"Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken": Anthropologie und Jugendtheologie 3766843222, 9783766843227

Band 3 des Jahrbuchs für Jugendtheologie unternimmt den Versuch, Menschenbilder, wie sie in der neutestamentlichen, syst

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German Pages 192 [189] Year 2014

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"Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken": Anthropologie und Jugendtheologie - Jahrbuch für Jugendtheologie Band 3
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"Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken": Anthropologie und Jugendtheologie
 3766843222, 9783766843227

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Edgar Thaidigsmann › Schöpfungstheologie mit und für Jugendliche. Systematische Perspektiven

2 JaBuJu

Markus Öhler › Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen

Jahrbuch für Jugendtheologie

Christian Höger › Schöpfungstheologie der Jugendlichen und deren Konsequenzen für den Religionsunterricht Janine Griese › Was haben »Schmetterlinge im Bauch« mit der biblischen Schöpfungserzählung zu tun? Eine Entdeckungsreise mit Jugendlichen Heike Regine Bausch › ... wenn das Herz beim Anblick eines Neugeborenen zu glänzen beginnt ... – Mit Schüler/innen der gymnasialen Oberstufe die Präimplantationsdiagnostik thematisieren Thomas Weiß › Fördert evangelischer Religionsunterricht die Fähigkeit zu argumentieren? Beschreibung und Interpretation einer Stundenbeobachtung an einem Wiener Gymnasium Matthias Imkampe › Den wissenschaftstheoretischen Prozess sichtbar werden lassen Veit-Jakobus Dieterich, in Verbindung mit Matthias Imkampe › »Es könnte doch sein, dass Gott der Natur geholfen hat, sich zu entwickeln.« – Komplementäres oder / und hybrides Denken? Wie weit man in der Schulzeit in der Frage der Weltbildentwicklung realistischerweise kommen kann Anke Kaloudis › Sokratische Gespräche im Religionsunterricht führen

www.calwer.com

ISBN 978-3-7668-4265-7

theologie

Carsten Gennerich › Schöpfung und Ordnung

für Jugend

Thomas Weiß · Nicolai Basel · Martin Rothgangel · Ute Harms · Helmut Prechtl › Argumentationsmuster von Jugendlichen zu Schöpfung und Evolution

»Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken«

Jahrbuch

Christiane Konnemann · Elisabeth Oberleitner · Roman Asshoff · Marcus Hammann · Martin Rothgangel › Einstellungen Jugendlicher zu Schöpfung und Evolution

»Der Urknall ist immerhin, würde ich sagen, auch nur eine Theorie«

Friedrich Schweitzer › Schöpfungsglaube und Kreationismus – Herausforderungen und Aufgaben für die Jugendtheologie?

Anthropologie und Jugendtheologie

Herausgegeben von Veit-Jakobus Dieterich, Martin Rothgangel und Thomas Schlag

Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen Herausgegeben von Anton A. Bucher, Gerhard Büttner, Veit-Jakobus Dieterich, Petra Freudenberger-Lötz, Christina Kalloch, Hildrun Keßler, Friedhelm Kraft, Bert Roebben, Martin Rothgangel, Thomas Schlag, Martin Schreiner und Elisabeth E. Schwarz

»Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken« Anthropologie und Jugendtheologie Jahrbuch für Jugendtheologie Band 3 Herausgegeben von Veit-Jakobus Dieterich, Martin Rothgangel und Thomas Schlag

Calwer Verlag Stuttgart

eBook (pdf) ISBN: 978–3–7668–4323–4 ISBN 978–3–7668–4322–7 © 2014 by Calwer Verlag GmbH Bücher und Medien, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Umschlaggestaltung: Karin Sauerbier, Stuttgart Satz und Herstellung: Karin Class, Calwer Verlag Druck und Verarbeitung: Beltz Bad Langensalza GmbH E-Mail: [email protected] Internet: www.calwer.com

Öhler Jugend und Schöpfung – historische und neutestamentliche Anmerkungen

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Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Theoretische Grundlagen

Bernhard Grümme Braucht Jugendtheologie ein Menschenbild? – Zur Relevanz einer religionspädagogischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Henning Schluß Anthropologie des Jugendalters – Pädagogische Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Gudrun Guttenberger Neutestamentliche Anthropologie für Jugendliche – Was ist anschlussfähig?. . . . . 39 Edgar Thaidigsmann Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 II. Empirische Aspekte

Katrin Bederna »Einerseits ist sie selber schuld aber andererseits kann sie eigentlich nichts dafür« – Freiheitsbewusstsein Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Heinz Streib Was bedeutet »Spiritualität« im Jugendalter? – Erkenntnisse zu Aspekten subjektiver Anthropologie und Theologie von Jugendlichen aus religionspsychologischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Veit-Jakobus Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit – Konturen einer (theologischen) Anthropologie des Jugendalters im Anschluss an empirische Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 III. Religionspädagogische Anregungen

Christian Höger »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen – Chancen eines alttestamentlichen Motivs in evangelischen und katholischen Religionsbüchern der Sekundarstufe I und II . . . . . . . . . . . . . . . 107

6 Veronika Burggraf / Kathrin Hanneken / Bert Roebben »Ich gehöre wieder dazu« – Praktische Unterrichtsideen zur Anthropologie von Lk 15,11–32. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Manfred Schnitzler Best friends – Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Unterrichtsprojekt in der Klassenstufe 9 der Realschule. . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Gerhard Büttner / Herbert Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«. . . . . . . . . 137 Anke Kaloudis »Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken.« – Biblische Texte mit religionsphilosophischen Begriffen öffnen. . . . . . . . . . . . . . . . 150 Tobias Petzoldt Die Bibel und das Menschliche – Anregungen für die gemeindepädagogische Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 IV. Anhang

Gerhard Büttner Theologisieren mit Pubertierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 V. Buchbesprechungen

Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich: Entwicklungspsychologie in der Religionsädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Bernhard Grümme: Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie. . . . . . 177 Christoph Käppler / Christoph Morgenthaler: Werteorientierung, Religiosität, Identität und die psychische Gesundheit Jugendlicher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Rudolf Englert: Religion gibt zu denken. Eine Religionsdidaktik in 19 Lehrstücken. . . . . 183 Rezension zu drei neueren Veröffentlichungen im Umfeld der SINUS-Milieus . . . . . . . . . . 184 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

7 Vorwort

Was ist der Mensch? – fragt Psalm 8 voll Verwunderung. Und die beiden Schöpfungsgeschichten verorten den Menschen zum Auftakt der Bibel in der Spannung zwischen dem Staub der Erde und der Gottebenbildlichkeit: »Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden« (Gen 3,19) – »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn« (Gen 1,27). Wer bin ich? – so fragen sich Menschen vor allem in ihrer Jugendzeit. Manche Pubertierende scheint diese Thematik so stark in Beschlag zu nehmen, dass für Anderes kaum mehr Raum, Zeit und Kraft bleibt. »Wegen Umbaus geschlossen«, betitelte denn auch ein älterer Religionslehrplan eine Unterrichtseinheit zur Identitätsthematik. Mit den beiden genannten Fragerichtungen sind die »objektive« sowie verallgemeinernde und die »subjektive«, idiographische bzw. individuelle Perspektive gleichsam wie zwei Seiten ein und derselben Medaille in den Blick genommen. Die religionspädagogische Diskussion der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte verlief an diesem Punkt ambivalent. Während einerseits klar zu sein scheint, dass die Lernenden ein Zentrum aller religionsdidaktischen Bemühungen zu sein haben und Subjekt- samt Lebensweltbezug allenthalben wie Gütesiegel pro- und reklamiert werden, führt andererseits das Thema Anthropologie gegenüber anderen

Themen wie der Gottesfrage oder der Christologie nur ein Schattendasein. So findet sich die Thematik etwa auch im Jahrbuch für Kindertheologie allenfalls randständig und vereinzelt wieder. Das Problem scheint in jüngster Zeit erkannt. Im Jahr 2013 legte (der auch im vorliegenden Band vertretene) Bernhard Grümme unter dem Titel Menschen bilden? eine überaus umfassende und fundierte religionspädagogische Anthropologie vor (eine Rezension des Buches findet sich innerhalb der Buchbesprechungen). Es ist zu hoffen und wohl auch zu erwarten, dass dieses opus magnum den Auftakt zu einer umfassenden Beschäftigung der Religionspädagogik und -didaktik mit der Frage nach dem Menschen darstellt. In dieses Anliegen und diese Hoffnung ist denn auch die vorliegende Veröffentlichung einzuordnen, die auf ein Symposion zum Thema Anthropologie und Jugendtheologie – Interdisziplinäre Perspektiven im Jahr 2013 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg zurückgeht. Weder das Symposion noch die vorliegende Veröffentlichung erheben den Anspruch oder unternehmen auch nur den Versuch, die vielschichtige Komplexität der angesprochenen Thematiken (Anthropologie, Interdisziplinarität, Jugendforschung, Bildungsprozesse bzw. -praxis) insgesamt zu erfassen oder gar aufzulösen. Vielmehr sollen einzelne Facetten und – wo möglich – Kristallisations­zentren

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Vorwort

und Brennpunkte, an denen verschiedene Fäden zusammen laufen, sichtbar und transparent gemacht werden. Als zentrale Bezugsdisziplinen der Religionspädagogik kommen die Pädagogik und die beiden theologischen Teildisziplinen der Bibelwissenschaft (NT) und der Systematischen Theologie (Dogmatik) zu Wort. Im Blick auf die Jugendlichen tragen empirisch fundierte entwicklungspsychologische, jugendsoziologische und gesprächsanalytische Zugänge zu einem mehrdimensionalen, verschiedene Alters­ phasen und Jugendmilieus berücksichtigenden kaleidoskopartigen Bild bei. Im Blick auf die Bildungspraxis finden unterschiedliche pädagogische Grundsituationen (Schule, Gemeinde) sowie dann verschiedene Schulstufen und Schularten Berücksichtigung. Gemäß der von Friedrich Schweitzer ins Spiel gebrachten und längst fest etablierten Dreigliederung von Kinder- und Jugendtheologie in eine Theologie für, von und mit Heranwachsenden, finden sich auch im vorliegendem dritten Band des Jahrbuchs für Jugendtheologie neben einem Anhang und den Buchbesprechungen drei Hauptblöcke: Theoretische Grundlagen – Empirische Einblicke – Religionspädagogische Anregungen. Die Beiträge der Rubrik Theoretische Grundlagen fragen zuerst nach dem Stellenwert der Anthropologie für die beiden Wissenschaftsbereiche von Religionspädagogik und Pädagogik sowie nach der Anschlussfähigkeit bzw. den möglichen Beiträgen der beiden theologischen Disziplinen der Exegese des Neuen Testaments und der Systematischen Theologie für eine theologische Anthropologie für Jugendliche.

Bernhard Grümme, Autor des bereits genannten Grundlagenwerkes zu einer religionspädagogischen Anthropologie, zeigt unter dem Titel Braucht Jugendtheologie ein Menschenbild? die Relevanz der Thematik für die Religionspädagogik allgemein wie für die Jugendtheologie im Besonderen auf und nennt dafür vor allem drei Gründe bzw. Aspekte. Mit einer elaborierten theologischen / religionspädagogischen Anthropologie lassen sich zum einen Äußerungen Jugendlicher differenziert wahrnehmen, erfassen und verstehen, zum zweiten allerorten stets – explizit wie implizit – vorhandene Menschenbilder in ideologiekritisch-kontextueller Weise prüfen und zum dritten Beiträge zu einer Konkretisierung, Verdichtung und damit auch »Verstärkung der jugendtheologischen Subjektorientierung« formulieren. Als Desiderate sieht Grümme zum einen die stets anstehende, aber eben auch noch nicht völlig eingelöste Verknüpfung der bei Jugendlichen vorhandenen Theologumena mit denen der Tradition, zum anderen eine weitere Klärung des Theologiebegriffs, seines Verhältnisses zu dem der Religion sowie der möglichen Elaborierung eines Konzepts, das zu beiden Aspekten quer steht und sie zugleich vereint. Henning Schluss untersucht Pädagogische Perspektiven (so der Untertitel seines Beitrags) zu einer Anthropologie des Jugendalters. In einem weitgefächerten, facettenreichen, zeitlich ausgreifenden und mit anschaulichen Belegen bestens unterfütterten Rück- und Überblick über Konzepte zur Bestimmung einerseits des Menschen wie andererseits der Jugendzeit in den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen – Anthropologie, So-

9 ziologie, (Entwicklungs-)Psychologie, Physiologie, Biologie, Neurologie, Ethnographie wie Pädagogik – kommt der Autor zum Ergebnis, dass alle vorgetragenen Konzepte perspektivisch bedingte Konstrukte sind, die keine allgemein gültige inhaltliche Bestimmung und Festlegung des Mensch- resp. Jugendliche-Seins erlauben. Daraus folgt eine »Unbekanntheit der anthropologischen Voraussetzungen« wie eine Unbestimmbarkeit von Jugend, die jedoch – so die zweite reflexive Pointe – Menschsein wie (selbst)bildendes bzw. erzieherisches Handeln erst eigentlich ermöglichen, denn die »anthropologische Ungewissheit ist es, die es uns gestattet, Wesen zu sein, die sich frei und nicht vollständig determiniert zu den Bedingungen ihres Lebens verhalten können«. Dies gilt generell wie in spezifischer Weise auch und gerade für die Jugend und Jugendzeit, die prinzipiell wiederum offen sind, offen auch im Blick auf künftige Weiterentwicklungen, in lebensgeschichtlichem wie geschichtlichem Sinne. Eine »An­ thropologie des Jugendalters« kann sich somit grundlegend nur »als Sicherung der Unbekanntheit« generieren. Gudrun Guttenberger stellt eine Neutestamentliche Anthropologie für Jugendliche unter der Frage: Was ist anschlussfähig? zusammen. In einem dreifachen Zugriff fächert die Autorin dieses Grundanliegen anhand jeweils einer spezifischen anthropologischen Herangehensweise an Texten des Neuen Testaments auf und konkretisiert dies mit der Auslegung eines spezifischen, markanten Textbeispiels. Der erste, philosophische (wie existenz-theologische) Zugang zeigt den Menschen in der Auslegung von Röm 7 als »Zwiespalt«. Ein der historischen An-

thropologie entnommener, soziologisch angereicherter Zugang deckt anhand der Gastmahlepisode aus Lk 14 Mechanismen der Inklusion resp. Exklusion auf sowie Körperkonzepte (etwa bei Suchtstrukturen). Eine kulturanthropologische Perspektive schließlich expliziert und reflektiert damalige und gegenwärtige Genderkonzepte am Beispiel der paulinischen Aussagen zur Praxis der Kopfbedeckung im Gottesdienst (1. Kor 11). Darüber hinaus weiß die Autorin diesen fachwissenschaftlich versierten wie interdiszplinär perspektivierten Zugriff überaus anregend mit der Situation gegenwärtiger Jugendlicher bzw. noch konkreter bestimmter Typen von Jugendlichen heute in Beziehung zu setzen (vorrangig auf dem Hintergrund der Gennerichschen Analysen und Differenzierungen). Edgar Thaidigsmann zeichnet in seinem Beitrag Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte ein Bild des Menschen in systematisch-theologischer Sicht und fragt nach dessen Bezügen und Bedeutungen für heutige Jugendliche. Interessanterweise geht er dabei vom Lachen einer Schulklasse in einer bestimmten Unterrichtssituation aus und deutet es anthropologisch als Ausdruck von Scham, die auch in der Bibel, etwa in Gen 3, eine Rolle spielt. Weiterführend zeichnet er die Konturen von zwei unterschiedlichen Ansätzen theologischer Anthropologie bei Luther, zum einen der (philosophischen) Bestimmung des Menschen als »vernünftiges Tier« (animal rationale) in der berühmten Disputatio de Homine von 1536, zum anderen im (theologisch gefärbten) Vergleich des Menschen mit einem / dem Zelt der Begegnung in der Auslegung des Magnifi-

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Vorwort

kat von Lk 1. Dieses Gleichnis expliziert den Menschen in drei Bezügen: seiner öffentlichen Erscheinung, der rationalen Weltbeziehung sowie zuletzt in seinem Geheimnis als Person, seinem »Allerheiligsten« als Symbol für sein eigentliches »Selbst«, über dessen Schutz die Scham wacht. Empirische Einblicke bieten die drei Beiträge des zweiten Blocks anhand von Unterrichtsgesprächen, Jugendumfragen sowie entwicklungspsychologischen Erkenntnissen, die ersten beiden aufgrund langjähriger und umfangreicher eigener empirischer Forschungsprojekte. Katrin Bederna gibt anhand ihrer breiten empirischen Untersuchungen zu anthropologischen Vorstellungen Jugendlicher in höheren Klassen der Sekundarstufe I einen Einblick ins Freiheitsbewusstsein Jugendlicher. Von der fiktiven, aber schülernahen Geschichte eines mobbenden Mädchens ausgehend führen die Gruppengespräche der Heranwachsenden in verschiedenen Schulklassen zu höchst vielfältigen und teilweise recht differenzierten Vorstellungen von Determinierung und Freiheit des Menschen, wie bereits der Titel des Beitrags, ein Schülerzitat, anzeigt: »einerseits ist sie selber schuld aber andererseits kann sie eigentlich nichts dafür«. Bederna destilliert aus dem reichhaltigen empirischen Material vier bei Heranwachsenden virulente Freiheitsverständnisse, die Freiheit naturalistisch, aber auch in einem Gegensatz zu einer naturalistischen Sichtweise sowie als Bewusstseins- oder auch als Transzendenzbegriff verstehen. Daran anküpfend und dies weiterführend zeigt der Beitrag Bezüge auf zu unmittelbar religiösen resp. theologischen Vorstellungen

der Jugendlichen (etwa zu den Gottesvorstellungen resp. zum Verhältnis Gott – Mensch). Heinz Streib berichtet von eigenen höchst aktuellen empirischen Studien zur Einschätzung ihrer eigenen Religiosität und Spiritualität bei Heranwachsenden zwischen 12 und 25 Jahren (Bielefelder Jugendstudien) – auch im Kontext und Vergleich zu den USA (Kooperation mit Ralph Hood). Dabei zeigt sich: Der Begriff »Religion« wird von Jugendlichen tendenziell negativ, der der »Spiritualität« demgegenüber deutlich positiver konnotiert. Mit zunehmendem Alter steigt bei Jugendlichen die Selbstattribution »spirituell« oder »eher spirituell« deutlich an. Dabei korreliert die Selbstbezeichnung als »spirituell« eng mit mystischen Erfahrungen, von denen diese Jugendlichen berichten. Zugleich ergibt sich hierbei häufig eine Abwertung der – als traditionell empfundenen – »Religion«. Als Extremfall bildet sich eine nicht sehr große, aber »hochinteressante Gruppe von ›spirituellen‹ Atheisten« heraus, die der Autor an einem Fallbeispiel anschaulich exemplifiziert. Als Konsequenz aus seinen Untersuchungen für eine »Jugendtheologie« bzw. fürs »Theologisieren mit Jugendlichen« plädiert Streib vehement dafür, die tendenzielle Offenheit für Spiritualität als eine wichtige – vielleicht gar zentrale – Form der Theologie von Jugendlichen ernst zu nehmen. Veit-Jakobus Dieterich stellt keine eigenen empirischen Ergebnisse vor, fasst vielmehr die Erkenntnisse älterer und vor allem auch neuerer Studien – schwerpunktmäßig aus dem angelsächsischen Sprachraum – unter den beiden Aspekten der Konstruktionen des Selbst sowie der expliziten und intuitiven Vorstellungen

11 zur menschliche Seele bei Jugendlichen zusammen. Dabei zeigt sich, dass die Ausbildung eines reflektierten, differenzierten und akzeptierten Selbstkonzeptes mit seinen kognitiven, emotionalen wie handlungsbezogenen Seiten eine zentrale Entwicklungsaufgabe für die Heranwachsenden im Jugendalter darstellt, die sie nach anfänglichen, mitunter krisenhaften Verunsicherungen und Suchbewegungen in zunehmend selbstsicherer, komplexerer und integrierterer Weise lösen. Konzepte von Religiosität bzw. Spiritualität und einer menschlichen bzw. der eigenen Seele können hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen und als Brücke für religionspädagogische Zugänge dienen. Der dritte Teil Religionspädagogische Anregungen enthält unmittelbare Analysen und Anregungen für die Praxis des Theologisierens mit Heranwachsenden in Schule und Gemeinde. Im Blick auf die Schule finden dabei sowohl unterschiedliche Schulstufen (Sekundarstufe I und II) sowie Schulformen (Realschule, Gymnasium und Sonderschule bzw. Inklusiver Religionsunterricht) Berücksichtigung. In einem ersten Beitrag zum Thema »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen untersucht Christian Höger auf dem Hintergrund einer kurzen Skizze möglicher Bibelverständnisse von Heranwachsenden methodisch versiert, wie dieses theologisch wie religions­päda­ gogisch wichtige Narrativ in evangelischen und katholischen Religionsbüchern der Sekundarstufe I und II thematisiert wird. Höger zeigt dann auf, welche der insgesamt acht und damit überraschend zahlreichen bei diesem Thema konno-

tierten Aspekte bzw. Motive sich fürs Theologisieren mit Heranwachsenden in besonderer Weise eignen (die Fragen nach der Herkunft / Entstehung des Menschen, nach seiner Freiheit und nach dem Verhältnis von Mann und Frau) und erwägt zum Abschluss zwei Kriterien zur Beurteilung von Schulbüchern im Blick auf ihren Beitrag zum Theologisieren mit Heranwachsenden. Ob die Aufnahme von Schüleräußerungen eher förderlich oder hinderlich wirkt, muss offen bleiben. Auf jeden Fall aber sollten die Bücher in ihren »Arbeitsaufträgen explizit theologische Fragen [stellen], die die Lernenden zu einer aktiven und selbständigen Reflexion einladen.« Veronika Burggraf, Kathrin Hanneken und Bert Roebben präsentieren Erfahrungen und Ergebnisse unterschiedlicher Unterrichtsprojekte zum Gleichnis vom Verlorenen Sohn (Lk 15) im inklusiven Religionsunterricht der ersten Hälfte der Sekundarstufe I (Klassenstufen 6 und 7), also mit Heranwachsenden während der Zeit der Pubertät bzw. frühen Adoleszenz. Eine anregende mehrper­ spektivische Sichtweise beobachtet das (Doppel-)Gleichnis zuerst einmal mit den Augen der drei männlichen Protagonisten, dann aber auch der Mutter, die in der Erzählung »abwesend und doch anwesend« ist und präsentiert anschließend die unterschiedlichen anthropologischen Aspekte der Geschichte, etwa der emotionalen Seite des Menschen. Nach diesen Überlegungen zu einer Biblischen Theologie für Heranwachsende folgen die oft höchst originellen und eigenständigen Kommentare von Jugendlichen zur Geschichte, zu deren Erhebung methodisch die Form des kreativen Schreibens bzw. des imaginativen Tagebuchschreibens

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Vorwort

zum Einsatz kam. Ein Ausblick auf ein theologisches Gespräch, also das Theologisieren mit der Klasse, rundet den Beitrag ab. Manfred Schnitzler berichtet im anschließenden Beitrag Best friends von einem Unterrichtsprojekt in der Klassenstufe 9 einer Realschule. Eruriert wurden dabei einerseits das enorme Interesse am Thema »Freunde« und andererseits das Assoziationsfeld, das die Schüler/innen mit diesem Stichwort verbinden, etwa Vertrauen, Verlässlichkeit und »miteinander Spaß haben«, wobei sich »Freund«, »Kumpel« und »Mitschüler« voneinander abheben lassen. Thematisch variantenreich werden anschließend vier unterschiedliche »Vertiefungsbausteine« – einer etwa zur Unterscheidung zwischen »echten« und »falschen« Freunden – angeboten und mit biblischen Geschichten und zudem Abschnitten aus Senecas Überlegungen zum Thema Freundschaft (in den Briefen an Lucilius) in Beziehung gesetzt. Der einerseits als Unterrichtsbericht, andererseits als Unterrichtsvorschlag angelegte Beitrag macht in seiner Offenheit zugleich deutlich, dass es keinesfalls ein »Selbstläufer« ist, das Schüler/innen mit Bibeltexten etwas anzufangen wissen. Als Folgerung ergibt sich, dass ein »Theologisieren mit Jugendlichen« anhand von biblischen Geschichten und Textpassagen didaktischmethodisch umsichtig und kunstvoll zu planen ist. Gerhard Büttner und Herbert Kumpf zeigen am Beispiel von Luthers berühmter »Disputatio de homine« von 1536, wie sich das Theologisieren mit einem Klassiker in der Sekundarstufe II auf interessante Weise gestalten lässt. In einem didaktisch grundlegend dreischrittigen

Vorgehen werden zuerst Aussagen von Jugendlichen zum Thema »Mensch« erhoben und von den Schülerinnen und Schülern selbst analysiert, dann Textpassagen aus Luthers Thesenreihe in die Klasse eingespeist sowie gemeinsam mit ihr interpretiert und zuletzt die eigenen Aussagen mit denen des Reformators »auf Augenhöhe« dialogisch in Beziehung gesetzt. Dabei zeigt sich, dass bei geeigneter didaktischer Reduktion trotz teilweise fremder Terminologie und distinkter Denkweise ein gelingendes Gespräch »über die Zeiten hinweg« möglich ist. Eine besondere Pointe liegt darin, dass das perspektivische Denken Luthers (philosophischer vs. theologischer Zugang zum Menschen) heutigen Heranwachsenden Impulse dafür geben kann, ihre eigenen, noch rudimentären Fähigkeiten zu einer mehrperspektivischen und dann auch komplementären Denkweise weiter zu entwickeln. Der Beitrag von Anke Kaloudis nimmt in der Titelformulierung Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken eine Schüler/innen-Aussage auf, die dann zugleich die Vorlage für die Titelformulierung des vorliegenden Gesamtbandes lieferte. Die Autorin zeigt – im Anschluss an und in Weiterführung der Ergebnisse ihrer Dissertation –, wie eine Auseinandersetzung von Heranwachsenden in der gymnasialen Oberstufe mit einem biblischen Text (Gen 2 + 3) unter Zuhilfenahme von Aussagen Paul Tillichs zu einer theologischen Anthropologie gelingen kann. Theologisieren mit Jugendlichen vollzieht sich hier in kunstvoller und eindrucksvoller Form in einem Dreieck zwischen Bibel, Systematischer Theologie und den Subjekten des Lernprozesses selbst. Zugleich macht die Autorin deut-

13 lich, wie konstruktiv sich der Elementarisierungs-Ansatz mit dem Konzept eines Theologisierens mit Jugendlichen verbinden lässt. Tobias Petzoldt bietet in seinem Beitrag Die Bibel und das Menschliche – wie der Untertitel anzeigt – Anregungen für die gemeindepädagogische Praxis. Den Unterschied zwischen religionsunterrichtlichem und gemeindepädagogischem Theologisieren sieht er darin, dass in der Gemeinde die biblische Tradition sowie die persönliche Glaubensposition der Leiter/innen (noch) stärker ins Spiel gebracht werden (sollen) als in der Schule. Diese Ausrichtung stellt jedoch die grundlegende Subjekt-, Erfahrungsund Lebensweltorientierung auch der Gemeindepädagogik keineswegs in Frage. Der Autor macht dies – auch wenn er sich dabei ausschließlich mit einer Theologie für Jugendliche befasst – einleuchtend und eindrücklich deutlich, wenn er vor allem anhand einer anthropologischen Erschließung der Passions- und Auferstehungs-Geschichten zeigt, wie hier über die Analyse menschlicher Reaktionen, Verhaltensweisen und Gefühle wie Angst, Zweifel oder »Schwarmintelligenz« eine lebensnahe Auseinandersetzung für heutige Heranwachsende in der kirchlichen Jugendarbeit ermöglicht wird. In einem Zusatzbeitrag widmet sich Gerhard Büttner unter dem Titel Theologisieren mit Pubertierenden der Beschäftigung mit einer bekanntlich schwierigen

Altersstufe bzw. Unterrichtspraxis. Die mentale Welt der Pubertierenden wird anhand von Selbstzeugnissen bzw. literarischen Verarbeitungen als Phase der Ich-Suche und Selbst-Verunsicherung beschrieben. In sozialer Hinsicht macht dies das Angewiesensein auf die »Spiegelung« des »Selbst« durch die nahe Umwelt deutlich. Diesen prägnant konturierten und theoretisch wie didaktisch hilfreichen Rahmen nutzt Büttner an- und abschließend, um eigene Unterrichtserhebungen in einer achten gymnasialen Klassenstufe zum Thema Christologie anhand einer konkreten Fallanalyse darzulegen und zu analysieren. Plausibel wird hierbei, warum die kognitiven Fähigkeiten Heranwachsender während der Pubertät zuerst einmal zu stagnieren bzw. gar »einzubrechen« scheinen und wie der Religionsunterricht hier gezielt Anregungen und Förderungen zu einer positiven Weiterentwicklung geben kann. Ein besonderer Dank gilt der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg sowie dem Calwer Verlag, ferner Carolin Angermann, David Müller, Vanessa Schweizer und Nadja Storz für alle Unterstützung bei der Durchführung des Symposions sowie der Vorbereitung der Veröffentlichung des dritten Jahrbuchs für Jugendtheologie. Veit-Jakobus Dieterich, Martin Rothgangel, Thomas Schlag

Grümme Braucht Jugendtheologie ein Menschenbild?

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Bernhard Grümme Braucht Jugendtheologie ein Menschenbild? – Zur Relevanz einer religionspädagogischen Anthropologie

»Björn: ich würde sagen nein, es wär ja wirklich kein Mensch mehr, sondern eher irgendwie maschinell gebaut würd ich sagen, dann könnt man ja schon machen, dass hundertmal eine person gibt, also erbkrankheiten verhindern da denk ich des wär dagegen nichts einzuwenden. Aber weiter irgendwas am menschen zu verändern. L.: mhm. Björn: ist ja nicht gut eigentlich. [ ] Salvatore: also ich wär eher dafür weil dann wären alle menschen gleich und vielleicht gibt’s dann weniger streitereien oder so, man kann nicht mehr sagen ich bin klüger als du oder ähm du kannst nicht das was ich kann und dich behaupten im leben, dann wären alle so ziemlich gleich, langweilig aber… Joachim: das is auch jetzt unser nächster punkt, dass ähm gott uns halt intelligenz die wir haben gegeben hat um halt diese gentechnologie zu erforschen, und, ähm, er hätt sie uns wahrscheinlich ja nich gegeben, wenn er das nich gewollt hätte … Lars: »ich denk man kann aber nicht über kinder entscheiden, die noch nicht geboren sind, wie dene ihr leben verlaufen soll, also die ham ja ihr recht eigentlich selber zu entscheiden wie se leben, des können eigentlich andere dann dafür entscheiden«.1

Solche Transskipte sind eine Schatzgrube theologischer Forschung. Vornehmer ausgedrückt: sie sind polyvalent für verschiedene hermeneutische und funktionalistische Zugänge. So kann man hierin

auch ein Beispiel für Jugendtheologie sehen und unterschiedliche Dimensionen des Theologisierens Jugendlicher diagnostizieren. Ob man es nun Jugendtheologie, Theologisieren mit Jugendlichen oder Theologische Gespräche mit Jugendlichen nennt: entscheidend ist die Tatsache, dass den Jugendliche selber attestiert wird, ja mehr noch, dass in bestimmten Zusammenhängen sie sich selber zuschreiben, in theologisch bedeutsamer Hinsicht denken zu können.2 Denn das ist ja das entscheidende Kennzeichen der Jugendtheologie. Sie unterscheidet sich von einem Austausch von religiösen Meinungen Jugendlicher genau durch diese Form des Nachdenkens, 1 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich, Themen der Jugendtheologie – Spurensuche für den theologischen Dialog mit Jugendlichen, in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritisch Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 55. Die zitierte Passage stammt aus bisher unveröff. Material eines Forschungsprojektes von Katrin Bederna zur Anthropologie Jugendlicher, s. auch den Beitrag der Autorin in diesem Band. 2 Zur Begrifflichkeit vgl. Veit-Jakobus Dieterich, Theologisieren mit Jugendlichen – Einleitende Überlegungen, in: Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 12f. Vgl. auch Petra Freudenberger-Lötz / Friedhelm Kraft / Thomas Schlag, »Wenn man daran noch so glauben kann, ist das gut«. Grundlagen und Impulse für eine Jugendtheologie, Jahrbuch für Jugendtheologie Bd. 1, Stuttgart 2013.

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Theoretische Grundlagen

in der die Jugendlichen über ihr Nachdenken nochmals selbstreflexiv reflektieren.3 Gegenwärtig kristallisiert sich eine solche Jugendtheologie als eigenständige Fortsetzung und Parallele zur ebenso elaborierten wie etablierten Kindertheologie heraus. Auch in ihr geht es darum, die Subjektorientierung der Religionspädagogik so weit zu radikalisieren, dass die Jugendlichen Mitkonstrukteure ihres Glaubens sind, ihnen eine theologische Würde zukommt und insofern auch theologisch zu hören sind.4 Beide beziehen sich in einem emphatischen Sinne auf eine Kommunikation der Kinder und Jugendlichen untereinander, in der diese Kommunikation wahrgenommen, eröffnet, durch Impulse angereichert und vertieft wird, in der sie als Subjekte anerkannt und gewürdigt werden, um sie dabei jeweils in ihrer »theologischen Kompetenz« zu fördern.5 Jedenfalls bei Schweitzer und Schlag unterscheidet ebenfalls die Jugendtheologie drei Dimensionen, die ihrerseits im Prozess der Jugendtheologie ineinandergreifen. Eine Jugendtheologie beinhaltet dann zunächst eine Theologie der Jugendlichen, in der Jugendliche miteinander in theologisch relevanter Weise in Dialog treten. Eine Theologie mit Jugendlichen hingegen legt den Akzent auf eine gemeinsame theologische Denkbewegung von Erwachsenen und Jugendlichen. Hier werden die Kinder nicht einfach in ihrem Denken korrigiert und belehrt. Sie werden zu eigenen Denkleistungen, weiterführenden Fragen und Einsichten auf ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe ermutigt, aber auch in ihrer Entwicklung gefördert, um – so Veit Jakobus Dieterich – zu einem »horizontal erweiterten und vertikal vertieften, gleichsam theologisch

›angereicherten‹ oder gar ›gesättigten‹ Dialog zu gelangen«.6 Hierzu ist aber eine Theologie für Jugendliche wichtig, die theologische Traditionen und vergessene Perspektiven ins Spiel bringt. Dies geschieht freilich nicht, um die anderen Perspektiven am Ende zu dementieren und im Sinne einer theological correctness zu domestizieren, sondern dies steht im Dienste der theologischen Würde und theologischen Kompetenz der Jugendlichen. Letztlich gewinnt Jugendtheologie Sinn, Legitimität und Profil durch ihren Beitrag zu deren Autonomie.7 Trotz der erkennbaren Parallelen zur Kindertheologie scheinen indessen allein schon in dem Eingangstext die Unterschiede einer Jugendtheologie auf, so dass diese nicht einfach als deren gewissermaßen diachrone Fortschreibung zu sehen ist. Wie eine entsprechende Theologie des Jugendalters herausarbeitet,8 haben Jugendliche Entwicklungsaufgaben ganz eigener Art zu bewältigen. Durch ihre veränderten kognitiven Po3 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011, 26. Ferner Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Jugendlichen: Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen. Ein Werkstattbuch für die Sekundarstufe, München 2012. 4 Vgl. Bernhard Grümme, Kindertheologie: Modethema oder Bereicherung für die Religionspädagogik, in: RPB 57 Jg. 2006, 103–118. 5 Thomas Schlag / Friederich Schweitzer (wie Anm. 3), 9. 6 Veit-Jakobus Dieterich, (wie Anm. 2), 17. 7 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (wie Anm. 3), 177–189. 8 Vgl. Friedrich Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 52004. Ferner vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (wie Anm. 3), 165–176.

Grümme Braucht Jugendtheologie ein Menschenbild?

tentiale sind sie in einem ganz anderen Maße zu selbstreflexivem und abstrakten Denken in der Lage als die ans KonkretAnschauliche verwiesenen Kinder. Auch wenn sich dies im Einzelnen durchaus differenzierter darstellen mag, wie sich eben wiederum an dem Eingangstext zeigen ließe: Wohl nicht zuletzt durch eine unvergleichlich intensivere Verwiesenheit an die peers besitzen Jugendliche lange nicht die Spontaneität und ungebrochene Unmittelbarkeit, sich auf theologische Fragen überhaupt einzulassen.9 Was aber bei den noch zu differenzierenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Kindertheologie und Jugendtheologie bislang nicht im Blick zu sein scheint, ist die Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen. Anton Bucher hat weiten Teilen der Kindertheologie ein romantisierendes Kinderbild attestiert.10 Schlag und Schweitzer wollen gerade das anthropologisch-theologische Profil der Jugendtheologie betonen, wenn sie hervorheben, dass diese kein pädagogisches Programm sei, das der Theologie »etwa von außen begegnet«, sondern »vielmehr selbst auf einer theologisch-anthropologischen Sicht des Menschen und damit auch – oder besser gesagt: insbesondere – des Jugendlichen beruht«.11 Das wird behauptet, aber nicht näher erläutert oder gar begründet. Eher werden solche Annahmen gleichsam performativ als Basis der jugendtheologischen Arbeit in Anspruch genommen. Meine These lautet: Ohne eine angemessene religionspädagogische An­ thropologie sind weder die jugendtheologisch vorausgesetzten Menschenbilder zu klären und normativ zu bestimmen, weder die Jugendlichen in ihrer Theologie wahrzunehmen, zu würdigen, zu

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fördern noch ist letztlich eine bildende, also auf Autonomie und Mündigkeit orientierte normative Bestimmung der Jugendtheologie überhaupt denkbar. Es bietet sich an, diese These in drei Schritten zu erläutern und zu begründen: Erstens gilt es, sich zunächst einmal Ansatz und Profil einer Religionspädagogischen Anthropologie zu verdeutlichen. Zweitens wäre sodann der Bezug zwischen Jugendtheologie und Religionspädagogischer Anthropologie herauszuarbeiten und die Relevanz einer Religionspädagogischen Anthropologie in den genannten drei Dimensionen der Jugendtheologie zu erproben, schließlich drittens mögliche Perspektiven und Desiderate zu beleuchten. 1. Ansatz einer Religionspädagogischen Anthropologie

Bis heute ist es nicht gelungen, ein universal verbindliches Menschenbild zu konstruieren. Gerade weil der Mensch nie nur das Objekt seines Fragens, Forschens und Reflektierens, sondern stets vorgängig dazu immer auch das fragende Subjekt bleibt, gerade weil der Mensch sich aber darin nie einholen kann, bleiben Menschenbilder wissenschaftstheoretisch gesprochen zirkulär. Außerhalb 9 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich (wie Anm. 2),16ff. 10 Vgl. Anton A. Bucher, An wirklichen Kindern vorbei, und doch unersetzbar: Kinderbilder, in: JRP 20 Jg. 2004, 62–73. 11 Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Jugendtheologie in der Praxis von Schule und Gemeinde: Religionsunterricht, Konfirman­ denarbeit und Jugendarbeit; in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritisch Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 9.

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Theoretische Grundlagen

des hermeneutischen Zirkels, außerhalb des eigenen »Self-Involvement«,12 sind Menschenbilder nicht zu haben. Diese Menschenbilder sind einerseits Voraussetzungen pädagogischer wie religionspädagogischer Praxis. Wenn wir mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, dann setzen wir stets ein bestimmtes Verständnis vom Menschen voraus. Alle Bilder der Kindheit, alle pädagogischen Zielvorstellungen »manipulieren die Erziehung, aber ohne Bilder kann man nicht erziehen«, sagt Jürgen Oelkers.13 Zudem können Menschenbilder kritisch die Würde des Menschen gerade dort zur Sprache bringen, wo sie gefährdet ist. Wenn derzeit immer weniger vom Menschen, stattdessen aber von Ökonomie und einem neuen naturalistischen Materialismus die Rede ist, dann bieten bestimmte Menschenbilder ein Widerstandspotential dagegen. Andererseits neigen Bilder zu Verkrustungen und Reduktionen, wie ja schon Oelkers einräumt. Man meint zu wissen, wer der Mensch ist, man meint festlegen zu dürfen, wie der Mensch sein soll, man droht ihn auf die eigenen Vorstellungen festzulegen und formt ihn dementsprechend. Das hat mit Einordnung und Fixierung, das hat mit Macht zu tun. Deshalb wehrt man sich etwa in der Pädagogik gegen eine »Menschenbild-Pädagogik«.14 Vor dem Hintergrund einer solch dezidierten Kritik an Menschenbildern versteht es sich, dass erst recht die Rede von einem christlichen Menschenbild problematisch werden musste. Zwar sind die christlichen Vorstellungen vom Menschen geschichtlich und kulturell überformt. Es gibt deshalb auch im Christentum »unendlich viele«15 Menschenbilder. Jedoch ist es vor allem

die Anwendung des biblischen Bilderverbotes auf den Menschen, die die heftigen Vorbehalte motiviert. Für die Unterscheidung von Gott und Götzen ist es entscheidend, dass man sich von Gott kein Bild machen soll. Gott zeigt sich in seiner Göttlichkeit dadurch, dass er sich in auch bildhaft geformten Erfahrungen offenbart, alle Bilder jedoch noch einmal transzendiert und sich eben nur um den Preis des Götzendienstes darauf festlegen lässt. Das Bilderverbot will doch den Menschen im Lichte der Gotteshoffnung freisetzen von allen Fixierungen. Für Friedrich-Wilhelm Graf bleibt die Rede von einem christlichen Menschenbild deshalb schwierig, weil hier Menschen in ihrer Freiheit negiert werden.16 Pädagogisch gesehen spricht er provokativ von einem »Menschenmissbrauch in pädagogischer Absicht«.17 Diese durchaus dialektische Spannung zwischen der Unausweichlichkeit von Bildern einerseits und der radikalen Kritik an ihnen muss ausgehalten und darf nicht vorzeitig zu einer Seite hin auf12 Clemens Sedmak, Die Frage »Was ist gute Theologie«, in: Clemens Sedmak, Was ist gute Theologie, Innsbruck / Wien 2003, 18. 13 Jürgen Oelkers, Kinder sind anders, in: Waltraud Harth-Peter (Hg.), »Kinder sind anders«. Maria Montessoris Bild vom Kinde auf dem Prüfstand, Würzburg 1997, 255. 14 Jürgen Oelkers, Der Mensch als Maß des Bildungswesens, in: Eilert Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, 130. 15 Karl Lehmann, Das christliche Menschenbild in Gesellschaft und Kirche, in: Reinhold Biskup / Rolf Hasse (Hg.), Das Menschenbild in Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin / Stuttgart / Wien 2000, 56. 16 Vgl. Friedrich Graf, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009, 202. 17 Ebd., 173.

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gelöst werden. Eine angemessene Theologische Anthropologie könnte zeigen, dass diese Spannung von Bild und Bildlosigkeit dem christlichen Menschenbild selber innewohnt. Religionspädagogisch habe ich eine alteritätstheoretische Denkform ins Feld geführt, um dieser Spannung zu entsprechen und im Lichte dessen eine Religionspädagogische Anthropologie ent­wickelt.18 Sie kann das biblische Menschenbild, so im Anschluss an Rudolf Englert formuliert, »dadurch verständigungsfähig« machen, dass sie zeigt, »was sie für den Umgang mit konkreten gesellschaftlichen und individuellen Herausforderungen heute austrägt; dies aber eben nicht im Sinne einer Deduktion situativer Handlungsorientierungen aus allgemeinen Prinzipien, sondern im Sinne einer Erinnerung aus Erfahrungen, welche die ›Kirche‹ im Horizont des biblischen Menschenbildes gemacht hat«.19 Dies konterkariert ein »integralistisches Ableitungsdenken« bereits im Ansatz, nach dem pädagogische oder religionspädagogische Praxis aus einer bestimmten Anthropologie lediglich deduziert wird. Rudolf Englert spricht von einem »Kategorienfehler«. Denn das Bestreben, pädagogische Probleme zu theologisieren oder theologische Aussagen zu pädagogisieren, verkennt die »Eigenlogik« der jeweiligen Semantiken, Praxen und Methoden und vor allem die funktionale Ausdifferenzierung der Moderne mit ihrem weltanschaulichen wie wissenschaftlichen Pluralismus.20 Eine im Lichte dieser Überlegungen konzipierte Religionspädagogische Anthropologie besteht auf der Bedeutsamkeit anthropologischer Annahmen für

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religionspädagogische Praxis. Es geht um deren Selbstaufklärung, es geht um deren Gestaltung, es geht um deren Orientierung und Perspektivierung im Lichte anthropologischer Überlegungen. Dabei weiß sie darum, dass die aus der Praxis gewonnenen Erkenntnisse auf das theoretische Design zurückwirken, von dem dann wiederum veränderte Wirkungen ausgehen. Eine religionspädagogische Anthropologie situiert sich im Rahmen einer solchen Dialektik von Theorie und Praxis. Sie ist nicht an dem Menschen an sich interessiert, sondern will der konkreten menschlichen Existenz in Geschichte und Gesellschaft gerecht werden. Für sie ist nicht nur der Einzelne, sondern »auch die Idee des Menschen und der Menschheit« offensichtlich verletzbar.21 Statt den (letzt)begründenden Anspruch einer essentialistischen Anthropologie zu erheben, bleibt sie Teil »der Artikulation unserer Erfahrung«,22 die auch empirisch erhoben werden muss. Religionspädagogische Anthropologie hat also darauf zu achten, ihr »Denken möglichst in Situa-

18 Vgl. zur Grundlegung und zu Nachweisen: Bernhard Grümme, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg i.Br. 2012. 19 Rudolf Englert, Braucht, wer von Bildung redet, ein Menschenbild?, in: JRP 20 Jg. 2004, 151. 20 Vgl. Rudolf Englert, Anthropologische Voraussetzungen religiösen Lernens, in: Erwin Dirscherl, In Beziehung leben, Freiburg i.Br. 2008, 137. Vgl. für die Pädagogik: Jörg Zirfas, Pädagogik und Anthropologie. Eine Einführung, Stuttgart 2004, 13. 21 Johann Baptist Metz, Mystik der offenen Augen. Wenn Spiritualität aufbricht, Freiburg i.Br. 2011, 43. 22 Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1999, 217.

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tionsnähe« zu halten.23 Deshalb versteht sich die religionspädagogische Anthropologie als kritische Krisenreflexion, als eine Reflexion aus einer und für eine bestimmte Situation. Sie ist kritisch, insofern sie vorherrschende Gefährdungen des Menschen anfragt und dabei anthropologische Begründungsfiguren religiöser Bildung impliziter wie expliziter Art reflektiert; sie zeigt sich konstruktiv, insofern sie mit der christlichen Anthropologie eine bestimmte Tradition in das gegenwärtige Ringen um den Menschen diskursiv einbringt. Wer die Definitionsmacht innehat, verfügt in letzter Konsequenz über Macht über den Menschen. Ganz unterschiedliche Parteien streiten um die Definitionsmacht »über das ›Menschenbild‹, und dies bedeutet im politischen Klartext: um politischsoziale Macht und Herrschaft über den Menschen«.24 Um dies wissenschaftsmethodisch an­gemessen bearbeiten zu können, artikuliert sie sich im Schema von Sehen – Urteilen – Handeln. Angesichts dieser Kontextualität ist eine angemessene religionspädagogische Anthropologie korrelativ strukturiert. Sie bringt humanwissenschaftlich-anthropologische Perspektiven und theologisch-anthropologische Perspektiven in eine Konstellation, die nach der Anschlussfähigkeit wie nach Differenzen fragt. In diesem Gespräch werden humanwissenschaftliche Forschungen für eine religionspädagogische Anthropologie genauso wichtig wie die theologische Anthropologie. Umgekehrt glaubt eine solche religionspädagogische Anthropologie wiederum einen Beitrag liefern zu können für humanwissenschaftliche wie für theologische Anthropologien.25

Eine solche religionspädagogische Anthropologie entfaltet sich in verschiedenen Dimensionen. Diese sind nicht theologisch oder pädagogisch deduziert. Sie sind in dem begründet sind, was man Personerfahrung nennen könnte, und als wesentliche Implikationen dem menschlichen Erfahrungsvollzug abgelesen. So der Mensch auf seine lebensweltlichen Erfahrungen zurückkommt, entdeckt er nach Karl Rahner in sich eine »Grunderfahrung, die es zwar nicht einfach in einem absolut wortlosen und unreflektierten Erfahren gibt, die aber auch nicht in dem, was wir mit Worten sagen können, gegeben und von außen indoktriniert ist«,26 eine Erfahrung, die den wissenschaftlich ausdifferenzierten und teilweise widersprüchlichen anthropologischen Perspektiven noch voraus liegt, und aus der heraus sich unterschiedliche Dimensionen menschlicher Existenz erschließen. Diese Dimensionen können folgendermaßen benannt werden: 1. Körperlichkeit – Leiblichkeit – Geistigkeit; 2. Endlichkeit; 3. Identität; 4. Sozialität; 5. Freiheit; 6. Versagen – Schuld – Sünde; 7. Zeit; 8. Rationalität; 9. Religion. Diese einzelnen Dimensionen müssten natürlich noch erläutert und näher begründet werden. Der hier abgesteckte Rahmen verbietet dies jedoch. Doch was bedeutet dies nun im Rahmen der Jugendtheologie? 23 Josef Derbolav, zit. nach Christoph Wulf / Jörg Zirfas (Hg.), Theorien und Konzepte der pädagogischen Anthropologie, Donauwörth 1994, 10. Vgl. Josef Derbolav, Systematische Perspektiven der Pädagogik, Heidelberg 1971. 24 Friedrich Graf (wie in Anm. 16), 153. 25 Zu einem solchen Ansatz vgl. Rudolf Englert (wie in Anm. 20), 131ff. 26 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg i.Br. 1984, 37.

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2. Die Bedeutung religionspädagogischer Anthropologie für die Jugendtheologie

Gewiss haben Thomas Schlag und Friedrich Schweitzer Recht, wenn sie auf die Nichtidentität zwischen Jugendtheologie und Religionspädagogik hinweisen.27 Beide sind nicht identisch, haben aber ganz erhebliche Überschneidungen. Was also religionspädagogisch soeben zu einer religionspädagogischen Anthropologie gesagt wurde, gilt mutatis mutandis auch für die Jugendtheologie. Die relative Eigenlogik der Jugendtheologie erfordert jedoch spezifische Akzentsetzungen und Konkretisierungen. Insofern die religionspädagogische Anthropologie den Begriff eines gottbegabten, in seiner Freiheit verantwortlichen Menschen vor Gott in Geschichte und Gesellschaft zu profilieren versucht, situiert sich die Jugendtheologie in genau diesen Bahnen. Jugendtheologie, verstanden als Radikalisierung der Subjektorientierung, ist nicht nur in ihren wesentlichen Zügen anschlussfähig an die formalen, inhaltlichen wie normativen Momente der Religionspädagogischen Anthropologie. Sie kann in erheblichem Maße davon profitieren. 1. Formal kann sie insofern profitieren, als der konkrete Vollzug der Jugendtheologie ein bestimmtes Menschenbild und damit auch eine bestimmte Anthropologie impliziert, um überhaupt Jugendtheologie für sinnvoll halten, begründen, durchführen und ausrichten zu können. Die Fragen, wo will ich hin, was setze ich voraus, was traue ich zu, dokumentieren eindrucksvoll die jugendtheologische Relevanz religionspädagogischer Anthropologie. Bestimmte Grundannahmen

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wie Freiheit, Subjektorientierung, Vernunft, kurzum all jene Dimensionen, die ich oben genannt habe, sind eine elementare, zumeist aber unausgewiesene, stillschweigend vorausgesetzte Basis. 2. Inhaltlich ist dies insofern relevant, als die Religionspädagogische Anthropologie in der Ausdifferenziertheit ihrer Dimensionen in den Prozess des Theologisierens Jugendlicher eingespielt wird. 3. Normativ ist dies deshalb relevant, weil in der religionspädagogischen Anthropologie mit dem Begriff eines gottbegabten, in seiner Freiheit verantwortlichen Menschen in Geschichte und Gesellschaft jene Zielhorizonte und Begründungen religiöser und theologischer Lernprozesse artikuliert sind, die die Jugendtheologie auf ihre Weise formuliert. Aus dem oben entwickelten Profil der Jugendtheologie als Theologie der Jugendlichen, mit Jugendlichen, für Jugendliche heraus artikuliert sich die religionspädagogische Anthropologie so, dass sie bestimmte Dimensionen in besonderer Weise jeweils akzentuiert, obschon sie für alle Dimensionen Anwendung finden kann. Ich sehe vor allem 3 Momente: 1. Die analytisch-empirische Ausrichtung religionspädagogischer Anthropologie kann die Eigenlogik der Äußerungen Jugendlicher würdigen bis in die Formen impliziter und persönlicher Theologie hinein.28 Sie erscheint damit in besonderer Weise für eine Theologie der Jugendlichen bedeutungsvoll. Hier liegt nicht nur eine Anschlussfähigkeit 27 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (wie Anm. 3), 15ff. 28 Vgl. die Unterscheidungen bei Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (wie Anm. 3), 179.

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für jene empirischen Forschungsprojekte, die bereits bei Jugendlichen vorhandene Menschenbilder als Grundlage religiöser Bildungsprozesse reflektieren.29 Wegen der zugrunde gelegten TheoriePraxis-Dialektik und der dialektischen Verhältnisbestimmung von Hermeneutik und Empirie haben aber die jugendtheologischen Äußerungen ihrerseits Relevanz für den Erkenntnisfortschritt und das Selbstverständnis der religionspädagogischen Anthropologie. Wie Veit-Jakobus Dieterich am Eingangsbeispiel der Auseinandersetzung mit der Genmanipulation nachweist, treiben die Reflexionen der Jugendlichen das Nachdenken so voran, dass am Ende der Sache nach Argumente erreicht werden, die auch im wissenschaftlichen Diskurs etwa von Jürgen Habermas vertreten werden.30 2. Der ideologiekritisch-kontextuelle Zug religionspädagogischer Anthropologie hilft bereits vorhandene Menschenbilder wahrzunehmen, zu analysieren und kritisch zu befragen etwa hinsichtlich unreflektierter dehumanisierender Faktoren. Dies gilt für die Anthropologien der Jugendlichen wie die der beteiligten Erwachsenen. Es ist eben auch das Menschenbild, das die Pädagogik eines Rousseau von der eines AugustHermann Francke unterscheidet und im Hintergrund steht. Wo ersterer von dem natürlichen Gutsein des Menschen ausgeht und dem Handeln des Menschen die verderblichen Einflüsse zuspricht, so geht letzterer von einer erbsündig verdorbenen Natur des Menschen aus, die durch Erziehung als Weg der Buße und Reinigung geläutert werden kann.31 Vor allem im Rahmen einer Theologie der Jugendlichen wie im Rahmen einer Theologie mit Jugendlichen wird dieser ideo-

logiekritisch-kontextuelle Zug im Sinne einer kritischen kontextuellen Reflexion, einer Selbstaufklärung vorhandener Praxis und noch zu bestimmender Praxis relevant. An unserem Beispiel könnte dies an die kritische Auseinandersetzung von Björn mit einem mechanistisch-naturalistischen Menschenbild anschließen, der sich dagegen verwahrt, dass durch Genmanipulation der Mensch »eher irgendwie maschinell gebaut« wäre und es »hundertmal eine person« geben würde.32 Neben eine subjektbezogene Theologie des Jugendalters muss allerdings in kritischer Verschränkung damit eine Soziologie des Jugendalters treten. Es macht einen kategorialen Unterschied aus, ob Jugendtheologie im ökonomisch relativ prosperierenden Ludwigsburg betrieben wird oder in Bochum mit mehr als 16% Arbeitslosigkeit. Man könnte vor dem Hintergrund der Soziolinguistik Bernsteins und der Habitustheorie Bourdieus einen restringierten von einem elaborierten Code unterscheiden, 29 Katrin Bederna, Was ist der Mensch? Eine qualitativ-empirische Studie zur Anthropologie Jugendlicher, in: Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Praktische Theologie – empirisch. Methoden, Ergebnisse und Nutzen, Berlin 2011, 5–24. 30 Vgl. nach Veit-Jakobus Dieterich (wie Anm. 1), 54. 31 Vgl. Eckart Liebau, Braucht die Pädagogik ein Menschenbild, JRP 20 Jg. 2004, 125. »Wohl aber geht jede Erziehung und Bildung von einem bestimmten Verständnis von Mensch und Wirklichkeit aus«: Friedrich Schweitzer, Pädagogik und Religion. Eine Einführung, Stuttgart, 2003, 133. Vgl. ferner Reinhold Boschki, Menschenbild und hamartiologisch sensible Pädagogik: Paulus oder Rousseau?, in: Michael Schulz / Helmut Hoping (Hg.), Unheilvolles Erbe?, Freiburg i.Br. 2009, 77–97. 32 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich (wie Anm. 1), 54.

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und sich die Frage stellen, ob nicht der stark kognitive und diskursorientierte Akzent der Jugendtheologie nicht unter der Hand zu der etwa bereits seitens der Politikdidaktik uns Religionspädagogen attestierten Mittelschichtorientierung und damit wider Willen zu einer Segregation von Bildung beiträgt? Wie Frank Lütze an Hauptschülern gezeigt hat, hat ein bestimmter Habitus Auswirkungen auf die jeweilige Konstruktion des GottMensch-Verhältnisses. Hauptschüler begreifen sich eher in einem durch Zwänge vorgegebenen Rahmen. Damit korreliert eine Gotteskonstruktion, die im signifikanten Unterschied zu Schülern anderer Schulformen weniger das Dialogische, sondern Aspekte wie Macht, wie Weltenlenkung, wie Vorsehung in den Vordergrund stellt.33 Eine kritische religionspädagogische Anthropologie könnte hierfür sensibel machen und weiterführende Impulse in die Jugendtheologie kontextabhängig einbringen. 3. Die von mir vorgenommene Bestimmung der inhaltlich-normativen Ausrichtung religionspädagogischer Anthropologie wirkt sich gerade im Zusammenhang der Theologie für Jugendliche, aber auch im Kontext der Theologie mit Jugendlichen als Verstärkung der jugendtheologischen Subjektorientierung und ihres Autonomiepostulats aus. Die religionspädagogische Anthropologie besitzt durch ihre empirisch-hermeneutische Ausrichtung gewissermaßen eine phänomenologische Sensibilität für implizite wie explizite Theologie Jugendlicher. Dies macht ja bereits das erste Moment deutlich. Sie bietet zugleich mit ihren Dimensionen ein Suchraster, mit deren Hilfe dann die jeweiligen Aspekte der Theologie Jugendlicher dechiffriert

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und entsprechende Inhalte eingebracht werden können. Bestimmte Inhalte der Tradition einzuspielen muss dabei stets im Dienste der immer noch zu erringenden Subjektwerdung der Jugendlichen stehen. Der aus einer religionspädagogischen Anthropologie für Lernprozesse integrale Begriff einer Sprachschule der Freiheit dient als Kriterium, an der sich insbesondere eine Theologie für Jugendliche auszurichten hat. Im Kontext unseres Genmanipulations-Beispiels würde dies bedeuten, dass insbesondere die Dimensionen Freiheit, Identität, Endlichkeit, Sozialität berührt sind und eine religionspädagogische Anthropologie in diesen Zusammenhang die schöpfungstheologische Rede vom Menschen einspielen kann, der sich inmitten seiner Endlichkeit, Kontingenz und Sterblichkeit als gewollt, beschenkt und bejaht annehmen, sich in seiner praktischen Verantwortung für die Anderen und für die Schöpfung wahrnehmen lernen und sich doch im letzten von dieser unbedingten Freiheit von selbsterlösenden und selbstperfektionierenden Machbarkeitsphantasien befreit sehen kann. 3. Fazit und Desiderate

Es ist, so denke ich, deutlich geworden, dass die Jugendtheologie ein Menschenbild braucht. Nein, genauer: sie braucht eigentlich kein Menschenbild. Sie steht 33 Vgl. Frank M. Lütze, Religionslehrer/in an Hauptschulen werden. Überlegungen zu schulformspezifischen Akzenten im theologischen Studium; in: Theo-Web, 10 Jg. 2011, Heft 2, 93–96.

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bereits im Raum von anthropologischen Hintergrundannahmen, ohne sich freilich dessen in der nötigen Tiefe bewusst zu sein. Deshalb braucht die Jugendtheologie vor allem eine Religionspädagogische Anthropologie. In Analogie zu der von Schweitzer und Schlag vorgenommenen dialogischen Verhältnisbestimmung von Theologie der Kindheit und Kindertheologie bzw. Theologie des Jugendalters und Jugendtheologie könnte man eine solche Religionspädagogische Anthropologie in ein ebenso dialogisches Verhältnis zur Anthropologie Jugendlicher setzen, von der unser Eingangszitat ja beredtes Zeugnis gibt.34 Was ich bislang nur in kurzen Strichen andeuten konnte wäre noch deutlicher zu konturieren. Dabei die drei Perspektiven einer Theologie der Jugendlichen, mit Jugendlichen und für Jugendliche als Leithorizonte zu nehmen, erscheint deshalb weiterführend, weil hierdurch die Religionspädagogische Anthropologie wesentlich zielgenauer artikuliert werden kann. Klärungsbedarf sehe ich in zweierlei Hinsicht: Zum einen sehe ich Klärungsbedarf, wie denn eine Anknüpfung hergestellt werden kann zwischen den von Jugendlichen selber erarbeiteten Theologoumena einerseits und denen der Tradition. Wie sollen empirische Erhebungen zur Anthropologie etwa ins Gespräch mit anthropologischen Deutungen der jüdisch-christlichen Tradition konfrontiert werden? Soll dies im Muster korrelativer Verhältnisbestimmung erfolgen? Wenn Jugendtheologie und Religionspädagogik nicht identisch sind, bedeutet dies eine spezifische Akzentuierung der Korrelationsdidaktik? Nur wie sehe die

aus? Schweitzer und Schlag haben hier ja Vorarbeiten durch Rückgriff auf die Elementarisierungpädagogik geleistet. Zum anderen bleibt der Theologiebegriff klärungsbedürftig. Schlag und Schweitzer wehren die These Anton Buchers meines Erachtens viel zu schnell ab, dass Jugendliche sich selber nicht als Theologen verstehen wollen und sich so gegen eine gewissermaßen berufsspezifische Vereinnahmung durch uns Religionspädagogen verwahren.35 Zwar unterscheiden Schlag und Schweitzer im Blick auf Härle, Wiedenhöfer und Rahner einen weiten und einen engen Theologiebegriff in der Unterscheidung von theologischen Laien und theologischen Experten.36 Das ist sinnvoll und zielführend, solange man sich im Sprachspiel des Glaubens befindet. Jeweils geht es darum, Theologie als Glaubensreflexion zu begreifen, einen wie auch immer explizit und reflektiert vorhandenen Glauben vor sich zu bringen und vor sich und anderen auszuweisen.37 Was aber, wenn man diesen Horizont des Glaubens nun eben nicht voraussetzen kann? Setzt dies einen so weiten Glaubensbegriff voraus, für den am Ende alle Katzen grau sind? Es geht um Glauben, nicht um Getauftsein und Kirchenzugehörigkeit. Für Katechese 34 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (wie Anm. 3), 171–175. 35 Vgl. Anton Bucher, Sind Jugendliche auch für Jugendliche Theologen? Eine Pilotstudie und konzeptionelle Überlegungen, in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie. Grundlagen – Beispiele – kritisch Diskussion, Neukirchen-Vluyn 2012, 102–110. 36 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (wie Anm. 3), 22–24.42–51. 37 Vgl. Jürgen Werbick, Einführung in die Theologische Wissenschaftslehre, Freiburg i.Br. 2010, 33–78.

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und kirchliche Jugendarbeit gilt – wenn überhaupt – vielleicht eher noch das, was für den RU nicht gilt, nämlich von einem »bereits vorhandenen Einverständnis« (K.E. Nipkow) ausgehen zu können. Wo bleibt andererseits dann der Unterschied zu einem Zugriff, der Jugendtheologie auf Religion bezieht, nicht auf Glauben? Wo ist das Theologische, wo ist andererseits die Differenz zur Religionswissenschaft, die in der Außenperspektive verbleibt? Will die Jugendtheologie die Jugendlichen radikal ernst nehmen und sich deshalb vor einer irgendwie gearteten Vereinnahmung hüten, müsste sie wenigstens noch intensiver zwischen den Orten der Jugendtheologie unterscheiden und sich dementsprechend katego-

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rial und im Wissenschaftsdiskurs selber ausdifferenzieren. Jugendtheologie geht es um die reflexive und kommunikative Kompetenz der Jugendlichen im Dienste ihrer Autonomie in der domain Religion. Es ist wichtig, Religiosität, Religion und Glaube zu unterscheiden. Könnte man nicht das Anliegen der Jugendtheologie besser würdigen, wenn man nicht von Jugendtheologie spricht? Man müsste deutlich machen, dass man sich im Bereich der Religion bewegt, aber anders als die Religionswissenschaft durchaus und wesentlich in einer erfahrungsgesättigten Innenperspektive. Was aber wäre die Alternative? Wenn ich es wüsste, wäre es für mich kein Desiderat mehr.

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Henning Schluß Anthropologie des Jugendalters – Pädagogische Perspektiven

Wenn wir aus einer pädagogischen Perspektive nach der Anthropologie des Jugendalters fragen, dann ist es naheliegend, zuerst die Bedeutung der Anthropologie für die Pädagogik überhaupt zu klären. Dem möchte ich in einem ersten Zugang mit einer irreführenden Erinnerung an Émile Durkheims Beschreibung der Pädagogik nachgehen. Sodann sollen beispielhaft unterschiedliche anthropologische Zugänge vorgestellt und diskutiert werden, die für die Pädagogik zu leisten versprechen, was sie sich von ihnen erhofft. Schließlich soll in einem dritten Zugang versucht werden, einen vermutlich enttäuschend geringen Beitrag der Anthropologie des Jugendalters aus einer pädagogischen Perspektive festzuhalten. Einer gleichwohl, der mir wesentlich zu sein scheint. 1. Funktion der Anthropologie in der Pädagogik: Durkheim, pädagogische Klassiker

Émile Durkheim, einer der Gründer der Soziologie, der aber eigentlich immer auch auf pädagogischen Lehrstühlen lehrte, hält seine berühmte Vorlesung zum Verhältnis von Soziologie und Erziehung an der Pariser Sorbonne im Jahre 1902, vier Jahre bevor er dort Ordinarius für Erziehungswissenschaft

wird. Durkheim verficht in seiner Vorlesung die These »daß die Erziehung eine eminent soziale Angelegenheit ist, und zwar durch ihren Ursprung wie durch ihre Funktionen, und daß folglich die Pädagogik stärker von der Soziologie abhängt als jede andere Wissenschaft«.1 Allerdings soll uns hier nicht so sehr die Lösung seines Vortrages interessieren als vielmehr seine Problembeschreibung. Durkheim beginnt mit einer Analyse der wissenschaftlichen Pädagogik, wie er sie vorzufinden meint. »Bis in die letzten Jahre – und die Ausnahmen können heute noch gezählt werden – stimmten die modernen Pädagogen fast einmütig darin überein, in der Erziehung eine rein individuelle Angelegenheit zu sehen«.2 Die Pädagogen, die Durkheim aufzählt, sind Kant, Mill, Herbart und Spencer, für die die Erziehung vor allem den Zweck habe, »in jedem Individuum (und zwar bis zur höchstmöglichen Vollendung) die für wesentlich gehaltenen Eigenschaften der menschlichen Gattung schlechthin zur Vollendung zu bringen«.3 Aufschlussreich ist, dass er als Franzose Rousseau

1 Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1984, hier zitiert nach ders., Erziehung und Gesellschaft. In: Franzjörg Baumgart (Hg.), Theorien der Sozialisation, Bad Heilbrunn 42008, 44–57, 44. 2 Ebd. 3 Ebd.

Schluß Anthropologie des Jugendalters – Pädagogische Perspektiven

nicht in dieser Reihe aufzählt, obwohl doch Rousseau mit seinem Émile geradezu paradigmatisch für das Individualverhältnis stehen könnte. Durkheim will an dieser Stelle aber auf einen anderen Punkt hinaus, nämlich auf die Bestimmung eines Ideals, zu dem hin erzogen werden solle. »Man setzte als unbestreitbare Wahrheit voraus, daß es nur eine einzige Erziehung gäbe, die unter Ausschluß einer jeden anderen unterschiedslos allen Menschen entspricht, wie immer auch die historischen und sozialen Bedingungen sein mögen, von denen sie abhängen. Dieses abstrakte und einzige Ideal zu bestimmen, nahmen sich die Erziehungstheoretiker vor«.4 »Man nahm an, daß es nur eine menschliche Natur gibt, deren Formen und Eigenschaften ein für alle Mal bestimmbar waren. Das pädagogische Problem bestand darin, zu erforschen, auf welche Weise die erzieherische Tätigkeit auf diese derart definierte menschliche Natur zu wirken habe«.5 Aus dieser Analyse zieht Durkheim zwei folgenschwere Schlüsse: Der erste lautet: »Da der Mensch in sich selbst alle Keime seiner Entwicklung trägt, muß man einzig und allein ihn beobachten, wenn man zu bestimmen versucht, in welchem Sinn und auf welche Weise diese Entwicklung gelenkt werden soll. Wichtig ist nur zu wissen, welches seine eingeborenen Fähigkeiten sind und welcher Art ihre Natur ist«.6 Damit charakterisiert er die traditionelle Wissenschaft von der Pädagogik als eine, der es darum zu tun gewesen sei, das Individuum wachsen zu lassen. In den 1920er Jahren hat Theodor Litt zwei Konzepte der Pädagogik unterschieden. In seinem Büchlein: »Führen oder Wachsenlassen« mein-

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te Litt, diese beiden Prinzipien stritten seit alters her in der Pädagogik. Litts Lösung ist, dass eine Alternative zwischen diesen beiden Prinzipien unsinnig sei, es vielmehr darauf ankomme, sie miteinander sinnvoll zu verbinden. Durkheim dagegen meint, dass es die Wissenschaft der Pädagogik vor allem mit dem zu tun haben will, was Litt das »Wachsenlassen« nennen wird. Der zweite folgenschwere Schluss Durkheims ist: »Die Wissenschaft aber, die den individuellen Menschen zu beschreiben und zu erklären strebt, ist die Psychologie«.7 Somit rekonstruiert Durkheim, weshalb die Psychologie für die traditionelle Erziehungswissenschaft die fundamentale Rolle spielen solle. Weil sie nämlich die Wissenschaft vom individuellen Menschen sei und damit seine Natur erkunden könne und damit das Ziel der Erziehung markieren könne. Bereits hier unterläuft Durkheim ein folgenschwerer Kategorienfehler, der aber auch erklärbar macht, weshalb sich sein Konzept der Bildungssoziologie so wenig auf die Pädagogik ausgewirkt hat. Durkheims Analyse geht davon aus, dass die Psychologie für die Pädagogik eine normative Aufgabe habe, dass sie also der Pädagogik das Ziel anmessen könne. Tatsächlich ist das unter einer Bedingung auch der Fall, dass nämlich die menschliche Natur als das Ziel der Erziehung angesehen wird, wie in jenem berühmten Satz Rousseaus: »Das Ziel der Erziehung – das habe ich soeben erwiesen, 4 Ebd., 44f. 5 Ebd., 45. 6 Ebd. 7 Ebd.

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Theoretische Grundlagen

es ist die Natur selber«.8 Rousseau stellt dem Erziehungsziel der Erziehung zum Bürger, der der Gesellschaft entspricht, das Erziehungsziel des Menschen, der der Natur entspricht, klar gegenüber. Allerdings ist schon die zeitgenössische Rezeption dieses Erziehungsziels »Natur« alles andere als zustimmend. Voltaires Candide karikiert vor allem zwei philosophische Konzepte, indem er sie auf die Spitze treibt: das ist zum einen Leibnitz’ Vorstellung, von der besten aller möglichen Welten und es ist Rousseaus Konzept von der guten Natur. Noch drastischer wird Rousseaus Konzept der guten Natur in den Werken des Marquis de Sade beim Wort genommen. Die philosophischen Begründungen für alle Folterungen, Quälereien und Vergewaltigungen bei de Sade sind fast wörtlich dem Rousseauschen Argument entnommen, mit einer kleinen Akzentverschiebung: Die Sadisten argumentieren, wenn diese menschenverachtenden Neigungen in mir sind, so sind sie doch wohl meine Natur (denn die Gesellschaft lehnt sie ja ab, von ihr können sie also nicht kommen) und wenn ich diesen Neigungen nachgebe, so folge ich damit nur dem Gebot der Natur. Wider die eigene Natur etwas zu tun, sei nicht gut, vielmehr verkörpere die Natur ja das Gute, ihr zu entsprechen heiße also, gut zu handeln.9 Die deutschen Philanthropen waren, wie Kant, tief beeindruckt von Rousseaus Erziehungsroman. Dennoch widersprachen sie gerade seiner Sonderstellung der Natur entschieden. Im Abdruck des Émile im Revisionswerk wird deutlich, dass an seinem Dual von Mensch und Bürger, von Natur und Gesellschaft, sich der heftigste und einhellige Widerstand der philanthropischen Herausgeber ent-

zündet. Im Schriftbild kommt auf einen Satz Rousseaus in diesem Zusammenhang eine Seite Kommentar der Philanthropen.10 Rousseau stellt mit seiner Wertschätzung der Natur als normative Zielvorgabe der Erziehung nicht den Standard, sondern die Ausnahme dar. Gleichwohl hat Durkheim nicht ganz Unrecht. Die Natur als Argument spielt bei maßgeblichen Klassikern der Pädagogik eine entscheidende Rolle, allerdings nicht als Zielbeschreibung. Vielmehr sind sich die Begründer der Pädagogik als Wissenschaft im 19. Jahrhundert weitgehend einig, dass die Natur als Argument da zum Zuge kommt, wo es um die anthropologischen Voraussetzungen der Pädagogik geht. Die anthropologischen Voraussetzungen bestimmen, was wir überhaupt sein können. Sie entscheiden, ob pädagogische Zielbestimmungen sinnvoll sind. Wenn eine pädagogische Zielbestimmung z.B. lautete, zu fliegen, dann würde uns die Besinnung auf die anthropologischen Voraussetzungen darüber aufklären, dass ein solches Ziel unsinnig ist, denn »es wird nie ein Mensch fliegen« – um Bertolt Brechts Gedicht vom »Schneider von Ulm« etwas gegen seine Intention zu zitieren. Die Klärung der anthropologischen Voraussetzungen – in diesem Fall eher der physiologischen als der psychologischen – hilft der Päda8 Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, Paderborn / München / Wien / Zürich 1971, 11. 9 Vgl. Marquis De Sade, Justine oder die Leiden der Tugend, Köln 1995, 247–253 u.ö. 10 Johann Heinrich Campe (Hg.), Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft practischer Erzieher. Zwölfter Theil, Wien / Braunschweig 1789, 4ff.

