rekurs auf die in Abschnitt 2 genannten Überlegungen rechtfertigen. Eine zentrale Begründung des Primats der Schulung der Urteilskraft besteht darin, dass die Schulung der Urteilskraft eine unverzichtbare Voraussetzung für das demokratische Zusammenleben darstellt. Der Beitrag zum gelingenden demokratischen Zusammenleben beruht aber in erster Linie auf den formalen Inhalten des Unterrichts, nicht auf dem materialen Inhalt. Mit anderen Worten: Die Praxis des Selbst-Nachdenkens und des Argumentierens bzw. Diskutierens vermittelt die in einer Demokratie wichtigen Werte und Fähigkeiten indirekt auch – vielleicht sogar gerade dann –, wenn Behauptungen diskutiert werden, die sich gegen die Demokratie und Menschenrechte richten.18 Diesen Gedanken kann man durch weitere Überlegungen untermauern: Zum einen ist es fraglich, ob das Beharren der Lehrkraft auf der Richtigkeit der grundgesetzkonformen

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Antwort gegen Widerspruch tatsächlich dazu führt, dass Schülerinnen und Schüler diese Überzeugung übernehmen, oder ob ein derartiges Beharren nicht eher eine Verhärtung der Haltung der widersprechenden Schülerinnen und Schüler befördert. Zweitens senkt das Vorgeben von Antworten deren Motivation, sich selbst mit den dazugehörigen Fragen auseinanderzusetzen. Diese Punkte sprechen dafür, auch hier am Primat der Schulung der Urteilskraft festzuhalten. Ein entsprechendes Vorgehen schließt selbstverständlich nicht aus, dass die Lehrkraft die von den Schülerinnen und Schülern vorgebrachten Argumente kritisieren darf und auch sollte. Sie muss es allerdings auch anerkennen, wenn Schülerinnen und Schüler gute Argumente vorbringen für Überzeugungen, die nicht den im Grundgesetz sich ausdrückenden Werten entsprechen. Selbst wenn, wie Tiedemann wohl zu Recht anmerkt, eine Mehrheit extremistischer Positionen einer kritischen Überprüfung nicht standhält, kann dies dazu führen, die Leistung einer Schülerin oder eines Schülers zu würdigen (und mit einer guten Note zu bewerten), die darin besteht, gute Argumente für Überzeugungen vorzubringen, die den im Grundgesetz verkörperten Werten widersprechen.19

17 Vgl. Dagmar Comtesse, Ethikunterricht zwischen liberaler Neutralitätsnorm und kommunitaristischer Wertevermittlung, in: Minkyung Kim / Tobias Gutmann / Jan Friedrich / Katharina Neef (Hg.), Werte im Ethikunterricht. An den Grenzen der Wertneutralität, Opladen, Berlin / Toronto 2021, 58. 18 Vgl. ebd. 59. 19 Vgl. Markus Tiedemann (wie Anm. 16), 28.

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Positionalität im Diskurs

Eine parallele Überlegung gilt für die Herausforderung, die sich aus öffentlichen Forderungen danach ergibt, dass im Schulunterricht gesellschaftlich anerkannte Werte vermittelt werden sollen. So gelangt etwa eine repräsentative Umfrage unter Eltern und Lehrkräften aus dem Jahr 2018 zum Ergebnis, dass diese »insgesamt einen klaren Auftrag an Politik und Schule [formulieren]: Werteerziehung muss elementarer Bestandteil im Unterricht sein.«20 Auch hier sollte aus fachdidaktischer Sicht auf dem Primat der Schulung der Urteilskraft beharrt werden. Allerdings ist nicht immer leicht zu erkennen, wo und auf welche Weise im Unterricht Werte vermittelt werden. Wahrscheinlich geht deshalb die größte Herausforderung im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Wertevermittlung von den Lehrkräften selbst aus, weil auch deren Wertvorstellungen sich sowohl bei der Unterrichtsplanung als auch im Unterricht selbst immer wieder ausdrücken. Dies ist problematisch, wenn es unbewusst geschieht – es der Lehrkraft also nicht bewusst ist, dass sie den Schülerinnen und Schülern Antworten vorgibt, die diese sich doch eigentlich selbst erarbeiten sollten – und wenn die Wertevermittlung nicht explizit benannt wird, sondern durch den Einsatz bestimmter Unterrichtsmaterialien oder bestimmter Vorgehensweisen im Unterricht implizit geschieht. An einigen Beispielen zeigen Bettina Bussmann und Volker Haase auf, welche Formen eine derartige unbewusste Indoktrination annehmen kann: So kann etwa die Vorführung des Films »Ein Schweinchen namens Babe« als solche gewertet werden, wenn anschließend nicht die Mittel thematisiert werden, mit denen im Film die Sympathie

gelenkt wird; ebenso das Zeigen einer Fotografie eines Bettlers kombiniert mit der eher suggestiven rhetorischen Frage der Lehrkraft: »Man muss doch Mitleid empfinden, oder?«21 Zur Vermeidung derartiger Indoktrinationen gilt es, ein Bewusstsein für die Suggestivität von Medien, (rhetorischen) Fragen, usw. zu entwickeln. Ein entsprechender Grundsatz wird im sogenannten »Dresdener Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht« genannt.22 Dieses ebenfalls dem Primat der Schulung der Urteilskraft verpflichtete Grundsatzpapier nennt und erläutert darüber hinaus das »Gebot der Kontroversität« und das »Gebot weltanschaulich und religiöser Neutralität«, die für die folgende Herausforderung einschlägig sind. In den Schulgesetzen findet sich auch die Forderung, den Philosophieunterricht weltanschaulich und religiös neutral zu unterrichten.23 Sie drückt aus, dass im Philosophieunterricht keine 20 Udo Beckmann, Vorstellung der forsa-Repräsentativbefragung »Wertorientierungen und Werteerziehung von Lehrkräften in Deutschland«, Ergebnisse einer Befragung von Eltern schulpflichtiger Kinder und von Lehrerinnen und Lehrern allgemeinbildender Schulen, 2. https://www.vbe.de/fileadmin/ user_upload/VBE/ Service/Meinungsumfragen/2018-11-09_Statement-Beckmann_forsaWerteerziehung.pdf, [Zugriff: 11.12.2021]. 21 Vgl. Bettina Bussmann / Volker Haase, Was heißt es, Indoktrination zu vermeiden?, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 3, 2016, 89ff. 22 Dresdener Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 3, 2016, 106. 23 Auch hierzu findet sich eine Aufstellung entsprechender Gesetzespassagen in: Rolf Roew / Peter Kriesel (wie Anm. 15), 17.

Gutmann Schulung der Urteilskraft als notwendige Bedingung für Positionalität

weltanschaulichen und religiösen Lehren mit einem verbindlichen Wahrheitsanspruch vermittelt werden sollen. Diese Forderung spezifiziert also eine Vorgehensweise, die wiederum der Schulung der Urteilskraft dienen soll. Allerdings kann sie auch missverstanden werden als Aufforderung dazu, sich im Unterricht eines Urteils über kontrovers diskutierte Behauptungen zu enthalten. Dieses Missverständnis liegt nahe, wenn man auch die philosophischen Lehren zu den Weltanschauungen zählt. Demgegenüber ist aber festzuhalten, dass die Philosophie nicht einfach eine weitere Weltanschauung ist, gerade weil sie sich »gegen die fundamentalistischen und mitunter dogmatischen Ansprüche [richtet], die in der Regel mit dem Glauben an eine Weltanschauung verbunden sind«.24 Eine Urteilsenthaltung kann darüber hinaus durch den relativistischen Gedanken motiviert sein, dass es in der Philosophie keine intersubjektiv ausweisbar wahren und falschen Antworten gibt, sondern nur Antworten, die relativ zu einer Kultur, persönlichen Überzeugungen, und so fort gültig sind. Es gibt einige Hinweise darauf, dass diese problematische Vorstellung sowohl gesamtgesellschaftlich als auch unter Studienanfängerinnen und Studienanfängern verbreitet ist.25 Mit einer solchen Einstellung liegt es nahe, sich widersprechende Behauptungen im Unterricht einfach nebeneinander stehen zu lassen, statt zu evaluieren, ob die Gründe für eine der Behauptungen besser sind als für die andere. Eine solche Vorgehensweise aber kann bei den Schülerinnen und Schülern den Eindruck hinterlassen, dass es sich gar nicht lohnt, philosophische Fragen zu diskutieren, weil am Ende sowieso keine Feststellung

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darüber getroffen werden kann, was nun wahr, was falsch ist. Eine Enthaltsamkeit vom Urteilen ist also auch kein adäquates Mittel zur Schulung der Urteilskraft, bei der es ja gerade darum geht, dass die Schülerinnen und Schüler sich auch in umstrittenen Fragen ein eigenes Urteil bilden können sollen. An diesem Punkt kann das im »Dresdener Konsens für den Philosophie- und Ethikunterricht« genannte Gebot der Kontroversität weiterhelfen. Diesem zufolge gilt es, »den Unterricht zu einem strittigen Sachverhalt so zu strukturieren, dass mehrere, wohlbegründete, voneinander abweichende Positionierungen möglich sind. Er besteht nicht allein im Austausch dieser Standpunkte, vielmehr sollen schlechter begründete und belegte Argumente aufgrund ihrer normativen, sachlichen oder logischen Fragwürdigkeit zurückgestellt und besser begründete und belegte Argumente demgegenüber gewürdigt werden können.«26

Es gilt also gerade auch in umstrittenen Fragen darzulegen, welche Gründe für und welche gegen eine bestimmte Behauptung sprechen, und sich nicht vorschnell auf die Position zurückzuziehen,

24 Christoph Demmerling, Warum die Philosophie keine Weltanschauung ist, in: Johannes Rohbeck (Hg.), Philosophie und Weltanschauung, Dresden 1999, 22. 25 Siehe die Beiträge von Anita Rösch und Tobias Gutmann in: Minkyung Kim / Tobias Gutmann / Jan Friedrich / Katharina Neef (Hg.) (wie Anm. 17), 257–297. Zur Kritik am Relativismus siehe etwa Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus, Berlin 2013. 26 Wie Anm. 22.

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Positionalität im Diskurs

dass die Frage nicht entscheidbar ist. Wie in Abschnitt 3 ausgeführt, kann in einigen Fällen auch eine Urteilsenthaltung durchaus gerechtfertigt sein, dies aber eben nur unter Bezugnahme auf gleich starke sich widersprechende Gründe – auch die Enthaltung muss also begründet sein und kann auf diese Weise in den Dienst der Schulung der Urteilskraft gestellt werden. 5. Die besondere Dringlichkeit beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen

Eine besondere Dringlichkeit der genannten Herausforderungen beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen besteht aufgrund der Tatsache, dass die Fähigkeit, sich ein eigenes wohlbegründetes Urteil (über komplexe philosophische Fragen) bilden zu können psychologisch sehr voraussetzungsreich ist. An dieser Stelle kann nicht auf die den Diskurs lange Zeit prägenden entwicklungspsychologischen Theorien von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg und die an diesen geübte Kritik eingegangen werden.27 Vielmehr soll hier nur die unstrittige Tatsache festgehalten werden, dass sich viele der zugrundeliegenden basalen Fähigkeiten – etwa das bewusste Schlussfolgern und damit die Metareflexion von abstrakten Schlussschemata und von Gütekriterien für verschiedene Argumentformen – erst im Laufe des Aufwachsens (fort-)entwickeln. Die Kunst beim Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen besteht demnach darin, die Schülerinnen und Schüler weder zu über- noch zu unterfordern mit dem an sie gerichteten Anspruch, selbst nach-

zudenken. Ein entsprechendes Vorgehen sollte darin bestehen, die Kinder und Jugendlichen durch eine altersgerechte Heranführung mit philosophischen Fragen zu konfrontieren, die sich aus ihren konkreten Lebensumständen ergeben oder an diese zurückbinden lassen. So kann etwa die philosophische Frage »Was ist Glück?« im Anschluss an die »Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral« von Heinrich Böll thematisiert werden.28 Allerdings darf eine solche Vorgehensweise auf der einen Seite nicht dazu verleiten, die – in diesem Fall Kinder – nur von ihren je eigenen Erfahrungen zu berichten zu lassen, was der Vermeidung einer philosophischen Auseinandersetzung gleichkommt.29 Auf der anderen Seite sollten die Lehrkräfte es vermeiden, Kinder und Jugendliche mit komplexen, abstrakten philosophischen Fragen zu traktieren, deren Verständnis bzw. Beantwortung ihnen womöglich aufgrund ihres Entwicklungsstands noch gar nicht möglich ist.30 Gelungener Philosophieunterricht zeichnet sich unter anderem dadurch aus, beiden Versuchungen zu widerstehen. Ein Patentrezept dafür gibt es allerdings nicht; an dieser Stelle sind eine entsprechende Sensibilität und das selbstständige Urteil der Lehrkräfte gefragt. 27 Ein knapper Überblick findet sich z.B. in Rolf Roew / Peter Kriesel (wie Anm. 15), 127–141. 28 Vgl. Minkyung Kim, Philosophieren mit Kindern über das Thema Konsumismus, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 3, 2016, 32–38. 29 Ebd., 36f. 30 Zur Kritik am Philosophieren mit Kindern siehe etwa Caroline Heinrich (Hg.), »Alle Tassen fliegen hoch!« Eine Kritik der Kinderphilosophie, Weinheim und Basel 2020.

Wenig / Yagdı ˘ Empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schüler/innen

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˘ Eva Wenig / Senol Yagdı ˛ »Oder was anderes …« Empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern im christlich-islamischen Religionsunterricht 1. Einleitung

Ob in der Schule, im Freizeitzentrum oder in der Straßenbahn – gerade im städtischen Raum sind Jugendliche im Alltagsleben beinahe überall mit religiöser Vielfalt konfrontiert. Der schulische Religionsunterricht hingegen – den insgesamt fünfzehn der aktuell in Österreich anerkannten Kirchen anbieten – findet konfessionell getrennt statt, interreligiöses Begegnungslernen stellt in diesem Rahmen die Ausnahme dar. Der Eigeninitiative der Religionslehrkräfte überlassen, ist es zumeist Gegenstand von Adhoc-Schulprojekten. Auch viele der bisherigen Überlegungen und praktischen Erfahrungen zu interreligiösem Lernen – darauf weisen Karlo Meyer und Monika Tautz hin – beziehen sich entweder auf religionskundliche Ansätze im konfessionellen Religionsunterricht oder auf projekthafte Erfahrungen außerhalb des Klassenraums, wie etwa den Besuch von heiligen Orten, Kirchen, Moscheen und Synagogen.1 Diese Wahrnehmung war ausschlaggebend dafür, an der Karl-Franzens-Universität Graz ein Projekt zur interreligiösen Bildung im christlich-islamischen Teamteaching zu konzipieren, im schulischen Kontext zu erproben und zu evaluieren – mit dem Ziel, erste Ansätze einer Didaktik zu interreligiösen Begegnungsprozessen im Teamteaching zu entwi-

ckeln.2 Dem Gesamtprojekt war die zentrale Hypothese zugrunde gelegt, dass konfessioneller Religionsunterricht in seiner gegenwärtigen inhaltlichen Ausrichtung und Organisationsform durch die temporäre und situative Erweiterung auf religionskooperative Lehr-/Lernsettings zusätzliche gesellschaftliche und bildungspolitische Relevanz gewinnt, weil in solchen Formaten die Schülerinnen und Schüler über die Auseinandersetzung mit den Traditionen und Ausprägungen der eigenen Religion hinaus diese kritisch-konstruktiv den jeweiligen Zugängen der anderen Religion ge-genüberstellen. In einem »dialogisch ausgerichteten«3 christlich-islamischen Religionsunterricht haben Schülerinnen und Schüler in der wechselseitigen Begegnung einerseits die Möglichkeit, von ihren individuellen religiösen Biografien und Praxiserfahrungen zu berichten, andererseits bietet die Anwesenheit der beiden Lehrpersonen die Gelegenheit, 1 Vgl. Karlo Meyer / Monika Tautz, Art. Interreligiöses Lernen (2015), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internte www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/ wirelex.Interreligises_Lernen.100068, PDF vom 09.03.2020). 2 Ausführliche Informationen zum Projekt: https://interreligioese-bildung.uni-graz.at/de/ 3 Vgl. Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014, 234f.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

authentische native speaker der jeweiligen Religion in Aktion zu erleben. Als Expertinnen und Experten sowie institutionalisierte Vertreterinnen und Vertreter ihrer jeweiligen Religion fungieren die Lehrpersonen in Bezug auf die Kommunikation von und über Religion(en) auch als Vorbilder für die Schülerinnen und Schüler. Indem sie diese dabei unterstützen, eigene religiöse Erfahrungen bzw. Erfahrungen mit religiösen Ereignissen in ihrem Lebenslauf zu reflektieren und Wissenslücken zu schließen, regen sie die Schülerinnen und Schüler dazu an, eine eigene, kritische und reflektierte Positionalität zu entwickeln sowie Einstellungen, Perspektiven und Haltungen gegenüber der anderen Religion differenzierter wahrzunehmen und gegebenenfalls zu modifizieren. In dieser Hinsicht stellen interreligiös ausgerichtete Unterrichtssettings – so die Hypothese – gegenüber klassischen Formen konfessionell ausgerichteten Lehrens und Lernens einen Mehrwert dar. Der bisherige Forschungsprozess hat gezeigt, dass ein christlich-islamisches Teamteaching auf verschiedenen Ebenen voraussetzungsreicher ist als im Vorhinein angenommen. Namentlich die Begegnung auf Augenhöhe ist dabei alles andere als ausgemacht, sie will in der Situation des gemeinsamen Unterrichtens ständig neu hergestellt werden. In diesem Artikel möchten wir – anhand eines konkreten Beispiels aus der Unterrichtspraxis – zum einen den Einfluss von Lehrkräften auf die Positionalitätsbildung von Jugendlichen beleuchten und zum anderen eine Vorstellung davon vermitteln, wie Lehrpersonen im Unterricht religiöse Differenz bearbeiten. Zentrale Fragestellungen sind: 1. Wie und an

welcher Stelle beziehen Lehrpersonen eine Position (zum eigenen Glauben)? 2. Wie beeinflusst die Positionalität der Lehrpersonen die Standortbestimmung der Jugendlichen? Unter Positionalität verstehen wir in diesem Zusammenhang – wie Mirjam Zimmermann in ihrer Einleitung zu diesem Band schreibt – das Vermögen, zu religiösen Fragen und Themen begründet Stellung zu nehmen, und zwar als Resultat eines interreligiösen Unterrichts in Begegnung, in dem die Schülerinnen und Schüler lernen, »eigene Überzeugungen zu erkennen, zu begründen und zu kommunizieren«4, und dem darüber hinaus gelegen ist, Schülerinnen und Schüler aktiv herauszufordern, ihre eigenen Überzeugungen zu artikulieren und im Dialog zu verteidigen.5 Des Weiteren gilt unser Augenmerk den Perspektiven der Schülerinnen und Schüler, die an solchen interreligiösen Unterrichtseinheiten teilgenommen und sich im Rahmen von Gruppendiskussionen über ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen geäußert haben. Die aus den Gesprächen mithilfe von Inhaltsanalyse und Kategorienbildung herauskristallisierten und abstrahierten zentralen Argumente werden anhand von besonders repräsentativen Zitaten schlaglichtartig illustriert. Dabei wird sich zeigen, dass Kinder und Jugendliche ein feines Sensorium für Gleichberechtigung im interreligiösen Dialog besitzen und die Vorteile 4 Vgl. Mirjam Zimmermann, Einleitungsartikel in diesem Band, 16. 5 Vgl. Klaus von Stosch, Entwicklungsperspektiven für den Dialog der Religionen an den Universitäten, in: Theo-Web, Jg. 19 2020, Heft 1, 283.

Wenig / Yagdı ˘ Empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schüler/innen

des Teamteachings für eine authentische Vermittlung religiöser Inhalte und Praktiken erkennen und benennen können. 1.1 Interreligiöses Teamteaching als Forschungsort

Zwei Religionslehrkräfte (islamisch/ katholisch) einer Grundschule sowie einer Sekundarstufe II gehen für eine interreligiöse Unterrichtsreihe (drei bis fünf aufeinanderfolgende Stunden) eine Kooperation ein und unterrichten ihre normalerweise konfessionell getrennten Gruppen gemeinsam. Diese Stunden wurden von einem interreligiös zusammengesetzten Forscherinnen- und Forscherteam der Universität Graz begleitet, das die Unterrichtseinheiten durch teilnehmende Beobachtung und Videografie mitverfolgte und durch Initiierung von Gruppendiskussionen mit den Kindern und Jugendlichen auch die Schülerinnen und Schülerperspektiven und -reflexionen einzubeziehen suchte. Die Videografie bietet den Vorteil, dass audiovisuelle Aufzeichnungen mehrmals angesehen werden können, was eine Beobachtung von Kooperationsverhalten und Interaktionsprozessen von hohem Detaillierungsgrad zulässt.6 Die Reproduzierbarkeit der erhobenen audiovisuellen Daten erlaubt die schrittweise Annäherung an die Komplexität von interreligiösen Lehr- und Lernprozessen, da durch wiederholtes Ansehen des Videomaterials gleichzeitig ablaufende Aktivitäten (Simultanität) besser erschlossen werden können.7 Gegenstand des ersten Abschnitts dieses Artikels ist die Diskussion eines Ausschnitts aus dieser Unterrichtsreihe,

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der exemplarisch vorführt, wie auf Basis einer gemeinsamen Wertehaltung die Standortbestimmung der Jugendlichen von den Vorstellungen der Lehrperson beein-flusst wird. Von besonderem Interesse ist dabei der Umgang der Lehrpersonen mit religiöser Differenz: Für sie scheint es tatsächlich ›einfacher‹ zu sein, sich im Unterrichtsgeschehen auf eine ›oberflächliche‹ Wertehaltung zu beziehen, als sich aktiv mit divergierenden religiösen Wahrheitsansprüchen auseinanderzusetzen und diese zu bearbeiten. Allerdings schwingt die religiöse Differenz, auch wenn sie nicht explizit angesprochen wird, implizit mit – wie das nachfolgende Beispiel zeigen wird. Diesen Schluss lassen auch die Schülerinnen und Schülergespräche zu, die mit den ca. zehn- bzw. sechzehnjährigen Teilnehmenden von konfessionsübergreifenden Religionsstunden geführt wurden und die höchst erhellende Einblicke in die Perspektiven der Adressierten interreligiösen Unterrichts gewähren. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass unsere Ergebnisse auf einer quantitativ sehr kleinen Datenbasis beruhen. Aber hier geht es nicht um die 6 Vgl. dazu etwa Christian Heath / Jon Hindmarsch, Analysing Interaction: Video, Ethnography and Situated Conduct, in: Tim May (Hg.), Qualitative Research in Action, London 2010. Christian Heath / Jon Hindmarsch / Paul Luff, Video in Qualitative Research: Analysing Social Interaction in Everyday Life, London 2010. 7 Vgl. Bettina Fritzsche / Monika Wagner-Willi, Dokumentarische Interpretation von Unterrichtsvideografien, in: Ralf Bohnsack / Bettina Fritzsche / Monika Wagner-Willi (Hg.), Dokumentarische Video- und Filminterpretation. Methodologie und Forschungspraxis, Leverkusen-Opladen 2015, 133.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Darstellung einer repräsentativen Form des religionskooperativen Teamteachings – schließlich kann die Komplexität des Interaktionsgefüges, in dem sich die Lehrpersonen miteinander sowie mit den Schülerinnen und Schülern bewegen, auch anhand eines Einzelfalls illustriert werden. Offene Fragen und Anregungen insbesondere für die religionsdidaktische Forschung und die Lehrerinnen- und Lehrerbildung werden wir unter Rückgriff auf die gewonnenen Erkenntnisse am Ende des Beitrags besprechen. 2. Anleitung zum Positionieren: Ein Beispiel aus dem christlichislamischen Teamteaching

Die nachfolgend vorgestellte Interaktionssequenz gibt insofern einen exemplarischen Einblick in die religionskooperative Unterrichtspraxis, als an ihr deutlich wird, wie die Standortbestimmung oder die Meinung der Jugendlichen von den Vorstellungen einer Lehrperson – beides auf einer gemeinsam getragenen Wertehaltung beruhend – beeinflusst wird. Abgesehen davon bietet sie eine spannende Teilhabe am Umgang mit religiösen Wahrheitsfragen, Werten und Normen. Die Sequenz stammt aus der der dritten von fünf Unterrichtseinheiten, was unter anderem impliziert, dass die Schülerinnen und Schüler bereits mit der Situation des Gefilmt-Werdens vertraut waren und den Kameras im Unterrichtsgeschehen kaum noch Beachtung schenkten. Dass es sich dabei dennoch um eine besondere Situation handelt, die die normale unterrichtliche Ordnung beeinflusst, steht außer Frage.

