Pufendorf-Studien: Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller [1 ed.] 9783428475018, 9783428075010


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German Pages 273 Year 1992

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Pufendorf-Studien: Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller [1 ed.]
 9783428475018, 9783428075010

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Delle! Döring . Pufendorf·S1udien

Historische Forschungen Band 49

Pufendorf-Studien Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller

Von Detlef Döring

Duncker & Humblot . Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Döring, Detlef: Pufendorf-Studien : Beiträge zur Biographie Samuel von Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller / von Detlef Döring. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Historische Forschungen ; Bd. 49) Zug!.: Berlin, Akad. der Wiss., Habil.-Schr., 1991 ISBN 3-428-07501-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-07501-3

Vorwort Die internationale Forschung tendiert seit einer ganzen Reihe von Jahrzehnten in einem immer stärkeren Maße dazu, den Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit als einen langdauernden Prozeß anzusehen, der ungefähr ein halbes Jahrtausend, zwischen dem 13. und dem 17. Jh., in Anspruch genommen hat. Der Hinweis auf die Kontinuität bei gleichzeitigem radikalen Wandel tritt immer deutlicher an die Stelle der zuvor vertretenen Betonung der Epochengrenzen. Die Welt des Barocks ist eine gänzlich andere als die der Hohenstaufenzeit, jedoch nicht im Ergebnis eines bestimmten, wenn auch noch so bedeutsamen weltgeschichtlichen Vorganges (Renaissance, Reformation, Kapitalismus, modeme Naturwissenschaft u. a.), sondern infolge komplizierter Prozesse auf den verschiedenen Ebenen des politischen, wirtschaftlichen, geistigen und kulturellen Lebens des europäischen Menschen. Dem 17. Jh. kommt dabei die besondere Rolle zu, den vorläufigen Abschluß dieser langen Entwicklungsepoche zu bilden, um freilich zugleich auch den unmittelbaren Ausgangspunkt für die folgende Zeit der Aufklärung abzugeben. Einige Hinweise müssen hier genügen: Kepler, Galilei und Newton vollenden die Entwicklung des modemen, mindestens bis zu Einstein ungebrochen geltenden astronomischen und physikalischen Weltbildes. Der säkularisierte Staat als Leviathan findet nach einer langen Vorbereitung seine erste gültige Ausprägung. Die Vorstellung von der respublica christiana wird endgültig von der Staatsräsonlehre abgelöst, die die europäische Staaten welt in einem Kampf aller gegen alle verwickelt sieht. Dem korrespondiert die nun ebenfalls unumkehrbar werdende Festigung der Vielzahl der Konfessionsbildungen, die die Einheit der christlichen Kirche zur Auflösung bringt. Die im kollektiven Gedächtnis noch heute lebendigen Nationalliteraturen (mit Ausnahme italiens) setzen im 17. Jh. ein - im Ergebnis einer lange Jahrhunderte zurückreichenden Entwicklung. I Zu einem gewissen Abschluß kommt auch der als Psychologisierung und Rationalisierung beschriebene Zivilisationsprozeß.2 In einem Zusammenhang damit steht die nunmehr deutliche Konturen annehmende Herausbildung des modemen Kapitalismus. Schließlich ist an den mit den Namen Bacon und Descartes verbundenen Neueinsatz in der Philosophiegeschichte zu erinnern, der wiederum nur vor dem Hintergrund einer weit zurückreichenden Entwicklung zu verstehen ist. I Die Verwurze1ung der europäischen Nationalliteraturen im lateinischen Mittelalter ist das Thema des Hauptwerkes von Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 19542 . 2 Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bern 19692 •

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Vorwort

Zu den hier angedeuteten Phänomen gehört auch die Ausformung des modernen Naturrechtes, ein Vorgang, der jedoch nur im Zusammenhang mit den anderen zentralen historischen Abläufen zu verstehen ist. Die westeuropäische Forschung, die insgesamt gesehen dem "siglo de oro", um diesen spanischen Begriff in einem weiteren Sinne anzuwenden, von jeher ein großes Interesse entgegenbrachte, hat sich auch in einem breiten Umfange der Geschichte des neuzeitlichen Naturrechtes gewidmet. So ist beispielsweise das Werk von Hugo Grotius durch eine Bibliographie, durch eine mustergültige Briefausgabe, durch verschiedene Texteditionen, durch eine Fülle von Untersuchungen, ja sogar durch eine eigene Zeitschrift (Grotiana) in einem bemerkenswert breiten Umfange erschlossen worden. Ein aus der jüngsten Vergangenheit stammender Beleg für die Aktualität des Themas Naturrecht bildet eine Tagung des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen im Juni 1989 zum Problem "Modern Natural Law and the 18thcentury Discours ofPolitics, History and Society". Bezeichnenderweise dominierten auf dieser Tagung Teilnehmer aus dem angloamerikanischen und italienischen Raum. Die deutsche Forschung hat demgegenüber (auf diese allgemein bekannte Tatsache soll hier nur hingewiesen werden) dem 17. Jh. lange Zeit eine vergleichsweise nur sehr mäßige Beachtung entgegengebracht. Reformation und Aufklärung (letztere allerdings mit Einschränkungen) waren die absolut favorisierten Forschungsbereiche, zwischen denen sich die Terra incognita des ausgehenden 16. und des gesamten 17. Jh. erstreckte. Erste Versuche, in diesen weißen Fleck einzudringen, sind in intensiverer Form noch vor dem 2. Weltkrieg seitens der Literaturwissenschaft unternommen worden, mit inzwischen recht beachtlichen Ergebnissen. Die Historiker der Theologie und der Philosophie sind in der Beschäftigung mit der deutschen Entwicklung innerhalb jener angegebenen Zeitspanne nur zögernd gefolgt, wenn auch inzwischen eine erhebliche Zahl an Publikationen vorliegt, die das Material für den kürzlich unternommenen Versuch einer ersten Gesamtdarstellung der Philosophiegeschichte bieten konnte. 3 Speziell die Geschichte des Naturrechts hat lange unter einer ablehnenden Beurteilung durch den Historismus des 19. Jh. zu leiden gehabt. Das zeigt sich auch und gerade an der Person Samuel von Pufendorfs (1632-1694), dessen Naturrechtssystem für weite Teile Europas und selbst Amerikas von entscheidender Bedeutung in der Entwicklung des Denkens über Recht, Moral, Politik und Staat gewesen ist. Aber selbst unter den wissenschaftlich Interessierten weckt sein Name bestenfalls dunkle Vorstellungen, die mit der Kenntnis über Leben und Werk solcher Zeitgenossen wie Hobbes, Spinoza und Leibniz nicht konkurrieren können. Seit etwa den fünfziger Jahren läßt sich nun eine wachsende Beschäftigung mit Pufendorf konstatieren, die allerdings einen stark internationalen Charakter trägt 3 Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. Berlin 1988. Vgl. meine Rezension des Werkes in der Dt. Literaturztg. Bd. 110, Heft 9 (1989), Sp. 636-641.

Vorwort

7

und an führenden Forschern aus dem deutschsprachigen Raum allein Horst Denzer aufzuweisen hat. Trotz mancher erfreulicher Fortschritte (s. die folgenden Forschungsberichte und die Bibliographie im Anhang dieser Arbeit) bleibt jedoch eine Reihe von sehr bedeutsamen Desideraten offen. Sie lassen sich in Forderungen gliedern, die stärker auf eine verbesserte Materialbereitstellung für die Beschäftigung mit dem Leben und Wirken Pufendorfs abzielen und in Fragen, die sich auf die Genese und die Interpretation des Pufendorfschen Denkens konzentrieren: 1. Es gibt keine modeme Edition der Werke Pufendorfs. Dies bildet nicht nur eine Frage der Verfügbarkeit jener Schriften, sondern ist auch unter textkritischen Gesichtspunkten (Unterschiede zwischen den einzelnen Auflagen) von Interesse. 4 2. Es fehlt eine gründliche Bibliographie, die sowohl die Arbeiten von als auch die über Pufendorf erfaßt. 3. Es fehlt an einer Erfassung und kommentierten Edition des Briefwechsels Pufendorfs und der seine Biographie betreffenden Archivalien. 4. Die bisher nur in den gröbsten Zügen bekannte Lebensgeschichte Pufendorfs bedarf dringend der näheren Aufhellung und der Ablösung bestimmter seit Jahrzehnten und Jahrhunderten tradierter Vorstellungen, die die geistige Entwicklung und äußeren Lebensschicksale Pufendorfs teilweise in einem falschen Licht erscheinen lassen. 5. In enger Verbindung mit dieser Forderung steht die Notwendigkeit, Pufendorf stärker in die geistigen, politischen, kulturellen und sonstigen Entwicklungen seines Jahrhunderts einzubinden. Dabei müssen auch die Traditionen, denen er bewußt oder unbewußt verpflichtet war, ausführlicher berücksichtigt werden. 5 Auch Pufendorfs Interesse war breitgefächert und spannte sich über Theologie, Philosophie, Pädagogik, Geschichte, Literatur und Jurisprudenz bis hin zu den Naturwissenschaften. 6 Seine eigene literarische Produktion umfaßte neben den naturrechtlichen Schriften eine erhebliche Zahl teilweise sehr umfangreicher historischer Werke, mehrere kirchenpolitische bzw. theologische Werke, und die pseudonym erschienene außerordentlich heiß diskutierte Abhandlung über die Verfassung des Deutschen Reiches. Nicht vergessen werden sollte eine kleine, aber nicht uninteressante Schrift zu pädagogischen 4 Auch die um 1930 erschienenen (inzwischen im übrigen auch schwer greifbar gewordenen) engl.-Iat. Ausgaben der drei naturrechtlichen Hauptwerke Pufendorfs können dieser Forderung nicht entsprechen. 5 Zugunsten einer stärkeren Einbindung Pufendorfs in seine historische Umwelt plädiert Horst Denzer (Nr. 416, S. 20) mit überzeugenden Ausführungen. Auch hat Denzer intensive Bemühungen unternommen, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Ein wichtiger Beitrag ist in dieser Hinsicht z. B. die Liste der im "Jus naturae et gentium" zitierten Autoren (S. 333 -357). Das proklamierte Ziel läßt sich jedoch nur dann erreichen, wenn nicht nur das gedruckte, sondern auch das handschriftliche Material herangezogen wird. Zentrale Bedeutung besitzt außerdem die Untersuchung der lokalen und regionalen Einflüsse und Verbindungen, die Pufendorf während seines Lebens erfahren bzw. geknüpft hat. 6 Den besten Beleg für die Vielfältigkeit der Interessen bei Pufendorf bildet die Zusammensetzung seiner Bibliothek. Vgl. meinen Aufsatz "Die Privtbibliothek Samuel von Pufendorfs" (Nr. 254).

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Vorwort

Fragen. Die Aufmerksamkeit der bisherigen Forschung galt in erster Linie den naturrechtlichen Arbeiten? und dem "Monzambano". Die in ihrem literarischen Niederschlag vergleichsweise bescheidene Beschäftigung mit Pufendorfs historiographischen Leistungen stand lange Zeit erst unter dem Vorzeichen, den schließlich am Berliner Hof wirkenden Historiker zum frühen Künder preußischen Ruhmes zu stilisieren, und später unter dem dominierenden Einfluß der Staatsräsonlehre Meineckes (s. Forschungsbericht). Beide Gesichtspunkte vereinnahmen Pufendorf zu rasch für eigene Positionen und neigen zu einer Isolierung seines Wirkens als Historiker. Krieger und Denzer gehören zu den wenigen Forschern, die den Versuch unternehmen, Pufendorfs vielfältige Betätigungen zu einem Gesamtbild seines Schaffens zusammenzufügen. Dazu gehören auch seine Ausflüge auf das Gebiet der Theologie. Die in der bisherigen Literatur immer wieder vertretene Ansicht, Pufendorfs Schriften zu diesem Themenbereich seien weitestgehend kirchenpolitisch orientiert und würden gleichsam nur ein Spezialkapitel innerhalb seines Naturrechtssystems abhandeln, greift zu kurz und verkennt das bei Pufendorf seit seiner Leipziger Studienzeit zu verfolgende genuine Interesse an der Theologie und dem christlichen Glauben. Auch hier wird die künftige Forschung entschiedener als bisher ansetzen müssen, um die Vielseitigkeit von Pufendorfs Schaffen in ihrer jeweiligen Selbständigkeit und gleichzeitigen Verflechtung besser zu erkennen. Daß dabei die unter Punkt 5 genannte Notwendigkeit der näheren konkreten Analyse der sich wandelnden Lebensumstände Pufendorfs eine Rolle spielt, sei nur angemerkt. 8 Die im folgenden zusammengestellten Beiträge sollen zur Lösung der angeführten Aufgaben und Probleme beitragen. Es handelt sich um Untersuchungen zur Biographie Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und Theologe. Sie beruhen in einem breiten Umfange auf bisher noch kaum oder gar nicht ausgewerteten archivalischen Materialien, die im Zusammenhang mit der von mir betriebenen Edition des Briefwechsels Pufendorfs bekannt geworden sind. Einige dieser Texte werden, soweit sie für die folgenden Abhandlungen von besonderer Relevanz sind, in einem Quellenanhang wiedergegeben. Die sich anschließende Bibliographie versteht sich als einen ersten Versuch, die geforderte Zusammenstellung des zu Pufendorf bisher publizierten Schrifttums zu erbringen. Die im Text und im Anmerkungsapparat zu findenden Nummernangaben beziehen sich auf jene Bibliographie.

? Das Hauptaugenmerk galt dabei meist den beiden bekanntesten Werken "De officio hominis et civis" und "De jure naturae et gentium". Vor allem Pufendorfs Dissertationen und seine Streitschriften sammlung "Eris Scandica" finden dagegen eine zu geringe Beachtung. Bezeichnenderweise sind diese Texte seit dem 17. / 18. Jh. nicht wieder gedruckt worden. 8 Dieser Weg ist bisher konsequent allein von Leonhard Krieger (Nr. 126) beschritten worden. Sein Versuch, Biographie und Ideenentwicklung bei Pufendorf in eine enge Korrelation zu bringen, kann jedoch nicht überzeugen (s. Forschungsbericht).

Vorwort

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Ich habe zahlreichen Bibliotheken und Archiven zu danken, ohne deren Hilfe bei der Ermittlung und Bereitstellung handschriftlicher Materialien die folgenden Untersuchungen nicht möglich gewesen wären: UB Leipzig (Dr. Debes), UB Jena (I. Kratzsch), UB Rostock (A. Händel), UB Uppsala (T. Anfält), Franckische Stiftungen Halle (1. Storz), UB Göttingen (Dr. H. Rohlfing), Niedersächsische Landesbibliothek Hannover (E. Ekowski u. Prof. Heinekamp), Forschungsbibliothek Gotha (Dr. Claus), Gesamthochschul-Bibliothek Kassel (Dr. Broszinski), Stadt- u. Universitätsbibliothek Frankfurt / M. (Dr. Powitz), Stifts- och Landsbibliothek Linköping (A. Ranius), Kungl. Biblioteket Stockholm (A. Wolodarski), Kongelige Bibliotek Kopenhagen (P. Ringstedt), Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (Dr. Burmeister), Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin (E. Ziesche), Bayerische Staatsbibliothek München (Dr. Kudorfer), Zentrales Staats archiv Merseburg (Dr. Kohnke), Riksarkivet Stockholm (Dr. Abukhanfusa), Staatsarchiv Weimar (Michel-Triller), Außenstelle Altenburg des Weimarer Staatsarchivs (Simonis), Außenstelle Gotha des Weimarer Staatsarchivs (Immig), Universitäts archiv Jena (Dr. Herz), Universitäts archiv Leipzig (Prof. Schwendler), Pfarramt Flöha (E. Sohr), Bibliotheque Nationale Paris (J. Sc1afer). Für vielfältige Hilfsleistungen habe ich außerdem zu danken: Dr. Fiammetta Palladini (Rom), Dr. Horst Denzer (Augsburg), Prof. Alfred Dufour (Genf), Prof. Günter Mühlpfordt (Halle), Prof. Kjell Modeer (Lund), Dr. Dietrich Blaufuss (Erlangen), Prof. Hans Thieme (Freiburg / Br.), Dr. Richard Münzner (Hamburg), Klaus Vogel (Göttingen), Dr. Gerhart v. Kap-herr (Waterloo, Kanada). Die "Deutsche Forschungsgemeinschaft" hat durch die Gewährung einer Druckbeihilfe die Publikation der vorliegenden Arbeit wesentlich gefördert. Leipzig, Frühjahr 1992

Delle! Döring

Inhaltsverzeichnis 1. Probleme der Biographie Pufendorfs .... . ........................... . . .. .......

15

1.1 Forschungsgeschichte ..........................................................

15

1.1.1 Beiträge des 18. Jahrhunderts zur Biographie Pufendorfs ...........

15

1.1.2 Pufendorfs Biographie in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts

21

1.2 Pufendorf und die Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie an der Universität Jena im Jahre 1664 ...........................................

40

2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller ......................................

55

2.1 Forschungsgeschichte ..... . ............... . .. . .................................

55

2.2 Pufendorf in den theologischen und konfessionellen Auseinandersetzungen der achtziger und neunziger Jahre des 17. Jahrhunderts ....................

62

2.2.1 Pufendorfs Partner in der Diskussion theologischer Fragen .........

62

2.2.2 Die Theologie in ihrer Beziehung zur Konfessionspolitik und zur Ethik bei Pufendorf bis Ende der achtziger Jahre ....................

73

2.2.3 Das "Jus fecia1e". Vorgeschichte und Entstehung.... . .. . ......... . ..

81

2.2.4 Das "Jus feciale". Inhalt und Bedeutung.................... . .........

88

2.2.5 Zusammenfassung .......................................................

112

1. Exkurs: Pufendorfs Stellung zum Atheismus, Sozinianismus und Spinozismus ................................................

115

2. Exkurs: Synkretismus und Vordringen des Katholizismus. Pufendorf und die Affäre Pfeiffer ..............................

122

3. Exkurs: Zur Rezeption von Pufendorfs "Jus feciale" (insbesondere durch Gottfried Wilhelm Leibniz) ..................

130

3. Pufendorf als Historiker ..........................................................

143

3.1 Forschungsbericht ..... . ........ . ......... . . ....... . .................. . . ... ......

143

3.2 Pufendorfs Vorträge zur Geschichte im Leipziger Collegium Anthologicum (1655-1658) .....................................................................