Schluß Anthropologie des Jugendalters – Pädagogische Perspektiven

gogik, dieses Ziel als unsinnig zu erkennen und davon abzulassen. Der Besinnung auf die Natur des Menschen kommt in den traditionellen pädagogischen Konzepten die Bestimmung des Möglichkeitsraumes des Zieles der Pädagogik zu. Dabei waren die pädagogischen Theoretiker durchaus nicht einig, wie konkret sich dieser Möglichkeitsraum bestimmen lässt. Bei Schleiermacher bleibt die Frage, wie die anthropologischen Voraussetzungen aussehen, unentschieden. Er hält aber immerhin fest, dass die pädagogische Theorie nicht fehl gehen dürfe, wenn das eine oder das andere der Fall sei, wenn die Möglichkeiten der Pädagogik also sehr weitgehend oder nur sehr eng gefasst seien.11 Sein Zeitgenosse Herbart dagegen war optimistischer, was die inhaltliche Bestimmung der anthropologischen Voraussetzungen anging. Die Wissenschaft, die für ihn diese anthropologischen Voraussetzungen aufhellen sollte, war die Psychologie. Weil er aber die Psychologie seiner Zeit noch lange nicht so weit fand, diese Möglichkeiten genau bestimmen zu können, wurde er kurzerhand auch zu einem der Begründer der wissenschaftlichen Psychologie.12 Allerdings konnte er auch da die anthropologischen Voraussetzungen nicht vollständig klären. Weder Schleiermacher noch Herbart, weder Schiller noch Humboldt, weder Kant noch Basedow, weder Salzmann noch von Rochow haben aber gemeint, dass das Ziel der Pädagogik sich aus den anthropologischen Anlagen, mittels Psychologie, aus der Natur ableiten lasse. Dazu, woher das Ziel der Erziehung komme, haben sie andere Überlegungen angestellt. Häufig leiteten Sie das Ziel aus der Ethik ab (Schleiermacher), der

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Theologie oder den Anforderungen der Gesellschaft (die Philanthropen immerhin zum Teil) oder der Ästhetik (Herbart und Schiller). 2. Die Wissenschaften von den Voraussetzungen der Pädagogik: Anthropologie – (Entwicklungs)psychologie – Physiologie

Im »Pädagogischen Lexikon«, das im Auftrag des Deutschen Evangelischen Kirchentages von Hans-Hermann Groothoff und Martin Stallmann 1961 herausgegeben wurde, findet sich ein fester Bezugspunkt, wenn wir den Begriff der Jugend nachschlagen: Hans-Otto Wölber, der lange als Jugendpastor in Hamburg gewirkt hatte, bevor er 1956 zum Hauptpastor an St. Nikolai berufen und später Bischof der Hansestadt wurde, weiß da noch zu berichten: »Begriff und Wirklichkeit der Jugend sind vielschichtig. Es geht zunächst um die Grundtatsache der Generationenfolge mit der Aufgabe der Erziehung der als Jugend verstandenen Folgegeneration. Jugend ist eine Tatsache des Lebens. Immer wieder wird nachträglich aufgearbeitet, was anthropologisch Standortbestimmung und pädagogischer Auftrag gegenüber der Jugend sein kann«.13 Wölber war anschei11 Vgl. Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Theorien der Erziehung – Die Vorlesung aus dem Jahre 1826, in: Ders., Ausgewählte pädagogische Schriften, Paderborn 1959, 50f. 12 Vgl. Johann Friedrich Herbart, Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, Königsberg 1824. 13 Hans-Otto Wölber, Jugend I. Allgemein, in: Hans-Hermann Groothoff / Martin Stallmann (Hg.), Pädagogischen Lexikon, Stuttgart, 1961, 425.

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nend noch ziemlich sicher, dass das Phänomen Jugend zumindest begrifflich in den Griff zu bekommen sei. Auch ihre lebenszeitliche Abgrenzung gelingt ihm klar und schnörkellos. »Jugend im eigentlichen Sinne beginnt mit der biologischen Reifung, der Pubertät, sie endet mit der Erlangung der Mündigkeit«.14 Im Abschnitt der anthropologischen Merkmale des Jugendalters im gleichen Artikel kann Wölber diese durchaus dingfest machen: »Anthropologische Merkmale des Jugendalters gibt es trotz der Vielfalt seiner geschichtlichen und individuellen Wandlungen. Ihr durchgehender Charakter erlaubt es, verallgemeinernd von »der Jugend« zu sprechen. Zunächst geht es um das für die Reifung des Menschen so wesentliche Gegenüber der Generationen. In keinem anderen Lebensabschnitt wird es so deutlich wahrgenommen wie in diesem. Krisen in den Elternhäusern sind nicht vor allem von elterlichen Erziehungsfehlern oder auch von konstitutionellen Schwierigkeiten des jungen Menschen bestimmt, sondern stellen ein notwendiges Mittel der Persönlichkeitsbildung dar«.15 Mit gleichem Recht würde man es auch als »anthropologische Grundtatsache« bezeichnen können, dass Pubertät das Alter sei, in dem die Eltern anfangen, schwierig zu werden. Ob hier also eher der Seelsorger der Eltern die »anthropologischen Grundtatsachen« des Jugendalters beschreibt als der distanzierte Wissenschaftler, darf gefragt werden. Ein solcher Eindruck verstärkt sich, betrachtet man andere Beschreibungen des Jugendalters im Vergleich. Eduard Spranger beginnt sein stilbildendes Werk zur »Psychologie des Jugendalters« 1924 mit den Sätzen: »In keinem Lebensalter

hat der Mensch ein so starkes Bedürfnis nach Verstandenwerden wie in der Jugendzeit. Es ist, als ob nur durch ein tiefes Verstehen dem werdenden Wesen herausgeholfen werden könnte«.16 Nun liegt es mir fern, Sprangers Sichtweise auf den Komplex Jugend von 1924 als die Richtigere im Vergleich zu Wölbers von 1961 zu bezeichnen. Was auffällt ist lediglich, dass das, was als anthropologische Grundtatsachen beschrieben wird, erheblich variiert und anscheinend die Schönheit hier ziemlich im Auge des Betrachters liegt. Wird ein Mensch in einer schwierigen, aber notwendigen Durchgangsphase gesehen, die durchgestanden werden muss, oder ein selten sensibler, bei dem das Verstandenwerden-Wollen das zentrale Motiv seiner Lebensphase ist, beides liegt wohl weniger an den Jugendlichen als an der Beschreibung der »unbezweifelbaren Grundtatsachen«. Auch in Sprangers Beschreibung findet sich vieles, das wir heute nicht unbedingt mit Jugend in Verbindung bringen: »Tagebücher werden angelegt, Briefwechsel werden geführt, nicht um sich gegenseitig auszusprechen, sondern um sich selbst zu bespiegeln im Schreiben und Empfangen. Lyrische Gedichte sollen Gefühlsentladung bringen«.17 Oder aber das tiefe Versinken in die Lektüre, vorzugsweise Goethes Werther – auch das, angesichts der PISA-Ergebnisse für einen Großteil der Jugendlichen nicht ein-

14 Ebd. 15 Ebd., 426. 16 Eduard Spranger, Psychologie des Jugendalters, Leipzig, 1924, 1; aufschlussreich ist, dass Spranger seine Psychologie als verstehende Psychologie beschreibt. 17 Ebd., 41.

Schluß Anthropologie des Jugendalters – Pädagogische Perspektiven

mal mehr theoretisch möglich, und auch der »Fänger im Roggen« wird da kaum ein anderes Schicksal erleiden. Oder: »Nicht die Aufgeschlossenheit, sondern Verschlossenheit ist der sichtbarste Zug, der das seelische Erwachen ankündigt. An die Stelle kindlicher Offenheit und Vertrautheit tritt […] schweigende Zurückhaltung, scheues Ausweichen, seelische Berührungsfurcht«.18 »Im Gegensatz zu den Erscheinungen des reifen Alters ist die Seele des männlichen Geschlechts in diesen Jahren noch viel unauffindbarer als die des weiblichen«.19 Auch wenn es dieses Scheue sicher noch immer gibt, so gibt es aber eben auch eine Jugend, die sich in »Deutschland sucht den Superstar« zur Schau stellt. 2.1 Entwicklungspsychologische Überlegungen zum Jugendalter

Neben einem allgemeinen Verständnis der Psychologie ist es vor allem ihre Unterdisziplin, die Entwicklungspsychologie, die im Hinblick auf anthropologische Perspektiven des Jugendalters Auskunft geben könnte. Freilich ist insbesondere in der Religionspädagogik die Leistungsfähigkeit der Entwicklungspsychologie zuweilen überschätzt worden, indem man glaubte, sie schreibe uns vor, was der Mensch in einer bestimmten Alterskohorte können durfte und was nicht, wie weit seine moralische Entwicklung, auf welcher Stufe seine religiöse Kompetenz, seine Abstraktionsfähigkeit und sein mathematisches Verstehen entwickelt sein sollte und damit auch war. Stundenentwürfe wurden nicht selten danach beurteilt, ob die Jugendlichen das überhaupt können konnten, was sie können sollten,

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ja sogar, was sie konnten, weil die entwicklungspsychologischen Theorien als unumstößliche Wahrheiten genommen wurden. Wie konnte man in einem Stundenentwurf nur wagen, die moralische Kompetenz über ein bestimmtes Niveau hinaus zu fördern, das bestenfalls eine Stufe über dem lag, das die Jugendlichen laut Kohlberg haben durften – oder aber eine Oser-Gmündersche Glaubensstufe überspringen? Interessanterweise ist es gerade das gängigste Lehrbuch zur Entwicklungspsychologie selber, dass hier wieder zu einem etwas entspannterem Umgang mit der Entwicklungspsychologie führen könnte. Der Klassiker der Nachschlagewerke zum Thema: Oerter / Montada, war 1998 in seiner vierten Auflage auf nahezu 1300 Seiten angewachsen. Sein Nachfolger, Schneider / Lindenberger 2012 ist nun auf 900 Seiten abgeschmolzen. Wenn man jedenfalls unter Jugendalter bei Oerter / Montada nachschlägt, wird man mit einer solchen Vielzahl von entwicklungspsychologischen Theorien konfrontiert, dass die Gefahr, ausgerechnet eine davon mit der unumstößlichen Wahrheit über das Jugendalter zu verwechseln, relativ gering ist, obwohl gerade die thematische Anordnung der Konzepte im Handbuch dazu zu verleiten scheint. Erinnert sei an die Altersangaben, die Piaget für die Entwicklung des moralischen Bewusstseins machte. Er gab an, dass nach seiner empirischen Erhebung sich das moralische Bewusstsein beim Kinde im Alter von ca. 6 Jahren entwickle. Er hatte Kinder beim Murmelspiel beobachtet und bemerkt, dass diese nun 18 Ebd., 1. 19 Ebd.

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Theoretische Grundlagen

nicht mehr nur Regeln anerkennen, weil sie von Autoritätspersonen repräsentiert werden, sondern, obwohl man ihre Veränderbarkeit erkennt, sie sogar selbst verändert, sich daran hält, weil sonst das gemeinsame Spiel der Gleichaltrigen nicht funktioniert. Nun kann man allerdings die Beobachtungen, die Piaget erst 6-Jährigen zutraute, heute in jedem Kindergarten bei 3-Jährigen machen. Somit ließe sich schlussfolgern, dass unsere anthropologische Entwicklung in der kurzen Zeit von nicht einmal einem Jahrhundert erhebliche Fortschritte gemacht hat, wenn wir nun in der Hälfte der Zeit zu einem moralischen Regelbewusstsein kommen, zu dem in den 1920er Jahren erst 6-Jährige kamen. Viel wahrscheinlicher ist aber die Erklärung, dass Schweizer Mittelschichtkinder in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Gleichaltrigen ohne ständige Intervention von Erwachsenen erst mit der Einschulung in Berührung kamen. Aber auch in der aktuellen Entwicklungspsychologie finden sich immer wieder Sätze wie: Auf der emotionalen und sozialen Ebene ist die Beziehung zu Gleichaltrigen (so genannten Peers) verstärkt wichtig. Aufgrund von Autonomiestreben verbringen die Jugendlichen in diesem Alter weniger Zeit mit den Eltern oder Geschwistern, sondern mehr mit Gleichaltrigen. Die entstehenden Peer-Gruppen sind zumeist gleichgeschlechtliche Cliquen. Die Konformität mit dem Gruppendruck nimmt zu. Es wird angenommen, dass Heranwachsende in der Pubertät eher nachgeben, wenn sie durch Gruppendruck zu Straftaten oder Drogenkonsum verleitet werden. Dieser Prozess beruht wahrscheinlich darauf, dass es ihnen in dieser Zeit sehr

wichtig ist, was ihre Freunde über sie denken.20 Die Schule z.B. spielt in psychologischen Konzepten zum Jugendalter eine entscheidende Rolle. So wird gesehen, dass die Schule bedeutend zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beiträgt. Einen Großteil des Tages verbringen die Schüler in der Schule, sehen sich täglich mit Leistungsansprüchen konfrontiert, die sich entscheidend auf spätere Berufs- und Ausbildungschancen auswirken. Außerdem sind die Jugendlichen in der Institution Schule »einem Zusammensein mit Gleichaltrigen ausgesetzt, dem sie sich kaum entziehen können«.21 Allerdings wird in der Schule nicht nur gelernt, schließlich gibt es immer einen Wechsel zwischen Unterricht und Pausen sowie Schulalltag und Klassen – und Bildungsfahrten. Die Schule stellt damit einen Lebensraum dar, in dem Erfahrungen gemacht sowie ausgetauscht werden und in dem der Umgang miteinander eine große Rolle spielt. Persönlichkeitsmerkmale, wie beispielsweise Selbstverantwortung, Beziehungsfähigkeit und Selbstkontrolle, werden während der Schulzeit besonders entwickelt und gebraucht.22 Sind solche psychologischen Aussagen, die so stark von gesellschaftlichen Kontexten abhängen, eigentlich anthropologisch verwertbar? Müssten wir nicht, wenn wir nach Anthropologie fragen, nach Bedingungen des Menschseins fra20 Vgl. Laura E. Berk, Entwicklungspsychologie, München 2011. 21 Hella Schick, Entwicklungspsychologie der Kindheit und Jugend. Ein Lehrbuch für die Lehrerausbildung und schulische Praxis, Stuttgart 2012, 44. 22 Vgl. ebd.

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gen, die überall und immer gelten und nicht nur in Gesellschaften, die zufälliger Weise so eine Institution wie die Schule hervorgebracht haben und darüber hinaus auch noch mit einer Schulpflicht alle Heranwachsenden überziehen? Wenn nach solchen Konstanten gefragt wird, die mit dem Menschsein gegeben sind, dann kommen wir schnell zur Pubertät, die immer wieder als der Kern des Jugendalters genannt wird. 2.2 Physiologische oder biologische, biochemische und neurologische Grundlagen

Denn auch wenn man im Gefolge des Konzepts Philipe Ariès von einer »Erfindung der Kindheit«23 ausgeht, also vor allem einer Zeit, in der es so etwas wie Kindheit gar nicht gegeben habe, Kinder vielmehr als kleine Erwachsene behandelt worden seien – eine Theorie, zu der bereits Klaus Mollenhauer das Nötige gesagt hat: »Zu der augustinischen wie auch zu der Auffassung von »Bildsamkeit« des Meister Eckhart paßt die Art, in der das Mittelalter das Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind darstellte. Dergleichen Darstellungen finden sich vorwiegend als Bilder von Maria mit dem Jesusknaben, bei denen dem modernen Blick unter anderem zunächst auffällt, dass das Kind keine »kindliche« Physiognomie hat. Daraus zu folgern, dass das Mittelalter keinen Begriff von Kindheit gehabt habe, scheint mir indessen gänzlich verfehlt zu sein. Es hatte aber eine andere Auffassung von Bildsamkeit: Der Bildungsvorgang wurde nicht ›äußerlich‹, sondern ›innerlich‹ gedacht; die äußere Verschiedenheit

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zwischen Kindern und Erwachsenen galt deshalb als unwesentlich«.24 – Selbst wenn man also die Kindheit als Erfindung der Neuzeit betrachten will, kann man die Tatsache schlecht leugnen, dass sich irgendwann im Dasein des Menschen eine Art Umbau vollzieht. Trotz der Bedeutung der gesellschaftlichen Konstruktion des Begriffs »Geschlecht«, gilt doch, dass bei diesen Menschen, die wir in unserer Sprache als Mädchen bezeichnen, irgendwann eine Regelblutung einsetzt, bei Jungen und Mädchen die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale sich entwickeln und biochemisch ein hormoneller Umbau in aller Regel nachweisbar ist. Man könnte also hoffen, wenn schon nicht für die Kindheit, so doch immerhin für die Jugend so etwas wie einen biologischen Kern zu finden. Damit wäre dann also statt der Psychologie die Physiologie, vielleicht auch die Medizin die zentrale Bezugsdisziplin der Anthropologie. Allerdings ist dieser körperliche Umbau allein doch ein recht dürres Fundament. Hier verspricht die seit ein paar Jahren boomende Neurowissenschaft Abhilfe, die uns nachweist, dass dieser Umbau nicht nur an den Geschlechtsmerkmalen, sondern viel wesentlicher im Gehirn stattfinde, dass also hier neuronale Schaltungen aufgelöst, umgebaut, ganz neu verknüpft werden und somit in dieser Zeit vor allem Gehirnstrukturen wie der präfrontale Cortex (der Stirnlappen) und das limbische System, welches für Emotionen zuständig ist, strukturellen Reifungen un23 Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 2011, (Erstausgabe 1978). 24 Klaus Mollenhauer, Vergessene Zusammenhänge, Weinheim / München 2008, 91f.

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terliegen. Somit verbesserten sich Funktionen wie »Kurzzeitspeicherung, Arbeitsgedächtnis, Handlungsplanung sowie die Kontrolle motivationaler und emotionaler Impulse«25, womit die neurobiologische Grundlage der pubertären Stimmungsschwankungen gefunden zu sein scheint. Allerdings lässt sich eben auch ethnologisch oder historisch feststellen, dass mit diesen gleichen neurophysiologischen Umbaumaßnahmen in den verschiedensten Gesellschaften wiederum verschieden umgegangen wurde und wird. Erschwerend kommt hinzu, dass das, was wir als biologische Grundlagen betrachten, selbst wieder Konjunkturen unterliegt. Während man noch im 18. und 19. Jahrhundert von den Säften angetan war, die verschieden den Körper durchströmen und ihre Wirkungen nicht verfehlen, die man durch zur Ader Lassen bändigen, aber keinesfalls durch unzüchtige Selbstbefleckung reizen sollte (sehr lesenswert hier die seinerzeit fortschrittlichen Überlegungen der Philanthropen zur körperlichen Erziehung z.B. bei GutsMuths oder Villaume)26 ist es noch in dem Nachschlagewerk der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, dem Handbuch der Pädagogik von Nohl und Pallat, ausgesprochen bemerkenswert, welche Bedeutung hier dem »Bau und Tätigkeit des Magendarmkanals« als einer »biologischen Grundlage der Erziehung«27 beigemessen wird. Auch wenn man so nicht wird sagen können, dass die Pädagogik sich ihrer biologischen Grundlagen nicht bewusst war, aber, dass körperliche Veränderungsprozesse selbst als Bildungsgeschehen begriffen werden können, wie das gegenwärtig z.B. Alfred Schäfer in der Allgemeinen Pädagogik diskutiert, in dem z.B. Tätowierungen nicht als Ausdruck eines Bildungspro-

zesses, sondern als Bildungsprozess selbst verstanden werden,28 eine solche Perspektive wäre den geisteswissenschaftlichen Pädagogen allerdings fremd gewesen. Aber selbst bei den vermeintlich »harten Fakten« der Beschreibung der Pubertät sind sich die Entwicklungspsychologen alles andere als einig. Während manche die Pubertät mit 13 bzw. 14 Jahren verorten, ordnet z.B. Schick (2012) die 13- und 14-Jährigen eher den Phasen der Vorpubertät zu.29 Allerdings wird weitgehend übereinstimmend gesehen, dass die Veränderungen der Mädchen im Gegensatz zu den Jungen im Mittel 1,5 bis 2 Jahre eher einsetzen. Somit befinden sich die Mädchen im Alter von 12 bis 14 Jahren bereits in der Pubertät, während die Jungen in der gleichen Altersspanne erst in der Vorpubertät einzuordnen wären. 25 Schick, 2012, 78. 26 Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Gymnastik für die Jugend, nach der Originalausgabe hg. und bearb. von Wilhelm Beier, Berlin 1957; Peter Villaume, Von der Bildung des Körpers in Rücksicht auf die Vollkommenheit und Glückseligkeit der Menschen, oder über die physische Erziehung Insonderheit (1787). 27 Gustav Tugendreich, Die biologischen Grundlagen der Erziehung. In: Herman Nohl und Ludwig Pallat (Hg.), Handbuch der Pädagogik. Zweiter Band, Berlin / Leipzig 1929, 1–47, mit ganzseitiger Abbildung auf S. 15. 28 Schäfer argumentiert, dass nicht einzusehen sei, weshalb der Bildungsaspekt nur auf die kognitive oder emotionale, in jedem Fall aber irgendwie geistige Entwicklung zu beziehen sei und die körperliche Entwicklung und Gestaltung nicht selbst als Bildungsprozess begriffen werden dürfe. Alfred Schäfer, Vom brüchigen Grund symbolischer Ordnungen, in: Roland Reichenbach / Norbert Ricken / Hans-Christoph Koller (Hg.), Erkenntnispolitik und die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeiten, Paderborn 2011, 87–102. 29 Pubertät gilt dementsprechend dann die 14–16jährigen. Vgl. Schick, 2012, 73f.

Schluß Anthropologie des Jugendalters – Pädagogische Perspektiven

Die Pubertät beschreibt Schick als eine Übergangsphase »von der Kindheit zum Erwachsenenalter, in der die körperliche Entwicklung ihren Abschluss findet und die Geschlechtsreife erlangt wird«.30 Man hätte dann mit der Pubertät so etwas wie den einigermaßen harten biologischen Kern des Jugendalters, dem dann die kognitive Ausreifung und die Erwartungen aus der Gesellschaft und Kultur entsprechen würden.31 Aber wenn wir nun einen Blick auf die Altersangaben zum Jugendalter und zur Pubertät werfen, gerät dieser Ansatz selbst wieder relativ schnell in Erklärungsnot. Wenn man die weitergehenden entwicklungspsychologischen Beschreibungen zur Pubertät nimmt, dann endet diese mit 15. Von der Jugend dagegen behauptet niemand, dass sie (regelhaft) mit 15 Jahren zu Ende ist. Wölber hatte 1961 noch optimistisch behauptet, dass die Jugend mit der »Mündigkeit« ende. Was, wenn er sich auf die politische Mündigkeit mit 18 oder 21 Jahren bezieht, ein auch 1961 kaum mehr haltbares Datum gewesen wäre. Hatte doch bereits in der wohl ersten ethnographischen Studie zur Jugend der Hamburger Theologe Clemens Schultz 1912 »Psychologische Studien über die Jugend zwischen 14 und 25« (Hervorhebung H.S.) vorgelegt. Schultz hat seine Untersuchungen 1912 in der gleichen Stadt und zwar im Hamburger Hafenviertel vorgenommen, also einem Viertel, in dem die Jugend nach traditioneller Sicht früher endet als in den sogenannten »besseren« Vierteln, weil die Integration in das Erwerbsleben weit früher erfolgen musste, in der gleichen Stadt also, in der Wölber bis Ende der 50er Jahre Jugendpastor war. Möglich wäre, dass Wölber einen anderen, z.B. an Schleiermacher geschulten, Mündigkeitsbegriff verwen-

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dete, der die pädagogische Mündigkeit mitnichten mit dem politischen, rechtlichen oder religiösen Mündigkeitsdatum in eins setzen wollte, sondern pädagogische Mündigkeit fließend definierte, die immer dann eintrete, wenn man etwas selber kann. Insofern kann ein noch nicht mal einjähriges Kind mündig sein, was den Umgang mit dem Löffel angeht, aber ein 50jähriger kann noch unmündig sein, was die disziplinierte selbsttätige Gestaltung seines Tagesablaufes angeht. Nebenbei bemerkt, benutzt Schultz in der Studie von 1912 zum ersten Mal den Begriff für die Jugendlichen des Arbeitermilieus, der zumindest bis in die 70er Jahre zum deutschen Leitbegriff zur Bezeichnung der Jugend wurde, den Begriff der »Halbstarken«.32 Der Begriff der Halbstarken ist aus der Mode gekommen, wie so viele Beschreibungen dessen, was Jugend ausmacht, vor ihm, aber das Jugendalter, das Schultz auf bis 25 datierte, werden wir wohl weiter ausdehnen müssen. Denn freilich kennen wir 14-Jährige, die sehr erwachsen ihr Leben und das der von ihnen abhängigen Personen managen – allerdings wird dies eher als pathologisches Phänomen begriffen und »Parentifizierung« genannt, wenn nämlich Heranwachsende in die Rollen gedrängt werden, die eigentlich Eltern zukommen, aber wir kennen auch 40–50 jährige, die dem Jugendalter nicht entwachsen sind. Sehr eindrücklich waren dazu zwei Bilder, die in der LebenszeitAusstellung des Dresdener Hygiene-Museums vor einigen Jahren nebeneinander gehängt waren; das Bildnis von Dürers 30 Ebd., 74. 31 Vgl. Ebd. 32 Clemens Schultz, Die Halbstarken, Leipzig 1912.

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Mutter und ein Foto Tina Turners. Zwei Frauen im gleichen Alter von 60 Jahren. Die Frage, ob ewige Jugend »cool« oder »peinlich« ist, ist eine Frage die wesentlich wiederum im Auge des Betrachters entschieden wird. Die Schrift von Schultz soll hier auf einen letzten Versuch verweisen, sich dem Phänomen der Jugend wissenschaftlich zu nähern und es anthropologisch zu bestimmen. Nachdem sowohl Psychologie als auch Physiologie nicht wirklich zu einem klaren Ergebnis geführt haben, soll noch auf dem Wege der Ethnographie oder der Ethnologie ein Versuch gewagt werden. 2.3 Ethnographische Jugendstudien

Zu Anfang des 20. Jahrhundert begannen erstens beobachtende, feld- und lebensweltbezogene Methoden zusammen mit anderen qualitativ-rekonstruktiven Methoden wie Interviewverfahren, Spontanberichten, Tagebuch- und Aufsatzmethoden gegenüber rein statistischen Verfahren in der pädagogisch inspirierten Forschung zu überwiegen und zweitens totalitätsbezogene Perspektiven, also nicht auf den schulpädagogischen, familialen, beruflichen oder freizeitorientierten Alltag von Kindern und Jugendlichen reduzierte Forschungsfragen, die pädagogische Forschungskultur zu bestimmen.33 Es geht um eine ganzheitliche Beschreibung. »Um der Pädagogik mehr Vollkommenheit zu verschaffen, muss sie auf Erfahrung gegründet werden. Dazu ist nötig die pädagogische Beobachtung«.34 Ebenfalls zeigen sich im Konzept Ernst Meumanns zu dem von ihm 1912 mitbegründeten Hamburger »Institut für Jugendforschung« Konturen eines solchen

ganzheitlichen Forschungsprogramms. Das Institut für Jugendforschung erhob den Anspruch, eine »wissenschaftliche Instanz« zu sein, »die nichts erstrebt als systematische Erforschung des geistigen und sittlichen Lebens der Jugend und der Einflüsse, unter denen es tatsächlich steht«.35 Es ging zum einen um die Initiierung von Untersuchungen zur »Entwicklung der Jugend selbst, sodann um das soziale Problem der Beziehungen der Jugendlichen zu den sozialen Verhältnissen, unter denen sie aufwachsen, und endlich um das Kulturproblem« sowie um die Frage, welche »Bedeutung eine rationelle Organisation der Jugendbildung für das geistige und wirtschaftliche Leben eines Volkes hat«.36 Die tendenziell ethnographischen, über Dokumente und Interviews, vornehmlich aber über Aufenthalte in den Untersuchungsfeldern abgesicherten Studien beziehen sich auf die Gesamtheit der Lebensumstände und -wege der Heranwachsenden. C. Schultz versucht, die »kleine Lebenswelt« und die Alltagsfluchten der Jugendlichen dicht zu beschreiben, wenn er auch in seinen Beschreibungen nicht frei von pädagogischen Handlungsaufforderungen bleibt: »Unsere Jugend ist es wert, dass man sie lieb hat, für sie arbeitet, für sie lebt. Die Jugend gerade aus 33 Vgl. hierzu näher: Werner Thole, Ethnographie des Pädagogischen. In: Friederike Heinzel / Werner Thole / Peter Cloos / Stefan Köngeter (Hg.), »Auf unsicherem Terrain« Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens, Wiesbaden 2010. 34 Theodor Fritzsch, Zur Geschichte der Kinderforschung und Kinderbeobachtung. In: Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik, 13. Jg. (1906), 497–506, 497. 35 Ernst Meumann, Über Institute für Jugendkunde, Leipzig / Berlin 1912, 18. 36 Ebd., 3.

Schluß Anthropologie des Jugendalters – Pädagogische Perspektiven

unserem Volk ist begeisterungsfähig, ist noch edel und rein in ihrem Denken und Fühlen. Die Klagen über die Verrohung der deutschen Jugend verbitte ich mir; ich kenne die Jugend besser als tausend andere. Zahlen beweisen nichts, das Leben und die Erfahrungen beweisen alles. Lachend stehe ich in St. Pauli, dem mit Unrecht verrufenen St. Pauli, mitten in den schwierigsten Verhältnissen, mitten in einer Volks- und Arbeitergemeinde seit 12 Jahren im innigsten Verkehr mit der Jugend, täglich, stündlich, und habe die besten, wundervollsten Erfahrungen gemacht. […] Wer an der Jugend arbeitet, weil er sich eingebildet hat, dass die unglückselige Statistik ihm bewiesen hat, dass die Jugend verroht ist, der ist unfähig und ungeschickt dazu«.37 Wie unschwer zu sehen ist, zeigen diese Studien immer wieder, wie gesellschaftsabhängig der Jugendbegriff ist. Auch in der DDR gab es in Leipzig ein Institut für Jugendforschung. Auch dessen Ergebnisse waren weniger überzeitlich und grundsätzlich anthropologisch als zeitbedingt brandaktuell. So aktuell, dass sie in aller Regel nicht veröffentlicht wurden, sondern nur zum geheimen Staatsgebrauch verwendet wurden.38 2.4 Ethnologisch-Vergleichend

Wenn also diese ethnographischen Studien im eigenen Lebensumfeld vor allem (gesellschaftliche) Situationsgebundenheit, aber wenig anthropologische Konstanten zeigen, so muss man vielleicht doch in die Ferne schweifen, um so kulturvergleichend ein festes anthropologisches Fundament auszumachen. Augenblicklich mit beeindruckenden und breit

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rezipierten Ergebnissen vorrangig im Umfeld der Globalisierungskritiker tut dies David Graeber, insbesondere mit seinem aufschlussreichen Buch »Schulden – Die ersten 5000 Jahre«. Gräber rekonstruiert darin unter anderem zwei unterschiedliche Arten von Ökonomien, humane und kommerzielle Ökonomien, deren Verschmelzung in Prozessen der Kulturbegegnung zu erheblichen Problemen und Missverständnissen insbesondere in Bezug auf die Geldwirtschaft geführt habe, an deren Folgen wir noch immer leiden.39 Aber auch im engeren Kreis der Pädagogik wird dieser kulturvergleichende Blick praktiziert. Der bereits zitierte Hallenser Bildungsphilosoph Alfred Schäfer betreibt Studien in Afrika und versucht so, mit dem fremden Blick Strukturen zu erkennen, die ihm im Vertrauten eher verborgen blieben.40 Der Berliner Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf stößt in seiner Beschäftigung mit der Anthropologie immer wieder auf Rituale, die menschliches Leben überall auf der Welt strukturieren.41 Und gerade im Jugendalter finden sich Riten, die die Initiierung in die Erwachsenenwelt zum Thema haben. Ist dann also die Konfirmation der eigentliche anthropologische Kern des Jugend37 C. Schultz, Fürsorge für die schulentlassene Jugend, Leipzig 1908, 66–72, hier: 71. 38 Walter Friedrich / Peter Förster / Kurt Starke (Hg.), Das Zentralinstitut für Jugendforschung, Leipzig 1966–1990. Geschichte, Methoden, Erkenntnisse, Berlin 1999. 39 David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012. 40 Alfred Schäfer, Bildende Fremdheit. In: Lothar Wigger (Hg.), Wie ist Bildung möglich? Bad Heilbrunn 2009, 185–200. 41 Christoph Wulff, Das Rätsel des Humanen. Einführung in die historische Anthropologie, München 2013.

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lichseins – so weit würden wohl selbst die stärksten Verfechter der neuen Handreichung zur Stärkung der Konfirmandenarbeit42 nicht gehen. Vielmehr sind selbst die Riten, Rituale und Gebräuche differenziert, kleinteilig, manchmal für das nicht anthropologisch bewährte Auge unsichtbar – oder werden sie durch das anthropologisch und rituell geschulte Auge überhaupt erst hervorgerufen? Denn wir alle wissen, dass für den, dessen einziges Werkzeug ein Hammer ist, die Welt aus Nägeln besteht. 3. Anthropologie des Jugendalters als Sicherung der Unbekanntheit

So bleibt am Ende die Frage vom Anfang bestehen, worin liegt denn nun die Bedeutung der Anthropologie des Jugendalters für die pädagogische Perspektive? Das Versprechen der Anthropologie war ja der eines sicheren Grundes, von dem aus wir pädagogisch so wirken können, dass wir die Selbsttätigkeit der Zöglinge stärken und ihre Bildsamkeit anregen? Wenn es diesen sicheren Grund nicht gibt, müssen wir dann nicht doch zurück zum Szenario Durkheims, in dem die Soziologie der Pädagogik die Ziele vorgibt, weil die Soziologie als die Wissenschaft von der Gesellschaft wenigstens weiß, was die Gesellschaft ist, will und braucht? Wird die Pädagogik wieder klein gemacht, in die Rolle der dienenden Praxis gepresst? Die Antwort lautet: Nein! Denn die Erkenntnis dieses Durchgangs ist eine alte. Die Grundlage der Pädagogik, ihre Ermöglichung ist die »Unbekanntheit der anthropologischen Voraussetzungen«, wie Schleiermacher das nannte. Schon Rousseau beschreibt in seinem Émile das

Jugendalter als ein Moratorium, in dem die Bestimmung der Einzelnen ungewiss und offen ist und frühe, lebenslang angelegte Bindungen vermieden werden. Die Schließung dieser Ungewissheit, auch um vermeintlich höherer Zwecke willens oder auf Basis angeblich sicherer anthropologischer Erkenntnisse ist pädagogisch nicht zu akzeptieren. Denn die anthropologische Ungewissheit ist es, die es uns gestattet, Wesen zu sein, die sich frei und nicht vollständig determiniert zu den Bedingungen ihres Lebens verhalten können. Gleichwohl wird sich auch gegen Rousseau eine andere anthropologische Konstante beschreiben lassen. Der Mensch scheint ein gesellschaftliches Wesen zu sein. Ob er ein Wesen ist, das nur in der πόλις im strengen Sinn gedeihen kann, weil nur die πόλις ihm die nötigen Freiräume zum Menschsein einräumt (σχολή), wie die Aristotelische Beschreibung nahelegte, das sei damit freilich nicht als anthropologische Konstante behauptet. Es geht eher um eine sehr basale Feststellung, dass überall, wo wir den Menschen antreffen, wir ihn in Gemeinschaften und Gesellschaften antreffen. Dass der Mensch also ein soziales Wesen sei, diese alte lateinische Übersetzung des aristotelischen ζωον πολιτικόν trifft in ihrer größeren Allgemeinheit sicher zu, ohne dass damit eben eine bestimmte Form der Gemeinschaft oder Gesellschaft als anthropologisch prädes­ tiniert angesehen werden kann.

42 EKD (Hg.), Thesenpapier »Konfirmandenarbeit. 12 Thesen des Rates der EKD«, Hannover 2013.

Guttenberger Neutestamentliche Anthropologie für Jugendliche – Was ist anschlussfähig?

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Gudrun Guttenberger Neutestamentliche Anthropologie für Jugendliche – Was ist anschlussfähig?

1. Einführende Überlegungen 1.1. Zur Themenstellung

Die Themenstellung verknüpft drei Disziplinen und Wissenschaftsdiskurse: die Anthropologie, die Neutestamentliche Wissenschaft und die Religionspädagogik. Anthropologie hat sich als Wissenschaftsfeld in den letzten 50 Jahren stark differenziert. Neben die philosophische Anthropologie, die bis in Mitte des 20. Jahrhunderts den Diskurs bestimmte, sind andere Perspektiven getreten. Zwei grundlegende Differenzierungen sind dabei zu beachten: (1) Der Gegenstand der philosophischen Anthropologie ist fraglich geworden. Das Interesse hat sich von der Frage nach dem Menschen verschoben auf Fragen nach Entwürfen von Menschsein in synchroner und diachroner Vielfältigkeit. Die Perspektive einer philosophischen Anthropologie mit ihrer Frage nach dem Konstitutivum des Menschseins und die Perspektiven der Sozial- und Kulturwissenschaften mit ihrer Relativierung solcher Konstitutiva stehen in Spannung zueinander. (2) Die Anthropologie steht darüber hinaus zunehmend im Spannungsfeld zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Zugängen und ihren jeweiligen Wissenschaftslogiken. Diese Veränderungen innerhalb der anthropologischen Studien haben auf die Neutestamentliche Wissenschaft einge-

wirkt:1 Neben die von Modellen der philosophischen Anthropologie bestimmten Studien sind Untersuchungen getreten, die durch Ansätze der historischen Anthropologie und der Kulturanthropologie angeregt worden sind und auf deren Interpretationsmuster zurückgreifen. Ansätze einer von den Naturwissenschaften her fragenden Anthropologie sind für die Neutestamentliche Wissenschaft hingegen kaum anschlussfähig. Weiterhin lässt sich, wie in den Feldern der neutestamentliche Theologie und neutestamentlichen Ethik, auch in der neutestamentlichen Anthropologie eine zunehmende Differenzierung beobachten: Im Fachdiskurs ist heute eher die Rede von den vielfältigen Menschenbildern, die sich im frühen Christentum und in seinen verschiedenen Texten greifen lassen, als von einer neutestamentlichen Anthropologie. Schließlich ist das Verhältnis von Neutestamentlicher Wissenschaft einerseits und Religionspädagogik, und zwar in ihrem kinder- und jugendtheologischen Zweig andererseits für die Themenstellung von Bedeutung. Dabei handelt es sich um Varianten (1) der Verhältnisbestimmung der theologischen Fächer untereinander einerseits und (2) der Verhältnisbestimmung der Theologie und 1 Zur Forschungsgeschichte vgl. Udo Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie, in: ANRW II.26.3 (1996), 2658–2714.

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der Religionspädagogik andererseits. Im Feld der Kinder- und Jugendtheologie tritt ein drittes Spannungsfeld hinzu: das Verhältnis der wissenschaftlichen Theologie mit ihrer Verankerung in der universitas litterarum und der sogenannten »persönlichen Theologie«, der Reflexion von Religiosität, Glaube und Einstellungen durch »Laien«. Die Themenstellung führt also in mehrfacher Hinsicht in sehr spannungsvolle Felder hinein. Der vorliegende Beitrag versucht, Ansätze einer Frage nach neutestamentlichen Entwürfen von Menschsein, die innerhalb der Neutestamentlichen Wissenschaft diskussionsfähig sind, für das Anliegen einer Jugendtheologie als Theologie mit und für Jugendliche zu öffnen. Diese Öffnung, ein vorsichtigerer Ausdruck für »Anschlussfähigkeit«, wird in drei Aspekten versucht: (1) subjektorientiert, (2) interdisziplinär und (3) gesellschaftlichorientiert. Unter einer subjektorientierten Öffnung verstehe ich die Suche nach Anknüpfungspunkten in der Lebenswelt und dem Denken von Jugendlichen. Unter einer interdisziplinären Öffnung verstehe ich die Bestimmung hermeneutischer Modelle, die einen Text oder Sachverhalt für verschiedene Wissenschaftstraditionen zugänglich und kommunikabel machen, die am Lernort Schule projekt­ orientierte Arbeit ermöglichen und zur Vernetzung von Lernen und Denken beitragen. Unter gesellschaftlich orientierter Öffnung verstehe ich die Lenkung der Aufmerksamkeit auf Profilelemente unserer gegenwärtigen sozio-kulturellen Identität im Hinblick auf das »kulturelle Gedächtnis«. Dabei geht es um eine Stärkung der Partizipations- und Gestaltungskompetenz der Jugendlichen.

1.2 Zum Vorgehen und zur Gliederung

Im Folgenden stelle ich jeweils einen neutestamentlichen anthropologischen Ansatz mit einem Aspekt der Öffnung für das Anliegen der Jugendtheologie zusammen und versuche an einem neutestamentlichen Text eine Konkretisierung. 2. Philosophische Anthropologie und Neues Testament

Auch 65 Jahre nach dem ersten Erscheinen von Bultmanns Theologie des Neuen Testaments ist dessen anthropologisch – »paulinische Theologie ist zugleich Anthropologie« – und soteriologisch – »pau­linische Christologie ist zugleich Soteriologie« – ausgerichtete Modellierung neutestamentlicher, besonders paulinischer und johanneischer Theologie die erste Adresse für einen philosophisch-theologischen Zugang zur Anthropologie.2 Bultmann wird durch seine soteriologische Fokussierung dazu veranlasst, zwischen dem Menschen unter der Sarx (Fleisch) und dem Menschen unter der Pistis (Glaube)3 grundlegend zu differenzieren.4 2 Vgl. Ehrhard Kamlah, Anthropologie als Thema der Theologie bei Rudolf Bultmann, in: Hermann Fischer (Hg.), Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 21–38. 3 Die griechischen Begriffe sind an Anlehnung an Bultmanns Theologie beibehalten; das Profil des Zugriffs liegt in dem Nachweis, dass diese Begriffe eben nicht in antik-griechischer Tradition mit »Körper«, »Seele« und »Geist« übersetzbar sind, sondern der semantische Gehalt dieser Begriffe aus paulinischen Texten zu erheben und auf dem Hintergrund alttestamentlicher Anthropologie zu verstehen und darin das Profil paulinischer Anthropologie zu finden ist. Vgl. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, XV. 191–353. 4 Damit steht Bultmann in der Tradition theo-

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Sünde und Rechtfertigung werden damit zur fundamentalen Differenz für die Anthropologie. Die Rechtfertigung zielt auf die Eleutheria (Freiheit), das wesentliche Merkmal gerechtfertigten Menschseins. Die Darstellung folgt einer lutherisch geprägten Perspektive der Paulusinterpretation, die ihre Schwerpunkte im Sünden- und Freiheitsbegriff findet, und vollzieht die mit Schleiermacher eingeleitete anthropologische Wende in der Theologie paradigmatisch.5 Zur Erschließung der Anthropologie dienen die Begriffe Soma, Psyche, Pneuma und Zoe, Nous und Syneidesis sowie Kardia. Am Begriff Soma – »der Mensch hat nicht ein σῶμα, sondern er ist σῶμα«6 – bestimmt Bultmann als differentia specifica menschlicher Geschöpflichkeit, sein Angewiesensein auf ein Selbstverhältnis. Dieses wird insbesondere am Verhältnis zum Körper manifest.7 Öffnung respektive Anschlussfähigkeit stellt sich mittels der Philosophie und der systematischen Theologie ein.8 Über die Philosophie als Brückenwissenschaft sind Vernetzung in andere Thematisierungen des Menschen im Lernfeld Schule möglich. Innerhalb der theologischen Disziplinen ist weiterhin ein Brückenschlag zur alttestamentlichen Anthropologie, wie sie von Hans Walter Wolf vorgelegt worden ist und von Bultmann vorausgesetzt wird, möglich. Bultmanns Zugriffsweise – eine begriffsorientierte Untersuchung – wird innerhalb der neutestamentlichen Anthropologie bis heute von Udo Schnelle vertreten. Die hermeneutische Reflexion und damit auch die Anschlussfähigkeit bleiben jedoch an Bultmanns existentiale Interpretation gebunden. Am Beispiel von Röm 7,7–25 – einem prominenten anthropologischen Text im

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NT – soll kurz skizziert werden, wie eine existentiale Interpretation für die Anthropologie von Jugendlichen geöffnet werden könnte. Auf der Seite des Nachdenkens über den Menschen bei Jugendlichen knüpfe ich an der Untersuchung der Sündenvorstellung von Jugendlichen an, wie sie Gennerich in seiner empirischen Dogmatik vorgelegt hat.9 Seine Beobachtungs- und Beschreibungskategorien sind durch die Verwendung traditioneller theologischer Topoi für die Begrifflichkeit Bultmanns kommunikabel. Davon sind sowohl einzelne Topoi wie auch das übergreifende, durch Sünde und Freiheit bestimmte anthropologische Gesamtkonzept betroffen. Der Abschnitt Röm 7,7–2510 thematisiert das Verhältnis von νόμος (nomos, logischer Anthropologie seit Augustinus. Vgl. Wolfgang Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983 (2. Auflage 2011), 12. 5 Vgl. Pannenberg, Anthropologie, 11. 6 Bultmann, Theologie, 197. 7 Vgl. Bultmann, Theologie, 200. 8 Für Bultmann »fallen im Grunde Theologie und Exegese oder systematische und historische Theologie zusammen« (Rudolf Bultmann, Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie II 1963, 68). 9 Carsten Gennerich, Empirische Dogmatik des Jugendalters. Werte und Einstellungen Heranwachsender als Bezugsgrößen für religionsdidaktische Reflexionen (Praktische Theologie heute 108), Bielefeld 2008. 10 Aus der umfangreichen Literatur zu Röm 7 vgl. besonders Werner Georg Kümmel, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament, München 1974; Walter Schmithals, Die theologische Anthropologie des Paulus, Auslegung von Röm 7,17–8,39, Stuttgart u.a. 1980; Gerd Theißen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, 181–268; Reinhard v. Bendemann, Die kritische Diastase von Wissen, Wollen und Handeln. Tradi-

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Gesetz) und ἁμαρτία (hamartia, Sünde); der Abschnitt ist durch die Verwendung der 1. Person Singular gekennzeichnet, eine innerhalb des Corpus Paulinum einzigartige Stilisierung. Er gliedert sich in zwei Teile: die Verse 7–13 sind im Vergangenheitstempus verfasst und erzählen die Geschichte des »Ichs« auf der Folie von Gen 2 und 3. Schlüsselworte für die paulinische Argumentation sind neben νόμος und ἁμαρτία die ἐπιθυμίαι (epithymiai), die Begierden, die gewissermaßen als Benutzeroberfläche die Einwirkungsweisen von νόμος und ἁμαρτία greifbar und spürbar machen. Der zweite Teil reicht von Vers 14 bis zu Vers 23 und ist im Präsens formuliert. Geschildert wird ein als schmerzlich empfundener Zustand, ein tiefgreifender und unüberwindlicher Widerspruch zwischen Wollen und Bewirken bzw. Handeln. Das »Ich« befindet sich im Spannungsfeld des inneren Menschen, der das Gute will, und seiner Glieder, die der Sünde gehorchen. Mit einem Klageruf (Vers 24 ) und einer Danksagung (Vers 25) schließt der Abschnitt. Die Eigenart der Sünde besteht in Bultmanns Konzeption »in dem Wahn, das Leben nicht als Geschenk des Schöpfers zu empfangen, sondern es aus eigener Kraft zu beschaffen«11, und zwar aus der Schöpfung, deren Gaben vermeintlich Sicherheit gewähren, insofern sie dem Menschen verfügbar sind. Diesen Sündenbegriff verwendet Bultmann auch für die Interpretation von Röm 7: Sünde bezeichne hier nicht eine Übertretung der Gebote, sondern eine Verfehlung der Eigentlichkeit menschlichen Lebens. Genuiner Ausdruck menschlicher Existenz unter der Macht der Sünde sei dieser tiefe Zwiespalt zwischen Tun und Wollen, und zwar in einer Weise, durch

die beides, das Tun und das Wollen den Menschen ausmachen: »Der Mensch ist der Zwiespalt«12. Thematisiert werde damit etwas weitaus Fundamentaleres als »Schwächen in der Umsetzung von Zielen«, es gehe nicht nur darum, dass wir gelegentlich einem Impuls gegen besseres Wissen nachgäben und dies hinterher bereuten. Bultmann ersetzt diese »subjektivistische« Deutung als »bewusstes« Wollen durch eine transsubjektivistische, wonach mit Tod und Leben, σάρξ (sarx, Fleisch) und πνεῦμα (pneuma, Geist) »Möglichkeiten geschichtlichen Seins«13 genannt sind – unabhängig von bewussten Intentionen. Das Gute, das das »Ich« in Röm 7,19 erstrebt, sei das Leben selbst, eben jene Eigentlichkeit. Menschen erstrebten das Leben, gewönnen jedoch – aufgrund des irdischen und vergänglichen Charakters des Verfügbaren, das begehrt wird, notwendig und unausweichlich den Tod. Indem sie nach dem Leben trachten, finden sie immer wieder nur den Tod. Gennerich klassifiziert in seiner Arbeit einen derartigen Sündenbegriff als existentiell.14 Er hat darauf aufmerk

tionsgeschichtliche Spurensuche eines hellenistischen Topos in Römer 7, ZNW 95 (2004), 35–63; Günther Röhser, Paulus und die Herrschaft der Sünde, in: ZNW 103 (2012), 84–110. 11 Bultmann, Theologie, 233. 12 Rudolf Bultmann, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, in: Ders., Exegetica, Tübingen 1967, 198–209, 202. 13 Bultmann, Römer 7, 201. 14 Gennerich, Dogmatik, 99. Zur Rezeption der existentialen Interpretation in der Religionspädagogik aus heutiger Sicht vgl. Jürgen Heumann, Nach Existenz fragen lernen. Die Religionspädagogik unter dem Einfluss der existentialen Interpretation. Zum 125. Geburtstag von Rudolf Bultmann. Theo-Web 10 (2011), 367–381.

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sam gemacht, dass Jugendliche im unteren linken Quadranten des Wertfelds (Selbststeigerung und Offenheit für Wandel) eine besondere Affinität zu einem existentiellen Sündenverständnis haben, wie es sich besonders an ihrer stärkeren Betroffenheit durch depressive Symptome zeigt15, und zunächst Texte benötigen, die ihnen ermöglichen, ihre Erfahrungen auszudrücken, ohne vorschnell zu Hoffnungsperspektiven gedrungen zu werden. Eine sorgfältige, exegetisch verantwortete und angemessen übersetzte Auswahl von Sätzen aus Röm 7 könnte eine solche Funktion übernehmen. Weitere Argumente aus Röm 7 könnten für ihre Lebenserfahrungen anschlussfähig sein: ihre Ablehnung von Regeln und Ordnungen der Erwachsenenwelt16 könnte ein Echo finden in der paulinischen Position von der die Sünde anstachelnden Funktion des Gesetzes. Ihre hedonistische Ausrichtung und ihre Vorliebe für »sensation seeking« könnten einen interessanten Interpretationshintergrund für die paulinische Bestimmung der Funktion der ἐπιθυμίαι, der Begierden, bilden. Auch die Frage, wie man Jugendlichen, die in diesem Wertefeld beheimatet sind, stärker hoffnungsorientierte Vorstellungen anbieten könnte, lassen sich über Röm 7 mittels der Frage nach dem »Ich« des Textes sowie mittels des pneumatologisch bestimmten Mikrokontextes aufzeigen. Konzeptionell bleibt Bultmanns Interpretation an die Philosophie und Anthropologie Heideggers gebunden. Das beschreibt eine Einschränkung.17 Aus religionspädagogischer Perspektive liegt eine besondere Herausforderung darin, dass die paulinischen Texte durch Bultmann begrifflich erschlossen werden

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und er Texte bevorzugt, die sich durch komplexe Argumentationen auszeichnen; Sprache und Vorstellungswelt sind abstrakt. In Röm 7 könnte sich der Zugang durch dessen Verwendung der 1. Person Singular im Vergleich zu anderen paulinischen Texten als erleichtert erweisen. Aus neutestamentlicher Perspektive ist vor allem die die konkrete Lebenswirklichkeit und Entstehungskontexte exkludierende, eminent theologische Perspektive des Ansatzes kritisiert worden. Solche Kritik führt forschungsgeschichtlich zu der zweiten innerhalb der Neutestamentlichen Wissenschaft gewählten Zugangsweise. 3. Historische Anthropologie und Neues Testament

Robert Jewett hatte bereits in den frühen 70er Jahren darauf hingewiesen, dass für die Skizzierung einer paulinischen Anthropologie die situative und kontextuelle Verankerung der jeweiligen Aussagen zu berücksichtigen sei, und damit auf Entwürfe, vor allem den Hermann Lüdemanns,18 aus dem 19. Jahrhundert zurückgegriffen.19

15 Gennerich, Dogmatik, 91, Abb. 27. 16 Gennerich, Dogmatik, 92, Abb. 23 zu Entfremdungserfahrungen und 101, Abb. 25 zur Konventionalitätsorientierung. 17 Vgl. Schnelle, Anthropologie, 2682f. 18 Hermann Lüdemann, Anthropologie des Paulus und ihre Stellung innerhalb seiner Heilslehre. Nach den vier Hauptbriefen, Kiel 1872. Vgl. Jewett, Terms, 49f.167f.201–250. 19 Robert Jewett, Paul’s anthropological Terms. A Study of their Use in Conflict Setting (AGAJU 10), Leiden 1971, bes. 6–8; vgl. Schnelle, Anthropologie, 2689f.

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Neutestamentliche Texte sind in konkreten geographischen, historischen und sozialen Kontexten entstanden, z.T. reagieren sie auf spezifische Konstellationen in den Lebenswelten ihrer Verfasser und Adressaten. Ihre Anthropologie ist überwiegend implizit und greift auf zeit- und kulturtypische Menschenbilder zurück, die zuweilen modifiziert, zuweilen neu beleuchtet und zuweilen auch ohne Veränderungen übernommen werden. Neutestamentliche Anthropologie erfordert die Berücksichtigung solcher Faktoren und eine weitaus umfassendere hermeneutische Reflexion als sie in Bultmanns Entmythologisierungsprogramm und seiner existentialen Interpretation vorgenommen wurde. In der Geschichtswissenschaft hat im gleichen Zeitraum eine ähnliche Neubesinnung stattgefunden. Sie führte zur Etablierung der Historischen Anthropologie, in der es mit den Worten des Herausgebers des wegweisenden Handbuchs zur historischen Anthropologie, Christoph Wulf, darum geht, »nach dem Ende der Verbindlichkeit einer abstrakten anthropologischen Norm« »neuartige, paradigmatische Fragestellungen«20 fruchtbar zu machen, auf einen systematischen Zugriff zu verzichten und den »fraktalen« Charakter historischer Überlieferung angemessen zu berücksichtigen;21 durchgehend werden dabei methodische und hermeneutische Fragen beleuchtet. Themen sind z.B. Raumvorstellungen, Vorstellungen von Rhythmus oder Zahlen, Gestaltungen von Unterricht, Vorstellungen vom Glück, Konzepte von Angst, von der Krankheit oder von der Gastfreundschaft. In der gegenwärtigen neutestamentlichen Forschung werden entsprechende

anthropologische Fragestellungen in vielen Einzelbeiträgen bearbeitet. Es entstehen facettenreiche, aber natürlich auch lückenhafte Bilder vom Menschen, wie sie sich aus verschiedenen neutestamentlichen Texten erschließen. Eine Öffnung für das Anliegen der Jugendtheologie kann auf zweierlei Weise erfolgen: (1) Die Auswahl der Fragestellungen in der historischen Anthropologie ist nicht nur an den Möglichkeiten der Texte, sondern auch an gegenwärtigen Interessenlagen orientiert. Natürlich bedarf diese Auswahl wiederum einer hermeneutischen Reflexion, damit Selbstverständlichkeit, Ordnungsmuster und implizite Normativität eigener Interessen die Eigenart neutestamentlicher Texte nicht dominiert und überformt. Für Jugendliche interessante Fragen können aber an antike Texte gestellt werden. (2) Als Brückenwissenschaft wird sich in vielen Fällen die Sozialwissenschaft mit ihren vielfältigen Theorien und Ansätzen bewähren. Gegenwärtige Relevanz lässt sich häufig mit Fragen nach der sozialen Funktion bestimmter Vorstellungen und ihrem Potential für die Ausbildung von Handlungsmöglichkeiten erschließen. Als Beispiel soll die Gastmahlepisode aus Lk 14 dienen; gefragt wird nach impliziten Körperkonzepten. Lk 14,1–24 gliedert sich in vier Szenen, die dem Ablauf eines antiken Gastmahls folgen; die erste Szene, die sich beim Betreten des Hauses des Gastgebers ereignet (Verse 1–6), verbindet Elemente einer Heilungserzählung mit denen eines Streit20 Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim / Basel 1997, 13. 21 Wulf, Anthropologie, 14.

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gesprächs. Die zweite (Verse 7–11) und dritte Szene (Verse 12–14) bieten Paränese: Diese richtet sich zunächst an die Gäste und thematisiert die Platzwahl, anschließend werden Gastgeber im Hinblick auf die Gästeliste angesprochen. Die Paränese ist durch das lukanische Reversal-Motiv bestimmt und nimmt damit ein wichtiges theologisches Anliegen des Verfassers des lukanischen Doppelwerks auf.22 Eingefügt ist in Vers 11 ein Wanderlogion. Die vierte Szene, (Verse 16–24, »spielt« während des Mahls, fungiert als Tischgespräch und gibt die Parabel vom großen Gastmahl wieder. In den beiden paränetischen Abschnitten und der Parabel zielt der Erzähler auf die Relativierung eines in der gesamten Antike selbstverständlichen Wertes und sozialen Grundregel: des Gesetzes der Reziprozität.23 Dies besagt, dass soziale Kohärenz und Zugehörigkeit zur Gruppe wesentlich durch den Austausch von Gaben entstehen und aufrechterhalten werden. In Lk 14 wird dieses Gesetz am Thema Gastfreundschaft inszeniert: Einladung und Gegeneinladung. Menschen, die nichts anzubieten haben, keine materiellen Güter, keinen Einfluss, keine Schönheit oder Talente, werden folglich aus der Gesellschaft exkludiert. Die Relativierung der Reziprozitätsregel erfolgt dadurch, dass mit Gott eine dritte Größe in die soziale Beziehung eingeführt wird: Gott tritt als Gebender an die Stelle des mittellosen Armen und vertritt ihn als Partner in einer vom Reziprozitätsgesetz bestimmten sozialen Interaktion. Eine entsprechende Argumentation findet sich in Lk 6,27–35 beim Gebot der Feindesliebe. Die Aufmerksamkeit möchte ich nun auf die Heilungserzählung richten, die die Gastmahlepisode eröffnet.24

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Greifbar wird hier die durch die Reziprozitätsregel bestimmte soziale Struktur am Körperkonzept des auftretenden Kranken. Lk bezeichnet die Krankheit des Betroffenen als Wassersucht, als Hydrops. Nach antiker Auffassung entsteht Hydrops u.a. durch den übermäßigen Besuch von Gastmählern. Unmäßiges Trinken führt zu unstillbarem Durst und zu weiterem für den bereits aufgeschwemmten Körper schädlichem Trinken. In philosophischen Texten wird der Hydrops dann zur Metapher für Habsucht und Ehrsucht, zur Warnung für Menschen, deren Lebensgefühl dadurch bestimmt ist, dass sie niemals genug bekommen. In vergleichbarer Weise wird das Krankheitsbild in der lukanischen Gastmahlepisode zum Symbol für eine solche »Suchtstruktur« des gesellschaftlichen Miteinanders. Mit der Heilung des 22 Vgl. John York, Last shall be first. The Rhetoric of Reversal in Luke, London 1991. 23 Vgl. Christopher Gill / Norman Postleth­ waight / Richard Seaford, Reciprocity in Ancient Greece, Oxford 1998; Miriam T. Griffin, Seneca on Society. A Guide to De Beneficiis, Oxford 2013; Elke Stein-Hälkeskamp, Das römische Gastmahl. Eine Kulturgeschichte, München 22010; Seth Schwartz, Were the Jews a Mediterranean Society? Reciprocity and Solidarity in Ancient Judaism, Princeton 2010. 24 Vgl. Reinhard v. Bendemann, Krankheit in neutestamentlicher Sicht. Anssätze – Perspektiven – Aporien, in: Günther Tomas / Isolde Karle (Hg.), Krankheitsdeutung in postsäkularer Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 63–184, 168–183; Martin Ebner, Symposium und Wassersucht, Reziprozitätsdenken und Umkehr. Sozialgeschichte und Theologie in Lk 14,1–24, in: David C. Bienert / Joachim Jeska / Thomas Witulski (Hg.), Paulus und die antike Welt: Beiträge zur zeit- und religionsgeschichtlichen Erforschung des paulinischen Christentums (FS Dietrich-Alex Koch), Göttingen 2008, 115–135.

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Wassersüchtigen nimmt der Wundertäter also eben die Befreiung vorweg, die er als Weisheitslehrer seinen Hörern während des Gastmahls zum Lernen aufgibt. Lk 14 führt damit sehr eindrücklich den Zusammenhang von Körperkonzepten, körperbezogenen Verhaltensweisen, sozialen Regeln und sozialen Gruppenstrukturen vor Augen. Anschlussfähig für Jugendliche im subjektorientierten Sinn ist zunächst die Fragestellung und lebensweltliche Verankerung: Vergleichbare Erfahrungen mit der Reziprozitätsregel machen Jugendliche sowohl bei ihrer Einladepraxis bei Parties als auch bei ihren Freundeslisten in sozialen Netzwerken. Entsprechendes gilt für körperbezogene Verhaltensweisen: Zunächst ist an die Verwendung von Suchtmitteln bei Parties zu denken, sodann an die suchtähnliche Verhaltensweisen generierende Anforderung sozialer Netzwerke mit ihren Erwartungen an Erreichbarkeit sowie Signalisierung und Zuteilung von Anerkennung. (2) Mittels sozialwissenschaftlicher Theoriemodelle – ich würde hier auf Goffmans »Wir alle spielen Theater« zurückgreifen25 – wird sodann der Zusammenhang von sozialer Gruppenstruktur und Körperinszenierung greifbar und thematisierbar. Der lukanische Erzählzusammenhang beschreibt diesen Zusammenhang nicht nur, sondern regt auch dazu an, – inszeniert wird schließlich eine Krankenheilung – zwischen lebensförderlichen und lebensfeindlichen Körperinszenierungen unterscheiden zu lernen, und zwar im Rekurs auf religiöse Deutemuster. Damit entsteht Anschlussfähigkeit im interdisziplinären Sinn. Die besondere Chance aus religionspädagogischer Sicht entsteht durch die

explizite Einbeziehung der Lebenswelten sowie transdisziplinärer Fragen. Daraus entstehen auch Kooperationsmöglichkeiten in der Schule. Die Fragestellungen sind häufig konkret, Texte werden nicht begrifflich, sondern bezogen auf ihren sozialen Kontext erschlossen. Zur Auslegung der Texte lassen sich narratologische und ikonographische Methodenschritte verwenden, die für Jugendliche leichter zugänglicher sind als ausschließlich begrifflich orientierte Textarbeit. Die Herausforderung besteht in der Weite des Forschungsfeldes und der erforderlichen Kenntnisse antiker Texte und Relikte sowie diese erschließender Theorien und Modelle. Einer eigenen Reflexion bedarf es, dass aus den Einzelaspekten kein Gesamtbild entsteht und darüber hinaus zwischen Einzelaspekten solcher historischer Anthropologie durchaus Spannungen entstehen können. Der Versuch, die potentiell uferlose und tendenziell beliebige Vielfalt möglicher Menschenbilder zu einem Ganzen zu organisieren, ohne dabei das Problem normativer Anthropologie, wie es in der philosophisch-theologischen Anthropologie auftritt, neu zu beleben, wird von kulturanthropologischen Ansätzen innerhalb der neutestamentlicher Anthropologie unternommen. 4. Kulturanthropologie und Neues Testament

Die Kulturanthropologie versteht sich als eine aus der Begegnung mit dem Fremden erwachsende Wissenschaft vom 25 Erving Goffman, Wir alle spielen Theater, München 112012.

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Menschen, die sozialwissenschaftliche Disziplinen integriert. Konstitutiv für kulturanthropologische Zugänge ist die Überzeugung von der Gleichwertigkeit der Kulturen – gegen rassistische, evolutionistische und eurozentrische Entwürfe – und damit verbunden eine Relativierung der normativen Ansprüche der eigenen Kultur, womit zumeist eine Offenheit für Subkulturen und Devianzen innerhalb der eigenen Gesellschaft einhergeht.26 Bruce Malina hat zu Beginn der 80er Jahre einen Entwurf vorgelegt, in dem er dazu ansetzt, das anthropologische Modell zu skizzieren, das in der gesamten mediterranen Welt Grundstrukturen der Konzeption menschlichen Lebens und Selbstentwurfs ausmacht und neutestamentliche Texte und Positionen in ihrer Kohärenz plausibel macht.27 Das Bild der »mediterranen Persönlichkeit«, das er dabei zeichnet, ist keineswegs auf die Antike begrenzt. Von daher entstehen zusätzliche Lernmöglichkeiten in den Bereichen interkulturellen und interreligiösen Lernens. Der besondere Vorzug eines kulturanthropologischen Zugangs liegt darin, befremdende Positionen biblischer Texte und christlicher Traditionsbildung in ihrer »anthropologischen Logik« einsehbar und eigene, gegenwärtige Konzepte – samt der wohlfeilen Empörung bei Kontakt mit »anderen« Konzepten – in ihrem Konstruktionscharakter durchschaubar zu machen. Kulturanthropologie vertritt das gleichberechtigte Nebeneinander anthropologischer Entwürfe gegen alle evolutionistischen und normativen Ansätze. Anschlussfähigkeit für gegenwärtige Fragen entsteht deswegen (1) durch Topoi, die anthropologische Konstanten

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ausdrücken wie Geburt und Tod, Sexualität, Sozialität und (2) durch »vergessene Verwandtschaften«. Ein kulturanthropologischer Zugang erlaubt es mithin, ins Nachdenken darüber zu kommen, wie in anderen Gesellschaften Menschsein anhand der anthropologischen Konstanten konstruiert, wahrgenommen, empfunden und gedacht wird. Ein solches Nachdenken kann dazu helfen, im Fremden Eigenes und im Eigenen Fremdes zu entdecken. Eine Öffnung für Jugendliche wird zunächst möglich auf der Basis der starken Bewegtheit jugendlicher Identitätsentwürfe und postmoderner Wahlfreiheit. Vorgelegt werden kann gewissermaßen die Frage »Welcher Menschentyp bist Du?«. Der Rückgriff auf das Wertefeld macht weiterhin erkennbar, dass Jugendliche, abhängig davon, ob sie sich im rechten oder linken Bereich des Wertefelds, das Gennerich vorgelegt hat, verorten, Anregungen erhalten, den »Schatten« der eigenen Orientierung wahrnehmen zu können: Jugendliche, die stark sicherheitsorientiert sind, werden dazu angeregt, das Fremde und Unvertraute in ihrer eigenen Tradition zu entdecken. Jugendliche, die in den linken Feldern verortet sind, könnten dazu angeregt werden, im Fremden das Eigene zu entdecken und eigene Entwürfe in einer stärkeren diachronen und synchronen Vernetzung wahrzunehmen. Die Wahl eines kulturanthropologischen Zugangs zur neutestamentlichen Anthropologie partizipiert mithin an den Lernchancen 26 Roland Girtler, Kulturanthropologie. Eine Einführung, Wien 2006, 11f. 27 Bruce J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart 1993 (engl. Louiville 1981). Zum Kulturbegriff Malinas vgl. ebd., 25f.

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Theoretische Grundlagen

und den Herausforderungen interreligiösen und interkulturellen Lernens. Als Beispiel wähle ich 1. Kor 11,2–16 und lenke die Aufmerksamkeit auf die begegnenden Genderkonzepte. Der besondere Reiz des Briefabschnitts besteht darin, dass der Text einen Konflikt behandelt, in dem einige Frauen und Männer in Korinth eine für aktuelle Genderkonzepte zumindest auf den ersten Blick plausiblere und sympathischere Position vertreten als der Apostel. Darüberhinaus regt der Konfliktcharakter des Textes zu eigenen Stellungnahmen an. Der Abschnitt beginnt mit einer captatio benevolentiae in Vers 2, Vers 3 formuliert die These, die Verse 4 und 5a ziehen daraus die Schlussfolgerung für die Praxis der Kopfbedeckung im Gottesdienst bezogen auf Männer und Frauen.28 In Vers 5b.6 fügt Paulus als stützendes Argument für die geforderte Praxis der Frauen einen Vergleich ein: Ein unbedecktes Haupt gleiche einem geschorenen Haupt. Tertium Comparationis ist die Schändlichkeit. Die Verse 7–12 legen im Rekurs auf den Schöpfungsbericht und auf Gen 6 in ihren antikjüdischen Rezeptionen Genderkonstrukte offen. Das geschieht in zwei Gängen: die Verse 7–9 fokussieren auf die Differenz, die Verse 11f auf ihre Gleichheit ἐν κυρίῳ (im Herrn). Als Konsequenz aus der Differenz fordert Vers 10 erneut die Bedeckung des Kopfes. Vers 13 setzt mit der Aufforderung einer vernünftigen Urteilsbildung neu ein und verweist in den Versen 14f auf die φύσις, die Natur, als Urteilsgrund. Vers 16 schließt den Abschnitt mit dem Verweis auf die »allgemeine christliche Praxis« ab. Die Genderdifferenz zählt in der mediterranen Kultur zu den fundamentalen

Grenzziehungen innerhalb der Gesellschaft. Da mediterrane Kulturen als an Ehre und Schande orientierte Kulturen einzustufen sind, unterscheiden sich die Vorstellungen eines ehrenhaften – als sozial angemessen geltendes und Wertschätzung zu Recht erwartendes Verhalten – vor allem abhängig von der Geschlechtsrolle. Ehre bedarf gewissermaßen der ständigen »Fütterung« – jede Begegnung mit anderen stärkt oder verletzt die Ehre, wirkt auf den sozialen Status, die erwartbare Wertschätzung, subtil ein. »Neutrale« Begegnungen sind nicht denkbar. Die Ehre der Frauen ist defensiv strukturiert und entscheidet sich vor allem anderen an ihren körperlichen Kontakten, an ihrer Keuschheit bzw. ehelichen Treue. Das Konzept erschließt sich am plausibelsten durch die Verwendung von Raummetaphern: Frauen symbolisieren den Innenraum, ihre Körpergrenzen entsprechen den Stadtmauern – die Eroberung einer Stadt wird als Vergewaltigung metaphorisiert, weswegen Rammböcke und Geschosse häufig phallisch gestaltet waren (und übrigens bis heute sind). Weibliche Ehre besteht darin, dass die Grenzen des Körpers der Frau unversehrt und unverletzt bleiben bzw. ausschließlich in regulierter Weise (Ehevertrag) von einem legitimierten Mann (Ehemann) zu legitimen Zwecken (Nachkommen) durchdrungen werden. Die Körpergrenzen sind bei Frauen deswegen besonders sensible Bereiche, die durch Kleidung eigens inszeniert werden. Da die Ehre von Frauen in die Ehre 28 Zur Frage nach dem konkreten konfliktauslösenden Verhalten vgl. Marlis Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2–16,24 (ÖTK 7/3), Gütersloh 2005, 33–41.

Guttenberger Neutestamentliche Anthropologie für Jugendliche – Was ist anschlussfähig?

von Männern eingebettet ist, ist männliche Ehre durch das Verhalten bzw. Erleiden von Frauen mitbetroffen. Daraus folgt auch, dass Frauen gewissermaßen die verletzliche Innenseite männlicher Ehre symbolisieren. 1. Kor 11,2–16 thematisiert mit der Kopfbedeckung nun eine Inszenierungsform der »Begrenzung« des weiblichen Körpers, genauer des Kopfes, der als Körperteil für die »Ehre« steht. Für Paulus steht damit das für ihn selbstverständliche Genderkonzept auf dem Spiel, wonach weibliche Ehre für das verletzliche Innen des Menschen steht. Die Öffnung kulturanthropologischer Überlegungen mit dem Fokus Gender für Jugendliche sind zahlreich. Mädchen und Jungen bzw. junge Frauen und Männer werden sich überraschenderweise in der »Innen- Außen«-Struktur wiederfinden können: Auch heute haben Frauen eine Affinität zum »Innen«; das reicht von der größeren Zuständigkeit für das individuelle Innenleben (Gefühle) und das Zwischenmenschliche (»Wir müssen reden«) bis zur Zuständigkeit für die Wohnungseinrichtung. Bis heute ist das »Eindringen« in den fremden Raum (»das Runde muss in das Eckige«) und eine offensive Form der Konzeption von Ehre, die Freude am Wettkampf und der Konkurrenz in besonderer Weise mit männlichen Vorlieben konnotiert. Jugendliche kennen aber auch die Abwehr solcher traditioneller Genderkonzepte, wie sie besonders am stigmatisierten Anderen inszeniert werden: Mit erstaunlicher Beständigkeit sind die Kleiderordnung einer Gruppe von muslimischen Frauen oder die Sexualmoral konservativer römisch-katholischer Kreise verlässliche Auslöser für Empörung.

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Kulturanthropologische Annäherungen an neutestamentliche Texte sind m.E. besonders vielversprechend. Aus neutestamentlicher Sicht erlauben sie es, die Texte in ihrer Fremdheit wahrzunehmen; aus religionspädagogischer Sicht entsteht gerade in dieser Fremdheit Anschlussfähigkeit. Das Eigene kann in der Folge fremder und der fremde biblische Text kann vertrauter werden. Sicherheitsund veränderungsorientierte Grundhaltungen von Jugendlichen werden damit einerseits aufgenommen und befriedigt, andererseits aber auch »modifiziert«. Die Fragestellungen sind konkret und lebensweltbezogen. Die besondere Herausforderung eines kulturanthropologischen Zugangs zu neutestamentlichen Texten liegt auf einer theologischen Ebene und berührt die Frage nach der Normativität und orientierenden Funktion religionspädagogischen Handelns. Der jugendtheologische Ansatz kann mit dieser Herausforderung möglicherweise jedoch gelassener umgehen als andere religionspädagogische Konzepte. 5. Abschließende Überlegungen

Wie biblische Texte in jugendtheologische Prozesse eingespielt und welche Funktionen sie in solchen Prozessen wahrnehmen können und sollen, ist durch die vorgelegten Überlegungen nicht berührt. Gleichwohl ist damit eine grundlegende Frage angesprochen, die nicht nur didaktische und methodische Fragen der Unterrichtspraxis betrifft sowie den gesamten Komplex bibeldidaktischer Gravamina aufruft, sondern auch für die jugendtheologische Theoriediskussion insofern von Bedeutung

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ist, als der theologische Anspruch des Modells in den Blickpunkt gerät: Wenn die theologische Tradition der (westlichen) Christenheit in einzelnen Phasen des jugendtheologischen Prozesses bzw. bei bestimmten Gelegenheiten dieses Prozesses ins Spiel gebracht werden soll, ist es von Bedeutung, ob damit vorwiegend die dogmatische Disziplin gemeint ist oder ob die biblischen Wissenschaften im gleichen Rang dazu gehören. Für die biblischen Wissenschaften ist die Emanzipation von der Dogmatik sowie ihre an den althistorischen und altphilologischen Nachbardisziplinen geschulten Fragen, identitätsstiftend. Die daraus entstehenden unauflösbaren Spannungen in aka-

demischer und »persönlicher« Theologie und Frömmigkeit sind für das westliche, insbesondere für das prostestantische Christentum typisch und zugleich – wie an gegenwärtigen Diskussionen über die Koranauslegung innerhalb der europäischen islamischen Theologie erkennbar – eine Bedingung für die Pluralitätsfähigkeit von Religion in unserer Gesellschaft. Gerade ein jugendtheologischer im Unterschied zu einem kindertheologischen Ansatz könnte im Hinblick auf seine Theorieentwicklung dadurch gewinnen, dass die Frage nach der möglichen Funktion biblischer Texte in jugendtheologischen Prozessen erneut durchdacht wird.