Die interreligiösen Unterrichtseinheiten im christlich-islamischen Teamteaching, deren Thema »Liebe und Ehe« war, wurden in der Sekundarstufe II in einer 6. Klasse einer allgemeinbildenden höheren Schule (Sekundarstufe II, 6. Klasse) durchgeführt, die Schülerinnen und Schüler waren also fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und mit dem interreligiösen Unterrichtssetting vertraut, da an dieser Schule der Religionsunterricht öfters gemeinsam durchgeführt wird, der islamische und christliche Schülerinnen und Schüleranteil ausgewogen ist und die unterschiedlichen Unterrichte zur selben Zeit stattfinden können. Dies erlaubt eine in organisatorischer Hinsicht unkomplizierte temporäre Zusammenlegung, verteilt über das gesamte Schuljahr. Demnach unterrichten die Lehrpersonen zu verschiedenen Themen mehrmals im Jahr gemeinsam und sind daher ein – in ihren eigenen Worten – »eingespieltes Team«. 2.1 Methodischer Zugang

Methodisch haben wir die oben genannten Fragestellungen gemäß der rekonstruktiven Sozialforschung nach Bohnsack bearbeitet. Der Analyseprozess folgt grundsätzlich den drei Schritten Bohnsacks, die da sind: 1. formulierende Interpretation, 2. reflektierende Interpretation, 3. Bildung von Orientierungsrahmen.8 Martens, Asbrand und Peterson haben diese Methode für die Analyse von Unterrichtseinheiten dahingehend weiter-

8 Vgl. Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung, Opladen 2017.

Wenig / Yagdı ˘ Empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schüler/innen

entwickelt, dass Gegenstand der Analyse nicht das Video an sich als Kunstwerk, sondern die Akteurinnen und Akteure vor der Kamera sind.9 So gestattet es das von ihnen an unterschiedlichen schulund lernkulturell gerahmten Settings verschiedener Schulen entwickelte Verfahren, Unterrichtsabläufe methodologisch und unterrichtstheoretisch gewissenhaft zu erforschen.10 Da das »Ziel dokumentarischer Unterrichtsforschung […] die Rekonstruktion von kommunikativen und konjunktiven Wissensbeständen von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler sowie die Rekonstruktion von deren (Re)-Produktionsbedingungen«11 ist, ist im Prozess der Datenaufbereitung neben der verbalen und der nonverbalen unbedingt auch die visuelle Ebene zu berücksichtigen. Das bedeutet, dass der wörtlichen Transkription auch Fotogramme hinzugefügt werden, welche für die Sequenz wesentliche Interaktionskonstellationen sowie Veränderungen zeigen. Die formulierende und die reflektierende Interpretation einerseits und die verbale und die visuelle Ebene andererseits werden jeweils separat ausgearbeitet und anschließend aufeinander bezogen. Auf diese Weise können die verschiedenen sich überlagernden Dimensionen des Unterrichts und die gleichzeitig ablaufenden Interaktionen der zahlreichen Beteiligten heuristisch unterschieden und in ihren Beziehungen zueinander analysiert und damit die grundlegenden Orientierungsrahmen der Verhaltens- und Denkstrukturen identifiziert werden. In diesem Beitrag haben wir aus Platzund Datenschutzgründen darauf verzichtet, die mithilfe von Fotogrammen dokumentierte verbale und nonverbale Interaktion sowie die formulierende In-

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terpretation in die Besprechung der Videosequenz einzubeziehen; diese bilden aber die Basis der hier vorgestellten Sequenzanalyse. 2.2 Ergebnissicherungsphase im Unterrichtsgeschehen

Ausgangspunkt der dritten religionskooperativen Einheit ist die Lektüre und Interpretation der Sure 30, Vers 21, die in der Übersetzung wie folgt lautet: »Und zu seinen Zeichen gehört es, dass er für euch von euch selber Partnerwesen erschuf, auf dass ihr bei ihnen Ruhe findet, und er hat zwischen euch Liebe und Barmherzigkeit gesetzt: hierin sind wahrlich Botschaften für nachdenkende Leute.«

Nachdem in den vorangegangenen Einheiten grundsätzliche Vorstellungen zum Thema Liebe und Ehe diskutiert wurden, beginnt die gegenständliche Unterrichtseinheit damit, dass der Vers an die Wand projiziert und von einer Schülerin laut vorgelesen wird. Nun lässt die islamische Lehrperson die Schülerinnen und Schüler in Zweierteams aufschreiben, wie sie den Vers verstehen. Anschließend werden die Gruppenergebnisse im Plenum

9 Vgl. Barbara Asbrand / Matthias Martens, Dokumentarische Unterrichtsforschung, Wiesbaden 2018. 10 Vgl. Matthias Martens / Dorthe Petersen / Barbara Asbrand, Die Materialität von Lernkultur. Methodische Überlegungen zur dokumentarischen Analyse von Unterrichtsvideografien, in: Ralf Bohnsack / Bettina Fritzsche / Monika Wagner-Willi (Hg.) (wie Anm. 7). 11 Barbara Asbrand / Matthias Martens (wie Anm. 9), 11.

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besprochen, jedoch nicht verschriftlicht. Da der islamischen Lehrperson wichtige Interpretationen fehlen, fordert sie die Schülerinnen und Schüler spontan auf, ein »Haus der Partnerschaft« analog zu einem Wohnhaus zu skizzieren. Denn so wie ein Haus aus mehreren Elementen (Fundament, Innenraum, Dach etc.) bestehe, setze sich auch eine funktionierende Partnerschaft aus ›Bausteinen‹ unterschiedlicher Funktionalität zusammen. Der Arbeitsauftrag ist nicht gleich verständlich, sodass die Schülerinnen und Schüler nachfragen müssen, was denn nun zu tun sei. Daraufhin geht die christliche Lehrperson nach vorne, zeichnet ein Haus an die Tafel und unterteilt es in mehrere – leer bleibende – Ebenen. Hier steigt der gewählte Ausschnitt ein: LC12: Äh also eine Beziehung kann man vergleichen mit einem Haus. Ein Haus hat verschiedene Elemente: Fundament, Mauern, Räume, verschiedene Etagen, ein Dach, einen Garten rundherum (unv.) ja einige Türen, vielleicht Fenster, vielleicht eine Heizung (…). Versucht, Beziehungen oder die Ehe ah (…) die einzelnen Bestandteile einer Ehe oder einer Lebensgemeinschaft irgendwie den einzelnen Bestandteilen eines Hauses zuzuordnen. Welche Funktion hat das Dach? Was in einer Ehe ist das Dach? Welche Funktion hat das Fundament? Was in einer Ehe ist fundamental? Also was ist das Fundament für eine Ehe? LI: Also zum Beispiel als Fundament für die Ehe sehe ich sehr klar als das Vertrauen, verstehst du das? LC: Ja, das ist die Frage, oder nicht? Was ist denn das Fundament? LI: (unv.) also das Fundament heißt Vertrauen, verstehst du das? Ohne Vertrauen kann es keine Ehe geben, das ist so (unv.) LC: Oder was anderes?

LI: Oder was anderes. Deswegen müsst ihr zu zweit denken, was Fundament ist. Was gehört zum Dach? Was gehört zum Garten draußen? Was gehört zum (…) Welche Begriffe gehören dazu?

In dieser Interaktionsbewegung möchten wir die Aufmerksamkeit auf folgende Aspekte lenken. Erstens liegt in dieser Sequenz eine antithetische Proposition vor, welche am Ende in eine Synthese überführt wird – ein Merkmal einer geteilten Positionalität. Nachdem die christliche Lehrperson den Arbeitsauftrag konkretisiert und den Jugendlichen Fragen gestellt hat, greift die islamische Lehrperson ins Unterrichtsgeschehen ein, indem sie die letzte Frage beantwortet. Dabei artikuliert sie ihre persönliche Position, wonach das Fundament einer Ehe Vertrauen sei, trifft also eine Aussage über ihre eigene Positionalität. Die christliche Lehrperson, die diese Ansicht offenbar nicht umstandslos gelten lassen will, kontert mit einer antithetischen Anschlussproposition. Sie greift den Vorschlag der islamischen Lehrperson – Vertrauen als Fundament der Ehe – auf, nur um ihn im Sinne der eigenen Positionalität zu nutzen, welche sich hier in einer Art Subjektorientierung äußert. Die Schülerinnen und Schüler sollen selbst – ohne Beeinflussung von außen – ein »Haus der Beziehung« kreieren und es nach eigenen Vorstellungen befüllen.

12 LC ist die Abkürzung für die christliche, LI jene für die islamische Lehrperson. Bei den beiden in diesem Unterrichtsausschnitt miteinander interagierenden Personen handelt es sich um männliche Lehrkräfte.

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Die zweite Lehrperson missversteht dies zuerst als Nachfrage, weswegen sie ihre Aussage, dass Vertrauen die Basis für eine Ehe sei, nachdrücklich wiederholt. Erst als sie erkennt, dass die christliche Lehrkraft ihren Vorschlag mehr oder minder explizit zurückweist, lenkt sie ein und führt die Interaktion zu einer einvernehmlichen Konklusion, indem sie sich von ihrer eigenen Aussage distanziert. Zusätzlich validiert sie die Anweisung der christlichen Lehrkraft, dass die Schülerinnen und Schüler über den Aufbau des Hauses auf Grundlage der eigenen Erfahrungen selbst entscheiden müssten. Diese Synthese am Ende der Interaktionseinheit lässt darauf schließen, dass beide Lehrpersonen – ungeachtet dessen, dass sie auf der immanenten Ebene anfänglich unterschiedliche Positionen artikuliert haben – ein ähnliches Orientierungsschema teilen: das selbstständige Nachdenken von Schülerinnen und Schüler über bestimmte religiöse und ethische Fragestellungen. Trotz der Rücknahme der Aussage am Ende der Interaktionsbewegung bleibt die Position der islamischen Lehrperson ausgesprochen im Klassenraum stehen und wirkt sich (wie später noch gezeigt wird) auf die Ergebnisse der Gruppenarbeit aus. Eine zweite interessante Beobachtung, die hier Erwähnung finden soll, ist der Sprachgebrauch der beiden Lehrpersonen hinsichtlich der Begriffe Ehe, Beziehung sowie Lebensgemeinschaft. Während die christliche Lehrperson von »Ehe«, »Beziehungen« und »Lebensgemeinschaften« spricht, verwendet die islamische Lehrperson durchgehend das Wort Ehe. Dies ist eine Wahrnehmung, die nicht nur auf

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dieses Beispiel zutrifft, sondern sich über die gesamte Dauer der interreligiösen Unterrichtseinheiten erstreckt. Obwohl Religion hier gar nicht explizit zur Sprache kommt, schwingt implizit eine religiös-ethische differente Positionalisierung mit, die im Unterrichtsgeschehen nicht thematisiert oder bearbeitet wird. Stattdessen liegt der Fokus auf der Befüllung des »Hauses der Beziehung« mit Begrifflichkeiten, die für alle akzeptabel sind. Was diese offenkundig von Harmoniebedürfnis und Konfliktvermeidung geleitete Haltung für interreligiöse Unterrichtseinheiten im Teamteaching konkret bedeutet, soll später noch genauer beleuchtet werden. Anschließend wurde die Fragestellung von vier teilweise gemischt religiösen Gruppen unterschiedlicher Größe bearbeitet. Am Rande sei erwähnt, dass bei der Gruppeneinteilung die Religionszugehörigkeit weder eine Rolle spielte noch berücksichtigt wurde. Die Gruppen ergaben sich großteils spontan aus der auch in anderen Unterrichtsgegenständen herrschenden Sitzordnung, konstituierten sich also aus Sitznachbarinnen und Sitznachbarn. Die beiden Lehrpersonen traten während der Gruppenarbeitsphase als gemeinsam unterrichtendes Team auf und wurden auch so wahrgenommen; sie boten ihre Unterstützung an und beteiligten sich mit Gesprächen in beinahe allen Gruppen. Für die Ergebnissicherung musste jede Gruppe ein Mitglied bestimmen, das auf der Tafel das Gruppenergebnis präsentiert. Dazu wurde das zuvor ausgearbeitete »Haus der Beziehung« an die Tafel gezeichnet und erklärt. Am Ende ergab sich folgendes Tafelbild:

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Abb. 1: Tafelbild, »Haus der Beziehung«

Anhand des Tafelbilds lässt sich klar nachvollziehen, wie die Position der islamischen Lehrperson die Standort­ bestimmung der Schülerinnen und Schüler beeinflusst: Ausnahmslos jede Gruppe hat »Vertrauen« als Basis einer guten Beziehung definiert. Einige Gruppen fügten dem Vertrauen noch die Begriffe Ehrlichkeit, Liebe, Respekt sowie Spaß im Leben hinzu, womit sie auch ihre eigenen Vorstellungen eingebracht und in die (vorgegebene) Position inte­ griert haben. Auffällig ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage einer gemeinsamen ethischen Wertehaltung positionieren und das Thema Religion nicht explizit zur Sprache kommt. Die genannten Begriffe hingegen erlauben – solange sie nicht inhaltlich befüllt werden – die ›Einigung‹ auf eine gemeinsame ideale Vorstellung von Partnerschaft. In der Tat hat es den Anschein, als wäre die inhaltliche Befüllung – als ein Ausdruck von legitimer Heterogenität – Pri-

vatsache jeder/jedes Einzelnen, für die im Unterricht kein Platz ist. Diesen Eindruck erhärtet auch die Art und Weise des Umgangs mit den Begriffen Sex oder Geschlechtsverkehr. Von Schülerinnen und Schüler ins Unterrichtsgeschehen eingebracht, wird diese Thematik mit dem Gelächter der Klasse quittiert, in das die Lehrpersonen einstimmen und scherzhaft meinen: »Ja, ist auch wichtig.« Mehr gab es dazu offenbar nicht zu sagen. Ein Thema, das hier mitschwingt, aber nicht zur Sprache kommt, ist der voreheliche Geschlechtsverkehr – eine Sache, zu der beide Religionen (und wohl auch beide Lehrpersonen) kontroverse Standpunkte einnehmen, die also möglicherweise dazu angetan ist, im dialogischen Diskurs Konflikte heraufzubeschwören. So könnten das Gelächter und die ausweichende Antwort der Lehrpersonen Zeichen dafür sein, dass man anstatt auf Konfrontation auf Konfliktvermeidung setzt, um ein vorhandenes

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Harmoniebedürfnis zu stillen. Und dies sieht man offenbar dadurch gewährleistet, dass ethische Werte in den Vordergrund gerückt werden, heiklen Themen ausgewichen und die individuelle Religiosität in den Hintergrund gedrängt wird. Diese Annahme wird auch durch die Conclusio der islamischen Lehrperson am Ende der Unterrichtssequenz unterstützt: LI: Übrigens, das ist so eine Vorstellung. Das ist also, das heißt, es gibt unter dieser Vorstellung nicht was richtig oder was falsch ist. Die stimmen alle, weil sie unterscheiden sich also voneinander je nach den Menschen und je wie die Leute tatsächlich leben.

Hier versucht die Lehrkraft, das von der Schülerinnen- und Schülergruppe konstruierte Tafelbild an den eingangs zitierten Koranvers rückzubinden. Aber anstatt auf die religiöse Dimension des Verses einzugehen, redet sie einem unterschiedslosen ethischen Zugang das Wort und spricht jeder Vorstellung und Lebensweise gleichermaßen Gültigkeit zu. 2.3 Schlussfolgerung: Heilige Scheu

Zur Frage, wie Lehrpersonen im christlich-islamischen Teamteaching Position beziehen, kann also vorerst festgehalten werden, dass sie sich zu religiösen Wahrheitsfragen oft neutral positionieren und kaum persönliche Religiosität artikulieren. Dieses Phänomen, in interreligiösen Unterrichtseinheiten nach einer gemeinsamen Werteorientierung zu suchen, anstatt sich mit religiösen Differenzen auseinanderzusetzen, bezeichnen wir als

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»heilige Scheu«. Diese mag einerseits am gesellschaftlichen Konsens liegen, dem zufolge Religion Privatsache ist, und andererseits der Absicht geschuldet sein, der anderen Lehrperson nicht zu nahe zu treten. Auch die Auseinandersetzung mit einer zunehmend pluralisierten Adressaten-Umwelt leistet einer neutralen Positionierung oder der Anpassung der Position der Religion an die Erfordernisse des Alltagslebens Vorschub. Da tut salopp gesagt ein Unterricht, der auf einer allgemeingültigen ethischen Basis Gemeinsamkeiten hervorhebt, niemandem weh. Schließlich ist das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Weltanschauungen, Religionen und Religionsäquivalenten wahrscheinlich auch für ›Professionelle‹ schwer zu durchschauen. Was das Teamteaching betrifft, wird die diskursive Begründungspraxis für religiöse Überzeugungen dadurch freilich marginalisiert, um einer diffusen Toleranz gegenüber allem, was keine Auswirkungen auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler oder der Lehrperson hat, zu weichen. Deshalb ist es auch wenig überraschend, dass die Schülerinnen und Schüler die Lehrpersonen in dieser Hinsicht nachahmen und sich ebenfalls stärker auf Gemeinsamkeiten als auf Unterschiede fokussieren. Die in der Einleitung erwähnte Möglichkeit, die ein solches Setting bietet – nämlich die Schülerinnen und Schüler in der Begegnung aktiv dazu herauszufordern, ihre eigene religiöse Überzeugung im Dialog zu reflektieren und zu begründen –, wird oft lediglich dazu genutzt, sich über eine Werteorientierung auszutauschen, die für alle akzeptabel ist. Dazu sei ergänzend angemerkt, dass wir in dem Beitrag »Nebeneinander ohne

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Konflikte« mit Unterstützung von Bettina Brandstetter und Oliver Reis die Erfahrungen und Wahrnehmungen zweier Religionslehrkräfte zum katholisch-islamischen Teamteaching an einer österreichischen Volksschule erörtern. Anhand eines Gruppengesprächs, das im Anschluss an die Unterrichtseinheiten mit dem interreligiös zusammengesetzten Forscherinnen- und Forscherteam geführt wurde, konnten wir aufzeigen, dass »die Ausrichtung auf ein gemeinsames Handlungsziel, wie es Lehrgemeinschaft benötigt, nur dann möglich [ist], wenn die religiöse Differenz unbeachtet bleibt; dann werden selbst konträre Professionsvorstellungen zueinander geführt«13. Ähnliches lässt sich auch bei der Auswertung des hier vorgestellten Videoausschnitts be-obachten. Die Ausklammerung der religiösen Differenz macht es möglich, einen Unterricht zu gestalten, der auf beiden Seiten auf Toleranz stößt und eben deswegen als erfolgreich erachtet wird. 3. Perspektiven und Wahrnehmungen der Schülerinnen und Schüler

Im nun folgenden Abschnitt wollen wir uns von der Lehrendenperspektive abund den Wahrnehmungen der beteiligten Schülerinnen und Schüler zuwenden, die nach einer Sequenz von interreligiösen Unterrichtseinheiten im Rahmen von zwei Gruppendiskussionen erhoben wurden. Dabei soll anhand von ausgewählten O-Ton-Passagen gezeigt werden, wie sich Kinder bzw. Jugendliche unterschiedlichen Alters im konfessionsübergreifenden Teamteaching zum Religionsunterricht positionieren.

Das erhobene Datenmaterial stammt zum einen aus einem Gespräch mit zehn katholischen und zwölf muslimischen Schülerinnen und Schülern einer 4. Klasse Volksschule, zum anderen aus einer Diskussion mit sechs katholischen und neun muslimischen Schülerinnen und Schülern einer 6. Klasse Gymnasium, jeweils in Graz. Thema der drei interreligiösen Unterrichtseinheiten in der Volksschulklasse war der Vergleich von Kirche und Moschee bzw. Kaaba sowie Jesus und Muhammad; die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten hatten in insgesamt fünf konfessionsübergreifenden Einheiten den Schwerpunkt Liebe und Ehe in Christentum und Islam behandelt. Die Gruppengespräche wurden möglichst offen geführt, um den Schülerinnen und Schülern entsprechenden Raum für die Schilderung ihrer Erfahrungen während des interreligiösen Unterrichts zu geben. 3.1 Methodischer Zugang

Für die Auswertung des im Zuge der Gruppendiskussionen erhobenen Materials wurde auf das Verfahren der Zusammenfassung im Sinne der Mayring’schen qualitativen Inhaltsanalyse zurückgegriffen und auf dieser Grundlage ein Kategoriensystem entwickelt. Die Vorgehensweise beinhaltet also zunächst die Paraphrasierung, Systematisierung und Reduktion der Inhalte auf ein überschaubares, aber nichtsdestoweniger re13 Bettina Brandstetter / Oliver Reis / Eva Wenig / Şenol Yağdi, Nebeneinander ohne Konflikte. Die multiprofessionelle Struktur interreligiöser Lehrgemeinschaften, in: Pädagogische Horizonte 4. Jg. 2020, Heft 1, 1.