151

12

Inhaltsverzeichnis Quellenanhang

1. Brief der Philosophischen Fakultät der Universität Jena an den Rektor der Universität Jena, 6. 8. 1664 .......................................................

179

2. Brief Erhard Weigels an Hiob Ludolf, Jena, 16. 10. 1664 .....................

180

3. Schreiben der Phil. Fakultät der Jenaer Universität an die Nutriatoren der Universität, Jena, 19.11. 1664 ....................................................

181

4. Brief Erhard Weigels an Hiob Ludolf, Jena, 19.11. 1664 .....................

183

5. Schreiben von Herzog Ernst dem Frommen von Sachsen-Gotha an Herzog Friedrich Wilhelm von Sachsen-Altenburg, Gotha, 29. 11. 1664 ..............

183

6. Brief Erhard Weigels an Hiob Ludolf, Jena, 31. 12. 1664 .....................

184

7. Pufendorfs Bemerkungen zu der von Haquin Spegel 1686 besorgten Ausgabe des Lutherischen Katechismus (entstanden 1686/87) .........................

185

8. Pufendorf an Justus Christoph Schomer, Berlin, 6. 10. 1690 ..... . .. . .........

188

9. Aufzeichnungen des Theologiestudenten Carl Arnd über ein Gespräch Rostokker Theologen mit Samuel v. Pufendorf am 19.9. 1694 .......................

190

10. Brief von Friedrich Wilhelm Stosch an Pufendorf und Spener, Berlin, 11.2.1694 ..........................................................................

193

11. Pufendorfs, Speners und Lütkens Gutachten über den von Johann Philipp Pfeiffer verfaßten Katechismus und dessen "Explicatio", April 1694 ........

194

12. Vermutlicher Entwurf zur "Epistola ad amicum" ...............................

204

13. Epistola ad Amicum super exercitationes posthumas Samuelis Puffendorfii De consensu et dissensu protestantium ..........................................

205

14. Vortrag Pufendorfs im Collegium Anthologicum am 21. 7. 1655 .............

210

Bibliographie der erschienenen Schriften über Pufendorf Vorbemerkung .......................................................................

214

1. Briefe von und an Samuel Pufendorf .........................................

214

1.1 Briefsammlungen (Schreiben Pufendorfs an verschiedene Empfänger)

214

1.2 Briefe Pufendorfs an einzelne Personen ....................................

215

1.3 Briefe an Pufendorf ...........................................................

218

Inhaltsverzeichnis

13

2. Lexika

218

3. Bibliographien ......................................................................

220

4. Gesamtdarstellungen .......................................................... . ....

221

S. Familie (außer Esaias Pufendorf) ......................... . .. . .. . ............ . ....

224

6. Esaias Pufendorf ................ . ........ . .................. . ........ . ......... . ....

226

7. Pufendorf in Grimma

228

8. Pufendorf in Leipzig ...............................................................

228

9. Pufendorf in Jena...................................................................

228

10. Pufendorf in Dänemark und Holland .............................................

229

11. Pufendorf in Heidelberg ...........................................................

229

12. Pufendorf in Schweden ............................................................

230

13. Pufendorf in Berlin ........................................... . .....................

230

14. Pufendorfs Tod

231

15. Bildnisse ............................................................................

232

16. Nachlaß..................... . ........................................................

232

17. Pufendorfs Beziehungen zu seinen Zeitgenossen ..... . ......... . .. . .. . ..... . ...

232

18. Pufendorfs Rechtsphilosophie .....................................................

237

19. Pufendorfs Stellung in der Geschichte des Völkerrechts.......................

246

20. Einzelne Aspekte des Rechts bei Pufendorf ................. . ...................

247

21. Pufendorf als Historiker ...........................................................

248

22. Theologie, Kirche, religiöse Toleranz ........................ . ...................

253

23. Pufendorf als politischer Schriftsteller ................ . ........ . .................

255

23.1 De statu imperii Gerrnanici (Severinus de Monzambano) ...............

255

23.2 Les Anecdotes de Suecte ....................................................

258

14

Inhaltsverzeichnis

24. Wirkungen Pufendorfs

259

24.1 Allgemeine Darstellungen ...................................................

259

24.2 Heiliges Römisches Reich ..... . ............... . .. . .. . .. . ...................

259

24.3 Frankreich und die Schweiz ............................... .................

261

24.4 Südeuropa und Südamerika .................................................

263

24.5 Angelsächsischer Raum .....................................................

263

24.6 Nordeuropa (einschließlich Baltikum) .....................................

265

24.7 Osteuropa .......... .. . .. .. . ................. .. . .. .................... .. .......

265

Personenregister zur Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267

1. Probleme der Biographie Pufendorfs 1.1 Forschungsgeschichte 1.1.1 Beiträge des 18. Jahrhunderts zur Biographie Pufendorfs

Die folgenden Seiten unternehmen lediglich den Versuch, einen Überblick über die veröffentlichte Literatur zur Biographie Pufendorfs zu geben. Vorhandene Archivalien werden nur dann berücksichtigt, wenn sich aus ihnen wichtige Korrekturen oder Ergänzungen des Gedruckten ergeben. Der Verfasser hofft, an anderer Stelle über die durch seine Forschungen verbesserte Quellenlage zur Lebensgeschichte Pufendorfs berichten zu können. Die Quellenüberlieferung zur Biographie Pufendorfs ist von dürftigem Umfang, und zwar nicht nur im Vergleich zu den unzähligen Regalmetern, die der Leibniz-Nachlaß im Raum der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover einnimmt. Auch über die meisten anderen führenden Denker seiner Epoche wissen wir in biographischer Hinsicht mehr, steht ein größerer Umfang an Quellenmaterial aller Art zur Verfügung. Daß freilich auch bei Pufendorf die Dinge nicht ganz so ungünstig liegen, wie es auf Grund der vorhandenen Literatur erscheinen mag, werden die folgenden Studien zu Pufendorf, vor allem aber die in Vorbereitung befindliche Edition seines Briefwechsels zeigen. Auf den nächsten Seiten soll es uns um die frühen, in den ersten einhundert Jahren nach Pufendorfs Tod erschienenen Beiträge zu seiner Biographie gehen. Angesichts der Spärlichkeit der unmittelbaren, also aus Pufendorfs Lebenszeit überlieferten Dokumente, kommt ihnen eine erhöhte Bedeutung zu, denn in diesen Jahrzehnten muß jenes Material noch weit umfangreicher gewesen sein (was sich im folgenden bestätigen wird), und es gab noch bis zur Mitte des 18. Jh. die Möglichkeit, weitere Informationen durch Verwandte und Freunde Pufendorfs zu erlangen. Pufendorf selbst hat einige, wenn auch sehr verstreute Nachrichten über sein Leben in verschiedenen seiner Streitschriften hinterlassen, insbesondere in der "Epistola ad amicos". Diese Notizen dienen allein dem Zwecke, bestimmte gegen ihn erhobene Anschuldigungen abzuwehren und besitzen daher einen sehr zufälligen Charakter. Um so wichtiger mußte es für den potentiellen Pufendorf-Biographen erscheinen, anderweitige Mitteilungen zu sammeln. Der erste, der sich die Abfassung einer Biographie Pufendorfs zum Ziel gesetzt zu haben scheint, war Johann Peter von Ludewig in Halle. Ludewig, der noch mit Pufendorf selbst in einen brieflichen Kontakt getreten war,l will sich bereits kurz nach dem Tode

16

1. Probleme der Biographie Pufendorfs

Pufendorfs dessen Lebensbeschreibung zur Aufgabe gemacht haben. 2 Zwei Jahre später berichtet Caspar Thurmann (1634-1705) aus Rostock, "Pufendorfs Vita" werde "itzo von Herrn N in. H. beschrieben."3 Wenige Wochen später heißt es: "Vitam Sam. Pufendorfij hat Ludwig zu Halle unter handen, ich habe alle meine Collect. Elogia, Judicia hergeben sollen, ohne einige Recogn. von der Fr. Wittwen."4 Weiterhin deutet Thurmann an, daß Ludewig zugleich auch die Biographie des Bruders Esaias berücksichtigen wolle. In der Tat ist die mehrfach angekündigte Lebensbeschreibung zuerst als "Eulogium E. Pufendorfii" im Jahre 1700 erschienen. 5 Erst 1721, als Ludewig eine Sammlung "Opuscula" in den Druck gab, wurde in dem Titel des unverändert übernommenen Textes auch der Name Samuels angeführt. 6 Durchblättert man den Beitrag, wird tatsächlich rasch deutlich, daß in erster Linie das Leben des Esaias Berücksichtigung gefunden hat, während von Samuel eigentlich nur seine historischen Schriften etwas näher behandelt werden. Dies ist um so bedauerlicher, als Ludewig über hervorragende Informationsmöglichkeiten verfügte. Im Vorwort zu der 1721 besorgten Ausgabe des "Eulogium" (s. Anm. 6) berichtet Ludewig, daß er viele Mitteilungen über die Schicksale der Brüder Pufendorf von Markus Detlev Friese erhalten habe, der über eine lange Reihe von Jahren hinweg aufs engste (famliarissimus) mit den Pufendorfs verbunden gewesen sei. 7 Auch Adam Rechenberg in Leipzig I Ludewig hatte ihm seine "Erleuterung über S. Pufendorffs Einleitung zur Historie ... " (Halle 1695) zugeschickt (im Manuskript?, s. Vorrede Ludewigs zu seiner eben genannten Publikation) und sprach wohl zugleich die geplante Berufung Pufendorfs nach Halle an. Pufendorfs Antwort erwähnt Ludewig in der Vorrede seiner "Erleuterung" und dann in einer viel späteren Publikation: J. P. v. Ludewig: Consilia Hallensium iureconsultum. Tom 11 ... Nebst einer Historie der Hallischen Universität biß 1692 und 1694. Halle 1734, S. 54, Anm. 182. Ein Auszug aus dem ansonsten anscheinend verlorengegangenen Brief (s. Anm. 10) findet sich in der Präfatio zu Ludewigs "Opuscula oratoria" (Halle 1721), S. XXXV f. 2 Diese Absicht äußert Ludewig zuerst in der Vorrede seiner "Erleuterung" (s. Anm. 1), also 1695. Die Biographie sollte zusammen mit einer Fortsetzung der "Erleuterung" erscheinen. Dies ist nicht geschehen. 3 G. W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, I, 13 (Berlin 1987), Nr. 177 (Brief Thurmanns vom 20. / 30.9. 1696). 4 G. W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, I, 13 (Berlin 1987), Nr. 244 (Brief Thurmanns vom 29. 11. / 9. 12. 1696). 5 Sie wurde von Ludewig als Beigabe zu der von ihm besorgten Ausgabe kleinerer Schriften E. Pufendorfs verwendet (Nr. 87). 6 "Eulogium Esaiae ac Samuelis Pufendorfiorum" (Nr. 91). Trotz der Textidentität der Ausgaben von 1700 und 1721 ist letztere vorzuziehen, da Ludewig hier wichtige Informationen über seine Quellen vermittelt. 7 Daß Friese über Jahrzehnte hinweg mit den Brüdern Pufendorf befreundet war, bezeugen die bereits im 18. Jh. veröffentlichten, aber von der gesamten bisherigen Forschung unbeachtet gebliebenen Briefe der Brüder Pufendorf an Friese (Chr. Ludwig Lieberkühn [Hrsg.]: Miscellaneen. Stettin 1779, S. 9 ff. u. 49 ff.). Auch der Hamburger Polyhistor Vicentius Placcius beruft sich übrigens auf ein an ihn gerichtetes Schreiben Frieses aus dem Jahre 1697, das Frieses gute Kontakte zu E. Pufendorfbeweist (Theatrum anonymorum et pseudonymorum. Hamburg 1708, S. 314 des 2. Teiles, dort ein Auszug aus einem Schreiben von M. D. Friese an V. Placcius vom 3.4. 1697, der seine Beziehungen zu E. Pufendorf behandelt.).

1.1 Forschungsgeschichte

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habe ihm manches mitteilen können. 8 In einem anderen Zusammenhang - bei der Schilderung des mißlungenen Versuchs, Pufendorf nach Halle zu ziehen erwähnt Ludewig schließlich auch unmittelbare Kontakte zu Pufendorfs Witwe: Was er hier über Pufendorfs Stellung zur Universität berichte, habe er "aus der Erzehlung seiner sehr verständigen und beredten Frau Wittwen in Berlin" . 9 Mit Ludewigs Nachlaß sind anscheinend auch alle diese, von ihm nicht weiter bekanntgemachten Informationen, soweit sie schriftlich vorlagen, verlorengegangen. IO Die erste und auf lange Zeit hin einzige eigentliche Biographie Pufendorfs ist zehn Jahre nach Ludewigs "Eulogium" erschienen, nämlich die "Denckwürdige Lebens-Memorie und seltßame Fata des Weltberuffenen Barom Samuel von Pufendorf ... aufgesetzt von Petronio Hartewigo Adlemannsthal." 11 Sie hat in der späteren Literatur wenig Anerkennung gefunden und wird selten erwähnt. 12 Dennoch bildet diese Darstellung die wichtigste Quelle aller bis heute erschienenen Pufendorfbiographien. Es entspricht der dieser Arbeit erteilten schlechten Zensur, daß sich nur die wenigsten die Mühe gegeben haben, das offenkundige Pseudonym aufzulösen, hinter dem sich der Verfasser verbirgt. 13 Es handelt sich um einen Peter Dahlmann, über dessen Leben wir allerdings kaum etwas wissen. 14 Er soll in Leipzig Theologie studiert und später in Halle gelebt haben. 15 Erwäh8 Zu Adam Rechenberg s. die Angaben in dem Aufsatz "Pufendorf in den theologischen und konfessionellen Auseinandersetzungen der achtziger und neunziger Jahre des 17. Jh." 9 Consilio Hallensium ... (s. Anm. 1), S. 54, Anm. 182. Weitere Mitteilungen der Witwe Pufendorfs erwähnt Ludewig in seiner "Rechtlichen Erörterung der ReichsHistorie" (Halle 1735), S. XLI, Anm. 47. Aber auch mit Pufendorf selbst will Ludewig noch gesprochen haben (J. P. v. Ludewig: Gelehrte Anzeigen. Halle 1743,203. Stück, § 1 [So 866]). IO Das Staatsarchiv Merseburg besitzt einige Reste des Nachlasses von Ludewig (Rep. 92). Diese Bestände sind von mir erfolglos gesichtet worden. 11 Die Biographie erschien als Anhang zu einer von Dahlmann besorgten Übersetzung des "Monzambano" (S. 639 - 804, Nr. 88). Diese Übersetzung ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden (z. B. in: Neu Bibliotec oder Nachricht und Urtheile von neuen Büchern und allerhand zur Gelehrsamkeit dienenden Sachen. Erstes Stück. Frankfurt u. Leipzig 1709, S. 107 - 114. Kritisch äußert sich auch Gundling, s. u.). Die Ausgabe von 1715 bietet den "Monzambano" in stark veränderter und erweiterter Form. Die PufendorfBiographie ist im Text unverändert. 12 Schon Gundling meinte, es werde von Dahlmanns Arbeit "nicht zum Besten geurtheilet" (Vollständige Historie der Gelahrtheit. 3. Teil. Frankfurt u. Leipzig 1735, S. 3302). Besonders scharf äußert sich Treitschke: Die Arbeit sei "eine unbeschreiblich abgeschmackte Biographie" (Nr. 110, S. 398). 13 In den Publikationen des 18. Jh. wird oft noch der richtige Name angegeben. In neuerer Zeit ist dies m. W. nur durch F. Palladini geschehen (Nr. 660, S. 24). 14 Vgl. E. Rassmann: Kurzgefaßtes Lexicon deutscher pseudonymer Schriftsteller. Leipzig 1830, S.4. Gundling will wissen, daß Dahlmann aus der Grafschaft Mark (Westfalen) stammt (Collegium historico-literarium ... Bremen 1738, S. 735). 15 Vgl. J. Chr. Adelung: Fortsetzung und Ergänzungen zu Chr. Gottlieb Jöchers allgemeinen Gelehrtenlexikon. 2. Band, Leipzig 1787, Sp. 604. In der Matrikel der Leipziger Universität läßt sich ein Peter Dahlmann allerdings nicht nachweisen.

2 Döring

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

nenswert ist noch ein von ihm verfaßtes Lexikon der Pseudonyme (unter starker Anlehnung an Vincentius Placcius), in dem auch Pufendorf mehrfach erwähnt wird. 16 Der seiner Pufendorf-Biographie vorangestellte "Vortrab" (S. 640 - 644) vermittelt kaum irgend welche verwertbaren Auskünfte über die Entstehung der dann folgenden Abhandlung. Er, Dahlmann, zähle Pufendorf, der in ganz Europa als ein "Heroem Literatorum" geschätzt werde, unbedingt eines "verehrenden Nach-Gedächtniß" für würdig. Von anderen Seiten dazu gedrängt, wolle er seine Feder dieser Aufgabe widmen, obwohl er lieber eine andere, "capable Hand" hier am Werke sehen würde. Sein Ziel sei es nicht, "eine recht ausführliche Lebens-Beschreibung aufzusetzen", sondern er wolle nur "einen Schatten" davon entwerfen und "vornehmlich die Fata literaria, welche der Herr von Pufendorf erlitten, kürtzlich" vorstellen. Daher habe er vieles, was zu einer Biographie gehört, weggelassen, um es "in Reserve" zu halten "bis zu einer anderen vollkommenen Ausfertigung". Dahlmann bietet in seiner Darstellung im wesentlichen sichere Informationen, die z. T. auch durch andere Quellen, vor allem durch Pufendorfs Briefe, bestätigt werden können. Die blumenreiche, die einfachsten Mitteilungen aufschwemmende Sprache, in der das Ganze vorgetragen wird, ist zum Teil der Zeit zuzurechnen. Entsprechend der im Vorwort angedeuteten Zielsetzung beschränkt Dahlmann seine Erzählung im wesentlichen auf Pufendorfs literarisches Schaffen bzw. auf seine mit anderen Gelehrten geführten Auseinandersetzungen (S. 667 - 801). Inwieweit sich Dahlmann auf Pufendorf selbst stützt (Eris Scandica) oder andere Quellen nutzt, müßte noch im einzelnen untersucht werden. Über Pufendorfs eigentliche Lebensverhältnisse in Heidelberg, in Schweden und schließlich in Berlin erhalten wir nur recht dürftige Nachrichten. Demgegenüber hebt sich die relative Ausführlichkeit des Berichtes über die Leipziger Studienzeit ab. Sollte Dahlmann tatsächlich selbst in Leipzig studiert haben, könnte man vermuten, daß er hier Nachrichten aus erster Hand sammeln konnte, vielleicht über Adam Rechenberg. Den Versuch einer breiter angelegten Darstellung des Lebens und Wirkens Pufendorfs hat es im gesamten 18. Jh. nicht mehr gegeben. Die Beiträge zur Biographie Pufendorfs beschränken sich auf Lexikonartikel, Erwähnungen in rechtshistorischen Darstellungen und Zeitschriftenartikel. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Titel, die in irgendeiner Hinsicht einen eigenen Informationswert besitzen. Ein annähernd vollständiges Verzeichnis aller biographischen Publikationen des 18. Jh. bietet die Bibliographie im Anhang zu diesem Band. Eine ausführliche Schilderung der vielfältigen Auseinandersetzungen, in die Pufendorf verwickelt war, gibt Jacob Friedrich Ludovici in seiner 1701 (erweitert 1714) herausgebenen Geschichte des Naturrechts. 17 Für die Biographie wertlos, 16 Peter Dahlmann: Schauplatz der Masquirten und Demasquirten Gelehrten bey ihren verdeckten und nunmehro entdeckten Schrifften. Leipzig 1710. 17 J. F. Ludovici: Delineatio Historiae Juris Divini Naturalis. Halle 1714.