Thaidigsmann Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte

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Edgar Thaidigsmann Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte

1. Lachen in der Reli-Stunde

Vor mir liegt das Protokoll einer Schulstunde (Oberstufe) zu »Lebensnaher Zugang zum Thema Rechtfertigung«1. Protokolliert ist auch das etwas verdruckste Lachen von Schülerinnen und Schülern: wenn das Verhältnis der Geschlechter zur Sprache kommt; beim Thema ›Religionsunterricht‹ als einem besonderen Fach; schließlich bei Erwähnung eines theologisch-dogmatischen Begriffs wie»Sünde«. Das Lachen der Jugendlichen signalisiert etwas, das präsent und wirksam ist, offensichtlich aber nur schwer ins Wort geholt werden kann. Es zeigt an, dass etwas getroffen ist, was den Jugendlichen nahe geht, sie affiziert und beschäftigt, womit sie aber nicht frei umgehen können, denn es droht die Gefahr, sich bloßzustellen. So zeigt dieses Lachen eine Spannung von Präsenz und Verbergen an. Scham und Verschämtheit haben mit solcher Spannung zu tun. Nicht nur hinsichtlich des anderen Geschlechts, auch im Blick auf überlieferte religiöse Worte wie »Sünde« oder auch »Seele« gibt es das Problem der Verschämtheit und der Scham: ob man davon sprechen kann oder sich mit intimen Empfindungen und Wünschen bloßstellt. Das Lachen der Jugendlichen hängt zwischen dem Bedürfnis, darüber zu reden und schamhaftem Schweigen.

In einer noch anderen Weise betrifft das den Religionsunterricht im Ganzen. Offensichtlich ist in ihm eine Spannung wirksam zwischen der Erwartung, dass im RU Dinge zur Sprache kommen können, die sonst keinen Ort haben, und dem Gefühl, im RU herrsche eine Art Sprachregelung, so dass manche Dinge gerade da nicht wirklich besprochen werden können. In dieser gegenläufigen Erwartung, die zu eigentümlichem Lachen Anlass gibt, findet auch die Spannung Ausdruck zwischen dem objektivierenden Gestus der Schule bei der Aufteilung des »Stoffs« in fachliche Sachgebiete, und dem, was man nicht so sachlich behandeln kann, weil es mehr das Ganze des Lebens betrifft und viel Eigenes der Schüler und der Lehrer daran hängt. Zwar hat auch der RU seine sachliche Gegenständlichkeit, doch wenn er sich darauf beschränkt, so bleibt ein Unbefriedigt-Sein. Von dem verschämten, manchmal auch etwas provozierenden Lachen her, das diesen Spannungen entspringt, stellt sich die Frage, ob und wie sich ein Klima, eine Atmosphäre und eine Sprache finden, wo in angemessener und hilfreicher Weise über manches gesprochen werden kann, was zwar da 1 Ingrid Grill (Hg.), Unerwartet bei der Sache, dem theologischen Nachdenken von OberstufenschülerInnen auf der Spur, RU – Werkstatt Oberstufe 4, 2005, 33–47.

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ist, interessiert und beschäftigt, jedoch verdeckt ist. Es ist ein Zeichen der Zeit, dass auch Worte der christlichen Tradition zu den Dingen gehören, die verschämtes Lachen hervorrufen. Sie erscheinen einerseits als überholt und unbrauchbar, zeigen jedoch auch etwas an, womit man nicht fertig ist und worüber man gern genauer Bescheid wüsste, etwas, wofür man keine richtigen Worte hat und was doch der Klärung bedürfte. Über die spezifischen Fragen des Jugendalters hinaus könnte das Lachen der Schüler auch anzeigen, wie es mit dem Thema ›Religion‹ in der Gesellschaft steht. Es gibt da Untergründiges, das eines befreienden Umgangs bedürfte. Der aber kommt nicht dadurch zustande, dass eine modern anmutende Sprachregelung eingeführt wird oder bestimmte Dinge einfach nicht zum Thema gemacht werden. Das Protokoll der Stunde zeigt, dass auch die Religionslehrerin an der angesprochenen Schamproblematik teilhat. Sie meint, dass eine Schülerin das Wort »Sünde« nur gebrauche, weil sie im RU sei, und dass dahinter keine echte Frage stecke. Mit dieser Unterstellung weicht die Lehrerin aus und rettet sich dann durch den Verweis auf schon besprochene Menschenbilder, über die man objektivierend reden und die man sortierend darstellen kann. Blickt man auf die Diskussion um Sinn und Zweck des RU überhaupt, so zeigt sich in dem Lachen eine die Lehrenden herausfordernde Spannung zwischen der Forderung fachlicher Sachlichkeit und dem Anspruch, dabei auch Lebensbegleitung zu geben2, und einer Sprachnot sowohl im Blick auf die Wirklichkeit der

jugendlichen Schüler und Schülerinnen als auch im Blick auf die biblisch-christliche Sprache und die Vorstellungen und Empfindungen, die sich damit verknüpfen, einer Sprache, die eigentlich der befreienden Erschließung der menschlichen Wirklichkeit und der Orientierung in ihr dienen will. Immerhin: Im Laufe der Stunde nimmt das Lachen ab. Das dürfte ein Indiz dafür sein, dass es der Lehrerin doch gelungen ist, über Dinge ins Gespräch zu kommen, die sonst nur im Lachen präsent und zugleich unter der Decke sind. Das Lachen in der Schulstunde eröffnet einen Zugang zu Fragen einer Anthropologie des Jugendalters. Anthropologie meint ja, dass die Wirklichkeit des Menschen in den Logos, in die Sprache, in erhellende und klärende Begriffe gefasst wird. Dabei ergibt sich freilich das fundamentale Problem, dass bei anthropologischen Überlegungen Menschen über das Menschsein sprechen, an dem sie selbst teilhaben. Sie reden damit immer zugleich über sich selbst als Beteiligte und können deshalb nicht ganz frei über sich selbst stehen und frei sich zu sich selbst verhalten. Anthropologische Aussagen sind abhängig vom Standort und der Befindlichkeit des Beobachtenden und Urteilenden. Dem entgeht auch eine empirische Orientierung nicht grundsätzlich. Wohl weist die auf Phänomene, die zur Kenntnis genommen werden müssen, doch bedürfen sie der Deutung, und da muss der eigene Standpunkt offen gelegt werden. Man kann sich hinter sogenannter Empirie auch verstecken. 2 Karl Ernst Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 1990.

Thaidigsmann Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte

Im Kontext der Schule als einem Segment der Gesellschaft stellt sich die christliche Religion als eine besondere Perspektive dar. Als solche genießt sie in der Öffentlichkeit derzeit nicht besonders hohes Ansehen. Das dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Religion in Deutschland, anders als etwa in den USA, einst mit der politischen Obrigkeit verquickt war und ihr von da her der Ruch des Autoritären neben dem des bloß Konventionellen anhaftet. Doch wäre es nicht gut, sich aus der Schule und den damit gegebenen Herausforderungen zurückzuziehen. Die Situation, die u.a. durch das Gegenüber zum Ethikund Werteunterricht gekennzeichnet ist, ist als Chance wahrzunehmen, die biblisch-theologische Perspektive inmitten der Einrichtungen öffentlicher Bildung zu vertreten und darüber Rechenschaft zu geben, wie sie die Wirklichkeit von Mensch, Welt und Gott inmitten anderer Perspektiven erschließt. Dabei wird sich zeigen, dass sich aus dem Achten auf Fragen, die die Schüler mitbringen, und auf das, was die biblisch-theologische Perspektive zu sagen hat, über alle sachliche Unterrichtung hinaus und inmitten all der anderen Fächer ein befreiender Wirklichkeitsgewinn im Verständnis des Menschen ergeben kann. Dann kann an die Stelle des verschämten Lachens ein befreites Verstehen treten, das noch etwas anderes ist als angeeignetes Wissen. Theologische Anthropologie des Jugendalters hat darin ihren besonderen Reiz, dass im Jugendalter Spannungen aufbrechen, die im Erwachsenenalter durch Rationalisierung von Wirklichkeit mittels einer routinierten Sprache und durch Ausgrenzung dessen, worüber man schweigt, geglättet sind. Jugendli-

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che fügen sich da oft nicht einfach ein, sind merklich oder auch unmerklich auf der Suche. Auf der einen Seite brechen sie die herrschende Sprache und ihre Zurechtlegung von Wirklichkeit durch Reduktion und Expression auf, zugleich aber suchen sie sprachliche Stabilität in einer eigenen, möglichst überlegen wirkenden Sprache, die andeutend mehr verbirgt als erhellt. Eine andere Möglichkeit ist der Rückzug in sich selbst. Die im Lachen während der ReliStunde sich ausdrückende und verbergende Befindlichkeit der Jugendlichen habe ich mittels des Begriffs der Scham3 gedeutet. In einer Anthropologie des Jugendalters ist auf das Problem der Scham in der Spannung von Verbergen und Entbergen besonders zu achten. Kirche und Theologie haben es in ihrer Geschichte zentral mit den Themen Gerechtigkeit, Schuld, Rechtfertigung und Vergebung zu tun. Elementar geht es da um das Tun und Lassen »in Gedanken, Worten und Werken« (Luther) im Verhältnis zu anderen. Der Mensch ist dabei bis in seine Motive hinein zuerst als Handelnder und Täter, aber auch als Unterlassender und als Opfer im Blick. Bei Scham hingegen geht es um die Wahrnehmung seiner selbst »im Angesicht« seiner selbst, anderer und Gottes. Ein Mensch, der sich schämt, nimmt sich selbst vor dem Forum anderer wahr als einer, der er nicht sein möchte. In unwillkürlicher Reaktion, man denke z.B. an das Rot-Werden, nistet Scham in dem Missverhältnis zwischen dem, der jemand vor anderen sein 3 Vgl. dazu: Jean Paul Sartre, Der Blick, in: Ders., Das Sein und das Nichts (rororo 13316), Reinbek 2000, 457–538; Leon Wurmser, Die Maske der Scham, Eschborn 42008.

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möchte und dem, als der er sich selbst im Augenblick vor anderen erfährt. Diese spannungsvolle Wirklichkeit, die in der schamhaften Wahrnehmung seiner selbst sich zeigt, entsteht aus der Wahrnehmung der eigenen Leiblichkeit, Begrenztheit, Verletzbarkeit, Bedürftigkeit und Fehlbarkeit auf der einen, dem erstrebten Bild vom freien, souverän überlegenen und mündigen Subjekt auf der anderen Seite. Die Bewegung in diesem Spannungsverhältnis kann freilich auch dahin gehen, dass die Erfahrung eigener Begrenztheit, Verletzlichkeit und Fehlbarkeit nicht zu Scham führt, sondern zu forcierter Selbstdarstellung, aber auch dahin, dass Jugendliche an eigenen Unzulänglichkeiten, die sie empfinden, seien sie körperlicher oder anderer Art, schamhaft hängen bleiben und von anderen darauf festgenagelt werden, so dass das Selbstwertgefühl untergraben wird. Das Jugendalter ist eine Zeit, in der um die Bewältigung dieser Spannungen gerungen wird, sichtbar für den, der die entsprechenden Zeichen zu lesen versteht. Kein Jugendlicher will schwach und gleichsam nackt vor den anderen und vor sich selbst dastehen. Die Schamproblematik ist von der Schuldthematik zu unterscheiden und doch auf eine subtile Weise mit ihr verknüpft. Theologisch sei an die biblische Urgeschichte (Gen 3) erinnert. Herausgefallen aus der unmittelbaren Geborgenheit ihres Daseins sehen die Menschen sich in ihrer nackten Kreatürlichkeit und Fehlbarkeit. Die Folge: Sie schämen sich und verstecken sich vor Gott und vor einander. Gott aber, so heißt es, bekleidet sie, indem er ihnen als eine erste Tat der Barmherzigkeit Röcke aus Fellen macht und ihnen so eine gewisse Verhüllung zukommen lässt,

was nicht nur auf die Sexualität zu beziehen ist. Erinnert sei auch an Paulus, der sich, wie es Röm 1,16 heißt, nicht schämt, im damaligen Zentrum hellenistischer Bildung, Kultur und Macht, in Rom, mit dem Evangelium von dem ausgestoßenen Gekreuzigten, der, so das Widerfahrnis der Auferweckung, von Gott ins Recht gesetzt wurde, auftreten zu wollen. 2. Zur Eigenart theologischanthropologischer Aussagen

Eine Grundeinsicht reformatorischer Theologie ist, dass Gott und Mensch zusammengehören. Gott erkennen heißt, sich selbst erkennen; wahre Selbsterkenntnis ist nur von Gott her möglich. Das sind theologische Sätze. Theologische Sätze beziehen sich auf die Wirklichkeit des Menschen in der ganz bestimmten Perspektive, dass Gott dem Menschen in einer zugleich heilsamen und erhellenden Geschichte begegnet ist, die durch Erzählen, Nachdenken und Handeln weiter geht. In dem Licht, das von da her auf die Menschen fällt, kann gezeigt werden, was es bedeutet, sich selbst mitsamt der Welt von da her zu verstehen. Inmitten anderer Erhellungen und Verdunkelungen des Menschseins hat das die Kraft, für sich selbst zu sprechen. Didaktisch und argumentativ ist es so zu explizieren, dass es für sich selbst sprechen und einleuchten kann, jedoch nicht muss. Auch wem die theologische Perspektive nicht einleuchtet, dem kann doch gezeigt werden, was sie für die Wahrnehmung des Menschen bedeuten kann. Das Folgende ist der Versuch, ausgehend vom Versuch einer objektivierenden Selbstwahrnehmung des Menschen,

Thaidigsmann Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte

dahin vorzudringen, wo es um das Selbstsein des Menschen geht. Nach reformatorischer Einsicht geht es da implizit oder explizit zugleich um Gott. Wie die Beobachtungen zum Lachen in der Reli-Stunde zeigen, bietet das Unternehmen, über theologische Anthropologie im Blick auf das Jugendalter nachzudenken, eine besondere Chance, werden doch im Jugendalter bestimmte Seiten des Menschseins, mit denen Jugendliche nicht fertig sind, in vielfach widerstreitender Sperrigkeit spürbar und sichtbar: Spannungen zwischen der eigenen Körperlichkeit und der Fähigkeit zu distanzierender Reflexion, zwischen dem Ringen um das eigene Selbstsein und dem tiefen Bedürfnis, Bedeutung für Andere zu haben, zwischen Leistungsanforderungen von außen und der Notwendigkeit, inmitten solcher Forderungen mit sich selbst als diesem besonderen Mensch zurecht zu kommen. Das Jugendalter ist ein besonderes Laboratorium des Menschseins. Wir wenden uns Luther zu. Er nimmt immer wieder anthropologische Grundmuster auf, wie sie die Vernunft erkennt, um in Bezug darauf zu zeigen, was es bedeutet, den Menschen in theologischer Perspektive wahrzunehmen. 3. Zwei Ansätze theologischer Anthropologie bei Luther 3.1 Der Mensch als »vernünftiges Tier« (animal rationale)

»Animal rationale« (vernünftiges Tier) ist die lateinische Übersetzung der griechischen Definition des Menschen als »zoon logon echon«: Der Mensch ist das Lebewesen, das den Logos, das Sprache, Wort,

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Vernunft hat. Diese Definition folgt dem klassischen Schema, Erkenntnis durch Vergleich zu gewinnen. Zunächst wird die Gattung und damit die Gemeinsamkeit mit anderen Lebewesen, dem Tier, festgestellt, dann das unterscheidend Besondere: Sprache, Vernunft. Die Zuordnung zu den Tieren nimmt den lebendigen und vergänglichen Körper mitsamt all seinen Voraussetzungen und Bedürfnissen in den Blick. Die Parole »der Mensch stammt vom Affen ab« ist eine durch die moderne Abstammungslehre zugespitzte und popularisierte Variante dieser Erkenntnis. Die Biologie, heutzutage insbesondere die Molekularbiologie, macht deutlich, wie viel der Mensch bis in die Gene hinein mit den Tieren gemeinsam hat. Das Gewicht der klassischen Definition liegt freilich darauf, was den Menschen vom Tier unterscheidet: auf Sprache und Verstand. Der Mensch vermag die Dinge der Welt zu benennen, sich vorzustellen, sie zu vergleichen und zu erforschen. In seinen Disputationsthesen »Über den Menschen« (De homine, 1536)4 greift Luther die Definition des Menschen als »animal rationale« auf und rühmt die Fähigkeiten der Vernunft (ratio): »Sie ist die Erfinderin und Lenkerin aller (freien) Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Ruhm von Menschen besessen wird« (Th5). Mit Hilfe seines Verstandes, der Ratio, verwirklicht der Mensch das »Machet euch die Erde untertan« (Gen 1,28). 4 Die Thesen sind leicht zugänglich in: Martin Luther, Disputation über den Menschen. 1536, in: Ders., Ausgewählte Schriften, Hg. Karin Bornkamm / Gerhard Ebeling, Bd. 2 (Insel Tb. 1752), 1995, 293–297.

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Nehmen wir Jugendliche in der Perspektive dieser Definition in den Blick, so ist zunächst festzustellen, dass sie viel trifft. Das Jugendalter ist die Zeit, in der das rationale Vermögen sich in besonderer Weise ausbildet. Deshalb fasziniert wissenschaftliche Erkenntnis, voran derzeit Naturgeschichte, Biotechnologie und Hirnforschung. Mit einem gewissen philosophischen Interesse wollen Jugendliche die Dinge »durchschauen«, gar »das Ganze« rational fassen und nach Möglichkeit alles aus einem Prinzip erklären. Wo wissenschaftliche Erkenntnis ist, da ist auch die Möglichkeit gegeben, dass man damit etwas machen und sie technisch umsetzen kann. Zwar sind Jugendliche in Fragen von Recht und Unrecht, von Freiheit und Zwang durchaus sensibel, doch ist es für sie nicht einfach, wissenschaftlich-technisches Können ethisch zu reflektieren. Sie bleiben gerne an der Faszination durch technisch umsetzbare Erkenntnis hängen und brauchen eine Anleitung zur Erkenntnis, dass das rationale Vermögen und das technisch Machbare noch ethischer Reflexion bedürfen. Das Jugendalter ist auch die Zeit, wo die eigene Körperlichkeit, manchmal befremdend, erst richtig wahrgenommen wird. Spannungen zwischen rationaler Begabung und gefühlsintensiv erlebter eigener Körperlichkeit werden erfahren. Der Umgang mit dieser schwankt zwischen der Demonstration distanzierender Überlegenheit und dem Verlangen nach körperlicher Erfahrung. Wie überhaupt die Jugendzeit eine Zeit ist, in der die Welt mit ihren noch unbekannten Räumen dazu lockt, sie zu entdecken und zu erfahren.

Schon die klassische Definition des Menschen als »vernünftiges Tier« deutet eine Bruchstelle und ein Problem in der Selbsterfahrung des Menschen an. Sie trennt tendenziell, was zusammen gehört und doch vor allem auf dem Weg durch das Jugendalter neu integriert werden will: Körper und Verstand. Luther nimmt die Definition »animal rationale« (vernünftiges Tier) auf. Er rühmt die Fähigkeiten der Vernunft, sich das untertan zu machen, was sie erkennen und beherrschen kann: die Dinge der Welt. Zugleich aber stellt er heraus, worüber der Mensch nicht in dieser Weise Macht hat: über sich selbst. Das zeigt Angewiesenheit auf etwas, das außerhalb der eigenen Verfügung und doch entscheidend für das eigene Menschsein ist: von der Angewiesenheit auf andere bis hin zum Geheimnis der Zuwendung Gottes. Das sei an einer kleinen Anthropologie aufgezeigt, die sich an anderer Stelle bei Luther findet. 3.2 Menschsein in drei elementaren Beziehungen – Ein Gleichnis des Menschen

In seiner Auslegung des Magnificat (Lk 1,46–55)5 nimmt Luther zur Charakterisierung des Menschen ein biblisches Bild auf, als »Gleichnis«, wie er sagt: das »Zelt der Begegnung«. Israel führte es auf seinem Weg durch die Wüste mit sich (Ex 26,33f; 40,1f) und es wurde zum Vorbild des Tempels in Jerusalem. Schon mit der Wahl dieses Bildes als Gleichnis für den Menschen sind zwei Dinge gesagt. Zum einen: Menschsein ist Sein in Zeit und 5 Luther (s. Anm. 4), 115–196, 125f.

Thaidigsmann Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte

Geschichte, ist doch das Zelt der Begegnung ein Wanderheiligtum. Mit dem Menschsein in Zeit und Geschichte ist die Frage von Identität und Veränderung in der Zeit gegeben. Zum andern: Nicht als solches ist dieses Zelt heilig, wohl aber als der Ort, an dem Gott begegnen kann und will. So wird der Mensch geheiligt als der Ort, an dem Gott erscheinen will. Damit ist von Luther die biblischtheologische Perspektive eröffnet, von der aus er den Menschen weiter in den Blick nimmt. Diese Perspektive isoliert nicht von der allgemeinen Debatte um das Menschsein des Menschen, sondern führt mitten hinein. Man denke z.B. an die These von der »unverletzlichen« »Würde des Menschen« im Grundgesetz (vgl. GG Art. I,1), die allen Grundrechten voransteht. Sie stellt eine in die Form der Vernunft gefasste säkulare Gestalt der Heiligung des Menschen dar. Die »Würde des Menschen« ist ein profanes Gleichnis der dem Menschen nach biblisch-theologischer Erkenntnis zugesprochenen Gottebenbildlichkeit. Wollen wir in religionspädagogischer Perspektive mit Jugendlichen umgehen, so ist zu beachten, dass jedem Menschen, jedem Jugendlichen etwas zukommt, das nicht empirisch-wissenschaftlich aufgewiesen werden kann und für das Menschsein doch elementar wichtig ist. Die These von der Würde des Menschen, die nicht an einzelnen Fähigkeiten wie dem Verstand oder der Leistungsfähigkeit festgemacht ist, macht den Gedanken von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und von der ihm zugesprochenen Heiligkeit auch für eine nichtreligiöse Vernunft diskutabel. Theologie folgt, trotz allem, was bei einem Menschen dagegen sprechen mag, grundsätzlich der

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biblischen Perspektive: »Du bist wert geachtet in meinen Augen«. Damit wird ein Mensch, auch gegen das, was er über sich selbst denken mag und was er möglicherweise an Bösem tut, von Gott her als ein Wesen festgehalten, für das Gott eintritt. Es kann gerade für spannungsvoll umgetriebene Jugendliche sehr wichtig sein, dies gelegentlich zu hören und zu erfahren. Luther verknüpft das Bild vom Wanderheiligtum, das drei Räume hat, Vorhof, Heiliges und Allerheiligstes, mit der überlieferten Anthropologie, wonach im Menschen drei elementare Dimensionen verknüpft sind: Leib, Seele und Geist (vgl. auch 1. Thess 5,23). Indem Luther dem nachgeht, ergeben sich weitere Wirklichkeitserhellungen. Die öffentliche Erscheinung des Menschen Der Vorhof ist der Bereich, in dem sich Menschen öffentlich wie auf einem Markt treffen. Sie sehen, werden gesehen und wollen gesehen werden. Mit dem Vorhof vergleicht Luther den Menschen als körperlich-leibliches Wesen. Mit seiner leiblichen Gestalt, durch Kleidung und Haltung sich in Szene setzend, erscheint er vor den Augen anderer und stellt sich vor ihnen dar. Mit der Erscheinung verknüpfen sich Ansehen und Anerkennung und die Bedeutung, die jemand vor anderen hat oder erstrebt oder auch nicht hat und nicht bekommt. Darin, wie ein Mensch von anderen gesehen wird, ist ein Urteil wirksam, das als aufbauend oder als destruktiv erfahren wird. Das spielt eine bedeutende Rolle für das Selbstgefühl und die Selbstvergewisserung der einzelnen. Besonders gilt das für Jugendliche, die nach der Kindheit erst richtig emp-

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findlich werden für das Ansehen, das sie über den vertrauten Familienkreis hinaus gewinnen wollen. Wie sie vor anderen, insbesondere vor Gleichaltrigen und vor dem anderen Geschlecht erscheinen, von ihnen gesehen und beurteilt werden, übt existenziell wirksame Macht über sie aus. Entsprechend suchen sie ihre Erscheinung zu formen, nicht nur in Kleidung und Gehabe, und wollen Freunde gewinnen, und sei es in der nur virtuellen Öffentlichkeit des Internet. Die Bedeutung, die das »vor anderen« in der Jugendzeit bekommt, gründet in der Suche nach sich selbst, dem Drang, zu erfahren wer man selbst ist, dem Bedürfnis, sich seiner selbst zu vergewissern und Bedeutung zu haben. Zwei Relationen sind da vor allem wichtig, die sich jedoch im Einzelnen konfliktreich überschneiden können. Da ist einmal das institutionell verordnete »vor anderen« in der Gestalt von Schule und Lehre, hinter dem die Gesellschaft mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Forderungen steht, die sich etwa in der Forderung nach Leistung niederschlagen. Zum andern sind da die selbst gesuchten anderen in Freundschaft und Gruppe, wo einer eher um seiner selbst willen etwas gilt. In beiden Relationen erweist sich das eigene Menschsein in Zuspruch und Widerspruch spürbar als von außen bestimmt. Die rationale Weltbeziehung Im Heiligen, dem zweiten Raum des Wanderheiligtums, finden sich Symbole wie der siebenarmige Leuchter, die für Israels Identität von seiner Geschichte her bedeutsam sind. Gerade für eine Anthropologie des Jugendalters sind Zeichen und Symbole für die eigene Iden-

tität wichtig. Daher auch das Bedürfnis, sich mit etwas zu identifizieren, das groß und bedeutsam ist und sich in der Kleidung oder in der Gestaltung des eigenen Zimmers manifestiert. Solche Zeichen und Symbole bilden Knotenpunkte der Vergewisserung seiner selbst auf dem Weg in eine noch nicht festgestellte, ungewisse und doch erhoffte Zukunft. Luther nimmt in diesem Raum den siebenarmigen Leuchter in seiner Licht spendenden Funktion in den Blick. Übertragen auf den Menschen betont er, dass Licht nicht nur, wie in der größeren oder kleineren Öffentlichkeit von außen auf einen Menschen fällt, sondern dass in ihm selbst Licht ist. Durch seine Verstandeskräfte vermag er von sich selbst her die Welt zu erhellen und in verständiger Weise mit ihr umzugehen. Im Jugendalter vollzieht sich dieses HellMachen durch die Bildung des Verstandes in Schule und Ausbildung auf dem Weg der Aneignung und Anwendung gesellschaftlich akkumulierten Wissens und Könnens. Die individuelle Neugier der einzelnen auf die Welt kann dazu in eine ergänzende, aber auch in eine spannungsreiche Beziehung treten. Neben dem verordneten Weg durch Schule und Betrieb nehmen Jugendliche oft noch ganz andere Wege wahr, sich die Welt zu erschließen und zu erhellen. Das reicht von der Erkundung bisher unbekannter Lebens-Räume wie Discos, Kneipen und esoterische Gemeinschaften bis hin zum Ausprobieren ungekannter Stoffe materieller und spiritueller Art, die Erforschung der Möglichkeiten des Internets nicht zu vergessen. Nicht zu unterschätzen ist bei der Suche nach eigener Welterschließung die Bedeutung, die dabei Älteren zukommt, die Jugend-

Thaidigsmann Theologische Anthropologie – Systematische Aspekte

lichen etwas von der Welt eröffnen und dies authentisch vertreten. Sie gewinnen bei ihnen ganz von selbst Autorität, die freilich nicht missbraucht werden darf. Da reicht es nicht, nur die Funktion eines Lehrers oder Pfarrers zu haben. Vom Geheimnis der Person Mit Blick auf das Allerheiligste im Wanderheiligtum spricht Luther eine dritte Dimension des Menschseins an. Hier haben wir es mit einem Bereich zu tun, in dem weder das Licht der Öffentlichkeit noch das Licht der rationalen Weltaneignung auf angemessene Weise hell zu machen vermögen. Übertragen ins Anthropologische nennt Luther den Raum des Allerheiligsten den Raum des Geistes und des Glaubens. Das darf nicht gleich christlich verstanden werden. In der Dimension des Geistes und des Glaubens geht der Mensch, so Luther, mit »unsichtbaren« und »unbegreiflichen« Dingen um. Die Worte »unsichtbar« und »unbegreiflich« weisen darauf hin, dass es dabei um Dinge geht, die zwar große Bedeutung für das Selbstbewusstsein, für das Selbstgefühl und für Sinn und Orientierung des eigenen Lebens, haben, jedoch keine objektivierbaren Gegenstände und nicht technisch handhabbar sind. Es geht um das, was Menschen über alles wichtig und wert ist und woran sie ihr Herz hängen6. Diese innerste Beziehung prägt die Ganzheit eines Menschen umfassend, integriert ihn als Person und bestimmt seine Haltung und Einstellung zu den Fragen des Lebens. Bildlich lässt sich das so verdeutlichen: Der Verstand richtet sich auf das, was »unter« dem Menschen ist und durch sein Erfassen und Begreifen beherrscht wird. Im Geist und im Glauben eines Menschen aber

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wird das an ihm wirksam, was »über ihm« ist, ihn erfüllt, bewegt, bestimmt und auch hinreißen kann und was er nicht letztlich zu objektivieren vermag. Nehmen wir das von Luther aufgenommene Bild vom Heiligtum, so erscheint das Allerheiligste zwar als separater Raum, doch sind die anderen Räume und Bereiche darauf hin ausgerichtet und von da her bestimmt. In der Übertragung bedeutet das: Das, was Luther den Geist und Glauben eines Menschen nennt, wirkt auf Leib und Seele mitsamt der Vernunft, ohne dass diesen ihre relative Selbständigkeit genommen würde. Man kann die verschiedenen anthropologischen Dimensionen des Menschen, seine Erscheinung vor anderen, die rationalen Fähigkeiten oder die Religion jeweils auch für sich nehmen. Davon leben die verschiedenen Wissenschaften. Doch darf, wenn wir Luthers theologischer Perspektive folgen, der ganze Mensch in all diesen Bereichen nicht aus dem Blick geraten. Luther spricht da vom »Geist« des Menschen, wo wir heutzutage von seinem Selbst sprechen. Das Selbst zehrt von dem, was elementar zu ihm spricht, wovon es sich Elementares verspricht, wovon es lebt und wo es Sinn findet. Im Selbst fällt auch die Entscheidung darüber, welche Bedeutung dem Ansehen von außen und den eigenen rationalen Fähigkeiten zukommt. Entscheidend ist, welche guten oder unguten Geister in dem für die Öffentlichkeit und durch die welterhellende Ratio letztlich nicht objektivierbaren und beherrschbaren Raum Wohnung nehmen. 6 Vgl. Luthers Erklärung des 1. Gebots im Kleinen und im Großen Katechismus.

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Theoretische Grundlagen

Dieser letzte Aspekt aus Luthers kleiner theologischer Anthropologie kann uns darauf aufmerksam machen, dass das Selbst eines Jugendlichen nicht missachtet, nicht verdinglicht oder gar instrumentalisiert werden darf. Mit Urteilen ist da ganz behutsam umzugehen. Geht es beim Selbst doch gleichsam um das Allerheiligste. Das Selbst transzendiert, was in der Erscheinung zu sehen und durch die Kompetenzen der wissenschaftlichen Ratio objektiviert werden kann, so sehr Jugendliche sich auch an Fragen der eigenen Erscheinung vor anderen hängen und so viel sie auch auf die Wissenschaften setzen. Doch es bedarf eines noch anderen, behutsamen Umgangs mit diesem Selbst. Dazu ist eine Sprache nötig, die nicht nur Information ist, sondern

den anderen anspricht, wobei die leibhaftige Person des Sprechenden immer mitspricht. Jugendliche sind sehr sensibel für die Authentizität solcher Sprache und der Person. Soll sie ansprechen, muss es eine Sprache der Verbundenheit sein, die frei setzt zu sich selbst, auch beim Aufzeigen von Grenzen. Wo es um das Selbst-Werden geht, da gibt es keinen direkten Zugriff anderer, sondern nur einen indirekten Zugang, der durch das eigene Selbst der Jugendlichen hindurchgeht. Bei allem muss die Freiheit der eigenen Aneignung bleiben. Nicht ein anderer soll das Allerheiligste besetzen, vielmehr muss es frei bleiben, damit Gott zum Jugendlichen und er zu sich selbst kommen kann.

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Katrin Bederna »Einerseits ist sie selber schuld aber andererseits kann sie eigentlich nichts dafür« – Freiheitsbewusstsein Jugendlicher »Die Symptome einer zunehmenden Regression des Freiheitsbewusstseins sind ja unübersehbar – und sie sind […] wirklich bedrückend.«1 So konstatierte Thomas Pröpper bereits vor 20 Jahren. Die gemeinten Symptome – von Naturalisierung des Geistes über einen Relativismus, der den Gedanken eines Unbedingten nicht mehr kennt, bis hin zum verbreiteten Unschuldswahn – sind seither wohl kaum geringer geworden. Sie wurden vielmehr noch potenziert durch die Turbulenzen eines schicksalhaft und omnipotent erscheinenden ökonomischen Systems,2 dessen Sachzwängen sich jede Freiheit zu unterwerfen hat: »einerseits ist sie selber schuld, aber andererseits kann sie eigentlich nichts dafür«.3

nen besteht, nur, wenn ich jetzt genauso nachdenk, fällts mir dadurch sehr schwer zu begreifen, dass ich mir überhaupt meine eigene meinung so machen kann«5. Philipp, in einer Gruppendiskussion, in der es den Jugendlichen gerade darum geht, ob der Mensch mehr ist als Materie, konstatiert hier einen Widerspruch zwischen der »logischen« naturwissenschaftlichen Dritte-Person-Perspektive (der Mensch als Summe beobachtbarer Prozesse) und der Erste-Person-Perspektive (ich erfahre mich als Ursprung von Deutungen und Handlungen, also als frei), den er nicht auflösen kann.

»muss frei sein, fertig, des wars!« so bringt Ali in einer der 40 Gruppendiskussionen aus dem diesem Aufsatz zugrunde liegenden Forschungsprojekt »Anthropologie Jugendlicher« den Sinn des Lebens auf den Punkt. Er meint damit, wie der Kontext der Äußerung zeigt, negativ Freiheit von Krankheit und Geldsorgen, positiv die Freiheit, familiäre und freundschaftliche Beziehungen zu pflegen und sein Leben auf einer soliden materiellen Basis zu gestalten. Jeder wolle frei sein.

1 Vortrag Uetrecht 1997, in: Thomas Pröpper, Evangelium und freie Vernunft, Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg, Basel / Wien 2001, 22. 2 René Buchholz, Postdemokratische Moderne. Die Erneuerung des Schicksals im Zei­chen des Marktes, o.J., Online verfügbar unter http://unibonn.academia.edu/Ren%C3%A9Buchholzf (3.2.2014). 3 Fünfzehnjähriger im Rahmen des Forschungsprojekts Anthropologie Jugendlicher (1_I 133; Quellennachweise nach projektinterner Systematik). Das diesem Bericht zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen JP 2004LB gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei der Autorin. 4 2_I 1034. 5 4_I 1581.

»wenn ich jetzt so drüber nachdenk, klingts eigentlich sehr logisch, dass es [das Menschsein] nur aus chemischen reaktio-

Wie diese drei Impressionen zeigen, ist es alles andere als offensichtlich, was

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Empirische Aspekte

Menschen meinen, wenn sie »Freiheit« sagen und ob bzw. in welchem Sinn der Mensch frei genannt werden kann. Während Thomas Pröpper unter Freiheit die Fähigkeit versteht, anzuerkennen, sich unbedingt zu öffnen und zu binden, geht es für den 17-jährigen Ali in der Diskussion, aus der das Zitat stammt, um Spielräume der Lebensgestaltung, die gesamtgesellschaftlich zu wachsen scheinen und individuell erstrebt werden, für den 15-jährigen Philipp wiederum um die grundsätzliche Frage, ob es Kausalität aus Freiheit in einer lückenlos kausal determinierten und deshalb prinzipiell naturwissenschaftlich verständlichen Welt überhaupt geben kann. Naturalistische Antworten auf Philipps Frage können als Anzeichen eines Rückgangs des Freiheitsbewusstseins gelesen werden, da das Bewusstsein unbedingter Freiheit solche Antworten schwierig macht. Der Wunsch, das eigene Leben frei gestalten zu können, steht zum vermuteten Rückgang des Freiheitsbewusstseins in einer merkwürdigen Spannung, doch nicht im Widerspruch, da weite Handlungsspielräume sehr wohl ohne Unbedingtheit, Selbstbindung und Verantwortung denkbar sind. Im Folgenden kann nicht entschieden werden, ob die einleitende skeptische These zum Freiheitsbewusstsein trifft. Es soll, bescheidener, dargestellt werden, welche Bedeutung welche Freiheit in anthropologischen Diskussionen Jugendlicher hat. In diesem Interesse wird einleitend der Begriff Freiheit (1) und seine Bedeutung für theologische und religionspädagogische Anthropologie (2) skizziert, bevor Freiheitsverständnisse Jugendlicher und deren argumentative Rolle im Gesamt ihrer Deutung des

Menschen dargestellt werden (3) und ein knappes Resümee aus religionspädagogischer und systematisch-theologischer Perspektive (4) gezogen wird. Die Methode der qualitativen Datengewinnung und Auswertung wurde andernorts bereits dargestellt.6 Genannt seien nur die Rahmendaten: Der empirische Teil des Forschungsprojekts Anthropologie Jugendlicher besteht aus Gruppendiskussionen, die mit Jugendlichen des Jahrgangs 9 aller drei weiterführenden allgemeinbildenden Schulformen zwischen November 2005 und September 2006 geführt wurden. Sie fanden statt im Schulkontext (2 Klassenverbände, 3 Lerngruppen katholische Religionslehre, 5 Reihen à 8 x 45 min) und mit Teilgruppen außerhalb der Schule (ca. 90 min am Ende jeder Reihe) in ländlichen, mittelstädtischen und großstädtischen Räumen Baden-Württembergs und Niedersachsens. Es nahmen 126 Jugendliche an den Erhebungen im Schulkontext und davon 26 Jugendliche an den Teilgruppendiskussionen teil. Diese waren zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 13 und 17 Jahren alt (x = 14,8 Jahre). 1. Freiheit

Die folgenden Überlegungen sind weder vollständig noch gar erschöpfend. Intendiert ist eine Aufhellung des Begriffsfeldes ›Freiheit‹, um das Folgende vorzubereiten. Die Darstellung geht aus 6 Katrin Bederna, Was ist der Mensch? Eine qualitativ-empirische Studie zur Anthropologie Jugendlicher, in: Hans-Georg Ziebertz (Hg.), Praktische Theologie – empirisch. Methoden, Ergebnisse, Nutzen, Berlin 2011, 5–24.

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von Beispielen, die auch im Gespräch mit Schüler/innen und Studierenden klärend sein können. Stellen Sie sich erstens vor, Ihr Freund gesteht Ihnen seine Liebe und Sie, begierig nach ausdrücklicher Anerkennung, fragen: »Sag, warum liebst du mich?« »Du siehst meiner Mutter so ähnlich,« antwortet er »und das erweckt in mir, ob ich es will oder nicht, ein Gefühl der Geborgenheit. Und erst dein Duft! Er lässt mich ganz schwach werden, so dass ich gar nicht mehr Herr meiner Sinne bin. Zudem ist Frühling und mein ganzer Körper drängt danach …« Stellen Sie sich zweitens vor, Sie sitzen an einem reich gedeckten Geburtstagskaffeetisch und plötzlich nimmt Ihr Gegenüber die Sahnetorte und wirft Ihnen diese ins Gesicht. Sie rufen, nachdem der erste Schreck überwunden und Ihr Mund wieder frei ist, erbost: »Was soll denn das?« Die andere aber sagt lakonisch: »Ach, da war plötzlich der Wille in mir, das zu tun. Ich weiß auch nicht woher – vielleicht eine spontane Verdrahtung irgendwelcher Nervenzellen? Vielleicht eine frühkindliche Prägung und daraus folgende Aversion gegen etwas an deinen Gesichtszügen? Ich weiß nicht. Ich kann wirklich nichts dafür!« Stellen Sie sich drittens vor, Sie sind im Vorratskeller Ihres Hauses und wissen nicht mehr, was Sie dort wollten. Sie zögern, denken nach, es fällt Ihnen nicht ein, Sie wissen genau: »Es muss einen Grund gegeben haben, hierher zu kommen, aber welchen?« Sie zögern. Unschlüssig wie jetzt weiter zu verfahren ist, gehen Sie zurück an Ihren Ausgangsort, um den Grund Ihres Handels wiederzufinden. Den drei Beispielen gemeinsam ist eine gewisse Irritation. Diese hat ein und denselben Grund: In allen drei Fällen läuft

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das Geschehen dem zuwider, was wir alltagspraktisch voraussetzen und »Freiheit« nennen. Bei der rein naturwissenschaftlich-mechanistischen Liebeserklärung hören Sie die letzten Sätze vielleicht schon gar nicht mehr, sind bereits auf und davon, denn Liebe will freie Anerkennung, will personale Entscheidung, keinen dumpfen, durch Hormone und kindliche Prägung gesteuerten Drang. Die Erklärung des Sahnetortenwurfs im zweiten Beispiel mit biochemischen Vorgängen und frühkindlichen Erfahrungen wird Sie wohl kaum besänftigen, denn Sie setzen alltagspraktisch voraus, dass menschliche Taten einen Urheber haben, der Verantwortung für seine Taten übernehmen kann. Ausnahmen, also dass der Urheber beispielsweise durch Krankheit, Einfluss von Drogen, Hypnose o.Ä. nicht fähig wäre, auf seine Aktionen Einfluss zu nehmen, also im strengen Wortsinn kein Handelnder wäre, bestätigen die vorausgesetzte Regel. Wenn Aktionen schlichtweg durch Verweis auf eine klare Ursachenkette, gegenüber der sich der Agierende nicht noch einmal frei verhalten konnte, erklärt werden könnten, gäbe es keine Zuschreibung von Verantwortung. Dann gäbe es keine Handlungen, sondern nur noch Geschehnisse. Der dritte Fall – Sie stehen im Keller und wissen nicht mehr warum – ist komplexer: Sie sind irritiert. Grund Ihrer Irritation ist nicht primär Ihre Vergesslichkeit. Sie sind irritiert, weil sich diese Episode nun anfühlt wie etwas, das nicht zu Ihnen gehört, etwas, das mit Ihnen unversehens geschehen ist. Selbst wenn Sie sich sicher wären, dass Sie hierhin wollten, wüssten jedoch nicht den Grund dafür, bliebe die Irritation bestehen. Solange sie keinen für Sie selbst plausiblen Grund für ihren Willen angeben können, bleibt Ihnen die-

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Empirische Aspekte

ser Wille äußerlich. Der fehlende Grund für Ihren Willen in den Keller zu gehen wäre das Verbindungsstück, das Ihnen hilft, sich ›Ihren‹ Willen als eigenen zuzuschreiben. Dann wüssten Sie, Sie folgten nicht einfach einem aus dem Nichts in Ihnen auftauchenden Willen. Sie könnten vielmehr diesem Willen entweder aus Gründen folgen (ich wollte in den Keller gehen, weil dort die Schokolade liegt oder weil es dort so schön kühl ist) oder ihn durch einen anderen ebenfalls begründeten Willen besiegen (ich will mich aber gesünder ernähren). Sie könnten dann in der Verfolgung dieses Willens fortfahren (die Schokolade nehmen; sich mit einem Buch in die Kellerecke setzen) oder dessen Verfolgung abbrechen. Ebenfalls die Irritation beseitigen würde es, wenn Sie sich sicher wären, dass Sie nicht aus freiem Willen, sondern unter Zwang in den Keller gelangt sind, denn dann könnten Sie diesen Ortswechsel in Ihr Selbstkonzept integrieren als ein Geschehen mit ihnen, als eine Abweichung von der Regel der Selbstzuschreibung eines Geschehens als frei vollzogen.7 Die drei Beispiele führen zu einer zentralen Erkenntnis: Ohne Freiheit als Fähigkeit des Sichöffnens, Anerkennens und Sichbindens gibt es keine Liebe. Ohne Freiheit als Fähigkeit, aus Gründen zu handeln und sich gegenüber diesen Gründen noch einmal zu verhalten, gibt es keine Verantwortung, keine Schuld, keine Lebensführung im engeren Sinne. Auf die Frage, ob der Mensch in diesem Sinne frei ist, wurden in der Theologie- und Philosophiegeschichte verschiedene Antworten gegeben. Fatalismus und Determinismus halten Freiheit für Illusion, der erstere, da die Zukunft vorherbestimmt, also Schicksal im engeren

Sinne sei, der letztere, da das menschliche Handeln aus einer komplexen aber lückenlosen kausalen Ursachenkette biochemischer, psychologischer und soziologischer Art folge. Die heute dominierende Leugnung der Freiheit ist naturalistischer Provenienz, die Argumentation also reduziert auf materielle (hier zumeist physikalisch und biochemisch beschreibbare) Kausalzusammenhänge. Die Vertreter des Indeterminismus (bspw. Descartes, Kant, Fichte, Pröpper) gehen hingegen von der Unabweisbarkeit der Freiheit als Möglichkeitsbedingung menschlicher Grundvollzüge aus, wie sie oben ausgeführt wurde. Mit Thomas Pröpper gesagt: »Sollen namentlich Kommunikation, Anerkennung, Recht, Gesetz oder andere Elemente der Humanität und der Moralität als möglich gedacht werden können, ist Freiheit als der unbedingte Grund anzusetzen. Sie erscheint nicht als eine Eigenschaft des Menschen, sondern als Bedingung des Menschseins schlechthin.«8 Es »bleibt für ihre Thematisierung nur ein reduktivtranszendentales Verfahren, das Freiheit als die unbedingte Bedingung eruiert, ohne die spezifisch humane Vollzüge wie Moralität, Kommunikation, Recht usw., aber auch die Reflexionsleistungen der Vernunft sich nicht als möglich begreifen lassen.«9 Diese starke These ist nur verständlich, wenn die Emphase der Begriffe Liebe, Moral und Kommunikation beachtet wird. Es ist nämlich sehr wohl möglich 7 Das Beispiel der Vergesslichkeit in diesem Zusammenhang verdanke ich Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a.M. 52006. 8 Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, Eine Skizze zur Soteriologie, München 21988, 182f. 9 Pröpper (wie Anm. 2), 15.

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(und vielleicht ja auch üblich), diese Begriffe höchst pragmatisch zu füllen: Liebe als ein auftauchendes bzw. schwindendes Gefühl, Verantwortung als Zuordnung eines Geschehens zu einem ›Geschehenszentrum‹ (so wie ein Kind, das einen Stein, der ›verantwortlich‹ für sein Stolpern ist, mit den Worten »blöder Stein« weg kickt), Kommunikation als Informationsübermittlung, Handlung als von einer raumzeitlichen Einheit ausgehendes Geschehen (so wie ein Vulkan ausbricht oder die Sonne aufgeht). Freiheit ist Möglichkeitsbedingung menschlicher Grundvollzüge verstanden in einem emphatischen Sinn. Mit der Freiheit schwindet eine spezifische Emphase des Menschseins. Zwischen der Leugnung jeglicher Freiheit und dem retorsiven Aufweis unbedingter Freiheit als Bedingung der Möglichkeit des Menschseins sind zahlreiche Varianten eines weichen Determinismus bzw. einer bedingten Freiheit anzusiedeln (Hobbes, Locke, Mill), die Freiheit und Notwendigkeit zusammendenken. Dass jenseits des oben skizzierten transzendentallogischen Gedankengangs, also im Bereich der realen Freiheit, Bedingtheit und Begrenztheit faktisch zur Freiheit gehören, setzen selbstverständlich auch Indeterministen an. Es zeigt sich, wenn man die geläufigen Begriffe Willensfreiheit, Handlungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Wahlfreiheit und Gedankenfreiheit betrachtet. Willensfreiheit

Der Wille ist vom Wunsch zu unterscheiden. Während man alles Mögliche wünschen kann – vom ewigen Leben bis zum Fußballstar-Sein – braucht es

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für einen Willen eine gewisse subjektive Möglichkeit, weshalb ich ewiges Leben wünschen aber nicht wollen kann und der Wunsch, ein Fußballstar zu werden, erst durch ernsthaftes Training oder (bspw. bei Hinderung durch Krankheit) wenigstens durch den Vorsatz später zu trainieren zum Willen wird. »Ein Wille ist ein Wunsch, der handlungswirksam wird, wenn die Umstände es erlauben und nichts dazwischen kommt«10, so präzisiert Peter Bieri diesen Zusammenhang. Willensfreiheit spielt sich also in den Grenzen des in dieser Welt und mir selbst theoretisch Möglichen ab,11 ohne dass diese Grenzen Willensfreiheit verunmöglichen würden. Woher kommt aber der in diesen Grenzen in einem Menschen gebildete Wille? Muss der Wille, um frei genannt werden zu können, unabhängig sein von den Erfahrungen und der Herkunft dieser Person, von dem, wer sie ist? Während im obigen Sahnetortenbeispiel die Werferin behauptete, sie könne nur wollen, was sie ist (was ihre Synapsen notwendig tun), ist nun die Frage, ob jemand, losgelöst von sich, wollen kann, was er will. Es gibt gute Gründe dafür, eine solche Idee für widersinnig zu halten: Würde die Werferin der Sahnetorte einfach sagen: »Ich wollte das eben«, so würde die Getroffene das wohl kaum akzeptieren, sondern versuchen, die Genese dieses Willens zu verstehen. Sie würde vielleicht denken: »Sie hat etwas gegen mich.« oder »Sie ist ein cholerischer Mensch und da hat vielleicht mein Gesichtsausdruck gereicht …«. Wäre die Entstehung eines Willens völlig willkürlich bzw. zufällig, so wäre die Welt der Handlungen unver10 Bieri (wie Anm. 7), 41. 11 Vgl. Bieri (wie Anm. 7), 37f.

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Empirische Aspekte

ständlich. Handlungen wiesen dann keinerlei Bezug mehr auf zu einer konkreten Person mit einer konkreten Geschichte, prägenden Erfahrungen, einem Charakter. Zugleich aber verlangt die Idee der Willensfreiheit die Möglichkeit zur rationalen Distanzierung und Stellungnahme gegenüber dem in mir entstehenden Willen. Reale Willensfreiheit muss, um Freiheit zu sein, nicht unbedingt sein. Aber sie verlangt den Gedanken des Sich-Verhalten-Könnens gegenüber allen Bedingungen, auch wenn dieses SichVerhalten wiederum bedingt ist. Sie verlangt die Idee des sich selbst Festlegens auf die Bedingungen, von denen sich die Freiheit bedingen lassen will. Handlungsfreiheit

Was ist eine Handlung? Oben wurde diese bereits von einem Ereignis oder einem Geschehen unterschieden (ein Mensch wirft eine Torte; ein Vulkan bricht aus). Was ersteres zu einer Handlung macht, ist, dass es ein Subjekt gibt, das das Geschehen will und realisiert. Willensfreiheit ist somit notwendige Voraussetzung nicht erst von Handlungsfreiheit. Willensfreiheit ist bereits notwendige Voraussetzung von Handlung. Jemand ist handlungsfrei, wenn sein Wille erstens frei und zweitens realisierbar ist. Handlungsfreiheit ist die Freiheit, zu tun und zu lassen, was ich will. Der pure Wille reicht hierzu nicht aus. So will jemand unbedingt einen bestimmten Gegenstand besitzen, doch trotz aller Bemühung (d.h. obwohl der Erwerb nicht nur ein Wunsch sondern ein Wille ist) mangelt es an Geld. So will ein Kind unbedingt mitspielen, aber die anderen lassen es nicht.

Oder es will zu seinen Freunden gehen, aber die vielen Autofahrer machen den Weg lebensgefährlich. Handlungsfreiheit braucht »Spielräume«.12 Diese Realisationsspielräume sind begrenzt, physisch, psychisch, materiell, durch andere Freiheit. Die Grenzen können so eng sein (bspw. durch Mangel an Nahrung oder schwere Krankheit), dass dies die Handlungsfreiheit zerstört, sind aber normalerweise ›nur‹ Signum der Endlichkeit, nicht völliger Unfreiheit. Die Spielräume der Freiheit werden durch andere Freiheit nicht nur eingegrenzt (das Kind kann bspw. nicht frei draußen spielen, weil zu viele Autofahrer unterwegs sind), sondern auch eröffnet: Menschen helfen einander, einen bestimmten Willen zu bilden und zu realisieren, durch Anerkennung und Ermutigung, durch tatkräftige Unterstützung, durch Fürsorge (Bereitstellung von Nahrung, Kleidung, Medikamenten …) und natürlich auch mittelbar durch eine lange Traditionskette an Ideen und Erfindungen, die die Handlungsspielräume der Heutigen vergrößern. Bereits in diesem ganz praktischen Sinne kann man sagen: Ein Mensch allein ist nicht frei. Gedankenfreiheit, Entscheidungsfreiheit, Wahlfreiheit

»Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke. Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei.« Dieses Volkslied besingt die politische Kraft des Denkens, der Distanzierungsfähigkeit von allem Gegebenen. Selbstverständlich ist 12 Vgl. Bieri (wie Anm. 7), 54ff.

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der Spielraum der Gedanken größer als der des Handelns. Aber gilt wirklich: »Ich denke, was ich will, und was mich beglücket …«? Der Mensch kann seine Gedanken in der Tat willentlich in eine bestimmte Richtung lenken, kann sich mit bestimmten Fragen oder Themen beschäftigen. Doch ist das Denken und mit ihm das Entscheiden auch bestimmt von Sprache, Traditionen, Auffassungen anderer. Darüber hinaus ist dem Denken wesentlich der Einfall (der meist erst dann kommt, wenn man seinen Willen nicht mehr auf das fragliche Thema fixiert), das Schweifen und Sinnieren, das frei ist von Lenkung des Willens, Erinnerungen, die hochkommen, ohne dass der Erinnernde an sie denken wollte. Es gibt quälende, kreisende Gedanken. Es gibt den logischen Zwang zu einem gedanklichen Schluss, der dem Denkenden nicht behagt. Für all diese Bedingungen (Sprache, Erfahrungen …) und Grenzen (unwillkürliche Entstehung von Gedanken …) gilt wiederum, dass sie zwar (bspw. im Fall psychischer Manipulation) so eng sein können, dass sie die Gedankenfreiheit zerstören, im Normalfall aber den Freiraum der Gedanken mindestens ebenso eröffnen wie begrenzen. Wie oben bei der Willensfreiheit gesagt gilt letztlich aber auch hier: Gedankenfreiheit verlangt die prinzipielle Möglichkeit, sich zu jedem wie auch immer bedingten Gedanken noch einmal denkend zu verhalten (Einfällen zu folgen oder nicht, quälende Gedanken bspw. durch Sport in den Hintergrund zu drängen, zu hinterfragen und den Prozess des Hinterfragens noch einmal zu hinterfragen …). Sie braucht die Intuition ihrer eigenen Unbedingtheit. Entscheidungsfreiheit ist eng mit dem Denken und der Willensfreiheit ver-

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knüpft. Sie ist in dem Bereich angesiedelt, den wir oben als Voraussetzung der Freiheit des Willens entdeckten, in der distanzierenden Stellungnahme zum eigenen Willen, im Nachdenken über den eigenen Willen. »Entscheiden ist Willensbildung durch Überlegen. […] Die Freiheit des Willens liegt darin, daß er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen.«13. Entscheidung bindet den Willen. Wahlfreiheit lässt sich als Unterform von Entscheidungsfreiheit beschreiben, denn wer zwischen verschiedenen Dingen wählt, bildet seinen Willen, einem dieser Dinge den Vorzug zu geben. Entscheidungsfreiheit setzt zum einen voraus, dass der Wille sich rational binden lässt (und eben nicht wie der des Zwanghaften oder Cholerikers gegenüber rationaler Abwägung immun ist). Entscheidungsfreiheit setzt noch zuvor voraus, dass der Entscheidende auch etwas anderes wollen könnte. Die Entscheidungsfreiheit stößt somit an die oben genannten Grenzen der Willensfreiheit und der Handlungsfreiheit, die Grenzen dieser Welt und des dem Entscheidenden Möglichen. Des Weiteren bedarf die Entscheidungsfreiheit der Fähigkeit zu klarem eigenem Urteil. Es gibt Menschen, die sich nicht entscheiden können, weil sie Festlegungen scheuen. Im Extremfall bedeutet dies völlige Unfreiheit weil Untätigkeit. Es gibt zudem vieles, das wie freie Entscheidung aussieht und doch Zufallsprodukt ist, weil die Anstrengungsbereitschaft, die intellektuellen Möglichkeiten oder Informationen zu einer freien Entscheidung fehlten. Das heißt nicht, dass Entscheidungen nur frei sind, wenn sie nach rein 13 Bieri (wie Anm. 7), 61.80.

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Empirische Aspekte

formal-rationalen Erwägungen erfolgen. Entscheidungsfreiheit bedarf vielmehr der Aufmerksamkeit auf die eigenen Gefühle und Phantasie zur gedanklichen Antizipation der Situation nach der Entscheidung: Wie wird es mir langfristig mit diesem nun gebildeten und durch Versprechen gebundenen Willen (bspw. diesem Menschen mein Leben lang treu zu sein und Gutes zu tun) gehen? Es bedeutet aber wiederum, dass zum Begriff der Entscheidungsfreiheit der Gedanke gehört, die Bedingungen, denen die Entscheidung unterliegt, noch einmal denkend übersteigen zu können. Wie ebenfalls bereits bei der Willensfreiheit gezeigt ist Entscheidungsfreiheit allerdings nicht die bloße Fähigkeit, immer auch anders zu können. In der reflexiven Distanzierung von allen Bedingungen werden diese nicht ins leere Unendliche überstiegen, sondern (teilweise) angeeignet als eigene. Freiheit ist auch sichentschieden-habende Freiheit. Sie ist mit Kant die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und Selbstbindung.14 Die Argumentation – Entscheidungsfreiheit als Garant der Willensfreiheit, Willensfreiheit als Voraussetzung von Handlungsfreiheit – gelangte zur freien Vernunft, zur Freiheit als Fähigkeit sich zu allem noch einmal denkend und urteilend verhalten zu können, sich selbst festzulegen und anzufangen. Diese transzendierende und eröffnende Intention ist es, was Thomas Pröpper wie eingangs zitiert unter »Freiheitsbewusstsein« versteht: das Setzen darauf, selbst ein unbedingter Anfang, ein Subjekt, zu sein – und nicht ein Knotenpunkt prinzipiell durchschaubarer und lückenlos ineinandergreifender Bedingungen, aus denen je bestimmte Gedanken, Entscheidungen, Willensbil-

dung und Handlung entspringen. Während es dem eingangs zitierten Ali um die Realisationsspielräume der (Handlungs-) freiheit, also um einen in erster Linie pragmatischen Sinnbegriff geht, fragte Philipp an, wie angesichts der lückenlosen Naturkausalität die intuitive Gewissheit, entscheidungs- und willensfrei zu sein, vernünftig reformulierbar sei. Dass diese Intuition nicht widervernünftig ist, wurde oben skizziert. Der Rest ist Wahl, nicht Beweis: Mit dem Setzen auf Freiheit als Fähigkeit anzufangen wählt die Freiheit sich selbst. Freiheitsbewusstsein im emphatischen Sinne impliziert das, was Kierkegaard »als ›absolute Wahl‹ und als ›Selbstwahl‹ beschrieben hat, die als Wahl der Freiheit die Freiheit der Wahl erst ermöglicht und den Unterschied von Gut und Böse eröffnet.«15 2. Freiheit in religionspädagogischer und theologischer Anthropologie

Freiheit ist zu entdecken und zu lernen. Das beginnt beim kleinen Kind, das sich als Auslöser von Geschehnissen (etwas fällt um nachdem das Kind daran gestoßen ist) und Handlungen (der Vater kommt während das Kind schreit) erfährt und die Welt als Spielraum eigener Aktivitäten entdeckt, und hört bei der Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit, also der Fähigkeit der Bindung des Willens, wie sie strukturgenetische Modelle beschreiben (von der Orientie14 Vgl die ausführlichen Analysen mit Bezug auf Hermann Krings / Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, 2 Bände, Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2011, 500–512. 15 Ebd., 502

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rung am Ich, an Lust und Vermeidung von Strafe, zur Orientierung an den Bezugspersonen bis hin zur Orientierung am Gewissen, also der freien Vernunft) noch lange nicht auf. Man könnte meinen, jede könne und wolle frei sein. Vielmehr aber ist Freisein anspruchsvoll und anstrengend. Das Freiheitsbewusstsein von Kindern und Jugendlichen wird u.a. beeinflusst von Menschenbildern der Erziehenden und damit von deren Optionen für Freiheit oder Determinismus. Soll Freiheit als Fähigkeit der Selbstbindung und Weltgestaltung wachsen, muss sie kontrafaktisch und antizipierend von den Bezugspersonen zugeschrieben und eröffnet werden. Insbesondere in pädagogischen Zusammenhängen gilt deshalb: Ein Mensch allein ist nicht frei. Den Diagnosen und Schlussfolgerungen der wegweisenden religionspädagogischen Anthropologie Bernhard Grümmes zur anthropologischen Dimension Freiheit ist hier uneingeschränkt zuzustimmen: »1. Freiheit soll sein, Freiheit ist den Schülerinnen und Schülern zuzumuten. […] 2. Freiheit ist zuzugestehen. […] 3. In das Geschenk der Freiheit ist erfahrungsbezogen einzuweisen. […] 4. Der Indikativ und der Imperativ christlicher Freiheit sind zur Geltung zu bringen.«16 Das impliziert eine Absage an jede freiheitsvergessene Didaktik bspw. in behavioristischer Tradition. Es fordert (religions-)pädagogisch die Ermutigung zur Wahl der Freiheit, nicht allein der oft irrelevanten Wahlfreiheit (wie dem verbreiteten ›diese oder jene Aufgabe wählen‹), sondern der Freiheit, sich auszuprobieren, echte Verantwortung zu übernehmen, kritische Urteilsfähigkeit zu entwickeln. Es impliziert das

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Zutrauen von Seiten der Lehrenden und mehr noch: die anfängliche Realisation des befreienden Vertrauens, das Gott in jeden Menschen setzt. Und es hat eine politische Dimension, denn es fordert die Entwicklung von Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungskompetenz in Bezug auf die vielfältigen Strukturen der Unfreiheit. Dass Freiheit sein soll und zuvor noch: dass Freiheit sein kann, wird allerdings vielfach bestritten. Bestimmend in dieser Debatte sind Teile der Hirnforschung einerseits, Philosophien in der Spur Friedrich Nietzsches andererseits. Während bspw. Wolf Singer den methodischen Naturalismus und damit die DrittePerson-Perspektive verabsolutiert und all das Illusion nennt, was in dieser Perspektive nicht beschreibbar ist, destruiert Nietzsche das Freiheitsbewusstsein und den Begriff des Subjekts zugleich mit dem Begriff der Pflicht.17 Die pädagogischen und juristischen Konsequenzen einer solchen Freiheitsleugnung sind immens. Bildung wird zu Formung des Hirns, Strafe zu Umprägung und Schutz der Gesellschaft vor einer, die eigentlich nichts dafür kann, Schuld und Verantwortung werden zu Begriffen purer Zuschreibung. Mit der Freiheit schwindet logisch die Schuld. Für das Freiheitsbewusstsein gilt genau der Umkehrschluss: Mit dem Schuldbewusstsein schwindet 16 Bernhard Grümme, Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Freiburg i.Br. 2012, 319ff. 17 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral, Stuttgart 10 1976, 28–31; 285–296; vgl. Magnus Striet, Der neue Mensch? Unzeitgemäße Betrachtungen zu Sloterdijk und Nietzsche, Frankfurt a.M. 2000, 82ff.

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Empirische Aspekte

das Bewusstsein der Freiheit, ist es doch in erster Instanz das Bewusstsein unbedingter moralischer Verpflichtung, das nach Kant die »Realität der Freiheit verbürgt«.18 Eine solche naturalistische oder nietzscheanische Aufhebung von Freiheit ist äußerst relevant für die theologische Anthropologie. Deren Proprium ist die Prämisse der Zuwendung Gottes: Theologische Anthropologie entfaltet im Dia­ log mit anderen Wissenschaften, wie sich Grunddimensionen des menschlichen Daseins wie Leiblichkeit, Zeit und Geschichtlichkeit, Sozialität, Freiheit und Schuld im Licht des Handelns Gottes an Israel und der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus darstellen. Die Schwerpunktsetzung der jeweiligen Anthropologie und damit der systematische Ort des Freiheitbegriffs differiert mit der gewählten Denkform. So ist in der theologischen Anthropologie Thomas Pröppers Freiheit Denkform und Zentrum zugleich: In fundamentaltheologischer Absicht versteht er die unbedingte Intention der Freiheit als Verwiesenheit auf eine andere, unbedingte und deshalb menschliche Freiheit erfüllen könnende Freiheit, bestimmt auf diesem Weg den Gedanken Gottes als unbedingte Freiheit und erweist so die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der Existenz Gottes, zeichnet also insgesamt den Menschen als »möglichen Partner und Freund Gottes« und sich selbst verfehlende Freiheit sowie die Zuwendung Gottes als Freiheitsgeschehen.19 Relevant wäre die naturalistische Aufhebung von Freiheit aufgrund der an sie gekoppelten Aufhebung von Schuld und Unbedingtheit allerdings selbst für Anthropologien, die Freiheit wie bspw. Wolfhart Pannenberg

aufgrund der Übermacht der Sünde nur noch als Fähigkeit des Einstimmens in das Gute bzw. in die eigene Bestimmung sehen.20 Dasselbe gilt sogar für Theologien, die in den Spuren von Lévinas Freiheit beschwörend auslöschen, denn dies tun sie gerade im Interesse der Ethik, im Interesse des Anderen: Der in der bisherigen Argumentation aufgezeigte logische Zusammenhang von Freiheit, Unbedingtheit und Verantwortung wird hier aufgelöst. Dem Selben erscheine der Andere. Er rufe den Selben zur Verantwortung. Diesem Ruf gegenüber sei der Selbe vollständig selbst-los, passiv, unterworfen: Geisel. Der Andere: der Meister der Gerechtigkeit, der Angreifer – Extreme, die Lévinas in Worte aus dem Umfeld von Krieg und Gewalt kleidet. Die Subjektivität des Selben bestehe nicht in Freiheit, sondern im Hören auf diesen Ruf und seiner unausweichlichen Antwort: der Stellvertretung. Der Selbe sei nie zuerst bei sich, könne sich nie zuerst um sich sorgen, sondern sei immer schon zum Stellvertreter gemacht. Er könne auf den Ruf des Anderen nicht antworten: »Hier bin ich«, sondern stehe wesentlich im Akkusativ: »Hier, sieh mich!«21: »Das Ich ist nicht ein Seiendes, das ›fähig‹ wäre, für die Anderen zu sühnen: es ist die ursprüngliche – unfreiwillige – weil der Initiative des Wollens zuvorkommende (dem Ursprung zuvorkommende) Sühne, so als seien die Einheit 18 Pröpper (wie Anm. 14), 510. 19 Pröpper (wie Anm. 14), 488–656. 20 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 108– 113. 21 Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, München 1992, 253.320 (unter Bezugnahme auf Jes 6, 8).

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und Einzigkeit des Ich bereits das Aufsich-Nehmen der Last des Anderen.«22 Das Erste ist hier nicht ein Bewusstsein unbedingter moralischer Verpflichtung, das (wie oben mit Bezug auf Kant gesagt) auf die Realität der Freiheit verweise, sondern eine ursprüngliche, jeder freien Stellungnahme vorausgehende Bindung durch den Anderen. Freiheit steht hier subjekttheoretisch unter dem Verdacht, immer schon Herrschaftsfreiheit zu sein, bleibt aber ethisch als zu realisierende Freiheit des Anderen. Es bleibt die unbedingte Verantwortung für die Befreiung des Anderen. In diesen knappen Bemerkungen zur Freiheit fehlt sehr vieles, so die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Natur und Gnade, von menschlicher und göttlicher Freiheit sowie die im Hintergrund drängende Frage der Gotteslehre nach dem Ineinander von Freiheit und Liebe bzw. Treue Gottes (deren Logik oben in der Frage nach der Unbedingtheit des Willes schon anklang).23 Deutlich geworden sein sollte, dass die diversen Spielarten wirklicher Freiheit faktisch bedingt sind, mehr noch dass ohne Bedingtheit Freiheit als Freiheit eines bestimmten, also geschichtlichen, in Gemeinschaft mit anderen stehenden Menschen gar nicht denkbar wäre, dass reale Freiheit aber ebenso wenig denkbar ist ohne die Idee des sich noch-einmal-verhalten-Könnens zu allem Bedingenden. Freiheit wurde beschrieben als Fähigkeit der Selbstbindung, der Anerkennung anderer und des Anfangens. Die Strategien der Leugnung der Freiheit ließen sich unterscheiden in solche, die mit der Freiheit auch Unbedingtheit und Schuldfähigkeit negieren und solche, die Freiheit leugnen, indem sie die Schuld umso größer machen. Ge-

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gen beide wurde betont, dass Freiheit zwar nicht beweisbar ist, aber gedacht werden muss, wenn Liebe, Recht, Verantwortung und Schuld in einem emphatischen Sinne möglich sein sollen.24 3. Freiheitsverständnisse Jugendlicher

Der letztgenannte Zusammenhang zwischen Verantwortung und Freiheit bestimmte den Ausgangspunkt der hier relevanten Gruppendiskussionen: Als Impuls wurde den Jugendlichen die fiktive Geschichte eines Mädchens namens Bianca erzählt, das dieselbe Schulform besucht wie die jeweils befragten Jugendlichen, unter widrigen zwischenmenschlichen Bedingungen aufwuchs und nun ihre MitschülerInnen mobbt. »Kann sie etwas dafür?« lautete die Frage. Von hier gelangten alle Gruppendiskussionen ohne weitere Lenkung der Moderatoren zur Freiheit, also zur Frage, ob das Mädchen unfrei und deshalb nicht verantwortlich sei oder ob es sich trotz aller widrigen Umstände anders hätte verhalten könnte. Als weiteren Diskussionsimpuls erklärte der Moderator, dass es Hirnforscher gebe, die behaupten, kein Mensch sei frei und verantwortlich, da das Gehirn selbstläufig bestimmte Bewegungen etc. hervorrufe und die Jugendlichen wurden gefragt, ob sie das aufgrund ihrer Erfahrungen, die sie tagtäglich machen, für plausibel halten. 22 Ebd., 262. 23 Michael Greiner, Gottes Gnade und menschliche Freiheit, Wiederaufnahme eines verdrängten Schlüsselproblems, in: Pröpper (wie Anm. 14), 1351–1436. Vgl. dazu in den Diskussionen der Jugendlichen 2_I 407–653. 24 Pröpper (wie Anm. 14), 578–584; 1490–1520.

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Empirische Aspekte

Auch in Gruppendiskussionen zu anderen Themen wie Sinn, Körper und Selbstsein oder dem wesentlich Menschlichen rekurrierten die Jugendlichen auf Freiheit. Im Folgenden sollen die Diskussionen befragt werden danach, inwiefern und aus welchen Gründen die Jugendlichen anderen Verantwortung und damit Freiheit zuschreiben (3.1), welche Freiheitsbegriffe sie ansetzen und wie diese mit anderen Grundaussagen über den Menschen, insbesondere mit naturalistischen bzw. dezidiert nicht-naturalistischen Deutungen korrelieren (3.2). Es diskutieren ein Kurs katholische Religionslehre einer kleinstädtischen Hauptschule im Landkreis Ludwigsburg mit 19 katholischen Christen (HS 1), eine Klasse 9 einer Innenstadt-Hauptschule in Stuttgart mit neun Christen (1 ev, 6 rk, 2 orth.), acht Muslimen, einem Hindu und sechs Konfessionslosen (HS 2), ein Kurs kath. Religionslehre einer ländlichen Realschule im Zabergäu mit 27 Christen (26 rk, 1 orth.; RS 3), ein Kurs katholische Religionslehre eines kleinstädtischen Gymnasiums im Landkreis Ludwigsburg mit 25 katholischen Christen (Gym 4) und eine Klasse 9 eines mittelstädtischen niedersächsischen Gymnasiums mit 24 Christen (19 ev, 5 rk), einer Buddhistin und fünf Konfessionslosen (Gym 5).

3.1 Freiheit, Schuld und Verantwortung Patrick: natürlich kann sie was dafür, sie hat ihre freie entscheidung was sie macht. w: mhm Peter: die hat’s aber net anderscht gelernt. Tobias: ja, so sieht’s aus I: wie sieht’s aus? Tobias: so wie peter gesagt hat […]

Francesca: ich find dass sie einerseits schuld hat und andererseits auch keine schuld hat weil wie die anderen ja schon gesagt ham, sie wurde ja net anderscht erzogen, aber ich find sie hätt auch eine ne eigene meinung, allgemein sie hätt andersch entscheiden können. nur weil ma des, also ich kenn jemanden, n mädle, der ihr vater isch gschtorben und äh des heißt lang net, dass sie gleich zu drogen greift, weil des isch hier ja anderscht und die mutter is au net besser. m: echt? Francesca: ja I: hmh. was meinen die andern dazu? christian? Christian: vielleicht ist es auch der einzigste weg mal n bisschen respekt zu bekommen vorn andren weil des wenn se halt schlecht in der Schule is und dann kann se da halt auftrumpfen dass se dann die stärkste is und (-) Michaela: ich denk ma des mädchen is so unzufrieden mit sich selber, dass se gar net versteht was se überhaupt macht. I: mhm Michaela: des, weiß net. dass sie vielleicht denkt, dass sie so Aufmerksamkeit kriegt. Weil sies von ihrer Mutter oder so net kriegt. […] I: die Frage ist ja, also, scheint relativ einfach zu sein, kann jetzt sie was dafür? Peter: nö Tobias: nö Patrick: mittendrin I: mhm. kannst des noch begründen? […] Patrick: ja zu ( ) erziehung halt, da kann se halt au nix dafür aber sie kanns au ändern, weisch, sie musses ja nich machen (--) ja Christian: da stauen sich ja auch bestimmt Aggressionen zuhause auf und ( ) aber das mit dem Mobben, des kann ma au anderst machen, also einerseits ist sie selber schuld aber andrerseits kann sie eigentlich nix dafür.