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präsentatives Korpus sowie anschließend die Abstraktion und Interpretation der Inhalte, im Zuge derer induktive Kategorien gebildet werden.14 Da es sich um einen Ausschnitt aus einem längerfristigen Forschungsprojekt handelt, sollten die untenstehenden Ergebnisse jedoch (noch) nicht als abgeschlossene Interpretation betrachtet werden. 3.2 Erkenntnisse aus den Gruppendiskussionen

Die nachfolgende Interpretation richtet sich nach den im Zuge der Analyse entwickelten induktiven Kategorien, die sich teils auf die erste, teils auf die zweite und teils auch deckungsgleich auf beide Gruppendiskussionen anwenden lassen. Dementsprechend sind die veranschaulichenden Zitate beiden Diskussionen entnommen; die Sprechernnen und Sprecher sind anonymisiert, folgende Siglen kommen zum Einsatz: K = katholisch, I = islamisch, VS = Volksschüler/-in, AHS = Schüler/-in einer allgemeinbildenden höheren Schule (Gymnasium). »Wir und die anderen«: Religion als Differenzkategorie In der Gruppendiskussion mit den Volksschülerinnen und -schülern ist zunächst augenfällig, dass fast durchgängig von der »eigenen« und der »anderen« Religion gesprochen wird. Demnach ist der Sprachgebrauch durch eine binäre Codierung (»wir« vs. »ihr«) geprägt, was darauf schließen lässt, dass die Religionszugehörigkeit im interreligiösen Setting als Identifikations- und zugleich als Differenzkategorie, also als ein für

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die Position zum Glauben ausschlaggebendes Kriterium fungiert. Dies betrifft alle Beteiligten im Lehr-/Lernprozess, die Lehrpersonen ebenso wie die Lerngruppe. Damit zeigt sich – ganz im Sinne der boundary work-Theorie –, wie die Aushandlung der eigenen, nicht nur religiösen Identität mit Erfahrungen von Gruppenzugehörigkeit und Abgrenzung verbunden ist.15 Im Lichte dieser Erkenntnis werfen Woppowa und Caruso die nicht unwesentliche Frage auf, ob religionskooperative Unterrichtssettings nicht möglicherweise interreligiöse Differenzen betonen oder sogar hervorbringen, statt – ihrer Intention entsprechend – Fremdbildern entgegenzuwirken.16 Allerdings zeigen die Äußerungen der Schülerinnen und Schüler, dass diese Differenz zwar gesehen wird, aber nicht als Grundlage für negative Werturteile dient, sondern im Gegenteil Interesse am Unbekannten und den Wunsch, den anderen etwas über die eigene Religion mitzuteilen und selbst etwas über die andere Religion zu

14 Vgl. Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim 2010, 58. 15 Vgl. Verena Marie Eberhardt, »Den Glauben der anderen besser kennen lernen«. Zugänge zu religiöser Pluralität in ausgewählten Kindermedien, in: Annette Haußmann / Niklas Schleicher (Hg.), Aktuelle Theologie: Zur Relevanz theologischer Forschung, Stuttgart 2021, 157–166, 161. 16 Vgl. Jan Woppowa / Carina Caruso, Gemeinsam lernen? Erkenntnisse und kritische Anfragen aus einem Unterrichtsversuch zum religionskooperativen Religionsunterricht, in: Mehmet Hilmi Tuna / Maria Juen (Hg.), Praxis für die Zukunft. Erfahrungen, Beispiele und Modelle kooperativen Religionsunterrichts, Stuttgart 2021, 67.

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erfahren, hervorruft.17 Dies veranschaulichen die folgenden Zitate: K (VS): »[…] wir haben zu jedem was gelernt, aber es wäre auch schon cool, wenn wir jeden Tag mit den anderen, mit der Religion haben, […]. Bei denen können wir wirklich der Islamlehrerin auch zuhören und lernen viel, und wenn wir das so machen würden, dann würde ich gerne auch von jedem Propheten was wissen, also wieso er ein Prophet ist.« (49–54) I (VS): »[…] Und heute hat mir auch das […] mit unserer Religion und der anderen Religion gefallen, das mit der […] Kirche und das mit dem Wasser auf den Kopf dann […].« (17–20)

Demnach lässt sich im konfessionsübergreifenden Unterricht tatsächlich eine »Repräsentationslogik«18 ausmachen, gemäß der die Schülerinnen und Schüler als Vertretende ihrer jeweiligen Religion auftreten; interreligiöse Hierarchien begründet diese Dichotomie jedoch augenscheinlich nicht. Authentische Vermittlung von Religion(en) und religiöser Praxis Eine weitere wesentliche Kategorie in beiden analysierten Gruppendiskussionen ist die Authentizität und die authentische Darbietung von Informationen über die jeweils andere Religion, die im konfessionsübergreifenden Unterricht vermittelt werden. Für die AHS-Schülerinnen und -Schüler steht dabei zuallererst das Kennenlernen an sich – sowohl der eigenen als auch der fremden Religion – im Mittelpunkt; nach ihren Wortmeldungen zu schließen, wissen sie die Möglichkeit der Begegnung und den Austausch von religiös begründeten Ansichten und Haltungen sehr zu schätzen:

I (AHS): »Also ich finde es immer gut, weil dann lernt man auch die anderen so richtig kennen, also die anderen Meinungen und so, was die Christen halt so denken und was für die so wichtig sind […].« (5–6)

Das Hauptinteresse der Volksschülerinnen und -schüler wiederum gilt vor allem der religiös-spirituellen Praxis bzw. den Orten, an denen diese gelebt wird. Insbesondere der gemeinsame Besuch von Gotteshäusern (Kirche und Moschee) und die Begegnung mit gelebter (ritueller) Religionspraxis – beispielsweise dem Gebetsritual – werden ausführlich als Desiderate thematisiert: K (VS): »[…] das wäre ja mal cool, wenn man, wenn wir mit diesem Projekt in die Kirche gehen und dann wissen die islamischen Kinder […] und wir wissen dann auch mehr über die, […] über Jesus, Gott und so.« (154–156) I (VS): »Ich würde auch gerne mit, auch christliche Kinder und die Muslime in die Moschee gehen und die Lehrerin erklärt, was diese Sachen sind oder diese Sachen.« (160–161)

Während also bei den älteren Schülerinnen und Schülern der Wunsch vorherrscht, im interreligiösen Kontakt die Wertehaltungen und Einstellungen der anderen kennenzulernen und zu begrei17 Vgl. Eva Wenig / Şenol Yağdi / Wolfgang Weirer, »… und dass man nicht einfach das von zu Hause nachredet«: Interreligiöses Lernen im christlich-islamischen Teamteaching, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum, 27. Jg. 2019, Heft 2, 142. 18 Vgl. Bernhard Grümme, Der Religionsunterricht zwischen Macht und Bildung. Perspektiven für seine Zukunftsfähigkeit, in: LIMINA – Grazer Theologische Perspektiven 1. Jg. 2018, Heft 1, 141ff.

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fen, steht für die Jüngeren insbesondere der performative Zugang im Mittelpunkt, der in einer spielerischen Auseinandersetzung mit religiösen Praktiken geschaffen werden kann. Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Religionen Wie vor allem das Gespräch mit den AHS-Schülerinnen und Schülern offenbart, wird von interreligiösen Lehr-/ Lernprozessen auch erwartet, dass sie sowohl Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam aufzeigen als auch Unterschiede thematisieren: K (AHS): »Ja, weil es gibt ja auch Unterschiede zum Beispiel zwischen Islam und Christentum, aber es gibt genauso auch Sachen, die ähnlich sind, und wenn man mal so einen Unterricht hat, dann kann man schauen, ok, was ist ähnlich, was ist komplett verschieden, und ich meine, ich finde es auch allgemein interessant, was vom Islam kennenzulernen, sozusagen, und ja, nicht nur auf unsere eigene Religion zu fixieren, sondern auch mal schauen, wie es bei den anderen so ist.« (11–15)

In diesem Zusammenhang kommen verschiedene Beispiele zur Sprache, an denen sich im konfessionsübergreifenden Unterricht mehr Übereinstimmungen zwischen den Religionen gezeigt haben als von den Teilnehmenden erwartet, etwa der Stellenwert der Menschenrechte und die Wertorientierung von Religionen: I (AHS): »Also, meiner Meinung nach ist es so, dass in beiden Religionen zum Beispiel die Menschenrechte sehr wichtig sind, weil bei uns ist es ja auch so, dass wir anderen Menschen nicht wehtun sollen und

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dass wir andere Menschen wertschätzen sollen und mit denen gut umgehen sollen, und das ist bei den Christen genauso.« (105–108)

Darüber hinaus wird auch der Auseinandersetzung mit vorhandenen Differenzen große Bedeutung beigemessen. Die wechselseitige Beschäftigung mit den Haltungen und Ansichten der anderen macht die Schülerinnen und Schüler also auf – oft überraschende – Gemeinsamkeiten aufmerksam, ohne jedoch den Blick auf die charakteristischen Unterschiede (die aber wie gezeigt nicht automatisch mit Werturteilen verknüpft werden) zu verstellen. Abbau von Vor- und Pauschalurteilen und Ausbildung eigenständiger Urteilsfähigkeit Als einen wesentlichen Mehrwert des interreligiösen Lehr-/Lernsettings bezeichnen die AHS-Schülerinnen und -Schüler die Gelegenheit, Vorurteile und Stereotype in Bezug auf die andere Religion abzubauen. Was dabei auffällt, ist, dass sie zwar einige gängige antimuslimische Vorurteile anzuführen wissen, aber kein Beispiel zum Christentum finden: I (AHS): »Weil wenn wir jetzt hören, ja, alle Christen sind […] ja, keine Ahnung, irgendein Vorurteil […].« (149–150)

Die Erklärung für dieses Phänomen liegt möglicherweise in der politischen und medialen Fokussierung auf den Islam und den dadurch perpetuierten Verallgemeinerungen. Allerdings wird die Entstehung von ungerechtfertigten Vorannahmen, beispielsweise im familiären und kulturellen Umfeld, aber eben auch im medialen Diskurs, von den AHS-Schülerinnen und -Schülern im Gespräch durchaus reflektiert – mit der

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Folgerung, dass die Aufgabe des interreligiösen Unterrichts auch darin bestehe, Verallgemeinerungen und Pauschalurteilen entgegenzuwirken: K (AHS): »Und es werden auch sehr viele Vorurteile aus dem Weg geräumt, die man halt einfach hat, weil man sie zum Beispiel von den, vom Elternhaus oder generell von der eigenen Familie mitbekommt, was sie halt zu Hause reden über die anderen Religionen, und deswegen finde ich solche Projekte sehr gut, dass man auch sich selbst eine Meinung bilden kann über die anderen Religionen und sieht, welche Unterschiede gibt es, welche Gemeinsamkeiten gibt es, und dass man nicht einfach das von zu Hause nachredet.« (19–24)

Was hier zum Vorschein kommt, ist der Anspruch an den interreligiösen Unterricht, dass er durch entsprechend vermitteltes Faktenwissen zu einem differenzierteren Blick und damit zur Ausbildung eigenständiger Urteilsfähigkeit beitragen soll. Kommunikation auf Augenhöhe und offenes Gesprächsklima als Voraussetzung und Desiderat in interreligiösen Lehr-/Lernprozessen Ein weiterer zentraler Punkt, aus dem sich eine Kategorie für die Interpretation ableiten lässt, ist der Wunsch nach einem Dialog auf Augenhöhe in einem toleranten, offenen Gesprächsumfeld. Interreligiöses Lernen wird sowohl von muslimischer als auch von christlicher Seite als reziproker Prozess betrachtet, der nicht zur Einbahnstraße werden dürfe. Schon die jüngeren Schülerinnen und Schüler legen dabei eine hohe Sensibilität für ein mögliches Ungleichgewicht an den Tag, indem sie etwa das didaktische Gefälle

im regulären konfessionellen Religionsunterricht thematisieren. Sie fordern in für diese Altersstufe überraschender Deutlichkeit einen subjektorientierten Unterricht ein, der ihren Erfahrungen, Vorkenntnissen und Bedürfnissen entsprechenden Platz einräumt. Im Zuge dessen werden auch die Vor- und Nachteile verschiedener Unterrichtsstile thematisiert: K (VS): »Ja, dass wir auch mal was erzählen, weil die Islamlehrerin hat viel mehr erzählt als wir. Die ist ja fast die ganze Zeit vorne bei der Tafel gestanden […], hat so fünf Minuten was erzählt und die restliche Stunde war die andere Frau dran, die andere Religionslehrerin. Die hat die ganze Zeit nur erzählt. Also dass es auch wirklich abwechselnd ist, dass wir auch was tun müssen, weil die Kinder haben ja irgendwie fast gar nichts machen müssen. Das war langweilig.« (78–83)

Neben didaktischer Ausgewogenheit werden ein offenes Gesprächsklima und eine Grundhaltung der Toleranz als Voraussetzungen für gelingende interreligiöse Lehr-/Lernprozesse benannt. Und der beste Ort, um das offene Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Religionen zu pflegen, sei eben die Schule. Die Lehrpersonen müssten eine vertrauensvolle Atmosphäre schaffen, in der das wechselseitige Zuhören gefördert und eine tolerante Haltung gegenüber abweichenden religiösen Ansichten eingeübt wird: I (AHS): »[…] dass man über die Meinungen offen reden kann, also zum Beispiel jetzt welche Meinungen die Christen jetzt darüber haben über dieses Thema und welche Meinungen die muslimischen über dieses Thema haben, also dass man

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immer […] offen über ein Thema reden kann […].« (126–132)

Deutlich äußert sich also das Beharren der Schülerinnen und Schüler auf Gleichberechtigung im Unterricht – etwa wenn sie dieselben Gesprächsanteile fordern wie die Lehrpersonen, um auch ihre eigenen Ansichten in gebührender Weise zu artikulieren. Von den Lehrpersonen wird ein entsprechendes vorbildhaftes Auftreten gefordert. Grundlage dafür ist ein Klima der gegenseitigen Toleranz und Aufgeschlossenheit. 3.3 Schlussfolgerung

Ein aufschlussreiches Ergebnis der vorgestellten kategoriengeleiteten Interpretation der Schülerinnen- und Schüler-Perspektiven auf interreligiöse Lehr-/Lernsettings ist die Erkenntnis, dass Religion im konfessionsübergreifenden Setting als Differenzkategorie wahrgenommen wird, die gleichwohl nicht dazu dient, die ›andere‹ Gruppe negativ zu beurteilen. Im Vordergrund steht – vor allem bei AHS-Schülerinnen und -Schülern, die diesbezüglich ein differenziertes Urteilsvermögen unter Beweis stellen – die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, auf dass das in der Schule erworbene Wissen der Entstehung von Vor- und Pauschalurteilen gegenüber Religionen bzw. deren Angehörigen entgegenwirke. Ein weiterer Kernpunkt beider Gruppendiskussionen ist der Wunsch nach einer Kommunikation auf Augenhöhe: Schon die Volksschülerinnen und -schüler reagieren feinfühlig auf das ungewohnte Unterrichtsmodell und achten auf ein etwaiges Ungleich-

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gewicht in der Aufteilung der Redezeiten, didaktische Traditionen des jeweiligen konfessionellen Unterrichts sowie die Dynamik zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern. Die Älteren fordern einen gleichberechtigten Dialog und ein offenes, wertschätzendes Gesprächsklima deutlich und selbstbewusst ein, erachten sie doch beides als Grundvoraussetzungen für einen interreligiösen Unterricht. Dies gilt in den Augen der AHS-Schülerinnen und -Schüler auch für die Vermittlung authentischer Informationen als zentraler Aspekt des interreligiösen Unterrichts, während bei den Jüngeren ganz besonders das Interesse an einer ganzheitlichen Erfahrung der anderen Religion – etwa in sinnlich-ästhetischen Begegnungen wie Ausflügen an spirituelle Orte – zu erkennen ist. 4. Resümee und Ausblick

Die durch Analyse der beiden Gruppengespräche gewährten Einblicke in die Schülerinnen- und Schülerperspektiven zeigen, dass in beiden Altersgruppen die interreligiösen Unterrichtsstunden als positive und interessante Abwechslung zum gewohnten konfessionellen Religionsunterricht empfunden werden. Die konfessionsübergreifenden Einheiten bilden für die Kinder und Jugendlichen augenscheinlich einen sicheren Rahmen für einen offenen, von wechselseitiger Neugier und Wertschätzung geprägten Dialog, den sie in anderen Settings vermissen. Auch die dadurch gebotene Gelegenheit, mit Vertreterinnen und Vertretern der eigenen wie auch der anderen Religion authentische Informationen und

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Glaubenserfahrungen auszutauschen, wird als Mehrwert wahrgenommen.19 Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei weniger die konkrete Positionierung des/der Einzelnen als vielmehr die Öffnung eines Raums, in dem religiöse Positionierungen überhaupt reflektiert, artikuliert und diskursiv begründet werden (können). In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen und deren Innensicht lernen die Schülerinnen und Schüler, ihre persönliche Positionierung zu be- und gegebenenfalls auch zu überdenken. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der durch interreligiöse Lehr-/ Lernprozesse angestoßen und nicht als bereits abgeschlossen vorausgesetzt werden sollte. In den konfessionsübergreifenden Unterrichtseinheiten stärken die Schülerinnen und Schüler ihre religiöse Identität, da es dabei zum einen darum geht, die andere Religion kennenzulernen, und es zum anderen gilt, eine eigene Positionierung in Fragen von Religion und Glauben vorzunehmen, »um auf einer solchen Grundlage dialogfähig im Austausch mit anderen religiösen Einstellungen und Haltungen zu werden«20. Damit dies gelingt, müssen Lehrpersonen mit einer elementartheologischen Sprachfähigkeit ausgestattet sein, die es ihnen erlaubt, persönliche religiöse Positionalität ebenso zu artikulieren wie Positionen aus den Religionen schüleradäquat zu vermitteln. Wie aber der Ausschnitt aus der Unterrichtspraxis verdeutlicht, versuchen die Lehrpersonen in der interreligiösen Begegnung, sich auf Basis einer gemeinsam getragenen ethischen Wertehaltung zu verständigen, um religiösen sowie persönlichen Differenzen auszuweichen. Dank dieser

gemeinsamen Basis, welche die Religion weitgehend ausklammert, lassen sich Argumente und Vorstellungen der anderen Lehrkraft miteinbeziehen und in die eigene Perspektive integrieren. So können die beiden als Team auftreten und einen Unterricht gestalten, welcher Gemeinsamkeiten fokussiert – mit dem Ziel die Klassengemeinschaft zu stärken. Als Gründe dafür, dass sich eine unterrichtliche Auseinandersetzung mit den persönlichen sowie religiös motivierten (differenten) Einstellungen schwierig gestaltet, ließen sich nennen: 1. die gesellschaftliche Konvention, Religion als Privatsache zu behandeln, 2. das Unbehagen am Gedanken, der anderen Lehrperson möglicherweise zu nahe zu treten, ihre Einstellungen sowie Ansichten infrage zu stellen oder sie zu beleidigen, 3. eine Scheu, sich mit religiösen Wahrheitsfragen auseinanderzusetzen. Und dennoch schwingt die religiöse Differenz im Unterrichtsgeschehen stets mit, auch wenn sie nicht explizit ausgesprochen/ angesprochen wird – im obigen Beispiel zeigt sich dies im Sprachgebrauch, an der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe Ehe, Lebensgemeinschaft oder Partnerschaft. Diese Wörter poppen nebeneinander auf, werden jedoch nicht inhaltlich befüllt. Implizit schwingt hier auch noch das Thema »Sex vor der Ehe« mit, welches ebenfalls ausgeklammert wurde. Wenn es darum geht, im Unterrichtsgeschehen Toleranz aufzubauen und Vorurteile zu reflektieren, führt kein Weg an einer Auseinandersetzung mit religiöser 19 Vgl. Eva Wenig et al. (wie Anm. 17), 149. 20 Eva Wenig et al. (wie Anm. 17), 150.