1.1 Forschungsgeschichte

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aber für die bis heute ausstehende umfassende Bibliographie der Veröffentlichungen Pufendorfs von Interesse sind die Beiträge in der Hamburgischen Bibliothek und in Nicerons Lexikon. 18 Viele Fehler und Ungenauigkeiten, aber auch einige wertvolle Informationen enthalten die voluminösen wissenschaftshistorischen Abhandlungen von Nikolaus Hieronymus Gundling. 19 Die neben Dahlmanns Biographie wichtigste Publikation zu Pufendorfs Lebenslauf ist die von Christoph August Heumann in Fortsetzungen veröffentlichte Sammlung "Fragmenta Manuscripta aus der Historie Samuelis Pufendorfii".20 Heumann verfügte über einige sehr bedeutsame, inzwischen verloren gegangene Quellen zur Biographie Pufendorfs, aus denen er leider eben nur einige "Fragmente" mitteilt. So stand Heumann der sehr aussagekräftige Briefwechsel Gottfried Klingers, des "ersten Pufendorfianer" (so Heumann, S. 644), mit Samuel und Esaias Pufendorf zur Verfügung. Heute ist davon nur noch ein einziger, in der UB Göttingen befindlicher Brief Klingers an Samuel vorhanden (10. 1. 1676), ausgerechnet das einzige Schreiben, das Heumann bereits in voller Länge veröffentlicht hat. 21 Weitere von Heumann festgehaltene Nachrichten stammen von Samuels Neffen Esaias Pufendorf. 22 Durch ihn muß er auch Zugang zu den Briefen Samuels an seinen Bruder Jeremias in Flöha erhalten haben. Die von Heumann mitgeteilte Erinnerung Pufendorfs an seine Grimmaer Schulzeit ist einem dieser Briefe entnommen worden. Schließlich berichtet Heumann noch, daß in Holstein ein Neffe (Schwester-Sohn) Pufendorfs lebe, "welcher die Lebens-Beschreibung seiner bey den Vettern, des Samuelis und Esaiae, unter der Hand hat, und durch deren Herausgebung ohnzweiffel 18 Hamburgische Bibliotheca historica. Die zehnte Centuria. Leipzig 1729 (Die Biographie ist ganz von Dahlmann abhängig). Das Gelehrtenlexikon von Jean Pierre Niceron ist auch in einer deutschen Ausgabe erschienen (s. Bibliographie). Den Hauptteil des Artikels bildet die kommentierende Bibliographie (S. 245 - 267). 19 s. Bibliographie. Auch Gundling gibt eine ausführliche Bibliographie der Schriften Pufendorfs und seiner Gegner. 20 Veröffentlicht in den von Heumann herausgegebenen "Acta philosophorum", 16.18. Stück (Halle 1725, 1726, 0.1.). Heumann will die bei aller Kritik positiv bewertete Biographie Dahlmanns ergänzen. 21 Heumann hat wahrscheinlich die Hinterlassenschaft des schon 1678 im Hause des Esaias Pufendorf verstorbenen G. Klingers geerbt (über Klinger s. S. 40 f.), vielleicht über dessen Bruder Christian Klinger (gest. 1722), der als kurfürstlicher und königlicher Sekretär in Hannover wirkte (S. 771 erwähnt Heumann, daß er in Klingers "Verlassenschaft" ein bestimmtes Buch gefunden habe). Heumanns Briefnachlaß befindet sich heute in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover. Er ist von mir teilweise gesichtet worden, ohne daß sich Spuren der Herkunft und des Verbleibs des Briefwechsels Klinger-Pufendorf ergaben (nach Heumanns Angabe sechs Briefe von Klinger; die Zahl der Pufendorf-Briefe wird nicht mitgeteilt, zitiert wird aus fünf Briefen). Einer anderen Publikation Heumanns ist zu entnehmen, daß er den heute in der VB Göttingen aufbewahrten Brief Pufendorfs kostenlos erworben und der Schulbücherei des Göttinger Gymnasiums übergeben habe (Zeit- und Geschieht-Beschreibung der Stadt Göttingen. III. Teil, IV. Buch, II. Kapitel, S. 179. Hannover und Göttingen 1738). Den Hinweis auf diesen Titel verdanke ich Herm Prof. Mühlpfordt (Halle). 22 Esaias Pufendorf (1679-1738) ist ein Sohn von Samuels Bruder Jeremias, der als einziger der Brüder Pufendorf männliche Nachkommen hatte. 2*

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

denen Gelehrten einen angenehmen Dienst erweisen wird."23 Die angekündigte Publikation ist jedoch nie zustande gekommen. Die restlichen Publikationen, die für die Rekonstruktion der Biographie Pufendorfs einen gewissen Materialwert besitzen, sind rasch aufgezählt. Auf eine bisher noch nicht erwähnte Informationsquelle konnte der sächsische Jurist und Archivar Adam Friedrich Glafey (1692-1753) zurückgreifen, nämlich auf die Mitteilungen des nach dem preußischen Regierungswechsel 1713 nach Dresden übergesiedelten früheren Berliner Hofzeremonienmeisters Johann v. Besser (gest. 1729), "so mit Pufendorffen vertraute Freundschafft gepflogen, und mir in dem mit ihm gehabten Umgang von diesen und andem Pufendorffianischen Dingen viel particularia eröfnet". 24 Dennoch enthält Glafeys Darstellung zum größten Teil bereits bekannte Mitteilungen. Ähnliches gilt für Joh. ehr. Nemeitz (1679-1753), der aber doch einige sonst nirgends zu findende Informationen festgehalten hat. 25 Sein Hauptinteresse gilt allerdings den Schicksalen des Esaias Pufendorf. Gleiches läßt sich, trotz des anderslautenden Titels, von Daniel Müllers kleiner Schrift sagen. 26 Immerhin gibt er als Hauptgewährsmann seiner Ausführungen Adam Rechenberg an. Alles was zwischen der Mitte de 18. Jh. und dem Erscheinen von Treitschkes Abhandlung (1875) über Pufendorf publiziert worden ist, besitzt in biographischer Hinsicht nicht den geringsten Wert - mit einer Ausnahme, die meines Wissens bisher keinerlei Beachtung gefunden hat. In dem von Johann Georg Meusel 23 Acta philosophorum, S. 957. Der Name des Neffen lautet Zeuner. Von einem E. Zeuner in Hamburg haben sich Briefe an Adam Rechenberg erhalten (UB Leipzig, Ms 0334, BI. 459 r ; Ms 0336, BI. 708 r - 71OV), aus denen hervorgeht, daß er mit Pufendorf in brieflicher Verbindung stand. Pufendorfs älteste Schwester Anna Margaretha war mit Johannes Zeuner (später Pfarrer in Seifersbach) verheiratet. Einen weiteren Hinweis gibt ein Brief Pufendorfs an Christian Philipp in Hamburg, in dem letzterer darum gebeten wird, "meine Frau Schwester" zu grüßen, "dero Liebster itzo in Stockholm ist" (27.5. 1676). 24 A. F. Glafey: Geschichte des Rechts der Vemunfft. Leipzig 1739,213 (s. Bibliographie). Daß Pufendorf mit Besser bekannt war, beweist ein Beileidsschreiben zum Tode der Frau Bessers (0. D. [Dezember 1688], abgedruckt in: J. v. Besser: Schrifften. Hrsg. v. Johann U1rich König. Leipzig 1732, S. 398 -401). Diesen Todesfall erwähnt Pufendorf auch in einem Brief an Thomasius (30. 12. 1688). Die in der sächsischen Landesbibliothek aufbewahrten Reste des Besser-Nachlasses (vgl. Katalog der Handschriften der Königlichen Öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Bearb. v. F. Schnorr von Caro1sfe1d. 1.-3. Band. Leipzig 1882-1906 [Reprint 1979-1982]) geben zu Pufendorf nichts her, sieht man vom eigenhändigen Manuskript Pufendorfs von "De rebus gestis Friderici Tertii" ab (Ms H 86). 25 J. Chr. Nemeitz: Besondere Nachrichten von den beyden Gebrüdem Esaia und Samuel Pufendorff. In. J. Chr. Nemeitz: Vemünfftige Gedancken über allerhand historische, critische und moralische Materien. 1. Theil. Franckfurt / M. 1739, S. 60 ff. So berichtet Nemeitz, daß Samuel die Absicht gehegt habe, seinen Bruder Esaias gegen die schwedische Regierung, die ihn zum Tode verurteilt hatte, zu verteidigen. Er habe davon jedoch später Abstand genommen. Diese Nachricht läßt sich jetzt durch bisher unbekannte Briefe Samuels z. T. bestätigen. 26 D. Müller: Samuelis Liberi Baronis de Puffendorf laudes. Chemnitz 1723 (2 Bll.).

1.1 Forschungsgeschichte

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herausgegebenen "Historisch-Litterarisch-Bibliographischen Magazin" (Zürich) erschien ein anonymer Beitrag "Leben des Freyherrn Samuel von Pufendorf', dessen Verfasser der Jurist und Schriftsteller Johann Christi an Siebenkäs (1753 -1841) gewesen sein soll.27 Die Bedeutung dieser Publikation besteht in der kritischen Verarbeitung fast des gesamten bis dahin erschienenen Materials zu Pufendorfs Leben, auch sehr entlegener, niemals wieder benutzter Titel. Was die Zuverlässigkeit der biographischen Angaben betrifft, ist Siebenkäs' Beitrag das Solideste geblieben, was bis heute zu diesem Thema erschienen ist. Das läßt sich auch über die umfangreiche Bibliographie sagen, die in ihren Kommentaren außerdem weitere Informationen zur Biographie bietet.

1.1.2 Pufendorfs Biographie in der Forschung des 19. und 20. Jh. Pufendorf war ohne Zweifel einer der größten Erfolgsautoren des 17. und 18. Jh., den es im europäischen Maßstab gegeben hat. Allein sein Kompendium "De officio hominis et civis" brachte es nach der vollständigsten z. Zt. vorliegenden Bibliographie bis zum Ende des 18. Jh. auf 145 Ausgaben in acht Sprachen. 28 Zu diesem Zeitpunkt (um 1800) war in Deutschland jedoch das Interesse an Pufendorf und seinem Werk bereits weitgehend erloschen. "De officio" erschien 1769 ein letztes Mal in einem deutschen Verlag und seitdem ist es, sieht man von dem eine Ausnahmestellung einnehmenden "Monzambano" ab, in Deutschland lediglich in diesem Jahrhundert zum Nachdruck zweier Werke Pufendorfs gekommen, seines Hauptwerkes "De jure naturae et gentium" (Frankfurt / M. 1967) und seiner kirchenpolitischen Schrift "De habitu religionis christianae ad vitam civilem".29 Nichts beweist eindrücklicher die ironisierende Distanz, die man gegen Ende des Jahrhunderts dem einst gerühmten Lehrer des Naturrechts gegenüber bezogen hat, als Schillers Gedicht "Die Weltweisen", das Pufendorf 27 Der erste Teil (1788) bietet einen Abriß des Lebens Pufendorfs. Den Inhalt der Fortsetzung (1790) bildet eine breit kommentierte Bibliographie der Schriften Pufendorfs. Ein angekündigter dritter Beitrag über Pufendorfs literarische Streitigkeiten ist nicht erschienen. Die Angabe, daß Siebenkäs der Verfasser des Beitrags ist, stützt sich auf eine Notiz von Johann Friedrich Ludwig Wachler (Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa. Band I, 2. Abt., S. 874, Anm. 75, Göttingen 1813). 28 Nach der Bibliographie von Klaus Luig (s. Bibliographie, Nr. 659). Auch dieses sehr gründliche Verzeichnis ist noch ergänzungsbedürftig. Das beweist die Existenz einer dort nicht vermerkten schwedischen Übersetzung aus dem Jahre 1747 (vg!. Lars Bjöme: Pufendorf und Finnland [Nr. 753]). 29 Bis in die neunziger Jahre des 18. Jh. erschienen allerdings noch einige der historischen Arbeiten Pufendorfs (vg!. Denzer, S. 369 ff.). Deutsche Übersetzungen des für die Verfassungsgeschichte des Reiches wichtigen "Monzambano" wurden 1870 (H. Breßlau), 1877 (H. Dove), 1922 (H. Breßlau) und 1976 (H. Denzer) herausgegeben. Die lateinische Originalfassung edierte 1910 F. Salomon. "De habitu" ist 1972 in Stuttgart im Reprint erschienen. Dieser Befund steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu der Tatsache, daß allein von "De officio" in diesem Ih. zwei lat.-eng!. Ausgaben in den USA erschienen sind (1927 und 1965).

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

als weltfernen Kathedergelehrten zeigt, der mit großem Aufwand an Tiefsinn Selbstverständlichkeiten verkündet: ",Der Mensch bedarf des Menschen sehr / Zu seinem großen Ziele: / Nur in dem Ganzen wirket er, / Viel Tropfen geben erst das Meer / Viel Wasser treibt die Mühle. / Drum flieht den wilden Wölfe Stand / Und knüpft des Staates dauernd Band.' / So lehren vom Katheder / Herr Puffendorf und Feder. / Doch weil, was ein Professor spricht, Nicht gleich zu allen dringet, / So übt Natur die Mutterpflicht / Und sorgt, daß nie die Kette bricht, / Und daß der Reif nie springet. / Einstweilen, bis den Bau der Welt / Philosophie zusammenhält, / Erhält sie das Getriebe / Durch Hunger und durch Liebe."3o Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältiger Natur: die Abkehr vom Latein als Wissenschaftssprache, überhaupt die beginnende Distanz gegenüber dem geistigen Leben des 17. Jh., das Aufkommen der historischen Rechtsschule mit ihrer Ablehnung der Naturrechtslehre. 30. Das sich erst ab der Mitte des 19. Jh. allmählich wieder verstärkende Interesse für Pufendorf galt zuerst stärker dem Historiker, insbesondere dem der preußischen Geschichte. Gustav Droysen veröffentlichte 1864 den ersten noch heute brauchbaren Beitrag über Pufendorf als Geschichtsschreiber (Nr. 532) und stellte wohl als erster nennenswerte Forschungen nach überlieferten Archivalien zu Pufendorfs Leben an. 31 In die gleiche Zeit fällt der später aufgegebene Plan, Pufendorfs Buch über den Großen Kurfürsten ins Deutsche zu übersetzen. 32 Ein Historiker ist es schließlich auch, der die bis weit in unser Jahrhundert maßgeblich gebliebene erste größere Biographie Pufendorfs seit Dahlmanns Zeiten veröffentlicht hat (1875). Heinrich v. Treitschkes unbestritten brilliant geschriebene Darstellung entwirft eine Folge von Bildern prägender Kraft: der schon in Grimma eigene Wege suchende frühreife Schüler, der sich über einen verknöcherten 30 Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden. 1. Bd. Leipzig o. J., S. 274 (Deutsche Klassiker-Bibliothek). Zu Schillers Staats- und Rechtsdenken s. die Arbeit von H. Blaese (Nr. 667). 30. Dieser Prozeß der Abwertung von Pufendorfs Werk kann hier im einzelnen nicht verfolgt werden. Recht aussagekräftig sind in dieser Beziehung die Pufendorf-Artikel in einigen der gängigsten Lexika der Zeit. In Hübners "Staats- und Zeitungslexicon" (31. Auf!. 1826, s. Nr. 59) heißt es, daß Pufendorfs Staats- und Kirchenrecht in jetziger Zeit keinen Raum mehr finden würden: "und phantasierte er auch bisweilen in den Steppen des so genannten Naturrechts". In H. Wageners "Conversations1exikon" (Nr. 63) wird eingeräumt, daß Pufendorfs Werke gegenwärtig (1864) nur noch von wenigen gelesen würden. Auch müsse man sagen, daß das "Andenken an den Vater des Naturrechts selbst nur ein sehr laues ist." (S. 442.) 31 Auf Droysen ist höchstwahrscheinlich Treitschkes Bemerkung zu deuten, daß "einer unseter namhaftesten Geschichtsschreiber" überall nach Briefen Pufendorfs hat suchen lassen (s. Nr. 252, S. 725). 32 Der Plan wurde seitens der Kommission zur Sammlung von Materialien zur Geschichte des Großen Kurfürsten gefaßt, die 1861 unter Protektion des Kronprinzen Friedrich gegründet worden war (Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. 1. Teil, 1. Band, Leipzig 1895. S. XXI). Ich verdanke diesen Hinweis Frau Dr. Kohnke vom Staatsarchiv Merseburg.