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[…] I: und ihr selber? seid ihr verantwortlich für euer handeln? Michaela: ja, denk schon, denn ich bin schon in dem alter, wo ich selbst entscheidungen und konsequenzen treffen muss. natürlich macht mer manchmal fehler oder dummheiten, aber des hätt ich mir au schon vorher überlegen müssen. man ist einfach für sich selbst verantwortlich. […] Peter: wenn mer in der kindheit g’lage wird ( ) abfärben ( ) Tobias: ( ) kettenreaktion ( ) I: das is so ganz automatisch, oder wie meinst du das? Tobias: isch so kettenreaktion Peter: ja eigentlich scho ( ) I: trägt man da noch Verantwortung ( )? Peter: mer trägt scho noch verantwortung. wenn ich geschlagen worden, erbst du das sozusagen25

Die Jugendlichen der HS 1 erklären Biancas Handlungen aus vorangegangenen Ereignissen, dem Fehlen von Denkmöglichkeiten (»net anderscht gelernt«) und als Ventil für Gefühle. Diese Erklärungen begrenzen die Entscheidungsfreiheit Biancas und entschuldigen sie dadurch. Dabei geben die einen der Freiheit das letzte Wort, wie Patrick, der Bianca sofort Entscheidungsfreiheit und damit Verantwortung zuspricht, in einem zweiten Schritt die persönlichen Umstände als Einschränkung der Entscheidungsfreiheit anführt, aber schließt, sie könne sich zu ihrem Gewordensein noch einmal verhalten (»sie musses ja nich machen«). Andere wie Peter und Tobias betonen die Unfreiheit: Biancas Urteilen unterliege Einflüssen, denen gegenüber sie sich nicht nochmal verhalten könne (abfärben, erben, kettenreaktion), sie trage deshalb keine Verantwortung.

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Daneben gibt es Entschuldigungen, die Biancas Entscheidungsfreiheit nicht antasten, wie Christians Auffassung, Bianca verfolge das (gerechtfertigte) Ziel, Anerkennung zu finden und ihr seien andere Wege zur Anerkennung versperrt. Das Antwortspektrum verschiebt sich bei der Wendung auf die Jugendlichen selbst. Alle Mitdiskutierenden votieren für die eigene Verantwortung, die einen wie Michaela mit Emphase (wobei Alter und damit die eigene Vernunft als Möglichkeitsbedingung von Verantwortung ins Feld geführt wird), die anderen, wie Peter, indem sie dies gleich wieder durch die Annahme einer schlechten Kindheit und also Ablenkung von der eigenen Person zurücknehmen (»mer trägt scho noch verantwortung. wenn ich geschlagen worden, erbst du …«). Zugleich schreiben diese Jugendlichen der Vernunft Bedeutung für die Freiheit zu, indem sie Gefühle und Wünsche (cool zu sein, Anschluss zu finden26) zu den Beschränkungen der Entscheidungsfreiheit zählen oder andeuten, Entscheidungsfreiheit sei vernunftgeleitete Selbstbindung des Willens an das sittlich Richtige: »ich mit meinen 15 jahren sollte in der lage sein, zu wissen was ich tue und was gut für mich und meinen nächsten ist.«27 In der RS 3 und mehr noch in der HS 2 differenziert sich das Meinungsspektrum weiter: Die Mehrzahl der Jugendlichen der RS 3 leitet Biancas Verhalten aus sozia­len und genetischen Faktoren ab, spricht wieder von Abfärben und Erben von Entscheidungen 25 1_4 99–133, 214–227. Transkriptionsrichtlinien siehe http://forschung.ph-ludwigsburg.de/ druck_projekt.php?id=34. 26 1_I 894, 898, 899. 27 Christian, 1_4 203.

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Empirische Aspekte

und Verhaltensweisen, von Mangel an Entscheidungsfreiheit aus Mangel an bekannten Alternativen sowie von fehlender Handlungsfreiheit durch Unfähigkeit zur Selbstkontrolle28 bzw. durch die Unfähigkeit das als richtig Erkannte auch zu tun: »vielleicht steckt sie auch, bei, in ihrem körper und ihrem kopf, dass sie des immer macht. und dann denkt sie da gar nicht darüber nach. und danach wenn sie’s gmacht hat, na findet sie’s auch selber scheiße, aber sie macht’s trotzdem immer wieder«.29 Diesen gegenüber stehen hier wenige, die jeden Einzelnen gänzlich für sein Selbstsein verantwortlich machen, denn »jeder strahlt ja des aus, sozusagen was er fühlt. jeder, jeder isch so, wie er’s selbst möchte, wie er’s für richtig hält«.30 In der HS 2 kommt zu diesen beiden Positionen (entschuldigte Freiheit bzw. Freiheit als letztlich mögliche Selbstbestimmung) die völlige Leugnung der Verantwortung Biancas: Kaltrina: nein, die is alt genug halt. wär sie noch klein halt mit den eltern und so. ( ) mutter sollte sie besser aufpassen, dass sie besseren kontakt hätte in der grundschule. jetzt mit 15 halt mit der klassenkameradin oder so da ist sie selber schuld. da muss sie selber die konsequenzen tragen […] Danny: ja ich denk die kann nichts dafür, weil die kennt halt so zu hause nicht anderes, wo vielleicht geärgert wird, gemobbt wird, deswegen vielleicht die wut, die sie hat, tut sie dann bei anderen auslassen ( ) halt so en gestörtes verhältnis vielleicht Antonella: ich find die schuld ist total auf der mutter gestellt. weil der mutter muss es doch reichen, wenn des kind schon mit 11 anfängt zu rauchen oder zu kiffen. des merkt doch eine mutter oder bei solchen schlägereien, die kindergartenleute rufen doch die eltern an. ( ) des gibt immer

stress mit de lehrer das ist dann ihr prob, also erstens von der isses ( ) Kaltrina: man weiß ja nicht, ob die mutter gestört war. (Details der Geschichte werden wiederholt) es gibt auch genauso bei kindern, denen das auch passiert, aber die sind da eigentlich fleißig in der schule und weiß nich, die wollen was im leben erreichen. es liegt an einem selber. nich an der mutter J: aber wenn mans anders nich kennt, dann kann mans ja auch nich anders machen, wenn ich jeden tag nur scheiße zuhause machen würde, dann würd ich auch in der schule nichts machen. wenn man so ist, ka’ kann mans ja nich ändern31

Katrina und zwei ihrer Mitschülerinnen zu Folge brauche Freiheit nichts als vernünftige Abwägung, also ein gewisses Alter, sowie Muße zum Nachdenken und Urteilen, die sich jeder nehmen könne (»sie könnte schon sie könnte schon eine minute so stehen bleiben und sagen: was mach ich da?«32). Kinder aus ähnlichen Verhältnissen, die sich anders als Bianca verhielten, bewiesen, dass vorangegangene Erfahrungen das Handeln nicht durchgängig determinierten. Alle anderen Jugendlichen erklären Biancas Handeln aus den auch in den obigen Gruppen genannten Faktoren fehlender Denkmöglichkeiten und Aggressionsabbau, was in der steilen These mündet, man müsse Biancas Eltern bestrafen, nicht sie selbst.33 In der abschließenden Kleingruppendiskussion verteidigen allerdings auch die Jugendlichen der HS 2 die eigene Verantwortlichkeit und so28 29 30 31 32 33

3_8 51, 59, 52, 63. 3_8 130. 3_8 136. 2_8 53–62. 2_8 120. 2_8 91–95.

Bederna Freiheitsbewusstsein Jugendlicher

mit Freiheit – selbst diejenigen, die, wie Antonella und Danny, Bianca völlig frei (bzw. unfrei) sprachen.34 In der Gruppe Gym 5 finden sich alle drei oben bereits von den anderen referierten Positionen und Argumente (voll verantwortlich qua Vernunft und Alter; entschuldbar durch Umstände, »abfärben«; völlig unschuldig, da determiniert). Hier sind aber diejenigen, die auch für Bianca klar auf Freiheit und Verantwortung setzen quantitativ und argumentativ überlegen. Die Gruppe Gym 4 lässt sich nur kurz auf den Fall Bianca ein (wohl, weil sie ihn nicht auf ihr Umfeld bezieht), kommt zügig zum Konsens, es gebe Gründe, Bianca zu verstehen und infolgedessen mit Nachsicht zu urteilen, streitet dann aber intensiv über die allgemeine Frage, ob, wie Salvatore behauptet, »der mensch dazu fähig [ist], über seine prägung hinauszuwachsen.«35 Dies führt sie zur Diskussion, ob der Mensch vernünftig genug sei, freie Entscheidungen zu fällen. Diejenigen, die dies wie Björn und Salvatore behaupten, erhalten von ihren Mitschülern die Auskunft, sie dächten hochnäsig aus der Perspektive ihrer heilen Kleinstadt und sähen nicht, dass die meisten Menschen zu unreflektiert seien, um frei urteilen zu können – eine Einschätzung, die selbst noch viel selbstgerechter klingt als die kritisierte: Salvatore: ja aber des ist ja des, der mensch ist schon klug genug, um Adriana: aber nicht alle Salvatore: ja nicht alle, aber der mensch an sich eigentlich schon. wenn man des bei der situation bissle erwartet, ich weiß nicht. Philipp: ja zum salvatore, ich glaub eben nicht, dass der mensch klug genug isch, um des zu tun (unruhe, lachen, I. sorgt für

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ruhe) man sieht’s ja einfach wenn eltern ihre kinder, wenn eltern ihre kinder schlagen, dann sieht man ja welche kinder dann irgendwann auch mal anfangen. dann müssen mer jetzt eigentlich denken die müssen klug genug sein und einsehen ja in ihrer kindheit war’s schrecklich, dass sie dauernd geschlagen worden oder was weiß ich und trotzdem machen ses bei ihren eignen kindern genau so. Adriana: aber net alle, die meischten Philipp: dann siehsch mal wie intelligent die sind zum nachdenken ob des gut oder schlecht isch. […] Björn: ich hab auch nicht gsagt, dass die sich entschieden, äh entscheiden. ich hab nur gsagt, dass die die möglichkeit haben, sich dagegen zu entscheiden. L: Jasmin es gibt keine möglichkeit? Jasmin: doch aber ich denk, wenn sie nicht gegen andere gehen, gehen se gegen sich selbst. und wenn sie sich ritzen oder was weiß ich machen, dann ist’s au net grad besser.36

Viele Menschen (allerdings nicht sie selber!), so die Jugendlichen dieser Gruppe, lebten im ›man‹, seien nicht »klug genug« oder hätten zu schlechte Erfahrungen gemacht, als dass sie frei sein könnten, auch wenn es prinzipiell die Möglichkeit für jeden gebe, freie Entscheidungen zu treffen, wenn also nichtsdestotrotz eine letzte Freiheit gedacht werden müsse. Strittig ist hier, welche Kraft und Bedeutung diese ›Möglichkeit zur Freiheit‹ hat: Während einige wie Björn und Salvatore sie für das wesentlich Menschliche halten (auch wenn dies faktisch nicht immer verwirklicht werde), halten andere sie für so selten realisiert und ersetzt durch 34 Dany 2_I 779, ebenso 2_1 752, 774ff. 35 5_8 161. 36 5_8 177–183.209–211.

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Empirische Aspekte

Zwangshandlungen (»ritzen«), dass sie nur von theoretischer Bedeutung sei. In allen fünf Gruppen wird Freiheit in der Diskussion um Bianca also zugespitzt als Entscheidungsfreiheit, die der freien Vernunft bedarf. Insgesamt ist die Bereitschaft, die Entscheidungen anderer zu erklären, zu verstehen, zu entschuldigen – und damit jene implizit zu entmündigen, wenn nicht gar zu entsubjektivieren – breit vertreten. Während die HS 1 diplomatisch bis paradox für eine ›schuldige Unschuld‹ eintritt, prallt in HS 2 und RS 3 die breite Entschuldigungsbereitschaft auf das klare Freiheitsvotum weniger. Es ist zu vermuten, dass diese Entschuldigungsbereitschaft nicht nur für andere, sondern auch in der Erste-Person-Perspektive zum Tragen kommt. In der öffentlich geäußerten Selbstdeutung hingegen siegt die positive Konnotation der Freiheit als Fähigkeit, ein eigenes Leben zu führen über die Betonung der Macht der Verhältnisse. In den beiden Gymnasialgruppen ist das Eintreten für die Verantwortung und folglich Freiheit des Einzelnen deutlich ausgeprägter. Allerdings bezieht das nur Gym 5 auf alle Menschen, Gym 4 hingegen allein auf sich, während, so der hier vertretene Gesellschaftspessimismus, die vielen nicht willens oder in der Lage seien, auf Freiheit zu setzen. 3.2 Freiheit und Naturalismus

Freiheit ist für die befragten Jugendlichen – was banal klingt – ein positiver Begriff, der von allen Diskutierenden mehr oder weniger konsequent für sich selbst in Anspruch genommen wird. Ali bündelt diese Grundtendenz, wie einlei-

tend zitiert, im Wunsch nach Freiheit als Inbegriff sinnvollen Lebens: Jeder wolle sich selbst bestimmen, handlungsfrei sein, Spielräume haben. Nichtsdestotrotz stellten wir eine ›Unschuldsdrift‹ bzw. ›Unfreiheitsdrift‹ vieler fest, öffentlich geäußert allerdings nur in der Dritte-Person-Perspektive. Diese ›Unfreiheitsdrift‹ tritt in den diesem Aufsatz zugrunde liegenden Diskussionen bei Jugendlichen auf, die ansonsten sehr unterschiedlich über den Menschen denken. Im Folgenden soll deshalb nach Freiheitsbegriffen und -zuschreibungen in anderen menschenbildrelevanten Gesprächen Jugendlicher gefragt werden. Relevant dabei ist eine grundlegende Differenz, die in den analysierten Diskussionen quer zur Unterscheidung »frei / unfrei« verläuft: die zwischen naturalistischen und nicht naturalistischen Menschenbildern. Unter einem naturalistischen Menschenbild wird hier die Auffassung der Jugendlichen verstanden, der Mensch sei eine komplizierte Maschine, nichts als Mathematik und Chemie37, es gebe nur das, was man sehen und fühlen könne. Nicht-naturalistisch werden hier alle Menschenbilder genannt, die davon ausgehen, dem Menschen wesentlich sei, das naturwissenschaftlich Erklärbare zu transzendieren, mehr bzw. anders zu sein, als die DrittePerson-Perspektive fassen könne. Stringent durchgeführt ist eine naturalistische Weltsicht notwendig atheistisch. In den hier analysierten Diskussionen sind naturalistische Menschenbilder allerdings oftmals verknüpft mit Deismus. Nichtnaturalistische Weltsichten sind hingegen sowohl mit dem Glauben an eine die 37 I_4 786–790.

Bederna Freiheitsbewusstsein Jugendlicher

Welt transzendierende Macht als auch mit deren Ablehnung bzw. Infragestellung schlüssig denkbar und treten als solche in den Diskussionen auch auf. Im Folgenden werden vier Freiheitsbegriffe der Jugendlichen dargestellt, die die Grundoptionen repräsentieren, um welche sich die Diskussionen drehen. Die ersten beiden dieser Freiheitsbegriffe sind naturalistisch, die anderen beiden nichtnaturalistisch: a) »Zufallspengs«-Frei­heit (Gym 5, hier gezeigt an Luisa, Sina, Imke, Friederike), b) Paradoxe Freiheit (Gym 4, hier gezeigt an Philipp), c) Transzendierende Freiheit (Gym 4, hier gezeigt an Björn), d) Schicksal und eingebildete Freiheit (HS 1, hier gezeigt an Christian). a) »Zufallspengs«-Freiheit: Zentrale Ar­g u­ mente gegen eine naturalistische Leugnung von Freiheit sind in Gym 5 die als unvermeidlich angenommene Strafpraxis (»weil man muss ja so tun, selbst wenn man nicht frei ist, als ob man frei wäre weil man sie ja sonst, weil mans ja sonst nicht bestrafen kann«38) und der performative Widerspruch, der in der Leugnung der Freiheit stecke: »ich würd sagen, allein jetzt, dass wir hier diskutieren, das steht ja dafür. also das ist ja ein widerspruch, dass es keinen freien willen gibt, weil, weil hier zu diesem thema hat ja jetzt direkt uns keiner beeinflusst, dass wir das und das denken. es heißt, allein schon das wäre ja ein beweis, dass wir alle n willen frei haben und dass wir alle unterschiedlich denken.«39 Genau dieser Freiheitsbegriff, Freiheit als Nichtbeeinflussung von außen, die sichtbar werde in den Differenzen untereinander, ermöglicht Luisa, Friederike und Sina, Freiheit mit einer naturalistischen Perspektive zu vereinbaren: Für sie ist Freiheit erstens

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rein subjektiv (»ja, also ich würd schon sagen. aber man könnte frei auch so definieren, so lange man selber denkt, dass man frei is, is man auch frei.«40). Zweitens meine Freiheit die relative Geschlossenheit eines selbstläufigen Systems. Der Mensch sei eine Maschine, die frei sei, weil sie nicht programmiert werde: Luisa: ich find wir sind dann trotzdem frei, weil das entscheidet dann in gewisser weise auch der körper selber, also der körper sagt ja, wo das langfließen soll, was sich mehr entwickeln soll, was sich weni, weniger entwickeln soll und somit is der körper dann theoretisch doch frei, weil der steuert das ja alles. und das wird ja jetzt nicht von irgendwem gesteuert, von irgendwie gesteuert, so dass wir nicht frei sind. irgendwie (find ich das) unlogisch. […] weil, wenn wir (Gelächter) jetzt theoretisch nicht frei wären, dann müsste es ja auch immer irgendwen geben, der daran schuld ist, dass wir nicht frei sind, aber es gibt ja niemand anderen, der daran [wirklich schuld ist […] Friederike: [ja] Sina: weil man selber das gerade denkt oder fühlt, oder den bedarf hat das zu tun, durch diese zufallspengs da oben drin und äh, dann is man immer noch frei. Friederike: solange man selber Sina: ja Friederike: irgendwie das in einem selber drin is, also so lange es nich von außen kommt, is man frei. wenns von außen kommt, dann is man nich frei.

Freiheit ist hier also bescheiden gedacht. Sie verlangt keine letzte Distanzierungs38 Ulf 5_7 280. vgl. ebd. 259–285; ähnlich: 3_8 140–173; 4_8 222–257. 39 Luisa 5_7 285. 40 Luisa 5_I 711, vgl. ebd. 713. Ebenso Sina 5_I 754ff.

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fähigkeit von allem Vorgegebenen, kein Subjekt im engeren Sinn. Sie verlangt nur Abwesenheit lückenloser Außensteuerung, die aufgrund der Nicht-Identität mit anderen anzunehmen sei. Der Mensch sei reduzierbar auf chemische Prozesse (»Zufallspengs«), doch sei es eine Form der Freiheit, selbst diese Prozesse zu sein. Verantwortung meine Zuschreibung eines Geschehens zu einem Geschehenszentrum: »und dass das auch alles zu einem gehört, dann muss man auch dafür verantwortlich sein, wenn man irgendwas falsches macht und dafür den rücken grade macht, weil des kommt dann ja auch aus einem raus.«41 So können die Mädchen, die diesen Freiheitsbegriff formulieren, Bianca entweder durch Verweis auf Prägungen entschuldigen (Sina) oder durch Leugnung von Außensteuerung verantwortlich machen (Luisa, Friederike). Für diesen Freiheitsbegriff spielen weder Wille noch Vernunft eine Rolle. Völlig konsistent stellt Sina vielmehr die These auf, einzig die Gefühle des Menschen könnten frei genannt werden, da diese ohne reflexive Distanz, also ohne die Möglichkeit der Einflussnahme unmittelbar aus dem Menschen kämen.42 Ihre Position erinnert in der Betonung des unmittelbaren Fühlens, aber auch in ihrem Freiheits- und Vernunftverständnis frappierend an Ulrich Pothasts Selbstbewusstseinstheorie.43 Anders als dieser macht sie jedoch das Ichsein im Sinne der Abgrenzung zu anderen stark: Jeder sei anders, unverwechselbarer Einzelner. b) Paradoxe Freiheit: Philipp (Gym 4), der einleitend bereits zitiert wurde, vertritt ein noch prägnanter naturalistisches Menschenbild: Der Mensch »des ist wie in der mathematik und der chemie«,

eine »komplizierte«, aber »lösbare« Gleichung44. Gefragt wie er dann so nachdrücklich behaupten könne, der Mensch sei frei, antwortet er: Philipp: ja, des versteh ich selber nich, alles (Gelächter) m: hast ja noch genug zeit Philipp: klar (2sec) nur, ähm, es, äh, isch, wenn ich jetzt so drüber nachdenk, klingts eigentlich sehr logisch, dass es nur aus chemischen reaktionen besteht, nur, wenn ich jetzt genauso nachdenk, fällts mir dadurch sehr schwer zu begreifen, dass ich mir überhaupt meine eigene meinung so machen kann. Björn: (leise) genau Philipp: obwohl ich eigentlich, wenn ich so drüber nachdenk denke, da, dass es so isch und trotzdem versteh ich nich recht, was äh, ding isch. Björn: also stimmsch jetz unserer ansicht zu Vanessa: also siehsch du irgendwie mit ein, dass du Philipp: ne, da (wird schon) wieder meine ansicht bestätigt, dass ich gesagt hatte, menschen sind zu blöd des alles zu kapiern. des isch des was ich die ganze zeit gemeint hab.

Während Sina, Friederike und Luisa ihr Freiheitsverständnis ihren naturalistischen Grundoptionen anpassten, sieht Philipp einen Widerspruch zwischen der Behauptung, der Mensch sei nichts als Materie und der Willens- und Entscheidungsfreiheit. Dieser Widerspruch führt ihn nicht dazu, eine der beiden Seiten 41 Luisa 5_I 819. 42 5_7 116-148, 168–192. 43 Ulrich Pothast, Philosophisches Buch. Schrift unter der aus der Entfernung leitenden Frage, was es heißt, auf menschliche Weise lebendig zu sein, Frankfurt a.M. 1988. 44 4_I 786–795.

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aufzugeben. Er rettet sich vielmehr in die These, das Problem lasse sich klären, nur sei der Mensch zu dumm dazu. c) Transzendierende Freiheit: Björn, der aus dem Widerspruch zwischen Naturalismus und Freiheitsbewusstsein schließt, Philipp müsse ersteren aufgeben, vertritt einen starken Freiheitsbegriff: Freiheit sei nicht, wie andere behaupten, durch Verantwortung begrenzt, Freiheit sei vielmehr die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und sich selbst zu binden: »unter freiheit kann man ja auch die tat verstehn, dass man auch auf andere hört. praktisch, dass man die freiheit hat auch, auch von anderen abhängig zu sein oder so und auf die zu hören, auf die zu folgen zum beispiel. des ist ja auch immer bewusst ein freiheitszeichnis.«45 In der Diskussion um ein naturalistisches Menschenbild assoziiert er Freiheit mit Seele46 und erklärt diese Assoziation damit, dass »der mensch, ja mehr ist als so ne ansammlung. nicht irgendwie nur eine ansammlung von knochen, fleisch«47. Seele sei wiederum »ähnlich wie gott […] einfach etwas, das über die reine materie hinausgeht.«48 Freiheit, Gott und Seele überstiegen also gleichermaßen die Empirie, müssten aber allesamt begründet angenommen werden – Freiheitstheorie eines Fünfzehnjährigen in den Spuren Kants. d) Schicksal und eingebildete Freiheit: Christian (HS 1), stellt im Rahmen einer Diskussion um den Gottglauben die These auf, alles sei Schicksal. Gott, den er »Einbildung«49 nennt und an den er »im Moment nicht«50 glaube, da eine Schöpfung in sieben Tagen unvorstellbar sei51 und Gott nicht auf der Erde gelebt haben könne52, habe alles »gedreht«53:

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Christian: ich glaub unser ganzes leben is eh schon ja, vorbestimmt. schicksal. glaub ich. Francesca: glaub ich au.54

Als Bekräftigung dieser Behauptung fügen die Mitdiskutierenden ›wahrsagende‹ Träume (»manchmal, zum beispiel früher, hab ich manchmal was geträumt. […], dann passiert des, was ich geträumt hab, und dann merk ich des im gehirn, dass ich des schon mal geträumt hab, oder früher schon mal gemacht hab.«55) oder Filme wie Final Destination an.56 Die sich anschließende Diskussion zeigt, dass die Jugendlichen dabei unter ›Schicksal‹ Unterschiedliches verstehen: Stefano: zum beispiel, du kannsch ja, wenn du jetzt jemanden umbringst, dann kannsch ja net sagen, gott hat mich dazu gebracht den umzubringen. des warsch ja [dann du selber]. kannsch ja net sagen des war er. Marek: [ha, ich war besessen.] Francesca: ja, wenn mer richtig nachdenkt, dann isch des jetzt eigentlich, wenn ich jetzt eines tages sterb, isch des jetzt net meine schuld, aber allgemein da kann isch keiner verantwortlich. I: also nehmen wir mal das beispiel von dir, du bringst jemand um oder du fängst an zu rauchen. ist das jetzt schicksal oder bin ich dafür verantwortlich? 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

_8 45. 4_8 241–255. 4_8 246 I_4 696. 1_I 399. 1_I 645. 1_I 647. 1_I 675. 1_I 714, 718. 1_I 706–707. Stefano 1_I 724; vgl. ebd. 725–729; 752–760. Marek, Christian 1_I 818, 825f.

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Stefano: des, da is mer selber dafür verantwortlich. egal was mer tut, man is immer selber verantwortlich. Francesca: (naja autounfall oder du wirsch) Stefano: ja okay, des isch was, du färsch ja auto. aber du weisch ja net, ob jetzt en, ob du en unfall machsch oder so, des weisch du ja net davor. Francesca: ja ne Stefano: des isch zukunft, schicksal halt. Christian: so dumm wies klingt. ich glaub wirklich unser leben ist davor schon jetzt alles schicksal sag mer mal so des wird, man weiß schon, dass ich jetzt zum beispiel hier irgendwann mal sitzen werde in fünzehneinhalb jahren oder so. ich glaub das ist schon alles programmiert oder sagen wir das hört sich jetzt dumm an, aber. […] I: bist du jetzt freiwilig hier? also hast du gesagt: ganz freie entscheidung, heute ist dienstag, da geh ich an die ph? Christian: (seufzend) ich glaub, so dumm es auch klingt aber ich glaub das wirklich dass, festgelegt so. […] ja ich denk natürlich immer dass es meine entscheidung gewesen ist aber ich glaub [irgend irgendjemand weiß schon, dass ich das gemacht, also] Francesca: [und wenn du eines tages jemanden heiraten wirscht?] ischt des jetzt auch irgendwie schicksal oder ischt des feschtgelegt oder ischt des von dir aus dass du dir eine heiraten wolltescht?57

Für Stefano, Francesca und Marek ist »Schicksal« nur ein anderes Wort für die oben genannten zahlreichen Bedingungen der Entscheidung und Handlung, ein anderes Wort dafür, dass die Einflüsse anderer Freiheit und natürlicher Vorgänge auf die eigene Freiheit nicht absehbar sind, dass es also nicht in der eigenen Macht steht, ob man sein Ziel erreicht (im wahrsten Sinne des Wortes). Schicksal ist hier ein anderes Wort für die Offenheit der Zukunft. Die Vorstellung, es gebe kei-

ne letzte Freiheitsentscheidung, führt Marek mit dem Vergleich zur Besessenheit ad absurdum und Francesca verweist darauf, dass Liebe notwendig frei gedacht werden müsse. Schicksal sei insbesondere die eigene Geburt und der eigene Tod. Christian hingegen fasst den Begriff »Schicksal« enger. Alles sei programmiert. Freiheit sei denknotwendig, (!) aber Illusion. Genese und Grund dieser Vorstellung bleiben unklar. Während bei den oben genannten Jugendlichen die Option für oder gegen Freiheit konsistent in ein Menschenbild eingewoben ist, ist ein solcher Zusammenhang hier nicht erkennbar: Christians These grundlegender Passivität ist weder gebunden an klar naturalistische Vorstellungen (die er andeutet, aber bspw. durch die wie selbstverständliche Rede von Menschenwürde und – sterblicher – Seele und sogar Gott wieder durchbricht), noch an ein klares Votum gegen die Schuld im Fall Biancas oder etwa an eine theologische Argumentation mit Allmacht und Allwissenheit Gottes. 4. Befreiung, Theologisieren und theologische Anthropologie

In der Erhebung zeigte sich eine gewisse (d.h. gewichtige aber nicht unwidersprochene) »Unfreiheitsdrift« als Implikat der Bereitschaft, Dritte nicht verantwortlich bzw. nicht frei handelnd zu nennen. Diese Tendenz schlug nicht auf die öffentlich geäußerte Erste-Person-Perspektive durch. Zudem zeigten sich beim Philosophieren über die Freiheit des Menschen vier Freiheitsbegriffen, zwei aus naturalistischer Perspektive (die »Zufallspengs57 1_I 735–746; 872–877.

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Freiheit« mit einem bescheidenen Votum für Freiheit als Wort für einen relativ unabhängigen Geschehens-Knotenpunkt, die »paradoxe Freiheit« mit einem klaren Freiheitsvotum in tolerierter Spannung zu den eigenen naturalistischen Aussagen über den Menschen), zwei aus nicht-naturalistischer Perspektive (die »transzendierende Freiheit« mit einem Plädoyer für Freiheit als Sichbinden und Anfangen, als das den Menschen über die empirischen Kausalzusammenhänge Erhebende, die »eingebildete Freiheit« als Determinismus trotz unaufgebbarer Freiheitsillusion). Jugendliche sollen, so schlossen wir oben, gegen die genannte Unfreiheitsdrift lernen, sich und andere als freie und behaftbare Subjekte wahrzunehmen und entsprechend zu handeln: Freiheit soll sein! Zentrale Wege sind hier wohl die Antizipation ihrer Freiheit, das Zutrauen in ihre Verantwortungsfähigkeit in realen Situationen. Zu einer solchen Befreiung gehört aber auch der politische Einsatz für eine Gesellschaft, die nicht von Sachzwängen, sondern von Subjekten gesteuert wird. Dem Theologisieren mit Jugendlichen geht es zuerst um Sprach- und Reflexionsfähigkeit, also um die Fähigkeit, die Konsistenz und Konsequenz der eigenen Vorstellungen zu bedenken und zu formulieren, Vorstellungen zu verwerfen oder zu entwickeln, in jedem Fall aber sie dem Streit der Gründe und Gegengründe auszusetzen. Beim Theologisieren über den Menschen spielt Freiheit eine gewichtige Rolle, da sie als praktische und zu erobernde für Jugendliche von besonderer Relevanz ist und zugleich eine Gelenkstelle der Vorstellungen vom Menschen ausmacht. Während die Befreiungsoption des Religionsunterrichts selbstverständlich sein sollte, sind beim Theologisieren

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über Freiheit die Positionen argumentativ auszuhandeln. Damit soll keinem Relativismus das Wort geredet werden, es ist vielmehr selbst schon eine Zuschreibung von Freiheit – in der Hoffnung, dass die vorbehaltlosen Argumente der freien Vernunft bestimmend sein werden. Nicht übersehen darf auch hier jedoch, dass keine Aussage über den Menschen freischwebende Theorie ist, sondern auf Erleben und Deuten, also auf Erfahrungen beruht, was wiederum auf die Befreiungsoption des RU zurückverweist. Dogmatische Theologie ist Hermeneutik des Glaubens, des tradierten wie des heute gelebten. Das meint nicht, sie sei Glauben gegenüber affirmativ. Sie findet im Zirkel aus Denkform und den als Handeln Gottes gedeuteten geschichtlichen Erfahrungen eine kritische Instanz gegenüber dem Glauben gleich welcher Zeit. Zugleich aber ist sie gefordert, die Glaubensaussagen jeder und insbesondere der eigenen Zeit zu verstehen, samt ihrer guten Gründe anzuerkennen und im Dialog mit diesen weiter zu denken, im Dialog mit denen, die wie Sina, Friederike und Luisa jegliche Emphase des Menschseins für unplausibel und unnötig halten, mit denjenigen, denen wie Christian der Schicksalsgedanke eine Form der Geborgenheit bietet, bis hin zu denjenigen, die wie Björn aber auch Philipp die transzendierende Kraft des eigenen Freiheitsbewusstseins entdecken und wie ersterer diese als Raum des Gottesbezugs erfahren. Ein solcher Dialog kann hier nicht mehr ausgeführt werden. Ohnehin aber ist sein Ort nicht zuerst die professorale Studierstube, sondern der Religionsunterricht, also der Dialog zwischen den Theologen und Theologinnen in der Schule, Lehrende, Schülerinnen und Schüler.

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Empirische Aspekte

Heinz Streib Was bedeutet »Spiritualität« im Jugendalter? – Erkenntnisse zu Aspekten subjektiver Anthropologie und Theologie von Jugendlichen aus religionspsychologischer Perspektive »Wie kriegen wir gelebte Religion so ins Klassenzimmer hinein, daß Lehrer und Schüler an ihr arbeiten und lernen können?« fragte C. Bizer bereits 1981.1 Diese Frage aufnehmend hat H.-G. Heimbrock in den 90er Jahren einen programmatischen Entwurf vorgelegt, der das Fragezeichen durch ein klares Ausrufezeichen ersetzt: Gelebte Religion im Klassenzimmer!2 Dabei hat Heimbrock in diesen Perspektivenwechsel nicht allein Ansätze eines seelsorgerlich oder sozialisationsbegleitend profilierten Religionsunterrichts,3 und damit eine feine Frankfurter Tradition, aufgenommen, sondern diesem Perspektivenwechsel in religionspädagogischer Absicht zugleich eine beachtliche Horizonterweiterung angedeihen lassen, die sich insbesondere seiner Profilierung des Verständnisses von »gelebter Religion« von Jugendlichen verdankt. Lebensweltbezogene Religionsdidaktik wird nun so verstanden, dass auch und gerade religiöse Phänomene in der Alltagskultur und der bei Jugendlichen populären medialen Welt in Musik, Film und Computerspiel, und dabei ausdrücklich auch implizite Formen solcher gelebten Religion, in den Rang religionsdidaktisch beachtlicher Phänomene erhoben werden. Mit der Erinnerung an diese Tradition, die in religionspädagogischer Absicht den je aktuellen Phänomenen adoleszenter Religiosität mit offenen Augen und der Bereitschaft für Überra-

schungen begegnen möchte, kann man den Rahmen oder Kontext abstecken, in dem auch die Frage nach der »Spiritualität«4 von Jugendlichen eingeordnet und in ihrem Stellenwert eingeschätzt werden könnte. Gehört »Spiritualität« zu den neuen Formen gelebter Religion von Jugendlichen? Bietet die Semantik der »Spiritualität« vielleicht am Ende eine Möglichkeit auch für Jugendliche, Implizites explizit zu machen, religiöse Suchbewegungen zu kommunizieren? In der vorliegenden empirischen Forschung findet man, zumindest bis heute, 1 Christoph Bizer, Der Religionsunterricht heute – eine Standortbestimmung, EvErz. 33 (1981), 99. 2 Hans-Günter Heimbrock, Gelebte Religion im Klassenzimmer? In: Wolf-Eckart Failing / Hans-Günter Heimbrock (Hg.), Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt – Alltagskultur – Religionspraxis, Stuttgart 1998, 233–255. 3 Dieter Stoodt, Religionsunterricht als Interaktion. Grundsätze und Materialien zum evangelischen Religionsunterricht der Sekundarstufe I, Düsseldorf 1975; Ders., Unterricht als Therapie? Am Beispiel des sozialisationsbegleitenden Religionsunterrichts. In: Peter M. Pflüger (Hg.), Tiefenpsychologie und Pädagogik. Über die emotionalen Grundlagen des Erziehens Stuttgart 1977, 178–193. 4 »Spiritualität« wird hier als Selbstbezeichnung der »Menschen auf der Straße« genommen (emic term; zu idiographischen Zugängen passend) – und nicht als wissenschaftlicher Begriff (etic term, der etwa in nomothetischer Untersuchung verwendet werden kann). Die Gänsefüßchen sollen dies bedeuten und in Erinnerung rufen.

Streib Was bedeutet »Spiritualität« im Jugendalter?

kaum Antworten auf diese Fragen – was freilich auch daran liegt, dass Surveys meist nur Menschen ab 18 Jahren befragen und dass einschlägige Jugendstudien wie z.B. die Shell-Studie äußerst sparsam sind, wenn es um Fragen nach Religion geht, von Spiritualität ganz zu schweigen. Einen Einblick in die Bereitschaft von Jugendlichen, sich selbst als »spirituell« zu bezeichnen, eröffnen einige unserer Bielefelder Studien. Ergebnisse aus Bielefelder Jugendstudien

Zunächst die Studie zu »Jugend und Religion«, die zur Religiosität und zum Gottesbild Jugendlicher, auch und gerade in Bezug auf den Umgang mit Gewalt und auf interreligiöse, antiislamische und antisemitische Vorurteile, Aufschlussreiches zu bieten hat.5 Quasi als Nebeneffekt zeichnet sich in den Daten dieser online-Befragung ein Alterstrend zu »Spiritualität« Jugendlicher ab: Von 343 Jugendlichen bezeichneten sich als »spirituell« oder »eher spirituell«: 11,0% der 12- bis 17-Jährigen, 25,1% der 17- bis 20-Jährigen und 34,7% der 21- bis 25-Jährigen (siehe Abb. 1). Wenn man vermuten darf, dass mit fortschreitender Adoleszenz auch die religiöse Identität konkretere Gestalt annimmt und mit zunehmendem Alter treffender expliziert werden kann, dann

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Abb. 1: Selbstbeschreibung von Jugendlichen als »spirituell« in Altersgruppen.

lässt sich aufgrund dieser Ergebnisse vermuten, dass ein Drittel der Jugendlichen, selbst wenn sie in der frühen Adoleszenz mit der Semantik der »Spiritualität« noch nicht so sehr vertraut sind, sich im Laufe der späteren Adoleszenz dahin entwickelt, dass sie »spirituell« als Selbstbezeichnung passend finden. Für die Verbreitung der Präferenzen für Spiritualität unter jungen Erwachsenen finden wir Bestätigung in weiteren eigenen Studien, in denen wir kontrastiv nach der Präferenz für »Spiritualität« und »Religion« gefragt haben. Wir haben die Frage in folgendem forced-choice-For5 Vgl. Heinz Streib / Constantin Klein, Religious Styles Predict Inter-religious Prejudice: A Study of German Adolescents with the Religious Schema Scale. International Journal for the Psychology of Religion, 24(2) (2014), 151–163. Das Design und diverse weitere Ergebnisse dieser Jugendstudie sind vorgestellt in: Heinz Streib / Carsten Gennerich, Jugend und Religion. Bestandsaufnahmen, Analysen und Fallstudien zur Religiosität Jugendlicher, Weinheim / München 2011.

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Empirische Aspekte

mat gestellt: Ich bin … »mehr religiös als spirituell,« »gleichermaßen religiös und spirituell«, »mehr spirituell als religiös« und »weder religiös noch spirituell«. Wie Tab. 1 zeigt, haben wir in der Pilotstudie zu unserem Dekonvertiten-Projekt6 ca. 21% Studienanfänger in Bielefeld und 31% in Chattanooga identifiziert, die sich für »mehr spirituell als religiös« halten.7 Antwortmöglichkeiten zur spirituell-religiösen Selbstidentifikation

USA (n = 278)

BRD (n = 198)

Ich bin mehr religiös als spirituell

14,8%

29,8%

und spirituell

48,2%

16,7%

Ich bin mehr spirituell als religiös

31,3%

20,7%

5,8%

32,8%

Ich bin gleichermaßen religiös

Ich bin weder religiös noch spirituell

der fünfte Studienanfänger in Bielefeld »Spiritualität« als Selbstbezeichnung bevorzugt, hat uns überrascht und zu vertiefter empirischer Forschung motiviert. Die Überraschung in der darauffolgenden Hauptstudie über Dekonversion, der Abwendung von Kirchen, religiösen Gemeinschaften und Gruppen aller Art, war, dass sich die Neigung zur »Spiritualität« bei den Dekonvertiten geradezu verdoppelt.9 Diese erstaunlichen Ergebnisse verlangen nach näherer Untersuchung – zumal nur ganz wenige Ergebnisse vorliegen zur Semantik von selbsterklärter »Spiritualität«. Was heißt es eigentlich, wenn jemand von sich sagt »ich bin spirituell« oder »ich bin mehr spirituell als religiös«?

Tabelle 1: Selbstbeschreibung von Studienanfän­ gern als »spirituell« und / oder »religiös« in Chattanooga (USA) und Bielefeld

Ergebnisse aus der Bielefelder Spiritualitäts-Studie zur »Spiritualität« Jugendlicher

Das heißt: Während für die USA kurz vor der Jahrtausendwende knapp 20% als »spiritual, but not religious« identifiziert wurden8 und es Daten zur »Spiritualität« für Deutschland noch nicht gab, haben wir mit dem genannten Frageformat eine Forschungslinie begonnen, die in unseren Studien zur Dekonversion und zur Semantik von Spiritualität weitergeführt wurde, die jedoch auch inzwischen in repräsentativen Surveys wie dem Religionsmonitor und ALLBUS – freilich mit den oben notierten Einschränkungen – Eingang gefunden hat. Auch wenn einschränkend zu beachten ist, dass die hier berichteten Ergebnisse nicht als repräsentatives Bild für die adoleszente Population in Deutschland genommen werden können, könnten sie einen Trend anzeigen. Dass jedenfalls je-

Eine umfangreiche, kulturvergleichende Studie zur »Spiritualität«, ihrer Semantik und ihren psychologischen Korrelaten 6 Heinz Streib / Ralph Hood / Barbara Keller / Rosina-Martha Csöff / Christopher Silver, Deconversion. Qualitative and Quantitative Results from Cross-Cultural Research in Germany and the United States of America, Göttingen 2009. 7 Erstveröffentlichung: Heinz Streib, Research on Life Style, Spirituality and Religious Orientation of Adolescents in Germany. In: Leslie J. Francis / Mandy Robbins, / Jeff Astley (Hg.), Religion, Education and Adolescence: International and Empirical Perspectives, Cardiff 2005, 131–163. 8 Vgl. Heinz Streib, More Spiritual than Religious: Changes in the Religious Field Require New Approaches. In: Heinz Streib / Astrid Dinter / Kerstin Söderblom (Hg.). Lived Religion – Conceptual, Empirical and PracticalTheological Approaches, Leiden 2008, 53–67. 9 Streib, 2008 (siehe Anm. 8); Streib et al., 2009 (siehe Anm. 6).

Streib Was bedeutet »Spiritualität« im Jugendalter?

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Abb. 2: Mystizismus und »Spiritualität« bei Jugendlichen in Deutschland und den U.S.A.

haben wir nach dreijähriger Laufzeit im Herbst 2012 abgeschlossen. Was Design und Methodik der Spiritualitäts-Studie angeht: Die Ergebnisse stützen sich auf knapp 1900 Beantwortungen eines online-Fragebogens, in den eine Menge Fragen und Skalen eingebaut waren,10 um alle erdenklichen Hypothesen zu testen. Hängt »Spiritualität« zusammen mit Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Alter, der Bildung, dem Einkommen? Oder mit Persönlichkeitsmerkmalen, mit Bindungsmustern, mit mystischen Erfahrungen, mit psychischem Wohlergehen? Für Zugänge zur Semantik haben wir das semantische Differenzial aufgegriffen11 und darüber hinaus freie Eintragungen zu »Spiritualität« und »Religion« erbeten. Für die dezidiert qualitative Analyse wurden mit einer Auswahl von 70 Personen in den USA und 50 in Deutschland

Faith-Development-Interviews geführt. Und alle Daten wurden und werden nach unserem Design der Triangulierung quantitativer und qualitativer Daten ausgewertet. Einige Analysen mit besonderem Fokus auf die Jugendlichen habe ich im Blick auf unsere Thematik durchgeführt und berichte die Ergebnisse in gebotener Kürze.

10 Eine kurze Auflistung und Erläuterung findet sich auf der Seite »Methoden« der Website des Projekts www.uni-bielefeld.de/spirituality-re­ search. 11 Eine erste Analyse mit detaillierten Angaben ist publiziert: Barbara Keller / Constantin Klein / Anne Swhajor / Christopher Silver / Ralph Hood / Heinz Streib, The Semantics of »Spirituality« and Related Self-identifications: A Comparative Study in Germany and the USA. Archive for the Psychology of Religion 35 (2013), 71–100.

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Empirische Aspekte

Abb. 3: »Spiritualität« und »Religion« in der Bewertung von Jugendlichen erfasst mit dem Osgood’schen Semantischen Differenzial.

Das beachtlichste Ergebnis stelle ich an den Anfang: Die Selbstbezeichnung »ich bin spirituell« hängt mit mystischen Erfahrungen zusammen. In Regressionsanalysen (mithilfe von Strukturgleichungsmodellen wie in Abb. 2) ist es uns gelungen, den Zusammenhang zwischen Mystizismus, gemessen mit Hoods Mysticism Scale,12 und »Spiritualität« als Selbstbezeichnung klar zu belegen, sodass wir Hoods Mystizismus-Skala als

ein präzises Messinstrument für »Spiritualität« empfehlen können. Und das auch im Blick auf Jugendliche (≤ 25 Jahre), wie Abb. 2 zeigt. Durch die Varianzerklärung (R2 = 0,47 bedeutet, dass 47% der Varianz von 12 Ralph Hood, The Construction and Preliminary Validation of a Measure of Reported Mystical Experience. Journal for the Scientific Study of Religion 14 (1975), 29–41.

Streib Was bedeutet »Spiritualität« im Jugendalter?

Spiritualität durch die drei MystizismusFaktoren erklärt werden) erweist sich Mystizismus als sehr beachtlicher Prädiktor für »Spiritualität«; je mehr die Jugendlichen von mystischen Erfahrungen berichten, desto stärker stimmen sie der Selbstbezeichnung »ich bin spirituell« zu. Dabei scheinen für die Jugendlichen bestimmte mystische Erfahrungen im Vordergrund zu stehen: Der stärkste Prädiktor sind Erfahrungen des Verlusts von Raum- und Zeitgefühl bzw. Erfahrungen, die man nicht oder nicht leicht in Worte fassen kann, zusammengefasst in der Dimension des introvertive mysticism, die sich mit einem sehr beachtlichen Regressionsgewicht (β = 0,62) auf »Spiritualität« bezieht (während diese Dimension des introvertive mysticism für »Religion« keinerlei Effekt hat). Etwas schwächer, aber ebenfalls positiv (β = 0,40) erweist sich die Dimension interpretation, was bedeutet, dass auch Interpretationen der mystischen Erfahrungen, etwa als Wunder oder Begegnung mit dem Heiligen, für die Jugendlichen ebenfalls eine Rolle spielen, wenn es um den Zusammenhang mit »Spiritualität« geht; für »Religion« spielt diese Dimension die herausragende Rolle mit überaus starkem Effekt (β = 0,82). Als negativer Prädiktor – interessanterweise sowohl für »Spiritualität« wie auch für »Religion« – erweisen sich Erfahrungen der Verbundenheit und des Verschmelzens mit etwas Größerem, der Natur, dem Universum (zusammengefasst in der Dimension des extrovertive mysticism). Diese Ergebnisse nehmen wir als Anzeichen dafür, dass die meisten unserer jugendlichen Probanden mit »Spiritualität« eine individuelle, erfahrungsorientierte, nach innen gerichtete: eine mystische Religiosität assoziieren.

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Diese »spirituelle« Erfahrungsorientierung scheint für die Jugendlichen mit Traditionsverlust einherzugehen. Das kann an der Abwertung von »Religion« ablesen werden. Ein Hinweis darauf sind die Ergebnisse mit dem Osgood’schen Semantischen Differenzial für die Jugendlichen, die in Abb. 3 vorgestellt werden. Der entscheidende Unterschied zwischen »Spiritualität« und »Religion« ist in der Dimension evaluation zu sehen: »Spiritualität« (durchgehende graue Linie) wird hier eher als hübsch, fein, himmlisch, weich oder mild evaluiert, »Religion« (gestrichelte Linie) hingegen als hässlich, grob, hart und streng. Mehrheitlich also geht die Präferenz für »Spiritualität« mit einer Abwertung von »Religion« einher. Qualitative Ergebnisse und eine Fallstudie aus der Bielefelder Studie zur »Spiritualität«

Um die qualitativen Daten und ihre Analysen einzubeziehen, stelle ich hier einige freie Eintragungen von Jugendlichen zu ihrem Verständnis von »Spiritualität« vor.13 Jugendliche, die sich selbst als »mehr spirituell als religiös« bezeichnen, haben ihr Verständnis von »Spiritualität« folgendermaßen in unserem online-Fragebogen charakterisiert:

13 Auf die freien Eintragungen zu »Spiritualität« und »Religion« kann ich hier aus Platzgründen nicht detailliert eingehen, wenn auch umfangreiche korpusanalytische, inhaltsanalytische und faktorenanlytische Auswertungen durchgeführt wurden. Für erste Ergebnisse siehe unsere Projekt-Website www.uni-bielefeld.de/ spirituality-research.

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Empirische Aspekte

Spiritualität ist für mich die Bewunderung der Natur. spiritualität ist eine art glaube an höheres, von der wissenschaft noch nicht erklärtes. … eine art innere stimme, die dem mechanistisch-materiellen weltbild widerspricht Suche nach Sinn u. Wahrheit ohne gewissheit sie gefunden zu haben. undogmatischer Glaube an hörere Macht, offenheit, Toleranz ggf. Ablehnung einer absoluten Wahrheit. Beispiel: Buddhismus, Esoterik, Philosophie, Parapsychologie, Kosmologie, Quantenphysik Der Glaube und die Offenheit für etwas, das sich außerhalb der für uns erklärbaren Dinge bewegt. Der Ansatz etwas aus anderen Blickwinkeln zu betrachten. Spiritualität ist für mich kein absolut klarer Begriff. Meine Vorstellung davon geht in die Richtung, dass es sich bei Spiritualität um das Spüren / Erkennen / Fühlen von Nicht-Stofflichem / Geistigem handelt. Spiritualität ist die Begegnung mit und Erfahrung von sich Selbst. Spirituell ist, wer nach seinen eigenen Antworten sucht. Spiritualität bedeutet für mich persönlich, das Ganze zu sehen und zu leben, unvoreingenommen und in harmonie mit meinen Menschen und mir zu leben. Frei vom materialistischen Denken! Zusammen in Harmonie leben! Die gelebte Beziehung zwischen Mensch und Gott

Jugendliche, die sich zugleich als »mehr spirituell als religiös« und als »atheistisch« oder »non-theistisch« bezeichnen – die kleine, hochinteressante Gruppe von »spirituellen Atheisten« ist eine Überraschung, die sich aus den Daten ergeben hat – definieren »Spiritualität« folgendermaßen:

Spiritualität hat für mich weniger mit höheren Wesen und unerklärlichen Mächten zu tun und mehr damit die natürlichen Mächte zu verstehen. Zum Beispiel finde ich dass alternative Heilpraktiken oder Meditation auch eine Form von Spiritualität sind. Spiritualität ist das Glauben an etwas, was nicht als Gott bezeichnet wird. Man lebt, um zu leben, nicht um sich für Himmel oder Hölle qualifizieren zu müssen. verschwommener Begriff für den glauben der menschen an verschiedene phänomene, die sich durch wissenschaftliche methoden nicht beweisen lassen, wie beispielsweise geister, götter, ein leben nach dem tod, seelenwanderung, aberglauben aller art Spiritualität ist für mich das Auslegen und Interpretieren sowie der Umgang mit der eigenen Innenwelt (geistig) und der Außenwelt (materiell).

Philipp R. ist der Autor der letztgenannten freien Eintragung zu »Spiritualität«. Diese auf den ersten Blick nicht so hervorstechende Definition, die dennoch bei näherem Hinsehen einen sehr durchdachten Eindruck macht, stammt von einem Jugendlichen, den ich darum etwas näher vorstellen kann, weil wir ein persönliches Interview mit ihm geführt haben. Philipp R. ist ein 24-jähriger Student mit bosnischem Migrationshintergrund. In einer streng katholischen Familie aufgewachsen, ist Philip R. heute ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Im Fragebogen bezeichnet er sich zugleich als »mehr spirituell als religiös« und als »Atheist«. In den Daten zeigt er überdurchschnittliche Werte für introvertive mysticism und ziemlich niedrige Zustimmung zu religiösen Absolutheitsansprüchen. In seinem Faith-Development-Interview haben wir vorwiegend

Streib Was bedeutet »Spiritualität« im Jugendalter?

einen individuierend-reflektierenden Stil14 gefunden. Auf die Frage »halten Sie sich für religiös, spirituell oder gläubig?« antwortet Philipp R.: Also ich würde, wenn ich, ich würde sagen: Ja, ich bin religiös, weil ich halt religiöse Einflüsse, religiösen Einfluss habe. Gerade meine Familie, vaterseits ist streng katholisch und, also ich bin kein Katholik, aber ich bin halt, habe halt diesen Einfluss. So Religion hat halt auch, obwohl ich nicht der Kirche angehöre oder so, hat einen gewissen Wert für mich persönlich. Spirituell Ja, spirituell, weil ich, ich denke, jeder Mensch ist spirituell, weil es halt einfach nur eine Frage ist, wie die Innenwelt, also wie man selber zu der Außenwelt steht, und das ist für mich schon eine Art von Spiritualität, und das hat jeder.

Philipp R. führt zu seiner »Spiritualität« weiter aus: … und dieses Spirituelle das sind, ist etwas, das ich mir selber gebe. Und dadurch, dass ich mich mit meiner Spiritualität beschäftige, ist es halt einfach nicht etwas, was von außen gegeben wird, irgendwelche Geschichten, sondern dieses Spirituelle ist etwas, das von innen herauskommt, wenn ich mich mit mir selber beschäftige, mit der Welt, dass ich, ich sage mal, gewisse Einsichten habe, gewisse Erkenntnisse und die kommen von mir selber heraus.

Gefragt, ob er bete, meditiere oder auf andere Art etwas für seine Spiritualität tue, antwortet Philipp R., er versuche zu meditieren: … und in dem Moment, in dem ich das schaffe, schalte ich halt einfach in einem gewissen Sinne einfach dieses analytische Denken, schaltet einfach ab. Ich kann

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mich einfach nur auf mein Gefühl konzentrieren, und dass dann einerseits entspannt und andererseits bringt das dann auch Einsichten mit sich, für mich persönlich. […] … und manchmal muss man sich einfach nur auf, von seinen Gefühlen leiten lassen, auf das Bauchgefühl, auf die Intuition. Und die Meditation hilft dann, diese, diesen Einfluss von sich selber dann auch wahrzunehmen und nicht nur auf das andere Gedankengeplapper zu hören.

Philip R. ist insofern ein etwas außergewöhnlicher Fall eines »mehr spirituellen Atheisten«, als er sich weniger als viele andere, die wir interviewt haben, gegen Religion abgrenzt, Religion nicht scharf ablehnt, sondern als Teil seiner Sozialisation akzeptiert, und dennoch seinen ganz eigenen Weg zu einer »gelebten Religion« gesucht und gefunden hat. Und dieser Weg führt in die eigene Innenwelt und präferiert Intuition und Meditation. Für Philipp R., wie für viele andere Jugendlichen und Erwachsene in unseren Daten, scheint »Spiritualität« ein semantisches Angebot zu sein, Religiosität, oder die Suche danach, zur Sprache zu bringen. So scheint »Spiritualität« einen Weg aus einer areligiösen oder religionskritischen Sprachlosigkeit zu bieten – »Spiritualität« als Label für individualistische, erfahrungsorientierte »gelebte Religion«. Neu an Philipp R.s Aussagen über seine atheistische »Spiritualität« ist, dass jeglicher religiöse Traditionsbezug zu fehlen scheint und stattdessen der Horizont enorm erweitert wird auf eine allen Men14 Vgl. James W. Fowler / Heinz Streib / Barbara Keller, Manual for Faith Development Research, (3. Aufl.) Bielefeld 2004, available at: https://pub.uni-bielefeld.de/download/178280 3/2212843.

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Empirische Aspekte

schen eignende Achtsamkeit. Ein weiteres Charakteristikum der »atheistischen« Spiritualität von Philipp R. ist die spielerische Offenheit, die tentative Suche nach dem eigenen Ausdruck für das, was wir wissenschaftlichen Betrachter dann mit Begriffen wie Transzendenzerfahrungen oder den letzten Horizont zu fassen suchen. Bei Philipp R. besteht das Tentative seiner »Spiritualität« etwa in der Achtsamkeit auf das, »was von innen herauskommt«. Die Flüchtigkeit der meditativen Erfahrung kontrastiert bei ihm mit der manifesten Konkretheit von Religion. Fazit

»Spiritualität« kann man als Ausdruck für »gelebte Religion« oder der Suche danach außerhalb etablierter, explizit religiöser Semantik verstehen. »Spiritualität« gehört dann zu einer Gruppe von Selbstbezeichnungen, die in einem Segment des religiösen Feldes zuhause sind, in dem der Weg zum Heil bzw. das, was uns unbedingt angeht, nicht (mehr) durch Akteure wie traditionelle religiöse Institutionen und ihre Amtsträger (Kirche) oder Propheten / charismatische Personen (Sekte) präsentiert und vermittelt wird, sondern in individueller Unmittelbarkeit gesucht und erfahren wird (Mystik).15 »Spiritualität« von Jugendlichen ist insofern beachtlich, als sie bei der Suche nach der eigenen (religiösen) Identität in der mittleren Adoleszenz und der emerging adulthood Formen institutions- und traditionskritischer, aber zugleich individualisierter, erfahrungsorientierter oder mystischer Religiosität in den Blick zu nehmen, zu erwägen und zu explorieren

erlaubt. Und darum könnte »Spiritualität«, besonders für den Teil der wenig traditionsgebundenen Jugendlichen, eine semantische Möglichkeit bieten, ihre Suche nach oder ihr Gespür für das, was sie unbedingt angeht, oder für das, woran sie ihr Herz hängen, zu kommunizieren. Wenn man die Öffnung für die Wahrnehmung der »Theologie der Jugendlichen« bzw. ihrer »gelebten Religion« als eine besondere Chance, aber auch eine der größten Herausforderungen für die Jugendtheologie ansieht, geht es auch um die Wahrnehmung und das Ernstnehmen von neuen, unkonventionellen Varianten adoleszenter Religiosität. Die Geschichten und Lebensgeschichten der Jugendlichen sollen zu Gehör kommen – und dabei soll auch ihr Entwurfscharakter, ihre Tentativität und Entwicklungsoffenheit ernstgenommen werden. Ich plädiere entschieden dafür, solchen genuinen Ausdrucksgestalten religiöser Erfahrung, »gelebter Religion« und subjektiver Theologien von Jugendlichen die gebührende Beachtung zu schenken und verstehe diese Analysen als Beitrag zur Religionspädagogik, zum Diskurs über Jugendtheologie – der ja auch und gerade darauf zielt, gelebte Religion so ins Klassenzimmer hereinzuholen, dass Lehrer/in­nen und Schüler/innen an ihr arbeiten und lernen können.

15 Vgl. Heinz Streib / Ralph W. Hood, Modeling the Religious Field: Religion, Spirituality, Mysticism and Related World Views, Implicit Religion, 16 (2013), 137–155; Dies., »Spirituality« as Privatized Experience-Oriented Religion: Empirical and Conceptual Perspectives. Implicit Religion, 14 (2011), 433–453.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

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Veit-Jakobus Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit – Konturen einer (theologischen) Anthropologie des Jugendalters im Anschluss an empirische Studien 1. Der Mensch als »Selbst«

Eine zeitgemäße philosophische Anthropologie1 geht weniger von der Frage nach der Bestimmung eines wie immer gearteten menschlichen »Wesens« (Essenz) aus als von der menschlichen Möglichkeit, Fähigkeit und Notwendigkeit, nicht einfach nur zu leben, also zu »vegetieren«, sondern das eigene Leben zu beobachten, sich also zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen und damit das Leben (bewusst) zu leben, also ein Leben erster und zweiter Ordnung zugleich zu führen (Existenz) – als wesentliches Merkmal der condition humaine bzw. des Homo sapiens sapiens. Auch in der Psychologie hat das »Selbst« Konjunktur. Der Sozialpsychologe Hans Dieter Mummendey hat nahezu 40 unterschiedliche, gegenwärtig relevante (sozial-)psychologische Theorieansätze zum »Selbst« unterschieden, die sich zu zirka zehn größeren Theoriegruppen zusammenfassen lassen, etwa zu »Selbstkognitionstheorien« oder »Selbstwerttheorien«. Ein Selbstkonzept im allgemeinen Sinne versteht er dabei umfassend als »Gesamtheit der Einstellungen zu sich selbst«.2 Grundlegend – und darauf insistiert auch Mummendey – ist das »Selbst« nicht im ontologischen Sinne gleichsam als Substanz (falsch) zu verstehen, vielmehr als eine Relation, ein Sich-Ins-

Verhältnis-Setzen,3 und dies wiederum nicht als fixe, starre Größe, vielmehr in der Gestalt eines Konstruktes oder Konzeptes. Es wäre also korrekter, anstelle von »Selbst« von einem Selbstkonzept bzw. einem »Selbstkonstrukt« zu sprechen, weshalb im Folgenden der Begriff »Selbst« in Anführungsstrichen gesetzt bleibt. Auch die Begriffe des Selbstkonstruktes bzw. -konzeptes sind weiter zu differenzieren, sind die Konstrukte oder Konzepte beim einzelnen Menschen doch keineswegs fest und starr, vielmehr selbst wiederum veränderbar und vielgestaltig, so dass im Blick auf konkrete Situationen die Begriffe »polyphone Selbste« bzw. »SelbstTexturen«4 noch angemessener wären. Darüber hinaus sollen folgende Näherbestimmungen und Differenzierun1 Christian Thies, Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 22009, 43–46. 2 Hans Dieter Mummendey, Psychologie des »Selbst«: Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung, Göttingen u.a., 2006, 7. 3 In diesem Sinne führte William James (1890) die treffliche Unterscheidung von »self-asknower« (the I-self) vs. »self-as-known« (the Me-self) ein. 4 Beate-Irene Hämel, Textur-Bildung. Religionspädagogische Überlegungen zur Identitätsentwicklung im Kulturwandel, Ostfildern 2007, 128ff. – Auch im Blick auf das »Selbst« lässt sich damit gegenwärtig von der Konzeption eines »pluralist rational constructivism« sprechen.

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Empirische Aspekte

gen als sinnvoll und wichtig vorgenommen werden: (1) Zum einen scheint auf der analytischen Ebene im Blick auf das Selbstbewusstsein die bereits angedeutete binäre Ausdifferenzierung in Selbstkognitionskonzepte und Selbstwertkonzepte sinnvoll. Erstere legen den Akzent auf den kognitiven Aspekt der Selbstbewusstheit im Sinne von Selbstreflexion, der zweite auf den affektiv grundierten Aspekt der Selbstwertschätzung (mit bewussten und nicht-bewussten Anteilen),5 wobei beide Aspekte zugleich auf vielfältige Weise miteinander verbunden, ja ineinander verwoben sind.6 Damit wird der eigentümlichen Doppelbedeutung des Wortes Selbstbewusstein, nämlich sich seines Mensch- bzw. Personseins oder seines Wertes bewusst zu sein, Rechnung getragen. (2) Zum zweiten ist das »Selbst« keineswegs in einem solipsistischen Sinne – etwa als innerster Kern des (eigenen) Seins – misszuverstehen, vielmehr angemessen nur unter Berücksichtigung seines sozialen Eingebettetseins, also gleichsam zweidimensional, analog zur Bestimmung des Menschen als eines sozialen Wesens. Zur Unterscheidung der eigenen, persönlichen bzw. der Perspektive der Anderen, Fremden auf die eigene Person (diese aber wiederum in der eigenen Selbst-Konstruktion) hat sich die klassische Ausdifferenzierung des self in I und Me eingebürgert (George Herbert Mead).7 (3) Diese Sichtweise lässt sich nochmals in einem dreidimensionalen Modell ausdifferenzieren. Das »Selbst« bzw. der Mensch begreift sich angemessen nur durch eine Verortung in der Welt insgesamt, also durch eine Sinnkonstruktion bzw. Selbst-Sinn-Konstruktion. Dies weiter-

führend unterschied Helmut Fend durch die doppelte Aufteilung der Selbstbeobachtung auf zwei Achsen (innen – außen; sowie: Realität / Wirklichkeit / Sein – Idealität / Möglichkeit / Schein resp. Sein-Wollen) vier Formen des »Selbst«: Eigentliches Selbst« (true self); Selbst vor anderen (appearing self); Ideales Selbst (ideal self) sowie das Wunschbild vor anderen (presented self).8 Der Sinnbereich ist zudem anschlussfähig für die religiöse Dimension.9 (4) Gleichsam als vierte Dimension tritt die Zeit hinzu: Das »Selbst« des Einzelnen konstruiert sich lebensgeschichtlich als autobiographisches Selbst. Mit dieser Dimension lässt sich zusätzlich das Modell der »Narrativen Identität« (Mc Adams 1993) verknüpfen. Die eigene Lebensgeschichte, ein (Lebens-)Sinn bzw. 5 Aufmerksamkeit findet dabei bes. auch das Phänomen des Mangels an Selbstwertgefühl, siehe dazu u.a.: Robert M. Arkin, Handbook of the uncertain self, New York u.a. 2010. 6 Siehe hierzu insbesondere: Mark R. Leary / June Price Tangney, Handbook of Self and Identity, New York / London, 2003 (22012). – Im einleitenden Teil wird darauf hingewiesen, dass das »Selbst« in der 2. Hälfte des 20. Jh. zu einem zentralen Thema der Psychologie und Soziologie avancierte, wobei zuerst (d.h. in den 50-er und 60-er Jahren) das Selbstwertgefühl (self-esteem), dann (in den 60-er und 70-er Jahren) das Selbst-Bewusstsein (self consciousness) im reflektierenden Sinne und etwa ab 1980 das Selbstkonzept (self-concept) im Zentrum des Interesses stand. 7 William James (1890) unterschied hier »the material me« von »the social me«. – Adäquater lässt sich heute (etwa mit Susan Harter) vom »Selbst« als kognitivem und sozialem Kon­ strukt sprechen. 8 Helmut Fend, Die Entdeckung des Selbst und die Verarbeitung der Pubertät, Bern u.a. 1994, 100, 210. 9 William James (1890) sprach vom »spiritual me« als dritter Form des »Selbst«.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

das »Selbst« werden dann primär anhand von Geschichten bzw. Erzählungen (re-) konstruiert. (5) In Lebenserfahren und -geschichten kann sich der Mensch in zweifacher Weise begreifen: als Erlebender und als Handelnder. Der binäre Schematismus Erleben – Handeln, der mit den einfacheren Unterscheidungen von »innen« vs. »außen« bzw. »passio« vs. »actio« nicht einfach identisch ist, lässt sich mit Nik­ las Luhmann als Zuschreibung einer Selbst- bzw. Fremdreferenz bzw. als internale oder externale Zurechnung verstehen, die der Herstellung von Sinn dient und die Erfahrung grundiert und prägt.10 (6) Zudem lässt sich der Aspekt der Reflexion auf das menschliche bzw. eigene Denken von dem auf das menschliche bzw. eigene Handeln unterscheiden. Das »Selbst« setzt sich damit einerseits zum eigenen Denken und andererseits zum eigenen Handeln ins Verhältnis. In der Entwicklungspsychologie stehen dafür die beiden unten ausgeführten Modelle der »Theory of Mind (ToM)« sowie der »Agency-Theory«. Zwei Vorteile eines solchen kon­ struktivistischen, relationalen bzw. perspektivisch fundierten Ansatzes einer Anthropologie in der Selbstreflexivität, Selbstbezüglichkeit bzw. Selbstkonstruktivität seien eigens hevorgehoben: Zum einen lässt sich der Mensch damit nicht nur »an sich«, sondern auch als Einzelperson (Individuum), also zugleich als Gattungs- und als Einzelwesen begreifen und beschreiben; anthropologische sowie psychologische, allgemeine wie individuelle Aspekte sind korreliert. Zum andern aber ist ein solches Selbstkonzept unmittelbar anschlussfä-

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hig für Religion bzw. Theologie, nicht nur, wie bereits angedeutet, über die Sinndimension oder die Religiosität / Spiritualität, sondern auch – wie noch zu zeigen sein wird – über das Konzept einer menschlichen Seele. Aus dem Gesagten ergibt sich folgender Aufbau des gesamten Beitrags: (1) Der Mensch als »Selbst« (2) Die Entwicklung des »Selbst« im Jugendalter (3) Das »Selbst« als Subjekt des Denkens, Fühlens und Handelns (4) Das »Selbst« und die »Seele« (5) Die (Un-)Sterblichkeit des »Selbst« / der »Seele«? (6) Ausblick: Theologische Anschlussmöglichkeiten 2. Entwicklung des »Selbst« im Jugendalter11

Im Gefolge der Piaget-Schule wurde darauf hingewiesen, dass sich ein »Selbst«, d.h. ein Selbstkonzept im eigentlichen Sinne, erst im Kontext der Ausbildung des formal-operatorischen Denkens im Verlauf der Adoleszenz entwickeln

10 Niklas Luhmann, Erleben und Handeln, in: Ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, 67–80. 11 Richard M. Lerner / Laurence Steinberg, Handbook of adolescent psychology, Hoboken, NY 22004. – Als einschlägige (entwicklungspsychologische) Zeitschriften fürs Jugendalter aus dem angelsächsischen Sprachraum seien genannt: Adolescence; Journal of Youth and Adolescence; Journal of Research on Adolescence; Journal of Early Adolescence; Genetic Psychology.

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Empirische Aspekte

kann.12 Dass dieser Prozess eine diffizile Entwicklungsaufgabe darstellt, die keineswegs problemlos zu lösen ist und vor allem zu Beginn mit großen Schwierigkeiten verbunden sein kann, leuchtet unmittelbar ein. So charakterisiert etwa Rosenberg die Phase der 12- bis 14Jährigen, also die frühe Adoleszenz, als Zeit einer Unsicherheit im Blick auf das »Selbst«: »Wenn es ein spezifisches Selbst-KonzeptProblem in der frühen Adoleszenz gibt, so glauben wir, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach das der Selbst-Konzept-Unsicherheit ist.«13

2.1 Selbstbewusstsein als Selbstreflexion

Bereits zu Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellten Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan die zentrale Bedeutung der Selbstreflexion für die (frühe) Jugendzeit heraus, wenn sie formulierten, dass für die Heranwachsenden in dieser Phase »die Erkenntnis, dass das Einzige, was wirklich real ist, das eigene Selbst ist. Als ich ein fünfzehnjähriges Mädchen fragte: ›Was ist das Allerrealste für dich auf der Welt?‹, antwortete sie ohne Zögern ›Ich selbst‹.«14

Diese Beobachtung lässt sich durch neuere Untersuchungen bestätigen und bis in die höhere Jugendzeit und das beginnende Erwachsenenalter hinein ausdehnen – und das ist im Blick auf die Alterskohorte der Studierenden besonders interessant. So urteilen etwa Christian Smith und Patricia Snell aufgrund ihrer großen empirischen Erhebung über die 18- bis 23-jährigen US-amerikanischen

»Emerging Adults« im Jahr 2009, dass es ihnen sehr schwer falle, »eine objektive Wirklichkeit jenseits des eigenen Selbst wahrzunehmen«.15 David Elkind sprach in diesem Kontext vom jugendlichen Egozentrismus, der die Umwelt vor allem als imaginäres Publikum (imaginary audience) wahrnimmt und sich selbst damit unter eine mehrschichtige Dauerbeobachtung stellt. Auch die Vorstellung einer Unverletzlichkeit als »personal fable«, die bis zur Überzeugung reichen kann, selbst gleichsam »immun« gegen den Tod zu sein,16 einschließlich eines entsprechenden Risikoverhaltens, lässt sich in diesem Kontext einordnen und begreifen. 12 Der Gedanke, dass die Heranwachsenden zuerst einmal einfach das »sind«, was sie in der nächsten Phase im Blick auf das (Da- und Selbst-) Sein reflektieren, findet sich ebenfalls in der »klassischen« Entwicklungstheorie zu unserem Thema: Robert Kegan, Die Entwicklungsstufen des Selbst: Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben, München 42005. – In einer anderen Fassung findet sich die Entwicklung des »Selbst« im Jugendalter in der bekannten Theorie von Erik H. Erikson unter dem Stichwort der »Identität« (zus.fassend s. Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich, Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Göttingen 2013, 71–76, insbes. 74–76. 13 Morris Rosenberg, Self-concept and psychological well-being in adolescence, in: R.L. Leahy (Hg.), The Development of the Self, Orlando 1985, 205–246, 223. – Übers. hier wie im Folg. V.-J.D. 14 Lawrence Kohlberg / Carol Gilligan, The Adolescent as a Philosopher: The Discovery of the Self in a Postconventional World, Daedalus 100, 1971, 1051–1086, 1057. 15 Smith, Christian, Souls in transition: the religious and spiritual lives of emerging adults, Oxford u.a. 2009, 45. 16 Siehe dazu u.a.: Dunya Y. Poltorak / John P. Glazer, The Development of Children’s Understanding of Death, in: Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America 15, 2006, 567–573, 571.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

Zur Entwicklung des Selbstkonzepts17 im Jugendalter hat Susan Harter ein auf empirischen Daten beruhendes Modell mit drei Phasen vorgelegt: – In der frühen Jugendphase (ca. 12–14 J., in der 2. Aufl. 11–13 J.), d.h. in der Sekundarstufe I, entwickeln die Heranwachsenden abstrakte Konzepte über die eigene Person (z.B.: Ich bin mitfühlend), die vereinzelt für sich stehen (Phase der »single abstractions«). – In der mittleren Jugendphase (ca. 15–16 J., in der 2. Aufl. 14–16 J.), also der höheren Sek I sowie beim Übergang zu Sek II, können unterschiedliche abstrakte Konzepte (z.B. Ich bin nett / Ich bin unhöflich) in statischer Weise miteinander verglichen werden (Phase der »abstract mappings«). Zugleich nehmen von außen der Druck, unterschiedliche soziale Rollen einzunehmen, sowie nach innen die Möglichkeiten der Introspektion und der Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben in starkem Maße zu. – Erst im höheren Jugendalter (ca. 17– 19), also etwa ab der Sek II bzw. dem Abiturientienalter, aber wird dann eine wirkliche Vermittlung zwischen disparaten, widersprüchlichen abstrakten Konzepten möglich (Phase der »abstract systems« bzw. eines abstrakten Denkens höherer Ordnung – z.B. Situations- bzw. Beobachterabhängigkeit: In der einen Situation bin ich …; in den Augen von bin ich … etc.).18 Auch neuere empirische Studien bestätigen, dass die Metakognition im Blick auf das Selbst mit den beiden Dimensionen der Reflexion des eigenen Denkens wie

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des Verhaltens während der gesamten Jugendzeit sich enorm steigert und einen »Höchststand« in der späten Jugendzeit erreicht, wobei es sich beim Übergang zum Erwachsenenalter auf diesem Plateau im Idealfall stabilisiert.19 Bereits ältere empirische Studien im Umfeld der Piaget-Schule hatten eine unmittelbare Korrelation zwischen der Ausbildung des »Selbst« und dem Erwerb und der Ausprägung des formalen Denkens hergestellt.20 Auch im Blick auf das autobiographische »Selbst«,21 die eigene Lebensgeschichte bzw. eine narrative Identität zeigen neuere Studien, die methodisch neben einfachen Fragen / Fragekatalogen bzw. Interwiews zunehmend narrative Settings einbeziehen, im Verlauf der Jugendzeit ein An17 Kleinkinder erwerben die Fähigkeit, sich selbst in ihrem Spiegelbild zu erkennen, im Alter von 18 bis 24 Monaten. Im 3. Lebensjahr folgt dann das Ich-Sagen mit der Erprobung des eigenen Willens (früher auch »Trotzphase« genannt). 18 Susan Harter, The Development of Self-Representations during Childhood and Adolescence, in: Leary / Tangney (wie Anm. 6), 610–642, insbes. 622–624, sowie Grafik 618; resp. 22012, 680–715. 19 Leonora G. Weil u.a., The development of metacognitive ability in adolescence, in: Consciousness and Cognition: An International Journal 22 (1) 2013, 264–271. 20 U.a. Bonnie J. Leadbeater / Jean-Paul Dionne, The adolescent's use of formal operational thinking in solving problems related to identity resolution, in: Adolescence 16, 1981, 111–121. 21 Von einem autobiographischen »Selbst« kann bei Kindern, die sich selbst im Spiegel zwar bereits im Altern von 18–24 Monaten, im Videofeedback aber erst mit 4–5 Jahren wiedererkennen, erst in diesem mittleren Kindergartenalter gesprochen werden, nach Ablösung der kindlichen Amnesie und dem Aufbau eines autobiographischen Gedächtnis ab dem Alter von etwa drei Jahren.