Wenig / Yagdı ˘ Empirische Einblicke in die Positionalität von Lehrpersonen und Schüler/innen

Differenz vorbei. Um die eigene Position zu reflektieren und zu überdenken sowie gegebenenfalls anzupassen, bedarf es der Konfrontation mit unterschiedlichen Positionen. Daher braucht es für Lehrkräfte bereits im Studium oder in der Weiterbildung interreligiöse Begegnungsmomente, in denen gemeinsam ein Unterricht geplant, vorbereitet, durchgeführt sowie reflektiert wird. Eine andere Möglichkeit zum Erwerb von elementartheologischer Sprachfähigkeit, die sensibel für differente religiöse Ein- sowie Vorstellungen ist und auch mit Schülerinnen und Schüler im Unterricht eingeübt werden kann, gibt es nicht. Eine interreligiöse Position, die einem reflektierenden und dialektischen Begründungsverfahren im universitären Kontext unterzogen wird und Vorstellungen sowie Argumente von anderen Religionslehrpersonen integriert, ist Voraussetzung für einen Unterricht, der die Schülerinnen und Schüler dazu befähigt, ihre eigene religiöse Standortbestimmung bzw. die zu anderen Religionen zu begründen und zu reflektieren. Denn: Eine Lehrperson mit (anderen) religiösen sowie ethischen Überzeugungen stellt die eigenen Selbstverständlichkeiten infrage und fordert zur Positionierung heraus. Es ist daher davon auszugehen,

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dass die Lehrpersonen im Prozess des gemeinsamen Unterrichtens ihre Positionalität anpassen bzw. verändern. Die vorgestellten Beobachtungen und Überlegungen können und sollen als Impulse für die Weiterentwicklung einer Didaktik interreligiöser Lehr-/Lernprozesse dienen, die momentan noch in den Kinderschuhen steckt.21 Allerdings geben die anhand von Videografie und Gruppendiskussionen erhobenen Perspektiven lediglich erste Einblicke in die Wahrnehmung von interreligiösem Unterricht im christlich-islamischen Teamteaching. Für die Gewinnung und Entwicklung valider interreligiöser Lehr-/ Lerntheorien aus der Empirie bedarf es eines wesentlich umfassenderen Forschungsprozesses. So bietet sich für die religionspädagogische Forschung an, in Zukunft verstärkt den tatsächlichen Unterricht videobasiert zu beobachten; erst die Zusammenschau von Unterricht und Gruppengesprächen kann umfassenden Aufschluss über das didaktische Potenzial interreligiöser Unterrichtssettings im christlich-islamischen Teamteaching und die Multidimensionalität interreligiöser Lehr-/Lernprozesse geben. 21 Vgl. Woppowa et al. (wie Anm. 16), 69.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Anika Loose Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch? Überlegungen zur Förderung von Positionalität auf der Grundlage von Einzelinterviews 1. Einleitung

Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch? Die Ausgangsfrage dieses Beitrags zielt auf die Frage nach der Art und Weise von kindlicher Positionalität. Sich positionieren wird nachfolgend im Sinne von Stellung beziehen, sich festlegen, sich entscheiden verstanden. Auf dem Weg dorthin gibt es jedoch auch eine Fülle von Zwischenschritten. Kinder legen sich häufig nicht eindeutig fest. Zur Findung einer Positionierung gehört es auch, zu mutmaßen, abzuwägen oder eine bereits gefundene Position wieder zu verwerfen, u.ä. Der Schwerpunkt dieses Beitrags wird darauf liegen, auch diese Nuancen näher in den Blick zu nehmen. Bisherige Handlungsempfehlungen zum Thema Positionalität wurden im Bereich der Kindertheologie noch nicht empirisch eruiert. Sie stellen jedoch eine wichtige Orientierungshilfe zur Schulung der Gesprächskompetenzen der Erwachsenen dar und können grob wie folgt zusammengefasst werden:  Frage, wie jemand zu seiner Position gekommen ist!  Zeige auf, wer ähnlich oder anders denkt!  Zeige auf, inwiefern sich die Positionen unterscheiden!  Greife kindgemäß auf Positionen der Systematik zurück (Theologie für Kinder)!1

Der vorliegende Beitrag geht nun einen Schritt weiter und ermöglicht am Beispiel einer Interviewstudie einen Einblick in das breite Spektrum kindlicher Positionierungen, auf deren Grundlage konkrete Vorschläge zur Förderung von Positionalität gemacht werden können. Die Grundlage für diese Überlegungen stellen Gespräche mit Kindern über Mk 4,30–32 parr. dar.2 Im Anschluss an einen kompakten Einblick in die Studie in Abschnitt 2.) und einer Reflexion über mögliche Einflussfaktoren des Gesprächssettings auf die Positionalität unter 3.), können unter 4.) Beobachtungen zur Art und Weise der Positionierungen der Kinder getroffen werden und ein entsprechendes Spektrum kindlicher Positionierungen aufgezeigt werden. Abschließend können unter 5.) Gesprächstechniken zur Förderung der Positionalität von Kindern empfohlen werden, bevor die Ergebnisse unter 6.) zusammengefasst werden.

1 Vgl. Mirjam Zimmermann, Art. Kindertheologie (2015), in: Das wissenschaftlichereligionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/ wirelex.Kindertheologie.100020, PDF vom 20.09.2018). 2 Vgl. Anika Loose, Und dann hat der denen nicht direkt eine Antwort gegeben … Grundschulkinder theologisieren über Jesu Gleichnis von der Senfpflanze, Stuttgart 2019.

Loose Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch?

2. Einblicke in die Studie zu Mk 4,30–32 parr.

In einer Interviewstudie, die 2013 an Grundschulen im Bergischen Land durchgeführt worden ist, wurde den beiden Fragen nachgegangen: 1. Wie rezipieren Drittklässler im Alter von acht bis neun Jahren Jesu Gleichnis von der Senfpflanze3 (Mk 4,30–32 parr.)? 2. Welche Eigenschaften verbinden die Kinder (ausgehend von diesem Gleichnis) mit dem Reich Gottes?4 Im Rahmen eines Kreisgesprächs hat die Lehrkraft mit den Kindern einleitend über das Reich Gottes gesprochen.5 Anschließend fand eine Hinführung zum Gleichnis über die Realien statt.6 Die Kinder erhielten schließlich ein Arbeitsblatt mit texterschließenden Fragen und Aufgaben, mit denen sie sich in Einzelarbeit auf die Interviewsituation vorbereitet haben.7 Anhand der Aufgaben wurden die Kinder dazu angeleitet, sich selbstständig mit den Elementen des Gleichnisses, dem Senfkorn und dem Senfbaum, auseinanderzusetzen. So wurden die zuvor ausgeteilten Senfkörner auf dem Arbeitsblatt eingeklebt und der Senfbaum (Mt 13,32/Lk 13,19) gemalt. Beide Elemente wurden von ihnen anschließend beschrieben. Ferner sollte dem Konzept des Arbeitsblatts folgend das Geheimnis des Senfkornes bestimmt werden.8 Als Textgrundlage diente eine Fassung der Schulbibel, die Jesus als den Sprecher der Gleichnisses ausweist.9 Allen Kindern wurden einzeln dieselben Fragen gestellt, die zu einem Nachdenken über den Text und die Reich-

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Gottes-Thematik anleiten sollten.10 Die Interviews wurden von der Forschenden transkribiert und mit Hilfe der inhaltlich-strukturierenden Inhaltsanalyse nach Udo Kuckartz ausgewertet und interpretiert.11 Vergleicht man die Interpretationen des Gleichnisses der Kinder mit den Auslegungen von Exegetinnen und Exegeten, so fallen erstaunliche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede ins Auge. Die Kinder rezipieren beispielsweise (wie auch die Erwachsenen) den Wachstums- und Kontrastaspekt, deuten die Vögel des Himmels oder denken über den Subjekt-, Zeit- und Raumaspekt des Reiches Gottes nach.12 So positionieren sich die Kinder gegenüber exegetischen Positionen zum Gleichnis und zur ReichGottes-Thematik, von denen sie selbst keine Kenntnis haben. Auch weisen sie eine Nähe zu antiken Rezipientinnen und Rezipienten des Gleichnisses auf, 3 Aus exegetischen Gründen wird das gängig als Gleichnis vom Senfkorn bezeichnete Gleichnis als Jesu Gleichnis von der Senfpflanze betitelt, um eine unnötige Verengung auf den Beginn des Gleichnisses zu vermeiden. Vgl. ebd., 57 u. 99. 4 Vgl. Anika Loose (wie Anm. 2). 5 Vgl. ebd., 96–99. 6 Vgl. ebd., 99–102. 7 Vgl. Melanie Göpner / Sabine Willmeroth, Das Gleichnis vom Senfkorn, in: Dies. (Hg.), Kinder verstehen Gleichnisse. Ein handlungsorientierter Zugang, Mühlheim an der Ruhr 2006, 19–24. 8 Vgl. Anika Loose (wie Anm. 2), 102. 9 Renate Günzel-Horatz / Silke Rehberg, Vom Senfkorn, in: Dies., Meine Schulbibel: ein Buch für Sieben- bis Zwölfjährige, Kevelaer 2 2006, 95. 10 Vgl. Anika Loose (wie Anm. 2), 241. 11 Vgl. ebd., 119–137. Vgl. Udo Kuckartz, Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, Weinheim/Basel 42018. 12 Vgl. ebd., 204–211.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

wenn sie das Gleichnis vor dem Hintergrund des Schöpfungsgedankens deuten. Ein Aspekt, der von erwachsenen Rezipientinnen und Rezipienten häufig übersehen wird.13 3. Positionalität und Gesprächssetting

Wenn nun auf der Grundlage der ReichGottes-Studie die Frage gestellt wird, Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch?, so ist auch das Gesprächssetting zu bedenken, da dieses die Art und Weise der Positionierung maßgeblich mitbestimmt. In leitfadengestützten Einzelinterviews mit vorgegebenen Interview­ fragen wird sich ein Kind auf andere Art und Weise zur Sache positionieren als in einem Gruppengespräch oder einer Gruppendiskussion. Die Stimulation des Gesprächs wird bei einem Einzelinterview maßgeblich durch die Interviewfragen bestimmt, da diese den Anlass für Positionierungen darstellen. Auf andere Weise wird Positionalität in einer Gruppendiskussion gefördert. Zwar werden auch Gruppendiskussionen in der Regel durch im Vorfeld vorbereitete Gesprächsimpulse stimuliert, das Gespräch wird sich aber aufgrund der Eigendynamik von Gruppengesprächen im Verlauf stärker durch spontane, einander ergänzende und selten vorhersehbare Stimuli auszeichnen, die das Gespräch vorantreiben. Die Durchsicht der Interviews zeigt, dass sich die Kinder – wie erwartet – kaum aufeinander beziehen. Lediglich der neunjährige Victor berichtet davon, dass er sich in der Einzelarbeitsphase mit einem Mitschüler Jan ausgetauscht habe. Seine mit Jan abgestimmte Idee, das

Reich Gottes mit einem Tornado zu vergleichen, verwirft er im Gespräch aber wieder und kommt zu einer eigenständigen Lösung. Nun vergleicht er das Reich Gottes mit einem Stern und weiß dies auch zu begründen (vgl. 4.7). Darüber hinaus sind keine Bezugnahmen auf die Beiträge der anderen Kinder zu finden, da die Gespräche in Form von Einzelinterviews stattfanden. Vereinzelt greifen Kinder Impulse aus den Kreisgesprächen über das Reich Gottes auf.14 Mit ihnen gehen sie adaptiv um oder lassen sich durch sie inspirieren. Um den Kindern den Begriff des Reiches Gottes näher zu bringen, zog die Religionslehrerin der Kinder in Vorbereitung auf die Studie einen (für die Verfasserin) überraschenden Vergleich. So erklärte sie den Kindern im Kreisgespräch, dass man in das Reich Gottes nicht so einfach reisen könne, wie z.B. in das Königreich von England. Dieser Impuls wird von Peter aufgegriffen, der sich bei seinen Überlegungen auf den Impuls seiner Lehrerin bezieht.15 Der Schwerpunkt soll im Folgenden auf dem Spektrum der Positionierungen der Kinder liegen. 4. Wie positionieren sich die Kinder? – Ein Spektrum von Positionierungen

Bevor im Folgenden einzelne Kinderäußerungen näher in den Blick genommen werden, soll noch einmal die Spontaneität von Kinderäußerungen vergegenwärtigt werden. Kinder äußern sich auch in 13 Vgl. ebd., 209–210. 14 Vgl. Anika Loose (wie Anm. 2), 212–213. 15 Vgl. ebd., 169–177.

Loose Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch?

Interviewsituationen spontan und zeigen dabei häufig erstaunlich elaboriert Begründungszusammenhänge auf. Zugleich haben die Äußerungen etwas Situatives. So korrigiert sich beispielsweise Victor aufgrund des zeitlichen Abstandes zwischen der Vorbereitung auf das Interview in Einzelarbeit und dem Interview selbst (»Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe«). Daher kann es sinnvoll sein, Kinder an ihre eigenen Statements zu erinnern und sie so zu einer Überprüfung herauszufordern. Querliegend zu dem nachfolgenden Kategoriensystem (4.1–4.8) lassen sich Positionierungen finden, die sich als »Persönliche Positionierungen« kennzeichnen lassen. Diese werden eindeutig als die eigenen markiert. So kennzeichnet Petra ihre Überlegungen zum Zeitpunkt des Reiches Gottes als die ihrigen, indem sie sie mit »Ich würde sagen« einleitet. Sie übernimmt dabei die Formulierung des Interviewenden. Interviewer: […] Was würdest du sagen, wann beginnt das Reich Gottes? Ist es schon da oder kommt das erst noch? Petra: (..) Ich würde sagen, es ist schon da. (.) Es ist schon lange da.

Peter verfährt genauso und variiert später zu »Also ich würde mir vorstellen, dass …«. Auch Valentin leitet seine Überlegungen als die seinigen ein und formuliert: »Also, ich denke«. Das Spektrum der kindlichen Positionierungen reicht von reflektiert-begründeten Positionierungen (1) bis hin zur Vermeidung / dem Ausweichen einer Positionierung (8). Dazwischen sind ausführlich oder knapp darlegende Positionierungen (2), abwägende Positionierun-

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gen (3), mutmaßende Positionierungen (4), Positionierungen durch Adaption oder Widerspruch (5), spontane (unbegründete) Positionierungen (6) und das Aufgeben einer vorhandenen Positionierung (7) zu finden. Für das genannte Spektrum werden im Folgenden jeweils exemplarisch Beispiele angeführt und beschrieben. Die Beispiele können als Orientierung dienen, um in eigenen Gesprächen eine Heuristik im Hinterkopf zu haben. In Abschnitt 5 folgen Vorschläge für Gesprächstechniken, um Positionalität von Kindern im Gespräch zu fördern. 4.1 Reflektiert-begründete Positionierungen

Im vorliegenden Datenmaterial gibt es zahlreiche reflektiert-begründete Positionierungen. Dabei argumentieren die Kinder mit der Bibel und/oder mit einer christlich-theologischen Semantik, z.B. wenn sie sich auf den Schöpfungsgedanken beziehen. Wie aufgrund des Gesprächssettings zu erwarten, beziehen sich die Kinder auf den biblischen Text selbst, nämlich auf Jesu Gleichnis von der Senfpflanze. Viele Kinder kennzeichnen ihre Überlegungen mit den Konjunktionen »weil«, »deswegen« oder »darum« und kennzeichnen damit einen Begründungszusammenhang. Manuel erklärt, warum Jesus die Geschichte gewählt habe und bezieht sich dabei auf den Wachstums- und Kontrastaspekt. Das Gleichnis bezeichnet er hierbei als Geschichte und erklärt: Manuel: Weil das erst/ weil das dann ziemlich gut auf den Punkt bringt, wenn das die Geschichte dann so ist, weil das ja erst klein ist und dann ganz groß wird. (..) Ja!

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Katrin weiß zu erklären, warum das Reich Gottes schon da sei. Hierzu argumentiert sie mit der Gleichniserzählung selbst und leitet ihre Erläuterungen mit den Konjunktionen »weil« und »deswegen« ein. Interviewer: […] Katrin, was würdest du sagen, wann beginnt das Reich Gottes? Ist es schon da oder kommt es noch? Katrin: Also, ich denke, dass es schon da ist, weil/ (…) wenn Jesus halt das Senfkorn mit Reich Gottes vergleicht und das Senfkorn ja schon lange da ist, deswegen denke ich, dass es auch schon da ist und, ja.

Beim Nachdenken über die (Un-)Möglichkeit, das Reich Gottes sichtbar zu machen, argumentieren einzelne Kinder mit der Bibel. Fabian geht davon aus, dass Gott genauso unsichtbar sei wie das Reich Gottes und will dies mit der Bibel belegt wissen: Interviewer: Glaubst du, dass wir selbst etwas tun können, damit das Reich Gottes sichtbar wird? Fabian: (5) Kann sein, aber es ist/ es wird ziemlich schwer sein (lacht). Interviewer: Ja? Warum ist das schwer? Fabian: Weil eigentlich kann man das Reich Gottes ja nicht sehen, weil genau wie das Reich Gottes ist der Gott dann ja unsichtbar. (…) Zumindest steht das in der Bibel.

Frieda glaubt nicht, dass man das Reich Gottes sichtbar machen könne, und argumentiert ebenfalls mit der Bibel. Demnach hält sie es für möglich, dass Menschen von Gott geträumt haben, ihn aber nie gesehen haben. Daraus zieht sie die Schlussfolgerung, dass man auch das Reich Gottes nicht sehen könne. Interviewer: Frieda, können wir selbst etwas tun, damit das Reich Gottes sichtbar wird oder eher nicht?

Frieda: Also ich glaube nicht, weil in der Bibel steht ja auch, die meisten haben ja auch von Gott geträumt, aber die haben den nie gesehen. Interviewer: Mhm (bejahend) Frieda: (…) Ja und dann glaube ich auch nicht, dass man das Reich Gottes dann sehen kann.

Neben Bezügen auf den Gleichnistext oder unspezifischen Verweisen auf die Bibel ist auch die Verwendung einer christlich-theologischen Semantik aufzufinden. So argumentieren einige Kinder mit dem Schöpfungsgedanken.16 Lena argumentiert, dass man das Reich Gottes mit verschiedenen Sachen vergleichen kann (»Also nicht nur zum Senfkorn und […] zu der […] Erde, sondern vielleicht auch zu ALLEM, fast allem, weil Gott hat ja vieles erschaffen«). Für sie gehören zudem die Vögel des Himmels zu Gott, weil sie von Gott geschaffen worden sind.17 Die Kinder wurden nach eigenen Vergleichen für das Reich Gottes gefragt. In der Tradition der Grundidee des Gleichnisses, dass man das Reich Gottes mit verschiedenen Dingen vergleichen kann (Mk 4,30a), argumentiert Lena, dass man das Reich Gottes mit »fast allem (vergleichen kann), weil Gott hat ja vieles erschaffen«. Sie argumentiert auch im weiteren Verlauf des Gesprächs mit Bezugnahme auf den Schöpfungsgedanken und nennt verschiedene Möglichkeiten für Vergleiche mit dem Reich Gottes.

16 Vgl. ebd., 150 u. 209–210. 17 Vgl. ebd. 185.

Loose Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch?

Interviewer: (..) Und du sagst man ka/ kann das Reich Gottes auch mit etwas anderem vergleichen, was fällt dir da noch ein? Lena: Also nicht nur zum Senfkorn und (..) zu der (…) Erde, sondern vielleicht auch zu ALLEM, fast allem, weil Gott hat ja vieles erschaffen. (.) Auch die Tiere kann man damit vergleichen. Ein ganz kleines Tier, so wie eine Maus auch. (…) Oder auch eine Blume, die sät ja immer mehr und dann wird daraus wieder etwas.

Auch Karla weiß ihre eigenen Vergleiche für das Reich Gottes zu begründen. Dass das Senfkorn bzw. der Senfbaum etwas mit dem Reich Gottes zu tun hat, begründet sie auf kindlich kreative Weise, nämlich damit, dass »der Baum ziemlich groß ist und das ist dann wie eine Leiter ins Reich Gottes«. 4.2 Ausführlich oder knapp darlegende Positionierungen

Einige Kinder legen ihre Positionierungen dar, indem sie knapp oder ausführlich belegen, was sie meinen. Manuel und Victor legen kurz dar, wie sie sich vorstellen, inwiefern das Reich Gottes sichtbar werden könnte: Manuel: […] wenn man stirbt, dann kommt man ja in das Reich Gottes, aber sonst geht das ja eigentlich nicht. Victor: […] wenn wir der Natur helfen können und dass wir uns, dass wir nicht immer so fies zu anderen sind. (4) So!

Peter weiß seine Positionierungen ausführlich darzulegen. Das Gespräch mit ihm entwickelt sich über die geplanten Interviewfragen hinaus. So kommt es zu einem Gespräch über den Willen Gottes.

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Peter: Gott will, glaube ich/, also wenn ich/ (unv.) dass die Menschen keinen Krieg mehr führen und dass die Maschinen nicht die Umwelt verschmutzen, dass sie nicht so viele Bäume abreißen und, dass sie nicht so viele Sachen zerstören, wo wir bauen, so viel Platz für die Tiere wegnehmen oder irgendwelche Chemiesachen einfach in Flüsse schütten. (…) Weil das passiert ja in manchen Ländern mal, dass da dann der Fluss verseucht ist vielleicht. (.) Und (…) ja, und andere viele Sachen. (.) Keine Naturkatastrophen, sondern von Menschen/(..) Unglücke, die Menschen passieren.

Im weiteren Gesprächsverlauf wird Peter schließlich nach seinem eigenen Glauben gefragt, wodurch eine Entscheidung von ihm eingefordert wird. Peter weiß sich daraufhin nicht nur zu positionieren, sondern auch über die Positionen anderer nachzudenken und dabei die Konsequenzen zu bedenken. Interviewer: Und was glaubst du selbst? Glaubst du an Gott? Peter: Mhm (verneinend), nicht so richtig, aber (..) ich kann mir gut vorstellen, dass viele Leute an Gott glauben und (…) eigentlich finde ich es gar nicht mal so schlimm oder gar nicht mal so schlecht, wenn es sogar ein Gottesreich gäbe, (.) wenn es vielleicht entdeckt wird. Interviewer: Was wäre denn so gut daran? Peter: Naja, dann (..)/ wenn (..)/ Dann würde sich fast alles ändern oder sehr vieles jedenfalls würde sich dann ändern, weil dann hätten die Menschen alles, was an/ die meisten Sachen, die angerichtet werden, würden dann, glaube ich, verändert werden wieder.

Auch Karla weiß Ihre Position auf die Frage, ob wir etwas tun können, um das Reich Gottes sichtbar zu machen, darzulegen. Sie entwickelt einen Gedanken-

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

gang, der sich jedoch durch Unsicherheit auszeichnet, die sie durch die Wortwahl »Vielleicht« kennzeichnet.

nein« auf und führt seinen Gedanken schließlich als seinen ganz persönlichen Gedanken aus.

Karla: Vielleicht in Millionen von Jahren, wenn ganz viele Menschen beten und ganz viele Pflanzen, wenn die Menschen ganz viele Pflanzen auf der Erde haben und ganz viele Lebewesen, wenn man etwas erfindet, damit nicht so viel Autoabgase und so schlechte Luft in der Luft ist. Vielleicht wird es dann irgendwann mal sichtbar.

Interviewer: […] Können wir denn selbst etwas tun, damit das Reich Gottes sichtbar wird, was denkst du? Peter: (überlegt) Interviewer: Eher ja oder eher nein? Peter: Eher nein. Interviewer: Mhm (bejahend). Peter: Ich glaube eher, dass das durch ein/ eine Naturkatastrophe frei/ entdeckt wird, also nach einer Naturkatastrophe passiert, zum Beispiel ein Tsunami und danach an der Stelle, wo/ wo man eigentlich schon tief gegraben hat, ist dann plötzlich das Reich Gottes. Sozusagen, dass es einfach (..) kommt, obwohl man weiß, an dieser Stelle ist nichts. Da, wo man/ es kommt/ Also ich würde mir vorstellen, dass es da kommt, wo es am unwahrscheinlichsten kommen würde. Da, wo es am unwahrscheinlichsten ist.