1.1 Forschungsgeschichte

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Scholastizismus und vor allem über eine lebensfremde Theologie kühn hinwegsetzende Leipziger Student, der in Jena zu den Füßen Weigels sitzende junge Magister, der mit allen Überlieferungen brechende Verfasser des "Monzambano" in Heidelberg, der gegen eine Rotte moralisch und geistig minderwertiger Kleingeister unerschrocken ankämpfende Professor in Lund, der in den Archiven vergrabene Historiker in Stockholm und endlich Pufendorfs Heimkehr in einem doppelten Sinne - nach Deutschland, in den Staat des Großen Kurfürsten, d. h. in den Staat, der nach Treitschke im Begriff war, die Ideen und Ideale Pufendorfs in die Wirklichkeit umzusetzen: "So oft hatte er schelten und zürnen müssen; jetzt am Ende seiner Tage ward ihm noch das dem deutschen Gemüte so unschätzbare Glück, mit gutem Gewissen zu loben und zu danken." 33 Die Quellen, denen Treitschke sein farbenprächtiges Gemälde entnimmt, werden dem Leser nur mit einigen Mühen deutlich, da er selbst kaum irgendwe1che Hinweise gibt. Neben Pufendorfs eigenen Berichten und einigen seiner Briefe (gedruckte und damals noch ungedruckte) dürfte aber auch die noch zu erwähnende Publikation von H. Breßlau als Informationsbasis gedient haben. Pufendorfs bleibende Bedeutung liegt für Treitschke auf drei Ebenen: Vordem äußerst düster gezeichneten Hintergrund des gesellschaftlichen und geistigen Lebens in Deutschland der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg erscheint Pufendorf als Geistesheroe, der mit gewaltiger Faust dreinfahrend die "rettungslose Fäulnis des alten Reichs"34 aufzeigt, der das politische Denken von der theologischen Bevormundung befreit (weltliche Natur des Staates) und zugleich für Religions- und Gewissensfreiheit eintritt, der schließlich in der erstrebten engen Bindung an die überlieferten Akten eine neue Methode der Historiographie zu entwickeln sucht. Andererseits fehlt es bei Treitschke auch nicht an Kritik: Pufendorfs Geschichtswerke entbehrten der lebendigen Darstellung und vernachlässigten die Innenpolitik. Die Naturrechtslehre verkenne in ihrer unhistorischen Ausrichtung die wahre Natur des Staates und sei letztendlich für die (von Treitschke selbstverständlich negativ beurteilte) französische Revolution von 1789 verantwortlich, d. h. der Staat wird nicht als Ursprungsmacht des menschlichen Lebens gesehen, sondern werde dem "Belieben des Bürgers" unterworfen. Mangelhaft ist es auch um Pufendorfs Patriotismus bestellt. Seine Dienste in Schweden werden zwar aus den Zeitumständen heraus erklärt, erscheinen aber doch letztendlich als fragwürdig. Dabei hätte Pufendorf die heraufziehende Größe des nach Treitschke jederzeit von deutschem Patriotismus erfüllten Hauses Hohenzollern erkennen müssen; kein Wort darüber sei jedoch im "Monzambano" zu finden: "So langsam reiften Gottes Saaten; auch Pufendorf sollte erst nach langen Jahren, hart geschüttelt durch schwere Erfahrungen, das Wesen der jungen deutschen Großmacht verstehen lernen."35 Überhaupt beherrscht der bekannte Borussismus Treitschkes weite Strecken der Darstellung, 33 Treitschke, Nr. 110, S. 384 der Ausgabe von 1929, alle weiteren Hinweise auf Treitschkes Biographie beziehen sich auf diese Ausgabe. 34 s. Anm. 33, S. 399. 35 Treitschke, NT. 110, S. 342.

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

der nur noch durch den masochistische Formen annehmenden Haß auf sein Geburtsland Sachsen übertroffen wird. Auch Pufendorf habe, also wie später Treitschke selbst, erst in Brandenburg die Erfüllung seines Strebens gefunden: "Dies kampferfüllte Leben sollte doch noch einen schönen, versöhnenden Abschluß finden. So lange hatte das Geschick den Heimatlosen umhergeschleudert und ihn nirgends feste Wurzeln schlagen lassen; hier endlich ward der Sachse mit seinem Herzen heimisch, in dem deutschen Staate, der die Gedanken des Naturrechts ins Leben führte."36 Den Beweis freilich für diese Behauptung ist Treitschke schuldig geblieben. Treitschkes Darstellung ist in einem blendenden Stil abgefaßt worden und entbehrt nicht einer Reihe wichtiger Feststellungen. Gleichwohl weist sie nicht wenige gravierende Mängel auf, die sich in einem unterschiedlichen Grade durch die späteren Publikationen hindurchgeschleppt haben, z. T. bis zum heutigen Tage. Durch die schroffe Gegenüberstellung Pufendorfs zu seiner Umwelt und dem wissenschaftlichen Leben seiner Zeit wird seine Leistung gleichsam enthistorisiert, erscheint sie ganz als souveräne Tat eines einsamen Heros. Die Inanspruchnahme Pufendorfs als Vordenker der brandenburgisch-preußischen Staats idee stülpt seinem Werk einen fremden Wertmaßstab über. Nicht Treitschke selbst anzulasten ist die anscheinend in der späteren Forschung geltende Auffassung, daß mit der Studie des Berliner Historikers dem biographischen Teil der Beschäftigung mit Pufendorf Genüge geleistet worden ist, d. h. man übernimmt das dort Gebotene ohne größere Diskussionen. Dabei ist zu beachten, daß Treitschke kaum eigene biographische Forschungen in einem größeren Umfange betrieben hat. Die von ihm benutzten Quellen wurden schon erwähnt. Besonders intensiv scheint Harry Breßlaus vier Jahre zuvor (1870) erschienene Einleitung zur deutschen Übersetzung des "Monzambano" ausgeschöpft worden zu sein. In bearbeiteter Form ist sie 18 Jahre später in den von Breßlau verfaßten Pufendorf-Artikel der ADB eingegangen. Die dort vermittelten Informationen sind im wesentlichen zuverlässig und frei von vorschnellen Interpretationen und den dann von Treitschke eingebrachten romanhaften Ausgestaltungen. Bevor wir uns den Bemühungen des 20. Jh. um die Biographie Pufendorfs zuwenden, ist auf zwei noch vor 1900 erschienene Quellenpublikationen hinzuweisen, die das von Treitschke vorgegebene biographische Schema durch bedeutsames archivalisches Material anreichern konnten. Trotz der negativen Erfahrungen Droysens und Treitschkes hat Konrad Varrentrapp anfangs der neunziger Jahre nochmals den Versuch unternommen, unbekannte Briefe Pufendorfs zu ermitteln. Das Ergebnis dieser Suche hat er in zwei Beiträgen zur Historischen Zeitschrift vorgelegt (Nr. 1 u. 2). Es sind immerhin über 30 bisher meist ungedruckte Briefe, die hier der Forschung zugänglich gemacht werden. Varrentrapps Artikel sind bis heute die maßgebliche Edition der Korrespondenz Pufendorfs geblieben. Gleichwohl ist eine Reihe ernsthafter Mängel dieser Publikation bei 36 Treitschke, Nr. 110, S. 384.

1.1 Forschungsgeschichte

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näherem Hinsehen unverkennbar. Zwei Schwächen fallen vor allem ins Gewicht: 1. Varrentrapp gibt nur einen Teil der von ihm entdeckten Briefe im Druck wieder. Besonders betrifft dies den Umgang mit den Schreiben Pufendorfs an seinen Leipziger Freund Adam Rechenberg. Von den insgesamt 25 in der Leipziger Universitätsbibliothek vorhandenen Briefen Pufendorfs gibt Varrentrapp ganze 5 in unvollständiger Fassung wieder. Aus der Zahl der nicht veröffentlichten Briefe ist eine Art Florilegiensammlung veranstaltet worden, indem die "wichtigsten Sätze" im Anmerkungsapparat verstreut wiedergegeben werden. Die tatsächliche Bedeutung dieser Korrespondenz für unser Wissen um Pufendorfs letzte Lebensjahre wird damit weithin verwischt. 2. Varrentrapp druckt viele Briefe ohne kenntlich gemachte Kürzungen ab. Die Kürzungen sind zudem oft unmotiviert, da sie Pufendorfs Gedankengänge zerreißen. Im übrigen sind dem Herausgeber nicht wenige, mitunter sinnentstellende Lesefehler unterlaufen. Schließlich ist ein in der heutigen Editionspraxis nicht mehr gebräuchliches Modernisieren der Orthographie der Texte festzustellen. Wenige Jahre später hat E. Gigas eine Ausgabe der in der Kopenhagener Königlichen Bibliothek befindlichen Briefe Pufendorfs an Christian Thomasius besorgt. 37 Der geistes geschichtliche Rang des Briefpartners und seine Stellung zu Pufendorf verleiht dieser Korrespondenz eine besondere Bedeutung. Der Vergleich mit den Originaltexten zeigt, daß Gigas im Gegensatz zu Varrentrapp die Briefe vollständig und (von Kleinigkeiten abgesehen) diplomatisch getreu wiedergegeben hat. Mit diesem um 1900 erreichten Kenntnisstand über die erhaltenen Pufendorf-Archivalien hat sich die Forschung im wesentlichen bis heute begnügt. Selbst einige im 20. Jh. erschienene kleinere Editionen von Pufendorf-Briefen sind merkwürdigerweise ganz unbeachtet geblieben. Besonders nachteilig ist dies hinsichtlich der 1930 erschienenen Mitteilungen über die wichtige Korrespondenz zwischen Esaias und Samuel in den Jahren 1657/58. Aus dem 20. Jh. lassen sich im Grunde genommen nur zwei Arbeiten nennen, die den Anspruch erheben können, in gewisser Hinsicht einen eigenständigen Beitrag zur Gesamtbiographie Pufendorfs zu bieten. Die große Zahl der ansonsten erschienenen abriß artigen biographischen Darstellungen ist durchweg unselbständig, indem sie die bekannten (z. T. falschen) Daten mehr oder minder ausgeprägt in Verbindung mit Treitschkes Interpretationen darbieten. Diese Feststellung gilt im Grunde genommen auch für die erste der soeben angedeuteten Arbeiten, für Erik Wolfs Pufendorf-Kapitel in seinem Werk "Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte". 38 Es handelt sich jedoch einmal um die umfangreichste Darstellung des Lebens Pufendorfs, die in diesem Jahrhundert erschienen ist 37 Daß Varrentrapp 1893 in dieser Bibliothek angefragt hatte und abschlägig beschieden wurde (es seien keine Briefe Pufendorfs vorhanden), verdeutlicht, wie unsicher letztlich alle solche Suchaktionen sind. 38 Im folgenden wird allein die vierte und letzte Auflage des immer wieder umgearbeiteten Werkes benutzt (1964).

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

(abgesehen von dem noch vorzustellenden Buch L. Kriegers), zum anderen gehört Wolfs "Große Rechtsdenker" zu den ausgeprochenen Standardwerken zur Rechtsgeschichte, dürfte also vielen als Einstieg in die Beschäftigung mit Pufendorf dienen. Das Folgende beschränkt sich im wesentlichen auf die rein biographischen Abschnitte in Wolfs Ausführungen. Wolf bietet weithin einen nochmals romanhaft erweiterten Treitschke. Seiner Darstellung geht die quellenmäßige Absicherung nicht selten völlig ab. Grimma und Leipzig bilden die negativen Grunderlebnisse des jungen Pufendorf. Schon von den Lehrern der Fürstenschule sei er als lebhafter, "aber auch trotziger Knabe" (S. 318) geschildert worden. (Wo? Es gibt m. E. keine Äußerung Grimmaer Lehrer über Pufendorf). In Leipzig habe er sich "nach wenigen Wochen" von derTheologie ab- und den juristischen, kameralistischen, naturphilosophischen und medizinischen Studien zugewandt, obwohl dieser Schritt zu einer Entfremdung vom Vaterhaus geführt habe. (Der Vater war bereits 1648, also zwei Jahre vor Samue1s Studienbeginn, verstorben. Soviel wir wissen, übten Samuel und Esaias auf die Mutter und die jüngeren Geschwister einen erheblichen Einfluß aus. Über Pufendorfs Studium der Theologie vgl. meine Ausführungen S. 62). In Jena findet Pufendorf unter dem Einfluß Weigels gleichsam zu sich selbst. Seine Neigung zu philosophischen Studien erwacht. In seinen Briefen aus dieser Zeit spüre man "seine Freude am scharfsinnigen Deduzieren und Demonstrieren, an der Fähigkeit der menschlichen Vernunft, neue Gedanken aus alten zu entwickeln, alte neuartig zu begründen, ganz neue zu entdecken." (Aus Pufendorfs Studienzeit in Jena ist bis heute kein einziger Brief bekannt geworden.) Wolfs überaus sorgloser Umgang mit den Quellen ließe sich noch über Seiten hinweg weiterverfolgen 39; das Gesagte mag genügen. Im übrigen erscheint Pufendorf bei Wolf als Prototyp des "modernen Menschen" schlechthin: "ein auffallend traditionsfreier Denker ... ein Feind jeder theologisch-dogmatischen auctoritas, ein unbefangen bejahender Freund neuer Lebensformen in Staat und Gesellschaft ... Nichts, außer einem unreflektierten ... Glauben an das Evangelium, verband ihn noch mit der Vergangenheit." (S. 321.) Auf einem differenzierteren, aber auch solideren Boden bewegen wir uns bei Leonhard Kriegers 1965 erschienenen Pufendorf-Monographie "The Politics of Discretion". Es ist das einzige in diesem Jahrhundert publizierte umfassende Werk, das sich der gesamten Breite des Lebens und Wirkens Pufendorfs widmet. Da Krieger eine sehr eigenwillige Auffassung vertritt, die Pufendorfs Leben und sein Schaffen als Theoretiker des Naturrechts, als Historiker und Theologe in einer Einheit sieht, können wir uns im folgenden nicht auf die rein biographischen Elemente seines Buches beschränken, sondern müssen etwas weiter ausgreifen. Von zentraler Bedeutung ist Kriegers Theorie von einer zielgerichteten Entwicklung Pufendorfs, die trotz der zahlreichen Wendungen seines Lebens (oder gerade 39 So läßt Wolf Pufendorf im "Monzambano" "in zornige Ausrufe über die Raubzüge Ludwig XIV." ausbrechen (S. 330). Bekanntlich fällt der Beginn des ersten "Raubzuges" Ludwig XIV. in das Jahr 1667. Da Pufendorfs Buch in diesem Jahr erschien, können schlechterdings dort keine "zornigen Ausrufe" stehen.

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dadurch gefördert) ihren unbeirrbaren Weg gegangen sei und sein ganzes vielfältiges Wirken im Lichte einer letzten Einheit erscheinen läßt. Pufendorf habe in seinem äußeren Leben immer die Grundlagen (pattern) seiner Zeit (die monarchischen und hierarchischen Herrschaftsstrukturen, die Ausrichtung des Lebens auf die gegebenen Autoritäten und Traditionen) akzeptiert und habe andererseits in seinen Theorien diese Grundlagen radikal negiert. Sein Ziel sei die Versöhnung, die Osmose beider Tendenzen gewesen - "the radical rational refounding of already established institutions." (S. 68.) Erst am Ende seines Lebens habe er diese Aufgabe erfüllen können. Der frühe Pufendorf habe nur in den "subjects of reason", vor allem im Naturrecht, die Aufgabe seiner Bestrebungen gesehen; Politik und Religion standen außerhalb dieses Bezirkes. Sein Lebensschicksal habe ihn jedoch im stärker mit den Fragen des sich um Politik und Religion bewegenden Lebens seiner Zeit konfrontiert. Über mehrere Stufen sei Pufendorf schließlich dahin gelangt, daß er Politik und positive Religion mit den Kategorien seines ~ationalismus zu erfassen gesucht habe, während andererseits das auf den politischen und theologischen Realitäten gegründete induktive Vorgehen das auf rationalem Wege gewonnene System zu stützen vermag, d. h. es kommt zu einem Wechsel der Methoden. Zwischen Denken und Realität sei so ein schließlicher Komprorniß erzielt worden: "Given the substantive tendencies of the two realms, this meant the creation of an early model for the conjunction of a libertarian rationale with a conservative reality. The accomplishment of this integration fills the inner track of Pufendorfs career and remains his most relevant bequest to his twentieth-century posterity." (S.38.) Wichtig ist nun, daß Krieger dieses Ergebnis von Pufendorfs Wirken nicht als zufällig betrachtet, sondern in die Geschichte der Entfaltung des europäischen Bürgertums einflechtet. Pufendorfs Denken ist demnach nichts anderes als der vollendete theoretische Ausdruck der Lage und der Bestrebungen des Bürgertums jener Zeit. 40 Die Bourgeoisie des 17. Ih. habe sich, bedingt durch ihren sich damals vollziehenden Übergang von einer Körperschaft zur Klasse, sozusagen im Zustand der Schizophrenie befunden. Durch ihre Verwurzelung in der mittelalterlichen Korporation sei sie auf Tradition, Autorität, Abschließung und Sicherheit bedacht gewesen; als werdende Klasse seien andererseits die Grenzen zu den anderen Bevölkerungsgruppen gleichsam flüssig geworden; die Funktion des einzelnen wiegt schwerer als seine Herkunft. Daraus zieht Krieger folgenden Schluß: "The resultant of these two sets of tendencies was for the bourgeois to invest the operation of the new order in the authoritarian state. After a final series of revolutionary attempts ... to impress their traditional prescriptive privileges upon the structure of the state around the middle of the seventeenth century, the bourgeoisies of the progressive nations in Western Europe went over to loyal collaboration with and participation in the political institutions of de facto monarchicalor oligarchic sovereigns." (S. 8.) Pufendorfs Leistung habe nun darin bestanden, die theoretischen Grundla40 Im Ansatz vertritt Krieger diese These schon in einer Publikation der fünfziger Jahre (The German Idea of Freedom. Boston 1957, S. 50 ff.