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Empirische Aspekte

wachsen des Bewusstseins für die eigene Verantwortlichkeit im Blick auf das eigene Leben in einem sich weitenden sozialen Kontext und in umgekehrter Blickrichtung ein wachsendes Verständnis für die komplexen Einflüsse, die auf das eigene Leben einwirken,22 und weisen zudem auf die Komplexität und Kulturbedingtheit der Ausbildung und Vertiefung eines autobiographischen Denkvermögens und Gedächtnisses hin.23 Der beschriebene Trend einer Horizonterweiterung und Komplexitätszunahme der »Selbst«-Konzeption während der Jugendzeit scheint jedoch ein interkulturell verbreitetes Phänomen zu sein. So beschreibt im Jahr 2013 eine Forschergruppe das Ergebnis einer empirischen Studie unter 13-17-Jährigen chinesischen Jugendlichen zur Frage »Wer bin ich?« mit folgenden Worten: »Das Selbst-Konzept von Jugendlichen wandelte sich mit zunehmendem Alter von äußeren und konkreten zu inneren und abstrakten Beschreibungen.«24

2.2 Selbstbewusstsein als Selbstwertschätzung

Während das Selbstwertgefühl bei Kindern vorrangig auf fünf Bereichen (domains) basiert, den schulischen, ferner den sportlichen Leistungen, der Beliebtheit unter Gleichaltrigen, dem Aussehen sowie dem Verhalten, treten bei Jugendlichen drei weitere Bereiche hinzu: enge Freundschaften, romantische Ausstrahlung (romantic appeal) sowie Leistungsfähigkeit im Blick auf den / einen Beruf. Zwei grundlegende Phänomene lassen sich dabei festmachen: zum einen

die Ausweitung der Bereiche, zum andern der Versuch, die Teilbereiche zusammenzuführen und zunehmend ein Gesamtbild des eigenen Selbstwerts zu entwickeln.25 Erhöhte Aufmerksamkeit wendet die therapeutisch orientierte Forschung dem Phänomen zu, dass das Selbstwertgefühl besonders in der frühen Jugendzeit oft recht fragil sein und zu Krisensituationen mit höchst problematischen, (selbst) zerstörischen Verhaltensreaktionen führen kann.26 Im Blick auf den Zusammenhang zwischen Selbstreflexion und Selbstwertschätzung hat Helmut Fend in eigenen (Zürcher) Studien eine auch (religions) pädagogisch höchst bemerkenswerte Ambivalenz festgestellt. Eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit und Selbstreflexion (die ihrerseits in Abhängigkeit von Geschlecht, sozialem Status sowie Bildungsaffinität steht) vermag einerseits in positivem Sinne eine Quelle für ein gutes, gesundes Selbstwertgefühl darzustellen, sie kann andererseits aber auch Zeichen einer tiefen Verunsicherung 22 Cybèle de Silveira / Tilmann Habermas, Narrative means to manage responsibility in life narratives across adolescence, in: The Journal of Genetic Psychology: Research and Theory on Human Development, 172 (1) 2011, 1–20. 23 Siehe u.a. Robyn Fivush / Tilmann Habermas u.a., The making of autobiographical memory: Intersections of culture, narratives and identity, in: International Journal of Psychology, 46 (5) 2011, 321–345. 24 Yan Ling Yi / Wei-gang Hui Pan / Xin-fang Si, Content analysis of adolescences’ reactions on ›Who am I‹, in: Chinese Journal of Clinical Psychology, 21 (3) 2013, 406–409. 25 Harter (wie Anm. 18), 624ff. 26 Monica J. Harris, Bullying, rejection, and peer victimization: a social cognitive neuroscience perspective, New York 2009.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

sein, besonders in der Pubertät und frühen Adoleszenz, d.h. im Alter von 12–16 Jahren. Positiv resp. problematisch für die Einstellung und Entwicklung wirken sich für die Heranwachsenden besonders die Bereiche der äußerlichen Attraktivität, der Stellung in der Peer-Gruppe sowie der Schulleistungen, wiederum vorrangig im Blick auf die eigenen Berufsmöglichkeiten, aus.27 2.3 Selbstbewusstsein als Selbst-Sinn-Konstruktion

Bereits Erik H. Erikson wies darauf hin, dass sich das jugendliche »Selbst« – er sprach von »Identität« – in drei Dimensionen entwickle, nicht nur als »psychosoziale« Identität im Blick auf die eigene Person im sozialen Kontext, vielmehr auch auf dem Hintergrund bestimmter weltanschaulicher Grundannahmen, zu denen religiöse Überzeugungen gehören (können).28 Über die Entwicklung von Religiosität / Spiritualität im Jugendalter und beim Übergang zum Erwachsenenen­ alter finden sich in der Literatur unterschiedliche Aussagen und Trendmeldungen.29 Ein positiver Einfluss auf das eigene Selbstwertgefühl ist dabei eine nicht unbedingt notwendige, aber doch mögliche Folge: »Klinische Literatur – die mehrheitlich Narration einbezieht – gibt zu verstehen, dass Religion dazu genutzt werden kann, das Selbst in einer Weise neu zu erfinden, die die subjektive Qualität des Lebens verbessert.«30

Bereits seit längerem bekannt und empirisch belegt ist, dass sich der Blick für die Sinnthematik in der Jugendzeit

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nicht nur formt und bildet, vielmehr – im Kontext einer »Reorganisation der Welt nach formal-operativen Regeln« – auch entwickelt und entfaltet, wobei sich die Frühadoleszenz auf den unmittelbaren Nahbereich beschränkt; als mögliche Selbstmordmotive werden hier von den Befragten in der Regel eine Häufung von »Pech« oder der Verlust einer wichtigen Beziehung, etwa der Freundin, angegeben. Während der mittleren bis späten Adoleszenz weitet sich der Blick hin auf einen Gesamtentwurf des Lebens; als Selbstmordmotive sind dann besonders Sinnkrisen und das Gefühl von Sinnlosigkeit genannt.31 27 Fend (wie Anm. 8), 112f. 28 Erik H. Erikson, Jugend und Krise, Frankfurt a.M. u.a, 1981 (Stuttgart 52003). – Zu Erikson s. auch: Büttner / Dieterich 2013, 71–76, hier: 74f (wie Anm. 12). 29 Zusammenfassend: Michael R. Levenson / Carolyn M. Aldwin / Michelle D’Mello, Religious Development from Adolescence to Middle Adulthood, in: Raymond F. Paloutzian / Crystal L. Park (ed.), Handbook of the Psychology of Religion, New York / London 2005, 144–161, 147. Siehe neuerdings auch: Smith (wie Anm. 15), 180ff; Heinz Streib / Carsten Gennerich, Jugend und Religion. Bestandsaufnahmen, Analysen und Fallstudien zur Religiosität Jugendlicher, Weinheim 2011; ferner den Beitrag von Heinz Streib im vorliegenden Band. 30 Elizabeth Weiss Ozorak, Cognitive Approaches to Religion, in: Raymond F. Paloutzian / Crystal L. Park (ed.), Handbook of the Psychology of Religion, New York / London 2005, 216–234, 228. S. dazu insbes.: Christoph Käppler / Christoph Morgenthaler (Hg.), Werteorientierung, Religiosität, Identität und die psychische Gesundheit Jugendlicher, Stuttgart 2013. 31 Rainer Döbert, Sinnstiftung ohne Sinnsystem? Die Verschiebung des Reflexionsniveaus im Übergang von der Früh- zur Spätadoleszenz und einige Mechanismen, die vor möglichen Folgen schützen, in: Wolfram Fischer / Wolfgang Marhold (Hg.), Religionssoziologie

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Empirische Aspekte

3. Das »Selbst« als Subjekt des Denkens, Fühlens und Handelns 3.1 Das denkende »Selbst« – Theory of Mind (ToM)

Die gegenwärtige, post-piagetsche, domänenspezifisch ausgerichtete entwicklungspsychologische Forschung geht für die Vorstellungen vom Menschen – d.h. für die »Domäne« Psychologie oder auch: Anthropologie – von der zentralen Unterscheidung bewusst / unbewusst aus. Nur Menschen sind in der Lage, bewusst zu wissen, zu fühlen und zu handeln, also auch darüber nachdenken und reflektieren, sich in ein Verhältnis zum (eigenen / menschlichen) Denken, Fühlen und Handeln setzen zu können (Theory of Mind; ToM).32 Zugrunde liegt die Frage, was wir wissen, denken, fühlen … und was wir über das Wissen, Denken und Fühlen denken und wissen. Es geht also auch und zentral um das Denken über das eigene Denken und Handeln, mithin um das (selbst-)reflexive Denken, wobei das Denken (Kognition) sowie das Nachdenken über das Denken (Metakognition) als ein in sich abgeschlossenes und auf sich selbst bezogenes (selbstreferentielles) System zusammengenommen und verstanden sind. Zugleich ist dadurch ein bestimmtes Weltverhältnis des eigenen »Selbst« konstitutiert. »Mentalisierung« meint dann den »Prozeß, durch den wir erkennen, daß unser Geist unsere Weltwahrnehmung vermittelt.«33 Bereits im frühen und mittleren Kindergartenalter (zwischen drei und fünf Jahren) legen Kinder ihrem Denken die Annahme oder Überzeugung zugrunde, dass subjektives Wissen nicht einfach ein Abbild, eine Kopie der Realität ist, viel-

mehr eine interpretierende Repräsentation bzw. ein Modell von Realität darstellt (Repräsentationstheorie bzw. »naive« resp. kindliche theory of mind). Die weitere gedankliche Differenzierungs- und Abstraktionsleistung, dass Wissen auf bestimmten Voraussetzungen und Vorwegannahmen etwa über die Wirklichkeit beruht, bleibt dem Jugendalter mit der Ausbildung des abstrakt-formalen Denkens sowie der Reflexion der »Denkmittel« bzw. des Zustandekommens von Wissen überhaupt (der sog. »Mittelreflexion«) vorbehalten.34 Gerade diese fundamentale und vielleicht auch überwältigende Erkenntnis mag ein wesentliches Moment und Motiv für den bereits erwähnten Egozentrismus der frühen Adoleszenz darstellen. 3.2 Das fühlende »Selbst«

Der häufig erhobene Vorwurf, die kognitivistisch ausgerichtete Entwicklungspsychologie vernachlässige die affektive

als Wissenssoziologie, Stuttgart u.a. 1978, 52– 72; Rainer Döbert / Gertrud Nummer-Winkler, Formale und materiale Rollenübernahme. Das Verstehen von Selbstmordmotiven im Jugendalter, in: Wolfgang Edelstein / Monika Keller (Hg.), Perspektivität und Interpretation, Frankfurt a.M. 1982, 320–374. 32 Zusammenfassend siehe insbesondere Beate Sodian / Claudia Thoermer, Theory of Mind, in: Wolfgang Schneider / Beate Sodian (Hg.), Kognitive Entwicklung (Enzyklopädie der Psychologie, C.V.2), Göttingen u.a. 2006, 495–612. 33 Peter Fonagy u.a., Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart 42011, 10. 34 Reto Luzius Fetz / Karl Helmut Reich / Peter Valentin, Weltbildentwicklung und Schöpfungsverständnis. Eine strukturgenetische Un­tersuchung bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2001, 247.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

Seite des Menschen, erweist sich als Vorurteil, da »mentale« Zustände eine kognitive und affektive Färbung haben, die Kognition also das Begreifen sowohl des Denkens als auch des Fühlens umfasst. Man spricht geradezu auch von einer »affective theory of mind« bzw. von einer »mentalisierten Affektivität«, die »ein über intellektuelles Verstehen hinausgehendes, auf gelebter Erfahrung beruhendes Verstehen der eigenen Gefühle« bezeichnet.35 Während die frühe Kindheit vor allem mit der Regulierung der kognitionsunabhängigen Emotionen beschäftigt ist und in der mittleren Kindheit zusätzlich vermehrt kognitionsabhängige Emotionen auftreten, stellt für die Jugendzeit und das frühe Erwachsenenalter eine wachsende Verknüpfung zwischen Emotionen und kognitivem System eine der wichtigen Entwicklungsaufgaben dar. Nach Gisela Labouvie-Vief u.a verläuft die Entwicklung von der späten Kindheit über die Jugendzeit bis ins Erwachsenenalter dabei von einem »präsystemischen« und »intra-systemischen« Denken, das Gefühle vor allem anhand von äußerem Verhalten bzw. innerem Erleben beschreibt (z.B. »Ich schrie« oder »Meine Wut resp. mein Blutdruck stieg«) bis hin zu einem »inter-systemischen« und »integrierten" Denken, das – eigene, fremde wie allgemein menschliche – Gefühle differenziert wahrzunehmen und zueinander in Beziehung zu setzen vermag.36 Dass gerade im Verlauf der Jugendzeit eine Zunahme der Wahrnehmung sowie der Differenzierung von Gefühlszuständen erfolgt, belegen erneut jüngste entwicklungspsychologische Studien.37

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3.3 Das handelnde »Selbst« – Agency Theory

Die Theory of Mind bzw. »Mentalisierung«, also die »Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren« (Peter Fonagy) stellt den Menschen nicht nur als (bewusst) denkenden und fühlenden, sondern eben auch als sich verhaltenden bzw. handelnden ins Zentrum der Überlegungen. Es geht um die Menschen bzw. die Subjekte als »intentionale mentale Akteure« (Agency Theory resp. »human agency concept«). Die frühkindliche Entwicklung lässt sich analog zur Entfaltung der Theory of Mind über die Zwischenstufen der den menschlichen Handlungen zugrunde liegenden Absichten, Rationalitäten und Grundüberzeugungen entfalten, so dass wiederum im mittleren Kindergartenalter ein ausgereiftes Konzept des (selbst)bewussten menschlichen Akteurs vorhanden ist.38 Die Frage nach der moralischen Entwicklung während der Jugendzeit ist

35 Fonagy u.a. (wie Anm. 33), 12. 36 Gisela Labouvie-Vief u.a., Speaking about Feelings. Conceptions of Emotion Across the Life Span, in: Psychology and Aging 4 (4) 1989. Gisela Labouvie-Vief u.a., Emotions and SelfRegulation. A Life Span View, in: Human Development 32, 1989, 279–299. 37 Nora C. Vetter u.a., Development of affective theory of mind across adolescence: Disentangling the role of executive functions, in: Developmental Neuropsychology 38 (2) 2013, 114–125. 38 Henry M. Wellman, Developing a Theory of Mind, in: Usha Goswami (Hg.), The WileyBlackwell Handbook of Childhood Cognitive Development, Chichester u.a. 2011, 258–284.

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Empirische Aspekte

Thema eines breiten Forschungsstrangs der gegenwärtigen Entwicklungspsychologogie und kann angesichts der Fülle hier nicht weiter ausgebreitet werden.39 4. Das »Selbst« und die »Seele«

Bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jh. stellte die ältere Generation der entwicklungspsychologischen Theorien zur Adoleszenz die Entwicklung eines (bewussten) Verhältnisses zu sich selbst – im deutschen Sprachraum meist unter dem Oberbegriff des »Seelenlebens« – ins Zentrum ihrer Überlegungen (Charlotte Bühler40, Eduard Spranger41, William Stern42). Dass die Piaget-Schule dann den Aspekt der »Seele« nicht weiter verfolgte und sich ganz auf eine binäre KörperGeist-Anthropologie (body-mind) konzentierte, wird in der (Entwicklungs-) Psychologie im deutschen Sprachraum bis zur Gegenwart mehrheitlich weiter gepflegt, begrüßt und überhöht. So schreibt etwa Hans Dieter Mummendey in geradezu verräterischer Terminologie: »Die Abkehr von ›der Seele‹ als einem für eine empirisch arbeitende Wissenschaft unbrauchbaren Begriff ist ein wichtiger Fortschritt – beinahe hätten wir geschrieben: ›ein Segen‹ – gewesen.«43

Neuere entwicklungspsychologische Untersuchungen in der Post-Piaget-Tradition der gegenstandsbezogenen Theorien im angelsächsischen Sprachraum vollzogen aber in jüngerer Zeit – und dies ist in unserem Kontext höchst interessant – eine Erweiterung der alten anthropologischen Dichotomie von Körper und Geist zur Triangulation von Körper, Geist und Seele (body-mind-soul).44 M.a.W.: Nun

wird auch das Konzept der (menschlichen) Seele von der entwicklungspsychologischen Forschung berücksichtigt.45 Dabei zeigt sich, dass bereits Kinder, aber auch Student/innen, d.h. ältere Jugendliche bzw. junge Erwachsene, Konstrukte bzw. Konzeptionen einer menschlichen Seele entwickeln, die diese vorrangig mit zwei Aspekten des Menschseins verknüpfen:46 – mit einem unveränderlichen Kern, einer stabilen Identität des Menschen (invariant essence, stable identity) sowie – mit spirituellen Einstellungen, Funktionen und Tätigkeiten. 39 Siehe u.a. Daniel K. Lapsley / Darcia Narvaez, Moral development, self, and identity (paperback-Ausg.), New York u.a. 2013. – Im Hintergrund ist dabei bis zur Gegenwart Lawrence Kohlbergs klassisches Modell zur Entwicklung des moralischen Urteils wirksam (s. dazu zus. fassend: Büttner / Dieterich 2013, 17–21 – wie Anm. 12). 40 Charlotte M. Bühler, Das Seelenleben des Jugendlichen, Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, Jena 1922. 41 Eduard Spranger, Psychologie des Jugendalters, Leipzig 1924. 42 William Stern, Grundlinien des jugendlichen Seelenbildes, Leipzig 1925. 43 Mummendey (wie Anm. 2), 16. 44 S. u.a.: Mark Graves, Mind, brain and the elusive soul: human systems of cognitive science and religion, Aldershot u.a. 2008. 45 S. dazu: Büttner / Dieterich 2013 (wie Anm. 12), 103–111– Dass dies keine einfache Repristination des (psychologischen) Seelenbegriffs von Bühler, Spranger u.a. bedeutet, ist auf dem Hintergrund des im Folg. Ausgeführten unmittelbar einleuchtend. 46 Die beiden zentralen Untersuchungen dazu stammen vom selben Forscherduo: Rebekah A. Richert / Paul L. Harris, The Ghost in My Body: Children’s Developing Concept of the Soul, in: Journal of Cognition and Culture 6, 2006, 409–427; Rebekah A. Richert / Paul L. Harris, Dualism Revisited: Body vs. Mind vs. Soul, in: Journal of Cognition and Culture 8, 2008, 99–115.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

Beide Aussagen können sowohl in individueller als auch in allgemeiner, anthropologischer Hinsicht Bedeutsamkeit erlangen. Im Blick auf Jugendliche im mittleren Jugendalter hat Katrin Bederna 47 in einer Analyse von Gruppendiskussionen in höheren Klassen der Sekundarstufe I ebenfalls die von Richert und Harris herausgearbeiteten Aspekte gefundenen, etwa die Vorstellung der Seele als Zentrum des Menschen, als Kern seiner Identität: Friederike: und dann, irgendwie, ja. seele is mal wieder die einzig, einzigartigkeit des menschen.« (129 – neunte Klasse eines Gymnasiums)

Daneben, manchmal auch daran anknüpfend besteht auch unter Jugendlichen die Vorstellung von der Seele als Ausdruck der spirituellen bzw. religiösen Dimension des Menschen, als den Aspekt seiner Gottesbeziehung, wie folgender kurzer Auszug aus einer Gruppendiskussion zeigt: »Björn: ich denk man muss die seele in ähnlichen bereichen wie gott sehen, dass es einfach et, wieder mal etwas ist, dass wir, dass wir garnicht so erklären können. deswegen mach ich mir garnicht erst die mühe. Jasmin: [des is aber auch die seele, ja äh] Martin: [die göttliche seite in uns« (130)

Bedernas empirische Befunde zusammenfassend und systematisierend lassen sich – in leichter Modifikation ihrer eigenen Darstellung – unterschiedliche Konzeptualisierungen von »Seele« bei Heranwachsenden in höheren Klassen der Sekundarstufe I differenzieren: – Fehlen des Begriffs »Seele« bei der Beschreibung des Menschen.

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– »›Seele‹ als Oberbegriff für menschliche Eigenschaften.« – Seele als Bezeichnung für den Kern, das Wesen, die Identität des Menschen. – Seele als »Gottbezogenheit« des Menschen, als seine spirituelle bzw. religiöse Seite (132f). Unterziehen wir die Ergebnisse von Richert / Harris zur Seelenkonzeption von Studierenden aufgrund des bisher Gesagten einer genaueren Analyse, ergeben sich einige beachtenswerte Ergebnisse:48 Zum einen verbinden die Studierenden die »Seele« erstaunlicher Weise (es handelte sich um Student/innen des Faches Psychologie) nicht in erster Linie mit der »Psyche«, also dem Seelen- bzw. Gefühlsleben, denn das »Fühlen« bzw. die Welt der Emotionen wird in nahezu gleichem Maß sowohl mit der Seele (soul) als auch mit dem Geist (mind) in Verbindung gebracht (45% vs. 41%). Vielmehr konnotieren sie die Seele vorrangig mit spirituellen Funktionen (83% schrieben wenigstens eine spirituelle Funktion mehr der Seele als dem Geist zu, 68% gar deren zwei – während das Umgekehrte kaum der Fall ist) (107f). Zum zweiten wird die Seele von einem Teil der Studierenden (in diesem Fall knapp 30%) als etwas Konstantes, Unveränderliches betrachtet, während dies für den Geist (mind) nicht angenommen wird (nur bei gut 4%) – dieser ist vielmehr einer lebensgeschichtlichen 47 Katrin Bederna, »Seele ist mal wieder die Einzigartigkeit des Menschen«. Jugendtheologien der Seele, in: Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 114–134. 48 Richert / Harris 2008 (wie Anm. 46).

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Empirische Aspekte

Entwicklung und Veränderung unterworfen (gut 86%) (105). Die Frage, wie weit die Seelenkonzeption dem Bereich des Denkens (und damit der Theory of Mind) bzw. des Handelns (und damit einer Agency-Theory) zuzuordnen ist, lässt sich aufgrund der Untersuchungen nur behutsam beantworten. Das Denken wird von den Probanden vorrangig dem Geist (mind) zugerechnet (42%), nachgeordnet aber auch der Seele (26%) (106f). Ganz eindeutig aber hat die Annahme einer Existenz der Seele Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen (109ff), so dass sie mit Handlungsoptionen und mit der Agency Theory in unmittelbarer Verbindung zu stehen scheint – auch wenn diese Fragestellung nicht direkt an die Probanden gestellt wurde und daher eine bewusste Zuordnung nicht nachweisbar ist. Noch schwerer lässt sich aufgrund der ausgewählten Fragevorgaben – bei denen die auf Eigenaktivität zielenden Formulierungen überwiegen (103) – sagen, ob die Studierenden die Seele eher mit dem »Erleben« oder dem Handeln« konnotieren. Immerhin scheint doch die Annahme begründet, dass sich beide Aspekte finden, wenn die Seele etwa mit »Lebenskraft«, »Verbindung zu einer höheren Macht« oder einer »spirituellen Essenz« in Verbindung gebracht wird (107). 5. Die (Un-)Sterblichkeit des Selbst?

In der Piaget-Tradition wurde davon ausgegangen, dass Kinder im Grundschulalter ein »reifes«, d.h. ein von den Erwachsenen vertretenes medizinisches Todesverständnis entwickeln und im

höheren Kindes- und dann im Jugendalter andere, etwa religiöse Vorstellungen, weitgehend »absterben«. Neuere Untersuchungen wiederum sowohl unter Kindern als auch unter Studierenden zeichnen dagegen ein völlig anderes Bild.49 Zum einen entwickeln Heranwachsende offenbar bereits wesentlich früher als bisher angenommen eine »natürliche« Sichtweise des Todes. Zum andern aber kann sich bei vielen – angeregt etwa durch die Erkenntnis, dass die Übergänge vom Leben zum Tod keinesfalls so »glatt« und einfach vonstatten gehen, wie das »natürliche« Modell nahe legt, – neben bzw. auf diesem aufbauend zunehmend ein zweites Modell eines Weiterlebens des Menschen in irgendeiner Form etablieren. Dieses findet sich, wie zwei höchst interessante neuere Studien von Bering (2002)50 sowie von Pereira u.a. (2012)51 zeigen, bei einem narrativen Imaginations-Setting mit der Aufgabe, sich den Tod des Protagonisten einer Geschichte oder gar den eigenen Tod in einer Unfallszene vorzustellen, bei vielen Studierenden – und auffälliger Weise auch bei einem beachtlichen Prozent derer, die sich auf ausdrückliche Nachfrage als Vertreter der Ganz-Tod-Hypothese bezeichnen, wobei diese dann mitunter selbst Erstaunen über ihre 49 Siehe dazu Büttner / Dieterich 2013 (wie Anm. 12), 114–124. 50 Jesse M. Bering, Intuitive Conceptions of Dead Agents’ Mind. The Natural Foundations of Afterlife Beliefs as Phenomenological Boundary, in: Journal of Cognition and Culture 2, 2002, 263–308. 51 Vera Pereira / Luís Faísca / Rodrigo de Sá-Saraiva, Immortality of the Soul as an Intuitive Idea. Towards a Psychological Explanation of the Origins of Afterlife Beliefs, in: Journal of Cognition and Culture 12, 2012, 101–127.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

unvermuteten intuitiven Vorstellungen äußern. Angesichts des Vorliegens nur weniger Studien mit tlw. kleinen Probandenzahlen soll es hier weniger um die Frage gehen, wie die quantitativen Verteilungen liegen, ob der Trend zum Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod eher zu- oder abnimmt und wie ein interkultureller Vergleich aussieht – eine Studie von Tange Chikako (2004) etwa berichtet von einer Abnahme des Glaubens an ein Weiterleben nach dem Tod während der frühen und mittleren Jugendzeit in Japan52 – vielmehr um die einfache Tatsache, dass das Konzept eines persönlichen Weiterlebens nach dem Tod in irgendeiner Form ent-

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Unterziehen wir aufgrund unserer Kriterien die in der abgebildeten Grafik festgehaltenen Ergebnisse der Studie von Pereira u.a. (2012) einer genaueren Analyse, lässt sich feststellen: Die (intuitive) Vorstellung eines Weiterlebens bzw. Weiterfunktionierens fällt in unterschiedlichen Bereichen recht unterschiedlich aus. Bei den unmittelbar körperbezogenen Zuständen und Gefühlen (etwa: krank sein) ist sie sehr gering, bei den Sinneswahrnehmungen unterschiedlich: bei den nahe am Stofflichen, Materiellen gelegenen wiederum recht gering (etwa: etwas berühren), je weiter aber davon entfernt, desto stärker (etwa: Musik hören). Bei den Wahrnehmungen der eige-

Intuitive Vorstellungen von Möglichkeiten nach dem eigenen Tod (Pereira u.a. 2012, 113, wie Anm. 51)

weder auf einer bewusst vertretenen oder auch nur auf einer unbewusst, intuitiv vorhandenen Ebene neben dem medizinischen Todesverständnis zu finden ist.

52 Tange Chikako, Changes in Attitudes Toward Death in Early and Middle Adolescence, Japanese Journal of Developmental Psychology 15 (1) 2004, 65–76.

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Empirische Aspekte

nen inneren Gefühlswelt (dem affektbezogener Teil der theory of mind) sowie bei Handlungsabsichten (der agencytheory) aber liegen die Werte recht hoch (etwa: den Wunsch verspüren, etwas zu tun), am höchsten bei der Selbstreflexion (dem kognitionsbezogenen Teil der theory of mind) und hier wiederum bei der Selbstreflexivität (etwa: über mich selbst nachdenken) und beim autobiographischen Ich am allerhöchsten (Werte zwischen 80 und 90 Prozent!). M.a.W.: Das Konzept, dass das eigene Selbst und hier an allererster Stelle die Fähigkeit zur Selbstreflexion (selbstreflexives Selbst) sowie zur Selbstidentifizierung aufgrund der eigenen Lebensgeschichte (autobiographisches Selbst) nach dem Tod weiter existieren, also unsterblich sind, scheint eine hohe Attraktivität zu besitzen und von Jugendlichen und jungen Erwachsenen neben und zusätzlich zum medizinischen Modell bewusst oder unbewusst vertreten werden zu können. Nehmen wir die Ergebnisse der bereits genannten neuen Untersuchungen zu einer triadischen Konzeption des Menschen (body-mind-soul) hinzu, so ist es eben die Seele des Menschen, die nicht nur vorrangig seine Identität bestimmt und damit als Kern der Identität des »Ich« konzeptualisiert ist, sondern zugleich nach dem Tod weiter lebt, also seine Unsterblichkeit ausmacht – und tlw. zudem als seinem irdischen Leben vorausgehend, also als präexistent angenommen wird.53 Das »Selbst« des lebendigen und des toten Menschen wird also mit deutlichen Kontinuitäten konzeptualisiert, die sich im harten Kern mit der Seelenvorstellung verbinden können, aber auch mit entscheidenden Differenzen, in denen

vorrangig dem biologischen Todesverständnis Rechnung getragen wird. Dass das »Nachtod-Selbst« dabei eine Form annehmen kann, die sich beim lebenden »Selbst« als spirituelle Erfahrung der »Entgrenzung« und »Verschmelzung« deuten lässt, zeigt die Äußerung eines 22jährigen Studenten: »Es wäre so, als wie mit allem um uns herum verbunden zu sein. Das Gefühl der Zugehörigkeit, nicht ein isoliertes Individuum zu sein. Ein Zustand nach dem Tod wäre der einer Verschmelzung, nicht einer Trennung wie im Leben.«54

6. Ausblick: Theologische Anschlussmöglichkeiten

Die vielfältigen theologischen Anschluss­ möglichkeiten der aufgezeigten Konstruierung des »Selbst« lassen sich hier nicht mehr ausführen, allenfalls noch andeuten:55 53 Richert / Harris 2008 (wie Anm. 46), 104f. – Weitere Studien hätten zu klären, in welchem Verhältnis die bei den verschiedenen Studien eruierten, unterschiedlichen und nicht ganz konkruenten Nach-Tod-Vorstellungen zueinander stehen. Eine Möglichkeit wäre, dass auf der bewussten, reflektierten Ebene die Unsterblichkeit primär mit der Seele (soul), diese im narrativen Setting auf einer nicht durchreflektierten Ebene aber auch (zusätzlich, beigeordnet oder gar vorrangig) mit dem »Geist« (mind) des Menschen, und hier primär mit seiner Selbstreflexivität und seiner lebensgeschichtlichen / -reflexiven Identität konzeptualisiert werden kann. 54 Zit. in: Pereira u.a. 2012 (wie Anm. 51), 127. 55 Zu den empirischen entwicklungspsychologischen Befunden im Blick auf die unterschiedlichen Themenfelder s. Büttner / Dieterich 2013 (wie Anm. 12), zur Anthropologie: 125–140, 141–154; zur Gottesfrage: 155–171, 172–190; zur Christologie: 191-206.

Dieterich Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit

(1) Im Bereich der theologischen Anthropologie scheint über den Ansatz der Spiritualität hinaus (und tlw. mit dieser verbunden) die Seele ein religiös und theologisch anschlussfähiges Konzept zu sein. Zudem ließen sich auf dem Hintergrund des angewendeten »Rasters« und der empirisch vorhandenen Vorstellungen bei Heranwachsenden zentrale theologische Aussagen über den Menschen (wie Gottebenbildlichkeit, Sünde oder Befreiung / Freiheit56) in unterschiedliche Perspektiven bzw. plurale Deutungsmuster ausfächern. (2) Bei der Gotteslehre – der Theologie i.e.S. – wäre durch Unterscheidung und Verbindung der göttlichen mit der menschlichen Ebene eine Spezifizierung klassischer Gottesvorstellungen anhand der hier verwendeten Kriterien und der

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empirischen Befunde zu den Entwicklungen von Gottesvorstellungen möglich, etwa des göttlichen Geistes und seiner »Allwissenheit«, seines Handeln inklusive seiner »Güte« und »Allmacht« sowie auf der anderen Seite seines Erlebens resp. seiner Leidensfähigkeit. (3) In der Christologie aber ergibt sich eine höchst interessante »Cross-over«Perspektive. Wie lassen sich Geist, Seele und Körper, wie Handeln und Erleben bei Leben, Tod und Auferstehung Jesus Christi sinnvoll denken bzw. konzeptualisieren? Hier eröffnen sich weite Felder fürs Theologisieren mit Jugendlichen. 56 S. zur Spiritualität den Beitrag von Heinz Streib, zur Freiheitsthematik den Beitrag von Katrin Bederna in diesem Band.

Höger »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen

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Christian Höger »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen – Chancen eines alttestamentlichen Motivs in evangelischen und katholischen Religionsbüchern der Sekundarstufe I und II 1. Einleitung

Die biblischen Figuren Adam und Eva aus Gen 2,4bff gehören zum kulturellen Langzeitgedächtnis nicht nur der jüdisch-christlichen Tradition und finden sich daher auch in etlichen Religionsbüchern der Sekundarstufe I und II. Deren Analyse zeigt, dass dieses alttestamentliche Motiv von Schulbuchautor/innen in vielfältiger Weise verwendet wird. Welche Chancen diese Verwendungen für ein Theologisieren mit Jugendlichen im Religionsunterricht bieten, soll in diesem Beitrag ausgelotet werden. 2. Theologisieren mit Jugendlichen zu »Adam und Eva« als praktisches Ziel

Was meint eigentlich »Theologisieren mit Jugendlichen«?1 Nach Petra Freudenberger-Lötz werden bei dieser Unterrichtsmethode »die theologischen Deutungen der Jugendlichen wahrgenommen, wertgeschätzt, als konstitutiv für das Unterrichtsgeschehen aufgegriffen und für den weiteren Verlauf des Unterrichts fruchtbar gemacht.«2 Somit gilt es, die Jugendlichen als »kompetente Gesprächspartner in theologischen Gesprächen« wahrzunehmen, die auch »eine eigenständige Theologie entwickeln, die im Religionsunterricht zu einem gleichberechtig-

ten Dialog zwischen Schülerinnen und Schülern, Lehrkraft und theologischer Tradition führen kann und soll.«3 Für einen Religionsunterricht, der Adam und Eva zum Thema machen will, heißt dies, dass es für ein solches Theologietreiben noch nicht ausreichen würde, Schüler/innen ein historisch-kritisches Wissen über Gen 2–3 zu vermitteln, z.B. darüber, wann die Paradieserzählung geschrieben wurde, inwiefern sie eine mythische Sprache spricht und worin ihre Aussageabsicht besteht. Bliebe der Religionsunterricht hierbei stehen, würde das Herz der Subjektorientierung noch nicht schlagen: Eine Fülle selbstständig formulierter jugendtheologischer Aussagen zu den Stammeltern fiele unter den Tisch. Erst sie könnten einen interessanten Trialog zwischen Lernenden, Lehrenden und christlicher Lehre vorantreiben. Wie sehen solche Jugendtheologien zu »Adam und Eva« aus? Hier lohnt sich ein Seitenblick auf qualitativ-empirische Befunde.4 Auch der folgende Interviewausschnitt für das Abiturientenalter zeigt beispielhaft auf, wie Schüler/innen der 1 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Jugendlichen, München / Stuttgart 2012, 12ff. 2 Ebd., 12. 3 Ebd., 12. 4 Vgl. Katrin Bederna in diesem Band.

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Religionspädagogische Anregungen

Sekundarstufe II das Adam-Eva-Motiv interpretieren: Laura, die an einem unterfränkischen Gymnasium den katholischen Religionsunterricht besucht hat, weist ein »halbwörtliches Bibelverständnis«5 auf, eine Übergangsform vom wortwörtlichen zum metaphorischen Bibelverständnis. Laura kommt auf den Zusammenhang von Naturwissenschaften und Bibel zu sprechen, wobei sie zugibt, dass sie nicht weiß, wie sie beschreiben soll, »wie der Mensch entstanden ist«: Für den Menschen »als Einzelperson« könne sie sich das mit der Bibel »schon erklären irgendwie. Aber jetzt nicht, dass aus Adam und Eva eben die fünf Milliarden entstanden sein sollen. (…) Das kann ich nicht nachvollziehen.« Laura muss aufgrund ihres Bibelverständnisses das folgende logische Problem lösen: »Also ich weiß, dass Adam und Eva zwei Söhne gehabt haben. Soviel weiß ich. (…) Und wie sollen zwei Söhne Kinder kriegen? (…) Also von daher, irgendwie sträubt sich da was. Und deswegen denke ich einfach: Also entweder hat Gott mehrere Adam und Eva gemacht, dass eben auch dieses mit der Sünde eher raus kommt, dass eben alle Menschen so sind, und nicht jetzt ausgerechnet die zwei. (…) Was weiß ich, jetzt mal eine Zahl gesagt: Zehn Paradiese, zehn Adam und Eva, und dass eben alle zehn so reagiert haben, und dass eben alle zehn das gemacht haben, (…) und dann kann man vielleicht eher sagen, dass die Menschen alle, ja ›sündig‹ in dem Sinne jetzt nicht unbedingt, das klingt immer so hart, sondern einfach nicht perfekt sind.«6 – Durch diese bemerkenswerte Multiplikation der biblischen Stammelternanzahl lässt sich für Laura eine entsprechend hohe Fortpflanzungsrate bis

zur heutigen Menschheit sicherstellen. Zugleich wird die Ursünde auf mehrere Schulternpaare verteilt. Würde es im Religionsunterricht gelingen, dass Schüler/innen, ähnlich wie Laura, solche eigenen Fragen und Problemlösungen ins Spiel bringen, dann käme ein Theologisieren mit Jugendlichen voll in Gang. Die Lehrkraft könnte im Anschluss an eine derartige Schüleräußerung aus der Rolle der »aufmerksamen Beobachterin« zur »stimulierenden Gesprächspartnerin« werden und schließlich mit Hilfe von Unterrichtsmaterialien als »begleitende Expertin« an solchen Denkhorizonten anknüpfen, um theologisches Fachwissen zur Förderung eines metaphorischen Bibelverständnisses anzubieten.7 Das praktische Ziel, mit Jugendlichen im Religionsunterricht über Eva und Adam zu theologisieren, kann besonders fundiert erreicht werden, wenn passendes Unterrichtsmaterial zum Einsatz gebracht wird. Da Religionsbücher die Gestaltung des Religionsunterrichts beeinflussen, was allerdings empirisch noch genauer zu untersuchen wäre,8 soll 5 Vgl. Christian Höger, Abschied vom Schöpfergott? Berlin 2008, 189ff. 6 Christian Höger, Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, in: Institut für Religionspädagogik der Erzdiözese Freiburg (Hg.), Themen im Religionsunterricht, Bd. 2, Tauberbischofsheim 22013, 67f. 7 Die Bezeichnungen und Erklärungen dieser drei Lehrerrollen stammen von Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 1), 15ff. 8 Vgl. zur Rolle von Schulbüchern aus Lehrerperspektive Reinhard Dross, Kriterien für die Analyse von Schulbüchern für den Religionsunterricht im Blick auf das Theorie-PraxisProblem, in: Peter Biehl u.a. (Hg.), Jahrbuch der Religionspädagogik, Neukirchen-Vluyn 1999, 184ff.

Höger »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen

im Folgenden die Aufmerksamkeit auf dieses Medium und seine theologischen Anthropologien für Jugendliche gelenkt werden. 3. Schulbuchanalyse zum Adam-Eva-Motiv 3.1 Zuspitzung der Fragestellung und methodische Skizze

Nicht nur (praktisch-)theologisch wirkt die Frage nach dem Menschen komplex, vielschichtig und facettenreich, auch in Unterrichtsmaterialien durchdringen und überschneiden sich unzählige philosophische, ethische, biblische, systematisch-theologische, historische, psychologische, soziologische, politische, biologische und medizinische Aspekte.9 Da es einer Herkulesaufgabe gleichkäme, sämtliche anthropologische Bereiche der theologischen Frage nach dem Menschen in neueren evangelischen und katholischen Religionsbüchern zu untersuchen, richtet sich der Fokus hier nur auf folgende Frage: Zu welchen Themenfeldern und mit welchen religionsdidaktischen Intentionen werden »Adam und Eva« eingesetzt? Methodisch wird die Schulbuchforschung im Allgemeinen dominiert von der Inhaltsanalyse und der Untersuchung der Verständlichkeit, während eine aufwendige empirische Schulbuchwirkungsforschung oft vernachlässigt wird.10 Bezüglich der Schöpfungsthematik und darin eingeschriebenen anthropologischen Aspekten sind folgende religionspädagogische Schulbuchforschende kurz zu nennen, deren Ergebnisse hier lei-

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der nicht erläutert werden können: Veit-Jakobus Dieterich11, Angela Volkmann12, Guido Hunze13, Rainer Merkel14, Carsten Gennerich15 und Thomas Weiß16. Diese bisherigen Untersuchungen gehen unterschiedliche methodische Wege sowohl was den Umfang des Materials als auch die Analysemethoden angeht. Für diesen Beitrag wurde eine relativ breite Materialbasis herangezogen, zu deren Auswertung eine inhaltsanalytische Vorgehensweise gewählt wurde, mit der sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede systematisch herausarbeiten ließen. Dazu griff der Verfasser auf Schulbücher zu und wählte ihre relevanten Kapitelseiten aus, um sie eingescannt in das Computerprogramm MAXQDA 10 zu importieren. Mit dieser Software ließ sich ein

9 Vgl. Bernhard Grümme, Menschen bilden? Freiburg i.Br. / Basel / Wien 2012, 156–497; vgl. Claudia Leuser, Die Frage nach dem Menschen, Freising 2010. 10 Vgl. Jörg Doll / Anna Rehfinger, Historische Forschungsstränge der Schulbuchforschung und aktuelle Beispiele empirischer Schulbuchwirkungsforschung, in: Franz Billmayer (Hg.), Schulbuchbilder, Flensburg 2012, 20ff. 11 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich, Naturwissenschaftlich-technische Welt und Natur im Religionsunterricht, Frankfurt a.M. / New York 1990. 12 Vgl. Angela Volkmann, »Eva, wo bist du?« Würzburg 2004, 78–186. 13 Vgl. Guido Hunze, Die Entdeckung der Welt als Schöpfung, Stuttgart 2007, 31–69. 14 Vgl. Rainer Merkel, Besinnung auf das Eigene, in: Loccumer Pelikan 1/2009, 15f. 15 Vgl. Carsten Gennerich, Empirische Dogmatik des Jugendalters, Stuttgart 2010, 342–348. 16 Vgl. Thomas Weiß, Zur Verwendung von Argumentationsmustern in Schulbüchern für die gymnasiale Oberstufe, in: Jörg Doll u.a. (Hg.), Schulbücher im Fokus, Münster u.a. 2012, 141–162.

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Religionspädagogische Anregungen

Codesystem zur gesamten Schöpfungsthematik entwickeln. Hiermit – und durch eine weitere Materialsichtung auch über den Schöpfungsaspekt hinaus – konnten alle gefundenen Stellen zum Adam-Eva-Motiv tabellarisch aufgelistet werden. Vom Autor wurden dann anhand der Schülerbücher und ggf. der Lehrerkommentare die religionsdidaktischen Intentionen rekonstruiert und zur besseren Verständlichkeit als Kompetenzen formuliert. Auf eine parallele Lehrplananalyse wurde aus arbeitsökonomischen Gründen verzichtet. Für das folgende Kernergebnis ist zu beachten, dass nicht differenziert wurde, ob das Adam-Eva-Motiv als Bibelzitat, Sachtext oder Kunstbild auftaucht. Wichtig war vielmehr die Frage, in welche inhaltliche Kontexte das Motiv eingespielt wird.

Stufe / Konfession

3.2 Auswahl des zu analysierenden Unterrichtsmaterials

Für diesen Beitrag wurden folgende Auswahlkriterien angelegt: Passend zur Jugendtheologie lag der Fokus auf Unterrichtswerken der Sekundarstufe I und II, die Grundschule wurde ausgeblendet. Verschiedene Schularten (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Berufsschule) und beide Konfessionen wurden berücksichtigt. Die Auswahl der Unterrichtsmaterialien wurde auf zugelassene Schulbücher zugespitzt, die aufgrund ihrer Neuheit in verschiedenen Bundesländern in Gebrauch sind. Das arbeitsökonomische Kriterium führte dazu, dass zwar nicht alle aktuellen, aber immerhin folgende 54 Schulbücher in die Betrachtung eingehen konnten (siehe Tabelle).

evangelisch (15)

katholisch (39)

Sekundarstufe I (44) Religionsbuch 5/6, 7/8, 9/10, SpurenLesen 1–3 (Neuausgabe),18 Das Kursbuch Religion 1–3,19 Religion entdecken – verstehen – gestalten 5/6, 7/8, 9/1020

17

Religionsbuch für das 5./6., 7./8., 9./10. Schuljahr,21 Religion Sekundarstufe I 5/6, 7/8, 9/10,22 Reli konkret BW 5/6, 7/8, 9/10,23 Leben gestalten BY 5–10,24 Reli 5–9,25 Religion vernetzt 5–10,26 Mittendrin BW 1–3,27 Einfach leben BW 1–328

Sekundarstufe II (10) Kursbuch Religion Oberstufe,29 Religion vernetzt 11–12,32 Religionsbuch Oberstufe30 Leben gestalten BY 11–12,33 31 ElfZwölf SinnVollSinn,34 Vernünftig glauben,35 Neues Forum Religion: Mensch,36 sensus Religion37

Höger »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen

17 Vgl. Ulrike Baumann / Michael Wermke, Religionsbuch 5/6, Berlin 2001; Dies., Religionsbuch 7/8, Berlin 2001; Dies., Religionsbuch 9/10, Berlin 2002 [RB 5/6; 7/8; 9/10]. 18 Vgl. Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich u.a., SpurenLesen 1. Religionsbuch für die 5./6. Klasse, Braunschweig, Stuttgart 2007; Dies., SpurenLesen 2, Braunschweig, Stuttgart 2 2010; Dies., SpurenLesen 3, Braunschweig, Stuttgart 2010 [SL 1–3]. 19 Vgl. Gerhard Kraft / Dieter Petri u.a., Das Kursbuch Religion 1. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht im 5./6. Schuljahr, Stuttgart, Braunschweig 2005; Dies., Das Kursbuch Religion 2, Stuttgart, Braunschweig 2005; Dies., Das Kursbuch Religion 3, Stuttgart, Braunschweig 2007 [KBR 1–3]. 20 Vgl. Gerd-Rüdiger Koretzki / Rudolf Tammeus, Religion entdecken – verstehen – gestalten. 5./6. Schuljahr, Göttingen 2000; Dies., Religion entdecken – verstehen – gestalten. 7./8. Schuljahr, Göttingen 2001; Dies., Religion entdecken – verstehen – gestalten. 9./10. Schuljahr, Göttingen 2002 [Revg 5/6, 7/8, 9/10]. 21 Vgl. Hubertus Halbfas, Religionsbuch für das 5./6. Schuljahr, Düsseldorf 2009; Ders., Religionsbuch für das 7./8. Schuljahr, Düsseldorf 2007; Ders., Religionsbuch für das 9./10. Schuljahr, Düsseldorf 2008 [RB 5./6., 7./8., 9./10. SJ]. 22 Vgl. Werner Trutwin, Zeit der Freude. Grundfassung. Jahrgangsstufen 5/6, München 2010 [ZdF]; Ders., Wege des Glaubens. Grundfassung. Jahrgangsstufen 7/8, München 2010 [WdG]; Ders., Zeichen der Hoffnung. Grundfassung. Jahrgangsstufen 9/10, München 2010 [ZdH]. 23 Vgl. Georg Hilger / Elisabeth Reil, Reli konkret 1. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5/6 an Hauptschulen und an Realschulen in Baden-Württemberg, München 22008; Dies., Reli konkret 2, München 32010; Dies., Reli konkret 3. Unterrichtswerk für den katholischen Religionsunterricht an Realschulen und Werkrealschulen in den Jahrgangsstufen 9/10 in Baden-Württemberg, München 2009 [RK 1–3].

111

24 Vgl. Bernhard Gruber, Leben gestalten 5, Donauwörth 2005; Ders., Leben gestalten 6, Donauwörth 2004; Ders., Leben gestalten 7, Donauwörth 2010; Ders., Leben gestalten 7, Donauwörth 2005; Ders., Leben gestalten 8, Donauwörth 2007; Ders., Leben gestalten 9, Donauwörth 2007; Ders., Leben gestalten 10, Donauwörth 2009 [LG 5–10]. 25 Vgl. Georg Hilger / Elisabeth Reil u.a., Reli. Unterrichtswerk für katholische Religionslehre an Hauptschulen in den Klassen 5–9, München 1998–2000. 26 Vgl. Hans Mendl / Markus Schiefer Ferrari, Religion vernetzt 5–10, München 2004–2008 [RV 5–10]. 27 Vgl. Iris Bosold / Wolfgang Michalke-Leicht, Mittendrin 1–3, München 2007–2010 [MI 1–3]. 28 Vgl. Wolfgang Rieß / Reinhard Schlereth, Einfach leben 1–3. Katholische Religionslehre, Stuttgart, Leipzig 2011–2013 [EL 1–3]. 29 Vgl. Hartmut Rupp / Andreas Reinert, Kursbuch Religion Oberstufe, Stuttgart, Braunschweig 2009 [KBR OS]. 30 Vgl. Ulrike Baumann / Friedrich Schweitzer, Religionsbuch Oberstufe, Berlin 2007 [RB OS]. 31 Vgl. Rudolf Tammeus / Gerd-Rüdiger Koretzki, ElfZwölf Religion, Göttingen 2008 [ElfZwölf]. 32 Vgl. Hans Mendl / Markus Schiefer Ferrari, Religion vernetzt 11–12, München 2009–2010 [RV 11–12]. 33 Vgl. Bernhard Gruber, Leben gestalten 11–12, Stuttgart, Leipzig 2010–2012 [LG 11–12]. 34 Vgl. Albert Biesinger / Joachim Schmidt, Mensch und Welt als Gottes Schöpfung, in: SinnVollSinn. Religion an Berufsschulen, München 2006 [SVS]. 35 Vgl. Wolfgang Michalke-Leicht / Clauß Peter Sajak, Vernünftig glauben, Braunschweig, Paderborn, Darmstadt 2011, 44ff [VG]. 36 Vgl. Werner Trutwin, Neues Forum Religion. Mensch. Arbeitsbuch Anthropologie, Düsseldorf 2010 [NFR]. 37 Vgl. Rita Burrichter / Josef Epping, sensus Religion. Vom Glaubenssinn und Sinn des Glaubens, München 2013 [SR].

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Religionspädagogische Anregungen

3.3 Kernergebnis: Acht Verwendungsweisen des Adam-Eva-Motivs

»Adam und Eva« kommen bei den untersuchten Schulbüchern an folgenden acht Themenfeldern mit entsprechenden religionsdidaktischen Intentionen zum Einsatz: 1. Exegese von Schöpfung und Sündenfall in Gen 2,4bff: Die Schüler/innen gewinnen einen Überblick über den Inhalt und die historischen Hintergründe der Paradieserzählung (Genesis 2,4b– 25)38 sowie der Sündenfallgeschichte (Genesis 3)39. 2. Förderung des Symbolverständnisses und metaphorischen Bibelverständnisses: Die Lernenden verstehen den symbolischen Gehalt vom Baum der Erkenntnis40, des Paradiesgartens41, der vier Paradiesflüsse42 sowie vom Verlust des Paradieses43. Sie sehen das Paradies als z.T. utopisches Hoffnungsbild für Frieden unter den Menschen.44 An der Sündenfallerzählung können die Schüler/innen die Entscheidung des Menschen zur Freiheit45 und den Sündenfall als Antwortversuch auf die Frage nach dem Ursprung von Leid und Tod in der Schöpfung erkennen.46 Sie begreifen, dass die Bibel wörtlich missverstanden würde, wenn man die Menschenschöpfung als datierbares göttliches Töpfern des Adam47 sowie als chirurgischen Eingriff zur Erschaffung der Frau aus der Rippe des schlafenden Mannes betrachtet.48 Die Schüler/innen können Elemente der Adam-Eva-Symbolik in Werbeanzeigen erkennen.49 3. Der Mensch als »Abbild Gottes« (Gen 1,26f) bzw. »beseelte Erde« (Gen 2,7): Die Schüler/innen kennen diese zentralen Aussage der jüdisch-christlichen An-

thropologie und können sie inhaltlich konkretisieren.50 Die Schüler/innen verstehen das Leib-Seele-Verhältnis der griechischen Philosophie im Unterschied zum Menschenbild in Gen 38 Vgl. KBR 1 (wie Anm. 19), 41; KBR 3 (wie Anm. 19), 45; RK 2 (wie Anm. 23), 95, 102; Revg 5/6 (wie Anm. 20), 25; Revg 9/10 (wie Anm. 20), 71; RB 7./8. SJ (wie Anm. 21), 164ff; RB 9./10. SJ (wie Anm. 21), 151f; EL 1 (wie Anm. 28), 38; EL 3 (wie Anm. 28), 80f; SVS (wie Anm. 34), 22; LG 12 (wie Anm. 33), 102ff; RV 8 (wie Anm. 26), 21; VG (wie Anm. 35), 62–65; ZdH (wie Anm. 22), 38ff, 110f; SL 3 (wie Anm. 18), 52, 182; MI 1 (wie Anm. 27), 182f; NFR (wie Anm. 36), 10f, 76f, 94f, 100f. 39 Vgl. Revg 9/10 (wie Anm. 20), 74, 84; RB 7./8. SJ (wie Anm. 21), 166f; RB 9./10. SJ (wie Anm. 21), 150ff; RV 9 (wie Anm. 26), 83; LG 11 (wie Anm. 33), 134f; VG (wie Anm. 35), 66f; RB OS (wie Anm. 30), 238ff; ZdH (wie Anm. 22), 38ff; SL 3 (wie Anm. 18), 54, 183; NFR (wie Anm. 36), 74, 78f, 102ff. 40 Vgl. RB 5./6. SJ (wie Anm. 21), 119; ZdH (wie Anm. 22), 40. 41 Vgl. RB 7./8. SJ (wie Anm. 21), 166ff; ZdH (wie Anm. 22), 40. 42 Vgl. RV 7 (wie Anm. 26), 50f. 43 Vgl. RB 7./8. SJ (wie Anm. 21), 172ff; ElfZwölf (wie Anm. 31), 206, 208, 213; KBR 3 (wie Anm. 19), 45; ElfZwölf (wie Anm. 31), 211. 44 Vgl. RB 5/6 (wie Anm. 17), 106f; ZdH (wie Anm. 22), 11, NFR (wie Anm. 36), 108f. 45 Vgl. Revg 9/10 (wie Anm. 20), 74; ElfZwölf (wie Anm. 31), 204f, 213. 46 Vgl. ZdH (wie Anm. 22), 40f; NFR (wie Anm. 36), 56. 47 Vgl. ZdH (wie Anm. 22), 40; RB 9./10. SJ (wie Anm. 21), 151f. 48 Vgl. RB 5/6 (wie Anm. 17), 52f; RB 9/10 (wie Anm. 17), 74f; RK 2 (wie Anm. 23), 99; KBR 3 (wie Anm. 19), 75; RB 9./10. SJ (wie Anm. 21), 151f; SVS (wie Anm. 34), 37; RV 8 (wie Anm. 26), 22f; ZdH (wie Anm. 22), 40f. 49 Vgl. RB OS (wie Anm. 30), 94f. 50 Vgl. RB 5/6 (wie Anm. 17), 67; EL 1 (wie Anm. 28), 40; WdG (wie Anm. 22), 84f; RV 7 (wie Anm. 26), 28; LG 10 (wie Anm. 24), 12f; LG 11 (wie Anm. 33), 126f; VG (wie Anm. 35), 62ff; SR (wie Anm. 37), 102f; RB OS (wie Anm. 30), 218f, 226f, 237; SL 3 (wie Anm. 18), 54, 183

Höger »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen

2,4bff.51 Sie erörtern, inwiefern der Glaube, dass der Mensch Geschöpf Gottes ist, Freiheit oder Abhängigkeit des Menschen definiert.52 4. Freundschaft, Partnerschaft, Liebe und Sexualität: Die Schüler/innen nehmen am Beispiel von Adam und Eva das Zueinander der Geschlechter sowie verschiedene Geschlechterrollen wahr, die sie kritisch auf Gleichwertigkeit hin reflektieren.53 Sie sehen anhand von Gen 2,18ff, dass der Mensch nicht allein sein soll, sondern Mitmenschen braucht.54 5. Ethische Impulse der Rede von Paradies, Sündenfall und Menschenschöpfung: Die Schüler/innen lassen sich zu Dank und Verantwortung für die Schöpfung anregen, insbesondere für die Tiere und die Natur im ökologischen Kontext.55 Sie sehen die ethischen Probleme der Humangenetik und des Klonens von Menschen,56 der PID als »Sündenfall«57 bzw. als Anfrage an die Gottebenbildlichkeit.58 Sie reflektieren – auch auf Basis von Gen 1,26f – die These einer göttlichen Urheberschaft der Menschenrechte bzw. der Menschenwürde.59 Sie können den Sündenbegriff60 sowie christliche Sozialprinzipien biblisch begründen.61 6. Schöpfungstheologie und Evolutionstheorie zum Ursprung des Menschen: Die Schüler/innen erlernen komplementäres Denken am Beispiel der Herkunft des Menschen aus evolutionsbiologischer und schöpfungstheologischer Perspektive62 und können Kritik am Kreationismus üben.63 Die Schüler/innen kennen auch auf Basis von Gen 2,19f Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mensch und Tier.64

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7. Interreligiöses Lernen zum Menschen: Die Schüler/innen kennen Koransuren und deren islamische Auslegung zu Menschenschöpfung, Sündenfall und Paradies.65 Sie verstehen die jü51 Vgl. KBR OS (wie Anm. 29), 167. 52 Vgl. ElfZwölf (wie Anm. 31), 106, 115; SR (wie Anm. 37), 81. 53 Vgl. KBR 1 (wie Anm. 19), 67; KBR 2 (wie Anm. 19), 157ff; KBR 3 (wie Anm. 19), 45, 50, 52; RK 2 (wie Anm. 23), 99; RK 3 (wie Anm. 23), 102; RB 9/10 (wie Anm. 17), 74f; EL 1 (wie Anm. 28), 42; RV 9 (wie Anm. 26), 86f; LG 11 (wie Anm. 33), 131; RV 8 (wie Anm. 26), 22f; VG (wie Anm. 35), 63; SR (wie Anm. 37), 60f; RB OS (wie Anm. 30), 247ff; WdG (wie Anm. 22), 111; ZdH (wie Anm. 22), 110f; SL 1 (wie Anm. 18), 90f; MI 1 (wie Anm. 27), 182f; NFR (wie Anm. 36), 96f. 54 Vgl. MI 1 (wie Anm. 27), 53, 182. 55 Vgl. SL 1 (wie Anm. 18), 82ff, 92f, 95f, 210f; Revg 9/10 (wie Anm. 20), 76f; SVS (wie Anm. 34), 40f; RV 8 (wie Anm. 26), 26f; RV 12 (wie Anm. 32), 43; RB 5./6. SJ (wie Anm. 21), 140; WdG (wie Anm. 22), 80f; RK 8 (wie Anm. 23), 74ff. 56 Vgl. Revg 9/10 (wie Anm. 20), 80f; ZdH (wie Anm. 22), 158f; RV 10 (wie Anm. 26), 24. 57 Vgl. RV 10 (wie Anm. 26), 23. 58 Vgl. LG 10 (wie Anm. 24), 12f, 16. 59 Vgl. LG 12 (wie Anm. 33), 50f; ElfZwölf (wie Anm. 31), 188f; SR (wie Anm. 37), 64f; NFR (wie Anm. 36), 68ff. 60 Vgl. ElfZwölf (wie Anm. 31), 207; SR (wie Anm. 37), 85. 61 Vgl. RV 12 (wie Anm. 32), 44f. 62 Vgl. KBR 1 (wie Anm. 19), 44f; RB 7/8 (wie Anm. 17), 52f; RK 2 (wie Anm. 23), 102f; RV 8 (wie Anm. 26), 30; RV 11 (wie Anm. 32), 82; RB 7./8. SJ (wie Anm. 21), 164ff; RB OS (wie Anm. 30), 81ff, 132f, 224ff; WdG (wie Anm. 22), 106, 111; ZdH (wie Anm. 22), 40f; RK 8 (wie Anm. 23), 73, 81. 63 Vgl. Revg 9/10 (wie Anm. 20), 89; RV 11 (wie Anm. 32), 83; VG (wie Anm. 35), 165ff; ElfZwölf (wie Anm. 31), 43; RB OS (wie Anm. 30), 83ff. 64 Vgl. NFR (wie Anm. 36), 40, 77. 65 Vgl. KBR 1 (wie Anm. 19), 50; Revg 5/6 (wie Anm. 20), 26; Revg 9/10 (wie Anm. 20), 71; SVS (wie Anm. 34), 19; LG 11 (wie Anm. 33),

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Religionspädagogische Anregungen

dische Sicht vom Menschen als Geschöpf.66 8. Christologie: Die Schüler/innen verstehen, dass sich in Jesus Christus das Bild des unsichtbaren Gottes, des Erstgeborenen aller Schöpfung67 sowie des neuen Adam68 zeigt. 4. Folgerungen und Impulse für ein Theologisieren mit Jugendlichen

Worin liegt der Ertrag der Analyse in Bezug auf ein Theologisieren mit Jugendlichen? Prinzipiell lässt sich erkennen, wie inhaltlich vielfältig die Stammeltern in Schulbücher eingebettet werden, was auch die bleibende Aktualität dieses klassischen Motivs zeigt. Zwar ließe sich im Religionsunterricht zu allen acht entdeckten Verwendungsweisen des Adam-Eva-Motivs ein Theologisieren mit Jugendlichen anbahnen, dennoch kann man empirisch begründete Vermutungen darüber anstellen, welche Aspekte der Religionsbücher sich besonders als Gesprächsimpulse eignen. Vor allem wenn persönliche Glaubens- und Lebensfragen der Jugendlichen tangiert werden, ist eine Behandlung im Unterricht vielversprechend, z.B. zur Frage, die sich auch für Laura gestellt hat und die die Themenfelder 2 und 6 betrifft: »Woher kommt der Mensch?« Dass diese Frage Jugendliche aller Jahrgangsstufen beschäftigt, erschließt sich bereits am Forschungsstand zu den Schöpfungstheologien Jugendlicher.69 Eine weitere Kernfrage im Jugendalter, die Themenfeld 3 innewohnt, lautet: »Wie stehen Gott und die menschliche Freiheit zueinander?« Zumindest legen Fritz Osers Arbeiten zum

religiösen Urteil nahe, dass Heranwachsende sich einen Zuwachs an Autonomie in Bezug auf das von ihnen konstruierte Verhältnis des Menschen zum Transzendenten wünschen.70 Die Frage »Wie sollen Frauen und Männer zusammen leben?« aus Themenfeld 4 ist, wie die Erfahrung im Religionsunterricht zeigt, in der Mittel- und Oberstufe für Schüler/innen überaus spannend. Dies gilt speziell in der Oberstufe auch für die ethische Fragestellung (Thema 5): »Was darf der Mensch tun?«71 Über diese Thesen hinaus wären quasi-experimentelle Forschungen zur Wirkung von Schulbüchern lohnend, um herauszufinden, an welchen Facetten des Adam-Eva-Motivs sich tatsächlich ertragreiche theologische Gespräche mit Jugendlichen bestimmter Schulstufen entzünden. Auch müssten weitere Inhaltsanalysen die einzelnen Unterrichtswerke hinsichtlich ihrer Bilder, Texte und Arbeitsaufträge vergleichen.



71; ElfZwölf (wie Anm. 31), 212, 214; SL 3 (wie Anm. 18), 134f, 200f; NFR (wie Anm. 36), 120f. 66 Vgl. NFR (wie Anm. 36), 118f. 67 Vgl. SR (wie Anm. 37), 112f. 68 Vgl. NFR (wie Anm. 36), 86f, 98f. 69 Vgl. Christian Höger, Schöpfungstheologie der Jugendlichen und deren Konsequenzen für den Religionsunterricht, in: Veit-Jakobus Dieterich / Bert Roebben / Martin Rothgangel (Hg.), »Der Urknall ist immerhin, würde ich sagen, auch nur eine Theorie« – Schöpfung und Jugendtheologie, Stuttgart 2013, 91ff. 70 Vgl. Fritz Oser / Paul Gmünder, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung, Gütersloh 21988, 81ff. 71 Vgl. Heike Regine Bausch, … wenn das Herz beim Anblick eines Neugeborenen zu glänzen beginnt …, in: Veit-Jakobus Dieterich / Bert Roebben / Martin Rothgangel (wie Anm. 69), 116f.

Höger »Adam und Eva« als Impuls zum Theologisieren mit Jugendlichen

Allerdings fehlen hierzu noch ausgefeilte Kriterien,72 die für die Bestimmung der religionsdidaktischen Qualität in Bezug auf ein Theologisieren mit Jugendlichen anzulegen wären. Ein erstes Qualitätsmerkmal könnte das Arbeiten mit echten Zitaten73 von Jugendlichen sein, wie dies Veit-Jakobus Dieterich für Unterrichtsmaterialien bereits vorgeschlagen und umgesetzt hat.74 In den hier untersuchten Schulbüchern kommen Schüler/innen in Bezug auf Adam und Eva nur sehr selten zu Wort, so etwa in der »Schulstunde über Adam und Eva«75, allerdings mit fiktiven Schüler-Lehrer-Dialogen und nicht mit echter Jugendtheologie. Es wäre praktisch zu erproben und empirisch zu untersuchen, ob solche Sachtexte in künstlicher FrageAntwort-Form im Religionsunterricht ein reales Theologisieren mit Jugendlichen eher initiieren oder lähmen. Ein zweites Qualitätsmerkmal für Schulbücher könnte darin liegen, wie oft in den abgedruckten Arbeitsaufträgen explizit theologische Fragen gestellt werden, die die Lernenden zu einer aktiven und selbstständigen Reflexion einladen. Ein Schulbuch formuliert z.B. auf einer Doppelseite u.a. »Woher kommt der Mensch?«76 und schlägt vielfältige Methoden vor, um die Klasse in einen gemeinsamen Austausch zu bringen.

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Insgesamt darf nicht vergessen werden, dass die Chancen für ein Theologisieren mit Jugendlichen nicht nur vom Schulbuch abhängen – auch wenn dieses oft als der »heimliche Lehrplan« gilt –, sondern vielmehr gerade von den Lehrkräften und ihren theologischen und didaktischen Fähigkeiten, ihrer Offenheit und Gesprächsbereitschaft sowie von den Schüler/innen mit ihren Erfahrungen, Einstellungen, Interessen und Anfragen. So bleibt mir abschließend zu wünschen, dass sich viele Religionslehrer/in­ nen auch mit Hilfe der obigen Fundstellen dem ersttestamentlichen Motiv von Eva und Adam neu zuwenden, um Jugendliche in ihren kreativen und eigenständigen Denk- und Kommunikationsprozessen zu begleiten und zu bestärken.

72 Vgl. Matthias Hahn, Religionsbücher, in: Harry Noormann u.a. (Hg.), Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik, Stuttgart u.a. 2000, 294f. 73 Vgl. Petra Freudenberger-Lötz (wie Anm. 1), 76ff, 145ff. 74 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich, Glaube und Naturwissenschaft im Religionsbuch, in: Glaube und Lernen 9/1994, 170; vgl. Ders., Wirklichkeit. Oberstufe Religion Heft I, Schülerheft, Stuttgart 2006, 3. 75 Vgl. ZdH (wie Anm. 22), 38f. 76 Vgl. MI 1 (wie Anm. 27), 186f.

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Religionspädagogische Anregungen

Veronika Burggraf / Kathrin Hanneken / Bert Roebben »Ich gehöre wieder dazu« – Praktische Unterrichtsideen zur Anthropologie von Lk 15,11–32

Das Gleichnis vom Vater mit seinen beiden Söhnen ist im Religionsunterricht sehr beliebt – es wird in vielen Lehrplänen zur Thematisierung unterschiedlicher Fragen vorgeschlagen, findet sich in verschiedenen Unterrichtswerken. Es ist in vielerlei Hinsicht eine faszinierende Geschichte, geht es schließlich nicht nur um Gott und das Verhältnis des Menschen zu ihm, sondern auch um einerseits spannungsvolle Beziehungen von Familienmitgliedern untereinander und andererseits um den einzelnen Menschen mit seinen Wünschen und Hoffnungen und seinen Umgang mit den Erfahrungen von persönlichem Scheitern und Neubeginn. Damit kann die Erzählung im Rahmen von Religionsunterricht eine gute Basis für die Auseinandersetzung mit anthropologischen Fragen darstellen. Die verschiedenen Figuren prägen im Erzählkontext den Spannungsbogen maßgeblich1 und fordern die Leserin und den Leser zu einer (emotionalen) Auseinandersetzung auf. Dabei bieten die sehr unterschiedlich handelnden, denkenden und fühlenden Figuren Schülerinnen und Schülern verschiedene Identifikationsmöglichkeiten. Mit diesem breiten Identifikationsangebot wird das Gleichnis besonders heterogenen Lerngruppen, wie sie in jedem Religionsunterricht, in besonderer Weise aber im inklusiven Unterricht, anzutreffen sind, gerecht.

Im Folgenden soll es zunächst darum gehen, anhand eines ausführlicheren Blickes auf die einzelnen Figuren der Erzählung anthropologische Aspekte, die im Kontext des Gleichnisses thematisiert werden können, herauszuarbeiten. Anschließend werden Vorschläge für das Theologisieren anhand Lk 15,11–32 dargestellt und anhand von Beispielen aus diversitätssensiblen Schulkontexten zu ausgewählten anthopologischen Fragestellungen untermauert. 1. Die Menschen und ihre Begegnungen in Lk 15,11–32

In dem Gleichnis vom Vater mit seinen beiden Söhnen begegnen uns drei Hauptcharaktere: Ein jüngerer Sohn, der sich vom Elternhaus entfernt und auf Umwegen wieder zurückkehrt; der Vater, der seinen Söhnen voller Liebe und Güte begegnet; ein älterer Sohn, der während der Abwesenheit des jüngeren Bruders treu dem Vater dient. Dass Jesus in der Gleichniserzählung die Mutter der Familie (zumindest direkt) nicht erwähnt, kann darauf zurückgeführt werden, dass sie für den Erzählgang keine herausragende Bedeutung spielen konnte: Zu Jesu Zeit traf der Vater als Hausherr alle 1 Vgl. Thomas Stühlmeyer, Veränderungen des Textverständnisses durch Bibliodrama: eine empirische Studie zu Mk 4,35–41, Paderborn 2004, 91.

Burggraf / Hanneken / Roebben Praktische Unterrichtsideen zur Anthropologie von Lk 15,11–32

Entscheidungen, ohne die Mutter daran zu beteiligen.2 Dennoch begegnen dem Leser im Gleichnis auch feminine Aspekte, sodass im Folgenden neben den drei männlichen Hauptfiguren der Geschichte auch die in gewisser Form anwesende Mutter betrachtet wird. 1.1 Der jüngere Sohn – Geschichte vom Ausziehen, Scheitern und Umkehren

Die Geschichte, die über den jüngeren Sohn erzählt wird, führt ein Wechselbad von Gefühlen vor Augen, in dem sich dieser junge Mann befunden haben muss: Der Stolz, auf eigenen Beinen zu stehen, die vorübergehende Freude beim Ausgeben des Geldes, die Verzweiflung in der Hungersnot, die Gewissensbisse als Schweinehüter, der seine Verfehlungen erkennt, die Überwindung, nach Hause zurückzukehren, verbunden mit einer Hoffnung, die schließlich nicht nur erfüllt, sondern übertroffen wird, und die damit verbundene Erleichterung. Der jüngere Sohn geht seinen eigenen Weg, trifft eigene Entscheidungen, verfolgt zunächst seine eigenen Vorstellungen und Wünsche, scheitert jedoch daran, ist vollkommen verloren und kommt schließlich mit einem vorbereiteten Plädoyer zurück zum Elternhaus: »Ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.« Er führt uns vor Augen, wozu der Mensch aufgefordert ist: sich selbst weiterzuentwickeln. Dass er dabei auch einmal vom Weg abkommt, ist zwar in dem Moment für ihn tragisch, bietet von außen betrachtet jedoch auch die Möglichkeit, aus dem Scheitern zu lernen und daran zu wachsen. Der jüngere Sohn ist ein Beispiel dafür, dass der Mensch ein »fragmentarisches Ge-

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schöpf«3 ist, unvollkommen, gebrechlich und eingeschränkt. In der Fremde, an seinem Tiefpunkt, zeigt er seine Verletzbarkeit und damit seine Würde als Mensch, der keine Maschine und somit nicht perfekt, sondern vielmehr fehlbar ist.4 Dass er schließlich, seine Schuld bekennend, in den Armen des Vaters liegt und dessen Hilfe annimmt, zeigt seine Ergänzungsbedürftigkeit »im Rahmen einer solidarischen Gemeinschaft«5. Erst in der Gemeinschaft mit dem Vater fühlt er sich komplett. Menschsein ist, wie hier sichtbar wird, nicht nur individuell, sondern vollzieht sich in Beziehungen. 1.2 Der Vater – Geschichte vom Zutrauen, Vertrauen und Verzeihen

Der Vater hat zu seinen beiden Söhnen eine Beziehung, die von Zutrauen und Vertrauen geprägt ist. Er lässt seinen Söhnen Raum für Wachstum und Distanzierung, für ihr je eigenes Streben, jedoch können die Söhne ebenso angstfrei zurückkehren. Hier zeigt sich Gottes 2 Vgl. Wolfgang Fenske, Ein Mensch hatte zwei Söhne. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Schule und Gemeinde, Göttingen 2003, 26. 3 Manfred L. Pirner, Inklusion und Anthropologie – Christlich-pädagogische Perspektiven, in: Theo-Web, 10. Jg. 2011, Heft 2, 160. 4 Vgl. zum Würde-Diskurs: Regina Ammicht Quinn, Menschenwürde – auch für die »Anderen«? Zwischen Normalität, Perfektion und Angewiesensein, in: Agnes Wuckelt / Annebelle Pithan / Christoph Beuers (Hg.), »Und schuf dem Menschen ein Gegenüber …« – Im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesensein, Münster 2011, 26; vgl. zur Verletzlichkeit des Menschen auch ein Plädoyer für entsprechend gestaltete Bildungsprozesse: Bert Roebben, Abenteuer »Mensch werden«, in: Katechetische Blätter 4/2012, 243. 5 Manfred L. Pirner (wie Anm. 3), 162.