4.3 Abwägende Positionierungen

Des Weiteren fallen Positionierungen ins Auge, die einen Abwägungsprozess erkennen lassen. Zu den sprachlichen Kennzeichen für einen solchen Prozess zählen Äußerungen wie die Kontamination »Jein« zur Kennzeichnung einer noch vorhandenen Unentschiedenheit, bevor sich das Kind festlegt. Ferner wird auch eine noch vorhandene Unentschiedenheit markiert, aber zugleich auch eine Tendenz angezeigt. Dies geschieht durch Formulierungen wie »eher Nein« oder »ich glaube eher«. Auf die Frage, ob man das Reich Gottes sichtbar machen kann, antwortet Jens mit einer Abwägung, die er ebenfalls mit »Jein« kennzeichnet, bevor er sich dann doch festlegt: »Also man kann das Reich Gottes erhalten. Also/ aber (..) sehen, jein. Also man/ man sieht/ also man kann es sehen, also man kann darüber nachdenken, aber so richtig sehen kann man das nicht.«

Ähnlich ergeht es Peter. Auch er wird dazu aufgefordert, sich zu entscheiden, ob wir das Reich Gottes sichtbar machen können. Hierbei greift er die vorgegebene Formulierung »Eher ja oder eher

4.4 Mutmaßende Positionierungen

Ein weiteres Phänomen stellen mutmaßende Positionierungen dar. Die Mutmaßungen werden in sprachlicher Hinsicht auch durch Formulierungen wie »Vielleicht«, »wahrscheinlich«, »irgendwie«, »irgendetwas« oder durch die Wahl des Verbs »glauben« im Sinne von »annehmen«, »nicht wissen« oder die Verwendung des Konjunktivs »könnte« gekennzeichnet. Auch ein fragendes sich-Positionieren kann ebenfalls als Mutmaßung aufgefasst werden. So antwortet Andrea mutmaßend auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Reiches Gottes: »Im Himmel?« (Andrea; ähnlich verfährt Jelena: »Weil das Reich Gottes vielleicht auch wächst?«).

Loose Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch?

Ein weiteres Beispiel für sprach­ liche Kennzeichnungen von Unsicherheit beim Mutmaßen über die (Un-) möglichkeit, das Reich Gottes sichtbar zu machen, ist der Beitrag von Andrea. Sie kennzeichnet zunächst, dass sie nicht glaube, dass man das Reich Gottes sichtbar machen könne. Anschließend bringt sie ihre Unsicherheit zum Ausdruck, indem sie sagt, dass sie es nicht wisse, bevor sie ihre Überlegungen mit »Vielleicht« einleitet. Andrea: Also ich glaube nicht. Ich weiß nicht. Vielleicht ist es ein geheimnisvoller Ort, (.) den man nicht sichtbar machen kann.

Auch Fabian mutmaßt, wie man das Reich Gottes sichtbar machen kann: Interviewer: (…) Kann denn nur Gott dafür sorgen, dass das Reich Gottes sichtbar wird oder die Menschen auch? Fabian: Also eigentlich auch die Menschen. Interviewer: Ja? Und wie? Was müssen die tun? Fabian: (…) Vielleicht die Umwelt etwas mehr schonen. Interviewer: (..) Meinst du, etwas Gutes tun, oder/ Fabian: Ja.

Auch bezüglich der Frage nach dem Zeitpunkt des Reiches Gottes werden Mutmaßungen geäußert. Bei Peter fällt insbesondere die hohe Anzahl der Formulierung »vielleicht« auf, mit der er seine Überlegungen kennzeichnet. Interviewer: (..) Und wann beginnt das Reich Gottes? Was würdest du sagen? Kommt das Reich Gottes noch oder ist es schon da? Peter: Ich würde sagen, dass es schon da ist, nur, dass es die Menschen nicht wissen.

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Dass es erst gefunden werden muss. Vielleicht ist es ja ganz tief unter der Erde auch. (…) Vielleicht wird es ja entdeckt, dann. Und (..) dann ist das Reich Gottes vielleicht ganz tief unter der Erde und wird dann freigelegt vielleicht. Interviewer: Und wann wird das freigelegt? Peter: (…) Vielleicht (4) 2000 (…) ein/ vielleicht 2053?

Valentin und Manuel deuten an, dass ihre Aussage über das Reich Gottes nur »wahrscheinlich« richtig sei. Damit weisen auch sie auf die Unsicherheit ihrer Aussage hin. Auch bei ihren spannenden Deutungen der Vögel des Himmels stellen die Kinder Mutmaßungen an. Dies zeigt sich auch darin, dass einige Kinder mehrere Möglichkeiten gleichzeitig ins Auge fassen. Es werden konkrete und/oder transzendente Deutungen hervorgebracht, indem bestimmte Vogelarten benannt oder die Zugehörigkeit der Vögel zu Gott betont wird. Auch die Deutung der Vögel als Menschen ist zu finden.18 4.5 Positionierung durch Adaption oder Widerspruch

Eine weitere Kategorie stellen Positionierungen durch die Übernahme bereits vorgegebener Ideen dar (Adaption). Auf derselben Ebene sind Positionierungen durch Widerspruch einzuordnen, da auch dieser vor dem Hintergrund einer vorgegebenen Idee geäußert wird. Zunächst soll die Adaption veranschaulicht werden:

18 Vgl. ebd., 151–154.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Die Frage, womit er selbst das Reich Gottes vergleichen würde, kennzeichnet Manuel als »schwierig«. Letztlich räumt er ein, dass man das Reich Gottes am besten mit einem Senfkorn vergleichen könne. Damit schließt er sich der biblischen Textvorlage an. Johanna ist derselben Ansicht. Auch sie geht davon aus, dass es keinen besseren Vergleich gäbe. Interviewer: Womit würdest du selbst das Reich Gottes vergleichen? Jesus hat es ja mit dem Senfkorn verglichen, was ist deine Idee? Johanna: Also, ich finde auch, dass man es mit einem Senfkorn vergleichen kann, weil ich finde, dass es eine bessere Vergleichung nicht/ ein/eigentlich nicht gibt.

Auch Peters Übernahme der Idee der Religionslehrerin, dass man nicht ins Reich Gottes reisen könne, kann als Adaption betrachtet werden, die Peter dabei hilft, sich zu positionieren (vgl. Abschnitt 3). Widerspruch wird von Peter angesichts einer Provokation geäußert: Wie alle anderen Kinder wurde auch er gefragt, womit er das Reich Gottes vergleichen würde. Anlässlich einer bewusst gesetzten Provokation durch die Interviewerin, ob sich Gott denn nicht im Himmel langweilen würde, widerspricht Peter entschieden und präzisiert seinen Gedankengang. Peter: Nein! Der langweilt sich nicht. Interviewer: Nein, was macht Gott denn dann? Peter: (…) Gott sitzt da oben und (…) und, wenn er merkt, dass unten da was schlecht ist, also dann färben sich die Wolken grau, stelle ich mir dann eher vor. […]

4.6 Spontane (unbegründete) Positionierungen

Ein häufiges Phänomen stellen auch in der schulischen Alltagspraxis spontane und häufig unbegründete Positionierungen dar. Die Kinder äußern sich entsprechend knapp, legen sich dabei aber unbegründet fest. Auch auf Nachfrage ist in solchen Fällen kaum eine Begründung zu finden. Entsprechend äußert sich der sonst gesprächige Valentin zur Frage nach der Sichtbarkeit des Reiches Gottes. Interviewer: Können wir denn selbst etwas tun, damit das Reich Gottes sichtbar wird, hast du eine Idee? Valentin: Nein. Interviewer: Nein? Können wir nichts tun? (.) Das Reich Gottes kommt von alleine? Valentin: Mhm (bejahend).

Auf die Frage nach dem Zeitpunkt des Reiches Gottes antwortet auch Karl betont entschieden, begründet seine Antwort jedoch nicht. Karl: Es ist schon LANGE da.

4.7 Aufgeben einer Positionierung

Bei der Reflexion der Rahmenbedingungen der Studie wurde festgestellt, dass sich die Kinder aufgrund der Durchführung von Einzelinterviews nicht aufeinander beziehen. Tatsächlich gibt es jedoch eine Ausnahme. Victor, der sich in der Einzelarbeit mit seinem Sitznachbarn Jan abgesprochen hatte, verwirft später im Interview eine zuvor ins Auge gefasste Idee, das Reich Gottes mit einem Tornado zu vergleichen.

Loose Wie positionieren sich Kinder im theologischen Gespräch?

Interviewer: Womit würdest du denn das Reich Gottes vergleichen? Schau mal, du hast auch gemalt dazu. Victor: Mhm (überlegend), ja, eben mit einem Senfkorn (4), mit einem Stern und mit/ und, naja mit einem Tornado nicht gerade. Weiß ich nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich habe das so mit Jan besprochen.

Anschließend vergleicht er das Reich Gottes selbstständig und ohne Absprache mit seinem Mitschüler mit einem Stern und weiß dies auch zu begründen (»Weil das Reich Gottes, glaube ich, so hell ist wie ein Stern«) (vgl. Abschnitt 3). 4.8 Vermeiden / Ausweichen einer Positionierung

Den Gegenpol zu reflektiert-begründeten Positionierungen stellt das Vermeiden bzw. das Ausweichen einer Positionierung dar. Als Beispiel kann die Frage nach einem eigenen Vergleich für das Reich Gottes herangezogen werden. Während einige Kinder ihre individuellen Vergleiche auch begründen, weichen andere aus.19 Interessant ist, dass jedoch auch das Vermeiden einer Positionierung teilweise lapidar begründet wird. Im vorliegenden Fall geschieht dies bezüglich der Frage nach dem Zeitaspekt des Reiches Gottes mit dem Hinweis auf die eigene Ahnungslosigkeit (Joline: »Weiß ich nicht«; Jelena: »Keine Ahnung«).

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5. Gesprächstechniken zur Förderung von Positionalität im theologischen Gespräch

Das in Abschnitt 4 aufgezeigte Positionierungssspektrum legt nun nahe, im Gespräch Spiegeltechniken einzusetzen, die Kindern helfen können, sich nicht nur ihrer eigenen Positionalität bewusst zu werden, sondern sich auch in die Richtung von begründeten Positionierungen zu entwickeln. Hierzu kann beim idealtypischen Dreischritt des Theologisierens angeknüpft werden.20 Nachdem Glaubensvorstellungen erhoben worden sind, können diese strukturiert und anschließend kontextualisiert werden. Meine Handlungsempfehlungen zur Förderung von Positionalität setzen beim Strukturieren an. Es bietet sich an, hierbei einen eigenen Dreischritt mitzudenken, nämlich das Wahrnehmen und Einordnen der Kinderaussage, das Spiegeln der Aussage gegenüber dem Kind sowie ein Herausfordern zur Positionalität durch eine Rückfrage. Wenn die Aussage bereits begründet worden ist, bietet es sich natürlich an, dies lobend hervorzuheben. Das nachfolgende Schaubild verdeutlicht die Schritte:

19 Vgl. ebd., 164–166. 20 Vgl. Annike Reiß, Art. Jugendtheologie (2015), in: Das wissenschaftliche-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Jugendtheologie.100022, PDF vom 20.09.2018).

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Förderung der Positionalität Aussage wahrnehmen und einordnen → Aussage spiegeln → rückfragend zur Positionalität herausfordern

In der nachfolgenden Tabelle werden konkrete Vorschläge unterbreitet, wie auf das in Abschnitt 4 aufgezeigte Spektrum von Positionierungen jeweils eingegangen werden könnte.

Reflektiert-begründete Positionierungen

Du hast deinen Gedanken gut begründet. Vielen Dank, dass du dich dazu geäußert hast.

Ausführlich oder knapp darlegende Positionierungen

Du hast deine Gedanken jetzt gut dargelegt. Kannst du auch erklären, warum du das so siehst?

Abwägende Positionierungen

Du hast jetzt gerade überlegt, ob du x oder y besser/wahrscheinlicher/überzeugender findest. Was müsstest du noch wissen, um dich zu entscheiden/festzulegen?

Mutmaßende Positionierungen Du hast gerade angedeutet, dass du dir nicht sicher bist. Kannst du erklären warum? Was müsstest du wissen, um dir sicher zu sein? Positionierung durch Adaption oder Widerspruch

Du hast gerade der Idee von Jan zugestimmt/widersprochen. Kannst du begründen, warum du seine Idee gut/schlecht findest?

Spontane (unbegründete) Positionierungen

Mit deiner Äußerung hast du dich gerade entschieden/festgelegt. Magst du erklären, wie du darauf gekommen bist?

Aufgeben einer vorhandenen Positionierung

Du hast deine Idee jetzt gerade verworfen. Hast du inzwischen eine andere Idee? Wie bist du darauf gekommen?

Vermeiden/Ausweichen einer Positionierung

Du kannst dich gerade nicht entscheiden. Was müsstest du noch wissen, um dich festzulegen?

6. Ergebnisse

1. Die Kinder theologisieren im vorliegenden Setting nicht positionell in dem Sinne, dass sie kontrovers argumentieren würden. Dies liegt im vorliegenden Fall an der Durchführung von Einzelinterviews (vgl. Abschnitt 3). 2. Die Kinder greifen vereinzelt Impulse aus dem Kreisgespräch über das Reich Gottes auf und positionieren sich dann adaptiv (vgl. Abschnitt 3). 3. Die Kinder positionieren sich gegenüber exegetischen Positionen zum Gleichnis und zur Reich-Gottes-

Thematik, von denen sie selbst keine Kenntnis haben (vgl. Abschnitt 2). 4. Querliegend zu dem vorgestellten Kategoriensystem lassen sich Positionierungen finden, die sich unabhängig von den bisherigen Zuordnungen als »Persönliche Positionierungen« kennzeichnen lassen (vgl. Abschnitt 4). 5. Es kann ein breites Spektrum von Positionierungen auf dem Weg zur Positionalität beschrieben werden (vgl. Abschnitt 4). 6. Es bieten sich Gesprächstechniken an, um die Positionalität von Kindern zu fördern (vgl. Abschnitt 5).

Boeck Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmand/innen

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Nadja Boeck »Es kann ja jeder glauben, was er will.« – Die Suche nach Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmandinnen und Konfirmanden 1. Vorbemerkungen

Die folgenden Überlegungen basieren auf einer Untersuchung von Gruppendiskussionen mit Konfirmandinnen und Konfirmanden über die Auferstehung. Das Hauptinteresse der Arbeit galt dabei der Deutungskompetenz Jugendlicher in Bezug auf Bibeltexte. Das leitende Forschungsinteresse bezog sich auf folgende Fragen: Wie lesen Jugendliche die Bibel? Wie finden sie Zugänge zum Text und wie deuten sie Bibeltexte? Die Frage der Positionalität war kein Schwerpunkt und wird in diesem Artikel neu an das vorliegende Interviewmaterial herangetragen. Die Analysen der Gruppendiskussionen1 zeigen, dass die Jugendlichen den Auferstehungstext aus dem Johannesevangelium (Joh 20,1–18) deuten, doch damit kann noch nicht von Positionierungen der Jugendlichen zur religiösen Frage der Auferstehung gesprochen werden. In den Diskursen zeigt sich unter anderem, dass sie brillieren wollen und wunderbare Deutungen bringen, aber es für sie Aufgabenerfüllung ist und keine persönliche Überzeugung.2 Das ist auch eine bekannte Tatsache aus dem schulischen Unterricht. Wenn Gruppendiskurse analysiert werden, enden die Diskurse – vorausgesetzt sie gelingen – mit einer Konklusion.3 Eine Konklusion schließt ein Thema ab. Damit nimmt die Gruppe Stellung zu

einem Thema, sie positioniert sich. Wenn keine Antithesen eingeworfen werden, ist die Konklusion damit für die Gruppe stimmig. Insofern wird im Folgenden aufgezeigt, wie Gruppen Jugendlicher in einem Diskurs zu Konklusionen finden bzw. welche Faktoren zum Misslingen führen. Damit kann ein kleiner Beitrag zur Frage der Positionalität geleistet werden, indem beobachtet wird, wie Jugendliche in Gruppen Positionen einnehmen. Damit ist noch keine Aussage zur Rolle der Lehrpersonen gemacht worden und nicht aufgezeigt, wie sie im Unterricht die Positionierungen der Jugendlichen aufnehmen können. Es stellt sich insbesondere die Frage, wie die Äußerungen vieler verschiedener Meinungen miteinander in Beziehung gesetzt und die Jugendlichen zu einer Beobachtung 2. Grades motiviert und angeleitet werden können, also zur Reflexion des ei1 Die Feinanalysen und Zitatausschnitte in diesem Artikel sind entnommen aus Nadja Boeck, »Es muss ja nicht alles Sinn machen.« Jugendliche deuten die Auferstehung, Stuttgart 2022 (in Vorbereitung zur Publikation). 2 Vgl. Nadja Boeck (wie Anm. 1). 3 Zur Methodik der dokumentarischen Methode: Ralf Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung, Opladen 92014 oder für Forschung in der Religionspädagogik aufbereitet: Nadja Boeck, Art. Dokumentarische Methode (2019), in: Das wissenschaftliche-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Dokumentarische_Methode.200579, PDF vom 05.02.2021).

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

genen Diskursprozesses. Der Text wird einige Antwortversuche vorstellen. Es muss aber berücksichtigt werden, dass in der Erhebungssituation keine realen Unterrichtsprozesse, sondern Diskursprozesse von Jugendlichen untereinander ohne Lehrperson beobachtet wurden. Die anwesende Interviewerin war hauptsächlich dafür verantwortlich, dass der Diskurs nicht ins Stocken geriet, so dass selbstläufige Passagen entstanden. Insofern handelt es sich um eine Laborsituation. Darum können keine Aussagen zu konkreten Unterrichtssituationen gemacht werden. 2. Kontext der Untersuchung

Es handelte sich bei den Gruppen im Sample um real existierende Konfirmationsgruppen. Das ist für Gruppendiskussionen vorteilhaft, da sie über einen kollektiven Erfahrungsraum und über kollektive Wissensstände verfügen. Die Untersuchung fand nicht in einem Unterrichtssetting statt. Die Lehrpersonen waren nicht beteiligt. Die Erhebung fand aber zur regulären Uhrzeit des Konfirmationsunterrichts statt. Deshalb suggerierte das Setting bereits, dass die Möglichkeit besteht und erwünscht ist, explizite religiöse Überzeugungen zu äußern. Zudem wurde das durch den vorgegebenen Bibeltext evoziert, denn der Bibeltext hat selbst schon einen propositionalen Gehalt, an dem sich die Jugendlichen im Diskurs abarbeiten. Mit einer Proposition beginnt ein neues Thema, und ein Orientierungsgehalt wird aufgeworfen. Die Untersuchung wurde in der Schweiz durchgeführt. Im Kontext

Schweiz ist als Raum für das Theologisieren nur noch der kirchliche Kontext geblieben. Der konfessionelle Religionsunterricht ist aus den Schulen in fast allen Kantonen verschwunden. Dort, wo konfessioneller Religionsunterricht noch an den Schulen erteilt wird, ist die Schule der Ort der kirchlichen Unterweisung. Er gehört aber nicht zum Lehrplan. Studien zur religiösen Sozialisation zeigen zudem auch in der Schweiz einen starken Abbruch der religiösen Sozialisation durch die Familien.4 Wenn also die Kinder und Jugendlichen weder in den Familien noch an den Schulen mit religiösen Fragen, geschweige denn Erfahrungen, in Berührung kommen, bleibt dafür nur der Raum Kirchgemeinde. Darauf haben verschiedene Landeskirchen mit Unterrichtskonzepten reagiert, die bereits in der 2. Klasse beginnen und in der 9. Klasse dann mit der Konfirmation enden. In der Evangelisch-reformierten Landeskirche Zürich werden insgesamt 192 Stunden kirchlichen Unterrichts auf acht Schuljahre verteilt. Wenn die Jugendlichen in den Konfirmationsunterricht kommen, können die Lehrpersonen meistens auf sehr wenig Vorwissen aufbauen, obwohl die Katechtinnen und Katecheten ihr Bestes geben. Die zur Verfügung ste-hende Unterrichtszeit ist viel zu kurz. Zudem wird der Unterricht häufig in Projektblöcken durchgeführt. Diese hinterlassen zwar positive Erinnerungen

4 Vgl. Christoph Morgenthaler / Sabine Zehnder Grob, Religiöse Sozialisation in Familie und Unterricht, in: Christoph Käppler / Christoph Morgenthaler (Hg.), Werteorientierung, Religiosität, Identität und die psychische Gesundheit Jugendlicher, Stuttgart 2013, 86.