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gen für diese Entwicklung der konkreten Situation in Mittel- und Nordeuropa entsprechend umgeformt zu haben. Überhaupt sei Pufendorf in einem weit stärkeren Maße als in Westeuropa zum Theoretisieren gezwungen gewesen, da sich das Bürgertum in Deutschland auf einem zurückgebliebenen Entwicklungsniveau befunden habe, im Gegensatz zur westeuropäischen Bourgeoisie, die·viel unmittelbarer und spontaner handeln konnte. 41 Dieser nur skizzierten gedanklichen Linienführung ordnet Krieger seine gesamte Beschäftigung mit Pufendorf unter, sei es die Biographie, sei es seine Tätigkeit auf dem Gebiet der Entwicklung des Naturrechts oder auf dem der Geschichtsschreibung, oder seien es seine Arbeiten zur Theologie. Die Darstellung des Lebenlaufes Pufendorfs beruht quellenmäßig ganz auf Treitschke und die Briefeditionen von Varrentrapp und Gigas, nur daß das gesamte Material nun im Lichte von Kriegers Interpretationsschema ein anderes Aussehen gewinnt. Pufendorfs Herkunft und Jugend legen die Grundlage für seine spätere Achtung von Tradition und Autorität, die noch durch das Erlebnis der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges verstärkt wird. Ganz entscheidend ist das Zusammentreffen mit Weigel in Jena, da dieses ihm die Bekanntschaft mit dem modemen westeuropäischen Rationalismus verschafft und ihm zugleich die Gedankenwelt des Naturrechts eröffnet. Gleichermaßen wichtig wird die Hinführung zur Politik durch den Bruder Esaias. Die folgenden Jahrzehnte werden bestimmt vom Bemühen um einen Ausgleich zwischen der Orientierung an der neuen Wissenschaft, an das neue Denken und den historisch tief verankerten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen des 17. Jh. Dieser Prozeß wird durch Pufendorfs Verhältnis zu den politischen Mächten bestimmt, deren Dienst er sich widmete. Pufendorf praktiziert eine geschickte Anpassung an die Interessen seiner jeweiligen Dienstherrn, ob nun in Heidelberg, in Schweden oder in Berlin, deren finanzielle und ideelle Unterstützung ihm unentbehrlich ist. Zugleich weisen ihm die an jenen politischen Machtzentren gewonnenen Erfahrungen den Weg zur Modifikation der von ihm anvisierten Anwendung der neuen, rationalen Wissenschaft auf die Jurisprudenz und die Morallehre unter Berücksichtigung des politisch Machbaren. 42 Allerdings sei Pufendorfs Lebensausgang, Krieger geht darauf ausführlich ein, insofern tragisch überschattet worden, als er am Ende als Diener zweier in ihren Ansprüchen sich einander ausschließender Herren, des Königs von Schweden und des brandenburgischen Kurfürsten, in einen unauflösbaren Zwiespalt geraten sei, der, wenn auch indirekt, seinen Tod herbeigeführt habe.

41 Ähnlich urteilt Krieger schon in seiner Schrift von 1957 (s. Anm. 40): "He stood at the beginning of the unbroken line of political thinkers who adapted the essentials of the German constitutional and social structure to the conscience of the west" (S. 50). 42 "Because of Pufendorf's philosophical respect for facts and his capacity to make them constituents of reason, his intellectual career exhibits a general coherence in which the categorical changes of his extemal career become the dynamic element in his thought, driving it continuously to the articulation of its implications" (S. 35 f.).

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Gegen die Begründung und die Tragfähigkeit der Thesen Kriegers lassen sich manche gewichtige Einwände erheben, die hier nicht im einzelnen vorgetragen werden sollen. 43 Was die Darstellung der Biographie Pufendorfs angeht, so scheint das Ausziehen einer Linie der Entwicklung, die vom Ringen um eine freie, rational organisierte Gesellschaft zum letztendlichen Komprorniß mit den überlieferten feudalen Strukturen des Deutschlands des 17. Jh. führt, als reichlich konstruiert und anhand der Quellen überhaupt nicht belegbar. Wie beispielsweise Pufendorfs äußere Karriere als allmähliches Hineinwachsen in das zuvor kritisch gesehene gesellschaftliche System interpretiert werden kann, erscheint schlechterdings als unerfindlich. Dreitzel bemerkt zu Recht (s. Anm. 43), daß Krieger hier die Situation des Intellektuellen des 20. Jh. auf das 17. Jh. überträgt. Wir werden noch sehen (s. S. 73 ff.), daß sich Pufendorf nicht erst am Ende seines Lebens Problemen der Religion zuwandte, um angeblich über sie den Komprorniß zwischen Theorie und Realität zu schließen (s. S. 59 ff.). Andererseits ist Krieger zuzugestehen, daß es ihm auf seinem, wenn eben auch anfechtbaren Wege immerhin gelungen ist, ein Bild Pufendorfs zu zeichnen, das sein Leben und sein differenziertes Wirken als Rechtsphilosoph, Historiker, politischer Schriftsteller und Theologe zu einer Einheit zusammenfaßt. 44 Unser Überblick über die Entwicklung der biographischen Darstellungen Pufendorfs wäre unvollständig, würden wir uns auf die Publikationen beschränken, deren Intention darin besteht, den gesamten Lebenslauf nachzuzeichnen. In Ergänzung seien die wenigen Spezialstudien genannt, die sich mit einzelnen Lebensabschnitten und mit den Beziehungen Pufendorfs zu bestimmten Zeitgenossen beschäftigen. Über Pufendorfs Kindheit in Flöha sind außer einigen wenigen dürftigen Notizen, die alle in den Bereich der Quellenkunde zu Pufendorfs Leben fallen, keine Nachrichten vorhanden. Auch die Familienverhältnisse sind noch längst nicht befriedigend geklärt worden. Die brauchbarsten genealogischen Übersichten stammen von Paul Meyer (Nr. 3), F. H. Löscher (Nr. 166) und Willy Roch (Nr. 167). Ergänzendes Material bietet vor allem G. Sommerfeldt (Nr. 164, 165). Die in diesen Arbeiten mitgeteilten Angaben sind nicht immer zuverlässig und bedürfen daher der Nachprüfung. Von erheblichem Nachteil für die PufendorfForschung ist das Fehlen wissenschaftlich fundierter Untersuchungen zum Leben und Wirken seines Bruders Esaias. Daß dieser auf seinen jüngeren Bruder Samue1 einen erheblichen Einfluß ausgeübt hat, sowohl im Blick auf dessen äußere Karriere als auch hinsichtlich der Entwicklung seines Denkens, wird heute allgemein anerkannt. Übrigens würde Esaias Pufendorf auch unabhängig von seinen 43 Ich verweise auf die weithin zuzustimmenden kritischen Bemerkungen von Horst Dreitzel zu Kriegers Werk (H. Dreitzel: Das deutsche Staatsdenken in der Frühen Neuzeit. III. TeiL In: Neue politische Literatur. XVI. Jg. [1971], S. 256-271, zu Krieger, S. 268271). 44 Die neueste Pufendorf-Biographie bietet ein von Horst Denzer zum 350. Geburtstag Pufendorfs gehaltener Vortrag, der in überarbeiteter Fassung in der Zeitschrift f. Politik veröffentlicht wurde (Nr. 137). Denzer benutzt die bekannten Darstellungen und Quellen, bringt aber erstmals einiges in Lund liegendes archivalisches Material ein.

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

Beziehungen zu Samuel die stärkere Beachtung der historischen Forschung verdienen. Die einzige neuere brauchbare Biographie hat W. Gossel unter einem etwas irreführenden Titel 1940 vorgelegt (Nr. 195). Über Esaias Tätigkeit als schwedischer Diplomat informieren Fahlborg (Nr. 197, unter Verwendung von Esaias Pariser Gesandtschaftsberichten und seiner Korrespondenz mit Magnus de La Gardie), E. Hildebrand (Nr. 184) und Berenger (Nr. 200). Wichtig sind die bereits im vergangenen Jahrhundert von E. Schlüter veröffentlichten Texte aus dem Nachlaß Esaias Pufendorf (Nr. 181, 182). Weitgehend unausgewertet geblieben sind bis heute seine in Wien (Nationalbibliothek und Staats archiv) liegenden Tagebücher (s. Nr. 179, 192) und sein in Stockholm (Reichsarchiv) befindlicher Briefnachlaß (s. Nr. 183). Über seine Publikationen informiert am gründlichsten immer noch J. Moller (Nr. 176).44. Zu Samuels Grimmaer Schulzeit ist allein das schon erwähnte Schul programm von P. Meyer (Nr. 3) verwendbar. Meyer versucht immerhin, ein kulturhistorisches Bild dieser Fürstenschule in der Mitte des 17. Jh. zu entwerfen und ihr für den Bildungsgang Pufendorfs auch einige positive Beiträge zuzuschreiben. Der vor einigen Jahren erschienene Aufsatz von R. Münzner zum gleichen Thema folgt weithin den Vorgaben Meyers (Nr. 133). Der verbreiteten negativen Beurtei1ung von Pufendorfs Leipziger Studienzeit wird durch die ganz und gar unzureichende Aufarbeitung der Geschichte dieser Universität im 17. Jh. Vorschub geleistet. Noch 1972 konnte Notker Hammerstein, einer der besten Kenner der deutscheri Universitätsgeschichte im 17. und 18. Jh., Treitschkes Zerrbild von der Leipziger Hochschule 45 als plastische Darstellung der Verhältnisse empfehlen. 46 Ich habe mich näher darüber in einer Arbeit über Pufendorfs Mitgliedschaft in der Leipziger Gelehrtengesellschaft Collegium Anthologicum geäußert (Nr. 19), die zugleich einen ersten Beitrag zu einer sachgerechten Einschätzung der Bedeutung der Leipziger Alma mater für Pufendorfs Werdegang leisten will. Von besonderer Bedeutung scheint mir die Tatsache zu sein, daß Pufendorf, nach seinen im Collegium gehaltenen Vorträgen zu urteilen, wesentliche Elemente der Methoden und der Inhalte seines späteren Wirkens (Naturrecht, Reichspublizistik, Historiographie) bereits in Leipzig entwickelt hat. Der bisherigen einhelligen Auffassung nach ist Jena der Schauplatz des Durchbruchs Pufendorfs zu 44. Eine wichtige Rolle scheint aber auch der in keiner bisherigen Pufendorf-Biographie erwähnte jüngste Bruder Johannes (bereits 1668 gest.) gespielt zu haben. Samuels Entschluß, nach Lund zu gehen (1668) scheint z. T. durch die Hoffnung gefördert worden zu sein, mit der Hilfe des in Schweden als Sekretär des Grafen Otto Wilhelm v. Königsmark lebenden Johannes rechnen zu können (vgl. Brief des Esaias an M. D. Friese vom 5.9. 1668 [so Nr. 22, S. 9 f.]). 45 Treitschke in seiner Pufendorf-Biographie, S. 318 ff., in der Ausgabe von 1929. 46 N. Hammerstein: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jh. Göttingen 1972, S. 268, Anm. 3. Beim derzeitigen desolaten Zustand der Forschungen zur Leipziger Universitätsgeschichte ist in absehbarer Zeit mit einer Verbesserung unseres Wissensstandes kaum zu rechnen.

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eigenständigem Denken gewesen. Zum Teil ist diese Meinung vielleicht in dem weitaus besseren Stand der Universitätshistoriographie in Jena begründet, deren Höhepunkt die 1958/60 erschienene große zweibändige Geschichte der Universität bildet. Hier erfährt auch das ansonsten wenig beliebte 17. Jh. eine sehr detaillierte Darstellung. Mit Recht legt die Forschung besonderen Wert aufPufendorfs Beziehungen zu Erhard Weigel in Jena. Daß die Abhängigkeit des Schülers von seinem Lehrer den vermuteten hohen Grad besessen hat, wird allerdings von H. Denzer mit guten Gründen bezweifelt. 47 Leider fehlt es an einer soliden Weigel-Biographie, die wiederum eine gründliche Erfassung der vorhandenen Archivalien (insbesondere den Briefwechsel) zur Voraussetzung hätte. 48 Dies wirkt sich selbstverständlich auch negativ auf die Beschäftigung mit seinen Verbindungen zu Pufendorf aus. 49 Zur Frage nach den sonstigen Beziehungen Pufendorfs zur Jenaer Universität, die keineswegs auf das Weigel-Thema zu beschränken sind, informiert der in diesem Band enthaltene Aufsatz über eine gescheiterte Berufung Pufendorfs nach Jena. Unser Wissen über Pufendorfs Zeit in Dänemark und Holland beschränkt sich fast ganz auf die wenigen, von ihm selbst gemachten Mitteilungen. 50 Auch die erhaltenen, bisher ganz unbeachtet gebliebenen Teile seines Briefwechsels mit Gronovius und Graevius helfen uns hier kaum weiter. Im dunkeln liegen auch die späteren Aufenthalte Pufendorfs in Holland. Ungeklärt ist auch noch die Frage, ob er (oder sein Bruder) maßgeblich am Erwerb des Codex Argenteus für Magnus de La Gardie beteiligt war. 51 Auch unsere Kenntnisse über die für Pufendorf so wichtige Heidelberger Zeit sind bescheidener Natur. Dies ist zum Teil in der für Heidelberg besonders ungünstigen Quellenüberlieferung begründet. 52 Andererseits ist m. W. noch kein H. Denzer (Nr. 416, S. 284 ff.). Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Verbindung zwischen Weigel und Pufendorf nicht auf das Jahr 1657 beschränkt geblieben ist. Beide standen bis zum Tode Pufendorfs in einem brieflichen Kontakt und haben sich auch mindestens einmal persönlich getroffen (s. die Arbeit von Chr. Schaper [Nr. 317, S. 130]). 49 Die schon zu ihrer Zeit anfechtbare Biographie von E. Spieß (Nr. 315) ist heute völlig überholt. Wichtiges, weiterführendes Quellenmaterial hat 1959 Chr. Schaper vorgelegt (Nr. 317). 50 Die beiden in dem von der Universität Lund 1986 herausgegebenen Sammelband (Nr. 139) enthaltenen Beiträge "Pufendorf und Dänemark" (D. Tamm) und "Pufendorf und Leiden" (J. Th. de Smidt) helfen uns kaum weiter. Tamm beschäftigt sich allein mit Pufendorfs erster Publikation (Gundaeus baubator Danicus. Amsterdam 1659) und mit der Wirkung von Pufendorfs Naturrechtslehre in Dänemark. Auf eine Fehlanzeige, was die Quellenlage anbetrifft, und auf ein paar Bemerkungen zur Wirkungsgeschichte beschränkt de Smidt seine wenigen Zeilen. 51 Vgl. die in die Bibliograhie aufgenommenen Arbeiten Nr. 189, 193. 52 Die Heidelberger Universitätsakten haben durch den Pfälzischen Erbfolgekrieg schwere Verluste erlitten. Weitere Materialien sind noch später verloren gegangen. (z. B. die Senatsprotokolle). Über das wenige heute Vorhandene habe ich von Herrn Dr. Weisert vom Heidelberger Universitätsarchiv freundlicherweise eine Aufstellung erhalten (Brief vom 16.4. 1987). 47

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ernsthafter Versuch unternommen worden, die erhaltenen, heute in den Staatsarchiven München und Karlsruhe liegenden Materialien zu sichten. Die Literatur zur Heidelberger Universitätsgeschichte, hauptsächlich Festschriften, beschäftigt sich meist mit der allgemeinen Bedeutung Pufendorfs, gibt aber kaum konkrete Informationen über sein Leben und Wirken in Heidelberg wieder (s. Bibliographie, Abschnitt 11). Wertvoll ist die von J. Wille veröffentlichte Dokumentation über die Berufung Pufendorfs durch den Kurfürsten Karl Ludwig (Nr. 217). Wichtige weitere Untersuchungsthemen wären die anscheinend zahlreichen, bisher überhaupt noch nicht berücksichtigten, von Heidelberg aus unternommenen Reisen Pufendorfs (nachweisbar ist seine Anwesenheit in Köln, Augsburg, Basel und Holland), seine Tätigkeit als Erzieher des Kurprinzen, Pufendorfs Eindruck auf die Besucher der Heidelberger Universität (Auswertung von Tagebüchern und Reiseberichten!), seine in diese Jahre fallende Verbindung zu Boineburg 53 , die Entstehung des "Monzambano" . Etwas besser sind wir über Pufendorfs Zeit in Lund unterrichtet. Eine schon im 18. Jh. erschienene Arbeit von E. S. Bring (Nr. 221), die mir nicht zugänglich geworden ist, soll nach Almquists Mitteilung (Nr. 259, S. 50, Anm. 3) von minderer Bedeutung sein. Die ausführlichste Darstellung bietet die 1859 erschienene Geschichte der Universität Lundvon P. G. Ahnfeit (Nr. 223), deren Zuverlässigkeit jedoch seitens der schwedischen Historiographie erheblich angezweifelt wird. 54 Immerhin verarbeitet Ahnfelt ein vielfältiges archivalisches Material, was bis heute den Wert seiner Publikation ausmacht. 55 Insofern kann sie durch die wesentlich knappere Darstellung von J. Rosen (Nr. 227) nicht ganz ersetzt werden. Die gängigen Pufendorf-Biographien berücksichtigen nicht, daß der Berufung Pufendorfs nach Lund eine lange Vorgeschichte vorausgeht. Aus den sehr materialreichen Untersuchungen von Sven Edlund (Nr. 268) geht hervor, daß Pufendorf bereits 1663 auf Betreiben von Magnus de La Gardie nach Stockholm berufen werden sollte - als Lehrer an einem dort geplanten Gymnasium illustre. Schon damals liefen die Verhandlungen über den Bruder Esaias, wie dann später auch im Falle der Anwerbung Samue1s für die neue Universität in Lund. Dies belegt eine Veröffentlichung von Stig Jägerskiöld (Nr. 6), in der auch das im Zusammenhang mit Pufendorfs Weggang nach Schweden wichtigste Dokument erstmals ediert worden ist (in schwedischer Übersetzung), nämlich Samue1s Antwortschreiben an den Bruder und dessen Aufforderung, die Berufung nach Lund anzunehmen (Original im schwedischen Reichsarchiv). 53 Hier hat Frau F. Palladini mit der kommentierten Edition der Pufendorf-Briefe an Boineburg neue Wege gewiesen (Nr. 15). 54 Vgl. Z. B. die entschiedene Kritik von J. E. Almquist (Nr. 259, S. 50 ff.). 55 Zumindest seitens der deutschen Pufendorf-Forschung ist weithin unbeachtet geblieben, daß der ausführliche Pufendorf-Artikel im "Biographiskt Lexicon öfver namnkundige Svensk Män" (11. Bd., Uppsala 1845, S. 378 -395) hauptsächlich die Zeit in Lund behandelt und dabei noch vor AhnfeIt reichhaltiges archivalisches Material heranzieht.