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Religionspädagogische Anregungen

Gnade dem Menschen gegenüber: Durch Gottes Gnade erhält der Mensch sein Personsein, seine unantastbare Menschenwürde, unabhängig von Fähigkeiten oder Einstellungen, jedoch verbunden mit der Verantwortung, Subjekt zu werden. Als solches befindet sich der Mensch in einem beständigen, lebenslangen Prozess des Werdens.6 Gott gibt dem Menschen die Freiheit, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, fängt ihn aber im Falle von Versagen und Schuld danach wieder auf. Unterdessen ist er selber der tragende Grund der Existenz: Gottes liebevolle Lebensbegleitung, seine Vorsehung, das Vertrauen darauf, in seine Hand geschrieben zu stehen. Dies ist die Grundbotschaft des Christentums: Niemand ist unwiederbringlich verloren. Es gibt jemanden, der einen trägt, versorgt und von Schuld freispricht, der einen bedingungslos annimmt, mit allen Schwächen und Fehlern. Die Vermittlung dessen müsste auch Aufgabe des Religionsunterrichts sein: Kein Mensch ist abgeschrieben oder wird aufgegeben. Schülerinnen und Schüler müssen lernen, dass sie sich, in jeglicher Hinsicht, auf die Suche begeben dürfen, dass sie nicht von vornherein »fertig« sein müssen, dass sie aber immer wieder auch einen Schritt zurückmachen und wiederkehren können. Die Erzählung vom Vater und seinen Söhnen kann Schülerinnen und Schülern das Selbstvertrauen für ihre Subjektwerdung mit auf den Weg geben7; sie kann erwachsene Bezugspersonen dazu inspirieren, sich Kindern und Jugendlichen gegenüber entsprechend zu verhalten: Der Vater hält nach dem Sohn Ausschau, er hat keine Ressentiments ihm gegenüber, macht ihm keine Vorwürfe, sondern zeigt seine volle Güte und Gnade.

1.3 Der ältere Sohn – Geschichte von Neid und individuellen Normen

Der ältere Sohn ist, während sich sein Bruder in der Fremde mit dem Erbe vermeintlich vergnügt hat, die ganze Zeit beim Vater gewesen und hat ihm treu gedient. Auf den ersten Blick erscheint seine Kritik am jüngeren Bruder und an der väterlichen Reaktion auf dessen Rückkehr nachvollziehbar; indirekt stellt er viele Fragen, in denen wir uns womöglich wiedererkennen können: »Wie kann das sein? Ich bin mein ganzes Leben lang treu gewesen und nun steht dieser junge Kerl vor der Tür, der doch gefordert hatte, ausziehen zu können, und wird einfach wieder aufgenommen? Wie soll ich damit umgehen? Ich fühle mich bedroht, bin aufgebracht und aufgewühlt. Meine Energie ist aufgebraucht, mein guter Wille ist erloschen durch diese schweren Enttäuschungen, mein Idealismus, mein Durchhaltevermögen ist gebrochen, ich sehe keine Perspektive mehr.« In der Geschichte bezeichnet sich der älteste Sohn als doulos (das griechische Wort für Sklave): »Ich bin immer dein Diener gewesen, Vater.« Das Wort Sklave ist auch genau der Begriff, den der 6 Vgl. Peter Biehl, Mensch, Menschenbild. 1. Theologisch, in: Norbert Mette / Folkert Rickers (Hg.), Lexikon der Religionspädagogik, Bd. 2. 2 Bände, Neukirchen-Vluyn 2001, 1315f. 7 Martina Muno-Steiner schlägt beispielsweise vor, dieses Gleichnis für Jugendliche mit geistiger Behinderung einzusetzen, um sie in ihrer Loslösung vom Elternhaus zu bestärken; vgl. Martina Muno-Steiner, Biblische Geschichten als Stärkungsgeschichten im RU, in: Agnes Wuckelt / Annebelle Pithan / Christoph Beuers (Hg.), »Und schuf dem Menschen ein Gegenüber …« – Im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesensein, Münster 2011, 127–138.

Burggraf / Hanneken / Roebben Praktische Unterrichtsideen zur Anthropologie von Lk 15,11–32

jüngste Sohn sich selber auf dem Heimweg gab: »Ich bin nicht mehr wert euer Sohn zu heißen, akzeptiert mich als einer von euren Sklaven«, doch der Vater will weder seinen jüngsten noch seinen ältesten Sohn als Sklaven sehen. Er will nicht, dass Menschen Sklaven werden, weder durch Institutionen noch durch das System selbst noch durch den eigenen guten Willen, wie ihn sich der ältere Sohn selber aufgebürdet hat. Er will freie Menschen, die einander Freiraum gönnen, die sich auch trauen, den Vater etwas zu fragen und um etwas zu bitten, die sich mit anderen Worten trauen, sich verletzlich zu zeigen. Vielleicht war der älteste Sohn mit seinem Pflichtbewusstsein und seinem Gehorsam als Sohn perfekt. Jedoch ist er so eher eine »Menschmaschine«8, was heute übrigens angesichts der Anforderungen an Perfektion gefordert wird, um als Mensch zu gelten9, und verpasst somit lange die Chance, seine Angewiesenheit auf den Vater zu zeigen und sich selber mit dieser Verletzlichkeit zu akzeptieren. Und deshalb bleibt er für sich selbst: Es fehlt ihm der Mut, seinen Vater anzusprechen und um Hilfe zu fragen. Das Gleichnis wird damit auch zu einer Geschichte über verfehlte Kommunikation – unter Menschen und, in der Deutung des Gleichnisses, vom Menschen zu Gott.10 Hier klingt eine zweite Aufgabe für die heutige Erziehung durch: Sie kann Menschen unterstützen, sich ihrer Verletzlichkeit zu stellen und sich mit den Schattenseiten des eigenen Lebens anderen anzuvertrauen. Menschen können lernen zu erkennen, dass sie in ihrer Angewiesenheit auf andere nicht alleine sind, dass dies vielmehr zum menschlichen Dasein dazugehört.11

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Auch der ältere Sohn ist, wie sein jüngerer Bruder, frei in seinen Entscheidungen. Das Gleichnis hat jedoch ein offenes Ende: Der Hörer erfährt nicht, ob der Daheimgebliebene sich für die Gemeinschaft mit Vater und Bruder entscheidet oder ob er sich abkehrt. 1.4 Die Mutter – abwesend und doch anwesend

In dem Gleichnis ist die Mutter der Familie abwesend. Wie bereits oben beschrieben, kann dies auf der Erzählebene darauf zurückgeführt werden, dass sie angesichts der Rolle der Frau in der damaligen Zeit keine herausragende Bedeutung hinsichtlich der zu treffenden Entscheidungen hätte spielen können. Bezugnehmend auf die jüdische Form der Auslegung, den Midrasch, ist es jedoch legitim, die »Zwischenräume, also genau das, was nicht explizit [im biblischen Text, dem schwarzen Feuer,] gesagt wird«12, das sogenannte weiße Feuer mit Leben zu füllen. Auf der Deutungsebene des Gleichnisses, auf der der Vater als ein Bild für Gott erscheint, kann die Mutter somit sehr wohl anwesend sein. Das Bild, das Jesus hier von Gott transportiert, ist das des Vaters, nicht der

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Regina Ammicht Quinn (wie Anm. 4), 26. Vgl. ebd., 22–25. Vgl. Wolfgang Fenske (wie Anm. 2), 88f. Vgl. dazu auch Peter Radtke, Dialog in asymmetrischen Beziehungen. in: Agnes Wuckelt / Annebelle Pithan / Christoph Beuers (Hg.), »Und schuf dem Menschen ein Gegenüber …« – Im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Angewiesensein, Münster 2011, 16–18. 12 Uta Pohl-Patalong, Bibliolog. Gemeinsam die Bibel entdecken, Stuttgart 2007, 25.

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Religionspädagogische Anregungen

Mutter. Dies kann damit zusammenhängen, dass »Muttergottheiten […] zu seiner Zeit in jüdischen Ohren keinen guten Klang«13 hatten. Jedoch muss ein Blick darauf geworfen werden, wie Jesus diesen Vater zeichnet – und hier werden durchaus feminine Züge deutlich. In der Wirkungsgeschichte des Gleichnisses kann dieser Aspekt besonders gut an Rembrandts Ölgemälde »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes« abgelesen werden. Man erkennt auf diesem Bild einen Vater, der seinen gerade zurückgekehrten, auf dem Boden vor ihm knienden Sohn liebevoll umarmt. Interessant ist dabei ein Blick auf seine Hände, die auf den Schulterblättern des Sohnes ruhen: Während die vom Betrachter ausgesehene rechte Hand muskulös und dadurch männlich wirkt und den Sohn zu bekräftigen scheint, trägt die linke Hand deutlich sanftere, tröstende feminine Züge. So ist es möglich, auf dem Bild »nicht nur einen Vater zu sehen, der ›seinem Sohn um den Hals fällt‹, sondern auch eine Mutter, die ihr Kind küßt [sic], es mit der Wärme ihres Leibes umgibt und an den Schoß drückt, aus dem es hervorging.«14 Sprechen wir von Gott als Vater, können wir es auch wagen, von Gott als Mutter zu sprechen. Gottes Kind genannt zu werden impliziert, Sohn und Tochter in Jesu Nachfolge zu sein. Wenn wir dies vernachlässigen, löschen wir einfach die Hälfte unseres Menschseins und unseres Christseins aus. Glücklicherweise bietet der ursprüngliche griechische Text des Gleichnisses genügend Offenheit für eine nicht nur maskuline Sichtweise. Der barmherzige Vater stellt sich nämlich als jemand mit ziemlich femininen Verhaltensweisen dar. Er ist nicht nur ein rein rational ein-

gestellter und stolzer Mann, sondern es steckt mehr in ihm. Als der jüngste Sohn zögerlich nach Hause zurückkehrt, wartet der Vater bereits auf ihn. Und dann heißt es: Er ist von Anteilnahme erfüllt. Wörtlich steht dort: Seine Eingeweide kehrten sich um, sein Magen wandte sich, sein Bauch schmerzte. Frauen wissen, worum es dabei geht. Diese plastische Vorstellung wird benutzt, um zu zeigen, dass der Vater wortwörtlich von seinen Gefühlen und Mitgefühl übermannt – man könnte sagen »über-fraut« – wurde. Diametral unterschiedlich zu der nüchternen Berechnung des ältesten Sohnes steht diese Leidenschaft und emotional-körperliche Reaktion des »femininen« Vaters. 2. Anthropologische Anknüpfungspunkte und methodische Realisierungsmöglichkeiten

Die Beschreibung der Figuren, ihres Handelns, Denkens und Fühlens dürfte verdeutlicht haben, dass das Gleichnis unterschiedliche anthropologische Dimensionen anspricht. Es geht um den Menschen, der frei seine eigenen Entscheidungen treffen kann und damit auch der Möglichkeit des Scheiterns ausgesetzt ist, wodurch seine Verletzlichkeit aufscheint; es geht um den Menschen als Gemeinschaftswesen und als Mann und Frau; es geht um Emotionen und den individuellen Umgang damit. Anhand folgender Übersicht werden diese 13 Wolfgang Fenske (wie Anm. 2), 83. 14 Henri J. M. Nouwen, Nimm sein Bild in dein Herz. Geistliche Deutung eines Gemäldes von Rembrandt, Freiburg i.Br. 1991, 121.

Burggraf / Hanneken / Roebben Praktische Unterrichtsideen zur Anthropologie von Lk 15,11–32

Aspekte den entsprechenden Elementen des Gleichnisses zugeordnet; Vorschläge für beispielhafte Methoden bibliodramatischen Arbeitens und Kreativen Schreibens, diese anthropologischen Fragen zur Sprache zu bringen, werden angefügt. Der Mensch als emotionales Wesen: Der jüngere Sohn durchlebt ein Wechselbad der Gefühle zwischen Selbstzufriedenheit, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Scham und Erleichterung; der Vater freut sich maßlos über die Rückkehr seines Sohnes und zeigt innige Liebe; der ältere Sohn lässt den Hörer Wut, Zorn, Fassungslosigkeit und Enttäuschung mitempfinden. Mögliche Methoden: Körperarbeit; die leeren Gesichtsumrisse der verschiedenen Figuren durch entsprechende emotionale Ausdrücke gestalten

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gibt sich pflichtbewusst und gehorsam – seine Verletzlichkeit wird erst in seiner wütenden Rede dem Vater gegenüber deutlich. Mögliche Methoden: Schreiben eines inneren Monologes aus der Perspektive des jüngeren Sohnes in der Fremde; Schreiben eines Tagebucheintrages aus der Perspektive des jüngeren oder des älteren Sohnes Der Mensch als ergänzungsbedürftiges Gemeinschaftswesen: Der Vater und seine beiden Söhne bilden eine zwei Generationen umspannende Gemeinschaft; der jüngere Sohn erkennt in der Fremde, dass in dieser Gemeinschaft das Leben lebenswerter ist. Mögliche Methoden: Gegensatzpyramide schreiben zu dem Wortpaar »einsam – gemeinsam«

Der Mensch als freies Wesen: Der jüngere Sohn darf (und muss) selber Entscheidungen treffen – zu Hause bleiben oder fortgehen, in der Fremde hungern oder zurückkehren; auch der ältere Sohn kann frei entscheiden, ob er sich der Gemeinschaft mit dem Vater wieder anschließt. Mögliche Methoden: Schreiben eines inneren Monologes aus der Perspektive des jüngeren Sohnes in der Fremde; die Geschichte weiterschreiben und somit die Entscheidung des älteren Sohnes imaginieren; im szenischen Spiel selber Entscheidungen treffen

Der Mensch als Mann und Frau: Auch wenn die Mutter der Familie in dem Gleichnis nicht direkt dargestellt wird, so können der Vaterfigur sowohl väterliche als auch mütterliche Attribute zugewiesen werden. Mögliche Methoden: Betrachtung des Ausschnitts aus Rembrandts Ölgemälde »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes«, der zwei unterschiedlich geformte Hände des Vaters zeigt; anhand dessen Thematisierung von Geschlechtsvorstellungen; Cluster bilden zum »Perfekten Vater«, um Rollenvorstellungen zu besprechen

Der Mensch als verletzliches Wesen: Der jüngere Sohn will eigene Vorstellungen verwirklichen, scheitert jedoch daran und gibt dieses Scheitern reumütig zu; der ältere Sohn hat ebenfalls seine eigenen Wünsche, äußert sie aber nicht, sondern

Der Mensch als von Gott angenommenes Wesen: Der Sohn erkennt sein schuldiges Verhalten und damit auch seine Schwächen, doch der Vater nimmt ihn bedingungslos wieder auf; auch dem älteren Sohn zeigt der Vater, wer er ist und wie

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Religionspädagogische Anregungen

sie zueinander stehen, und ermöglicht so beiden Söhnen, sich selber zu erkennen und anerkannt zu fühlen. Mögliche Methoden: Umschreiben des Gedichts »Gott, was denkst du?« von Wolfgang Fenske.15 3. Beispiele aus einem inklusiven Religionsunterricht

Die folgenden Beispiele stammen aus zwei Dissertationsprojekten, die sich mithilfe verschiedener methodischer Zugänge mit der Frage nach der Konfrontation der großen Erzählungen biblischer Tradition und der kleinen Erzählungen von Schülerinnen und Schülern im inklusiven Religionsunterricht beschäftigen. Alle Klassen waren von einer großen Diversität hinsichtlich unterschiedlicher Heterogenitätsdimensionen geprägt. Im Rahmen des Projektes von Kathrin Hanneken wurde anhand bibliodramatischer Elemente in einer siebten Klasse über mehrere Stunden das Gleichnis vom verlorenen Sohn erarbeitet. Ebenso wurde dieser Text von Veronika Burggraf verwendet, um mit Schülerinnen und Schülern zweier sechster Klassen Gottesbilder zu erarbeiten. Methodisch wurden in diesen Klassen Formen kreativen Schreibens angewendet. Der Mensch als emotionales Wesen: Ein zentrales Element des Bibliodramas ist die Körperarbeit. Dabei werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch Körper- und Wahrnehmungsübungen auf den Text und seinen Inhalt eingestimmt. So wurden die Schülerinnen und Schüler der siebten Klasse dazu eingeladen, sich mit verschiedenen emotionalen Ausdrü-

cken auseinanderzusetzen und diese für sich nachzuerleben. Es wurden bewusst Stimmungen gewählt, die den Figuren an verschiedenen Stellen des Textes zugewiesen werden können. So können die Aufforderungen für die einzelnen Momente im Rahmen dieser Übung beispielsweise wie folgt lauten: »seid mutig«, »habt Angst« »fühlt euch schuldig«. In einer daran anknüpfenden Reflexionsphase, in der die Schülerinnen und Schüler Raum erhalten, um dem Erlebten Ausdruck zu verleihen, Aufgefallenes zu teilen oder Fragen zu stellen, kann die Lehrkraft durch weitere Fragen wie etwa »Wie hast du dich dabei gefühlt?«, »Welche Gefühle waren leicht / schwer für dich nachzuempfinden?«, »Warum fühlen nicht alle Menschen gleich?« etc. das anthropologische Thema weiter vertiefen. Der Mensch als freies Wesen: Eine Möglichkeit zur Thematisierung dieser Dimension ist es, einen Inneren Monolog aus der Perspektive des jüngeren Sohnes in der Fremde zu verfassen. Die folgenden Beispiele sind in einer sechsten Klasse entstanden: »Warum habe ich das Geld verballert? Ich hätte mir so ein schönes Leben machen können. Ich bekomme noch nicht mal Schweinefutter, aber ich habe so einen Hunger. Das ist Scheiße gelaufen. Was soll ich denn jetzt tun? Ich frage mich, wie es meinem Vater und meinem Bruder geht. Ich würde so gerne zurückgehen.« »Bin ich etwa so abscheulich, dass man mir noch nicht mal Schweinefutter geben will? Was hat man gegen mich? Ein tiefer Sturz kann manchmal auch ein neuer Anfang sein. 15 Wolfgang Fenske (wie Anm. 2), 37.

Burggraf / Hanneken / Roebben Praktische Unterrichtsideen zur Anthropologie von Lk 15,11–32

Aber ist es wirklich so weit gekommen? Das hätte ich niemals gedacht. In Zukunft werde ich nie wieder unüberlegt handeln. Zu meinem Vater zu gehen, kommt nicht in Frage. Ich möchte gerne alleine stehen.«

Im Anschluss an diese Identifikation mit dem jüngeren Sohn überlegen die Jugendlichen, wie sie sich selbst in dieser Situation verhalten würden und wägen unterschiedliche mögliche Verhaltensweisen ab. »Ich wär nicht zurückgegangen, weil ich meinen Vater sehr enttäuscht hätte. Ich wär zurückgegangen, weil mein Vater mir helfen könnte.«

Unterschiedliche Einstellungen können gegenübergestellt und so die Entscheidungsfreiheit des Menschen thematisiert werden. Fragen wie »Ist der Mensch frei in seinen Entscheidungen?«, »Was beeinflusst menschliche Entscheidungen?«, »Welche Rolle spielen Familie, Freunde und auch Gott dabei?« können das Theologisieren antreiben. Deutlich wird an den aufgeführten Beispielen darüber hinaus auch die Verletzlichkeit des jüngeren Sohnes. Anhand dieser Schülerprodukte kann die Erfahrung von menschlichen Schwächen und Scheitern thematisiert und herausgearbeitet werden, dass dies Element des Menschseins ist. Dazu beitragen können ebenfalls die Schülertexte im folgenden Abschnitt. Der Mensch als verletzliches Wesen: Beim Schreiben eines Tagebucheintrages aus der Perspektive des jüngeren oder des älteren Sohnes können die Schülerinnen und Schüler sich mit der Verletzlichkeit dieser Figuren auseinandersetzen. Zuvor fanden sich die Schülerinnen und Schüler in ihre Rolle durch ein Standbild ein.

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»Liebes Tagebuch, Wie du ja weißt ist mein kleiner Bruder ja weggezogen oder weggegangen. Auf jeden Fall liebes Tagebuch tauchte der heute wieder auf also mein kleiner Bruder. Und das Beste war, dass mein Vater, ja mein Vater, ihn wie einen Helden gefeiert hat. Das beste Kleid, das Kalb schlachten und sowas halt. Nur weil er wieder zuhause war oder ist. Aber das hat dem die Krone aufgesetzt. Er hatte sein ganzes Erbe schon auf den Kopf gehauen und wird von jedem wie eine Gottheit verehrt. Und ich, der mein Leben lang daheim blieb, ja ich, werd einfach außen vor gelassen« (siebte Klasse). »Ich bin ein jüngerer Sohn, ich habe einen Vater und einen älteren Bruder, doch ich habe alles verloren, ich habe nämlich mein Erbe von meinem Vater bekommen, doch ich habe es ausgegeben für unsinnige Sachen und bin weit weggegangen, dann bin ich bei den Schweinen gelandet, weil ich kein Geld mehr hatte und kein Essen und zum Schluss hatte ich auch noch meine Religion verraten. Und ich bekomme selbst im Schweinestall kein Essen.« (sechste Klasse).

Der Mensch als Mann und Frau: Um diesen anthropologischen Aspekt zu thematisieren, bietet sich eine Betrachtung des Ausschnitts aus Rembrandts Ölgemälde »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes« an. Anhand der zwei unterschiedlich geformten Hände des Vaters kann verdeutlicht werden, dass der Vater auch eine mütterliche Seite aufweist. Die folgenden exemplarischen Aussagen einiger Schülerinnen und Schüler bezüglich dessen, was sie auf dem Bild wahrnehmen, unterstreichen diese Überlegung: »Ich sehe zwei verschiedene Hände auf einem Holztisch«

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Religionspädagogische Anregungen

»Ich denke, dass das ein Mann oder eine Frau ist« »Nochmal zwei Hände. Vielleicht ist sie eine Mutter, die ihr Kind tröstet«

Daran anknüpfen kann ein Gespräch über Rollenvorstellungen und Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Es kann überlegt werden, wie diese Attribute die Menschen ergänzen; hinzugezogen werden kann zu dieser Diskussion ebenfalls Gen 2,18: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.« 4. Didaktische Perspektiven zum theologischen Gespräch

Die vorgestellten Methoden und aufgeführten Beispiele geben Anlass zum weiteren Theologisieren über anthropologische Fragen wie die nach dem Wesen des Menschen und seiner Beziehung zu Gott. Im Rahmen des Theologisierens mit Jugendlichen besteht die Aufgabe der Lehrperson bei der Präsentation jeglicher Arbeitsergebnisse darin, mögliche thematisierbare anthropologische Aspekte und Fragen wahrzunehmen und für das weitere Gespräch aufzugreifen. Ausgehend von dem folgenden Beispiel soll verdeutlicht werden, dass ein Schülertext verschiedene anthropologische Dimensionen beinhalten kann: »Eines Tages erhob ich Anspruch auf mein Erbe. Mein Vater war gutmütig und gab es mir. Aber ich war zu voreilig. Ich machte mir ein schönes Leben, kaufte alles, was nur ging. Mein Leben war wirklich toll. Bis mein Erbe völlig ausgedient hatte und ich nichts mehr hatte. So lebte ich einige Tage ohne Geld und festen Wohnsitz. Auch an Essen hatte

ich nichts. Bis ich zu einem Schweinebauer kam. Er ließ mich zwar in seinem Schweinestall hausen, aber zu essen bekam ich nichts. Nach einigen Tagen hatte ich so einen Hunger, dass ich selbst das Schweinefutter gegessen hätte, denn meine Religion hatte ich ja eh schon verraten. Doch er ließ mich nicht. Also machte ich mich auf zu meinem Vater. Ich wollte ihm sagen, dass ich in Gottes und seiner Schuld stehe. Als ich daheim ankam, sagte ich ihm dies. Er war froh und meinte: »Mein toter Sohn ist auferstanden! Lasst uns ein Fest feiern!« Ich bekam von ihm einen Ring und Kleider geschenkt. Mein Vater schlachtete das Mastkalb. Wir feierten ausgelassen und fröhlich. Im Inneren dachte ich mir: »Ich gehöre wieder dazu.«

Zu Beginn dieses Tagebucheintrags beschreibt der jüngere Sohn seinen freien Willen, seinen Wunsch, außerhalb seines Elternhauses ein neues Leben zu beginnen. Die Entscheidungsfreiheit des Menschen zeigt sich auch bei dem Vater, der sein Erbe verteilt und seinen Sohn nach dessen Rückkehr ohne Vorbehalte wieder in die Familie aufnimmt. Die Verletzlichkeit des Sohnes wird vor allem in der Ferne deutlich, in der er großen Hunger leiden muss und auf sich alleine gestellt ist. Dies bewegt ihn zu der Entscheidung wieder heim zu kehren, wo er herzlich von seinem Vater wieder aufgenommen wird. Hier zeigt sich in eindrucksvoller Weise, dass der Mensch ein emotionales Wesen ist. In dem Schlusssatz »Ich gehöre wieder dazu« zeigt sich schließlich die anthropologische Kategorie »Der Mensch als ergänzungsbedürftiges Gemeinschaftswesen«; es wird deutlich, dass der Sohn tot war und nun wieder am Leben ist, dass seine Unvollkommenheit vorüber ist und er wieder vollkommen wird, weil

Burggraf / Hanneken / Roebben Praktische Unterrichtsideen zur Anthropologie von Lk 15,11–32

er wahrgenommen und angenommen wird, wie er ist.16 Die Produkte und Beiträge der Schülerinnen und Schüler, die sowohl im Kontext des Kreativen Schreibens als auch in der Arbeit mit bibliodramatischen Elementen entstehen, können somit als Impuls für weitere Fragen und

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Auseinandersetzungen angesehen und als Anlass zum Theologisieren verstanden werden.

16 Vgl. dazu auch Bert Roebben, Theologische Gedanken zu einer Inklusionspädagogik, in: Katechetische Blätter 5/2013, 329–332.

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Religionspädagogische Anregungen

Manfred Schnitzler Best friends – Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Unterrichtsprojekt in der Klassenstufe 9 der Realschule

– Kann der philosophische und theologische Diskurs, der Rückgriff auf antike und neutestamentliche Texte, zur Erhellung des Themas »best friends« beitragen? Der Ausgangspunkt des Unterrichtsprojekts

In den letzten drei Jahren ist die Anzahl an »Freunden«, die Jugendliche durchschnittlich in den Online-Communities haben, rasant gestiegen: von 159 (2010) über 206 (2011) auf 272 (!) im Jahre 2012.1 Dieser inflationäre Anstieg zeigt einerseits einen Bedarf, fordert aber andererseits heraus, den Begriff »Freund« kritisch mit den Heranwachsenden zu bedenken: – Was erwarten Jugendliche von einem »best friend«, einem »echten« Freund? – Unterscheiden sich Jungen und Mädchen darin, wie sie Freundschaft leben? – Können ein Junge und ein Mädchen (nur) »best friends« sein? – Warum sind Freunde entwicklungspsychologisch im Jugendalter wichtig? – Welche Bezüge zur theologischen Anthropologie, hier der Dimension Sozialität2, können mit den Schülerinnen und Schülern diskutiert werden?

Im März 2013 fand an der PH Ludwigsburg die Expertentagung »Anthropologie und Jugendtheologie – Interdisziplinäre Perspektiven« statt. Im Rahmen der Tagung hielt Gudrun Guttenberger das Impulsreferat: »Neutestamentliche Anthropologie für Jugendliche – Was ist anschlussfähig?«3 Mit Hilfe von drei neutestamentlichen Texten öffnete sie anthropologische Felder und deutete neben exegetischen Beobachtungen zu den Texten bereits deren mögliche Relevanz für Jugendliche heute an: – Römer 7,7–25: Dimension »Versagen – Schuld – Sünde« – Lukas 14,1–24: Dimension »Sozialität« – 1. Korinther 11,2–16: Dimension »Kör­ per – Leib – Geist« (bes. das kulturell geprägte Rollenverständnis von Mann und Frau) 1 JIM-Studie 2012, 45. 2 Bernhard Grümme, Menschen bilden, Freiburg i.Br. 2012, 255–292 3 Das Referat findet sich im ersten, theoretischen Teil dieses Jahrbuches (s. S. 39ff).

Schnitzler Best friends – Theologisieren mit Jugendlichen

Schon im Hören und dann auch in der anschließenden Diskussion zeichneten sich für mich erste Unterrichtsideen ab und die Idee war geboren, das Gehörte im Religionsunterricht meiner 9. Klasse in die Praxis umzusetzen. Frau Guttenberger war sehr einverstanden und so machten wir uns gemeinsam an die Arbeit. Die Interessenslage der Schüler

Wichtig war mir, möglichst nah an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen anzuknüpfen. Deshalb sollten sie sich eine der drei anthropologischen Dimensionen aussuchen können. Da ich zu Beginn des Schuljahres bereits über das Themenfeld »Versagen – Schuld – Sünde« mit meinen Schülerinnen und Schülern gesprochen hatte,4 musste ich die erste Möglichkeit streichen. Von mir aus hatte ich, damit eine gewisse Breite in der Wahlmöglichkeit dennoch erhalten bleibt, ergänzt: – Lukas 21,1–4: Dimension »Identität« In einer dem Unterrichtsprojekt vorangestellten Schülerbefragung sollten sie sich für eine der drei Grundfragen als Thema für die letzte Unterrichtseinheit vor den Sommerferien entscheiden und ihre Wahl möglichst begründen sowie spontan sie besonders interessierende Teilaspekte aus dem Themenfeld nennen: 1. Wie grenze ich mich von Erwartungen anderer ab? – der Mensch in seiner Einmaligkeit (5 Stimmen) 2. Wer soll mein Freund sein? – der Mensch in seiner Bezogenheit auf Mitmenschen (11 Stimmen) 3. Wie sollten Frauen und Männer miteinander leben? – der Mensch als Ergänzung von Mann und Frau (0 Stimmen)

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Niemand wählte das dritte Themenfeld, das erste ein Drittel der Klasse und zwei Drittel entschieden sich für das zweite Angebot.5 Dieses eindeutige Wahlverhalten erleichterte den Unterrichtsgang, weil ich im Verlauf der Einheit von einem breiten Interesse in der Religionsgruppe ausgehen konnte. Das waren mehrfach genannte Gründe für ihr Wahlverhalten: – Freunde sind wichtig fürs Leben! – Es gibt oft auch unter Freunden Streit und da wäre es nicht schlecht, wenn wir darüber diskutieren. – Man muss nicht mit jedem befreundet sein, aber man sollte zu allen nett sein. Folgende Teilfragen im Themenfeld »Freunde« haben sie öfters erwähnt: – Was sind echte Freunde, was falsche? – Wie sollte ein echter Freund / eine echte Freundin sein? – Wie begegne ich selbst meinen Freunden? – Können Mädchen und Jungs »beste Freunde« sein? Dieses klare Votum mag auf den ersten Blick – gerade auch angesichts der dritten Wahlmöglichkeit – überraschen. 4 Vgl. Hanna Roose, »Sünde ist …«, in: V.-J. Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen, Stuttgart 2012, 135–149; m.E. eine ausgesprochen gelungene Unterrichtsidee zu dieser gewiss nicht leichten Thematik. 5 Drei Schüler/innen waren an diesem Tag krank. Die Rahmenbedingungen für das Theologisieren mit Jugendlichen sind in meinem Fall aus doppeltem Grund günstig: Einerseits ist die Religionsgruppe mit 19 Schüler/in­nen erfreulich klein und andererseits kenne ich sie als Klassenlehrer (D, G, EWG und BORS) recht gut.

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Religionspädagogische Anregungen

Das Thema »Freunde« wird klassischerweise eher im RU der Klassen 5/6 behandelt. 6 Oft ist es dann integriert in den größeren Zusammenhang: Ich – Du – Wir.7 Bedacht wird vor allem das sich ergänzende Miteinander von Identität und Sozialität. Im erst vor kurzem erschienen Religionsbuch »reli plus 1«8 findet sich neben der Einstiegseinheit »Ich – Du – wir« 9 unter dem Titel »Freundschaft – auf wen kann ich mich verlassen?«10 ein ausdrücklich auf das Thema »Freunde« zugeschnittenes Kapitel. Leitfragen sind dabei: »Wie finde ich Freunde? Woran erkenne ich echte Freunde? Was hält eine Freundschaft aus?«11 Die Begründung für die Platzierung des Themas in der Orientierungsstufe ist vermutlich entwicklungspsychologisch: Gerade in der Entwicklung von Identität in der Phase der (frühen) Pubertät spielt die Spiegelung des Ich im Du eine wichtige und stabilisierende Rolle. Für die Klassenstufe 7–10 gewinnt typischerweise die Begegnung mit einem andersgeschlechtlichen Partner an Gewicht. Das zeigt sich in entsprechenden Kapiteln zum Themenfeld »Freundschaft – Liebe – Ehe« in den Religionsbüchern für diese Klassenstufe. Die Rückmeldung meiner Religionsgruppe deutet jedoch an, dass erste Partnerschaftsversuche tragende (gleichgeschlechtliche) Freundschaftsbeziehungen nicht erübrigen. Unter dem neuen Akzent der Selbstvergewisserung auf dem oft holprigen und verletzlichen Weg hin zu einer Partnerschaft gewinnt der Aspekt »Bester Freund / beste Freundin«12 eine neue, nicht minder wichtige Bedeutung. Die Teilfrage, ob Mädchen und Jungs nicht »bloß« beste Freunde sein

könnten, stellt zudem eine Art fließenden Übergang zwischen den Themenfeldern »Freundschaft« und »Partnerschaft« dar.13 Durch das klare Votum meiner Schülerinnen und Schüler hatte ich in jedem Fall eine aussagekräftige Vorgabe, auf deren Grundlage ich versuchte, das nachfolgende Unterrichtsprojekt aufzubauen. Wichtig war mir, im Vorfeld die exegetische sowie religionspädagogische Stringenz des Unterrichtsvorhabens im Rahmen des Theologisierens mit Jugendlichen gemeinsam mit Frau Guttenberger zu bedenken, so dass ein gewisses Wechselspiel von religionspädagogischer Theorie und religionsdidaktischer Praxis gewährleistet ist.

6 Vgl. Das Leben suchen – Religion 5/6 »Ich schaffe es nicht allein«, Frankfurt a.M. 1985, 1–12. Kursbuch elementar 5/6 »Freundschaft – Gut, dass wir einander haben«, Stuttgart 2003, 16–25. Religionsbuch 1 »Freundschaft halten«, Berlin 2010, 14f. 7 Vgl. Bildungsplan für Baden-Württemberg, Stuttgart 2004, 26. 8 Reli plus 1, Stuttgart 2013. 9 Ebd., 8–17. 10 Ebd., 28–37. 11 Ebd., 29. 12 Unter Jugendlichen findet der Terminus gelegentlich folgende hyperbelartige Steigerung: BF: best friend; BFF: best friend forever; ABF: allerbeste Freundin / allerbester Freund. 13 M.E. ist das ergänzende Miteinander von Paarbeziehung und Freundschaft ein Aspekt, der das gesamte Leben hindurch von Belang ist und Krisen und Brüche gegenseitig auszugleichen vermag. Insofern steckt im Hintergrund dieses Unterrichtsprojekts durchaus der Anspruch einer auch langfristigen Lebenshilfe.

Schnitzler Best friends – Theologisieren mit Jugendlichen

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Überblick zum Unterrichtsprojekt »Best friends«14 Freund und / oder Partner? Echte Freunde – falsche Freunde

Vertiefungsbaustein 2

Vertiefungsbaustein 1

Freund – Kumpel – Mitschüler Grundbaustein

Streit: Zerbrochene Freundschaften Vertiefungsbaustein 3

»Best friends« – Schülerpräsentation

Ein Dach für die Seele

Evaluation

Vertiefungsbaustein 4

Beschreibung des Unterrichtsprojekts15

Das Unterrichtsprojekt »Best friends« ist in drei Schritten angelegt: – Dem Grundbaustein, der den Begriff »Freund« gerade angesichts der augenblicklich inflationären Verwendung in seiner elementaren anthropologischen Relevanz aufzeigen soll. – Den vier fakultativen Vertiefungsbausteinen, die je nach Interessenslage der Schülerinnen und Schüler, aber auch den religionspädagogischen Intentionen auf die jeweilige Lehr-Lern-Situation zugeschnitten werden können. – Den abschließenden Schülerpräsentationen, die den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, die Thematik in ihre aktuelle Lebens- und Erfahrungswelt zu transferieren und zu konkretisieren und gleichzeitig in ihrer Buntheit die Vielfalt des Themenfeldes Freundschaft aufblitzen lassen.16

Meist beginnt der Lernweg bei den Schülerinnen und Schülern, greift ihre Überlegungen und Erfahrungen auf und versucht in einer doppelten Begegnung mit Überliefertem ihrem Nachdenken vertiefende Impulse zu geben. Einmal taucht in jedem Baustein ein Seneca-Zitat auf. In seinen »Epistulae ad Lucilium – Liber I«17 finden 14 Jeder Unterrichtsbaustein ist zeitlich mit etwa einer Doppelstunde angesetzt. 15 In dieser Publikation kann ich das Unterrichtsprojekt nur in groben Linien paraphrasieren. Detaillierte Unterrichtsskizzen zu den einzelnen Modulen sowie die entsprechenden kopierfertigen Materialien werden als Angebot zur konkreten Umsetzung an anderer Stelle veröffentlicht: siehe www.calwer.com → JaBuJu 3 → kostenloser Download. 16 Wenn diese Schülerpräsentationen wie eine Klassenarbeit bewertet werden, kann die Findigkeit bei der Recherche sowie die Kreativität in der Vorstellung hinreichend honoriert werden, ohne dass ein allzu hoher Leistungsdruck entstehen muss. 17 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium - Liber I, Briefe an Lucilius über Ethik – 1. Buch, Lateinisch / Deutsch, übers. u. hg. von Franz Loretto, Stuttgart 2008 (reclam 2132).

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Religionspädagogische Anregungen

sich besonders im 3. und 9. Brief Ratschläge an seinen jüngeren Freund, die unmittelbar die Thematik der Freundschaft aufgreifen und zum Teil gegen den Strich quer bedenken. Der antike Philosoph ist für heutige Schülerinnen und Schülers aufs Erste keine leichte Kost, aber ihm geduldig auf die Spur zu kommen, kann sehr wohl schon lange Gedachtes bewusst ins Rampenlicht stellen und heutiges Nachdenken bereichern. Zum anderen findet sich jeweils ein neutestamentlicher Referenztext. In der Auswahl habe ich eine enge Anbindung meines Unterrichtsprojekts an die von Frau Guttenberger im theoretischen Teil dieser Publikation gewählten neutestamentlichen Beispiele angestrebt.18 Insgesamt sollte darauf geachtet werden, dass die Einheit nicht überdehnt wird. Erfahrungsgemäß sind zwölf Unterrichtsstunden bzw. sechs Doppelstunden ein gutes Maß, das nur in sehr begründeten Ausnahmefällen überschritten werden sollte. So werden kaum alle fakultativen Bausteine angemessen behandelt werden können und eine qualifizierte Auswahl resp. Modifikation sinnvoll sein. Der Grundbaustein: Freund – Kumpel – Mitschüler

Die häufigsten Assoziationen zum Stichwort »Freund« waren in meiner Lerngruppe »miteinander Spaß haben«, »einander vertrauen« und »zusammen halten«. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeitigen ähnliche Ergebnisse: »Dinge gemeinsam unternehmen, die beiden Spaß machen« (86,1%) sowie »wechselseitige Hilfe« (86,1%) stehen ganz oben, gefolgt von »über das reden,

was wichtig ist im Leben« (81%) sowie »sich Geheimnisse anvertrauen können« (67,6%).19 Die Jugendstudie Baden-Württemberg 2013 formuliert es so: »Wichtige Voraussetzungen für Freundschaften sind in der Regel gegenseitiges Vertrauen und eine gemeinsame Basis hinsichtlich der Freizeitgestaltung beziehungsweise sonstiger Interessen.«20 Freunde sind dieser Studie zufolge »wichtige Ansprechpartner« und »Vertraute bei Sorgen«.21 Am Seneca-Zitat (I 3,2) können die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass es so etwas wie eine bewusste Entscheidung zur Freundschaft mit einer bestimmten Person geben sollte, in deren Konsequenz dann Vertrauen eine conditio sine qua non darstellt. Die grafische Zuordnung der Begriffe: Mitschüler – Kumpel – Freund greift die ersten Definitionsansätze auf. Differenziert werden die Begriffe von den Schülerinnen und Schülern nach dem Ort der Begegnung, nach der Häufigkeit des Treffens, der persönlichen Bedeutsamkeit oder auch einfach nur nach der geschätzten Anzahl. Der spielerische Umgang mit den drei Begriffen ermöglicht überraschende Varianten, die im Vergleich diskutiert und an der Tafel visualisiert werden können. Der gewählte neutestamentliche Text (Lk 14,7–11) kann verdeutlichen, dass 18 Selbstverständlich lassen sich hier auch alternative Bibeltexte denken, können je nach theologischer Intention des Unterrichtenden sogar die deutlichere / einfachere Brücke darstellen. In der Darstellung der Bausteine sollen diese Varianten zumindest genannt werden. 19 Heinz Reinders, Freundschaften im Jugendalter, Mannheim 2003, 3. 20 Jugendstudie Baden-Württemberg 2013, Stuttgart 2013, 12. 21 Ebd.

Schnitzler Best friends – Theologisieren mit Jugendlichen

Ansehen beim Gegenüber und seine Wertschätzung, so wichtig sie erscheinen mögen, sich nicht selbst genommen oder gar angemaßt, sondern immer nur geschenkt werden können. Zurückhaltung und Bescheidenheit sind folglich keineswegs taktisches Kalkül, sondern der einzig angemessene Weg, Freundschaft zu gewinnen. Dieser Text hat einen klar paränetischen Akzent. Als positive Textvarianten im Neuen Testament könnte entweder die Heilung des Gelähmten, der sein neues Leben auch dem Einsatz seiner vier Freunde verdankt (Mk 2,1–12) oder das Gleichnis vom bittenden Freund (Lk 11,5–8) dienen. Hier finden die Schülerinnen und Schüler ein modellhaftes Vorbild für ihr Handeln als Freund. Vier Vertiefungsbausteine

Die folgenden Unterrichtsideen zum Thema »Best friends« erlauben eine klassengerechte Fokussierung auf Teilaspekte, im Falle meiner Klasse war dies insbesondere der Baustein 2. Eine vorgeschaltete Befragung der Schülerinnen und Schüler kann bei der Auswahl der besonders relevanten Vertiefungsbausteine helfen, vielleicht sogar vor die Aufgabe stellen, einen neuen zu entwickeln.

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Zweck der Freundschaft sei es nicht, selbst jemanden in Notsituationen als treuen Begleiter zu haben, sondern vielmehr anderen in deren Notsituation helfen zu können!22 Dass es oft allerdings anders ist, zeigen von den Schülern recherchierte Lebensläufe von Stars. Im Erfolg haben sie viele »Freunde« und sie werden beinahe göttlich verehrt, in der Niederlage, Sucht und Depression jedoch sind sie überraschend schnell einsam und nur noch auf ganz wenige »best friends« zurückgeworfen, zum Beispiel Whitney Houston oder auch Robert Enke. Die Schülererwartungen an einen »echten« Freund greifen einerseits die Gedanken aus dem Grundbaustein auf, ergänzen diese jedoch im Blick auf Treue und Zuverlässigkeit in Notsituationen. Der neutestamentliche Text (Lk 14,1–6: Die Heilung des Wassersüchtigen) wird dieses Mal anhand der Lebensgeschichte von Samuel, einem Färber zurzeit Jesu, narrativ vorbereitet.23 Eine kreative Schreibaufgabe (Dialog Samuel mit seiner Frau Tamara nach der Heilung) soll den Schülern die Verwandlung im Leben des Kranken vor Augen führen. Im zweiten Schritt analysieren die Schüler in Partnerarbeit die Wundererzählung mit Hilfe der OnlineVersion der Basis-Bibel. Sie sehen, wie sehr die Krankheit mit sozialer Isolation verbunden ist. Zugleich erkennen sie in

1. Echte Freunde – falsche Freunde

Not lehrt nicht nur beten, sondern in Notsituationen scheiden sich auch echte von falschen Freunden. Darum geht es im ersten Vertiefungsbaustein. Das Seneca-Zitat (I 9,8) überrascht erneut durch einen Perspektivwechsel:

22 Hier könnte parallel an Schillers Ballade »Die Bürgschaft« erinnert werden, in der sich jemand als Pfand in die Hand eines Tyrannen begibt und fest darauf vertraut, dass sein Freund rechtzeitig vor der angeordneten Hinrichtung zurückkehren wird. 23 Es handelt sich hier um eine Erzählung des Autors.

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Religionspädagogische Anregungen

Jesu Handeln die bedingungslose Zuwendung zum leidenden Mitmenschen, trotz strenger Sabbatgebote und trotz eines deutlich zu spürenden Unwillens des vornehmen Gastgebers. Alternativ könnte zum Beispiel das divergierende Verhalten der Freunde Jesu bei seiner Verhaftung und Hinrichtung aufgezeigt werden: einer, die ihn verrät, einer, der ihn verleugnet, viele, die ihn im Stich lassen und einige Frauen, die ihm bis zum grausamen Ende (nach)folgen. 2. Freund und / oder Partner?

»Können ein Junge und ein Mädchen (nur) beste Freunde sein?« Diese Frage löste in meiner sonst nicht so diskussionsfreudigen Klasse eine fruchtbare kontroverse Debatte aus, in der die (kleine) Contra-Fraktion den einen oder anderen deutlich skeptischer stimmen konnte. Vielleicht ist eine solche Konstellation als Übergang durchaus möglich, vielleicht sogar beidseitig hilfreich, aber insgesamt wohl doch eher ein zerbrechliches Gebilde. Ganz allgemein konstatiert Heinz Reinders in Bezug auf das Verhältnis von Freundschaften und Liebesbeziehungen: »Freunde sind beim Aufbau romantischer Beziehungen eine wichtige Unterstützung; gleichzeitig nehmen romantische Beziehungen mehr Zeit, Aktivitäten und Gefühle in Anspruch und verdrängen auf diese Weise tendenziell bestehende Freundschaften. Dies gilt insbesondere für Mädchen.«24 Der kulturanthropologische Vergleich mit der Männer- und Frauenwelt in der Urgemeinde (1. Kor 2–16) zeigt, dass eine solche Fragestellung vor 2000 Jahren zwar einerseits ein gesellschaftliches

No-Go dargestellt hätte, andererseits jedoch schon damals Veränderungen im (freundschaftlich-geschwisterlichen) Miteinander heftig diskutiert wurden. Wem diese Gemeindediskussion zu restriktiv im Blick auf das Frauenbild erscheint, könnte alternativ zeigen, wie Jesus gerade die Konventionen seiner Zeit aufbricht, indem auch Jüngerinnen eine maßgebliche Rolle in seiner Anhängerschaft spielen. Denkbar wäre auch ein Pauluswort im Blick auf das Leben in der Gemeinde, das die Geschlechtsunterschiede als sekundär hintanstellt. (Gal 3,28) Das Seneca-Zitat (I 9, 11) definiert die Liebesbeziehung als eine »verzückte Freundschaft« und zeigt damit sowohl Zusammenhang als auch Unterschied prägnant auf. 3. Streit: zerbrochene Freundschaft

Freundschaften sind für Jugendliche wichtig.25 Und dennoch: Es gibt in einer Freundschaftsbeziehung immer wieder Belastungsproben, die sie zerbrechen lassen können. Um einer Idealisierung von Freundschaft vorzubeugen, hat dieser Vertiefungsbaustein ein eigenes Gewicht. Individuen verändern sich und diese inneren Wandlungsprozesse wirken sich auf die Freundschaft aus: Kann und will der Freund diese Veränderung mitge24 Reinders, 7f (wie Anm. 19). 25 88 Prozent der Mädchen und 75 Prozent der Jungen sagen in der Jugendstudie BadenWürttemberg 2013, dass ihnen – neben Familie und Gesundheit – Freundschaft der wichtigste Wert ist (12; vgl. Anm. 20).

Schnitzler Best friends – Theologisieren mit Jugendlichen

hen, zumindest aushalten? Seneca (I 6, 2) zeigt auf, dass eine Voraussetzung dafür ist, dass ich den anderen an diesen Veränderungen meines Ichs teilhaben lasse. Dies kann zu einem notwendigen Bruch führen, weil eine tragende gemeinsame Grundlage für die Freundschaft verloren gegangen ist. Die inneren Wandlungsprozesse können aber auch die bisherige Freundschaft mit ganz neuen Aspekten bereichern und damit festigen. Neben inneren Entwicklungen vermögen auch äußere Situationen eine Freundschaft herausfordern, zum Beispiel eine große räumliche Distanz, die Durchkreuzung des bisher gemeinsamen Lebensziels oder auch das Schuldigwerden des einen am anderen. Beides, tödlicher Bruch und neu geschenktes Vertrauen, wird den Schülerinnen und Schülern an Judas und Petrus und deren Versagen in der Passionsgeschichte dramatisch vor Augen geführt. Welche Schritte zur Versöhnung zeigen sich in der Petrus-Erzählung (Joh 21,15–19)? Gibt es andererseits Brüche in einer Freundschaft, die irreparabel sind? Die Konstruktionsaufgabe zur Baustelle »Freundschaft« jedenfalls kann Schülerinnen und Schülern deutlich machen, dass Freundschaft neben Spaß Arbeit bedeutet und den ausdrücklichen Willen erfordert, dem anderen auch in schweren Tagen treu zur Seite zu stehen. 4. Ein Dach für die Seele

Paul M. Zulehner26 nennt als eine der großen Bedrohungen unserer modernen Kultur die »psychische Obdachlosigkeit« des Einzelnen. Verlässliche und dauerhafte Beziehungen gewinnen in dieser

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gesellschaftlichen Gesamtsituation eine hohe Bedeutung. Wem aber kann ich mich anvertrauen? Das Seneca-Zitat (I 3, 4) warnt in zweierlei Richtung: Weder soll man sein Herz auf der Zunge tragen und sich damit durch jedermann verletzlich machen – eine Warnung, die im Facebook-Zeitalter nicht eindringlich genug wiederholt werden kann – noch soll man aus allzu großer Skepsis sich »in seinem Inneren vergraben«. Das Du, dem man sich öffnet, will also sorgsam gewählt sein. Dann jedoch kann es bei gegenseitiger Offenheit zu einem Dach über der Seele werden, das Geborgenheit schenkt. Der Text von Hans Walhof, einem zeitgenössischen Schweizer Autor, ermutigt zu einem »Verschwenden an ein Du« und verheißt trotz der Vergänglichkeit der Tage »große Ernte«. Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44) schließlich zeigt, dass miteinander trauern und zusammen fröhlich ein Fest feiern, zwei Seiten der einen Freundschaftsmedaille sind. Alternativ könnte auch ein Text aus der frühen Christengemeinde (z.B. Apg 2,43–47) gewählt werden, um gemeinsam zu fragen, inwieweit das Zusammenleben in einer Kirchengemeinde / Jugendgruppe ein bleibendes (ekklesiologisches) Modell gegen die Vereinzelung des Menschen darstellt. Das Herstellen eines Freundschaftssymbols, zum Beispiel eines Freundschaftsbandes, kann ermutigen, das gemeinsam Durchdachte in eine konkrete Handlung umzusetzen. 26 Paul M. Zulehner, Christenmut, Gütersloh 2010, 42–50.

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Religionspädagogische Anregungen

Statt einer Klassenarbeit

Das Thema »Best friends« eignet sich meines Erachtens nicht für eine Leistungsbewertung in der klassischen Form. Die bunte Vielfalt einer Religionsgruppe kann jedoch hervorragend durch eine Partnerarbeit genutzt werden: Jedes Team soll der Gesamtgruppe ein aktuelles Medium zum Thema »Freund« präsentieren und zu dem in der Einheit Erarbeiteten in Beziehung setzen. Die folgende Auflistung der Beiträge aus meiner Klasse mag das Spektrum andeuten und eigene Recherchen anregen. Jede Klasse wird aber Neues, Faszinierendes und mitunter Skurriles entdecken! Aktuelle Medien zum Thema »Freund« (eine Übersicht möglicher Medien: Schülerbeiträge und eigene Ideen) Filme / Filmausschnitte  Neue Adresse Paradies (Deutschland 2013 [68:20–71:00])  Ziemlich beste Freunde (Intouchables; Frankreich 2011)  Zwei an einem Tag (amerik.-brit. Tragikkomödie 2011)  Hangover (US-Komödie 2009)  Ich du und der andere (engl.: You, me and Dupree; US-Komödie 2006)  How I met your mother (US-Sitcom seit 2005: Ted & Marshall)  Harry und Sally (amerik. Liebeskomödie 1989!) Songs  James Blunt: Carry you home  Glasperlenspiel: Freundschaft  SpongeBob: Idiotenfreunde

Werbeclips  Gute Freunde können auch abtauchen (Ferrero Küsschen)  Steh auf für einen Freund! (CarlsbergBier) Poetisches / Jugendliteratur  »Wir« (Gedicht)  Spruchweisheiten zum Thema »Freund­ schaft«  »Die Bürgschaft« Ballade von Friedrich Schiller  »tschick« von Wolfgang Herrndorf (bes. S. 21–23)  »Zweier ohne« von Dirk Kurbjuweit (bes. S. 14f) Das Feedback der Klasse zum Unterrichtsprojekt

Inhaltlich war für viele Schülerinnen und Schüler die kontroverse Diskussion, ob ein Junge und ein Mädchen (lediglich) »beste« Freunde« sein könnten, interessant. Verständnisprobleme gab es für die meisten nicht. Lediglich die neutestamentlichen Texte waren etwas anspruchsvoller, vor allem wohl der Brückenschlag zum Thema. Das zeigte sich in der Frage nach dem Zusammenhang der Thematik »Freunde« mit dem christlichen Glauben: Ich weiß es nicht. Deshalb wundert es mich, dass wir das Thema überhaupt (im RU) behandeln. Andere aber erahnen doch Verbindungslinien: Ja, immer, weil es ja auch eine gewisse Beziehung / Freundschaft zwischen Gott und einem gibt. Methodisch fanden die Schülerinnen und Schüler gut, dass sie viel in Gruppen arbeiten konnten, wir oft Klassendiskussionen führten und sie statt einer

Schnitzler Best friends – Theologisieren mit Jugendlichen

Klassenarbeit den Mitschülern ihrer Gedanken zur Fragestellung mithilfe eines aktuellen Mediums präsentieren konnten: Wir haben uns selber Gedanken zur Freundschaft gemacht und darüber eine Präsentation gehalten. Gewünscht haben sich einige, einen Film zum Thema im Rahmen des Unterrichts gemeinsam anzuschauen und nicht nur einen kleinen Ausschnitt bei einer Präsentation vorgestellt zu bekommen.27 Ergänzend zur konkreten Unterrichtseinheit hatte ich auch grundlegender danach gefragt, worin sie die Bedeutung und die Schwierigkeiten sehen, miteinander im Religionsunterricht über den Glauben zu sprechen (»Theologisieren mit Jugendlichen«). Bedeutsam kann dieses Gespräch über den Glauben aus Schülersicht sein, weil man dadurch die Meinungen der Mitschüler erfährt – und jeder ein bisschen anders glaubt. Die Hauptschwierigkeit beim »Theologisieren« besteht für sie darin, dass nicht jeder darüber sprechen will bzw. manche sich nicht trauen, ihren Glauben beizutragen. Fazit

Welche Antwortrichtungen ergeben sich aus dem Unterrichtsprojekt »Best friends« hinsichtlich der in der Einleitung aufgeworfenen Fragen? Jugendliche erwarten von einem Freund, dass man miteinander Spaß hat, einander vertraut und zusammenhält. Die Antworten der Schülerinnen und Schüler meiner Klasse entsprechen hier ziemlich genau den Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Befragungen von Jugendlichen. Dass Jungen und Mädchen Freundschaft deutlich anders akzentuiert leben,

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spielte im beschriebenen Unterrichtsprojekt keine wichtige Rolle, ist aber durch Untersuchungen hinreichend belegt: »In der Literatur haben sich für diese Unterschiedlichkeit die Begriffe ›faceto-face-Freundschaft‹ für Mädchen und ›side-by-side-Freundschaften‹ für Jungen etabliert. Damit ist gemeint, dass Mädchen sich in Freundschaften mehr aufeinander konzentrieren, während Jungen eher miteinander auf etwas Drittes fokussieren.«28 Lediglich »Best Friends« können ein Junge und ein Mädchen durchaus sein, davon gingen die meisten in meiner Religionsgruppe idealistisch aus. Die lebhafte Diskussion machte etlichen deutlich, dass diese Form einer intensiven Freundschaft realistischerweise eher ein Übergangsphänomen darstellt, ein zwar faszinierendes, aber ziemlich zerbrechliches Gebilde. Freunde und Familie müssen auch im Jugendalter kein Gegensatz sein. Freundschaftsbeziehungen stellen eine weitere Möglichkeit der Selbsvergewisserung dar, vor allem was die Bewältigung des Alltags anbelangt, die Freizeitgestaltung und den Umgang mit persönlichen Problemen. Bei Fragen der (beruflichen) Zukunft hingegen bleiben die Eltern die wichtigsten Ratgeber.29 Die Metaebene der theologischen Anthropologie ist der Mehrzahl meiner Schülerinnen und Schüler im Verlauf des Unterrichtsprojekts nicht wirklich präsent 27 Das konnte ich dann in der letzten Stunde vor den Sommerferien auch gleich noch so machen. Sie hatten sich für eine längere Passage aus »Hangover« (US-Komödie 2009) entschieden. 28 Heinz Reinders (wie Anm. 19), 4. 29 Ebd., 6.

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Religionspädagogische Anregungen

gewesen. Sie fanden zwar die Thematik wichtig, aber was sie denn mit »Reli« zu tun habe, das blieb eher in der Schwebe – trotz der neutestamentlichen Bezugstexte. Der Brückenschlag zu den antiken und neutestamentlichen Texten war das intellektuell Herausfordernde dieser Einheit. Das darin so ganz Andere aber war meines Erachtens ein wichtiger Impuls, die eigenen Gedanken zum Thema sowie die der Mitschüler am Fremden und Querstehenden weiter zu entwickeln. Im Unterrichtsprojekt »Best friends« verwendete Seneca-Zitate

 Berate dich mit deinem Freund in allem, doch vorher über ihn selbst. Nach der geschlossenen Freundschaft muss man vertrauen, bevor sie geschlossen ist, urteilen. … Überlege lange, ob du jemanden zum Freund nehmen darfst. Wenn du zu dem Schluss kommst, dass es geschehen soll, heiße ihn mit dem ganzen Herzen willkommen! Sprich so freimütig mit ihm wie mit dir selbst.30  Auch wenn der Weise sich selbst genügt, will er dennoch einen Freund besitzen, wenn schon für nichts anderes, um Freundschaft zu üben, damit ein so großer Wert nicht brachliege, nicht aber zu dem Zweck, wie Epikur sagte, ›um jemanden zu haben, der ihm in Krankheit beisteht, ihm, wenn er gefesselt oder mittellos ist, zu Hilfe eile‹, sondern um jemanden zu haben, dem er selbst im Krankheitsfalle beistehe, den er selbst aus feindlicher Gefangenschaft befreie.31  Zweifellos hat die leidenschaftliche Zuneigung Liebender eine gewisse

Ähnlichkeit mit der Freundschaft; man kann wohl sagen, sie sei eine verzückte Freundschaft. Liebt nun etwa jemand um des Profits willen, um des Ehrgeizes oder Ruhmes willen? Die Liebe für sich allein entzündet, ungeachtet aller anderer Dinge, die Herzen zum Verlangen nach der schönen Gestalt, nicht ohne Hoffnung auf gegenseitige Wertschätzung.32  Gerne möchte ich dich an dieser so plötzlichen Verwandlung meines Ichs teilnehmen lassen; dann würde ich beginnen, ein festes Vertrauen in unsere Freundschaft zu setzen, und zwar in jene echte, die weder Hoffnung noch Furcht noch Sorge um den eigenen Vorteil zerreißen kann, jene, mit der Menschen sterben, für die sie sterben.33  Manche erzählen, was man nur Freunden anvertrauen darf, Leuten, die ihnen auf der Straße begegnen, und in beliebigen Ohren entladen sie alles, was sie quält; manche hingegen scheuen die Mitwisserschaft selbst ihrer Liebsten und begraben tief in ihrem Inneren jedes Geheimnis, das sie, wenn es ihnen möglich wäre, nicht einmal sich selbst anvertrauen würden. Keines von beiden sollte man tun, beides nämlich ist ein Fehler, sowohl allen zu vertrauen als auch keinem; indessen möchte ich den einen Fehler als anständiger bezeichnen, den anderen als gefahrloser.34 30 Seneca, Epistulae morales ad Lucilium - Liber I, Briefe an Lucilius über Ethik – 1. Buch, Lateinisch / Deutsch, übers. u. hg. von Franz Loretto, Stuttgart 2008 (reclam 2132), 3.2, S. 11, vgl. Grundbaustein. 31 Ebd., 9.8, S. 43, vgl. Vertiefungsbaustein 1. 32 Ebd., 9.11, S. 45, vgl. Vertiefungsbaustein 2. 33 Ebd., 6.2, S. 25, vgl. Vertiefungsbaustein 3. 34 Ebd., 3.4., S. 13, vgl. Vertiefungsbaustein 4.

Büttner / Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

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Gerhard Büttner / Herbert Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

1. Ein nichttraditioneller Umgang mit der Tradition

Blickt man auf Thomas Schlags und Friedrich Schweitzers Plädoyer »Brauchen Jugendliche Theologie?«1, so wird dort der Fokus klar auf die Subjektivität der Jugendlichen gelegt sowie die Kon­ struktion von deren Weltbildern und Glaubensvorstellungen genauer beobachtet. Doch weist Veit-Jakobus Dieterich zu Recht darauf hin, dass es in der unterrichtlichen Praxis (besonders der gymnasialen Oberstufe) darauf ankommt, die Imperative der Bildungspläne mit den Fragestellungen der Jugendlichen kompatibel zu machen.2 In der religionspädagogischen Diskussion wurde dieser Aspekt bisher am ausführlichsten von Rudolf Englert bedacht. Dieser bestimmt die Bedeutung der Stücke der theologischen Tradition neu. War man in der theologischen und religionspädagogischen Tradition bis hinein in die Bildungspläne gewohnt, die Texte der Bibel oder die großer Theologen, dazu kirchliche Verlautbarungen im Sinne bloß zu rezipierender Wahrheiten zu betrachten, so verweist Englerts Begriff des »nichttraditionellen Umgangs mit der Tradition«3 auf einen anderen Modus. In einer kon­ struktivistischen Perspektive sind alle die genannten Dokumente der Tradition zunächst einmal Versuche von Menschen, das Geheimnis der Offenbarung Gottes

adäquat zur Sprache zu bringen und dabei intellektuell soweit zu durchdringen, dass Fragen wie die Beziehung zu Gott bzw. zu den Mitmenschen einer (zumindest vorläufigen) Lösung zugeführt werden. Eine solche Sichtweise respektiert (im Sinne etwa Karl Barths) die letztliche Unzugänglichkeit dieser Fragen auch für den glaubenden Menschen. Von einer strikten, gar rigiden Rezeptionspflicht entbunden werden diese Texte dann zu einem Reservoir erprobter Denkfiguren, dessen wir uns als Zeitgenossen mit Gewinn bedienen können. Besonders hilfreich können Denkfiguren sein, wenn sie eine gut erkennbare Strukturierung aufweisen und wenn sie verschiedene Antwortmöglichkeiten auf Fragen in Beziehung zueinander setzen. Denn eine gute Strukturierung ermöglicht erst eine Abstraktion und einen Überblick über ein Thema, der weitergehende Reflexionen ermöglicht, indem er Probleme und Lösungsperspektiven klarer vor Augen stellt. Indem wir auf Texte der Tradition 1 Neukirchen-Vluyn 2011. 2 Veit-Jakobus Dieterich, Themen der Jugendtheologie – Spurensuche für den theologischen Dialog mit Jugendlichen, in: Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer (Hg.), Jugendtheologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 45–58. 3 Rudolf Englert, Religionspädagogische Grund­ fragen, Stuttgart 22008, 88ff; Ders., Religion gibt zu denken. Eine Religionsdidaktik in 19 Lehrstücken, München 2013.

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Religionspädagogische Anregungen

als Impulse für das Theologisieren zurückgreifen, werden wir gleichzeitig zwei Ansprüchen von Bildung gerecht. Die berechtigte Erwartung ist, dass solche Texte auch ein Lösungspotential für heutige Fragestellungen beinhalten. Ambitionierte Formulierungen zu Glaubensfragen sind ja in aller Regel nicht kontextfrei entstanden. Ihr Ausgangspunkt waren vielmehr meist Fragestellungen, die sich durch die religiöse oder ethische Praxis oder Theorieentwicklung ergaben. Wenn man von einer Kontinuität der Conditio humana ausgeht, dann ist die Annahme berechtigt, dass solche Texte – obwohl oder gerade weil ihre Diktion uns fremd erscheint – nach wie vor Anregungen für heutige Problemlösungen bereit halten. Indem wir solche Texte weiter in Gebrauch nehmen, halten wir sie auch lebendig und pflegen – in der Diktion Luhmanns – unsere religiöse Semantik. Nur in dem Maße, in dem eine solche verfügbar und intakt ist, kann es gelingen, die religiöse Thematik auch in der komplexen Gemengelage der Postmoderne angemessen zu artikulieren. Weil unsere denkerischen Problemstellungen in unseren geistesgeschichtlichen Traditionen entstanden sind und formuliert wurden, sollten wir auch die in dieser Tradition entwickelten Lösungsvorschläge weiter tradieren. 2. Luthers »Disputatio de homine«4 als Unterrichtstext

Die Bildungspläne zum Thema nähern sich ihrem Thema »Anthropologie« so, dass sie neuere bzw. in der aktuellen Diskussion relevante Positionen der Philosophie, Natur- und Sozialwissenschaft zur

Deutung »des Menschen« präsentieren. Diesen Texten werden biblische bzw. theologische Positionen gegenübergestellt. Die implizite These dieses Vorgehens liegt in der Annahme, dass der theologische Beitrag zumindest ein Mehr gegenüber den nicht-theologischen enthält. Dabei besteht die Gefahr, dass der Unterricht in einem Modus des additiven Nebeneinander verbleibt oder zumindest von den Jugendlichen so rezipiert wird. Dagegen wäre es wünschenswert, die jeweiligen Epistemologien aufzudecken, die hinter den verschiedenen Ansätzen stehen, und zu bedenken, wie diese aufeinander bezogen werden können. Gerade in dieser Hinsicht ist der Text Martin Luthers von einer exemplarischen Klarheit. Er zeigt den Erkenntnisweg der Philosophie seiner Zeit auf (so wie ihn Luther aus seiner theologischen Perspektive deutet) und benennt deren Leistungsfähigkeit, aber auch deren Grenze. Indem er den spezifischen Erkenntnisgewinn der Philosophie bzw. der Theologie herausarbeitet, ist er bis heute hier beispielhaft. Außerdem ergibt sich gerade auf inhaltlicher Ebene eine interessante Parallele. Luther setzt sich in seiner Argumentation mit dem Menschenbild der Scholastik auseinander. Letzteres ist geprägt durch eine eigentümlich Synthese von Philosophie und Theologie mit dem Anspruch, »das Ganze« in den Blick zu 4 Der deutsche und lateinische Text ist z.B. zugänglich in: Wilfried Härle, Das christliche Menschenbild in seiner Bedeutung für unsere Gesellschaft, in: Hartmut Rupp / Stefan Hermann (Hg.), Bildung und Interreligiöses Lernen, Jahrbuch für kirchliche Bildungsarbeit Band 6, Stuttgart 2012, 80–84 und Martin Luther, Lateinisch-deutsche Studienausgabe Bd. 1 hg. v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, 665–669.

Büttner / Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

bekommen. Auf der Grundlage der antiken Philosophie und deren Verbindung mit der Bibel entstand ein Entwurf, der die Phänomene der sichtbaren Welt zu deuten wusste im Lichte von Gottes umfassender Ordnung. Dieser Sichtweise tritt Luther in seiner Philosophiekritik (Th. 25ff) entgegen, wo er dieser vorwirft, der Vernunft »nach dem Fall« zu viel zuzumuten. Betrachtet man dazu im Vergleich den Ansatz der Moderne, dann begegnet uns dort ein Entwurf, der den Anspruch erhebt, alle Dinge im Rahmen eines säkularen Deutungsmodells vollständig erklären zu können – neuerdings sogar die als individuell empfundenen Leistungen des menschlichen Gehirns. Eine postmoderne Sichtweise wird nun aber gerade diesen universalistischen Ansprüchen entgegen treten mit dem Hinweis, dass alle Erkenntnis nur fragmentarisch ist und es keinen Standpunkt geben kann, von dem her ein Ganzes umfassend umschrieben werden kann. In solch einem Modell der Erkenntnis gewinnt dann die theologische Perspektive einen begrenzten, aber durch nichts zu ersetzenden Platz. Es ist leicht nachvollziehbar, dass somit Luthers antitotalitäre Sichtweise hier aufs Neue aktualisiert werden kann. Dem Monopolanspruch der mittelalterlichen Philosophie / Theologie entspricht der der säkularen Moderne. Gegen beide ist eine Sichtweise stark zu machen, die die Perspektivität aller Erkenntnis einklagt – mit dem notwendigen Gestus der Bescheidenheit. Die philosophischen Thesen 1–19 führen in Luthers Argumentation zu einer unzureichenden Sicht des Menschen. Erst die theologische Sichtweise (Thesen 20–40) bietet nach Luther eine Perspektive, die das Wesen des Menschen wirklich ver-

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stehen lässt. Er behauptet, dass von den vier Ursachen die Philosophie höchstens etwas von der stofflichen (materialis) wisse, dass dies aber nicht hinreichend sei (Th. 12):5 »Philosophie und Theologie lassen sich in ihrem Streit um den Menschen aber auch nicht […] in der Weise schiedlich friedlich voneinander sondern, dass die Domäne der Philosophie der homo huius vitae [der Mensch dieser Welt] wäre, während sich die Theologie auf das ewige, eschatologisch-zukünftige Leben des Menschen zu beschränken hätte. [… Man hätte dann] übersehen, dass Luther der philosophischen Definition des Menschen gerade in Hinsicht auf ihr ›Gebiet‹ ihre Dürftigkeit vorhält und von ihr urteilt, sie wisse vom Menschen geradezu nichts.«

3. Der Text – Reduktion von Komplexität zur Steigerung der Komplexität

Indem wir im Sinne der Literaturwissenschaft (nach dem »Tod des Autors«) den vorgelegten Text als »offenes Kunstwerk« ansehen, bedeutet Theologisieren in erster Linie, dass die Schüler/innen den Text mit ihren Konnotationen besetzen. Damit dies gelingt, reduzieren wir Komplexität auf verschiedenen Ebenen, um den Jugendlichen das Verstehen und Integrieren ihrer eigenen neuen Kon­ struktionen zu erleichtern, so dass sie ihre eigene Komplexität steigern können. 1. Auswahl des Textes: Mit ihr haben wir eine wichtige Vorentscheidung getroffen, die wir im unterrichtlichen Kontext nur sehr begrenzt transparent machen 5 Gerhard Ebeling, Lutherstudien Bd. 2; Disputatio de homine 1. Teil, Tübingen 1977, 36f.

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Religionspädagogische Anregungen

können, weil es für die Schüler/in­ nen kaum nachvollziehbar ist, welchen Stellenwert der Text im Vergleich zu Alternativen einnimmt. 2. Kürzung des Textes: Trotz seiner Knappheit ist der Luthertext für den Unterricht zu lang und zu komplex6. Wir machen zwar die Kürzungen deutlich. Doch dass diese die Stringenz von Luthers Argumentation beeinflussen, müssen die Schüler/innen akzeptieren. Eine Begründung wäre hier notwendigerweise der Beginn einer eigenen Diskussion. Der zum Einsatz kommende Text ist also das Resultat einer didaktischen Auswahl. 3. Dekontextualisierung: Der hochambitionierte Begriff der Dekontextualisierung bedeutet auf der Schülerebene, dass sowieso jeder den Text in sein Verstehenssystem assimliert, was durch kein didaktisches Arrangement unterlaufen werden kann. Gezielt nehmen wir die Dekontextualisierung auf zwei Ebenen vor. Zunächst verzichten wir auf philosophiehistorische7 und theologische Zugänge, die die bedachten Philosophen – hier besonders Aristoteles – und den formulierenden Theologen Luther ins Blickfeld rücken. Diese Strategie hat sich in der Philosophiedidaktik mit Kindern bewährt. Es wird stattdessen die Problemorientierung in den Vordergrund gerückt. Wir dekontextualisieren aber auch zunächst einmal den Text Luthers. Wenn dieser in den Thesen 1 und 2 den Unterschied von Mensch und Tier thematisiert, nehmen wir das als Anlass, genau dies mit den Jugendlichen zu diskutieren – und zwar zunächst unabhängig vom Luthertext. Wir trauen also nicht nur

dem klassischen Text etwas zu, sondern auch schon den Fragen, die er aufwirft. Wir thematisieren damit zentrale Fragestellungen zur »elementaren Wahrheit«.8 Und wir erleichtern auf diese Weise den Jugendlichen den Zugriff. Erst wenn die Schüler/innen diesen oder andere Topoi bedacht haben, ist es sinnvoll, den Lutherschen Originalton (in deutscher Übersetzung) einzuspielen. Dies geschieht nicht in der Absicht, dann die richtige Deutung stolz zu präsentieren und gar noch zu fragen, wer schon (fast) so schlau wie Luther war, sondern um eine weitere – wenngleich wichtige – Lesart im Sinne einer Anreicherung einzubringen und sie neben die Lesarten zu stellen, die die Jugendlichen ins Spiel gebracht haben. Der bewusste Entzug des Kontextes kann dazu führen, dass von der Seite der Rezipienten nach dem Kontext gefragt 6 Luther spielt den Vergleich eines philosophischen und theologischen Zugangs u.a. an der von Aristoteles eingeführten Vier-causaeLehre durch, der causa materialis, formalis, efficiens und finalis. Was die Philosophie seiner Meinung nach über diese vier Ursachen wissen kann, entfaltet er in den Thesen 12–15. Von diesen Thesen haben wir nur die 14. These aufgenommen. Das ermöglicht durchaus, sich mit der causa efficiens und der causa finalis auseinanderzusetzen, reicht aber nicht aus, um die ganze aristotelische Vier-causae-Lehre darzustellen. Falls man hierauf einen Schwerpunkt legen möchte – was einige Kolleg/innen mit Erfolg praktiziert haben – kann die Lehrkraft sie anhand der Überblicksgrafik M 3 einführen und ggf. die entsprechenden Thesen zusätzlich zur Verfügung stellen. 7 Wir spielen also keine Informationen ein, dass es in der Tradition im Gefolge von Aristoteles als selbstverständlich galt, den Menschen als animale rationale zu verstehen. 8 Vgl. Friedrich Schweitzer, Elementarisierung im Religionsunterricht, Neukirchen-Vluyn 4 2013.