Boeck Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmand/innen

an schöne Erlebnisse, aber Lernprozesse, in denen Wissen dauerhaft vermittelt wird, können kaum initiiert werden. Entsprechend der Kirchenordnung der Zürcher Landeskirche (Art. 77) besteht ihr Anspruch darin, dass die Jugendlichen mit der Konfirmation religionsmündig sind. Sie sollen fähig sein, Stellung zu nehmen zur Frage: »Was ist deine theologische Position?« So formulierte Georg Plasger die erste Frage des Heidelberger Katechismus in seinem Beitrag neu.5 Bis vor rund siebzig Jahren mussten die Konfirmandinnen und Konfirmanden dazu die Antwort aus dem Katechismus auswendig lernen und aufsagen können. Heute sollen sie dazu argumentieren und reflektieren können. Ein Blick in die Praxis des Konfirmationsunterrichts in der Schweiz zeigt, dass allein schon dann viel erreicht ist, wenn die Jugendlichen überhaupt zu religiöser Kommunikation bereit sind und ihre subjektive Meinung äußern. Vielleicht ist das eine Erklärung, warum die Kinderund Jugendtheologie oft bei den subjektiven Meinungen der Jugendlichen stehen bleibt. Zwar sind das »nur« individuelle Positionen, doch muss man anhand der Erfahrungen aus der Praxis feststellen, dass diese im Hinblick auf das geringe vorhandene religiöse Wissen und die wenigen Erfahrungen bereits bemerkenswert sind. 3. Diskursabbruch

Eine subjektive religiöse Meinung ist immerhin schon mehr als die Aussage: »Es kann ja jeder glauben, was er will«, die diesem Artikel den Titel gegeben hat. Sie stellt eine Problemanzeige dar. Denn

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wenn die Jugendlichen am Ende zu genau dieser Konklusion kamen, waren die entsprechenden Diskurse eigentlich gescheitert. Die Aussage ist kein Hinweis darauf, dass nun alle ihre eigene Position einnehmen können und dies dann auch tun. Es ist ein klassischer Diskursabbruch! Wenn in einer Gruppe aufgrund zu starker Antithesen oder Orientierungsdilemmata (d.h., es werden im Diskurs Themen mit unterschiedlichen Orientierungsrahmen verhandelt6) nicht zu einer Konklusion gefunden werden kann, werden die Diskurse häufig mit sogenannten »rituellen Konklusionen« abgeschlossen.7 Das sind allgemeine Floskeln, die alle bestätigen können, zu denen aber auch nichts mehr gesagt werden muss. Rituelle Konklusionen sind meistens Allgemeinplätze. Ein solcher Allgemeinplatz ist für alle Beteiligten irrelevant und beendet so das Thema. Dann gibt es keinen diskursiven Wettkampf mehr, der den Diskurs aufrechterhält. Anstelle eines Allgemeinplatzes steht bei den Jugendlichen häufig eine Ironisierung der Aufgabe. Sie fangen an, alles bisher Gesagte ins Lächerliche 5 So Georg Plasger im Vortrag »Positionalität – eine systematisch-theologische Perspektive« an der Tagung »Positionalität (nicht nur) in der Kinder- und Jugendtheologie« September 2021, vgl. den Beitrag in diesem Band. 6 Um einen Orientierungsrahmen zu bestimmen, werden zuerst der positive Horizont und der negative Horizont bestimmt. Das ergibt einen ersten Zugang zum Orientierungswissen. Ein dritter Eckpunkt einer Orientierung ist das Enaktierungspotenzial und wie dieses von den Diskutierenden eingeschätzt wird. Diese Eckpunkte stecken den Orientierungsrahmen ab, vgl. Aglaja Przyborski / Monika Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch, München 42014, 296. 7 Aglaja Przyborski / Monika Wohlrab-Sahr (wie Anm. 6), 300.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

zu ziehen. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass sie nicht in der Lage sind, zu einer Konklusion zu finden. Dies soll im folgenden Beispiel deutlich gemacht werden. In einer Konfirmationsgruppe wurde lange über das Leben nach dem Tod und die Auferstehung der Toten diskutiert, dann macht ein Mädchen, Matea, eine neue Proposition: 231 Matea: […] das Problem ist, dann hat sie noch gesagt, dass alle Toten auferwachen und so. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber dass irgendeinmal Gott kommt. 232 Katja: Wie auferwachen? Aus dem Grab aufstehen? 233 Matea: Ja. 234 Katja: Nein, das glaube ich nicht. 235 Matea: Aber ich glaube (.) Gott hat eine riesige {huure} Macht. 236 Andrea: Jesus ist ja auferstanden. 237 Katja: In tausend Jahren sollen die wieder auferstehen? 238 Matea: Ja. Es kann wieder passieren. 239 Katja: Ja aber240 Matea: Dann haben wir den Beweis. 241 Katja: In tausend Jahren? Die können nicht auferstehen, die sind verwest. 242 Dominik: Und die, die verbrannt sind? 243 Andrea: Aber das kannst du hier ja auch sagen. Der Körper von Jesus war ja hier auch tot. Ob verwest oder nicht, er ist einfach tot. 244 Matea: Es gibt immer irgendwelche Theorien, Fakten, Meinungen, Glaube, Glaubensweg und (.) Hauptsache, du hast eine Meinung und einen eigenen Glauben. Ich glaube daran, dass Gott einmal kommt und das bringt, was er uns versprochen hat.

Der Abschnitt zeigt ein klares Orientierungsdilemma. Während Matea und Andrea mit einem Orientierungsgehalt argumentieren, der einen wirkmächtigen Gott annimmt, bewegen sich Katja

und Dominik in einem Orientierungsrahmen, der naturwissenschaftliche Gesetze voraussetzt. Die Gruppe unterteilt ihre Diskussionsthemen in verschiedene Sphären: Es gibt Themen, die in den Bereich des Menschlich-Irdischen gehören. Sie werden teilweise ohne die Annahme Gottes verhandelt, während andere Themen in den Bereich des Göttlichen, Übernatürlichen fallen. Aber die Gruppe ist sich insgesamt nicht einig, wie sie die Themen den Sphären zuordnen sollen, dadurch entsteht das Orientierungsdilemma. Deshalb wird der Diskurs mit einer rituellen Konklusion beendet und kann nicht weitergeführt werden. Obwohl die Konklusion den Anschein erweckt, dass danach alle ihre Meinungen sagen können, passiert genau das nicht. Matea sagt zwar ihre eigene Meinung, aber ihre Konklusion, nach der es immer ver-schiedene Meinungen gibt, lässt die anderen verstummen. Sie finden für ihren Diskurs über das Leben nach dem Tod keine gemeinsame Konklusion. Hier setzt mein erster Vorschlag für den konkreten Unterricht an. Eigentlich sind solche Orientierungsdilemmata für den Unterricht ein Geschenk. Die Lehrperson kann hier helfen zu reflektieren und zu besprechen, was die Schwierigkeiten im Diskurs ausgelöst hat. Sie kann die verschiedenen Positionen sichtbar machen und darstellen und diese dann ins Gespräch miteinander bringen. Es können Wissensinputs zum Thema Glaube und Naturwissenschaft folgen. Angereichert mit neuen Argumenten und Wissensinhalten, kann derselbe Diskurs vielleicht zu einer Konklusion führen oder die Vielfalt an Positionen zu diesem Thema wird deutlich und bleibt nicht bei einer Floskel stehen.

Boeck Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmand/innen

In der Unterrichtspraxis, füge ich hier aus eigener Erfahrung hinzu, ist es nicht einfach, im Unterrichtsgeschehen immer zu realisieren, was in einem Diskurs passiert. Erkenne ich als Lehrperson, dass ein Orientierungsdilemma vorliegt? Habe ich überhaupt noch Zeit, es aufzunehmen? Gelingen solche Gruppendiskurse überhaupt im Unterrichtssetting? Zum Beispiel war nach dem digitalen Unterricht während des Lockdowns eine Aktivierung von Jugendlichen zur Diskussion nur sehr schwer möglich. 4. Austesten der Positionen

Für das Theologisieren mit Jugendlichen braucht es deshalb einen Ermöglichungsraum8, für den zuerst einmal die Lehrpersonen verantwortlich sind. Es bedeutet, einen Raum zu bieten, in dem es Jugendlichen überhaupt möglich ist, sich in religiöser Kommunikation zu üben. Hanna Roose spricht in ihrem Beitrag vom »geschützten Raum«9: vorsichtig können die Jugendlichen hier austesten, welche Positionen in der Gruppe auf welche Reaktionen stoßen. Insbesondere wenn Orientierungsdilemmata vorhanden sind, es also unklar ist, in welchem Orientierungsrahmen Themen wie Auferstehung eigentlich verhandelt werden, benötigt die Gruppe die Sicherheit, dass die unterschiedlichen Positionen akzeptiert werden. Die Jugendlichen testen die Reaktionen der Gruppe und in Settings mit Lehrpersonen auch, welche Positionen von diesen aufgenommen werden. Wenn es darum geht, sich zu einem Text zu positionieren, insbesondere wenn es um Deutungsversuche geht, können die Jugendlichen sehr spielerisch

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mit Deutungen umgehen. Dafür müssen sie vorher ausprobieren, ob verschiedene Positionierungen auch mit abweichendem Orientierungsgehalt in der Gruppe akzeptiert werden und ob es weder von der Gruppe noch von der Lehrperson eine Vorerwartung bezüglich bestimmter »erlaubter« Positionierungen gibt. In den Gruppendiskussionen war es zum Beispiel eine Vorannahme der Jugendlichen, dass die Interviewerin Diskurse auf rationaler Ebene erwartet. So haben sie es in der Schule für den Umgang mit Sachtexten gelernt. Sie versuchen Informationen herauszuziehen, darzustellen und zu bewerten. Das funktioniert für sie auf der Ebene wahr – falsch / real – nicht real. Ich nenne das »rationalisierende Deutungen«. Ein typisches Beispiel ist folgende Deutung der Auferstehung durch die Jugendlichen: Jesus war gar nicht richtig tot. So wird die Erzählung für sie erklärbar. Die Jugendlichen merken zwar, dass es auch andere Deutungsebenen gibt, doch probieren sie diese weniger häufig aus. Oft scheinen diese anderen Möglichkeiten in den Diskursen nur einmal kurz auf, werden dann aber in der Gruppe nicht aufgenommen: Sie werden ausprobiert, aber wenn die Gruppe nicht darauf einsteigt, werden sie wieder verworfen. Diese anderen Deutungen sind assoziativ-spielerisch und haben einen anderen Orientierungsgehalt. Dieser 8 Vgl. Nadja Boeck, »Dann kann man das Gesicht wieder anschauen, ich leb wieder!« – Jugendliche Kommunikation über die Auferstehungsgeschichte nd bibeldidaktische Konsequenzen, in: Hanna Roose / Gerhard Büttner / Thomas Schlag, »Es ist schwer einzuschätzen, wo man steht«. Jugend und Bibel, JaBuKiJu 2, Stuttgart 2018, 101–110. 9 Vgl. den Beitrag in diesem Band.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

kann mit Faszinosum benannt werden. In diesem Orientierungsrahmen haben Magie, Spiel, das Numinose, aber auch das Verrückte Platz. Ein Beispiel verdeutlicht dieses Ausprobieren: In einer Jungengruppe reagieren die Jungen zu Beginn auf die Einstiegsfrage der Interviewerin. Vorrangig handelt es sich um eine rationalisierende Deutung. Aber ein anderer Orientierungsrahmen leuchtet kurz auf, wenn Stefan eine neue Proposition in den Raum stellt: »Es muss nicht alles Sinn machen.« Diese Aussage ist eine Antithese auf die vorher stattgefundene Rationalisierung der Auferstehung. Hier ist der zweite Orientierungsrahmen erkennbar: »Faszinosum«. In diesem Orientierungsrahmen gilt nicht die Logik des Verstandes, sondern Wunder, Faszination und Unerklärbares sind erlaubt. Nach dieser Antithese entstand eine lange Pause von 10sec. Das wurde vermutlich durch die plötzliche Einführung eines neuen Orientierungsrahmens ausgelöst, was die Gruppe irritierte. Die Gruppe nahm die Antithese von Stefan nicht auf, und auch Stefan führte sie nicht weiter fort. Das spricht dafür, dass er an dieser Stelle testen wollte, was im Diskurs in der Gruppe erlaubt ist. Er schwenkte danach selbst wieder zu seiner ursprünglichen Deutung um. Im Laufe des Diskurses loteten die Jungen dann Stefans Deutungsebene immer wieder aus. Stefan benannte diese Deutungsebene am Ende des Diskurses sogar selbst als »poetisch«. Was zu Beginn der Gruppendiskussion von der Gruppe nicht aufgenommen wurde, konnte sich an anderen Stellen des Diskurses eine Zeitlang durchsetzen; und zwar immer dann, wenn die Jungen sich faszinieren ließen und nicht mehr

nach dem »logischen« Sinn des Textes suchten. An diesen Stellen im Diskurs gingen sie über Fragen nach »realistisch – unrealistisch«, »logisch – unlogisch«, »historisch wahr – historisch unwahr« hinaus und kamen zu solchen Fragen wie: Wo sehe ich Wunder heute? Wovon lasse ich mich faszinieren? Das heißt, für den »geschützten Raum« des Theologisieren müssen Lehrpersonen den Schülerinnen und Schülern die Sicherheit geben, dass eine Deutungsvielfalt möglich ist, spielerisch Deutungen ausprobiert werden dürfen und Positionen eingenommen und wieder verändert werden können. 5. Konklusionen finden

Beeindruckend sind vor allem die Diskurse, in denen die Jugendlichen wirklich gemeinsam zu einer Textdeutung finden. Mit einer Deutung nehmen sie auch eine Position ein, was der Text bedeutet. »Wenn Kinder gleichen Alters untereinander agieren, zusammen ihre Erfahrungen mit sich selbst und der Welt verarbeiten, ihre daraus gewonnenen, konstruierten Erkenntnisse den anderen Kindern mitteilen und aus den Rückmeldungen wiederum Erkenntnisse ziehen«10, sind das Ko-Konstruktionen unter Kindern. »In ko-konstruktiven Prozessen lernen Kinder, wie man untereinander und gemeinsam mit Erwachsenen in einer Lerngemeinschaft Probleme löst, Bedeutungen und das Verständnis von Dingen und Prozessen teilt, diskutiert 10 Knut Vollmer, Ko-Konstruktion, in: ders., Fachwörterbuch für Erzieherinnen und pädagogische Fachkräfte, Freiburg 2012, 104.

Boeck Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmand/innen

und verhandelt. Der Schlüssel der Konstruktion ist die soziale Interaktion.«11 Im folgenden Abschnitt ist ein gelungener Einstieg in die Ko-Konstruktion zu sehen. 114 Livia: Ja das macht doch keinen Sinn 115 Renato: ˪es ist einfach zu viel keine Ahnung Magie:: 116 Livia: das müsstest du voll analysieren den Satz, wenn du das siehst 117 Thomas: ˪oder (.) nicht sehen (?) 118 Renato: Wissenschaftlich darstellen 119 Livia: soll ich mal 120 Renato: machen wir mal 121 Livia: ja, weil es verrückt ist (?) einfach alles un- man müsste mal die Bibel nehmen und alles was man nicht glauben kann oder was einfach nicht realistisch erscheint (.) mal rausstreichen nachher die Bibel wär viel kürzer 122 Renato: ja, oder man schreibt’s wieder und Bibel wär ein Riesenbuch

Hier zeigen die Jugendlichen einen sehr kreativen Zugang. Damit sind sie auf der Ebene der Ko-Konstruktionen angelangt. Sie versuchen, ihr Problem der Ambivalenz zwischen Logik und Magie auf diese Weise auszuhandeln. Sie haben selbst gemerkt, dass ihnen der Zugang zum Text schwerfällt, sie spüren die Ambivalenzen zwischen den verschiedenen Orientierungsrahmen und suchen nun einen neuen Zugang. Sie bezeichnen ihn selbst als »verrückt«. Mit diesem Ausdruck benennen sie ihre eigene Perspektive sehr genau – sie müssen eine im Orientierungsrahmen »Logik« ver-rückte Idee umsetzen, um sich der »Magie« nähern zu können. Das versuchen sie mit dieser neu zu schreibenden Bibel, die dann eben in ihren Orientierungsrahmen »Logik« passen würde. Damit hätten sie die Ambivalenz überwunden. Von ihrer

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Idee lassen sich die Jugendlichen sichtlich faszinieren, sie macht ihnen Spaß. Sie haben Freude an dem Vorgehen, was das Lachen am Ende des Abschnittes zeigt (hier nicht mehr dargestellt). An dieser Stelle brechen die Jugendlichen den Versuch des Neuschreibens der Bibel ab. Erst als die Interviewerin sie später noch einmal dazu ermutigt, werden sie ausführlicher. Hier sieht man wiederum – wie schon im vorherigen Abschnitt erwähnt – dass es eine »Erlaubnis« für das »Ver-rückte« braucht, nicht nur von der Gruppe, sondern auch von der Interviewerin. 551 I: ja, erzähl doch mal, wie würd’s du die Geschichte erzählen, 552 wenn alles unrealistische rauskommt 553 Renato: also ich würd schon mal weglassen dass Je- dass da Engel vorkommen 554 I: //mmh// 555 Renato: ähm 556 Thomas: was würdest denn nehmen? so weise Druiden? 557 Renato: klingt besser ja 558 (.) u:nd was würd ich noch nehmen, 559 vielleicht würd ich sagen das irgendwo in der Höhle, 560 dass irgendwo im hinteren Teil, Essen hatte aus irgendeinem Grund, keine Ahnung wieso 561 Thomas: Dass er echt nicht verhungert ist 562 Renato: weil zu der Zeit hats ja irgendwie 563 Krieg gegeben oder 564 Thomas: oder dass sie, es eine Quelle gab 565 Renato: zu der Zeit da könnt man sagen, dass sich irgendwelche 566 mal dort versteckt gehabt hatten

11 Ebd., 104.

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567 Thomas: oder dass es eine Quelle gibt 568 Renato: ja, eh dass sie flüchten mussten 569 und einen Teil dortgelassen haben und (.) 570 der Jesus hät hät nen Herzstillstand, einfach er hätte das Bewusstsein verloren 571 und nachher haben sie ihn für tot gehalten, weil er einfach nicht mehr reagiert hat 572 und man hat ihn für tot erklärt, weil man es damals nicht gewusst hat oder vielleicht auch schon 573 Thomas: es muss immer noch 574 in der Geschichte bleiben 575 Renato: was? 576 Thomas: es muss immer noch Geschicht 577 Renato: ›ist doch egal‹ 578 [lachen] 579 Renato: und nachher (.) 580 anstatt dass er nachher sagt, er geht jetzt zu seinem Vater im Himmel. 581 Er geht heim (.) und er kommt daheim nie an und man weiß nicht, was mit ihm passiert ist 582 dass heißt, man kann nachher immer noch selber erfinden, was mit ihm passiert ist

Renato und Thomas ko-konstruieren hier eine Neuerzählung der Auferstehungsgeschichte. Sie haben sichtlich Spaß am Erfinden. Erst als Thomas eine Differenz einbringt, lehnt Renato seinen Einwand ab; danach zieht sich Thomas zurück. So beendet Renato die Erzählung, die aber von der restlichen Gruppe mitgetragen wird, denn sie wird nicht hinterfragt und unterbricht auch den Diskurs nicht: Die Gruppe diskutiert danach noch weiter. Das Schweigen der anderen ist darum als Validierung zu werten. Sie hören der Neuerzählung interessiert zu und akzeptieren damit auch die darin enthaltenen Konklusionen. Erstaunlich sind die Detailliertheit und das große Interes­ se daran zu begründen, warum welche

Elemente in die Geschichte eingefügt werden. Der Diskurs ist dicht, und die beiden Jungen sind sehr engagiert dabei. Auf diese spielerische Weise nähern sie sich nicht nur dem Bibeltext, sondern eignen ihn sich selbst an. Er wird zu ihrer eigenen Geschichte, auch wenn er, wie Thomas dann eben kritisch anmerkt, sich vom Original weit entfernt hat. Die Neuerzählung kann als eine Positionierung der Gruppe zur Auferstehung verstanden werden. Die Auferstehung muss erst neu erzählt werden, damit sie für die Gruppe verhandelbar ist. Sie muss in den Orientierungsrahmen eingepasst werden, in dem es keinen Platz für »Magie« gibt. Es zeigen sich hier echte Faszination und Freude, mit dem Bibeltext umzugehen. Interessant ist, dass es erst der Ermutigung der Interviewerin bedurfte, damit sie die Neuerzählung wirklich ausgestalteten, obwohl sie selbst auf die Idee gekommen waren. Es brauchte auch hier die »Erlaubnis« der Interviewerin, dass es in Ordnung ist, so mit dem Text umzugehen. 6. Fazit

Jugendliche zu Positionierungen betreffs eines religiösen Themas zu befähigen, hängt nicht allein von ihrer Sprachfähigkeit über religiöse Fragen, Themen und ihrer Deutungskompetenz ab, sondern sehr stark von den Rahmenbedingungen. Vom Prozess des Theologisierens her gesehen, gibt es vielfältige Störfaktoren, die Diskurse und damit den Prozess hin zu einer Positionierung verhindern können: Orientierungsdilemmata, aber auch Gruppendynamik. An anderer Stelle habe ich auch ausführlich die Probleme

Boeck Positionen zur Auferstehung im theologischen Gespräch unter Konfirmand/innen

von Fremdrahmungen, Machtkommunikation und dem schwachen Selbstbild einer Gruppe angesprochen.12 Der konfessionelle Religionsunterricht kann als Rahmen nicht garantieren, dass religiöse Positionierungen selbstverständlich sind. Die Aushandlung der in der Gruppe akzeptierten Positionen kann Positionierungen verhindern. Hier sind dann die Interventionen der Lehrpersonen dringend nötig, damit ein Theologisieren überhaupt zu einem Ermöglichungsraum werden kann, in dem eine Vielfalt an Positionen Raum hat – nicht um einfach mal die Meinung gesagt zu haben, sondern um die Positionen zu testen, zu begründen, zu reflektieren und mit anderen ins Verhältnis zu setzen. Das können die Jugendlichen nicht von selbst. Sie brauchen Wissensinput oder zumindest die Anleitung, wie sie zu Wissen kommen. Und sie brauchen Hilfe, ihre Diskurse zu reflektieren. Nur so können sie beginnen, eine »Standpunktfähigkeit«13 zu entwickeln, die sie zu religionsmündigen Menschen macht. Dafür sind im Unterricht die Lehrpersonen unabdinglich.

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Wie geht das nun ganz genau in der Unterrichtspraxis? Das ist eine dringliche Forschungsfrage für die Zukunft. Es bedarf der Erforschung der alltäglichen Unterrichtspraxis im kirchlichen Unterricht der Schweiz, um zu sehen, ob und wie Jugendliche in der Praxis zu Positionierungen befähigt werden. Die Frage nach der erlaubten Positionalität von Lehrpersonen im schulischen Religionsunterricht der Schweiz kann hier nicht geklärt werden, für die Positionalität von Pfarrpersonen sowie Katechetinnen und Katechten, die kirchlichen Unterricht erteilen, kann gesagt werden, dass sie nicht nur wünschenswert ist, sondern zur Verhaltenserwartung von religiösen Fachpersonen gehört. Kinder und Jugendliche erwarten von religiösen Fachpersonen Transparenz, wie für diese ihre subjektive Religiosität im Leben Relevanz hat.

12 Vgl. Nadja Boeck (wie Anm. 8), 106–108. 13 Vgl. DBK, Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts, Bonn 2016, 10.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Susanne Schroeder Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen«

Der Religionsunterricht in Berlin ist vielleicht mit besonders deutlich erkennbaren Säkularisierungs- und Entkonfessionalisierungserscheinungen kon­frontiert. Seine Teilnehmenden setzen sich neben evangelischen und katholischen u.a. auch aus jüdischen, muslimischen, hinduistischen, buddhistischen, aber auch aus säkularen oder atheistischen Schülerinnen und Schülern zusammen. Das Schulbuch Alle Zusammen 1–3 geht von dem Ansatz aus, Religion und (nichtreligiöse) Weltanschauung als parallele Erscheinungen aufzufassen. Es zielt auf die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen, ohne dabei religiöse Identitätsbildung im Sinne einer Glaubensunterweisung zu intendieren. Es bemüht sich darum, im Unterricht nichtreligiöse mit religiösen Weltsichten ins Gespräch zu bringen. In diesem Beitrag geht es darum, das didaktische Konzept dieses Schulbuches darzustellen und an unterschiedlichen Aspekten zu verdeutlichen, wie hier jeweils Positionalität ins Spiel gebracht und von den Lernenden gefordert wird.