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In Lund beginnen die zahllosen, z. T. äußerste Schärfe annehmenden literarischen Auseinandersetzungen Pufendorfs mit seinen Gegnern, hauptsächlich mit Theologenkreisen in Skandinavien und in Deutschland. In der bisherigen Forschung ist die Linie vorherrschend, Pufendorfs Gegner als geistig minderwertige Neidlinge darzustellen, "spitzköpfige, eitle Gesellen, die freiwillig auf jeden vorgehaltenen Spieß aufliefen und ihre eigne Sache bloßstellten."56 Daß hier durch die inzwischen erfolgte Entdeckung einer sehr lebenskräftigen im 17. Jh. verbreiteten Tendenz zur Herausbildung einer christlichen Naturrechtskonzeption auch andere Auffassungen zu Wort gekommen sind, kann an dieser Stelle nur erwähnt werden. Im vorliegenden Zusammenhang geht es um den äußeren Verlauf der literarischen Fehden. Die einzigen Auseinandersetzungen, die bis heute eine eingehendere fundierte Darstellung gefunden haben, sind die Streitigkeiten mit dem Lundner Philosophen Nikolaus Beckman und mit Haguin Spegel, einem führenden Theologen Schwedens in jener Zeit. Die von J. E. Almlquist verfaßte Arbeit (Nr. 259) beruht auf schwedischen Archivmaterialien und gibt im Anhang auch den seltenen Index Beckmans wieder, der die gegen Pufendorfs "De jure naturae et gentium" erhobenen Anschuldigungen zusammenfaßt. Im Gegensatz zum "Index" ist eine vom späteren Bischof H. Spegel angefertigte anonyme Schrift gegen Pufendorf nicht publiziert worden und fand erst vor wenigen Jahren die Aufmerksamkeit der Historiographie (Nr. 303). Pufendorfs wohl wichtigster und unverdrossendster Gegner war sein früherer Leipziger Freund Valentin Alberti. Immerhin hat Albertis eigenwillige Naturrechtslehre in den letzten Jahrzehnten wiederholt Interesse geweckt (Nr. 257); eine genaue Untersuchung seines Streites steht noch aus. Ansonsten lassen sich nur Fehlanzeigen konstatieren: Das betrifft Pufendorfs Verhältnis zu Veit Ludwig v. Seckendorff (flüchtige Erwähnungen in Nr. 88, S. 771 ff.), zu dem Weimarer Kanzler Tobias Pfanner, zu dem Jenaer Theologen Valentin Veltheim, zu dem Superintendenten Friedrich Gesenius usw. Hier bleibt man auf die Mitteilungen der älteren Literatur angewiesen, insbesondere auf Dahlmann (Nr. 88) und Ludovici (Nr. 90; vgl. aber auch die ausführlichen, oft weiterführenden Anmerkungsapparate in der Arbeit von F. Palladini, Nr. 660). Es geht hier jedoch um mehr als um die Zankereien einiger ewig Gestriger. Besonderheiten und Abhängigkeiten der Pufendorfschen Naturrechtskonzeption lassen sich nur dann befriedigend erfassen, wenn sie innerhalb ihres historischen Kontextes gezeigt wird. Nichts ist besser geeignet, diesen Zusammenhang darzustellen, als die Beschäftigung mit den die Gelehrtenrepublik jener Zeit erschütterten Auseinandersetzungen, die darüber hinaus ein interessantes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte bilden. Ein erster, grundlegender Schritt in der Aufarbeitung dieser Diskussionen ist von Fiammetta Palladini vollzogen worden. Ihr voluminöses Werk "Discussioni seicentesche su Samuel Pufendorf' (1978) erfaßt insgesamt 140 lateinischsprachige Publikationen vor 1700, in denen zu Pufendorf Für oder Wider Stellung bezogen wird. Wiedergegeben werden die genauen bibliogra56 Emanuel Hirsch: Geschichte der neuem evangelischen Theologie (Nr. 396, S. 88). 3 Döring

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

phischen Angaben, ausführliche Zusammenfassungen des Inhalts der jeweiligen Texte und sehr instruktive weiterführende Erläuterungen. Notwendig wäre jetzt die eingehende Analyse dieser Literatur unter Heranziehung der handschriftlich überlieferten Quellen (meist Briefe 57 ) und unter Berücksichtigung der jeweiligen regionalen Bedingungen und Beziehungsgeflechte. Ein spezielles Kapitel bildet in diesem Zusammenhang die Stellung von Leibniz zu Pufendorf. 58 Leibniz hat sich zu Lebzeiten Pufendorfs nirgends öffentlich über seinen damals berühmteren Landsmann geäußert. Der Inhalt der nicht wenigen uns überlieferten handschriftlichen Zeugnisse (Briefe, unveröffentlichte Artikel) und zwei nach Pufendorfs Tod publizierte Schriften 59 spricht m. E. eine deutliche Sprache, nämlich daß Leibniz zeit seines Lebens Pufendorf eine ausgesprochene Abneigung entgegenbrachte, die zum einen persönlich begründet ist, zum anderen in den verschiedenen Methoden und Inhalten ihres Denkens ihren Ursprung hat. Dieser Gegensatz betrifft nicht nur das Gebiet der Naturrechtslehre, sondern auch die Geschichtsschreibung, die Reichspublizistik und die Theologie. Beachtung gefunden hat in der bisherigen Literatur fast allein nur Leibnizens Kritik an den Naturrechtsauffassungen Pufendorfs. 6o Aber auch dieses Thema ist nur im Zusammenhang mit übergeordneten Fragestellungen mehr oder weniger ausführlich berücksichtigt worden. 6\ Die einzige Ausnahme bildet ein Aufsatz von N. Bobbio (Nr. 286).62 Die zweite Hälfte seiner Zeit in Schweden hat Pufendorf als Hofhistoriograph und Geheimer Sekretär verbracht (1677 bis 1688). Die Beschäftigung mit dem Naturrecht klingt in dieser Zeit allmählich ab und macht dem Historiker und schließlich dem Theologen Pufendorf Platz. Über sein Leben am Hofe Karl XI. wissen wir nur wenig, was sicher auch in der ungenügenden Aufarbeitung der vorhandenen Quellen bedingt ist. 63 Immerhin, einige Streiflichter lassen sich verfolgen. Nicht eigentlich zu Pufendorfs schwedischer Umgebung zählt die Verbindung zu Königin Christine, die zum Zeitpunkt seiner Übersiedlung nach 57 Daß aber auch andere Materialien wichtige Aufschlüsse vermitteln können, zeigen die Protokolle des Verhörs G. Klingers in Jena (vgl. Anm. 136). 58 Äußerungen Pufendorfs über Leibniz sind bislang nicht bekannt gworden. Die beiden uns überlieferten Briefe Pufendorfs an Leibniz geben in dieser Hinsicht, von Höflichkeitsfloskeln abgesehen, nichts her. 59 1. Monita quaedam ad Samuelis Puffendorffii principia (1709, verschiedene spätere Editionen). 2. Epistola ad amicum super exercitationes posthumas Samue1is Puffendorffii De consensu et dissensu protestantium (1696, zu Leibniz' Verfasserschaft s. die Ausführungen auf S. 130 ff.). 60 Paul Wiedeburg (Nr. 289) behandelt Leibniz' Stellung zum "Monzambano'". 61 So in den Arbeiten von H. Welzel (Nr. 393, S. 4 ff.), J. Sauter (Nr. 365, S. 100 ff.) und H. P. Schneider (Nr. 290, S. 78 ff.). 62 Die zahlreichen nach der Veröffentlichung der "Monita" publizierten Meinungsäußerungen gehören zur Wirkungsgeschichte bzw. zur zeitgenössischen N aturrechtsdiskussion. 63 Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß von mir wahrscheinlich nicht die gesamte relevante schwedische Literatur erfaßt werden konnte.

1.1 Forschungsgeschichte

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Stockholm schon jahrzehntelang in Rom lebte. Über Pufendorfs Vorhaben, seine Geschichte Schwedens bis zur Abdankung Christines der Königin zu widmen, hat Arckenholtz bereits im 18. Jh. berichtet (Nr. 17).64 Da sich jedoch neben dem von Arckenholtz abgedruckten an die Königin gerichteten Brief Pufendorfs noch mindestens ein weiteres Schreiben nachweisen läßt (UB Stockholm), ist dieses Thema mit den wenigen Bemerkungen des Biographen der Monarchin sicher noch nicht erschöpfend behandelt worden. Auch in diesem Zusammenhang könnte übrigens der Bruder Esaias, der mit dem Bankier der Königin (M. de Texeira, s. Nr. 199) in Verbindung stand, eine Rolle gespielt haben. Von nicht geringem Interesse wäre eine genauere Kenntnis der vielfältigen Beziehungen Pufendorfs zum schwedischen Hochadel, die bis in die Heidelberger Zeit und z. T. noch weiter zurückreichen. Bereits in die Anfänge seiner Leipziger Studienzeit fällt die Bekanntschaft mit dem späteren bekannten schwedischen Feldherm Otto v. Königsmarck 65, mit dem Pufendorf noch jahrelang in brieflichem Kontakt stand und dem er eine seiner ersten Publikationen widmete (s. Anm. 65). Leider wissen wir über diese Verbindung ebenso wenig Näheres 66 wie über die zu P. J. Coyet, dem Pufendorf in Dänemark und Holland als Hauslehrer diente, oder zu Gabriel Gabrielsson Oxenstierna, dessen Sohn Pufendorf in Heidelberg betreute. Auf die Bedeutung von Magnus de La Gardie für das Lebensschicksal Pufendorfs wurde schon hingewiesen. Auch in allen diesen Fällen wird Esaias Pufendorf seine Hand im Spiel gehabt haben. Eng dürften nach den neueren Untersuchungen von A. Losman (Nr. 318) die Beziehungen zum Reichsmarschall Carl Gustav Wrangel gewesen sein, dem Pufendorf auch die Leichenrede gehalten hat. Eine wichtige Rolle als Vermittler von Informationen SCheint Erik Dahlberg gespielt zu haben, mit dem noch die Witwe Pufendorfs in Korrespondenz stand. 66. Zuletzt genannt sei schließlich Erik Lindschöld, über dessen Beziehung zu Pufendorf wir neuerdings durch die schon erwähnte Arbeit von Stig Jägerskiöld ausführlich unterrichtet werden ,(Nr. 6, vgl. auch die Biographie von Enoch Ingers Nr. 293). Die Abfassung monumentaler Geschichtswerke ist nicht die einzige Tätigkeit Pufendorfs in Stockholm gewesen. Neben einer dauernden Beschäftigung als Sekretär der Königin Eleonore (Gemahlin Karl XI.) ist er mehrfach in bestimmten Fällen als Gutachter hinzugezogen worden. Ein besonderes Interesse kommt seiner Verwicklung in die Auseinandersetzungen um das von der Geistlichkeit geforderte Verbot der Cartesianischen Philosophie an der Universität Upplala zu. Als grundlegende Publikation zu diesem Thema sei hier nur die Monographie Ergänzend heranzuziehen ist die Arbeit von Chr. Callmer (Nr. 263). Der Kontakt dürfte durch Esaias vermittelt worden sein (v gl. Samuels Dedikationsschreiben an Königsmarck vor seiner Edition von Meursius' "Miscellanea Laconica" [Amsterdam 1661)). 66 Mir stand allerdings folgende Publikation nicht zur Verfügung: E. G. Geijer: "Minne av fältmarskallen greve Otto Wilhelm Königsmarck", Stockholm 1930. 66a Die Zu arbeit Dahlbergs bei der Abfassung von Pufcndorfs "Karl Gustav" wird ausführlich von Arne Stade (Nr. 563) erörtert. 64

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

von Rolf Lindborg, die auch Pufendorf berücksichtigt, genannt (Nr. 226, weitere Literatur in der Bibliographie). Daß Pufendorf nicht erst in Brandenburg (s. u.), sondern schon in Schweden auch als Sachverständiger in theologischen Fragen Anerkennung fand, zeigt sein an anderer Stelle noch näher zu behandelndes Gutachten über die Katechismusausgabe von Haquin Spegel (s. Nr. 301- 303). Schließlich dürfte auch Pufendorfs Anteilnahme an der zeitgenössischen Entwicklung der schwedischen Innen- und Außenpolitik eine nähere Untersuchung wert sein. 66b Eine besondere Bedeutung dürfte dabei zwei erst nach seinem Tode veröffentlichten Schriften zukommmen: die "Dissertatio de foederibus inter Sueciam et Galliam" und die "Anecdotes de la Suede ou I 'histoire secrete des changements arrives dans la Suede sous le regne de Charles XI". Samuels Verfasserschaft an der zuletzt genannten anonymen Schrift ist allerdings eine seit dem 18. Jh. umstrittene Frage. Als mögliche Autoren werden auch Esaias Pufendorf und Paul Olivekranz gehandelt. Die relativ umfangreiche Literatur zu diesem in mancher Hinsicht recht verwickelten Spezialproblem kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden (s. Bibliographie Abschnitt 23.2). Pufendorfs Wechsel nach Berlin (1688) ist von der borussischen Geschichtsschreibung Treitschkes als Bekenntnis zum Staat des Großen Kurfürsten, als Vereinigung von Theorie und Praxis des modemen Staatswesens gefeiert worden. Dem steht ein fast völliges Fehlen jeglicher Untersuchungen zu Pufendorfs letzten Lebensjahren in einem seltsamen Kontrast gegenüber. Die wenigen vorhandenen Äußerungen beschränkten sich auf die Entstehung der bei den Pufendorfschen Werke zur Geschichte des Hauses Brandenburg (s. den Abschnitt über Pufendorf als Historiker) und auf sein an anderer Stelle zu besprechendes Wirken auf theologischem und kirchenpolitischem Gebiet. Eine in ihrer grundsätzlichen Aussage überzeugende Korrektur des eben erwähnten aus dem 19. Jh. übernommenen Bildes über Pufendorfs Beziehung zu Preußen gibt H. Denzer in einem Beitrag zu dem Sammelband "Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen". Es fehlen nach Denzers Ansicht die Beweise für Treitschkes Darstellung. Pufendorf sei hauptsächlich aus pragmatischen Gründen nach Berlin gegangen. Auch seien ihm alle emotionalen Beziehungen zu Brandenburg abgegangen, und schließlich und endlich sei er von ganz unpolitischem Charakter gewesen. Letztere Feststellung dürfte bereits im Lichte der oben getroffenen Beobachtungen zu Pufendorfs Zeit in Schweden allerdings als fragwürdig erscheinen. Auch die Berliner Quellen, soweit sie bisher bekannt geworden sind, reden eine andere Sprache und beweisen, daß sich Pufendorf nicht "auf seine Historiographentätig66b Pufendorfs eingehende Beobachtung dieser Vorgänge wird z. B. durch einen Brief an A. Rechenberg belegt (17.3. 1691), in dem er die sog. Reduktionen (das bestimmende innenpolitische Ereignis der schwedischen Geschichte unter Karl XI.) ausführlich und kommentierend beschreibt. Daß sich Pufendorf in einem bisher unbekannten Umfange zur propagandistischen Rechtfertigung der schwedischen Außenpolitik zur Verfügung stellte, zeigen Untersuchungen, die von mir erst nach Abschluß der vorliegenden Arbeit angestellt worden sind (s. NT. 606 a).

1.1 Forschungsgeschichte

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keit beschränkte", wie Denzer meinte feststellen zu können. 67 Hinsichtlich des kirchenpolitischen Wirkens Pufendorfs wird der vorliegende Studienband einige neue Aufschlüsse vermitteln können. Als noch nicht vollständig geklärt muß schon die Berufung Pufendorfs an den Hof des Großen Kurfürsten angesehen werden. Die ausführlichsten Nachrichten zu dieser Frage bieten immer noch Droysen (Nr. 532) und vor allem Varrentrapp (Nr. 1) und R. Schulze (Nr. 542). Nichts Näheres wissen wir über Pufendorfs Mitgliedschaft im Berliner Kammergericht (s. Nr. 236)68; nur andeutungsweise erfahren wir durch Ludewig über den Versuch, den gefeierten Rechtslehrer für die neue Universität in Halle zu gewinnen (Nr. 238); ganz fragmentarisch sind wir über Pufendorfs Beziehungen zu den Kreisen am Berliner Hof und zum brandenburg-preußischen Adel unterrichtet 69 • Eine ganz und gar dunkle, jedoch sehr wichtige Frage ist die Teilnahme Pufendorfs am gesellschaftlich organisierten geistigen Leben in Berlin. Der inzwisehen verstorbene Eduard Winter berichtet in seinem Buch "Frühaufklärung" (1966), unter Pufendorfs Leitung habe "sich eine Lesegesellschaft gebildet, in der sich geistig Interessierte regelmäßig trafen und ihre Meinungen über Forschungsergebnisse und Bücher austauschten." (Nr. 673, S. 75). Leider gibt Winter auch hier, wie so oft in seinen Werken, keinen Hinweis auf die Quelle seiner Mitteilung. 70 Innerhalb der zeitgenössischen Literatur konnte ich bisher lediglich bei Gottfried Vockerodt (Nr. 231) einen Hinweis finden, der sich auf "Berolinses Litteratorum conventus" (S. 281 f.) bezieht, die in den Häusern von Ezechiel 67 Zu erwähnen sind hier u. a. Pufendorfs Briefe an Markus Detlev Friese (s. Nr. 22) oder die diplomatischen Aufträge, die er bei seiner Reise nach Schweden im Sommer 1694 übernommen hatte. Diese Frage führt in den hier nicht zu behandelnden Bereich der Erschließung des archivalischen Materials zu Pufendorfs Biographie. Um jedoch meine Feststellung nicht ohne jede Begründung zu lassen, verweise ich auf ein Schreiben Karl XI. an den brandenburgischen Kurfürsten (vom 24. 5. 1694), aus dem hervorgeht, daß Pufendorf bei einem Besuch in Schweden nicht nur einen Brief Friedrich III. überbracht hat, sondern auch im Auftrage des Kurfürsten ein vertrauliches Gespräch mit dem König führte (Abschrift des Briefes in der UB Leipzig, Ms 035, BI. 34r ). Herimzuziehen ist in diesem Zusammenhang auch ein Brief Friedrich III. vom 11. / 21.4. 1694 an den König (Staatsarchiv Merseburg, Rep. 9 K Lit F, Fasz. 7, BI. 50r - 51 r ). 68 Die Sentenzenbücher des Kammergerichts befinden sich heute im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam (früher Staatsarchiv) und sind von mir im September 1988 eingesehen worden. Es läßt sich den Unterlagen jedoch nicht entnehmen, ob Pufendorf Anteil an der dortigen Rechtsprechung genommen hat. 69 Pufendorfs gute Beziehungen zum Hof werden durch einen Brief des Geheimen Rates ehr. c. Blumenthai an Willibald v. Houwald bezeugt (s. Nr. 5). Hier ist vor allem an Eberhard von Danckelmann zu denken, den Pufendorf auch öfters in seinen Briefen erwähnt, aber auch an den Hofzeremonienmeister Johann von Besser (s. Anm. 24) oder an Paul von Fuchs, der bei der Aufnahme Pufendorfs in die Dienste Brandenburgs eine wichtige Rolle gespielt hat (vgI. auch S.5 über das Verhältnis Pufendorfs zu E. v. Spanheim). 70 Winter hat seine Behauptung auch später wiederholt. Ich habe mich im April 1988 in dieser Angelegenheit an Herrn Prof. Mühlpfordt (Halle), der an der Abfassung der Werke Winters wesentlichen Anteil genommen hatte, mit der Bitte um eine nähere Auskunft gewandt. Auch Herr Mühlpfordt konnte mir jedoch keine weiteren Angaben übermitteln (Brief vom 19.5. 1988).