Büttner / Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

wird und dass von daher diese selbst den knappen Input präzisieren, und zwar in zweifacher Weise. Erstens reicht allein schon der Name Luther, dass sie fragen, ob die engagierte Auseinandersetzung in seinen Thesen und sein kämpferisches Eintreten für seine reformatorischen Entdeckungen in einem Zusammenhang stehen. Sind mehr Vorkenntnisse vorhanden, können thematische Anschlussfelder in den Blick genommen werden, etwa die Auseinandersetzung mit Erasmus oder die Zwei-Regimenten-Lehre. Zweitens bringen die Jugendlichen auch Anschlussfelder aus ihrem eigenen Erleben ein, z.B. wie es einem geht nach einem Unfall (s.u.). 4. Die Rolle der Lehrkraft

Die Lehrperson hat mehrere anspruchsvolle Aufgaben. Zunächst wird sie ganz schlicht das Gespräch moderieren müssen. Wichtiger und schwieriger ist es, Stringenz und Logik zu beachten und anzusprechen, indem man z.B. gut nachfragt, ohne inhaltlich zu bewerten. Auf diese Weise unterstützt sie die Jugendlichen darin, dass sie mit ihren selbst konstruierten Gedanken ihre eigene Komplexität steigern. Schließlich kommt der Lehrkraft auch die Rolle zu, durch Strukturierung die Antworten der Schüler/innen zu »clustern«,9 so dass alternative Denk- und Antwortmöglichkeiten sichtbar werden. Gegen Ende der Arbeit muss sie entscheiden, ob sie die Antwortbündel in die theologische Diskussion einordnet und gegebenenfalls mit der dort verwendeten Begrifflichkeit verbindet.

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5. Erprobung im Unterricht

M 1 bietet mehr Zugangsweisen an, als in einem normalen Kurs bearbeitet werden können, so dass die Lehrkraft je nach Kurs, Bildungsplanerfordernissen und dem geplanten Kompetenzerwerb Schwerpunktsetzungen vornehmen kann, wie sie aus den folgenden Beispielen aus einem Religionskurs eines beruflichen Gymnasiums in Baden-Württemberg ersichtlich sind. Dabei ist das methodische Vorgehen von folgendem Dreischritt bestimmt: Theologie von Jugendlichen: Die Jugendlichen überlegen sich zunächst eigene Antworten auf die ausgewählten Fragen. Im Klassengespräch werden Antworten geklärt, prägnant formuliert und ggf. verschiedene grundlegende Antworttypen herausgearbeitet. Theologie für Jugendliche: Die entsprechenden Thesen Luthers werden in den Blick genommen und versucht, ihre Aussageabsicht zu verstehen. Theologie mit Jugendlichen: In einem dritten Schritt vergleichen die Jugendlichen ihre eigenen Antworten mit der Denkfigur Luthers. Auf dem Hintergrund des selbst Erarbeiteten kann natürlich das Besondere von Luthers Argumentationsfigur besser erfasst und beschrieben werden. Manchmal konnten sie dabei auch Stärken der Argumentation Luthers benennen. Und indem sich die Jugendlichen mit dem berühmten Luther vergleichen, fühlen sie sich herausgefordert, ihre eigene Position gut zu begründen. In diesem letzten Schritt be9 Gerhard Büttner, »Clustern« als Erschließung eines theologischen Feldes – ein Werkzeugkoffer für Religionslehrer/innen, JaBuKi 12 (2013), 88–93.

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Religionspädagogische Anregungen

fruchten sich also gegenseitig ein Theologisieren von, für und mit Jugendlichen. Auf einer Metaebene ist es erhellend, nach möglichen Gründen für die unterschiedliche Herangehensweise von den Jugendlichen und von Luther zu suchen. Meist wird die Lehrkraft gefordert sein, solche möglichen Gründe zu benennen und zur Diskussion zu stellen (siehe unten Unterrichtsbeispiel zur Frage 1). Die klare Strukturierung bei Luther regt auch dazu an, nach einer eigenen Metastruktur für sich selbst zu suchen. Damit die Gesamtarchitektur der Thesen Luthers trotz des selektiven Arbeitens verständlich wird, muss die Lehrkraft sie darstellen und erläutern. Dabei kann die Visualisierung in M 3 verwendet werden. Mit ihr kann auch gezeigt werden, zu welchem Teil der Argumentation Luthers die exemplarisch bearbeiteten Fragen gehören. Praktisch wurde so vorgegangen, dass M 1 in der Mitte um zwei Spalten erweitert und auf ein DIN A3-Arbeitsblatt kopiert wurde, so dass folgendes Schema entstand10: Fragen

Antworten der Jugendlichen

Vergleich: Jugendliche – Luther

Auszüge aus Luther: de homine

Dieses Blatt wurde in der Mitte senkrecht gefaltet, so dass Luthers Antworten zunächst nicht im Blick waren.

sen sich der Natur an. b) Der Mensch beherrscht die Natur und passt sie an seine Lebensart an. c) Der Mensch denkt über sein Handeln nach, das Tier handelt nach Instinkten. Zumindest denkt der Mensch anders, falls man dem Tier ein Denken zusprechen möchte. (Unterschiedliche Ansichten wie es bei den Tieren ist. Tiere haben nicht umsonst ein Gehirn! Sind Haustiere noch einmal gesondert zu betrachten?) d) Unterschiede in Körperbau, Aktivitäten, Sprache, Feinmotorik, z.B. Greifen, Mimik, Körperhaltung. Menschen sind Zweibeiner, Tiere haben 4, 6, 8 Beine. e) Seele, ist für den Menschen sehr wichtig, auch wenn es durchaus sein kann, dass auch Tiere eine Seele haben. Es bleibt allerdings offen, ob die Seelen unterschiedlich sind. Vergleich mit Luthers Position: Die Vernunft wird als Begriff von den Jugendlichen nicht genannt. Sie haben Konkreteres beschrieben. Einiges könnte man unter dem Begriff »Vernunft« zusammenfassen, aber mit einer solchen abstrakten Begrifflichkeit wurde nicht gearbeitet. Dies kann Anlass sein, auf einer Metaebene zu fragen, warum die Jugendlichen und Luther den Menschen nicht nur inhaltlich anders vom Tier abgrenzen, sondern warum sie auch eine unterschiedliche Sprache verwenden. Luther bedient sich der Denkmuster der Philosophie. Die Lehrkraft kann erläutern, dass die aristotelische Beschreibung des Menschen als »animal rationale« die

Beispiele aus dem Klassenzimmer

Frage 1: Was unterscheidet den Mensch vom Tier? Antworten der Jugendlichen: a) Tiere leben mit der Natur, sie verändern sich, sie pas-

10 Dieses Blatt kann als M 2 heruntergeladen werden: siehe www.calwer.com → JaBuJu 3→ kostenloser Download. Es ist als Worddatei eingestellt, so dass es leicht auf die für den Unterricht ausgewählten Fragen gekürzt werden kann.

Büttner / Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

Antike und das Mittelalter wie selbstverständlich geprägt hat. Deswegen ist diese Philosophie die weitgehend unhinterfragte Bezugswissenschaft. Und welche Bezugswissenschaften kann man hinter den Schülerantworten vermuten? Die Antworten a) bis d) greifen auf biologische Einsichten zurück, Antwort e) könnte zwischen einer Alltagspsychologie und einer Alltagsspiritualität liegen. Der Gewinn einer solchen Reflexion kann für die Anthropologie-Einheit zentral sein. Es wird nämlich deutlich, wie bestimmend die Wahl der Bezugswissenschaft für die Herangehensweise ist. Gleichzeitig kann mit dem Begriff der Bezugswissenschaft die mehrperspektivische Zugangsweise in den Bildungsplänen und damit im Unterricht wahrgenommen und verstanden werden. Frage 9: Welche Rolle spielt die Sünde (und in ihrer Konsequenz der Tod) bei der theologischen Definition des Menschen? Antworten der Jugendlichen: a) Durch den Sündenfall fingen sie an, nicht unbedingt böse zu sein, aber Dinge zu tun, die Gott nicht gut findet. Konsequenz: Sie sind böse untereinander. Menschen tun böse Dinge (konkrete Taten), das ist mit Sünde gemeint. Aus der Sünde soll man lernen, man soll Fehler einsehen – b) Nach (und vor) der Sintflut steht geschrieben: Menschen sind von Grund auf bzw. von Jugend auf böse. Deutlich wird: Die meisten Jugendlichen vertreten einen moralischen Sündenbegriff, der auf einzelne Taten fokussiert und der nach Veränderungsmöglichkeiten durch die handelnden Menschen fragt. Nur eine junge Frau thematisiert mit Hilfe der Rahmung der

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Sintflutgeschichte einen Machtcharakter der Sünde, dem sich der Mensch nicht entziehen kann. Vergleich mit Luthers Position: Helen formuliert aus dem Vergleich mit Luther heraus: »Wenn man versuchen würde, es zu ändern, das würde ja gar nicht gelten, weil man von Grund auf böse ist, man würde sich selbst anlügen, es wäre ›Selbstverarschung‹.« Diese für das Sündenverständnis und damit für die Anthropologie entscheidende Spannung habe ich in der nächsten Stunde nochmals in die Klasse eingegeben. Dabei entstand folgendes Gespräch: Michael: »Der Luther klingt jetzt doch a bissel besser für die Menschen. Da heißt es eher, dass die Menschen Opfer sind, die darunter leiden müssen, die nichts dafür können. Und bei uns selber wird es so dargestellt, dass wir schon ein Stück weit etwas dafür können. […] [kehrt im späteren Gesprächsverlauf noch mal zu seinem Gedanken zurück.] Es ist immer besser, wenn man am Unfall beteiligt war, aber wenn es heißt: ›Er konnte nichts dafür!‹, wie wenn es heißt: ›Er hat den Unfall verursacht.‹« José: »Andererseits, das was wir auf die Beine gestellt haben, bedeutet, dass wir selbst etwas dafür tun können, dass wir nicht mehr so böse sind. Und nach Luther können wir gar nichts dagegen tun, es trifft uns einfach.« Manuela: »Durch den Fall Adams sind wir vom Paradies ausgeschlossen. Dann können wir doch was dafür! […] Allgemein, der Mensch halt.« Michael: »Ne, weil der Teufel dazu verführt hat. Indirekt verstehe ich das so, dass wir gar nichts dafür können, [sondern] dass der Teufel daran schuld ist, weil er eine

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Religionspädagogische Anregungen

so große Macht hat, so dass Adam nicht hätte widerstehen können.« Helen: »Ich meine schon, dass wir was dafür können. Eva ist von der Schlange verführt worden, aber letztlich war das ihre Entscheidung.« Manuela: »Hätt sie a bissel mehr Vernunft gezeigt, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.« Lehrer: »Gibt es noch Vorteile bei Luther? […]« Helen: »Weil sie alle gleich sind, es steht niemand über ihnen drüber.« Tanja: »Vom König erwartet man eigentlich: Das, was er macht, ist gut. Und wenn man dann sieht, dass diese Person auch ihre Fehler hat, das ist beruhigend. Wenn man sieht, dass es nicht nur allein ich bin, der es nicht kann«.

Bei diesem auch für die Bildungspläne zentralen Thema fällt auf: – Die Chancen der Position Luthers werden gesehen bzw. getestet (Michael: Wie fühlt man sich nach einem Unfall? Tanja: Alle sind gleich.), dann aber auch zum Teil wieder verworfen: – Einige halten an der eigenen Sicht fest bzw. kehren zu ihr zurück, dass Autonomie wichtig ist und möglich sein muss. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Bezugswissenschaft – bei Luther die Philosophie – und die Theologie nicht als unterschiedliche Zugänge zur Wirklichkeit gesehen werden, die dann auch in der Frage der Autonomie zu unterschiedlichen Antworten kommen können, ohne dass man diese harmonisieren muss. Im Sinne der strukturgenetischen Entwicklung können die Schüler/innen – nicht unerwartet – eine »komplementäre« Sichtweise im Sinne Luthers wohl noch nicht erreichen.

Frage 10: Welches »Gegenmittel« gibt es gegen die Sünde aus der Sicht des christlichen Glaubens? Antworten der Jugendlichen: a) Glauben, beten, also fromm leben. b) Sich an die 10 Gebote halten. c) Beichte zu Gott und Einsicht, dass man Sünde begangen hat. Sich entschuldigen. Vergleich mit der Position Luthers: Luisa: »Wir haben den Glauben nicht direkt mit Jesus Christus verbunden. Wir haben nur das Wort glauben.« Helen: »Die Einschränkung auf Jesus Christus hän mir net drin.« Luisa: »Des mit dem ewigen Leben hen mir au net.« – Insgesamt verstehen sie den Glauben eher als eine Aktivität, die vom Menschen ausgeht, und nicht als eine im Glauben an Jesus Christus geschenkte Befreiung. Hier dürften ähnliche Überlegungen zur Autonomie gelten wie bei der Frage 9. 5. Die Arbeit mit »De homine« als Teil des gesamten Kursstufenunterrichtes

Die kurzen Ausschnitte aus dem Unterricht zeigen, dass auch eine selektive Auseinandersetzung mit wenigen Thesen von »De homine« den Jugendlichen Gelegenheit gibt, sowohl ihre eigene Position zu konturieren als auch eine prägnante und klassische theologische Position besser zu verstehen. Da der Aufbau einer mehrperspektivischen Sicht auf die Wirklichkeit immer wieder der Übung bedarf11, ist es naheliegend, mehrfach 11 Vgl. grundlegende Ausführungen dazu in: Veit-Jakobus Dieterich, Schöpfung und Natur im Religionsunterricht, in: Glauben und Lernen 1/2008, bes. 85–93.

Büttner / Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

während des Kursstufenunterrichts auf »De homine« Bezug zu nehmen. In der oben beschriebenen Klasse fand die Erstbegegnung mit dem Text zu Beginn der Anthropologie-Einheit in der 12. Klasse statt. Gegen Ende der Schulzeit verlangte der Bildungsplan in Klasse 13 in der Christologie-Einheit, die Bedeutung Jesu Christi für die Gegenwart an einem gesellschaftlichen Problem zu beurteilen. Dazu wurde auf M 3 zurückgegriffen und die schon in einer Zukunftseinheit erarbeitete Bedeutung von Arbeit bei Adam Smith (Vorteilstausch im Marktgeschehen) und das Berufsverständnis von Luther herangezogen. Die Jugendlichen bearbeiteten die Frage, welchen Unterschied es macht, wenn man die Vorstellungen von Smith und Luther bezüglich der Arbeit dem Bereich der Bezugswissenschaft oder der Theologie (bzw. einer anderen letzten Sinnorien-

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tierung) zuordnet. Die jungen Erwachsenen fanden z.B. heraus, dass die Ideen von Adam Smith eine fast totalitäre Wirkung entfalten können, wenn sie bei den letzten Sinnorientierungen verortet werden. Auch konnte mit diesem Schema gut bedacht werden, welche Folgen es hat, wenn man nur von einem Wirklichkeitsbereich ausgeht. Es ist also eine Chance, einen grundlegenden Systematisierungsvorschlag wie den von Luther mehrfach heranzuziehen, damit die Jugendlichen immer wieder Anregungen aufnehmen können, um das eigene Wirklichkeitsverständnis klarer zu formulieren. Zwar nicht sehr oft, aber doch vereinzelt kamen sie während des Unterrichts auch von sich aus auf die doppelte Wirklichkeitssicht Luthers zu sprechen.

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Religionspädagogische Anregungen

M 1 Was ist der Mensch? – Fragen zu Luthers »Disputatio de homine« Fragen 1. Was unterscheidet den Menschen vom Tier?

Auszüge aus Luther: »Disputatio de homine« 1. Die Philosophie (als) die menschliche Weisheit, definiert, der Mensch sei ein vernunftbegabtes, sinnenhaftes, körperliches [mit den Tieren zusammengehöriges] Lebewesen. 6. So dass sie [die Vernunft] von da aus mit Recht der wesentliche Unterschied genannt werden muss, durch den begründet wird, dass der Mensch sich von den Tieren und den anderen Dingen unterscheidet. 2. Welche Aspekte des Menschen 3. Diese Definition definiert nur den sterblichen werden mit dieser Definition [Menschen] und [das heißt] den Menschen dieses [ir(nicht) erfasst? dischen] Lebens. 3. Welche Rolle soll die Vernunft 4. Und tatsächlich ist es wahr, dass die Vernunft die bei dieser Definition spielen? Hauptsache [caput, lat. »Kopf«] von allem ist und von allen übrigen Dingen dieses Lebens das Beste und etwas Göttliches. 5. Sie ist die Erfinderin und Lenkerin aller [freien] Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Ruhm von Menschen besessen wird. 9. Und auch nach dem Fall Adams hat Gott der Vernunft diese Majestät nicht genommen, sondern vielmehr bestätigt. 4. Welche Rolle weist die Bibel 7. Auch die Heilige Schrift setzt sie als eine solche der menschlichen Vernunft zu? Herrin über die Erde, die Vögel, die Fische, das Vieh ein, indem sie sagt: »Herrscht!« usw. 8. Das heißt, sie soll eine Sonne und eine göttliche Macht sein, gegeben, um diese Dinge in diesem Leben zu verwalten. 5. Kann die Vernunft a) die 14. Denn als zweckhafte [Ursache] setzt sie [= die VerUrsache aller Dinge in Gott nunft] keine andere als den Frieden dieses Lebens, und b) das Ziel unseres Lebens und sie weiß nicht, dass die wirkende [Ursache] Gott erkennen? der Schöpfer ist. 6. Wer verursacht unsere Gedan- 18. Und was beklagenswert ist: Nicht einmal über ken? sein Entschließen oder seine Gedanken hat er volle und gewisse Macht, sondern ist in ihnen dem Zufall und der Nichtigkeit unterworfen. 7. Wie ist insgesamt eine »Defi19. Aber wie dieses Leben ist, so ist auch die Defininition« des Menschen durch die tion und Erkenntnis des Menschen, nämlich: dürftig, Vernunft zu bewerten? nicht greifbar und allzu stofflich.

Büttner / Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

8. Wie definiert die Theologie den Menschen?

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20. Die Theologie hingegen definiert aus der Fülle ihrer Weisheit den ganzen und vollständigen Menschen. 21. Nämlich, dass der Mensch Gottes Geschöpf ist, das aus Fleisch und einer lebendigen Seele besteht, vom Anfang an zum Bild Gottes gemacht ohne Sünde, dass er sich vermehre und über die Dinge herrsche und niemals sterbe. 9. Welche Rolle spielt die Sünde 22. Aber nach dem Fall Adams der Macht des Teufels (und in ihrer Konsequenz der unterworfen, der Sünde und dem Tod, beides Übel, Tod) bei der theologischen Defi- die durch seine Kräfte nicht zu überwinden und ewig nition des Menschen? sind. 25. So dass der ganze Mensch und jeder, gleichgültig ob er König, Herr, Knecht, weise, gerecht ist und durch welche Güter dieses Lebens er auch immer herausragen kann, trotzdem der Sünde und des Todes schuldig [hier im Sinne von: »unterworfen«] sei und bleibe, vom Teufel unterdrückt. 10. Welches »Gegenmittel« gibt 23. Und dass [das Geschöpf] nur durch den Sohn es gegen die Sünde aus der Sicht Gottes, Christus Jesus, (wenn es an ihn glaubt) bedes christlichen Glaubens? freit und mit der Ewigkeit des Lebens beschenkt werden kann. 11. Welche Rolle bleibt der Ver- 24. Unter diesen Umständen ist jene allerschönste nunft nach dem »Sündenfall«? und ausgezeichnetste Hauptsache, als die die Vernunft nach dem Sündenfall geblieben ist [und für die nach wie vor These 5 gilt], dennoch, so muss gefolgert werden, unter der Macht des Teufels. 26 + 27. Daher philosophieren diejenigen gottlos gegen die Theologie, die sagen […], indem der Mensch tue, was in seinen Kräften steht, könne er Gottes Gnade und das Leben verdienen. 12. Wenn die Möglichkeiten der 35. Daher ist der Mensch dieses Lebens Gottes bloßer Vernunft – theologisch gesehen Stoff für das Leben in seiner zukünftigen Gestalt. – deutlich eingeschränkt sind 36. Wie auch die ganze Kreatur, die jetzt der Nich(so Luther), kann das eigentliche tigkeit unterworfen ist, für Gott der Stoff ist für ihre Wesen des Menschen nur von herrliche künftige Gestalt. Gott aus erkannt werden. Wel37. Und wie Erde und Himmel im Anfang gewesen che Aussagen über die Zukunft ist im Verhältnis zu der nach sechs Tagen vollendeten des Menschen lassen sich theolo- Gestalt, nämlich als deren Stoff. gisch machen? 38. So ist der Mensch in diesem Leben im Verhältnis zu seiner künftigen Gestalt, wenn das Bild Gottes wiederhergestellt und vollendet worden sein wird.

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Religionspädagogische Anregungen

M 3 Martin Luther: »Disputatio de homine« (Disputation über den Menschen), 1536

Büttner / Kumpf Theologisieren mit einem Klassiker – Luthers »Disputatio de homine«

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Anke Kaloudis »Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken.«1 – Biblische Texte mit religionsphilosophischen Begriffen öffnen 1. Die Bibel im Religionsunterricht

Die folgenden Gedanken basieren auf einer Unterrichtseinheit zum Thema Anthropologie in der Oberstufe.2 Ziel der Beschäftigung mit der Frage »Was ist der Mensch?« ist die Begegnung mit und die Deutung der biblischen Genesiserzählung von Adam und Eva durch die Schüler und Schülerinnen. Aber: Wie kann das passieren? Wie umgehen im Religionsunterricht mit biblischen Texten, mit der Bibel, dem Buch der Bücher, das die größte Verbreitung weltweit genießt? Für Jugendliche ist die Bibel ein lebensfernes Buch, abgelegt auf dem Regal hinter anderen Büchern, eine nette Erinnerung an die Konfirmation. Die Sprache ist befremdlich, die Inhalte schwer nachzuvollziehen. Die Verführung durch den »Apfel« der Schöpfungserzählung ruft bei Jugendlichen lediglich die Assoziation mit Ihrem Apple-Computer hervor. »Erfahrungen im unterrichtlichen Umgang mit der Bibel als Lerngegenstand geben zu erkennen, dass sich in der Voreinstellung von Schüler/innen die Bibel vom Autoritätssymbol vielfach zum Symbol von Langeweile gewandelt hat.«3 Auch die für Jugendliche ins Leben gerufene Volxbibel vermag an der Bibelmüdigkeit junger Menschen nichts zu ändern. Trotzdem bleibt es die Aufgabe von Religionslehrkräften, biblische Texte im Unterricht zu behandeln

und für eine Begegnung von Text und Lernenden zu sorgen. Im religionspädagogischen Diskurs wurde die Debatte um die Bibeldidaktik4 in der Vergangenheit vor allem durch Ingo Baldermann5 und Horst Klaus Berg6 bestimmt. Baldermann bezieht seine Überlegungen schwerpunktmäßig auf die Grundschule, Berg hat hauptsächlich die Sekundarstufe vor Augen. Beiden Didaktikern geht es vor dem Hintergrund des Relevanzverlustes der Bibel um eine Aneignung ihrer Texte und Inhalte vom Subjekt her – entgegen einer starren Vermittlungsdidaktik. 1 Anke Kaloudis, »Auf der Grenze«. Unterrichtspraktische Überlegungen zur Anthropologie in der gymnasialen Oberstufe mit Paul Tillich, in: Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie, Bd. 19, Kassel 2012, 319. 2 Wesentliche der hier ausgeführten Gedanken sind zu finden in Anke Kaloudis (wie Anm.1). 3 Friedrich Johannsen, Bibeldidaktik – biblische Didaktik elementar, in: Harry Noormann / Ulrich Becker / Bernd Trocholepczy (Hg.), Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik, Stuttgart 32007, 165. 4 Vgl. hier: Friedrich Johannsen (wie Anm.3), 165ff. 5 Vgl. hier zum Beispiel: Ingo Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt, 1996 und ders., Gottes Reich – Hoffnung für Kinder. Entdeckungen mit Kindern in den Evangelien, in: Wege des Lernens, Bd. 8, Neukirchen-Vluyn 21993. 6 Vgl. hier zum Bespiel: Horst Klaus Berg, Grundriss der Bibeldidaktik. Konzepte, Modelle, Methoden, München / Stuttgart, 1993.

Kaloudis Biblische Texte mit religionsphilosophischen Begriffen öffnen

Der hier vorgeschlagene Weg, im Religionsunterricht mit der Bibel zu arbeiten, versteht sich als eine Möglichkeit, die fremd gewordene Welt des Alten und Neuen Testamentes zu öffnen. Er stellt eine Variante dar, bibeldidaktisch zu arbeiten und greift den Gedanken der Subjektorientierung auf. Dabei lehnt er sich an Wolfgang Klafkis kategoriale Bildungstheorie an. Mit Hilfe von Kategorien sollen die Schüler und Schülerinnen Lerngegenstände selbst erschließen. Für den im Folgenden skizzierten Unterrichtsprozess in der Oberstufe heißt das, dass der Zweite Schöpfungsbericht in Gen 2,4bff als Lerngegenstand durch religionsphilosophische Grundkategorien geöffnet wird, die der Religionsphilosophie Paul Tillichs entnommen sind. Bevor näher auf die Unterrichtssequenz eingegangen wird, soll in kurzen Ausführungen der Gedanke der kategorialen Bildung nach Wolfgang Klafki erläutert werden. 2. Erschließung von Lerngegenständen durch Kategorien

Bildung hat damit zu tun, dass dem Lernenden etwas mit Hilfe eines Lerngegenstandes deutlich wird. Der Lerngegenstand wird plausibel. Er öffnet sich für den Betrachter. Gleichzeitig setzt beim Betrachter ein Lernvorgang ein. Wolfgang Klafki spricht von der doppelseitigen Erschließung im Bildungsprozess: »[…] Bildung ist Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen (objektiver Aspekt), aber das heißt zugleich: Erschlossensein dieses Menschen für diese seine Wirklichkeit (subjektiver Aspekt).«7

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Wie öffnet sich ein Lernstoff für die Außenstehenden? Wolfgang Klafki beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf elementare Inhalte oder Kategorien. Sie können dem Lernenden neue Lernstoffe erschließen. Sie dienen als Schlüssel dazu, die Welt um sich herum zu erkennen und zu verstehen, sie einzusortieren, zu ordnen und miteinander zu vergleichen. Wolfgang Klafki schreibt dazu: »Die bildende Wirkung der am Konkreten gewonnenen allgemeinen Inhalte ist eben die, dass sie nicht äußere Maßstäbe bleiben, die an die ›Welt‹ angelegt werden, sondern dass sie – als Grundformen des Anschauens, Denkens, Erlebens, Wertens – Wesensmomente des Gebildeten selbst werden, ›Kategorien‹ künftiger Begegnung des Menschen mit der ›Welt‹ und sich selbst.«8 Kategorien sind also allgemeine Inhalte oder Begriffe, die dem Menschen als Handwerkszeug dazu dienen, Dinge und Zusammenhänge zu verstehen. Die kategoriale Erschließung der Welt erfolgt über den Lernenden, der in der Begegnung mit dem Lernstoff Kategorien ausbildet, die ihm wiederum dazu dienen, andere Lernstoffe zu durchdringen. Wenn ein Schüler z.B. durch die Begegnung mit der christlichen Religion reflektiert und verstanden hat, was der christliche Gottesbegriff beinhaltet, ist er in der Lage mit Hilfe dieses Gottesbegriffes andere Glaubensweisen zu untersuchen und zu analysieren. Er dient ihm als Schlüssel, fremde religiöse Kontexte aufzuschließen und zu verstehen. Der 7 Wolfgang Klafki, Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim 1957, 297f. 8 Wolfgang Klafki (wie Anm. 7), 34f.

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christliche Gottesbegriff fungiert als eine religiöse Kategorie, mit Hilfe derer andere Religionen gedeutet werden können. Gibt es z.B. im Islam den Gedanken der Offenbarung und wenn ja, wie offenbart sich Gott dort? Hat er menschliche Züge oder nicht? Was bedeutet dann der islamische Gottesgedanke für die Glaubenspraxis und die Religion an sich? usw. Der Gedanke der Erschließung von Lerngegenständen über elementare Kategorien lässt sich auf den Religionsunterricht applizieren. Als Lerngegenstand können z.B. biblische Texte fungieren, die mit Hilfe von anderen – in dem hier beschriebenen Fall von religionsphilosophischen – Begriffen »geknackt« und gedeutet werden. Evident ist dabei, dass die Öffnung von biblischen Texten entlang elementarer Kategorien immer auch an die jeweilige Hermeneutik der Lernenden geknüpft ist. Die Deutung von Geschichten des Alten und Neuen Testamentes erfolgt auch über ihre gedanklichen Muster. Das wird in der folgenden Unterrichtssequenz deutlich. 3. Zur Unterrichtssequenz … Öffnung des Zweiten Schöpfungsberichtes mit Hilfe von religionsphilosophischen Kategorien 3.1 Einblicke in den Unterricht

Die Bearbeitung des Zweiten Schöpfungsberichtes als einer Unterrichtssequenz erfolgt im Rahmen der Unterrichtseinheit zum Thema Anthropologie / Was ist der Mensch?. Die Einheit hat unterschiedliche Schwerpunkte. Zuerst geht es darum, sich die anthropologischen Grundaussagen zu erschließen, die Paul Tillich

vor dem Hintergrund der biblischen Schöpfungsgeschichte entfaltet. Hilfreich ist dabei das vom Evangelischen Verlagswerk in Stuttgart herausgegebene Bändchen »Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs« von 1962. Es enthält unterschiedliche Aufsätze, in denen Paul Tillich die Frage nach dem Wesen des Menschen beantwortet9: Er kann über sich selbst hinausgehen und nach Gott fragen. Er steht deshalb auf der Grenze: »Denn die Grenzsituation des Menschen ist gerade darum möglich, weil er nicht eins ist mit seiner vitalen Existenz. Sie ist darum möglich, weil der Mensch als Mensch über seiner vitalen Existenz steht, weil er gebrochen ist in seinem unmittelbaren Dasein.«10 Der Mensch ist nach Paul Tillich jemand, der über sich hinaus fragt, weil er mit seiner Existenz, seinem realen Leben, nicht in eins ist. Er geht darin nicht auf. Es treibt ihn darüber hinaus. Seine Existenz, sein vorfindliches Leben, ist uneigentlich. Seine Eigentlichkeit liegt in seinem essentiellen und wahren Sein, von dem er getrennt und entfremdet ist: »[…] der Mensch als ein Existierender ist nicht, was er essentiell ist und darum sein sollte. Er ist von seinem wahren Sein entfremdet. Die Tiefe des Begriffs »Entfremdung« liegt darin, daß man essentiell zu dem gehört, wovon man entfremdet ist. […] Entfremdung ist kein biblischer Begriff, aber er ist in den meisten biblischen Beschreibungen der menschlichen Situation enthalten, so z.B. in der Erzählung 9 Als besonders hilfreiche Aufsätze sind hier zu nennen: Auf der Grenze; Die protestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart; Entfremdung und Sünde. 10 Paul Tillich, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs, Stuttgart 1962, 116.

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von der Austreibung aus dem Paradies …«11 Der Mensch lebt als ein Existierender entfremdet von dem, was er eigentlich ist und sein soll. Er lebt – um es mit Worten der Bibel zu sagen – in Sünde und von Gott getrennt. Aber er gehört zu dem, wovon er entfremdet ist. Die Beschäftigung mit Paul Tillich hat zum Ziel, dass die Schüler und Schülerinnen unterschiedliche anthropologische Begriffe deuten können: Existenz, Essenz und Entfremdung. Mit Hilfe dieser drei Begriffe können Grundaussagen über die Beschaffenheit des Menschen getroffen werden. Sie dienen im Fortgang der Unterrichtseinheit als religionsphilosophische Grundkategorien, die helfen sollen, den Genesistext zu öffnen. Die Auseinandersetzung mit der Position von Paul Tillich erfolgt einerseits über offene Gesprächsrunden, die einen möglichst nahen Schülerbezug gewährleisten. Andererseits arbeiten die Jugendlichen auf schriftlicher und textlicher Basis. Im Vorfeld ist die Kursgruppe mit Hilfe eines Referates über Paul Tillich informiert worden. Die gesamte Unterrichtseinheit umfasst vier thematische Blöcke, in denen die Gesprächsrunden eine besondere Bedeutung haben. Deshalb wird bei der Auflistung der einzelnen Unterrichtssequenzen darauf besonders hingewiesen. 1. Unterrichtssequenz zum Thema Der Mensch auf der Grenze. Das methodische Vorgehen im Gespräch lässt sich folgendermaßen beschreiben: Ausgangsfrage → »Wir beschäftigen uns jetzt mit dem Thema »Anthropologie«: Was ist der Mensch? Was macht ihn aus? Was würden Sie sagen?« Im Verlauf des Gespräches kann die Fragestellung mit Hilfe einer Aussage von Tillich angereichert

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werden: »Schwierigkeiten in der Bewältigung der Wirklichkeit bewirkten früh eine Abdrängung in die Phantasie.«12 (Paul Tillich, Auf der Grenze, S. 20) Als Hausaufgabe erhalten die Schülerinnen und Schüler den Auftrag, ein Essay zu verfassen zur Fragestellung: »Hilft mir meine Phantasie in meinem wirklichen Leben?« 2. Unterrichtssequenz zum Thema Existenz. Auch in dieser Sequenz spielt das Unterrichtsgespräch eine große Rolle. Möglicher Impuls der Lehrkraft: »Wir beschäftigen uns heute mit Ihren Essays und der Frage nach Wirklichkeit und Phantasie. Was meinen Sie: Wo brauchen wir Phantasie im Leben? Oder reicht die Wirklichkeit aus?« Das Unterrichtsgespräch wird ergänzt durch die Aussage von Paul Tillich: »Die Grenzsituation ist gerade darum möglich, weil er [der Mensch] nicht eins ist mit seiner vitalen Existenz.«13 3. Unterrichtssequenz zum Thema Essenz. Wesentlich im Unterrichtsgespräch ist der Satz Tillichs: »Der Mensch als existierender ist nicht, was er essentiell ist und darum sein sollte.«14 Es geht hier darum, die Beziehung und den Unterschied von Essenz und Existenz im Sinne von Paul Tillich herauszuarbeiten. 4. Unterrichtssequenz zum Thema Deutung des Zweiten Schöpfungsberichtes mit Hilfe religionsphilosophischer Kategorien. Ziel der Sequenz ist es, die Genesiserzählung von Adam und Eva mit Hilfe der Termini Tillichs zu lesen und zu öff11 Paul Tillich (wie Anm. 10), 83f. 12 Ebd., 20. 13 Paul Tillich, Die protestantische Verkündigung, 116. 14 Paul Tillich, Entfremdung und Sünde, 83ff.

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Religionspädagogische Anregungen

nen. Wesentlich sind hierbei die Begriffe: Existenz, Essenz und Entfremdung. Auch hier spielt das Unterrichtsgespräch eine hervorgehobene Rolle. Bevor die Lernenden in ein Gespräch eintreten, wird die Genesiserzählung gelesen. Mögliche Ausgangsfragen für den Diskurs sind: »1. Wie würden Sie das Paradies beschreiben? Wie die Welt außerhalb des Paradieses? 2. Haben Sie eine Idee, warum das Paradies Paradies genannt wird? 3. Überlegen Sie, ob und wie Ihnen der Ansatz von Paul Tillich bei der Deutung des Schöpfungsberichtes helfen kann.« Ein möglich weiterführender Impuls im Unterrichtsgespräch kann der Satz Tillichs sein: »Der Zustand der Existenz ist der Zustand der Entfremdung.«15 Folgender Auszug aus dem in der vierten Sequenz stattgefundenen Unterrichtsgespräch zeigt, wie die Lernenden die Begriffe der Existenz, Essenz und Entfremdung auf den Genesistext anwenden.16 Im Folgenden werden die Schüler und Schülerinnen mit der Abkürzung S… wiedergegeben, die Lehrkraft mit L1. Das Gespräch setzt mit einer Zusammenfassung einer Schülerin von vorhergehenden Gruppengesprächen ein. SB: Also wir haben unterschieden, im Paradies gibt’s keinen Schmerz, man hat keinen Durst, keinen Hunger, uns geht es gut. Man ist unsterblich, man hat ein umfassendes Wissen, aber man ist auch neugierig und will mehr erleben und wissen, was es noch gibt. Außerhalb muss man ums Überleben kämpfen, weil man auch sterben kann, und muss arbeiten, und man hat Schmerzen und auch Hunger. Dann haben wir uns gefragt, ob es heute ein anderes Paradies gibt als damals, und dass das Paradies

für jeden anders ist … Und dann haben wir daraus geschlossen, dass das Paradies beschränkt sein muss, und dann gab es in der Bibel die Stelle, wo stand, dass das Paradies von vier Flüssen abgegrenzt wurde und das haben wir dann so definiert, dass man innerhalb von diesen Flüssen leben kann und außen herum haben wir uns nur die Wüste vorgestellt, weil ja auch in den weiteren Bibelgeschichten … die finden meistens in der Wüste statt und da ist es trocken. Dann haben wir uns gefragt, wo das Paradies ist, ob es nach dem Leben ist oder doch nur in unserer Phantasie. L1: Ja, viel haben Sie zusammen getragen. Das sind gute und wichtige Gedanken. Ich möchte an einer Sache weiter denken, und zwar haben Sie gesagt, auf der einen Seite ist es im Paradies gut. Da gibt es die Flüsse, da ist Wasser, da ist irgendwie alles leichter, und außerhalb des Paradieses muss man arbeiten, da gibt es Schmerzen bei der Geburt usw. Paul Tillich hat einen Satz gesagt. Er hat gesagt: Die Existenz ist der Zustand der Entfremdung. Wie verstehen Sie diesen Satz? Wenn Sie vergleichen, was ist das Paradies vorher und nachher? Die Existenz ist der Zustand der Entfremdung? Fraglich ist erst einmal: Was ist Entfremdung? Kennen Sie diesen Begriff? Wenn ich mich von jemandem entfremde, was kann das bedeuten? Wie wäre es vorher und wie danach? SG: Ist Entfremdung nicht … ich dachte eben, wenn man sich nicht mehr so gut versteht und dann wird man fremd. SK: Man geht auf Abstand. SV: Ja. Dann entfremdet man sich ja im Paradies auch. SV: Ja, im Paradies ist ja alles nur gut und wenn man dann ins Böse gelangt, dann 15 Ebd. 16 Der Gesprächsauszug ist entnommen aus: Anke Kaloudis (wie Anm. 1), 361–363.

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entfremdet man sich ja dem Guten. Man gelangt ja dadurch, durch die Entfremdung, ins Böse. L1: Wie können Sie das noch beschreiben? Was passiert in der Geschichte? Was findet da statt? SV: Ja, da, wo die verbannt werden, das ist dann die Entfremdung vom Paradies in die Außenwelt. L1: Und wenn er sagt, der Zustand der Entfremdung … oder die Existenz ist der Zustand der Entfremdung, was würde dann Tillich sagen, was die Existenz meint? SK: Ich würde sagen, die Existenz ist praktisch der Zustand, wo wir als Personen merken, dass wir vom Guten weg sind. SK: Vom Paradies. L1: Und das ist die Existenz nach Tillich. Und haben Sie eine Idee, was er dann unter Essenz meinen könnte? SE: Das Gute. SV: Die Essenz ist das, was im Paradies bleibt. L1: Hm. Und jetzt haben Sie ja in der letzten Stunde immer schon gesagt, der Mensch ist Existenz und hat irgendwie doch Essenz. Wie kann man sich das erklären? SK: Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken. SK: Weil jeder von uns hat ja Essenz. SE: Wir sind ja auch nicht böse, nur weil wir existieren und nicht im Paradies sind. Ich meine, wenn wir böse wären, könnten wir hier gar nicht sitzen und so normal miteinander reden. SG: Ja. Dadurch haben wir auch Bedürfnisse, weil die Essenz mit dem kleinen Anteil von Paradies in uns zeigt, wie es ist, wenn alles gut ist. L1: Jeder von uns möchte, glaube ich, wieder ins Paradies zurück oder in ein Paradies. SK: Ja. SV: Das Paradies steckt bei uns in der Seele.

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3.2 Auswertung der Unterrichtssequenz

Deutlich wird an dieser kurzen Gesprächssequenz, wie die Schüler und Schülerinnen die wortwörtliche Bedeutung des Paradieses als eines fest umrissenen und von vier Flüssen umgrenzten Ortes verschränken mit der metaphorischen Bedeutung des Paradieses als einem Zustand, wo es dem Menschen gut geht. Beide Betrachtungsweisen schwingen zu Beginn des Gespräches mit und sind vielleicht von alten Kindheitsvorstellungen angereichert. Durch die religionsphilosophischen Begriffe von Tillich erhält die Deutung der Geschichte einen anderen »Drive«. Sie wirken zwar erst einmal befremdlich im Geflecht der lutherischen Terminologie, eröffnen den Jugendlichen dann aber einen anderen hermeneutischen Blick. Die Schüleräußerungen – »Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken.« … »Ja. Dadurch haben wir auch Bedürfnisse, weil die Essenz mit dem kleinen Anteil von Paradies in uns zeigt, wie es ist, wenn alles gut ist.« … Das Paradies steckt bei uns in der Seele.« – machen deutlich, wie die Jugendlichen den Inhalt der Genesiserzählung auf ihr Leben beziehen. Vom bloßen Beschreiben des Paradieses als einem umgrenzten Bereich wird die Brücke geschlagen zur eigenen Persönlichkeit. Jeder Mensch trägt demnach die Ahnung in sich, dass er mehr ist als das, was er ist. Paul Tillich sagt, der Mensch gehört essentiell zu dem, wovon er entfremdet ist. Oder aber: Der Mensch steht auf der Grenze. Die Schüler und Schülerinnen haben begriffen, dass der Zweite Schöpfungsbericht nicht etwas beschreibt, was vor ewiger Zeit passiert ist, sondern dass er im übertragenen Sinn

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Religionspädagogische Anregungen

deutlich macht, was den Menschen kennzeichnet und ihn ausmacht – auch heute in der Gegenwart. Natürlich kann die Systematische Theologie und Dogmatik die Richtigkeit der Schüleräußerungen bezweifeln. Und bei weitem stellen die Gesprächsergebnisse des Unterrichtes nicht alles dar, was zum Thema der Anthropologie und Sündenfallgeschichte gedacht und gesagt werden kann. Äußerungen wie »Das Paradies steckt bei uns in der Seele.« dürfen auch nicht vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Fehlerfreiheit interpretiert werden. In der Unterrichtssequenz geht es in erster Linie darum, dass Jugendliche einen Bezug zum Schöpfungsbericht der Bibel gewinnen und seine Aussagen auf ihr Leben applizieren. Und das machen sie mit Hilfe der Religionsphilosophie Paul Tillichs. Er bildet sozusagen den Referenzrahmen, innerhalb dessen der Unterricht gesehen werden muss. Versucht man das hier dargestellte Vorgehen der Bearbeitung biblischer Texte in die Trias einer Theologie von, mit und für Jugendliche einzusortieren, wird man schnell merken, wie eine Zuordnung aussehen kann. Im Prinzip lässt sich die Frage der Religionsphilosophie, ihrer Begriffe und ihrer Anwendung auf biblische Texte im Bereich einer Theologie für und mit Jugendliche/n einordnen. Existenzphilosophen wie Paul Tillich verkörpern die Möglichkeit, mit ihren Gedanken die Lebenswelt von Menschen und damit auch von jungen Schülern und Schülerinnen zu treffen. Was sie sagen, trifft auf die menschliche Existenz zu. Mit ihrem Blick – also einem fremden Blick – auf die Bibel kann den Erzählungen des Alten und Neuen Testamentes

der Charme der Langeweile und Rückständigkeit genommen werden. Es zeigt sich: Biblische Texte bergen zeitlos gültige Aussagen über den Menschen und sein Verhältnis zu Gott. Nimmt man die Frage der Kompetenzorientierung in den Blick, wird deutlich, dass der hier beschriebene didaktische Weg die Deute- und Reflexionskompetenz der Lernenden fördert. Es geht nicht um die Frage der Partizipation, der Gestaltung oder der Wahrnehmung, sondern um die reflexive Auseinandersetzung mit biblischen und religionsphilosophischen Themen. Die Lernenden eignen sich dadurch ein begriffliches Repertoire an, das ihnen hilft zu argumentieren – ein nicht unwichtiges Ergebnis des Unterrichtes, zieht man in Erwägung, dass der Religionsunterricht nicht selten unter dem Verdacht steht, hier könne man alles sagen, ohne viel nachzudenken. 4. Die Übertragung auf andere Unterrichtsinhalte

Der Weg, sich biblischen Texten mit Hilfe religionsphilosophischer und existenzieller Kategorien zu nähern, lässt sich auf andere Fragestellungen und Themen anwenden. Der Heideggersche Begriff des Daseins z.B. kann mit der jesuanischen Verkündigung – Thema Christologie – verschränkt werden. Martin Heidegger versteht unter dem Begriff des Daseins: »Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein. Diese Möglichkeiten hat das Dasein entweder selbst gewählt, oder es ist in sie hineingeraten oder je schon

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darin aufgewachsen.«17 Dasein impliziert also nach Heidegger auf der einen Seite die Freiheit, sich im Leben entscheiden zu können und auf der anderen Seite das Bestimmtsein durch äußere Zwänge, die das eigene Leben einengen und beeinflussen. Interessant wäre hier die auf Jesu Wirken zurückgehende Botschaft des Paulus im Zweiten Korintherbrief zu deuten: »Der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.« oder die Verkündigung Jesu in der Bergpredigt selbst zu interpretieren, in der es ja um die Freiheit gegenüber einer Form von gesetzmäßiger Religiosität geht. Mit Hilfe des Heideggerschen Daseinsbegriffes könnte die Stärke des Freiheitsbegriffes Jesu herausgearbeitet werden. Ein weiteres Beispiel lässt sich an Kierkegaards Begriff der Verzweiflung / der Sünde festmachen. Kierkegaard versteht darunter: »Sünde ist: vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen. Sünde ist also die potenzierte Schwäche oder der potenzierte Trotz.«18 Sünde ist also immer eine Beziehungskategorie, die das Verhältnis des Menschen zu Gott betrifft. Der Mensch will nicht so sein, wie Gott will. Er leugnet seine »Bestimmung« durch Gott und versucht seine eigenen Wege zu gehen. Haben sich Lernende dem Kierkegaardschen Begriff der Verzweiflung und Sünde genähert, könnte gefragt werden, in welcher Wei-

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se diese Kategorie auch auf Adam und Eva zutrifft. Verzweiflung und Sünde als religionsphilosophische Kategorien könnten so dazu dienen, den Zweiten Schöpfungsbericht zu öffnen und ihm zu begegnen. Heidegger und Kierkegaard sind nur zwei Beispiele, die exemplarisch dafür stehen, wie mit Hilfe religionsphilosophischer Begriffe und Kategorien biblische Lerngegenstände im Sinne der Bildungstheorie Klafkis erschlossen werden können. Festzuhalten bleibt einerseits an dieser Stelle, dass durch die fremde Sicht auf einen alten Text gedanklich Neues hervorgebracht werden kann. Andererseits muss darauf hingewiesen werden, dass der hier vorgestellte didaktische Weg eine Möglichkeit unter anderen Varianten der Unterrichtsarbeit darstellt. Die Förderung der Deute- und Reflexionskompetenz muss immer auch die Schulung der Wahrnehmungs-, der Partizipations- und der Gestaltungskompetenz im Sinne eines mehrperspektivischen Zugangs zur Seite gestellt werden. Das bleibt bei aller Freude an der Religionsphilosophie im Unterricht zu beachten.

17 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 19 2006, 12. 18 Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Stuttgart 1997, 87.

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Religionspädagogische Anregungen

Tobias Petzoldt Die Bibel und das Menschliche – Anregungen für die gemeindepädagogische Praxis

Jugendliche haben Fragen. Zum Beispiel nach dem Sinn des Lebens ebenso wie nach der eigenen Identität. Sie sind neugierig darauf, was es wohl mit dem anderen Geschlecht auf sich hat, möchten anerkannt sein und sich mit Erwachsenen arrangieren, ohne sich von ihnen allzu sehr gestört zu fühlen. All diese Fragen und noch viel mehr sind in der religionspädagogischen Praxis eng verknüpft mit theologischen Erklärungsmustern und pädagogischen Begleitprozessen. Dabei spielt traditionell und ursächlich die Beschäftigung mit biblischen Überlieferungen eine wichtige Rolle. Hier finden sich sowohl Grundlagen der jüdisch-christlichen Glaubenstraditionen als auch orientierende Impulse, die eine persönliche Glaubensbildung junger Menschen ermöglichen. Einige für gemeindepädagogische Praxisprozesse relevante anthropologische Aspekte im Blick auf und in das »Buch der Bücher« seien nachfolgend skizziert. 1. »… und lehret sie halten alles …« (Mt 18,20) Glaubensbildung zwischen Dogma und Dialog

Die aktuell in der Religionspädagogik geführte Debatte um das »Theologisieren mit Jugendlichen1« geht häufig von einem dynamischen, gleichberechtigten

Dialog zwischen biblisch-christlichen Traditionen, jugendlichen Sichtweisen und Impulsen des Leiters / der Leiterin2 aus. Was für den schulischen Religionsunterricht dabei passend scheint, stößt im Bildungsraum Kirche und Gemeinde gelegentlich an Grenzen. Geht es doch hier neben der dialogischen Auseinandersetzung mit überlieferten Traditionen auch um die Vermittlung von Grundsätzen christlichen Glaubens, gemeindlichen Lebens und der Erschließung persönlicher spiritueller Ressourcen in Lied und Lobpreis, in Gebet und Gespräch. »Die Beschäftigung mit biblischen Überlieferungszusammenhängen, dogmatischen Argumentationen, die Behandlung theologischer Klassiker ebenso wie die Kultur prägenden Wirkungen christlichen Glaubens müssen Jugendlichen in ihrem lebensdienlichen Eigensinn und nicht nur als zu lernende Unterrichtsstoffe plausibel gemacht werden.«3 Dies hat insbesondere zu geschehen, wenn diese Auseinandersetzung am Lernort 1 Vgl. Thomas Schlag / Friedrich Schweitzer, Brauchen Jugendliche Theologie? Neukirchen-Vluyn 2011. 2 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen, Stuttgart 2012. 3 Thomas Schlag, Von welcher Theologie sprechen wir eigentlich, wenn wir von Jugendtheologie reden? In: »Wenn man daran noch so glauben kann, ist das gut«, Jahrbuch für Jugendtheologie, Band 1, Stuttgart 2013, 9–23.

Petzoldt Die Bibel und das Menschliche – Anregungen für die gemeindepädagogische Praxis

Kirchengemeinde stattfindet, an dem sich gemäß Confessio Augustana VII die »Gläubigen« versammeln und in der nach den Grundsätzen der Institution »das Evangelium rein gepredigt« werden soll. Darum ist die Auseinandersetzung mit biblischen Überlieferungen im Konfirmandenunterricht, im kirchengemeindlichen Teenie- und im Jugendbibelkreis nicht allein eine distanzierte Beschäftigung mit geistesgeschichtlichen Kulturgütern. Vielmehr erfahren junge Menschen dort elementar etwas von der Geschichte Gottes mit seinen Geschöpfen, vom Eingreifen des Einen in die Biographien Einzelner, vom Glauben und Hadern unserer Vorfahren, vom Leben und der Lehre Jesu Christi und von den Hoffnungen, Fragen, Problemen und Gewissheiten der ersten Christen. So kann das Wissen um biblische Grundlagen und um kulturelle Zusammenhänge des Religiösen eine wichtige sinn- und wertstiftende Ressource in der Identitäts-, Moral- und Glaubensentwicklung für Jugendliche darstellen. In der gegenwärtigen post-postmodernen Welt mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der Lebensgestaltung, wenigen Korrektiven und fast undurchschaubaren Orientierungsangeboten kann das Wissen um den Inhalt und Gehalt biblischer Geschichten gerade für junge Menschen eine wichtige Bezugsgröße für ein gelingendes Leben in einer bewussten Beziehung zwischen Mensch und Gott bieten. Ob mit »Bibelteilen« oder »Verswahlmethode«, ob mit »Bibliolog« oder »Bibliodrama«, ob mit gezielten Impulsfragen oder im freien Gespräch – viele unterschiedliche Methoden bieten sich im Dialog mit jungen Menschen an, um sich mit den zeitlosen göttlichen Impulsen zu beschäftigen und

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gemeinsam mit anderen Gottsuchenden darüber ins Gespräch zu kommen. 2. »… zum Bilde Gottes schuf er ihn …« (Gen 1,27) Skizze biblischer Anthropologie

In biblischen Überlieferungen wird eine gegenüber anderen Geschöpfen herausragende Rolle des Menschen deutlich. Das Buch Genesis beschreibt bereits am Anfang der Heiligen Schrift fundamental diese besondere Verbindung zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf Mensch (Gen 1,27): »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.« Diese Bindung prägt die Geschichte Gottes mit seinem Volk und wird auch deutlich in der Interaktion Gottes mit den biblischen Akteuren, die, wie in den Büchern des Alten wie auch des Neuen Testamentes überliefert, in besonderer Weise von Gott angesprochen bzw. für wichtige Dienste eingesetzt werden. Jene Gottebenbildlichkeit (Imago Dei) des Menschen, dessen besondere Begabung zur Übernahme von Verantwortung für die gesamte Schöpfung befähigt und beauftragt, ist signifikant für die christliche theologische Anthropologie. Die Gottebenbildlichkeit bleibt als wesensmäßige Beziehung des Menschen zu Gott auch nach dem Sündenfall erhalten (1. Mose 9,6), wenngleich sich im Neuen Testament in Jesus Christus Gottes Wesen vollkommen offenbart.4 Durch ihn wendet sich nach christlicher Glaubenslehre dem in Sünde gefallenen Menschen 4 Vgl. Stuttgarter Erklärungsbibel, Stuttgart 2 1992, 10.

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Religionspädagogische Anregungen

die Liebe Gottes neu zu (vgl. Lk 15,11–32 »Vom verlorenen Sohn«) und befreit zu einer »neuen Schöpfung« durch Gnade des Heiligen Geistes (vgl. 2. Kor 5,17). Damit wird die Anthropologie theologisch eng mit christologischen Aspekten verknüpft.5 Diese biblische Grundlegung prägt das christliche Menschenbild auch in gemeindepädagogischen Prozessen. Jede und jeder der anvertrauten (jungen) Personen sind – gleich ihres Bekenntnisses, ihrer Milieuverortung, ihren Leistungen – Geschöpfe Gottes mit je eigenem Wert. Dies gelegentlich auch in den jeweiligen Zielgruppen zu thematisieren, kann nicht nur in Konfliktfällen und bei Rangkämpfen immer neu erhellende Wirkungen erzielen. Dabei soll es ein pädagogischer Anspruch sein, »… je neu nach der in der Schöpfung verankerten Intention der Tora zu fragen, welche darin besteht, das auf Beziehung angelegte Leben zu schützen und zu fördern.«6 3. »Und er ging hinaus und weinte bitterlich« (Mt 26,75) – Anthropologische Erschließung biblischer Überlieferungen

Interessierten Lesern wird durch die Beschäftigung mit biblischen Geschichten deutlich, wie naheliegend und vertraut menschliche Verhaltensweisen darin oft sind und wie nachvollziehbar mancherlei niedergeschriebene Sehnsüchte. Allein eine Beschäftigung mit den in den Psalmen verfassten Lebens- und Glaubenserfahrungen kann die Zeitlosigkeit vieler biblischer Überlieferungen beispielhaft verdeutlichen.

Die Elementarisierungsdidaktik7 als ein religionspädagogisches Modell stellt u.a. diese »elementaren Erfahrungen« besonders heraus und setzt sie mit der Lebenswirklichkeit junger Menschen in Beziehung. So können Parallelen wie auch Kontraste zum Lerngegenstand aus dem individuellen Alltag der Hörerenden gewonnen werden. Mit ihren eigenen Erfahrungshorizonten können sich Jugendliche dem Lerngegenstand spezifisch nähern, sich mit ihm identifizieren oder ihn ablehnen. Besonders eignen sich für eine solche anthropologische Erschließung biblischer Überlieferungen auch Ereignisse aus dem Kirchenjahr. An Ostern, Pfingsten, Weihnachten lohnt exemplarisch eine genaue Betrachtung der Akteure, ihrer Handlungsmotive und der zugrundeliegenden Emotionen. So sind auch die Passionsgeschichten in den Evangelien voll von menschlichen Verhaltensmustern: Angst und Verleugnung, Enttäuschung und Verrat, Schmerz und Liebe, Glaube und Zweifel sind nur einige zutiefst menschliche Erfahrungen, die in den Berichten zwischen letztem Abendmahl und letzten Worten Jesu am Kreuz vorkommen. Allein die verzweifelte Ansage Jesu an seine wiederholt einnickenden Freunde »Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?« (Mt 26,40) zeigt, wie elemen5 Vgl. http://www.brockhaus-enzyklopaedie.de/ be21_article.php, 12.12.2013. 6 Thomas Knittel, Dass Bibel und Leben sich küssen. In: Evangelium Ecclesiastium – Matthäus und die Gestalt der Bibel, Frankfurt a.M. 2009. 7 Vgl. Hans Mendl, Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, München 2 2012.

Petzoldt Die Bibel und das Menschliche – Anregungen für die gemeindepädagogische Praxis

tar menschlich es im Freundeskreis von Jesus gemäß Überlieferung zuging. Und seine letzten Worte am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mt 27,46) zeigen deutlich, dass Jesus tatsächlich ein Menschensohn war. Wegen der besonderen existentiellen Dramatik und der vielfältigen medialen Möglichkeiten zur Thematisierung dieser Überlieferungen gegenüber Jugendlichen8 bieten sich die biblischen Berichte über die Verurteilung und Kreuzigung Jesu gut zur Thematisierung im gemeindepädagogischen Kontext an. Dies kann einerseits durch die Beschäftigung mit den Verhaltensweisen bestimmter Akteure erfolgen (z.B. Judas, Petrus, Thomas, Simon von Kyrene, Maria) oder durch die genaue Betrachtung menschlicher Strukturen und Systeme (z.B. gruppendynamische Prozesse im Jüngerkreis Jesu, Verhalten der Volksmasse bei Verurteilung und Folter, Aktionen und Reaktionen der Soldaten beim Kreuzigungsgeschehen). Nachfolgend soll an drei Beispielen aus dem Bereich »Passion und Ostern« deutlich werden, wie aktuell menschlicherfahrungsbezogen alte, vermeintlich ver­altete biblische Überlieferungen sein können und welche Impulse für gemeindepädagogische Handlungsfelder daraus abgeleitet werden können. Zum Beispiel Angst: Nicht nur nach der Kreuzigung ihres Meisters versteckten sich seine Anhänger aus Furcht (Joh 20,19), auch vorher trieb sie die Angst um, ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verleugnung durch Petrus (Mt 26,69ff):

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Petrus, der eben noch mit kraftvollen Worten ewige Treue geschworen hatte (Mt 26,35), bekräftigt im Angesicht lebensgefährlicher Bedrohung dreimal, dass er mit Jesus nichts zu tun habe. Nach allgemeinem Verständnis kräht nach einer solchen Begebenheit kein Hahn mehr nach einem solchen Mitarbeiter, doch bei Gott gelten ganz offensichtlich andere Gesetze: Mit genau diesem Petrus will Jesus sein Reich bauen. Er soll Jesu Mission auf Erden fortführen (Mt 16,17ff). Für das Gespräch darüber mit jungen Menschen können wichtige Impulse daraus folgen:  Die Jünger Jesu waren keine Heiligen, sondern Menschen mit menschlichen Verhaltensweisen. Sie hatten Angst um Leib und Leben und gingen infolgedessen auch auf Distanz zu ihren Überzeugungen.  Trotz allen Versagens hält Jesus an seinen Freunden fest. Diese Fehlerfreundlichkeit Jesu ist besonders für angstbesetzt Glaubende eine wunderbare Botschaft: Jesus setzt den Mensch Petrus als engsten Mitarbeiter ein, keinen Unfehlbaren. Er tut dies auch und vielleicht gerade trotz aller Unzulänglichkeiten. Zum Beispiel Zweifel: Thomas (vgl. Joh 20,24ff), einer von Jesu engsten Freunden, kann nicht glauben, dass Jesus tatsächlich auferstanden ist. Er zweifelt die Berichte der anderen an und sagt das laut. Schließlich hat er tatsächlich die Möglichkeit, seine Finger in die Wunde und seine Zweifel abzulegen. 8 Z.B. Ökumenischer Kreuzweg der Jugend: http://www.jugendkreuzweg-online.de.

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Religionspädagogische Anregungen

»Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!« (Joh 20,29) Gemäß Joh 20,24ff lassen sich für junge Menschen mehrere relevante Botschaften ableiten:  Auch seine engsten Mitstreiter konnten die Auferstehung des gekreuzigten und gestorbenen Jesus nicht glauben. Zu zweifeln ist also nicht allein heutigen Generationen vorbehalten.  Jesus reagiert auf diese Zweifel mit Verständnis.  Nicht das Gesehene und real Gefühlte macht einen Glaubenden aus, sondern Vertrauen. Jesus wendet sich gegen einen Glauben, der sich aus Beweisen speist. Glauben bleibt Glauben, mit all seinem Geheimnis. Die Frage des Zweifelns lässt sich mit jungen Menschen leicht thematisieren. Möglich ist zum Beispiel das Angebot eines Jugendgottesdienstes in Form einer »Thomasmesse«9. Neben intensiver inhaltlicher Auseinandersetzung ist hier ein hoher Partizipationsgrad der Gemeinde am Gottesdienstgeschehen durch Nutzung verschiedenster Medien und Methoden möglich. Zum Beispiel Schwarmintelligenz – Mitlaufen in der Masse? Junge Menschen sind in ihrer Meinungsbildung beeinflussbar. Damit stehen sie nicht allein. In der Überlieferung von Jesu Verurteilung wird über die Manipulierbarkeit der Masse im Rahmen einer »Volksabstimmung« über die Freigabe eines Gefangenen berichtet (Mt 27,20). Das Ergebnis: »Da schrien sie alle miteinan-

der: Hinweg mit diesem, gib uns Barabbas los!« (Lk 23,18) Als Übertragung dieser Geschichte in zeitgemäße Lebenswirklichkeiten lässt sich kritisch hinterfragen, wie sich in unserer Zeit Meinungen und Mehrheiten bilden und wie wichtig Medien, Mainstream und Menschenmassen dafür sind. Erwachsene Begleiter können hier implizit Themen wie Manipulierbarkeit und Gruppendynamik einstreuen und folgende Fragen ins Gespräch bringen:  Wie gehe ich mit Gerüchten um?  Wie kritisch bewerte ich Botschaften in sozialen Netzwerken und wie reagiere ich darauf?  Wie verhalte ich mich, wenn sich eine Massenmeinung mit klaren Feindbildern aufschaukelt, z.B. im Fußballstadion oder bei Demonstrationen?  Wie kann es gelingen, sich – zum Beispiel aus Glaubensgründen – auch im Gegensatz zur Meinung anderer mutig Gehör zu verschaffen und sich vielleicht gar argumentativ für Minderheiten einzusetzen?

4. »Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten« (Lk 24,14) – Konsequenzen für gemeindepädagogisches Handeln

Für gemeindepädagogische Prozesse bedeutet das Ins-Spiel-Bringen biblischer Überlieferungen, dass es daran anknüpfender Impulse zu deren Deutung und Übertragung in zeitgemäße Lebenswirk9 www.thomasmesse.org.

Petzoldt Die Bibel und das Menschliche – Anregungen für die gemeindepädagogische Praxis

lichkeiten bedarf. Gerade in geistlich geprägten Gemeindejugendkreisen besteht dabei die Herausforderung, die Sehnsucht nach verbindlichem, »richtigem« Glauben wertzuschätzen und durch zielführende Impulse geistliche Fundierungen und individuelle Glaubensentwicklungen zu ermöglichen. Gleichzeitig aber gilt es, exklusivem Fundamentalismus und problematischen Verengungen Aspekte von Weite und Offenheit gegenüberzustellen. Auch ist es insbesondere im Blick auf die geistlichen Überzeugungen scheinbar homogendenkender Gruppen wichtig, Tendenzen der Einseitigkeit entgegenzutreten und durch asymmetrische Diskussionsbeiträge die Pluralität von Deutungsmöglichkeiten zu erhalten.10 Gerade vor diesem Hintergrund spielen erwachsene Begleiter bei der Glaubensvermittlung eine wichtige Rolle. In der Fowlerschen Logik der Glaubensstufen11 sind sie vor allem beim im Jugendalter festzustellenden »synthetisch-konventionellen Glauben« der Stufe III als »significant others«, als Orientierungspersonen, gefragt, ihre Glaubensüberzeugungen einzubringen und zur Debatte und Diskussion zu stellen. Professionelle Gemeindepädagogik lebt also nicht allein von Begleitung, Ermöglichung und Moderation, sondern im Blick auf Glaubensbildung ganz wesentlich von Impulsen des Leiters / der Leiterin.12 Eine zeitgemäße Religionspädagogik hat dabei sowohl den Lerngegenstand als auch den Lernpartner angemessen im Blick. In konfessioneller Jugendverbands- und Gemeindearbeit ist eine subjektorientierte Haltung ein wichtiger Grundsatz, übrigens auch für das pädagogische Menschenbild. Der / die

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einzelne Jugendliche mit den je eigenen Bedürfnislagen ist Ausgangspunkt pädagogischen Handelns. »Nachdrücklich ist besonders […] Subjektorientierung in der konzeptionellen Debatte der Evangelischen Jugend zu einem Schlüsselbegriff geworden, der auf der einen Seite deskriptiv die Realität evangelischer Kinder- und Jugendarbeit in weiten Bereichen beschreibt, der auf der anderen Seite normativen Charakter trägt.«13 Weit ausgelegt, kann eine subjektorientierte Grundhaltung letztlich in biblischen Überlieferungen über das Handeln Jesu gefunden werden, spiegelt es doch auch dessen anthropologische Grundhaltung wider (vgl. Lk 18,41 u.a.). Jesus selbst stellte sich in seinem Reden und Tun vielfach auf die individuellen Lebenslagen der ihm begegnenden Menschen ein. Durch eine gut begleitete Beschäftigung mit biblischen Überlieferungen und ihren göttlichen Offenbarungen muss die Bibel für junge Menschen kein Buch mit sieben Siegeln sein. So dient die Auseinandersetzung mit den Bü10 Vgl. Gerhard Büttner, Theologisieren als Grundfigur der Praktischen Theologie – Grundüberlegungen für das Theologisieren mit Jugendlichen, in: Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen, Stuttgart 2012, 51–69, 64. 11 James W. Fowler, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991. 12 Vgl. »Kompetenzprofil für zukünftiges professionelles Handeln von Fachkräften in der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit und zukünftige Anforderungen an die Aus- und Fortbildung«, beschlossen vom Vorstand der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e.V. (aej), 2010. 13 Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e.V. (aej), Subjektorientierung, 2008, 1.

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Religionspädagogische Anregungen

chern des Alten und Neuen Testamentes dazu, etwas zu begreifen von der Geschichte Gottes mit seinen Menschen, eigene Lebensfragen in einem größeren Kontext wiederzufinden und Antwortversuche zu erhalten. Dass die biblische Orientierung dabei auf Markierungen,

Wegweisern und Geländern beruht und nicht aus Mauern, Verbots- und Stoppschildern besteht, obliegt dem religionspädagogischen Feingefühl erwachsener Begleiter und dürfte auf dem Grundsatz einer erfüllungsmotivierten Glaubensvermittlung selbstverständlich sein.

Büttner Theologisieren mit Pubertierenden

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Gerhard Büttner Theologisieren mit Pubertierenden

1. Einleitung

Was ist die soziale Realität des neuen Programms der Jugendtheologie? Vermutlich zu allererst die Unterrichtspraxis, die schon seit Jahren in der Sek II geschieht – näher an den Topoi der klassischen Theologie im Gymnasium, näher an der jugendlichen Lebenswelt in der Berufsschule. Damit bliebe das eigentliche Problemfeld des RU, die Sek I erst einmal außen vor. Dies scheint mir ein Problem zu sein, dem im Folgenden näher nachgegangen werden soll. Ein Blick auf das Thema Pubertät und Religionsunterricht ist generell lohnend. So kann man die religionspädagogische Umorientierung der 70er Jahre des letzten Jh. auch mit einer veränderten Wahrnehmung dieser Altersstufe erklären. Das Programm der Ev. Unterweisung orientiert sich an den Schüler/innen der Volksschule, wobei das inhaltliche Programm sich etwa zwischen der vierten und der achten Klasse kaum verändert. D.h. auch, dass das typisch pubertäre Verhalten eher am Ende dieser Schulkarriere auftrat oder danach. Die Pubertätsinszenierungen betrafen dann eher die Realschulen und vor allem die Gymnasien. Die Problemorientierung könnte man von daher auch als Reaktion auf das frühere Eintreten der Pubertät und die Ausweitung des Schulbesuchs über das achte Schuljahr hinaus ansehen. Bei-

des erforderte die Thematisierung der lebensweltlichen Themen vor allem in den Klassen sieben und acht. Blickt man auf die Studie von Kliemann und Rupp1, dann zeigt sich aber das erstaunliche Ergebnis, dass die Abiturienten in ihrer Rückschau meist positive Erinnerungen an die Grundschule und die gymnasiale Oberstufe haben, den RU der Pubertätsjahre aber eher kritisch sehen – obgleich oder weil man dort versuchte, ihre Themen anzusprechen. Die Tatsache, dass Pubertät nicht nur körperliche Veränderungen mit sich bringt, sondern auch den kognitiven Apparat umorganisiert, schlägt sich u.a. auch darin nieder, dass – wie wir in einer kleinen Studien zeigen konnten – das Wissensniveau der 6. Klasse im Verlauf der weiteren Schulzeit erst abfällt und dann wieder in der 10. Klasse erreicht wird. Gehen wir an dieser Stelle davon aus, dass sich das Programm einer Kindertheologie im Prinzip bis zur Klasse sechs mit kleinen Modifikationen praktizieren lässt, so käme es jetzt darauf an zu prüfen, welche veränderten Voraussetzungen ab etwa der 7. Klasse in Rechnung gestellt werden können bzw. müssen. Ich konzentriere mich in meiner Argumentation auf die kognitive Dimension, weil diese für das Konzept des »Theologisierens« grundlegend ist. 1 Peter Kliemann / Hartmut Rupp, 1000 Stunden Religion, Stuttgart 2000.

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Anhang

Strukturelle Rahmenbedingungen von Pubertät

Pubertät wird als universelles Phänomen in allen Gesellschaften »begangen«, d.h. in irgend einer Weise inszeniert. Mit Victor Turner können wir sie als Passage verstehen, die rituell inszeniert wird. Er spricht von einem »Schwellenzustand« und von »Schwellenpersonen«:2 »Schwellenwesen sind weder hier noch da, sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.«

In der oben beschriebenen Situation der ersten Nachkriegsjahrzehnte fiel Pubertät für viele mit dem Berufseintritt zusammen, so dass auch in einer Industriegesellschaft noch Formen institutionalisierter Übergangsrituale existierten, nicht zuletzt in Form der Konfirmation. Es fällt dem gegenüber heute schwer, hierzulande kollektive Übergangsrituale für den Pubertätsübergang auszumachen, zumal sich der Zeitpunkt der sexuellen Reife und der des Berufseintritts faktisch völlig entkoppelt haben. Gleichwohl gibt es – in eher individualisierter Form – Versuche einer institutionellen Gestaltung. Die Aufgabe der kognitiven Bewältigung bleibt dennoch, vielleicht unter eher noch erschwerten Bedingungen, bestehen. 2. Die mentale Welt der Pubertät

Die ethnologischen Studien zur Pubertätszeit gehen davon aus, dass der Übergang von der Kindheit zur Erwachse-

nenwelt kollektiv erfolgt. Gerade dies wird in den Differenzierungs- und Individualisierungsprozessen unserer Gesellschaft massiv infrage gestellt. So ist es höchst interessant, wie die SINUSStudie den sozialisatorischen Prozess von der Kindheit ausgehend beschreibt. Diese Studie geht von einem Feld aus, das durch zwei Dimensionen beschrieben wird: dem sozialen Status und einer Weltorientierung zwischen Tradition und Veränderung als Polen.3 Es gelingt, bereits typische Kinderbiographien in diesem Modell zu lokalisieren (46). Für die 14-21jährigen existiert dann eine Milieuzuordnung (21), die sich nur noch gering vom Erwachsenenmodell (10) unterscheidet. Man wird also davon ausgehen können, dass Pubertät sich in den verschiedenen SINUS-Milieus unterschiedlich gestaltet. D.h. wir werden mit ganz unterschiedlichen Verläufen zu rechnen haben, mit eher aktionistischkörperbetonten bishin zu intellektuellästhetischen. Trotz dieses Differenzierungsvorbehalts kann man die Gruppe der Pubertierenden ihrerseits aber wieder unterscheiden von den Kindern einerseits und den postpubertären Jugendlichen andererseits. Was wären dann Gemeinsamkeiten? Carsten Gennerich4 ordnet die Pubertierenden vergleichend in einer Matrix ein, die einerseits wie SINUS die

2 Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt a.M. 1989, 95. 3 BDKJ / Misereor, Wie ticken Jugendliche? Düsseldorf o.J. 4 Carsten Gennerich, Empirische Dogmatik des Jugendalters, Stuttgart 2010.

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Dimensionen Bewahrung und Wandel hat, diese aber koppelt mit der Dimension Selbst-Steigerung vs. Selbst-Transzendenz. Dabei ist für unsere Fragestellung besonders der Quadrant von Interesse, in dem sich Selbst-Steigerung mit Veränderung verbindet. Nach Gennerich (52f) sind hier besonders die männliche Pubertierenden angesiedelt, die Mädchen eher in dem Quadranten, der SelbstTranszendenz mit Veränderung koppelt. Trotz dieser Differenzierung – die für den RU sehr bedeutend ist – finden sich Gemeinsamkeiten in der Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungsprozessen und der eigenen neuen Identität. Helmut Fend charakterisiert diesen Prozess, wie er sich in literarischen Versuchen dieser Altersstufe niederschlagen kann, so:5

Oder in einem anderen Pubertätsgedicht heißt es:6

»Die Entwicklung des Ich, die Unsicherheiten, die damit verbunden sind, das Heraustreten aus den Bindungen an die selbstverständliche, elterngeprägte Welt der Kindheit taucht […] als Kernthema auf. Dabei ist die Entwicklung der eigenen Identität eng mit der Veränderung des Körpers und der Akzentuierung der Geschlechterrolle verbunden. Der Übergang von der Geborgenheit der Kindheit in die beginnende Selbstverantwortung der Jugendzeit wird oft schockartig erlebt.«

Die literarische Verarbeitung der Pubertätszeit zeigt die weite Spannweite der pubertären Phänomene: Hermann Hesses Jungengruppe reagiert auf die körperlichen Veränderungen im Roman »Unterm Rad« durch offensichtliche geistige und musische Aktivität:7

Fend (41) zitiert etwa die 14jährige Sabine: »Meine Mutter sagt: ›Ach ich kenn dich doch!‹ Meine Freunde sagen: ›Komm schon, wir kennen dich!‹ Wie wollen sie mich alle kennen, wenn ich mich selbst nicht einmal kenne?«

Du stehst morgens auf und gehst in das Bad, du guckst in den Spiegel und kriegst einen Schlag. Du hast einen Pickel auf deiner Nase, du denkst an die Schule das wird ’ne Blamage. Du guckst noch mal genauer hin, und siehst einen zweiten auf deinem Kinn. Du fragst dich wie werd ich die los? Aber das ist nicht das einzige Problem, gestern ließ dich deine Stimme stehn, beim lesen ging sie rauf und runter, die andern lachten ich wurd bunter. Was ich dazu noch sagen muss, meine Gedanken sind nich ganz in Schuss, sie fliegen alle hin und her, ich wünschte ich kontrolliere sie mehr. Dazu gibt’s nichts mehr zu sagen, ihr könnt auch andere in der Pubertät fragen.