1. Zur didaktischen Konzeption des Schulbuchs »Alle zusammen« für die Jahrgangsstufen 1–31

Der Berlin-Brandenburger Religionsunterricht war seit Jahrzehnten auf die Benutzung von Schulbüchern und Unterrichtsmaterial anderer Bundesländer angewiesen. Dies resultierte aus seiner besonderen rechtlichen Stellung, deren Umstände die bundesdeutschen Schulbuchverlage offenbar niemals zur Herausgabe eines Lehrwerks motiviert hatten. Die Arbeit mit dem »westdeutschen« Material ließ sich über Jahrzehnte hinweg durchaus vertreten. Säkularisierungsund Entkonfessionalisierungserscheinungen, wie sie inzwischen auch in den südlichen Gebieten der Republik konstatiert werden, traten aber unterrichtlich spätestens seit den 2000er Jahren in Berlin als »Hauptstadt des Atheismus« so deutlich in Erscheinung, dass ein Einsatz der teilweise auch eher gemeindepädagogisch zu deutenden Schulbücher immer 1 Der einleitende Abschnitt zur didaktischen Konzeption ist eine geringfügige Überarbeitung der Einführung in das Lehrkräftehandbuch, vgl. Susanne Schroeder, ALLE ZUSAMMEN Schulbuch für den Evangelischen Religionsunterricht der EKBO in den Klassenstufen 1–3, Berlin 2020, https://ru-ekbo. de/wp-content/uploads/2020/11/websiteEKBO-Lehrkra%CC%88ftehandbuch-allezusammen-201012.pdf [Zugriff: 25.11.2021].

Schroeder Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen«

schwieriger wurde. Zu deutlich ging man in den Werken von homogen christlich sozialisierten Lerngruppen aus, die so in Berlin und Brandenburg nur rudimentär anzutreffen sind. Deshalb war es nötig, den Lehrkräften ein Unterrichtswerk zur Verfügung zu stellen, das die spezifischen Rahmenbedingungen und den darauf ausgerichteten Rahmenlehrplan berücksichtigt, und den Schülerinnen und Schülern ein Wiedererkennen ihrer konkreten alltags- und lebensweltlichen Umstände ermöglicht. Ziel des Lehrwerks ist es, das Interesse aller, religiöser wie nicht religiöser Kinder, an religiösen Fragestellungen zu wecken, bzw. sie bei ihren Fragen abzuholen. Deshalb sieht es sich den Prinzipien eines dialogischen Unterrichts verpflichtet.2 Dieser Unterricht wird im Lehrwerk so verstanden, dass er die Heterogenität und den Pluralismus der Lerngruppe ernst nimmt, zu Gesprächen auf Augenhöhe einlädt und Lernende dazu ermutigt, sich mit dem, was für sie bedeutsam ist, zu zeigen. Dazu benötigt er Gesprächshaltungen, die verabredet, eingeübt und verteidigt werden müssen. Das Lehrwerk stellt in der Bearbeitung der sieben Lebensfragen (als inhaltlicher Vorgabe des Rahmenlehrplans) in Anlehnung an Horst Klaus Bergs und Gerhard Theissens Grundbescheide bzw. Grundmotive elementare Fragestellungen der Kinder/Jugendphilosophie und -theologie in den Mittelpunkt: Fragen nach dem Ich und der Entwicklung einer religiösen Identität (Lebensfrage 1), Fragen nach dem Umgang mit Veränderungen wie Auf- und Umbrüchen (Lebensfrage 2), Fragen nach den Gründen für Konflikte und Gewalt (Lebensfrage 3), Fragen nach der Verbindlichkeit von

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Normen und Regeln und nach Verheißungen, die Mut machen (Lebensfrage 4), Fragen nach dem Unverfügbaren (Lebensfrage 5), nach der Bedeutung von Sterben und Tod (Lebensfrage 6) und nach dem, was man erkennen kann und dem, worüber man nichts wissen kann (Lebensfrage 7).3 Es arbeitet zusammen mit den Lernenden an der Übersetzung religiöser Sprache in die Gegenwart. Dabei macht es sich die permanente Erweiterung des thematischen Spektrums in Hinblick auf signifikante Themen, Phänomene und Positionen der Dialogpartnerinnen und -partner zur Aufgabe. Das Schulbuch orientiert sich am Curriculum des konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts und nimmt aus jeder Lebensfrage ein Thema auf.4 Es bietet eine einheitliche Struktur, die

2 Vgl. Thomas Knauth (Hg.), Ansätze, Kontexte und Impulse zu dialogischem Religionsunterricht, Münster, New York 2020. Vgl. Friedrich Schweitzer, Interreligiöse Bildung. Religiöse Vielfalt als religionspädagogische Herausforderung und Chance, Gütersloh 2014. Vgl. Wolfram Weiße (Hg.), Dialogischer Religionsunterricht in Hamburg. Positionen, Analysen und Perspektiven im Kontext Europas, Münster u.a. 2008. Vgl. Eva-Maria Kenngott / Rudolf Englert / Thorsten Knauth (Hg.), Konfessionell – interreligiös – religionskundlich. Unterrichtsmodelle in der Diskussion, Stuttgart 2015. 3 Vgl. Susanne Schroeder, Eine Frage – was ist eine Frage? in: Zeitsprung 2/2017, Sonderheft Rahmenlehrplan, Amt für kirchliche Dienste, Berlin 2017, 28f., https://akd-ekbo.de/wpcontent/uploads/ZeitspRUng_2_2017_web. pdf [Zugriff: 16.11.2021]. 4 Siehe dazu: Gemeinsame Erklärung der Bischöfe zum Religionsunterricht in konfessioneller Kooperation: https://ru-ekbo.de/wp-content/ uploads/2018/12/Broschu%CC%88re-Schulcurriculum_Konfessioneller_Religionsunterricht_2018_web.pdf [Zugriff: 1.10.2021].

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von einem niedrigen Grad an Vorwissen ausgeht und behutsam zu theologischen Fragestellungen anleiten will: Jedes Kapitel beginnt mit einer Sammlung von Begriffen, die den Inhalt des Kapitels in Form eines Rätsels andeuten und zu einer Raterunde auffordern. Die Folgeseite bietet einen phänomenologischen Einstieg zur Verortung der Thematik im alltags- und lebensweltlichen Umfeld der Schülerinnen und Schüler. Die angebotenen Bilder und Begriffe führen in das Kapitel ein, sie sollen für den Themenbereich sensibilisieren und außerdem sprachlich weniger versierten Schülerinnen und Schülern im Sinne einer Sprachschulung und Wortschatzerweiterung neue Vokabeln präsentieren, die für eine sachgemäße Begegnung mit den folgenden Inhalten hilfreich sind. Im nächsten Schritt wird ein Bilderbuch vorgestellt, das die Hauptthematik des Kapitels mit erzählerischen Mitteln entfaltet. In seinem inhaltlichen Schwerpunkt ist es manchmal dichter am phänomenologischen Einstieg verortet, manchmal ist es bereits auf den theologischen Schwerpunkt des Kapitels fokussiert. Dabei geht es darum, in Hinblick auf das theologische Thema ein vorbereitendes Angebot an Bildern, Synonymen und Vergleichen einzuführen. Die eigentliche Entfaltung des thematischen Schwerpunkts erfolgt je nach Fragestellung zunächst sachkundlich, dann systematisch theologisch und immer im interreligiösen Vergleich. Dabei wird darauf geachtet, in den Fragestellungen auch skeptische oder atheistische Blick-winkel anzusprechen, um es zu ermöglichen, dass möglichst viele Perspektiven der Lerngruppe miteinander ins Gespräch kommen.

In einem weiteren Schritt werden die erörterten Problemstellungen dann noch einmal aus einer speziell christlichen Perspektive befragt. Hier geht es darum, den Themenkomplex abschließend zu vertiefen und gleichzeitig den Horizont für neue Fragestellungen zu weiten. Die Abschlussseite soll in altersangemessener Weise eine Metakognition ermöglichen, also das Nachdenken über das eigene Denken anregen bzw. das Wissen über das eigene Wissen befestigen. Da diese Seite für jedes Kapitel denselben Aufbau hat, wird den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, sich hier auch zunehmend selbständig zu betätigen. Die Fähigkeiten zum gewinnbringenden Gespräch haben Voraussetzungen, die erarbeitet werden müssen. Deshalb müssen bestimmte Fähigkeiten trainiert werden. Zu diesem Zweck arbeitet das Lehrwerk »Alle zusammen« durchgängig mit der Methode des »Magic Circle«. Diese Methode wird im ersten Kapitel des Buches vorgestellt. 2. Erläuterungen der didaktischen Prinzipien am konkreten Beispiel (Kap. 6 »Alles zu Ende?«) 2.1 Verortung des Kapitels im Rahmenlehrplan

Das Kapitel 6 des Schulbuchs hat den Titel: »Alles zu Ende?« Allein sein, sich verlassen fühlen, die Welt ganz grau sehen – aber vielleicht ist doch irgendwo Licht? Es bezieht sich auf die Lebensfrage 6: »Fragen nach Endlichkeit und Ewigkeit« im Berlin-Brandenburger Rahmenlehrplan:

Schroeder Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen«

»Fragen nach dem Umgang mit Endlichkeit und Ewigkeit zählen zu den Grundfragen menschlicher Existenz. Insofern sind diese auch für Schülerinnen und Schüler relevant, beispielsweise angesichts des Todes naher Angehöriger. Die Frage nach dem Umgang mit der Endlichkeit führt zur Frage, was nach dem Tod kommt. Im Evangelischen Religionsunterricht werden Schülerinnen und Schüler unterstützt, eine eigene Haltung im Umgang mit dem Tod zu entwickeln. Dafür ist es notwendig, sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden wie auch der Universalität des Todes. Fragen nach Endlichkeit und Ewigkeit bedeuten auch, sich mit medizinischen Möglichkeiten und gesellschaftlich-politischen Herausforderungen zu befassen. Vor dem Hintergrund der christlichen Auferste-

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hungshoffnung setzen sich die Schülerinnen und Schüler auch mit anderen Jenseitsvorstellungen auseinander.«5

Innerhalb des thematischen Schwerpunkts »Christliche Auferstehungshoffnung« bearbeitet das Kapitel auf der inhaltlichen Ebene Fragen zu Passion und Auferstehung Jesu Christi. Der Kompetenzerwerb für die Jahrgangsstufen 1–3 ist den Niveaustufen A–C zugewiesen. 5 Rahmenlehrplan für den Evangelischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 1 bis 10, Berlin 2018, 28, https://www.ekbo.de/ fileadmin/ekbo/mandant/ekbo.de/3._THEMEN/03._Bildung/Schule_Bildung/NEU/ EKBO_Rahmenlehrplan_A4_180528.pdf [Zugriff: 1.10.2021].

Fachbezogene (formale) Kompetenzen

Inhaltsbezogene Kompetenzen

Die SuS können … wahrnehmen und deuten religiös bedeutsame Phänomene wahrnehmen und deren Ausdrucksformen deuten. A: religiöse Phänomene aus ihrer Lebenswelt beschreiben B: religiöse Phänomene unterschiedlicher Religionen aus ihrer Lebenswelt vergleichen C: den religiösen Gehalt von Bräuchen und Ritualen beschreiben

Die SuS können am Ende der UE … – alltags- und lebensweltlich beobachtbare Beerdigungs- bzw. Bestattungsformen beschreiben (A), sie unterschiedlichen Religionen bzw. Weltanschauungen zuweisen und vergleichen (B) und die mit ihnen einhergehenden Vorstellungen von Körper und Seele beschreiben (C).

erzählen und darstellen religiös bedeutsame Narrative beschreiben und zu einer Darstellung verbinden. A: biblische und religiöse Erzählungen mit eigenen Worten wiedergeben und mit kreativen Elementen darstellen B: die Perspektivenvielfalt innerhalb einer biblischen/religiösen Erzählung entfalten C: religiöse Elemente in Erzählungen benennen und anhand biblischer Texte unterschiedliche Gotteserfahrungen darstellen

– die Erzählungen Jesus im Garten Gethsemane (Mt 26,36–46) und Jesus wird begraben (Mk 16,1–8) in Hinblick auf das Verhalten der Jünger, die Menschlichkeit Jesu und das Verhalten Gottes mit eigenen Worten wiedergeben und gestalterisch angemessen darstellen (A), unterschiedliche Deutekategorien des Todes Jesu entfalten (B) und im Vergleich der beiden Texte unterschiedliche Gottesvorstellungen (in Hinblick auf Mt 26 auch Fragen der Theodizee bzw. Gottesferne) benennen (C).

200 Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis urteilen und kommunizieren den religiösen Dialog bewusst gestalten. A: Religionen in ihren äußeren Unterschieden darstellen B: Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Religionen vergleichen C: eigene Begründungszusammenhänge zu religiösen Themen unter Einbezug anderer Meinungen darstellen

– das Bild von »Gottes Haus mit vielen Wohnungen« intuitiv interpretieren (A), unter Zuhilfenahme biblischer Texte wie Joh 14,2–3/Mt 11,18/Ps 30,12/Ps 103,2–4 oder Offb 21,4 eschatologische Vorstellungen bebildern (B) und die daraus ableitbaren christlichen Vorstellungen vom Himmel darstellen und diskutieren ( C).

teilhaben und gestalten begründet an religiösen Vollzügen teilhaben. A: religiöse Ausdrucksformen der Lebenswelt mitgestalten B: Formen religiöser Feste und Rituale benennen und erproben C: unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten religiöser Ausdrucksformen vergleichen

– angemessene Verhaltensweisen bei Beerdigungen/Bestattungen beschreiben (A), begründen (B) und sich über einen gemeinsamen Leitfaden verständigen (C).

Tab. 1: Kompetenzen und Erläuterungen zu Kap. 6 »Alles zu Ende?« mit dem thematischen Schwerpunkt »Christliche Auferstehungshoffnung«6

2.2 Struktur und didaktische Prinzipien des Kapitels

Die Einstiegsseite bietet entsprechend der Struktur des Schulbuchs einen phänomenologischen Einstieg zur Verortung der Thematik im alltags- und lebensweltlichen Umfeld der Schülerinnen und Schüler. Unter der Überschrift »Wenn es dunkel wird … sieht man anders, fühlt man anders, denkt man anders?« thematisieren Bilder der Dunkelheit wie nächtliche Wälder oder Wolkenformationen, Unterwasserwelten, Kerzen im Dunkel, aber auch die nächtliche Skyline einer Großstadt und entsprechende Vokabeln wie »Zwielicht«, »Geheimnis«, »Schatten«, aber auch »Funkeln« oder »Strahlen« unterschiedliche Atmosphären und Facetten von Dunkelheit. Das Bilderbuch »Als der Tod zu uns kam« thematisiert, warum es so etwas

wie Sterben/Tod überhaupt gibt. Die konkrete Frage »Warum gibt es den Tod« regt zum Nachdenken darüber an, welche Konsequenzen es hätte, wenn es das Sterben/den Tod nicht gäbe. Unter der Überschrift »Beerdigung und Bestattung – Was mit den Menschen geschieht, wenn sie gestorben sind« wird die Bandbreite gegenwärtig verbreiteter Beerdigungs- und Bestattungsriten auf der linken Buchseite in Hinblick auf die drei monotheistischen Religionen, auf der rechten Buchseite in Hinblick auf alternative Formen wie Seebestattungen, Friedwaldbestattungen und anonyme Bestattungen dargestellt. Kinder aus Christentum, Judentum und Islam berichten vom Umgang mit den Verstorbenen in ihren Familien. Fragen wie »Wenn 6 Susanne Schroeder (wie Anm. 1), 20f.

Schroeder Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen«

der Körper nicht mehr da ist – was passiert dann?«, »Besteht der Mensch nur aus seinem Körper?« »Ist mit dem Tod

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alles vorbei?« regen Überlegungen zum Verhältnis von Körper, Geist und Seele an.

Abb. 1: Doppelseite »Beerdigung – Was mit den Menschen geschieht, wenn sie gestorben sind«7

Auf der Doppelseite »Jesus im Garten Gethsemane« wird die Frage von KörperGeist-Seele auf die Person Jesu gerichtet. »Jesus hat Angst – aber er ist doch Gottes Sohn?« zielt auf Vorstellungen der 2-Naturen-Lehre: Wie vereint Jesus in sich diese zwei Naturen – göttlich und menschlich zugleich zu sein? Die Frage »Hat Gott kein Mitleid?« provoziert Überlegungen zur Theodizee: Warum lässt Gott dieses Leid an seinem Sohn zu? »Jesus wird begraben« – illustriert durch die Kreuzwegstationen geht es um das, was die drei Frauen am Grabe Jesu erfahren und wie sie es verstehen. »Wo war Jesus? Und wo ist Jesus jetzt?« will zur Diskussion von Jenseitsvorstellungen anregen.

Dieses Gespräch kann mithilfe der folgenden sachkundlichen Erläuterungen zu den Paradiesvorstellungen der monotheistischen Religionen auf der folgenden Doppelseite fortgesetzt werden. Unterstützt wird dies durch die Gesprächsimpulse »Stimmt es, dass die Toten bei Gott sind?« und »Sieht man sich irgendwo und irgendwann wieder?«

7 Susanne Schroeder, Alle zusammen – Evangelischer Religionsunterricht für die Jahrgangsstufen 1–3, Herausgegeben für Grundschulen im Bereich der Evangelischen Kirche BerlinBrandenburgschlesische Oberlausitz, Berlin 2020, 94f.

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

Abb. 2: Doppelseite »Wo ist man, wenn man gestorben ist?«8

Auf der inhaltlichen Abschlussseite können wesentliche Elemente des Kapitels wie Körper-Seele-Vorstellungen und Paradies- oder Jenseitsvorstellungen im Fokus von Joh 14 zusammengetragen und verglichen werden. Die Impulse »Kann man im Himmel weiterleben?«, »Was soll das überhaupt sein – der Himmel?« und »Eine Wohnung im Himmel – geht das?« sollen einen kontroversen Diskurs sicherstellen. 3. Aspekte der Positionalität im Schulbuch

Die Entwicklung des Berlin-Brandenburger Rahmenlehrplans in den Jahren 2016–2018 ging nicht von einem interreligiösen Standpunkt aus, wie er nun im Schulbuch umgesetzt ist. Die Orien-

tierung an Lebensfragen hat aber eine Auseinandersetzung mit Fragestellungen zum Ziel, die über jeweilige Religionen und Weltanschauungen hinweg alle Menschen umtreiben – die Fragen nach Schuld, Liebe, Gerechtigkeit, dem Sinn des Lebens oder nach dem Anfang und dem Ende von allem. Religionen und Weltanschauungen bieten hier zum Teil ähnliche, zum Teil sehr unterschiedliche Antworten. Diese sollen kennengelernt und befragt werden. Dabei geht es aber nicht um einen Wettbewerb der Wahrheiten, sondern um eine Erkundung der unterschiedlichen Ausgestaltungen von Relevanzen bzw. den Tiefendimensionen des Lebens. Inhaltlich am Rahmenlehrplan orientiert blickt das Schulbuch aus einer 8 Ebd., 100f.

Schroeder Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen«

christlich-protestantischen Perspektive auf die alltags- und lebensweltliche Präsenz religiöser Phänomene, die interkulturell, divers und plural gezeigt werden. Im Sinne der Elementarisierung und unter der Zielsetzung des Dialogs geht es darum, die emisch-christliche »InsiderPerspektive« zu benennen und mit den etischen Positionen der Dialog-Partnerinnen und -partner in Verbindung zu bringen.9 Die christlich-protestantische Perspektive macht dabei als einladende Akteurin ein Angebot zum Gespräch in Form einer Frage. Beim Versuch des Antwortfindens sind alle Teilnehmenden damit beschäftigt, sich über ihre eigenen Vorstellungen Klarheit zu verschaffen, indem sie Positionen erkennen, benennen und vergleichen. So können sich die Teilnehmenden in der Interaktion von Traditionen und Haltungen einen Erkenntniszuwachs in Hinblick auf die anvisierten, existentiell relevanten Fragehorizonte erschließen. Erkennbar bestehen Anknüpfungspunkte an das von Michael Grimmit beschriebene Modell des learning from religion, der auf existentielle Auseinandersetzung zielt, ohne dabei religiöse Identitätsbildung im Sinne einer Glaubensunterweisung zu intendieren. Stattdessen wird eine education in commitment anvisiert, um fremde wie eigene Glaubensbindungen besser zu verstehen und auf dieser Basis eigene Positionen zu bilden.10 Das Schulbuch nimmt keine Standardisierung von Antworten vor. Es setzt in Anlehnung an die Komparative Theologie unterhalb der Frage nach letzten Wahrheiten an und will diese eher in eine dialogische Denkbewegung übersetzen, die der Diversität religiösen und weltanschaulichen Denkens Rechnung trägt.

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Wie Kristina Dronsch in ihrer theologischen Bewertung des Schulbuchs festhält, wird hier ein kommunikationstheoretisches Paradigma verfolgt, das auf eine Einübung in die Akzeptanz der Mehrdeutigkeit biblischer Schriften und religiöser Phänomene setzt und die Bibel als Buch des qualifizierten Plurals präsentiert. Dabei wird die Wahrheitsfrage nicht ausgeklammert. Aber der Multilog mit anderen Religionen und Weltanschauungen setzt nicht auf Harmonie und Identität, sondern auf konstruktive Differenz. Ausgangspunkt ist die Anerkennung einer berechtigten Vielstimmigkeit einander widerstreitender Wahrheits- und Geltungsansprüche, die dazu befähigen soll, religiös-weltanschauliche Differenz zu achten, ohne den eigenen Standpunkt im Interesse eines rein konsensorientierten Dialogs zu verschwei9 Definition dazu: emisch-etisch im Userwikis der Freien Universität Berlin (fu-berlin.de), Sozial- und Kulturanthropologie, erstellt von Ricardo Amigo, zuletzt geändert von Max Roehl am 17.02.2010: »Etisches Vorgehen bedeutet, der Ethnologe nähert sich von außen einer Kultur/Gesellschaft und erforscht sie anhand mitgebrachter Kriterien. Der Standpunkt eines Ethnologen ist emisch, wenn er von der Innensicht, also dem Innern einer Gesellschaft aus argumentiert. Die Begriffe kommen aus der Linguistik und sind abgeleitet vom Begriffspaar Phonetik – Phonemik, wobei sich Phonetik mit den realen sprachlichen Lauten (außen) beschäftigt und Phonemik mit dem Sprachsystem selbst (innen). Die Begriffe sind Neologismen und wurden von Kenneth Lee Pike eingeführt«, https://userwikis.fuberlin.de/display/sozkultanthro/emisch-etisch [Zugriff: 1.10.2021]. 10 Vgl. Stefanie Lorenzen, (2021), Art. Positionierung im Religionsunterricht, interreligiös, in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https:// doi.org/10.23768/wirelex.Positionierung_im_ Religionsunterricht_interreligis.200876, PDF vom 03.02.2021).