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

Spanheim und Pufendorf zusammengekommen sein sollen. Alle sonstigen Quellen aus Pufendorfs letzter Lebenszeit schweigen (zur Spanheimgesellschaft s. S. 71 f. (dieser Arbeit). Man sollte selbstverständlich seinen Blick nicht auf Berlin und Brandenburg beschränken, wenn es um Pufendorfs letzte Lebensjahre geht. So sind wenigstens zwei Versuche nachweisbar, ihn in den Dienst anderer deutscher Länder zu ziehen. Schon 1686, also noch während seines Aufenthaltes in Stockholm, soll es zu dem Vorstoß gekommen sein, Pufendorf als Nachfolger Conrings nach Helmstedt zu ziehen. Leider ist unsere Kenntnis über diese Aktion z. Zt. noch sehr dürftig, so daß sich deren Hintergründe nicht ausmachen lassen. 71 Die Motive für Pufendorfs Ablehnung der Berufung werden wahrscheinlich mit den von Ludewig mitgeteilten Argumenten konform gehen, die Pufendorf von einem Wechsel nach Halle Abstand nehmen ließen. Etwas mehr wissen wir dagegen über die Bemühungen, Pufendorf als Historiographen nach Wien zu verpflichten. Ein letztes Mal kommt es hier zu einem Versuch des Esaias Pufendorf, das Schicksal seines Bruders zu lenken, diesmal jedoch ohne Erfolg (allerdings starb Esaias noch vor dem Beginn der eigentlichen Verhandlungen). Eigentlicher Promotor des Unternehmens war der frühere Pufendorfschüler Johann Friedrich v. Seilern, dessen Biograph, Gustav Turba, ausführlich über die damaligen Verhandlungen berichtet 72 (Nr. 299). Auf die ebenfalls interessanten Bestrebungen, Pufendorf als Präsidenten des Collegium Imperiale zu gewinnen, wird der Abschnitt über Pufendorf als Historiker eingehen. Ein Problem für sich bildet die Korrespondenz Pufendorfs, die uns aus seinen Berliner Jahren in einem etwas größeren Umfange überliefert ist als aus den früheren Jahrzehnten. Hier fehlt es noch ganz an Untersuchungen, denen freilich eine brauchbare Edition der vorhandenen Materialien vorangehen müßte. Einige Bemerkungen zu den Briefwechseln mit Adam Rechenberg, Chr. Thomasius und Ernst von Hessen-Rheinfels finden sich auf S. 64 ff. dieser Arbeit. Als Defizite der Forschung anzumelden sind auch Pufendorfs Beziehungen zu seinen Verlegern 73 und die Geschichte und Zusammensetzung seiner Privatbibliothek. 74 71 Eine diese Angelegenheit betreffende ganz knappe Notiz findet sich in einem Aufsatz von Wemer Kundert: Hermann Conring als Professor der Universität Helmstedt. In: Hermann Conring. Beiträge zu Leben und Werk. Hrsg. von M. Stolleis, Berlin 1983, S. 399-412, der erwähnte Hinweis auf S. 412. Eine Quelle wird nicht vermerkt. Im Staatsarchiv Wolfenbüttel, das über die Bestände des Helmstedter Universitätsarchivs verfügt, lassen sich keine Unterlagen zu diesem Fall ermitteln (schriftliche Auskünfte vom 6. 1. und 20.4. 1988, eigene Recherchen im Archiv im März 1991). Auch eine Auskunft von Herm Dr. Kundert selbst (24. 2. 1988) hat nicht zur Aufklärung der Angelegenheit beitragen können, da die von ihm genannten Archivalien die gesuchten Informationen nicht enthalten. Immerhin wird Kunderts Angabe durch eine Bemerkung von Konrad Schurzfleisch in einem Brief an A. Rechenberg gestützt. Es heißt dort, es ginge das Gerücht um, Pufendorf solle als Nachfolger Conrings nach Helmstedt berufen werden (C. S. Schurtzfleisch: Epistolae arcanae. Halle 1711, S. 387). 72 Es handelt sich um Papiere aus dem Wallersteinschen Familienarchiv, die sich im Besitz des Fürstlich Oettingen-Wallerstein'schen Archiv in Harburg befinden. 73 Es existiert eine Reihe unbearbeiteter Quellen zu diesem Thema. Danach war Pufendorf sehr an einem möglichst sorgsamen Druck seiner Arbeiten gelegen. Mindestens

1.1 Forschungsgeschichte

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Samuel Pufendorf ist am 26. 10. 1694 in Berlin gestorben, nachdem er kurz zuvor von einer Reise nach Schweden, deren Hintergründe und deren Verlauf ebenfalls noch manche Frage offen läßt, zurückgekehrt war. Über sein Ende berichten Spener (Nr. 239) und die Witwe Pufendorf. 75 Der negative Stern, der über dem Erhalt von Nachrichten zu Pufendorfs Leben und Wirken stand, scheint auch über das Schicksal seines Nachlasses gewaltet zu haben. Es ist mit einer Ausnahme buchstäblich nichts erhalten geblieben. 76 Wir stehen hier vor dem denkbar extremsten Gegensatz zur Überlieferung des Leibniz-Nachlasses, der bis zum letzten Papierschnipsel die Zeiten überdauert hat (einige Verluste des 2. Weltkrieges abgerechnet) und heute die Regale der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Landesbibliothek füllt. Bildet nun auch der Fall Leibniz eine absolute Ausnahme, so ist doch das totale Verschwinden jeglicher Spur des Pufendorf-Nachlasses merkwürdig. Da es sich bei den vorliegenden Seiten nicht um einen Überblick erhaltener Pufendorf-Archivalien handelt, kann diese Frage hier nicht weiter diskutiert werden. Der Hinweis auf die beiden einzigen in der gedruckten Literatur zu findenden Bemerkungen muß genügen (s. jedoch Anm. 76). Ernst Fischer berichtet über den 1724 auf Befehl Friedrich Wilhelms I. unternommenen Versuch, aus Pufendorfs Hinterlassenschaft das Manuskript seiner "Geschichte Friedrich III." zu beschaffen (Nr. 533). Noch wichtiger ist eine von C. Eichhorn mitgeteilte Notiz aus der UB Uppsala, wonach die Witwe Katharina Pufendorf die Ordnung des Nachlasses ihres Mannes einem Hofrat Hayn überlassen habe (Nr. 652). Ein besonderes Desiderat der Forschung stellt schließlich die Erarbeitung einer vollständigen Bibliographie der Werke Pufendorfs dar. Die Schwierigkeit liegt vor allem in der Unmenge von Ausgaben der beiden naturrechtlichen Hauptschriften (De jure naturae et gentium, De officio hominis et civis), die in den verschiedensten Ländern in den verschiedensten Sprachen erschienen sind. Alle bisherigen Pufendorf-Bibliographien tragen in dieser Beziehung Zufallscharakter. Das gilt, wenn auch eingeschränkt, selbst für die heute als vorbildlich angesehene Bibliographie von H. Denzer (Nr. 416, S. 359 ff.). Von "De officio" werden 99 Ausgaben aufgeführt, aber noch im gleichen Jahr (1972) ist von K. Luig ein Verzeichnis vorgelegt worden, das 152 Editionen erfaßt (s. S. 7). Eine weitere crux stellt schließlich die Erfassung aller einmal (1684) ist er allein deswegen nach Holland gereist. Überhaupt ist über Pufendorfs Reisen, die meist dem Besuch von Archiven galten (Aufenthalte in Hannover und Kassel sind nachweisbar), kaum etws bekannt. 74 Der Katalog der Bibliothek Pufendorfs ist 1697 (anläßlich der Verauktionierung) im Druck erschienen (s. Anm. 233). Frau Dr. Palladini bereitet z. Zt. eine kommentierte Ausgabe dieses Verzeichnisses vor. Vgl. jetzt auch Nr. 254. 75 Der Bericht findet sich in einem bisher unveröffentlichten Brief an Erik Dahlberg, der aber von K. Varrentrapp benutzt worden ist (Nr. I, S. 230 f.). 76 Das Manuskript von "De rebus gestis Friderici IlI." ist von Katharina Efisabeth von Pufendorf als Geschenk Johann v. Besser übergeben worden. Aus dessen Nachlaß ist es in die heutige Sächsische Landesbibliothek in Dresden gelangt. Über eine neue Spur über den Verbleib des Pufendorf-Nachlasses berichte ich in der Einleitung zur Edition des Briefwechsels Pufendorfs.

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

von Pufendorf stammenden Schriften dar. Auch hier kann sich die weitere Forschung nicht mit Denzers Verzeichnis zufriedengeben. So wird beispielsweise ein und dieselbe Schrift, die jedoch unter drei verschiedenen Titeln erschienen ist (Erstausgabe als "Dissertationes Academicae selectiores"), dreimal als völlig selbständige Publikation angeführt. Die zahlreichen von Pufendorf verfaßten Streitschriften zur Verteidigung seiner Naturrechtslehre werden nicht nach ihren jeweiligen Einzeltiteln und Erstausgaben festgehalten, sondern es wird nur auf den späteren Sammelband "Eris Scandica" verwiesen. Gänzlich fehlen bei Denzer die von Pufendorf in Holland herausgegebenen Schriften von Johannes Meursius und Johannes Lauremberg und der von ihm selbst verfaßte "Gundaeus baubator Danicus" (s. Anm. 50). Nicht erwähnt werden auch die Texte, deren Verfasser umstritten ist, z. B. die schon erwähnten "Anecdotes de la Suede" oder der "Prodromus justitiae Palatinae in causa Wildfangiatus". Da die gewünschte umfassende Bibliographie vorerst auch weiterhin auf sich warten lassen wird, ist zu empfehlen, sich zwar an Denzer zu orientieren (bei "De officio" an Luig), zur Korrektur und Ergänzung jedoch immer das in mancher Hinsicht gründlichere Verzeichnis von Siebenkäs (s.o.) heranzuziehen. Vordringlich zu klären wäre die Verfasserschaft der zugeschriebenen anonymen oder pseudonymen Texte, von denen oben nur zwei Beispiele genannt wurden.

1.2 Pufendorf und die Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie an der Universität Jena im Jahre 1664 Pufendorfs Beziehungen zu den Universitäten seiner Zeit sind bekanntlich von zwiespältiger Natur gewesen. Dem Studium an den Universitäten Leipzig, Jena und Leiden (1650-1661 mit Unterbrechungen zwischen 1658 und 1660) folgt sein Wirken als Professor für Völkerrecht in Heidelberg (1661-1668) und in Lund (1668-1677). Die letzten 17 Jahre seines Lebens dagegen stehen ganz außerhalb jeglicher Tätigkeit im universitären Bereich: 1677 geht Pufendorf als Hofhistoriograph nach Stockholm, um die gleiche Funktion elf Jahre später am Berliner Hof zu übernehmen. Die Rückkehr an eine Universität lag, soweit wir wissen, gänzlich abseits seiner Lebensplanung. 77 Hat Pufendorf auch nicht das Desinteresse Leibnizens am Universitäts wesen geteilt, so ist doch sein Urteil über die Hochschulen, z. T. geprägt durch die bitteren Auseinandersetzungen um seine Lehre vom Naturrecht, schließlich immer kritischer geworden. 78 Diese 77 Über den Plan, Pufendorf nach Helmstedt zu ziehen, vgl. Anm. 71. Über die Motive, die Pufendorf bewegten, eine Berufung nach Halle auszuschlagen, berichtet Ludewig (s. Anm. 432); vor allem das "Gezäncke", in das man an den Universitäten hineingezogen werde, sei ihm, Pufendorf, zuwider. 78 Pufendorfs Kritik richtete sich insbesondere gegen die theologische Überfremdung sämtlicher Fakultäten. Dies sperre die Universitäten gegen modeme geistige Strömungen ab. Vgl. vor allem Pufendorfs "Unvorgreifflich Bedencken ... wegen abschaffung der Cartesianischen Philosophie" (in: Schwedische Bibliothec. 2. Stück. Stockholm und Leipzig 1728, S.I02-113).

1.2 Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie

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negative Beurteilung ist es endlich auch, die unter die Beweise für die angebliche geringe Bedeutung der Universitäten des 17. Jh. eingereiht worden ist. 79 Diese Meinung entbindet jedoch den Historiographen nicht von der Aufgabe, den Beziehungen Pufendorfs zu den von ihm berührten Hochschulen, die immerhin den Hintergrund fast der Hälfte seines Lebens bildeten, nachzugehen. Leider ist dies noch bei keiner der genannten Universitäten in einem hinlänglichen Umfange geschehen. 80 Die folgende Studie soll sich mit Pufendorfs Verhältnis zur U niversität Jena beschäftigen, freilich nur in der Form einer Momentaufnahme, die nur ein (allerdings recht interessantes) Detail dieser sehr unterschiedlich gelagerten Verbindung näher wiedergibt. Pufendorf ist im Herbst 1664 durch die Philosophische Fakultät der Jenaer Universität der Lehrstuhl für Moral und Politik angeboten worden, und zwar, wie uns berichtet wird, nicht ohne positive Reaktion: Pufendorfhätte die Berufung angenommen, wäre sie nicht an anderen noch zu schildernden Ursachen gescheitert. Daraus ergibt sich die Frage nach Pufendorfs Situation in jener Zeit, d. h. notwendig ist die Suche nach den Gründen, die es ihm als angeraten erscheinen lassen konnten, eine Rückkehr nach Sachsen ins Auge zu fassen. Pufendorf ist bekanntlich 1661 auf Betreiben des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz als Professor für Naturrecht nach Heidelberg berufen worden. 81 Über die sieben Jahre seines dortigen Wirkens hat die Forschung bisher nur wenig ermitteln können. 82 Die wenigen überlieferten Äußerungen Pufendorfs aus jener Zeit erge79 Daß diese Auffassung über die Rolle der Universität in der frühen Neuzeit zumindest in dieser Ausschließlichkeit angesichts der lange vernachlässigten Quellenforschung nicht zu halten ist, wurde in den letzten Jahren wiederholt betont, kann aber in Anbetracht der weithin stagnierenden Forschung zu den besonders wichtigen mitteldeutschen Universitäten jener Zeit wohl nicht oft genug wiederholt werden. Zur neueren, immer noch weitgehend auf Festschriften beschränkte Literatur zu diesen Hochschulen informiert G. Katsch: Die Geschichte der Universitäten der DDR im Spiegel ihrer Jubiläumspublikationen. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte. Bd. 15 /I (1988), S. 248-255. Zur Neubewertung der frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte vgl. die programmatischen Ausführungen von Hans-Henrik Krummacher: Universität und Literatur im 17. Jh. Hrsg. von A. Schöne, München 1976, S. 313 - 323. Insbesondere ist jedoch auf die Arbeiten von Notker Hammerstein hinzuweisen. Ich nenne stellvertretend nur zwei Titel: "Universitäten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation als Ort der Philosophie des Barock", in: Studia Leibnitiana. Bd. XIII / 2 (1981), S. 242 -266. "Schule, Hochschule und Res publica litteraria", in: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Teil 1, Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 14), S. 93 - 110. 80 Über Pufendorfs Studium an der Leipziger Universität vgl. meinen Aufsatz über Pufendorf und die Leipziger Ge1ehrtengesellschaften (Nr. 19; hier auch nähere Ausführungen über die Notwendigkeit, sich eingehend mit Pufendorfs Universitäts studien zu beschäftigen). Zu Jena und Heidelberg vgl. den Forschungsbericht und die weiteren Ausführungen; über Leiden und Lund s. ebenfalls den Forschungsbericht. 81 Eine quellenmäßig gut fundierte Darstellung dieser Berufung gibt J. Wille (Nr. 217). 82 Die relevante Literatur findet sich zumeist in den verschiedenen Festschriften der letzten einhundert Jahre. Auch die neueste, ansonsten sehr gute Publikation dieser Art gibt über Pufendorfs konkretes Leben und Wirken in Heidelberg nichts Neues (Nr. 220). Zur Quellenlage s. Anm. 52.