»Die Stube Akropolis, zu deren Bewohnern ein guter Klavierspieler und zwei Flötenbläser gehörten, gründeten zwei regelmäßige Musikabende, auf der Stube Germania eröffnete man einen dramatischen Leseverein, und einige junge Pietisten etablierten einen

5 Helmut Fend, Die Entdeckung des Selbst und die Verarbeitung der Pubertät, Bern u.a. 1994, 21. 6 (http://elasforum.iphpbb3.com/forum/925876 70nx8564/literatur-lyrik-gedichte-f45/gedichtpubertaet-t721.html). 7 Hermann Hesse, Unterm Rad, GW 2, Frankfurt a.M. 1976, 5–178, 104.

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Bibelkranz, der allabendlich ein Bibelkapitel samt den Noten der Calwerbibel las.«

Das andere Extrem markiert der Gedankenstrom, in dem – am Rande der Psychose – Helene Hegemanns Protagonistin ihrer Erfahrungen mitteilt:8 »Eine Stunde nach Schulschluss stehe ich dann breitbeinig vor dem Spiegel im leeren Fluss der Erinnerungen an das verschwitzte Lächeln der letzten Nacht und die zu eigenem Leben erwachte Kraft dieser repetitiven Tanzrhythmen. Ich will ein Kinderheim in Afghanistan bauen und viele Anziehsachen haben.«

Die hier zitierten Stichproben zeigen die breite Spannweite der in der Pubertät zutage tretenden Gefühle, Empfindungen und Sichtweisen. Im letzten Text werden dabei auch die riskanten Seiten dieses Alters angedeutet – das Austesten neuer Möglichkeiten im Hinblick auf Sexualität, Drogengenuss und Gewalt. Carsten Gennerich hat nun den interessanten Versuch unternommen zu fragen, welche Werte denn mit den einzelnen Quadranten verbunden sind und ob bzw. wie diese anschlussfähig sind an die christliche Dogmatik. Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine Orientierung an Selbst-Transzendenz eher religionsaffin ist als eine der Selbst-Steigerung. »Selbst-Transzendenz« impliziert die Erfahrung, dass es eine Größe geben könnte, die mir gegenüber gedacht werden kann und zu der ich mich ins Verhältnis setzen muss. Das kann in Gestalt der tradtionellen biblisch-christlichen Lehre geschehen oder in Auseinandersetzung mit »spirituellen« Größen in mir oder außer mir. Sehr verkürzt ge-

sagt, spielt sich der Religionsunterricht der Sekundarstufen innerhalb dieses Spannungsfeldes ab, indem er individuelle Formen der Spiritualität und Elemente der christlichen Tradition miteinander ins Gespräch bringt. In Gennerichs Matrix ist der Bereich Selbst-Steigerung / Bewahrung gekennzeichnet durch ein eher kindgemäßes wörtliches Verstehen der religiösen Überlieferung. Schwierig wird es bei der Kombination Selbst-Steigerung / Veränderung. Es erweist sich als nicht so einfach, in der christlichen Tradition Entwürfe zu finden, die das Ausreizen der eigenen Grenzen – unter Umständen auf Kosten von anderen oder der eigenen Person – positiv konnotieren. Insofern ist es wenig überraschend, dass der RU in der Pubertätszeit eher lebensweltliche Themen wie Freundschaft / Liebe oder Drogen auswählt als solche, die sich zum Theologisieren im engeren Sinne eignen. 3. Ich – Wir – Es. Das Thema im Kontext

Gerade die von den Schüler/innen gewählten Themen sind nicht unproblematisch. Einerseits existiert der Wunsch, sich darüber auszutauschen – aber vielleicht gerade nicht vor der Lehrperson, den Mitgliedern des anderen Geschlechts oder den Schüler/innen der Parallelklasse im Religionskurs. Ruth Cohn hat die prekäre Balance von Gruppengesprächen gerade auch im Kontext von Schule bedacht9. Sie 8 Helene Hegemann, Axolotl Roadkill, Berlin ²2010, 10. 9 Ruth Cohn, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, Stuttgart 1975, 113f.

Büttner Theologisieren mit Pubertierenden

sieht das Thema (Es) im Kontext der eigenen Person (Ich) und der Gruppe (Wir). Was heißt das im Kontext Pubertierender? Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan machen deutlich, dass das Erreichen der formalen Operation im Denken unmittelbare Auswirkung auf das Ich-Erleben hat:10 »Für das konkret-operatorisch denkende Kind war das Subjektive und Geistige gleichgesetzt mit Phantasie, gleichsam unrealistische Verdoppelungen äußerer physikalischer Ereignisse. Doch die Entwicklung der formalen Operation führt zu einer neuen Sicht des Äußeren und Physikalischen. Diese sind nur noch eine Gestaltform vieler Möglichkeiten subjektiver Erfahrung. Die Außenwelt ist nicht länger das Wirkliche, ›das Objektive‹ und das Innere ›das Unwirkliche‹. Vielleicht ist das Innere wirklich und die Außenwelt irreal. In extremer Konsequenz bedeutet adoleszentes Denken Solipsismus oder schließlich das Cartesianische Cogito, die Erkenntnis, dass das Einzige, was wirklich real ist, das eigene Selbst ist. Als ich ein fünfzehnjähriges Mädchen fragte: ›Was ist das Allerrealste für dich auf der Welt?‹, antwortete sie ohne Zögern ›Ich selbst‹.«

Damit wird deutlich, dass jedes Thema im Prinzip in der Lage ist, diese innere Realität zu erreichen. Dies ist – wie noch zu zeigen sein wird – Chance und Risiko für das Unterrichtsgespräch. Wenn James Fowler die Pubertätsphase in die synthetisch-konventionelle Glaubensstufe einordnet, dann spricht er damit auf den Aspekt der Spiegelkommunikation an:11 »[Der Jugendliche] braucht Augen und Ohren einiger Vertrauter, anderer Menschen, in denen er das Bild einer entstehenden Persön-

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lichkeit sehen und ein Gehör ausbilden kann für die neuen Gefühle, Einsichten, Ängste und Bindungen, die sich entwickeln und nach Ausdruck suchen.«

Wenn dem so ist, dann ist die Religionsgruppe zwangsläufig immer ein Ort, der zum »Spiegeln« einlädt, insofern er zumindest punktuell von »Leistung« auf »Seelsorge« »umstellen« kann; der gerade in dieser Form aber auch riskant ist, weil die Gefahr besteht, dass Dinge zur Sprache kommen, die sich im Nachhinein eher nicht für den Schulkontext eignen. Betrachtet man Schulbücher und Unterrichtsmaterialien für das Pubertätsalter, dann kann man erkennen, dass auch diese gerne den Grenzbereich anvisieren, der einerseits die Schüler/innen motiviert, auch existentiell bedeutsame Inhalte ansprechen zu können, der es aber andererseits ermöglicht, sich im Schutze einer Geschichte oder eines Bildes zu bewegen. Gleichwohl läuft ein solches Gespräch immer Gefahr »Widerstand« zu provozieren. Dies geschieht schultypisch in der Regel meist durch Disziplinverletzungen. Oft wird es möglich, im Rückblick das störende Verhalten im Sinne des Themas sogar als »sinnhaft«, aber eben nicht »schulgemäß« zu identifizieren. Es ist an dieser Stelle sinnvoll, einen Vergleich zwischen Kinderphilosophie und Kindertheologie in den Blick zu 10 Lawrence Kohlberg / Carol Gilligan, The Adolescent as a Philosopher: The Discovery of the Self in a Postconventional World, Daedalus 100, 1971, 1051–1086, 1057 (Übers. GB). 11 James Fowler, Stufen des Glaubens, Gütersloh 1991, 157f.

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nehmen. In mehreren Gesprächsinszenierungen mit Grundschüler/innen zum Thema »Alles Leben hat ein Ende« wurde untersucht, worin die Spezifika des Philosophierens bzw. des Theologisierens zu finden waren12. Neben der erwartbaren Bezugnahme bzw. NichtBezugnahme auf christliche Traditionen zeigte sich eine für unsere Fragestellung interessante Unterscheidung. Die Kinderphilosophen versuchten mit den Schüler/innen das Thema in dem Sinne zu »verengen«, dass sie auf begriffliche Klärungen hin arbeiteten. Die Kindertheologen hingegen versuchten das Thema zu amplifizieren, indem sie persönliche Geschichten oder bekannte biblische Narrative zur »Ausfüllung« des Themas heranzogen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass ein offeneres Setting (im Sinne des Theologisierens) mehr Anschlussfähigkeiten für die einzelnen Schüler/innen schafft, ein eher analytisch-klärendes Vorgehen hingegen die unmittelbare existentielle Beteiligung etwas zurückfährt. Für das Pubertätsalter wird man also in jeder Konstellation und Situation immer neu überlegen müssen, inwieweit man das Thema und das entsprechende Symbolangebot öffnet und damit auch für Störungen anfälliger macht oder inwieweit man das Thema »ich-ferner« zuschneidet. Theologisieren kann im Prinzip in beiden Varianten geschehen. Es spricht aber manches dafür, dass ein eher analytisch-klärender Zugriff im RU des Pubertätsalters derzeit – gerade im Hinblick auf das Nachbarfach Philosophie – etwas unterbeleuchtet ist.

4. Ein Gespräch in einer 8. Klasse

In einem Forschungsprojekt zur Entwicklung der Christologiekonzepte13 hatte ich ich eine fast »lineare« Entwicklung von der ersten bis zur siebten Klassenstufe feststellen können. Dies galt trotz unterschiedlicher Provenienz der Schüler/innen im Hinblick auf Schultyp und Herkunftsort. Doch in der achten Klasse zeigten sich deutliche »Regressionssymptome«. D.h., dass die Antworten der Schüler/innen tendenziell vom Niveau her unter dem der Klasse sieben lagen, obwohl es sich hier um eine leistungsstarke Gymnasialklasse handelt. Zum Forschungssetting gehörte ein Input in Form einer Dilemmageschichte, in der Kinder am See Genezareth spielen, ein Sturm aufkommt und ihre Onkel, die auf dem See sind, in Seenot geraten. Als Jesus erscheint, stellt sich die Frage, was man, bzw. er tun kann. Das erwünschte Gesprächsverhalten der Lehrerinnen entsprach stark den Prinzipien des Theologisierens, insofern erwartet wurde, nicht auf ein bestimmtes Ziel hin zu moderieren, sondern möglichst viele Schüler/innen zu Wort kommen zu lassen und ihnen zur Artikulation einer Position zu verhelfen. Insofern ist dieser Stundenausschnitt – obgleich dies nicht seine ursprüngliche Funktion war – ein gute Exempel für »Theologisieren mit Pubertierenden«.

12 Peter Müller / Mechthild Ralla (Hg.), Alles Leben hat ein Ende. Theologische und philosophische Gespräche mit Kindern, Frankfurt a.M. 2011. 13 Gerhard Büttner, »Jesus hilft!«, Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002.

Büttner Theologisieren mit Pubertierenden

In zwei Gesprächsauszügen kommen neben der Lehrerin drei Schüler/innen zu Wort, die prototypisch für Schüler/in­nen dieser Entwicklungsstufe stehen kön­nen (227). Anna: Er könnt’s Meer beruhiche, so wie do, wo er emol eingeschlafe is uf`m Boot [L: Mhm.] wo d’Jünger Angscht kriecht hewe, weil e Sturm komme is [L: Mhm.] (und dann hat er die See wieder beruhigt). L: Mhm. Ja. Ja, wie wie stellst du dir das vor, wie könnte er das machen? * (Einige Schüler/innen lachen und beginnen leise zu sprechen) Ja! Anna: Weß net. L: Du weißt nicht. Aber vielleicht is jemand anderes. Ja; Silke! Silke: Durch Beten. Ich hab’s gleiche gedacht wie du. Ich denk, dass er wahrscheinlich durch Beten die dann beruhigt hat und dass’s dann wahrscheinlich (besser wurd). L: Mhm. Mhm, also das Meer beruhigt hat oder du hast gesagt »die« beruhigt? Silke: Das Meer und die Leut’. L: Die Leute auch. Mhm *. Ja. * [Dominik: Den Moses hole.] Dominik! Dominik: Den Moses hole. L: En Moses holen! Dominik: Ja, der dann das Wasser auseinandermacht. (Schüler/innen lachen.) L: Ja. Wie / wie stellst du dir das vor? Dominik: Äh. ( ) das Wasser auseinandermacht. (Schüler/innen lachen). Und dass dann / die dann halt rauskönne. (Schüler/innen lachen.) L: Du meinst dass / dass Jesus das äh selber nicht kann, dass der Mose [Dominik: ’Ke Ahnung] (die andren retten muss?) Dominik: ( ) kann er’s ja mal probieren. (Gelächter) L: ( ) Dass Jesus das selber mal probiert, auch mal so zu machen, des Meer zu teilen? Dominik: Jo.

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Betrachten wir die drei Schüler/innen. Anna greift zur Lösung des Problems auf ihr Bibelwissen zurück, verzichtet aber darauf, die Details erklären zu wollen. Dies ist eher typisch für die Klassen 4–7, in denen die Schüler/innen davon ausgehen, dass »Jesus hilft«, dabei »magische« Deutungen eher vermeiden, eine Kompatibilität mit den »Naturgesetzen« erwägen oder das Wie eben ausblenden. Dabei stellt Anna ihre eher wörtliches Verstehen nicht weiter infrage. Silke präsentiert dem gegenüber die nächste Entwicklungsstufe, die oben bei Kohlberg / Gilligan gezeigte Tendenz zur Subjektivierung. Jesu Gebet beruhigt das Wasser und die Menschen. D.h. auf Seiten Jesu und auf Seiten der betroffenen Menschen kommen subjektive Mechanismen zum Tragen. Typisch für das pubertierende Verhalten ist dann Dominik. Auch er ist in der Bibel beschlagen, bringt seinen Hinweis auf Mose aber eher ironisch und ist nicht besonders glücklich, dass seine Antwort ernst genommen und nachgefragt wird. Das abschließende »Jo« hat von daher wohl eher die Bedeutung »von mir aus«. Während man bei Anna die traditionelle Antwort noch akzeptiert, wird Dominiks Beitrag mit Lachen kommentiert, zumal er durch den Hinweis, Jesus könne es ja mal probieren, solche Erwartungen auch bedient. Er ist biblisch nicht weniger kompetent als die Mädchen, es ist ihm aber wohl peinlich, darauf festgelegt zu werden, weil ihm diese Rolle nicht (mehr?) gefällt. Sie mag ihm zu konventionell erscheinen und eine bessere kennt er eben noch nicht bzw. kann er zumindest noch nicht artikulieren. Dasselbe Szenario wiederholt sich dann. Anna rekurriert auf Jesu Seewandel, dann wird das Jona-Motiv mit dem

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Fisch in den Raum geworfen und Dominik spielt ironisch damit, wieder begleitet vom Lachen der Klasse (228). Anna: Oder vielleicht (läuft) er über’s Wasser. L: Ja. Ja. [S: ( ) kommt en größere Fisch.] Du denkst, das / das könnte er: Über’s Wasser laufen? Anna: Ja, er ist ja schon mal über’s Wasser geloffe. L: In der Bibel, ja. (Schüler/innen sind sehr unruhig.) Anna: Vielleicht (läuft) er wieder über’s Wasser und holt die Leute. ( ) L: Und holt sie raus. Mhm. * [Anna: (Hilft ihnen irgendwie.)] Mhm. Wie stellst du dir’s vor? * (Gelächter) Denkt mal en bisschen nach. Hm. Dominik: En Fisch anheuern. (Gelächter) L: ( )Wie soll das geschehen? (Schüler/innen lachen). Dominik: Der versch / der verschluckt das Boot an Land spuckt er’s dann wieder aus. (Gelächter, Gemurmel; unverständlich)

In der idealtypischen Zuspitzung auf die drei Protagonisten konnte ich Varianten der Diskussion mit Pubertierenden darstellen. Dabei scheint mir die Rollenübernahme situativ, d.h. in einer anderen Konstellation könnten auch andere Schüler/innen diese Argumentationsrollen übernehmen. Vereinfacht gesagt übernehmen die beiden Mädchen Argumentationsmuster eines eher konservativen und eines eher liberalen Bibelverständnisses, wie es sich in den Überlegungen von Gennerich gut lokalisieren lässt. Dominiks Position fällt hier vordergründig heraus. Er kennt die wörtliche Deutung, lehnt sie aber ab, ohne bereits eine neue Perspektive in den Blick nehmen zu können oder zu wollen. Für ein Theologisieren mit Pubertierenden wird es von daher darauf ankommen, Schülern wie

Dominik zu helfen, seine Position soweit zu präzisieren, dass er zu ihr stehen kann und sich nicht durch Ironie entziehen muss. 5. Perspektiven

Unter dem Stichwort »Perspektiven« möchte ich einerseits klären, welche didaktischen Konsequenzen zum Theologisieren bedacht worden sind und in welcher Weise sich Restbestände der pubertären Konstellation noch in den Klassen der Sek II finden lassen. Uwe Böhm und Manfred Schnitzler14 zeichnen ihre Studie über RU in der Pubertät in den Diskurs über Jugendtheologie ein, obgleich der von ihnen untersuchte Unterricht in dieser Hinsicht keine besonderen Merkmale auszeichnet. Auch sie stellen (86) einen deutlichen Rückgang der Zustimmung zum RU im Laufe der 7. Klasse fest. Gleichwohl erheben sie ein besonderes religiöses Interesse in dieser Altersstufe (78). Ebenso kommen die Autoren zu der Aussage (151): »Die Bedeutung der Lerninhalte für einen gelingenden Religionsunterricht in der Pubertät könnte überschätzt werden«. Zwar spielen die Pubertätsklassiker Freundschaft-Liebe, Drogen, Sekten eine Rolle, doch auch Themen wie Sterben-Tod. Von daher resümieren Böhm und Schnitzler (ebd.): »Von den Lerninhalten her bietet sich unseres Erachtens ein doppelter Zugang an: einerseits ein schülerorientierter, der eine Persönlichkeitsentwicklung stabilisiert, an14 Uwe Böhm / Manfred Schnitzler, Religionsunterricht in der Pubertät, Eine explorative Studie in den Klassen 7 und 8, Stuttgart 2008.

Büttner Theologisieren mit Pubertierenden

dererseits ein kontrastiver, der sie in fremde religiöse Welten führt. Zunächst mag dieser kontrastive Zugang verunsichern, aber er lässt eben auch religiöse Lebenskonzepte als Alternativen zur Lebenswirklichkeit modellhaft aufleuchten.«

Im Kontext der hinter dieser Untersuchung stehenden Welt der Praxis in Realschulen wäre dann zu fragen, wieweit hier auf »klassische« theologische Topoi zurückgegriffen wurde – zumal deren Erschließung für den RU der Sek I noch nicht so weit fortgeschritten ist. Markantes Ergebnis der Studie ist die große

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Akzeptanz eines RU außerhalb des normalen Wochenrhythmus in einer Blockveranstaltung (132, 150). Womöglich wird dort leichter eine Atmosphäre der Vertrautheit erzeugt, die die Pubertierenden brauchen, um sich den irritierenden Themen von Theologie und Glauben zu stellen. Die hier angedeutete Hypersensibilität, die sich bei allen Themen zeigt, die in irgend einer Weise als »peinlich« empfunden werden, tritt in der Pubertät natürlich am sichtbarsten und häufigsten auf, bleibt aber als Möglichleit je nach Klasse, Thema und Situation immer als Möglichkeit der »Regression« erhalten.

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 Gerhard Büttner / Veit-Jakobus Dieterich: Entwicklungspsychologie in der Religionspädagogik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013

Wer religiöse Lernprozesse initiieren und begleiten, wer Kinder und Jugendliche in den Prozessen ihrer religiösen Bildung fördern und unterstützen möchte, der benötigt entwicklungspsychologische Kenntnisse. Subjektorientierte Religionspädagogik ist darauf ebenso verwiesen wie professionalitätsorientierte Lehrerbildung. Dort jedoch, wo die Subjektorientierung so weit vorangetrieben wird, dass den Kindern und Jugendlichen selber nicht nur Aneignungskompetenz, sondern gar eine theologische Kompetenz wie in der Kinder- und Jugendtheologie zugesprochen wird, dort sind solche Kenntnisse von nachgerade elementarer Bedeutung. Bislang wurde ein solches entwicklungspsychologisches Basiswissen in religionspädagogischen Handbüchern traktiert. Über die Jahre hin verdichtete sich dies nachgerade zu einem Kanon entwicklungspsychologischer Theorien, wobei strukturgenetische Ansätze im Vordergrund standen. Erikson, Piaget, Kohlberg, Oser-Gmünder, Fowler wurden zu Autoritäten, an denen man zwar nicht zuletzt hinsichtlich einer geschichts- und gesellschaftslosen Subjektfixierung, einer ungebrochenen

Fortschrittsorientierung und eines inhaltsvergessenen Formalismus mehr oder weniger starke Kritik übte. Die Notwendigkeit etwa, diese Theorien mit Sozialisationstheorien komplementär zu verbinden, wurde deutlich gesehen. Die Grundmaximen aber wurden ungebrochen weitertradiert, wie man auch an neueren religionspädagogischen Kompendien und Handbüchern studieren kann. Dabei freilich wurden jene Ausdifferenzierungen in der entwicklungspsychologischen Forschung nicht rezipiert, die zwar die bislang gültigen Axiome der Entwicklungspsychologie nicht prinzipiell in Frage stellten, die aber doch ganz erhebliche Differenzierungen und Modifizierungen geltend machen. Man darf also auf die Lektüre des neuen Buches der evangelischen Religionspädagogen Gerhard Büttner und Veit-Jakobus Dieterich gespannt sein, das beansprucht, diesem Rezeptionsdefizit zu begegnen. Und, soviel kann bereits gesagt werden, die Lektüre enttäuscht auch angesichts der hochgesteckten Erwartungen keineswegs, im Gegenteil. Das Buch setzt sich drei Anliegen zum Ziel: Erstens geht es um die resümierende Darstellung der überkommenen entwicklungspsychologischen Theorien; zweitens um die Skizzierung des »neuen Paradigmas« (11), wie es vor allem in der angelsächsischen Entwicklungspsychologie seit einigen Jahren bereits erarbeitet wur-

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de, und drittens um dessen Erprobung auf den so unterschiedlichen Inhaltsfeldern wie Gott, Jesus Christus, Mensch, Theodizee und Spiritualität. Dieses dreifache Anliegen gibt konsequent das Gliederungsraster des Buches vor. Kurz und präzise, durchaus differenziert und sensibel für Problemüberhänge wird zunächst das Feld jener entwicklungspsychologischen Forschungen gesichtet, wie sie für die Religionspädagogik geradezu von kanonischer Relevanz geworden sind (13–24). Im Lichte dessen wird »mit Piaget über Piaget hinaus« anschließend der Paradigmenwechsel von einem strukturgenetischen Ansatz zu einer gegenstandsbezogenen Entwicklungspsychologie skizziert (25–36). Entwicklung geschieht auf bestimmten Inhaltsfeldern, in bestimmten domains. Damit wird nicht nur der strukturgenetische Formalismus überwunden, insofern Inhalte und Struktur, Wissen und Form streng aufeinander bezogen werden. Für die Religionspädagogik ist es vielmehr von besonderer Brisanz, dass sich nun auch eine spezifische domain »Religion« denken lässt, die auch für sozialwissenschaftliche Kategorien anschlussfähig ist (180ff). Die Bedeutung eines solchen domainbezogenen Denkens wird sodann im Diskurs mit den überkommenen Theorien diskutiert und bis in die Frage von Stilen religiöser Entwicklung oder komplementären Denkens vorangetrieben (37–102). Es ist im engen Rahmen dieser Rezension nicht möglich, die Komplexität und die Breite der angesprochenen Aspekte auch nur zu nennen. Eine Vielzahl empirischer Forschungen, theoretischer Ableitungen und konkrete Beispiele werden instruktiv aufeinander bezogen.

Der dritte Teil erprobt diese paradigmatische Wendung nun auf den eingangs genannten Themenfeldern. So lassen sich Fragehorizonte näher bestimmen, etwa die nach dem Verhältnis von Struktur und Stil, wenn in der Theodizeefrage weniger eine generelle, strukturell verankerte Entwicklung anzunehmen ist als die Entwicklung eines religiösen Stils (190). Oder es lässt sich die domain-Orientierung soweit ausdifferenzieren, dass man von einer spezifischen Christologiedomain sprechen kann (206). Insgesamt lässt sich mit den Autoren in ihrem bündigen Epilog (207–209) die gegenseitige Durchdringung von Wissen und formaler Entwicklung als weiterführender Ertrag der paradigmatischen Wende zu einer domain-bezogenen Entwicklungspsychologie festhalten: »Gerade beim Thema Christologie wird deutlich: Wer keine Jesusgeschichten kennt, ist bald mit seinem Nachdenken am Ende. Gerade diese Erfahrung suggeriert, es käme mehr oder weniger nur auf das Wissen an. Der Experte jeden Alters ist offensichtlich den Novizen überlegen. Dennoch spielen die biologischen Voraussetzungen eine Rolle: ein 5-jähriger Experte wird mit seinem Wissen doch anders umgehen als ein erwachsener. Insofern ist die generelle Skepsis im Hinblick auf kognitive Entwicklung mit dem Alter nicht angebracht« (208). Ein ausführliches Literaturverzeichnis (210–223) und ein knappes Personenregister runden das Buch ab. Man kann an einzelne Begriffe kritische theologische Fragen stellen, wie die Verwendung des Begriffs des Theismus (40) oder des Übernatürlichen (46–48). Man könnte fragen, ob man die Anfragen an das strukturgenetische Theorem nicht

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noch schärfer hätte formulieren können, wie dies etwa von Anna-Katharina Szagun in ihrer Langzeitstudie vorgetragen wurde. Zudem könne man formale Defizite anmerken. Besonders ins Gewicht fällt das Fehlen eines Sachregisters, das die Arbeit mit dem Buch wesentlich erleichtern würde. Insgesamt aber löst dieses Buch in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht seinen ohnehin sehr ambitionierten Anspruch ein. Wer an dem neuesten Forschungsstand der religionspädagogisch relevanten Entwicklungspsychologie interessiert ist, findet hier ein sehr gut lesbares, klar argumentierendes, strukturiert aufgebautes, gut illustriertes, anschaulich gestaltetes und vor allem inhaltlich bestens informiertes Grundlagenwerk vor. Es gehört in die Hand eines jeden, der sich mit religiösen Bildungsprozessen beschäftigt, auch in der Jugendtheologie. Bernhard Grümme  Bernhard Grümme: Menschen bilden? Eine religionspädagogische Anthropologie, Herder Verlag, Freiburg i.Br. 2012

Was ist der Mensch, dass er unterrichtet werden soll? So kann man mit einem abgewandelten Psalm-Wort das Anliegen dieser Publikation umreißen. Wer dieser grundlegenden anthropologischen Frage nachgeht, stößt auf einen widersprüchlichen Befund: Einerseits einen Bezug auf ein christliches Menschenbild – besonders in kirchlichen Kontexten – und damit verbunden die These, dass jedwedes pädagogisches Handeln immer schon auf vorangehende anthropologische Prämis-

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sen beruhe. Andererseits finden wir eine vehemente Bestreitung der Gültigkeit und Warnung vor der Gefährlichkeit eines normativen Menschenbildes. Diese Spannung wird durch die häufig fehlenden oder mit geringem theoretischem Anspruch vorgetragenen Ausführungen, worin denn ein christliches Menschenbild bestehe, nicht besser. Diesen Vorwurf kann man Bernhard Grümme, Professor für katholische Religionspädagogik und Katechetik an der Ruhr Universität in Bochum, nicht machen. Seine religionspädagogische Anthropologie schreitet weite fachliche Horizonte ab und bietet zugleich eine Einführung in eine profilierte religionspädagogische Anthropologie. Grümme setzt bei seiner religionspädagogischen Anthropologie methodisch gesehen korrelativ an. Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven treten gleichrangig und sich gegenseitig befragend auf und werden sodann auf religionspädagogisches Handeln bezogen. In einer kaleidoskopartigen Revue (Teil A) von gegenwärtigen gesellschaftlichen Phänomenen und ihrer Bedeutung für eine Anthropologie greift Grümme die eingangs angesprochene Spannung von Notwendigkeit und Gefahr einer anthropologische Reflexion auf. Er setzt bei den Gefährdungspotentialen (»der gefährdete Mensch«) an und schreitet dabei sehr weite und auch weit auseinanderliegende Theoriehorizonte ab: von Ulrich Becks Risikogesellschaft bis hin zu Axel Honneths anerkennungstheoretischem Ansatz. Erstaunlich und erhellend ist, wie Grümme aus diesen Krisenaspekten anthropologische Herausforderungen gewinnt, welche von ihm in einem weiteren Kapitel zu Dimensionen einer

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religionspädagogischen Anthropologie transformiert werden. Anthropologische Reflexion entsteht als »Selbstbesinnung des Menschen in den Zeiten von Krisen« (73) und enthält dadurch auch ein »Widerstands- und Selbstvergewisserungspotential« (83). Die verschiedenen Perspektiven auf den Menschen (Biologie, Philosophie, Pädagogik etc.) stehen »im Streit um den Menschen« (94) und sind daher nur im Dialog miteinander aufzugreifen. Grümme bezeichnet dieses Vorgehen, das nicht nur einsammelt und zusammenstellt, sondern sich aufeinander einlässt und dabei doch offen ist für das Andere, das Unabschließbare, als »alteritätstheoretische Denkform«. »Der Mensch wird in seiner bleibenden Fremdheit, in seiner Besonderheit, Endlichkeit, in seinen Erfahrungen, in seiner Eröffnetheit vom Anderen her und auf anderes hin denkbar und nicht von einem fixierten Menschenbild her definiert.« (132) Pädagogik und Theologie können so auf dem anthropologischen Felde als kritische Gesprächspartner kooperieren. Die alteritätstheoretische Denkform kann »Erfahrung und Normativität, Partikularität und Universalität miteinander vermitteln und so den christlichen Wahrheitsanspruch ohne Superioritätsansprüche diskursiv einbringen …« (153). Hat die klassische pädagogische Anthropologie den Menschen als erziehbares und erziehungsbedürftiges Wesen bestimmt, so geht Grümme von acht anthropologischen Dimensionen (u.a. Endlichkeit, Identität, Sozialität, Freiheit) aus. Diese Dimensionen gewinnt er nicht aus einem Wesen des Menschen, sondern liest sie der menschlichen Erfahrung ab: »In diesen Aspekten können wir Dimensionen menschlicher Existenz entdecken,

die in dem begründet sind, was man Personerfahrung nennen könnte.« (124) Im umfangreichsten Teil D werden die genannten Dimensionen menschlicher Existenz in ihrer anthropologischen Bedeutung in humanwissenschaftlicher und theologischer Perspektive behandelt, um sodann unter wechselseitiger Be­z ugnahme religionspädagogische Kon­sequenzen zu benennen. So werden beispielsweise unter dem Stichwort Körper-Leib-Geist Vorwürfe der Leibfeindlichkeit, Ansätze in der Hirnforschung, ein diagnostizierter somatic turn als für eine anthropologische Reflexion des menschlichen Körpers relevant benannt. Die grundlegenden Unterscheidungen von Leib und Körper sowie Geschlechtlichkeit und Gender werden herausgearbeitet. Diese humanwissenschaftlichen Ergebnisse werden nun mit Aussagen der theologischen Anthropologie zusammengestellt und kontrastiert. Die theologischen Begriffe der Seele und des Leibes werden biblisch fundiert in die Diskussion eingebracht und das ganzheitliche Menschenbild der Bibel als »massives Widerstandspotential gegen die Entsinnlichung, gegen Virtualisierung und spiritualisierende Körpervergessenheit« (182) gesehen. Diese »kritisch-produktive Korrelation« (157) von humanwissenschaftlich- und theologisch-anthropologischen Ausführungen führen Grümme zu thesenhaften religionspädagogischen Perspektiven: Ernstnehmen des Körpers beim Lernen, Versinnlichung des Lernens im Religionsunterricht, performative Religionsdidaktik, mediendidaktische Implikationen. Er sieht hier auch neue Bezüge zur Schulpastoral, die intensiviert werden sollten (Anm. 96, S. 189). Die-

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se weitreichenden Forderungen an die verschiedenen (religions-)pädagogischen Handlungsfelder werden mehr angedeutet als inhaltlich ausgeführt. Sie belegen aber die Relevanz anthropologischer Reflexionen, welche der Religionspädagogik »zu denken und zu tun geben lassen« (319) können. Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Besprechung auf alle neun Dimensionen einzugehen, welche in aller Ausführlichkeit auf über 300 Seiten dargelegt werden. Es ist immer wieder erhellend, wie Grümme im Rahmen einzelner Dimensionen klassische Themen und Positionen der (pädagogischen) Anthropologie aufgreift und mit einer profunden Kenntnis theologisch-anthropologischer Diskussionen verbindet. Billige oder polemische Gegenüberstellungen von Problempunkten pädagogischer Anthropologie (z.B. Perfektibilitätsversuchungen) mit Stärken theologischer Anthropologie (endlicher Mensch) werden vermieden. »Wenn es einen Beitrag der theologischen Anthropologie gibt, dann muss er nicht-hierarchisch eingebracht werden …« (201) Sprachlich drückt sich dies bei Grümme in dialogischen Formulierungen aus: »aufmerksam machen«, »in die Debatte einbringen«. Er stellt fest: »dass sich humanwissenschaftliche, vor allem jedoch pädagogische und theologische Anthropologie als miteinander gesprächsfähig erweisen.« (352) Nach diesen umfangreichen Beispielen der Korrelation anthropologischer Dimensionen folgt eine – auf den Seitenumfang bezogen – äußerst knappe Bilanz: Es sind die Gefährdungen des Menschen, die bis zum Verlust des Menschlichen reichen, welche das anthropologische Nachdenken bei Grümme

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antreiben: Der Mensch droht dadurch abhanden zu kommen. Eine religionspädagogische Anthropologie kann hier Widerstandsressourcen mobilisieren. Er verdichtet die in den Thesen zu jeder Dimension formulierten zentralen Aussagen nochmals und gibt damit dem von ihm vertretenen Menschenbild eine gewisse Anschaulichkeit. Grümme kann, beachtlich nach einem so umfangreichen Opus, die Kernaussage einer religionspädagogischen Anthropologie in einem Satz verdichten: »Gott ist derjenige, der jeden Menschen je schon mit sich selber begabt hat, der ihn gewollt hat, anspricht, freisetzt und auf sich hin in einen geschichtlich situierten Liebesprozess hinein öffnet, darin getragen von der Hoffnung auf erlösende, rettende, auferstehende Vollendung in ihm.« (496) Die Aufnahme des Bandes in die neue Herder-Reihe: Grundlagen der Theologie erfolgte zu Recht. Der Band leistet nicht nur orientierende Übersicht zu gegenwärtigen Diskussionen und eine Einführung in grundlegende Ansätze zur Anthropologie, sondern bietet auch eine pointierte und profilierte eigene Position. Gerade für einführende Zwecke erweist sich die kommentierte Auswahlbibliographie als hilfreich. Auch hier beweist Grümme Mut, indem er aus der schieren Fülle der Literatur, sein eigenes Literaturverzeichnis umfasst 50 Seiten, eine kommentierte Auswahlbibliographie von 35 Titeln bereitstellt. Robert Schelander

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 Christoph Käppler / Christoph Morgenthaler (Hg.): Werteorientierung, Religiosität, Identität und die psychische Gesundheit Jugendlicher, Stuttgart 2013 (Praktische Theologie heute Bd. 126)

Das Buch berichtet über die Forschungsergebnisse einer vom Gesundheitspsychologen Christoph Käppler und dem empirisch arbeitenden Theologen Christoph Morgenthaler geplanten und geleiteten Schülerbefragung im Themenfeld Religiosität, Werthaltungen und Gesundheit. Die Datengrundlage ist mit rund 50 Interviews und 1600 quantitativ befragten Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 17 Jahren in der Schweiz und Süddeutschland solide. Besonders wertvoll an der Studie ist, dass die SchülerInnen in einem Abstand von einem Jahr zweimal längsschnittlich befragt wurden, dass erstmals in einer facettenreichen Weise Religiosität und Gesundheit in Beziehung gesetzt werden und dass bei der Wertmessung das international etablierte Konzept von Shalom H. Schwartz zugrunde gelegt wurde. Insgesamt folgt die Arbeit einem psychologischen Forschungsparadigma. Die von den AutorInnen berichteten empirischen Ergebnisse sind vielschichtig und sehr differenziert dargestellt. Auf mögliche didaktische bzw. jugendtheologische Anschlussstellen wird in der abschließenden Reflexion der Ergebnisse verwiesen (S. 224), sie werden jedoch nicht ausgeführt. Zwei Kapitel widmen sich der qualitativen Analyse der Interviews. Eva Zimmermann porträtiert mit Sengül eine hochreligiöse Muslima aus dem Bereich traditioneller, organisierter Religion und

mit Dylan einen nicht-religiösen Jugendlichen aus dem Bereich säkularer, sich von Religion abgrenzender Selbstattribution (S. 27–49). Bezugnehmend auf das Modell möglicher adoleszenter Religiosität von Streib und Gennerich diagnostiziert sie ein Fehlen von Jugendlichen aus dem Bereich spiritueller Suche jenseits organisierter Religion sowie aus dem Bereich von Religion mit starker Abgrenzung nach außen und innerer Kontrolle (S. 46) unter den rund 30 von ihr analysierten Jugendlichen. Dem entspricht auch der Befund, dass sie kaum Hinweise auf eine religiöse »Bricolage« findet, die besonders für den Bereich »spiritueller Suche« wahrscheinlich ist. Vielmehr finde in der analysierten Stichprobe die Auseinandersetzung mit Religion innerhalb der in der Familie vermittelten Religionstraditionen statt (S. 45). Bezogen auf den Zusammenhang von Gesundheit und Religiosität kommt sie zu dem Ergebnis, dass lediglich für hochreligiöse Jugendliche Religion eine bedeutsame Bewältigungsressource im Umgang mit Problemen und Krisen darstellt (bei Sengül z.B. die Rezitation des Korans). Kathrin Brodbeck analysiert im zweiten qualitativen Kapitel die Argumentation Jugendlicher zu interreligiösen Dilemmasituationen (S. 165–187). Insbesondere analysiert sie mit Rückgriff auf das Wertekonzept von Shalom H. Schwartz, welche Werteklassen bei der Argumentation aktiviert werden. Allgemein zeigt sich, dass die Jugendlichen am häufigsten auf Selbstbestimmungswerte zurückgreifen (36%) und am zweithäufigsten auf Traditions- und Konformitätswerte (31%). Interreligiöse Dilemmata aktivieren also in 67% der Fälle vor allem einen Wertekonflikt zwischen »Be-

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wahrung« und »Offenheit für Wandel« und weniger die Polarität von »Selbsterhöhung / Selbststeigerung vs. Selbsttranszendenz«. Brodbeck schlussfolgert daraus, dass die »Situationen« darüber entscheiden, welches Wertespektrum handlungsleitend wird. Die weiteren Kapitel berichten über die quantitativen Befunde der Studie, die hier nur selektiv in Schlaglichtern thematisiert werden können. So bedingt die interdisziplinäre Kooperation zwischen Psychologie und Theologie im Forschungsprojekt einerseits einen hohen methodischen Standard der Studie und ihrer Ergebnisse, andererseits bedienen dadurch einige Ergebnisse auch eher psychologische als religionspädagogische Erkenntnisinteressen. Sabine Zehnder Grob (S. 51–79) belegt anhand der Schweizer Teilstichprobe, dass die Religiosität zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr sehr stabil ist (S. 60). Das entspricht dem zugrundliegenden Zusammenhang von Lebensalter und Werthaltungen, der innerhalb dieses Jahres ebenfalls stabil ist (vgl. C. Gennerich, Empirische Dogmatik des Jugendalters, Stuttgart: Kohlhammer 2010, S. 51). Interessant ist ihr Befund einer höheren Religiosität in urbanen Ballungsräumen, der sicherlich auf den höheren Migrantenanteil in Städten zurückgeführt werden kann, weil Jugendliche aus Migrationsfamilien deutlich religiöser sind (S. 62). Sabine Zehnder Grob und Christoph Morgenthaler (S. 81–100) stellen die Frage nach dem Einfluss von Familie und Unterricht zum Zeitpunkt t1 auf die Religiosität zum Zeitpunkt t2. Dabei zeigt sich eine deutliche Dominanz des Einflusses des Familienklimas sowie der religiösen Erziehung durch die Eltern (ca.

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45% der Varianz), wohingegen der Einfluss von Unterricht seitens der Religionsgruppen mit nur 7% der Varianz zu Buche schlägt. Der schulische Religionsunterricht hatte gegenüber den genannten Prädiktoren keine Erklärungskraft für die im Anschluss an Stefan Huber gemessene Zentralität der Religiosität. Aristide Peng thematisiert am ausführlichsten das Wertekonzept von Schwartz (S. 101–124). Sie erläutert die Theorie und belegt anhand des Datensatzes der Studie die Gültigkeit der theoretischen Annahmen für die vorliegende Stichprobe. Daneben belegt sie u.a. den positiven bekannten korrelativen Zusammenhang zwischen Traditionswerten und Religiosität (S. 117–118). Schließlich differenziert sie auch den Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und Wertpräferenzen. Dabei zeigt sich, dass SchülerInnen der Schweizer Oberschicht Werte der Selbstbestimmung und des Universalismus vertreten, wohingegen Jugendliche aus der Unterschicht mit ausländischen Eltern Macht- und Sicherheitswerte präferieren. Oberschicht-Jugendliche mit ausländischen Eltern verhalten sich interessanter Weise nicht wie Schweizer Oberschicht-Jugendliche, sondern wie andere Jugendliche mit ausländischen Eltern (S. 116). Offenbar stiftet allein der sozioökonomische Status in der Schweiz kein vergleichbares Sicherheitsempfinden, wie es eine Schweizer Nationalität in Verbindung mit einem hohen Status vermag. Taylor Christl und Kathrin Brodbeck (S. 125–148) analysieren die Identitätsentwicklung im Zusammenhang mit Religiosität. Besonders interessant ist ihr Befund, dass religiösere Jugend-

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liche mehr Schwierigkeiten als weniger religiöse haben, diskrepante Erwartungen in ihrem Umfeld unter einen Hut zu bringen (S. 137). Die Autorinnen bringen diesen Befund damit in Beziehung, dass religiöse Jugendliche stärker als andere an den Erwartungen anderer orientiert sind, so dass sie in der Folge Erwartungskonflikte stärker erleben. Demgegenüber können jedoch gerade rechtfertigungstheologisch begründete Lebensdeutungen dazu beitragen, Diskrepanzen in der Identitätsarbeit zu bewältigen (vgl. Heinz Streib & Carsten Gennerich, Jugend und Religion, Weinheim: Juventa 2011, S. 131–142). Religionspädagogisch gesehen ergibt sich daraus die Aufgabe, einer normativen Interpretation religiöser Traditionen zu begegnen und vielmehr Perspektiven ihrer Ingebrauchnahme zur Konfliktbewältigung zu eröffnen. Taylor Christl bietet des Weiteren auch ein eigenes Kapitel zum Zusammenhang von Gender und Körpererleben in der Identitätsarbeit (S. 149–164). Allerdings werden in diesem Kapitel keine Bezüge zum Thema Religion entfaltet. Sabine Zehnder Grob und Christoph Käppler berichten schließlich über die innovativen Befunde zum Verhältnis von Gesundheit und Religiosität (S. 189-210). Im Allgemeinen geht eine höhere Religiosität mit einer höheren Problembelastung einher (S. 199). Auch fühlen sich religiöse SchülerInnen häufiger in der Klasse einsam (S. 202). Allerdings sind religiösere SchülerInnen auch prosozialer, gehen lieber zur Schule als andere und sind weniger gefährdet, Substanzen zu missbrauchen (S. 202). Bezogen auf Antonovskys Konzept des Kohärenzerlebens zeigt sich, dass religiösere Jugendliche ihrer Umwelt mehr Sinn als andere

abgewinnen können, aber zugleich ihre Welt als weniger verstehbar und handhabbar erleben (S. 205–206). Wie sind diese Befunde zu erklären? Zehnder Grob und Käppler vermuten, dass einerseits psychische Probleme wie depressive Symptomatiken mit religiösen Grübeleien einhergehen können, aber dass ebenso in Kontexten psychischer Belastung religiöse Bewältigungsstrategien gewählt werden (S. 209). Den Zusammenhang von Religiosität und Kohärenzerleben schließlich deuten Zehnder Grob und Käppler als Indiz dafür, dass religiöse Deutungen eine rationale Weltwahrnehmung beeinträchtigen können und möglicherweise kompensatorisch eingesetzt werden, so dass ein kompetenter Umgang mit der eigenen Umwelt unter der Religiosität leidet (S. 210). Hier sei weitere Forschung nötig. Zusammen genommen bietet der Forschungsbericht eine Fülle von Informationen, die in ihrer Vielfältigkeit jedoch nur begrenzt interpretiert und weiterführend gedeutet werden (können). Der Wert des Buches liegt im Nachweis der Fruchtbarkeit konzeptionell fundierter Messungen und dem durchgängig hergestellten Anschluss an den psychologischen Forschungsdiskurs. In der Perspektive eines Theologisierens mit Jugendlichen erscheinen mir die Analysen interreligiöser Dilemmasituationen und der detaillierten Zusammenhänge zwischen Religiosität und Gesundheit besonders bedenkenswert. Insgesamt ist das Buch ein gelungener Brückenschlag zwischen empirischer Theologie und Psychologie und lädt dazu ein, diesem Weg zu folgen. Carsten Gennerich

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 Rudolf Englert: Religion gibt zu denken. Eine Religionsdidaktik in 19 Lehrstücken, Kösel Verlag, München 2013

Betrachtet man die noch junge Diskussion zur »Jugendtheologie«, so kommt einem zuerst der von Thomas Schlag und Friedrich Schweitzer in die Diskussion geworfene Begriff von der »impliziten Theologie« in den Sinn. Theologie wird gesucht in den oft eher beiläufigen Überlegungen der Jugendlichen. Doch da bedarf es eines Gegenübers. Rudolf Englert macht in dem hier besprochenen Buch geltend, dass die Gespräche mit Kindern und Jugendlichen sich oft im Kreis drehen, weil kein weiterführender Gedanke zur Verfügung steht. Diesen Zustand möchte Rudolf Englert mit seinem Werk zumindest ein wenig verbessern. Sein Buch umfasst zwei sehr unterschiedliche Teile. Der erste ist eine scharfsinnige religionspädagogische Zeitdiagnose, der zweite eine Folge von 19 Lehrstücken, die es in sich haben. Im ersten Teil stellt Englert kritisch fest, dass wir derzeit zwar ein umfassendes Wissen über den Ist-Zustand von Glauben, religiösem Wissen etc. haben, aber sehr unsicher sind, was wir denn lehren sollen. Englert konstatiert eine Haltung des Beobachtens, die selbst nicht Stellung nimmt. Indikatoren sind für ihn z.B. Kindertheologie oder eine konstruktivistische Religionsdidaktik, die nach ihm eher moderieren als instruieren. Diese Diagnose ist zunächst einmal überzeugend, doch sie stellt auch die Frage nach den Alternativen. Zu einer ontologisch-dogmatischen Religionspädagogik will Englert keinesfalls zurück,

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wenn er an anderer Stelle ausdrücklich für einen posttraditionellen Umgang mit Tradition wirbt. Das Programm seines Buches besteht darin, die theologische Bildung – wohl vor allem der Lehrkräfte – zu fördern. Diese Bildung besteht dann darin, theologische Fragestellungen zu erkennen, ihre Interdependenzen zu durchschauen und auch ihre Aporien. In seinen Lehrstücken werden dann klassische Positionen zur Gottesfrage, zur Bedeutung von Religion, zur Theodizee argumentativ gegeneinander gesetzt. Dabei entsteht dann jeweils ein Denkraum, innerhalb dessen sich die Diskussion bewegen kann. Ist Gott etwa nur »ein Wort« (213ff)? Gibt es eine Wirklichkeit hinter der Narration? Kann man die denken? Es ist kein Wunder, dass mit zunehmender Lektüre dann immer mehr mystische Positionen und Paradoxien ins Spiel gebracht werden. So gesehen gewinnt man – wohl zu Recht – den Eindruck, dass Rudolf Englert angesichts der postmodernen Irritationen, die er im ersten Teil seines Buches entfaltet, zunächst einmal seinen eigenen Glaubensweg sucht und diesen den LeserInnen transparent machen möchte. Liest man das Buch nüchtern, dann findet man im ersten Teil weiterführende, konkrete Ideen, wie Religionsunterricht thematisch gefördert und strukturiert werden kann. Im Teil der Lehrstücke findet man neben einigen Kostbarkeiten auch viele Texte, die im gymnasialen Unterricht der Oberstufe einschlägig sind – was ihren Wert nicht mindert. Ich habe das Buch als ein Angebot für alle Lehrkräfte – nicht nur der Sekundarstufen – gelesen, ihren je eigenen theologischen Kosmos so zu ordnen, dass

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sie theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen adäquat führen können. So könnte es die Grundlage für all die Lehrer und Lehrerinnen werden, deren Ausbildung in Theologie nicht gründlich genug war. Im Hause einer Jugendtheologie kann man das Buch als wichtige Ergänzung der eher subjektorientierten Ansätze sehen. Betrachtet man das Buch vom Ende her, so begegnet man immer fluideren Wirklichkeitskonzepten (353ff). Es wird deutlich, dass Wahrheitsaussagen immer relational sind, dass alle Konstruktionen immer auch fiktionale Anteile haben etc. – kulminierend in den Bildern von Escher (395ff). Wie kommt Rudolf Englert von einem solchen Vorgehen her dazu, einen konstruktivistisch konzipierten Religionsunterricht in Frage zu stellen? Ich erlaube mir angesichts des insgesamt sehr anregenden und weiterführenden Buches an dieser Stelle ein Schmunzeln. Gerhard Büttner  Rezension zu drei neueren Veröffentlichungen im Umfeld der SINUSMilieus

Die empirisch ausgerichtete Sozialwissenschaft suchte in den letzten Jahrzehnten einen Ausweg aus dem Dilemma, dass sich die soziale Lage (in Deutschland) weder anhand eines klassischen Schichtenmodells noch mit einem konsequenten und auf die Spitze getriebenen Individualisierungsansatz nach dem Motto »Jeder ein Sonderfall« angemessen abbilden zu lassen scheint. Sie fand eine Lösung im Modell des »Milieus«, welches ganz grob

als »Gruppe Gleichgesinnter« definiert und mit dem Diskurs der »Lebensweltorientierung« in Zusammenhang gebracht werden kann. Zwar stehen die Milieus mit der sozialen Schichtung in engem Zusammenhang, sind aber nicht so scharf abgrenzbar wie diese und beziehen sich weit stärker auf die »Lebensstile« und die Alltagswelten (in diesem Kontext wird von der »Unschärfe-Relation der Alltagswirklichkeit« gesprochen). Genau an dieser Stelle setzen die Sinus-Milieus® an, die das Ergebnis von über 30 Jahren sozialwissenschaftlicher Forschung des Sinus-Instituts in Heidelberg darstellen (http://www.sinus-institut.de). Bereits seit etwa einer Dekade nutzt die Katholische Kirche Institut und Modell zur Erstellung von Studien zur Situation der katholischen Kirchenmitgliedschaft (s. insbesondere Milieuhandbuch 2005). Eine neues, das alte Modell weiterführende und zugleich modifizierende Handbuch ist nun im Abstand von acht Jahren, also nach weniger als einer Dekade, erschienen. MDG-Milieuhandbuch 2013. Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus. Im Auftrag der MDG Medien-Dienstleistung GmbH, Heidelberg / München, Januar 2013, 444 Seiten [Elektronische Ressource] Der rasche gesellschaftliche Wandel und Veränderungen der und in den Milieus hat das Heidelberger Institut im Jahr 2010 zu einer Neustrukturierung der Sinus-Milieus veranlasst, die wiederum primär anhand von Selbstaussagen der Betroffenen erhoben wurden und sich zur Veranschaulichung in einem Dia-

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gramm mit einer Schicht-Achse (Soziale Lage, x-Achse) und einer Werte-Achse zur Grundorientierung (y-Achse) als sich überschneidende Kreise bzw. Ellipsen anschaulich darstellen lassen (sogenannte »Kartoffel-Grafik«). Neu sind vor allem zwei Veränderungen. Zum einen wird angesichts weiterer Fragmentierungs- und Pluralisierungsprozesse nicht länger von »mainstreamMilieus« ö.Ä. gesprochen, da sich keine generellen Tendenzen mehr feststellen lassen. Zum andern erhöhte sich die Anzahl der Milieus auf zehn, wobei zudem manche der bereits früher vorhandenen Gruppen etwas anders zugeschnitten und definiert sind. Überblickartig sind die zehn Milieus folgendermaßen charakterisiert und den sozialen Schichten zugeordnet: Als »Sozial gehobene Milieus« bilden ein »Konservativ-etabliertes Milieu« das »klassische Establishment«, ein »Liberalintellektuelles Milieu« die »aufgeklärte Bildungselite«, das »Milieu der Performer« eine »multioptionale, effizienzorientierte Leistungselite« und zuletzt ein »Expeditives Milieu« eine »ambitionierte kreative Avantgarde«. Die »Milieus der Mitte« setzen sich zusammen aus drei Formen: die »Bürgerliche Mitte« als der »leistungs- und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream«; ein »Adaptiv-pragmatisches Milieu« als »moderne junge Mitte unserer Gesellschaft mit ausgeprägtem Lebenspragmatismus und Nutzenkalkül« sowie ein »Sozialökologisches Milieu«, charakterisiert als »Konsumkritisches / -bewusstes Milieu mit normativen Vorstellungen vom ›richtigen‹ Leben«. Die drei »Milieus der unteren Mitte / Unterschicht« bilden zuerst die »Sicherheit

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und Ordnung liebende Kriegs- / Nachkriegsgeneration als »Traditionelles Milieu«; dann eine »um Orientierung und Teilhabe bemühte Unterschicht mit starken Zukunftsängsten und Ressentiments« als »Prekäres Milieu« und zuletzt die »spaßund erlebnisorientierte moderne Unterschicht / untere Mittelschicht« als »Hedonistisches Milieu« (54–56). Die vorliegende Veröffentlichung beruht auf einer vom SINUS-Institut 2012 erhobenen qualitativ-ethnologischen Studie mit leitfadengestützten Interviews von 1½ bis 2 Stunden Dauer, der Auswertung von Aufsätzen zu den Themen »Das gibt meinem Leben Sinn« und »So stelle ich mir die ideale Kirche vor« sowie der Foto-Dokumentation der Wohnwelten von insgesamt 100 Mitgliedern der katholischen Kirche, gegliedert nach 10 Fällen pro Milieu, zusätzlich nach Geschlecht, Teilnahmeintensität an der Kirche, Altersquotierung, regionaler Streuung, so dass jeweils eine einzelne oder ganz wenige Personen für ein Aussagesegment »typisch« werden. Neu aufgenommen gegenüber 2005 wurden Fragen zur Teilnahme am kirchlichen Leben, zum ehrenamtlichen Engagement, zur Einstellung gegenüber kirchlichen Kommunikationsformen wie etwa dem Pfarrbrief und als Sonderthema »Spenden« mit einem eigenständigen, hier nicht berücksichtigten Forschungsbericht. Zahlreiche, vielleicht die Mehrheit der Ergebnisse mögen die Kundigen nicht überraschen, etwa dass sich viele Befragte»nicht als gläubig im traditionellen Sinn« verstehen, sich »nicht an die katholische Religion und Kirche gebunden« fühlen, »nicht aktiv nach einer Beziehung zu Gott« suchen und »den

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Inhalt ihres Glaubens ebenso wie ihre Vorstellungen von Gott eher diffus« bestimmen; also allenfalls einen individualisierten Glauben haben, wobei sie relativ eigenständig ein »individuelles Glaubens-Patchwork« zusammen zimmern mit Anleihen aus »vielfältigen (häufig fernöstlichen) Quellen«; dass ferner »insbesondere in den jungen und unterschichtigen Milieus […] Glaube und Religion im Alltag häufig gar keine Rolle mehr« spielen. (16) Nicht ganz selbstverständlich und für die Kirche alarmierend scheint allerdings erstens, wie stark die Erosion – neben selbstverständlich noch vorhandenen traditionalen Beständen in bestimmten Milieus – selbst im katholischen Bereich bereits fortgeschritten ist, und zweitens, wie stark der Vertrauensverlust in die und die Empörung über die Kirche aufgrund der »Missbrauchsfälle und mehr noch deren mangelnde Aufarbeitung (›Vertuschung‹) […] quer durch die Milieus« und gerade auch bei kirchenaffinen, ist. (25) Gerade bei der letzten Gruppe bleiben jedoch auch die Erwartungen an die Kirche hoch, nach dem Motto: »Veränderung tut not!« Für das in unserem Kontext besonders interessante »Expeditive Milieu« (179–216), das das »jüngste« Milieu darstellt – zwei Drittel sind unter 30 Jahren, Ø 28 Jahre, 40% sind noch in Ausbildung – sei beispielhaft eine für das Thema Glaube bzw. Religion »typische« Aussage herausgegriffen: »Ich bin auf dem Blatt katholisch, habe den Glauben aber für mich modifiziert, für die heutige Zeit und so wie ich mich wohlfühle. Ich habe ihn für mich reformiert, auch wenn das der Kirche nicht gefällt.« (199) Insgesamt ist im Blick auf die Gesellschaft einerseits ein Fortschreiten der

Ausdifferenzierung, Pluralisierung, und Segmentierung bzw. Fragmentierung festzustellen – die einzelnen Milieus lassen sich geradezu als »selbstreferentielle Systeme« mit eigenen Codes und Programmen ansehen –, auf der anderen Seite breiten sich »postmoderne« Einstellungen in weiten Teilen der Gesellschaft aus, etwa auch in traditionsorientierten, konservativen Milieus, wobei diese postmodernen Tendenzen zugleich ihrerseits eine »Verbürgerlichung«, Verallgemeinerung und Verwässerung erfahren, so dass den ausdifferenzierenden Trends zugleich uniformierende, gleichmachende entgegen laufen. Im Blick auf die Kirche ist grundsätzlich zu sagen, dass sich auch hier einerseits die gesellschaftliche Situation prinzipiell widerspiegelt – trotz Austritts­phänomenen ist prinzipiell kein Milieu in der Kirche gar nicht präsent –, dass jedoch andererseits sich die Kirche mit ihren Angeboten vorrangig auf traditionsorientierte, bürgerliche, konservative Milieus konzentriert, die zudem demographisch schrumpfen, so dass eine weitere Erosion absehbar scheint. Man mag und muss wohl die angepriesene »marktwirtschaftliche Bedeutung« (48), also die Markt- und Kundendorientierung der Studie kritisch beäugen und den Appell an die Kirchen, ein »zeitgemäßes Kirchen-Marketing« zu entwickeln (6) und anhand der von SINUS gezeichneten« »strategischen Landkarte« passende »Angebote, Produkte, Marken und Medien« zu positionieren (50), theologisch und ideologiekritisch hinterfragen – an ihren Aussagen und Ergebnissen kommt man jedoch ohne ein kräftiges Maß an Realitätsverlust nicht vorbei.

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Marc Calmbach u.a.: Wie ticken Jugendliche? 2012 – Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. (Durchführendes Institut: Sinus Markt- und Sozialforschung GmbH) Verlag Haus Altenberg, Düsseldorf 2011, 363 Seiten Nachdem die SINUS-Milieustudie U27 aus dem Jahr 2007/8 die Situation katholischer Jugendlicher bis zum Alter der über die Mitte ihrer zwanziger Jahre hinaus Stehenden untersucht hatte, konzentriert sich die Folgeerhebung SINUS U18-Studie von 2011 auf das Alter der 14- bis 17-Jährigen, also auf Heranwachsende der höheren Sekundarstufe I und teilweise der Sekundarstufe II. Die Studie beschränkt sich auf eine Differenzierung in sieben Milieus: Konservativ-Bürgerliche, Adaptiv-Pragmatische, Prekäre, Materialistische Hedonisten, Experimentalistische Hedonisten, Sozialökologische sowie Expeditive (Kap. 2; S. 22–37; bes. 32, Abb. 2.3.4 u.ö.). Über weite Teile der unterschiedlichen Milieus hinweg lässt sich als »allgemeine Befindlichkeit« (Kap. 3.2; S. 40–43) diganostizieren, dass die »allermeisten Jugendlichen […] darum bemüht [sind], in der Gesellschaft den eigenen Platz zu finden und zu gestalten« (40), wobei eine »Zunahme pragmatischer Haltungen« festzustellen ist. Komplementär dazu spielen »Große Utopien«, Protest oder Rebellion auf der einen Seite, aber auch Pessimismus oder gar Resignation auf der anderen keine nennenswerte Rolle. Bei der pragmatischen Ausrichtung und einer gleichzeitigen Bewusstheit großer gesellschaftlicher Probleme (besonders im Bereich von Ökonomie und Ökologie) entstehen

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jedoch bei vielen Heranwachsenden deutliche Unsicherheiten im Blick auf die eigene Lebensplanung und vor allem hinsichtlich der Frage, »ob das eigene Leistungsvermögen für ein Leben in sicheren Bahnen ausreicht.« (41) Als konkrete Themenbereiche wurden dann untersucht und in den Ergebnissen überblickartig dargestellt (ab Kap. 3.3, S. 43ff): »Zukunftsvorstellungen«, »Vergemeinschaft und Abgrenzung«, »Medien« »Schule und Lernen«, »Berufliche Orientierung«, »Gesellschaftliches und politisches Interesse«, »Glaube, Religion, Kirche« und schließlich »Engagement«. Als wichtige Ergebnisse lassen sich festhalten: Die Mehrheit der Jugendlichen blickt insgesamt »recht optimistisch in die Zukunft« und befasst sich mit der Frage nach ihrer Gestaltung, wenn auch in doppelter Weise verkürzt: zum einen hat die eigene Zukunft gegenüber der gesellschaftlichen, zum andern das unmittelbar Anstehende gegenüber dem ferner Liegenden Vorrang – skeptischer oder gar pessimistisch sind hier allerdings einerseits die »Konservativ-Bürgerlichen« und andererseits die »Materialitischen Hedonisten«, ganz besonders aber die »Prekären«, also die gesellschaftlich Benachteiligten (43–45). Einerseits versuchen Jugendliche, sich selbst als Individuen kenntlich zu machen, zugleich aber ist ihnen – bei einem üblicherweise guten Verhältnis zu den Eltern und Großeltern – die Anerkennung und Integration besonders unter Gleichaltrigen wichtig, im unmittelbaren Kontakt im Freundeskreis bzw. der Peergroup, in der Schule wie in den Medien / im Internet (46ff).

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Die ethnische und kulturelle Vielfalt bzw. Pluralität in Deutschland wird überwiegend bejaht, gar begrüßt, erfährt allerdings aus Sicht vorrangig der Prekären eine deutliche Kritik durch die empfundene Konkurrenz am Ausbildungsund Arbeitsmarkt (nach dem Motto: »Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg«) (49f, 50). Schule lässt sich begreifen einerseits als Möglichkeit, »sich mit Freunden zu treffen«, andererseits als Chance, kulturelles Kapital anzuhäufen, also sich gute Chancen für einen möglichst qualifizierten formalen Bildungsabschluss, für eine Ausbildung und einen Berufsabschluss und damit für ein wohlsituiertes Leben insgesamt zu verschaffen. In diesem Sinne wird auch gelernt, vor allem »auswendig gelernt«, »von einer Klassenarbeit zur nächsten« (60ff, Zit. 60, 61, 63). Politik (72–77) wie auch Kirche (77–82) werden als institutionelle, der eigenen Lebens- und Alltagswelt fern empfundene Bereiche grundlegend kritisch beäugt, wobei gegenläufig den Heranwachsenden keinesfalls ein generelles politisches, gesellschaftliches oder religiöses Desinteresse unterstellt werden darf, im Blick auf Letzteres sogar ganz im Gegenteil: »Das Bedürfnis nach Sinnfindung ist allgegenwärtig. Sinn wird dabei v.a. im persönlichen Glauben gefunden« (77). Wobei dieser Glaube überlicherweise weder traditionell noch institutionell geprägt ist, sich diffus auf »irgendetwas Höheres« beziehen kann und in aller Regel »nur wenig reflektiert« wird (77). An dieser wichtigen Stelle hätte man sich etwas konkretere Analysen und Aussagen gewünscht. Doch belässt es die Studie bei allgemeinen Hinweisen darauf, dass dieser persönliche Glaube

von den Heranwachsenden »im Gegensatz zu den Themen Religion und Kirche als spannender, weil persönlich relevanter begriffen« wird (76). Gleichwohl ist beeindruckend, welche Vielfalt an Einstellungen zu Glaube und auch Kirche über die unterschiedlichen Milieus hinweg existieren. Das letzte, vierte und weitaus umfangreichste, hier aber nur kurz angerissene Kapitel (88–363) breitet dann wie in einer reichen Schatzkammer schriftliche und künstlerische Selbstzeugnisse, z.B. »Hausarbeiten« oder auch Collagen, sowie Fotos der Wohnwelten von Heranwachsenden aus allen sieben Milieus aus. Aus der Fülle des Gebotenen seien nur zwei in unserem Kontext interessante Zitate herausgehoben. Zum einen aus der Gruppe »Expeditive« eine Aufsatzpassage zum Thema: »So wünsche ich mir meine Schule«: »Nice und gechillt, gutes Schüler-Lehrer-Verständnis, Unterstützung – leider aber zml [sic!] realitätsfern. […]« (348) Zum andern zum Thema »Religion, Glaube, Kirche« eine Äußerung aus der Gruppe »Materialistische Hedonisten«: »Leute gehen sinnlos in die Kirche jeden Sonntag, stehen verdammt früh auf, nur um da zu so einem Gottesdienst zu gehen, also ich fänd das alles Zeitverschwendung.« (m, 15, konfessionslos) (245) Allen, die mit Jugendlichen dieses Alters zu tun haben, ist trotz der angesprochenen Desiderate im Bereich von Glaube und Religion die aufmerksame Lektüre dieser fundierten und sehr ansprechend, übersichtlich und anschaulich präsentierten Untersuchung dringend angeraten.

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Hansjörg Kopp u.a. (Hg.): Brücken und Barrieren. Jugendliche auf dem Weg in die Evangelische Jugendarbeit, Buch + Musik, ejw-Service GmbH / Neukirchener Aussaat, Stuttgart / NeukirchenVluyn 2013, 384 Seiten Auf evangelischer Seite wurde nach der vierten Kirchenmitgliedschaftsstudie »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge« (2006) ein eigenes Milieumodell mit sechs Milieus entwickelt (Milieus praktisch, 2 Bde. 2008/2010). In jüngster Zeit erfolgte jedoch ein Schwenk auch bei den Evangelischen Kirchen hin zum SINUS-Modell, zuerst im Bereich der Erwachsenen-, dann aber auch der Jugendforschung. Ein Ergebnis dieser Wende ist das vorliegende Werk, eine von den beiden Evangelischen Landeskirchen in Württemberg und Baden und ihren jeweiligen Jugendwerken in Auftrag gegebene, mit dem Lebensweltmodell der SINUS-Studie U18 (22ff) arbeitende empirische Untersuchung. Im Zentrum steht die spezielle, für die Kirche aber höchst relevante Frage, wie Jugendliche im Anschluss an ihre Konfirmandenzeit den Weg zur evangelischen Jugendarbeit finden, als Teilnehmende, also als passive Mitglieder, oder gar als Mitarbeitende, also als aktiv Mitwirkende. Der erste Teil des Werkes (Kap. 2, S. 18ff) stellt die explorative, nicht-repräsentative Studie unter 72 Heranwachsenden (Jungen, Mädchen, verschiedene Schulformen, ohne, mit passivem bzw. aktivem Bezug zur evangelischen Jugendarbeit) ein bis zwei Jahre nach der Konfirmation vor. Dies erweist die Erhebung zugleich als Erweiterung und Anschlussstudie der (Tübinger) Untersuchungen zur Konfirmandenarbeit.

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Systematisch lassen sich prinzipiell fünf Motivationstypen unterscheiden, zu verstehen als idealtypische Mentalitätsmuster, nicht im Sinne von realen Personen, bei denen es durchaus Misch- und Übergangsformen sowie Veränderungsund Entwicklungsprozesse gibt (7f, ausführlich Kap. 3, S. 33ff): – Religiös-Motivierte (religiös) – Gemeinwohl-Motivierte (altruistisch) – Spaß-Motivierte (fun und Gemeinschaft) – Benefit-Motivierte (Eigennutz, Selbstprofit, z.B. Qualifizierung) – Distanzierte Im Anschluss sind zwei thematische Bereiche angesprochen: das allgemeine Thema »Glück und Sinn« (Kap. 4, S. 74ff) und das spezifische: »Glaube, Religion und Kirche« (Kap. 5, S. 83ff); darauf folgend wiederum zweistufig die Erfahrungen und Einstellungen zur eigenen Konfirmandenzeit (Kap. 6, S. 114ff) sowie zur Evangelischen Jugendarbeit (Kap. 7, S. 150ff). Ein letztes Kapitel dieses ersten Teils (Kap. 8, S. 202ff) zieht ein »Fazit: Brücken und Barrieren im Zugang zu Evangelischer Jugendarbeit« mit folgendem Gesamtergebnis: »Die Suche nach Gemeinschaft und Fun / Action sind für alle Jugendliche zentrale Motive im Zugang zu Jugendarbeit. Jugendliche suchen dabei vor allem Spaß in der Gemeinschaft – es handelt sich also um ein originär soziales Motiv. Religiosität, die Orientierung am Gemeinwohl und der Wunsch nach Qualifizierung durch Jugendarbeit spielen hingegen nur für einen Teil der Jugendlichen beim Zugang zur Evangelischen Jugendarbeit eine Rolle, sind dort aber der maßgebliche Treiber für Engagement.« (203)

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Der zweite Teil des Buches (215ff) zeichnet in Form kurzer Beiträge von Experten evangelischer Jugendarbeit Konturen einer »typen- und lebensweltsensiblen Jugend- und Konfirmandenarbeit« und stellt zum Abschluss exemplarische Beispiele bzw. projektartige Programme dieser wichtigen, zukunftsweisenden Form kirchlicher Tätigkeit vor (354ff). Insgesamt liegen die Stärken des SINUSMilieu-Ansatzes im qualitativen Bereich, in der Lebensweltnähe und der breiten Beachtung, Aufnahme und Darstellung von Selbstzeugnissen, in der Fokussierung auf bestimmte, u.U. auch sehr spezielle Fragestellungen sowie in der Schwerpunktsetzung im Bereich von Sinn- und Wertfragen sowie von religiösen und kirchlichen Themenstellungen. Insofern stellen die SINUS-Untersuchungen eine wichtige, komplementäre Ergänzung zu den großen, traditionsreichen Shell-Jugendstudien dar, die vorrangig quantitativ, panoramaartig und im

Blick auf Religion / Kirche sehr selektiv arbeiten. Wer sich daher im schulischen oder kirchlichen Raum mit der (religiösen) Sozialisation Jugendlicher befasst, sollte neben den Shell-Jugendstudien unbedingt die Ergebnisse im Umfeld der SINUS-Milieustudien intensiv zur Kenntnis nehmen. Er wird dann differenziert wahrnehmen können, wie sich Jugendliche auf ihrem Weg zu einer Verbindung von »persönliche[r] Einzigartigkeit mit gesellschaftlicher Eingliederung«, also zum »Austarieren der Spannung von Integration und Individuation« (so Klaus Hurrelmann in seinem Vorwort zur SINUS-U18-Studie, 9) trotz und angesichts aller Unsicherheiten und Schwierigkeiten eigenständig, konstruktiv und kompetent in hervorgehobener Weise mit Fragen der Sinnfindung und des Glaubens, nachgeordnet und punktuell aber auch mit den Themen Religion und Kirche befassen. Veit-Jakobus Dieterich

Die Autorinnen und Autoren

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Katrin Bederna ist Oberstudienrätin mit den Fächern Katholische Religionslehre, Mathematik und Philosophie. Zur Zeit Vertretungsprofessorin für Katholische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Dr. Gerhard Büttner ist em. Professor für Evangelische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Dortmund.

Kathrin Hanneken ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionsdidaktik an der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund. Dr. Christian Höger, Diplom-Theologe / Diplom-Pädagoge, ist Akademischer Rat für Katholische Theologie / Religionspädgogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Dr. Anke Kaloudis ist Studienleiterin am Pädagogisch-Theologischen-Institut Kas­ sel / Regionalstelle Hanau.

Veronika Burggraf ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionsdidaktik an der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund.

Herbert Kumpf ist Schuldekan der evangelischen Landeskirche in Baden, Kirchenbezirk Ortenau, Region Kehl.

Dr. Veit-Jakobus Dieterich ist Professor für Evangelische Theologie / Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Tobias Petzoldt ist Dozent für Evangelische Bildungsarbeit mit Jugendlichen an der Evangelischen Hochschule Moritzburg bei Dresden.

Dr. Bernhard Grümme ist Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

Dr. Bert Roebben ist Professor für Religionsdidaktik am Lehrstuhl für Religionsdidaktik an der Fakultät Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund.

Dr. Gudrun Guttenberger ist Professorin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Dr. Martin Rothgangel ist Professor für Religionspädagogik an der EvangelischTheologischen Fakultät der Universität Wien.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Thomas Schlag, Pfarrer der Württembergischen Landeskirche, ist seit 2005 Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Kybernetik / Kirchentheorie an der Theologischen Fakultät und Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) der Universität Zürich. Dr. Henning Schluß ist Professor für Empirische Bildungsforschung und Bildungstheorie an der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft der Universität Wien. Dr. Manfred Schnitzler ist Lehrer an der Johann-Bruecker-Realschule in Schön­ aich.

Dr. Heinz Streib ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Bielefeld und leitet die dort angesiedelte Forschungsstelle Biographische Religionsforschung. Dr. Edgar Thaidigsmann, Pfarrer der Württembergischen Landeskirche und Studieninspektor am Evangelischen Stift in Tübingen, war zuletzt Professor an der Pädagogischen Hochschule Weingarten.