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Positionalität in der (kinder- bzw. jugendtheologischen) Praxis

gen. Es geht also um den Umgang mit Uneindeutigkeiten und pluralen Lebensund Glaubensentwürfen. Dabei wird ein Augenmerk darauf gelegt, ob die Argumentationen der Kommunizierenden schlüssig sind und einen Beitrag zur kommunikativen Erschließung der Welt mitsamt ihrer religiösen Phänomene darstellen. Die Schülerinnen und Schüler haben dabei die Möglichkeit, sich als konstitutiven Teil eines gelingenden Gesprächs zu erfahren.11 In Hinblick auf die unterrichtliche Praxis steht das Konzept der Kinder- und Jugendtheologie, die »Theologie von, mit und für Kinder und Jugendliche« im Vordergrund. Dabei gilt es, die Erkenntnisse von Mirjam Schambeck zu berücksichtigen, die sich den besonderen Herausforderungen von theologischen Gesprächen in heterogenen Unterrichtsgruppen widmet und die zentralen Gefahren benennt. Sie konstatiert: Werden Kinder mit theologischen Fragen konfrontiert, entwickeln sie ihre eigenen Strategien und Vorstellungen. Sie finden nicht nur plausible Antworten, sondern entwickeln weitere Erklärungen. Sie greifen dabei auf Alltagskon-zepte zurück. Aber den Kindern steht kein theologisches und damit domänenspezifisches Begriffsinstrumentarium zur Verfügung – deshalb chaotisieren Gespräche leicht oder versacken.12 Deshalb müssen bestimmte Prinzipien berücksichtigt werden, damit die Gespräche als interessant und weiterführend erlebt werden können. 1. Prinzip der Induktion – Theologische Themen werden von der Lehrperson konkret ins Spiel gebracht, z.B. durch Gesprächseinstiege oder den Magic Circle.

2. Prinzip der Konstruktion – Die Kinder erhalten ausreichend Zeit, um über eigene Vorstel-lungen, Konstruktionen und metaphysische Strategien nachzudenken. Dabei entwickeln sich Gespräche oftmals vom Thema weg zu Assoziationen hin. 3. Prinzip der Identifizierung – Die Lehrperson steht vor der Aufgabe, in den Assoziationen und Artikulationsversuchen der Kinder lebensrelevante und theologisch ausdeutbare Chiffren auszumachen, die es erlauben, Themen sowohl von lebensweltlichen Erfahrungen her als auch mittels theologischer Konzepte zu füllen. 4. Prinzip der Instruktion – Um nicht nur das Assoziationspotential der Kinder festzuschreiben, muss domainspezifisches Wissen angeboten werden. Das heißt, es müssen in altersgerechter Form Deutungen aus der Theologiegeschichte vorgeschlagen, Erzählungen verhandelt, systematische Fragestellungen und theologisches Wissen angeboten werden. 5. Prinzip der Positionierung – Es darf aber nicht bei der Darbietung theologischen Wissens bleiben. Die Kinder müssen angeregt werden, ihre Vorstellungen nochmals zu überdenken. »Was ist für dich aus dem, was wir gerade gehört haben, wichtig geworden? Hast du etwas kennengelernt, was du so noch nie 11 Vgl. Kristina Dronsch, Theologische Bewertung des Konzepts, in: Susanne Schroeder (wie Anm. 1). 12 Vgl. Mirjam Schambeck, Das ist ein durchsichtiges Paket, was überall durch kann. Prinzipien des Theologisierens mit (religionsfernen) Kindern, in: Gerhard Büttner, Friedhelm Kraft (Hg.), He! Ich habe viel Stress! Ich hasse alles! Jahrbuch für Kindertheologie, Bd. 13, Stuttgart 2014, 44ff.

Schroeder Positionalität im Schulbuch am Beispiel des neuen Berliner Schulbuchs »Alle zusammen«

gehört hast? Was meinst du dazu? Es geht darum, die Kinder zu einer begründeten Positionierung anzustiften. Im theologischen Gespräch mit religionsfernen Kindern kommt dem Prinzip der Instruktion besondere Bedeutung zu. Anders als in vielen Modellen des »Philosophierens mit Kindern« ist das Theologisieren auf einen inhaltlichen Input durch die Lehrkraft angewiesen, ohne den ein substanzieller Lernzuwachs nicht zu erreichen ist. Dieser Input ist nicht nur für die »religionsfernen« Kinder wichtig, sondern hat auch für die religiös Sozialisierten einen hohen Stellenwert bei der Suche nach Identifikationspunkten im Rahmen der fremden eigenen Religion. Denn auch in Hinblick auf getaufte Schülerinnen und Schüler gilt empirisch gesehen, dass sie in kaum einem höheren Maße durch ein »gemeinsames Bekenntnis« verbunden sein dürften als die konfessionslosen.13 Joachim Willems stellt in seinem Aufsatz »Interreligiöse Bildung – Und wo bleiben die Nichtreligiösen?« fest, dass der Unterschied zwischen religiös sozialisierten und religiös nicht sozialisierten Schülerinnen und Schülern geringer ist, als die Diskussion um die Rolle und Aufgabe des Religionsunterrichts vermuten lässt.14 Unter Verweis auf Eilert Herms beschreibt er Religion und (nichtreligiöse) Weltanschauung als parallele Erscheinungen, denn »beide bezeichnen Gewissheiten bzw. Überzeugungen über den Ursprung, die Verfassung und Bestimmung der Welt und des menschlichen Daseins in ihr, die innerhalb des menschlichen Lebens zielwahlorientierend fungieren.«15 Für die nichtreligiöse Weltsicht ist dabei festzuhalten,

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dass sie – analog zu vielen »Religiösen« (A.d.V.) – Selbstverständlichkeiten und Rahmungen beschreiben, die den Akteuren selbst oft gar nicht bewusst sind, die aber ihre Weltsicht ausmachen. Willems schlussfolgert daraus, dass es Aufgabe des Religionsunterrichts sei, zu bestimmen, wie solche nichtreligiösen Weltsichten im Unterricht mit religiösen Weltsichten ins Gespräch gebracht werden können. Dies müsse, so führt er aus, wie beim interreligiösen Lernen, auf zwei Ebenen geschehen, die dialektisch aufeinander bezogen sind: der Ebene der individuellen Weltsichten von Lernenden und der Ebene von kulturellen Objektivationen, an denen und von denen im Un-terricht gelernt werden kann.16 Das Berliner Schulbuch versucht, dies zu verwirklichen. Seine Haltung lässt sich mit den Worten der Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal beschreiben: »Wir müssen die Gegenseite nicht immer überzeugen. Wir können trotzdem zusammenleben und punktuell zusammenarbeiten, auch wenn wir nicht in allen Fällen einer Meinung sind.«17 Schulischer Religionsunterricht kann so ein öffentlicher Ort für reflektierte Positionalität in Sachen der Religion sein. 13 Vgl. z. B. Joachim Willems, Interreligiöse Bildung – Und wo bleiben die Nichtreligiösen? in: Joachim Willems (Hg.), Religion in der Schule, Bielefeld 2020, 387. Er bezieht sich hier auf eine Aussage in der EKD-Denkschrift »Religiöse Orientierung gewinnen« (2014), die feststellt, dass »Menschen ohne Konfessionszugehörigkeit nicht durch ein gemeinsames Bekenntnis miteinander verbunden sind.« 2014, 31. 14 Vgl. ebd., 389. 15 Ebd. 16 Vgl. ebd., 392 17 Mithu Sanyal in einem Gespräch im ARTEMagazin, Oktober 2021, 21.

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Buchbesprechung

Buchbesprechung

 Gerhard Büttner, Gesammelte Aufsätze zur Kindertheologie, Calwer, Stuttgart 2021, 292 Seiten.

Mit seinen gesammelten Aufsätzen zur Kindertheologie nimmt uns Gerhard Büttner mit auf eine Reise zu seinen persönlichen Schwerpunkten des Projekts Kindertheologie, das er von Anfang an begleitet hat. Ziel der Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 1998 bis 2020 ist es zu zeigen, »wie das kindertheologische Projekt alters- und themenbezogen profiliert werden kann« (S. 10). So sind eingangs Ausführungen zur Kindertheologie und Kinderphilosophie zu finden. In Abgrenzung zur Kinderphilosophie wird das »Ausgespanntsein zwischen Orthodoxie und Häresie« als charakteristisch für das Theologisieren mit Kindern bestimmt (S. 26). Im Themenbereich Kindertheologie und Entwicklungspsychologie pointiert Büttner: »Die Kinder haben ihre Theologie von den Erwachsenen und machen daraus ihre eigene« (S. 66). Schließlich geht er, ausgehend von den großen Fragen, ausführlich auf die Rolle der Tradition beim Theologisieren mit Kindern ein. Es folgt ein weiteres Kapitel zur Kindertheologie im Vorschulalter, dem Altersbereich, den Büttner als »die interessanteste Forschungsaufgabe für die Kindertheologie« wahrnimmt (S. 110). Erneut werden ausführlich Ent-

wicklungstheorien, auch aus dem angelsächsischen Raum, referiert und für die Kindertheologie fruchtbar gemacht. Im Kapitel Christologie wird ein bereits mit der Habilitationsschrift (Jesus hilft!, 2002) in Angriff genommenes Thema bearbeitet. Hierbei wird, in Anlehnung an die domänenspezifischen Entwicklungstheorien, die Christologie als eigenständige Wissensdomäne bestimmt. Die Unabschließbarkeit des Projekts Kindertheologie deutet sich im Sammelkapitel andere Themen an, bevor die Theologie von Erzieher/innen und Lehrpersonen in den Blick genommen wird. Diese wird als »das schwächste Glied beim Theologisieren mit Kindern« klassifiziert (S. 279). Es folgt ein Verweis auf die Monographie »Modelle als Wege des Theologisierens« (Büttner/Reis 2020), deren Kenntnis Lehrkräften empfohlen wird, und zwar auch, um sich selbst zu positionieren, denn »es gibt keine Kindertheologie ohne eine solche der Erziehungspersonen« (S. 279). Die Durchsicht zeigt, dass die Kapitel inhaltlich eng miteinander verzahnt sind und die vorgenommene Zuordnung eher orientierenden Charakter hat. Die einzelnen Aufsätze sind gefüttert mit einer Fülle von Gesprächsbeispielen, anhand derer die »theologische Qualität kindlicher Aussagen und deren Verortung« aufgezeigt wird, worin zugleich »zentrale Aufgaben der Kindertheologie« gesehen

Buchbesprechung

werden (S. 10). Wer sich selbst darin üben möchte und Einblick in die thematische Breite des Projekts Kindertheologie gewinnen möchte, die Büttner in systemtheoretischer Spielart dem Erziehungs-,

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Religions- und Wissenschaftssystem zuordnet (S. 78), dem sei die Lektüre der gesammelten Aufsätze wärmstens empfohlen. Ankia Loose

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In memoriam

In memoriam Henk Kuindersma – Der Pädagoge der Kindertheologie in den Niederlanden und Flandern

Am 6. Oktober 2021 verstarb Henk Kuindersma in Dokkum (die Niederlande). In der Welt der Religionspädagogik im Allgemeinen und der Kindertheologie im Besonderen hat Henk bei vielen einen unverwechselbaren Eindruck hinterlassen. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung wichtiger didaktischer Publikationen, die nicht nur im niederländischen evangelischen Religionsunterricht, sondern in allen Formen der religiösen Bildung in den Niederlanden und Flandern Einzug hielten und vielen als Inspiration dienten. Henk war 75 Jahre alt. Er hinterlässt eine Frau, drei Kinder und neun Enkelkinder. Henk Kuindersma wurde am 7. Juli 1946 in Joure in Friesland geboren und begann seine berufliche Laufbahn als Lehrer im Grundschulbereich. Der Kern seiner späteren religionspädagogischen Einsichten entstand in der Unterrichtspraxis und wurde in seinem begleitenden Pädagogikstudium an der Universität Groningen theoretisch vertieft. Großen Einfluss auf sein Denken hatten zum einen die Erkenntnisse des Bildungsphilosophen Philipp Abraham Kohnstamm (1875–1951) an der Universität Amsterdam und zum anderen die Werke von Martinus J. Langeveld (1905–1989), Kohnstamms Nachfolger in Amsterdam zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und später Professor für Pädagogik in Utrecht. Beide hielten sich in

ihrem Denken an eine Vision der Erziehung »vom Kinde aus«. Für Kohnstamm sollten »Personen (…) der Ausgangspunkt der religiösen Erziehung sein und nicht eine Doktrin oder ein System«, wie Henk Kuindersma den »biblischen Personalismus« seines Lehrers umschrieb. Zwischen seinen Lehrverpflichtungen und seinem vielfältigen sozialen Engagement schrieb Henk Kuindersma, betreut von den Professoren Gijs Dingemans und Albert Ploeger, eine religionspädagogische Dissertation, die er 1998 an der Universität Groningen mit dem ins Deutsch übersetzten Titel »Religiöse Kommunikation mit Kindern durch Symbolsprache« verteidigte (Kampen, Kok, 1998). Der Untertitel verrät die Inspiration: »Im Gespräch mit den deutschen Symbolpädagogen Halbfas, Baudler und Biehl auf der Suche nach einem Ansatz zur religiösen Kommunikation in der evangelischen Grundschule«. Ergänzt durch Erkenntnisse aus der Kinderphilosophie und der Arbeit von John Hull in England, entwickelte Henk Kuindersma einen dialogischen didaktischen Ansatz mit dem Schwerpunkt auf dem religiösen Gespräch mit Kindern. In späteren Schriften drückte Henk Kuindersma sein Erstaunen darüber aus, dass er in seiner Dissertation diese deutschen und angelsächsischen Erkenntnisse aufnahm und wenig oder gar nicht auf oft ähnliche Erkenntnisse verwies, die be-

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reits während seiner Studienzeit in der Vorlesung von Philipp Kohnstamm vorhanden waren. Kuindersmas berufliche Ausbildung als Lehrer im jungen Erwachsenenalter und seine akademische Ausbildung als Forscher in seinem späteren Leben verschmolzen miteinander. »Reformpädagogik« und »Symboldidaktik« fanden sich im Handwerk des inspirierten Lehrers, der Kuindersma war, wieder. Später wurde er Direktor des katechetischen Zentrums der GCO Fryslân und Dozent für Religionspädagogik und Bildungskoordinator der Höheren Berufsausbildung (HBO) Theologie der NHL-Hogeschool in Leeuwarden. Viele Jahre lang war er mitverantwortlich für die Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts in den Niederlanden. Nach seinem Ausscheiden aus dem NHL-Hogeschool wurde er Dozent an der ProtestantsTheologische Universiteit (Standort Kampen) und widmete sich verstärkt seinem Lieblingsthema: dem Theologisieren mit Kindern. Als 2002 das erste Jahrbuch für Kindertheologie in Deutschland erschien, war es für Henk Kuindersma naheliegend, sich dem Netzwerk anzuschließen, das sich um dieses Buch gebildet hatte. Henk Kuindersma wurde zum Ansprechpartner für die Kindertheologie in den Niederlanden und Flandern. Im Jahr 2011 organisierte er eine erfolgreiche Konferenz des internationalen Netzwerks für Kindertheologie an der PThU in Kampen. Vorher fanden in Loccum 2009 und später in Trondheim 2013 und Leuven 2015 ähnliche Konferenzen statt. Bei den Treffen des internationalen Netzwerks für Kindertheologie fiel Henk Kuindersma durch seinen Enthusiasmus

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auf, der viele andere inspirierte. Im Jahr 2020, kurz vor der internationalen Covid19-Krise, berichtete er auf dem Treffen dieses internationalen Netzwerks für Kindertheologie in Berlin von Begegnungen mit Kindern in lokalen niederländischen Glaubensgemeinschaften, wo das Theologisieren mit Kindern in die Praxis umgesetzt wird. Henk hatte die Gabe, Menschen zum Nachdenken anzuregen, und zwar durch einen sehr engen Dialog mit praktischen Erfahrungen. Zuvor hatte er zusammen mit dem praktischen Theologen Evert Jonker (PThU) und dem Religionspädagogen Bert Roebben (damals Universität Tilburg) am 12. Oktober 2004 die damalige »Niederländische Gesellschaft für Religionspädagogik« (NGPG) gegründet. Auf diese Weise stand er an der Wiege vieler Initiativen, die seither in den Niederlanden und Flandern akademisches und erfahrungsbezogenes Wissen in der Religionspädagogik verbinden. In den fruchtbaren Jahren nach seiner Emeritierung aus der PThU verknüpfte Henk Kuindersma die Grundeinsichten der modernen Pädagogik mit praktischtheologischen Konzepten, die er in der deutschen Religionspädagogik vorfand, insbesondere Symboldidaktik, Elementarisierung und Kindertheologie. So entstanden wissenschaftlich fundierte und zugleich leicht lesbare Handbücher zur religiösen Bildung. Mit Johan Valstar veröffentlichte er »Verwonderen & ontdekken. Vakdidactiek godsdienst primair onderwijs« (Amersfoort, NZV Publishers 2008). Zusammen mit Johan Valstar, Marleen Willems, Christa Borré und dem deutschen Experten für Kindertheologie Gerhard Büttner veröffentlichte er »God is buiten de tijd. Kindertheologisch leren

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In memoriam

kijken« (Averbode, 2015). Später wurden auch interreligiöse Aspekte der Kindertheologie erörtert. Sein Umgang mit der Figur Jona/Joenes war innovativ. Kuindersma war der Meinung, dass, wenn in der Kindertheologie die Kinder den Lernprozess mitbestimmen und so eine Vielfalt von Einsichten entstehen kann, auch dem interreligiösen Dialog jede Chance gegeben werden muss. Vor kurzem hat er zusammen mit Maartien Hutter »Nooit meer een kleurplaat. Raak geïnspireerd door kindertheologie« (Antwerpen, Nederlands-Vlaams Bijbelgenootschap, 2021) verfasst, ein Buch, in dem der Ansatz der Kindertheologie in einer noch leichter zugänglichen und noch didaktisch klareren Weise entfaltet wird. Man darf getrost behaupten, dass es Henk Kuindersma gelungen ist, die mitunter dichte theologische und pädagogi-

sche Sprache der deutschen Kollegen in der Religionspädagogik zu elementarisieren und in der didaktischen Praxis auf ihren Kern zurückzubringen. Vielleicht vermittelte ihm sein Grundwissen aus der Zeit seiner Grundschulausbildung eine pädagogische Muttersprache, die nah an der Geschichte der Kinder blieb. Dies wird noch konkreter, wenn man die Anleitung zur »Samenleesbijbel« liest, einer neueren niederländischen Fami­ lienbibel, in der auf Anregung von Henk Kuindersma auch nochmal die Kindertheologie für Eltern und Kinder erläutert wurde. In diesem Sinne verdient Henk Kuindersma die Bezeichnung »Pädagoge der Kindertheologie« in vollen Zügen. Vielen Dank, Henk! Ruhe in Frieden. Bert Roebben (Bonn) Annemie Dillen (Leuven)

Die Autorinnen und Autoren

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Nadja Boeck, Privatdozentin für Praktische Theologie an der Universität Zürich und Pfarrerin in der evang.-ref. Kirchgemeinde Furttal. Gerhard Büttner, bis 2010 Professor für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der TU Dortmund. Dr. Steffi Fabricius, seit Mai 2019 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Fachdidaktik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Siegen. Dr. Tobias Gutmann, seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl der Philosophie und ihre Fachdidaktik der Universität Greifswald. Tuba Işik, Prof. Dr. phil., hat seit 2020 den Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik und Praktische Theologie am Berliner Institut für Islamische Theologie (BIT) an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Dr. Naciye Kamcili-Yildiz, islamische Religionspädagogin, seit 2015 Mitarbeiterin am Paderborner Institut für Islamische Theologie (PIIT) an der Universität Paderborn.

OKR i.R. Dr. Friedhelm Kraft, bis zum 30. September 2021 Leiter der Abteilung 5 Bildung, Schulen und Religionsunterricht im Konsistorium der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Matthias Krahe, seit 2019 Leiter der Abteilung Humanistische Lebenskunde beim Humanistischen Verband Deutschlands, Landesverband Berlin-Brandenburg KdöR. Mark Krasnov, seit 2017 Studienrat an der Diltheyschule Wiesbaden, er unterrichtet die Fächer Jüdische Religion, Hebräisch, Spanisch und Informatik. Seit der Scho’ah ist er der erste (und bisher einzige) Lehrer für das Fach Jüdische Religion im staatlichen Schuldienst des Landes Hessen. Dr. Anika Loose, seit 2/2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Jugendtheologie in kirchlicher und schulischer Alltagspraxis« am Lehrstuhl für Praktische Theologie / Religionspädagogik der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Georg Plasger, Professor für Systematische und Ökumenische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Siegen.

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Die Autorinnen und Autoren

Oliver Reis, Professor für katholische Religionspädagogik / Schwerpunkt Inklusion am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn. Hanna Roose, Professorin für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Susanne Schroeder, Studienleiterin für den Fachbereich Religionspädagogik im Amt für kirchliche Dienste (AKD) Berlin. Henrik Simojoki, Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Margit Stein, Prof. Dr. phil. habil., Dipl.Psych., Dipl.-Päd., Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Universität Vechta, dort tätig seit 2010.

Mag. Eva Wenig, seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Christlich-Islamischer Religionsunterricht im Teamteaching« an der Karl-FranzensUniversität Graz. Dr. Şenol Yağdı, seit 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Christlich-Islamischer Religionsunterricht im Teamteaching« an der Karl-FranzensUniversität Graz. Veronika Zimmer, Prof. Dr. Dr., Dipl.-Päd., Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule, Standort Essen, dort tätig seit 2021. Mirjam Zimmermann, Professorin für Religionspädagogik und Fachdidaktik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Siegen. Research Associate an der University of the Free State Bloemfontain/South Africa.