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

ben kein eindeutiges Bild über die Selbsteinschätzung seiner Situation. Die in verschiedenen Schreiben der Jenaer Philosophischen Fakultär hervorgehobene große Anziehungskraft, die Pufendorfs Lehrtätigkeit insbesondere auf den skandinavischen Raum ausübte, wird durch die an den Grafen Gabrie1 Gabrielsson Oxenstierna gerichteten Briefe Pufendorfs, dessen Obhut der Sohn des Grafen anvertraut war, belegt. 83 Ihr Inhalt beschränkt sich jedoch auf allgemeine Erörterungen von Erziehungsfragen und auf die wohl für alle Universitäten mehr oder weniger gültigen Klagen über die Unlust der adligen Studenten, ernsthafte Studien aufzunehmen. In seinem ersten Brief an den Uppsalaer Professor Johann Scheffer gibt Pufendorf seinem Unbehagen über die Situation in Heidelberg einen prinzipiellen Ausdruck: "Nostrae Musae heic satis frigent."84 Es habe sich bei der Jugend ein Widerwillen gegen die Wissenschaften eingeschlichen, um ganz unreifen Studien (cruda studia) Platz zu machen, die nun mit enormer Propaganda verbunden betrieben würden, alle Welt schwatze nur noch von Naturrecht und politischer Klugheit (civilis prudentia), jedoch nur die wenigsten verstünden davon etwas. Etwas anders klingt es in dem überhaupt in verschiedener Hinsicht wichtigen Schreiben Pufendorfs vom 1. 1. 1667 an seinen Bruder Esaias 85, das sich ausschließlich mit der angebotenen Berufung nach Lund beschäftigt: In Heidelberg habe es ihm bisher gut gefallen (in quo hactenus bene mihi fuit). Im Gegensatz zu den meisten anderen Universitäten sei hier die "philosophandi libertas" gewährleistet, die lediglich durch die Verpflichtung begrenzt sei, nichts der Frömmigkeit (pietas) und dem Staat Abträgliches zu lehren. Mag so Treitschkes schwungvoll gezeichnetes Bild der Jahre Pufendorfs an der Neckaruniversität, in die ja auch seine Eheschließung fällt (1665), nicht der Berechtigung entbehren 86 , so fehlte es doch schon 1664 nicht an einem für Pufendorf hinreichenden 83 Es handelt sich um insgesamt 17 Briefe Pufendorfs aus dem Jahre 1665 (UB Uppsala, Ms E 462 a • Ich danke Herm Tomas Anfält von der Handschriftenabteilung der UB Uppsala für die Überlassung von Kopien dieser Briefe). Über seine Heidelberger Schüler berichtet Pufendorf in der "Apologie" (S. 47 f. der Ausgabe von 1706), sie hätten zwei Gruppen gebildet: die Hörer seiner Vorlesungen und die seiner unmittelbaren Sorge anvertrauten Studenten. 84 Brief an J. Scheffer vom 25. 10. 1665, abgedruckt in: Oscar Malmström: Samuel Pufendorf och hans arbeten i Sveriges historia. Lund 1899, Bilagor S. 2 f. (Die Originale der Briefe befinden sich ebenfalls in der UB Uppsala, Ms G 260".) 85 Reichsarchiv Stockholm, De la Gardieska samlingen, E 1529. Der Brief ist von Stig Jägerskiöld in schwedischer Übersetzung veröffentlicht worden (Nr. 6, S. 174- 176). Pufendorfs Stellung in Heidelberg scheint sich in einem erheblichen Maße auf seine guten Beziehungen zum Kurfürsten gestützt zu haben. Das geht u. a. aus seinem Brief vom 10. 1. 1677 an G. Klinger hervor (Nr. 29, S. 647 ff.): Er könne jederzeit nach Heidelberg zurückkehren; keineswegs sei es, wie behauptet wird, wegen der Erziehung des Kurprinzen zu Differenzen gekommen. 86 Treitschke (Nr. 110), S. 328 ff. Die Quellen, aus denen Treitschke schöpft, bleiben auch hier undeutlich. So heißt es, aus Pufendorfs späteren Briefen töne "immer ein Klang der Sehnsucht, so oft er der fröhlichen Pfalz gedenkt" (S. 330). Was sind das für Briefe? Als Austragung eines grundsätzlichen Konfliktes mit den traditionellen Formen der Universität charakterisiert dagegen Horst Denzer die Jahre Pufendorfs in Heidelberg (Nr. 134, S. 7 ff.).

1.2 Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie

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Motiv, die sich ihm bietenden Möglichkeiten einer Veränderung nicht von vornherein in den Wind zu schlagen. Pufendorf war entgegen seines Wunsches 1661 nicht in die Juristische Fakultät aufgenommen worden. Statt dessen hatte man den neuen Lehrstuhl im Bereich der untergeordneten Philosophischen Fakultät angesiedelt, was nicht nur eine geringere Reputation bedeutete, sondern auch ein wesentlich schmaleres Einkommen erbrachte. Pufendorfs 1664, kurz vor dem Jenaer Angebot, unternommener Vorstoß, durch die Übernahme der Professur für deutsches Staatsrecht doch noch in die Juristenfakultät aufzusteigen, war unter dem Hinweis auf seine angeblich mangelnde Qualifizierung (Fehlen des juristischen Doktorgrades) gescheitert. Die tiefe Verärgerung, die er über diese Brüskierung empfand, hat den Anstoß zur Abfassung des "Monzambano", seiner bekanntesten Schrift, gegeben. 87 Die Vermutung dürfte nicht abwegig sein, daß diese Vorgänge Pufendorf veranlaßt haben, auch das Angebot aus Jena ernsthaft zu erwägen. Allerdings hätte auch Jena, das zudem als eine der ärmeren Universitäten des Reiches galt, vorerst nur wieder eine Professur innerhalb der Philosophischen Fakultät zu bieten gehabt. Hier spielt nun jedoch noch ein anderer Faktor eine Rolle, dem wir einige Aufmerksamkeit schenken müssen, nämlich Pufendorfs Verbindung zu Jena als Absolvent der dortigen Universität und als Schüler Erhard Weigels. Samuel Pufendorf ist am 14.8. 1656 an der Universität Jena immatrikuliert worden 88 , um bereits fünf Tage später (19. 8.) zum Magister zu promovieren. 89 Bereits Ende August ist Pufendorf wieder in Leipzig, das er frühstens erst gegen Jahresausgang in Richtung Jena verlassen hat, diesmal für einen längeren Zeitraum. Der Hintergrund dieser Vorgänge ist bislang nicht deutlich geworden. Nach Dahlmann (s. Forschungsbericht, S. 4 ff.) soll Pufendorf von E. Weigel dazu überredet worden sein, sich den "Magister-Huth aufsetzen" zu lassen (S. 655). Wenn in dieser Ausage ein Wahrheitskorn verborgen ist, so muß Pufendorf schon vor seiner Immatrikulation in Jena die Bekanntschaft Weigels gemacht haben, entweder noch in dessen Leipiger Zeit (bis 1653) oder über die Vermittlung seines Bruders Esaias, der ebenfalls 1653 an die Jenaer Universität wechselte. Nach Samuel Pufendorfs eigener Aussage, die auch von Weigel bestätigt wird, wohnte er während seiner gesamten Jenaer Studienzeit (1657) in Weigels Haus. 90 87 So Pufendorf in der Vorrede zu der von J. P. GundJing besorgten Editio postuma des "Monzambano" (1706): "Conscriptus hic fuit impellente indignatione praereptae ab altero professionis, quam sibi deberi crediderat autor" (A 2). 88 Die Matrikel der Universität Jena. Band 11: 1652- 1723. Bearbeitet von R. Jauemig. Weimar 1977, S. 608. 89 Überliefert ist uns dieses Datum durch G. Chr. Gebauer: Anthologicarum Dissertationum Liber. Leipzig 1733, S. LVII. Näheres konnte ich über Pufendorfs Magisterpromotion weder im Jenaer Universitätsarchiv noch in den Staatsarchiven Altenburg und Weimar in Erfahrung bringen. 90 In Pufendorfs "Epistola ad amicos" heißt es: "Annum 1657 ego a principio ad finem Jenae in aedibus D. WeigeJii exegi." (Eris scandica. Frankfurt / M. 1706, S. 104 f.). Gleiches berichtet E. Weigel in einem Brief vom 16. 10. 1664 an H. Ludolf (s. Anhang, S. 256 f.).

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

Was sich ansonsten über Pufendorfs Jenaer Aufenthalt in Erfahrung bringen läßt, ist rasch aufgezählt: Als gesichert ist die Nachricht anzusehen, daß er als Erzieher zweier an der Universität immatrikulierter Leipziger Professorensöhne tätig war. 91 Auch lassen sich einige Namen weiterer Jenaer Studenten nennen, mit denen er eine nähere Verbindung unterhalten hat. 92 In diesem Zusammenhang ist wohl auch ein Heiratsprojekt anzusiedeln, das damals eingefädelt wurde, von dem uns jedoch kaum die dürftigste Kunde überliefert ist. 93 Das entscheidende Erlebnis dürfte jedoch die Begegnung mit Weigel gewesen sein, wenn auch deren Bedeutung in der Literatur wohl zu einseitig betont wird. So soll Pufendorf durch Weigel erstmals auf die Werke von Grotius und Hobbes und damit auf die gesamte Thematik des Naturrechts aufmerksam gemacht worden sein. Dafür findet sich weder bei Pufendorf selbst noch in der gesamten biographischen Literatur des 18. Jh. ein Beleg. Soweit ich sehe, taucht diese Behauptung erstmals bei Treitschke auf (S. 324), um von dort Eingang in die späteren Publikationen zu finden. Vor allem läßt sich jetzt aber der Nachweis führen, daß Pufendorf schon in Leipzig mit diesen Fragen in Berührung kam. 94 Auf sicherem Boden bewegen wir uns dagegen mit der Feststellung, daß Weigel die Anregung zur Beschäftigung mit der mathematischen Methode vermittelt hat. 95 Pufendorf hat sie wenige Jahre später seinem ersten Entwurf des Systems des Naturrechts 91 Ich habe an anderer Stelle (Nr. 295, S. 103 f.) den Nachweis zu führen gesucht, daß es sich bei diesen Professorensöhnen aller Wahrscheinlichkeit nach um Christian Philipp und Jacob Born handelte. Vgl. Weigels in Anm. 90 erwähntes Schreiben und Esaias Pufendorfs Brief vom 24. 12. 1657 an Samuel (Nr. 45). 92 Das Reichsarchiv in Stockholm ist im Besitz einiger an Pufendorf gerichteter Briefe (alle vom April 1658) Jenaer Studenten. Ich möchte auch vermuten, daß der in Pufendorfs späteren Briefen an Rechenberg oft erwähnte Herr Hickmann mit E. Hickmann aus Dippoldiswalde (immatrikuliert 22. 7. 1657) identisch ist. 93 In einem Brief vom 7. 1. 1693 an Thomasius (Gigas, S.72) erwähnt Pufendorf einen Plan aus dem Jahre 1658, ihm in Halle eine DienststeIlung "und eine fraue" zu geben. Darauf habe er seinen Bruder Esaias angefleht, ihn davor zu bewahren. In einem Brief Heinrichs von Einsiedeln an Pufendorf (21. 4. 1658) wird dem Bedauern Ausdruck verliehen, daß es um die "gevatterschaft" "vor menschlichen augen auff solche weise zwar mißlich" stünde (gemeint ist Pufendorfs Abreise nach Dänemark). Der Familiennachlaß der Einsiedeln befindet sich heute im Staatsarchiv Altenburg, ist aber, wie mir gegenüber mehrfach erklärt wurde, für die Benutzung nicht zugänglich. 94 Vgl. meinen Aufsatz über Pufendorf und die Leipziger Ge1ehrtengesellschaften (Nr. 19). Vielleicht ist er durch seinen Bruder Esaias oder auch durch Jakob Thomasius in Leipzig auf diese Literatur aufmerksam gemacht worden. 95 Pufendorf berichtet in einem an Weigel gerichteten Brief vom 17.4. 1659 über seine Arbeit an den Elementajurisprudentiae universalis und lobt dabei überschwenglich Weigels Methode (methodus Tua; Nr. 2. Abschrift des Briefes in der Stadtbibliothek Nürnberg, Autogr. 634). Vgl. auch Pufendorfs Vorrede zu seinem 1660 erschienenen eben erwähnten Werk, Praefatio (Weigel wird hier jedoch nur allgemein dafür gelobt, daß er ihn, Pufendorf, zu seiner Arbeit ermutigt und ihm bestimmte Richtungsweisungen vermittelt habe). Daraus ist die auch von Leibniz weitergegebene (Brief an J. Thomasius, 2.9. 1663) Erzählung entstanden, Pufendorf habe sein Werk fast ganz aus einem Manuskript Weigels abgeschrieben. Vgl. auch dazu den Brief Pufendorfs an Weigel vom 17.4. 1659.

1.2 Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie

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(Elementorum jurisprudentiae universalis libri 11) zugrunde gelegt. Mit seinem Jenaer Lehrer ist er über Jahrzehnte hinweg in brieflicher Verbindung geblieben. 96 Es ist jedoch zu einseitig, die Bedeutung von Pufendorfs Studienzeit in Jena auf seine Verbindung zu Weigel zu reduzieren. Leider lassen sich seine Kontakte zu anderen Professoren der Universität bestenfalls erahnen. In engeren Beziehungen stand er auf alle Fälle zu Johannes Strauch (Prof. der Jurisprudenz), der darüber später selbst berichtet hat. 97 Einer weniger gut belegten Mitteilung zufolge, die jedoch keineswegs unwahrscheinlich klingt, soll er in Jena auch ein Schüler von Johannes Schilter (damals Dozent) gewesen sein. 98 Zu vermuten ist schließlich auch, daß Pufendorf den neben Weigel bedeutendsten Jenaer Gelehrten jener Zeit, Andreas Bose (Prof. der Geschichte), näher gekannt haben wird. 99 Über Pufendorfs sonstiges Tun und Lassen in Jena haben sich bisher m. W. keine weiteren Quellen, insbesondere keine archivalischen Nachweise 100, angefunden. Einige wenige Notizen hat Pufendorf in verschiedenen Streitschriften in diesem oder jenem Zusammenhang übermittelt. Leider ist das in jener umfangreichen Literatur enthaltene biographische Material von der sich auf den "Monzambano" 96 Aus dieser sicher sehr wichtigen Korrespondenz haben sich nach dem jetzigen Erkenntnisstand ganze zwei Briefe erhalten: das in Anm. 95 erwähnte Schreiben und ein (erst kürzlich entdeckter) Brief vom 5. 11. 1688 (s. meinen Aufsatz über Pufendorf als Theologen, Anm. 228). Von Weigel ist in Pufendorfs Briefen an Rechenberg öfters die Rede. Mindestens einmal (um 1690) hat es auch noch eine persönliche Begegnung zwischen Weigel und seinem ehemaligen Schüler gegeben (Niedersächsische Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Ms. Phil. 60, B. 41 P. Diese Handschrift enthält [BI. 409 ff.] einen Bericht über Weigels Reisen, die er zum Zwecke der Kalenderreform unternommen hat. Dabei soll er auch Berlin berührt haben und durch die Vermittlung Pufendorfs zur Audienz beim Staathalter empfangen worden sein.) 97 Ich gebe die kaum bekannten, an entlegener Stelle veröffentlichten Bemerkungen Strauchs vollständig wieder: Im Kontext geht es um die Bewertung des "Monzambano": "Equidem laudem hominis docti et Philosophi eximii, ego personato huic non detraxerim, nec abnuerim facile scribere eum eleganter, perspicue, et ubi causae non servit, cum judicio, quippe qui cum Fratre suo (d. i. Esaias Pufendorf, D. D.) et ab eleganti ingenio, et eruditione haud vulgari, Ienae bene mihi cognitus fuit, cum antea frater quoque ejus in Academia Lipsiensi familiarius meus, ac denuo inquilinus et convictor Ienae fuerit." (J. Strauch: Institutionum Juris publici specimen. Frankfurt / M. 1683, S. 33 f., Anm. 1). 98 Vgl. Antwort Schreiben auff etliche Fragestücke eines gelehrten Edelmanns welcher in einer Preußischen Provinz wohnet. o. O. 1710, S. 188. Nach der dortigen Angabe sollen Esaias und Samuel Schüler Schilters gewesen sein. Gestützt wird diese Behauptung durch einen Brief des Esaias vom 2. 10. 1688 an Schilter, in dem er die ihm, Schilter, "schon Anno 54. zugetragene ungefärbte affection" erwähnt (UB Gießen, Cod. 142, BI. 28 T • Ich danke Herrn Dr. B. Bader für die Überlassung einer Kopie dieses Briefes). 99 Der einzige mir bekannte direkte Hinweis auf eine Bekanntschaft zwischen Bose und Pufendorf bildet eine an Weigel gerichtete Bitte (s. den in Anm.95 erwähnten Brief), an Bose und Strauch Grüße auszurichten. Auf welcher Quellengrundlage die Mitteilung von W. Mägdefrau beruht, Pufendorf sei von Bose und G. A. Struve auf das Naturrecht, auf die Lipsius-Schule sowie auf Grotius und Hobbes hingewiesen worden, ist mir nicht deutlich; ein entsprechender Hinweis fehlt (Alma mater Jenensis. Geschichte der Universität Jena. Hrsg. v. S. Schmidt. Weimar 1983, S. 65 und 69). Bemerkenswert ist, daß Strauch, Schilter und Bose vor ihrem Wechsel nach Jena in Leipzig wirkten, also schon dort Pufendorf bekannt geworden sein könnten. 100 Auch in dieser Hinsicht gilt mein in der Anm. 89 mitgeteilter negativer Befund.

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

und die naturrechtlichen Hauptwerke konzentrierenden Forschung noch nicht hinreichend erfaßt worden. 101 Immerhin dürften weitere Untersuchungen, die sich auch auf das vergleichsweise hohe Niveau der Publikationen zur Jenaer Universitätsgeschichte stützen können, 102 doch noch einige weiterführende Erkenntnisse über Pufendorfs Studienzeit in Jena versprechen. Es ist sicher keine allzu kühne Feststellung, wenn wir aus dem soeben Gesagten ableiten, daß Pufendorf zur Jenaer Universität eine engere emotionale Bindung besaß, und daß er hier hoffen konnte, in einer Gemeinschaft geistig verwandter Gelehrter Aufnahme zu finden. Wir wenden uns nun der Vorgeschichte des an Pufendorf gerichteten Jenaer Angebotes zu. Durch den am 22. 2. 1664 erfolgten Tod von Philipp Horst waren an der Universität zwei Professuren (Poesie und Eloquenz, Ethik und Politik) zur Neubesetzung frei geworden. Auch in Jena erfolgten Berufungen auf dem damals üblichen Wege der Entscheidung des Landesherrn auf der Grundlage entsprechender Vorschläge der Universität, nur daß an der emestinischen Landesuniversität durch die Vielzahl der sog. Erhalterstaaten (innerhalb des uns interessierenden Zeitraums sind dies Sachsen-Weimar, 103, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Gotha) eine Beschlußfassung zu einer besonders komplizierten Angelegenheit wurde, was auch die folgenden Ausführungen belegen werden. Die hier nicht im einzelnen zu verfolgende Einigung der Höfe im Frühjahr 1664 führte zu dem Ergebnis, daß Gottfried Zapf zum neuen Professor der Poesie und Christoph Olpe zum Professor der Ethik berufen wurden. Zwei Ereignisse ließen die beiden Professuren jedoch schon wenige Wochen später wiederum vakant werden: der Tod Zapfs am 23. 7. 1664 und die Berufung Olpes als Pfarrer nach Römhild. Am 6.8. 1664 unterbreitete daraufhin die Philosophische Fakultät folgenden Vorschlag dem Rektor der Universität: Die Poesie101 So berichtet Pufendorf in Auseinandersetzung mit dem Jenaer Professor Veltheim (s. u.), daß er in seiner Jugend, als er mehr mit Begeisterung als mit Überlegung studierte, viele schöne Stunden bei der Beschäftigung mit der Metaphysik verschwendet habe, sei doch sein Domizil in Jena das Sterbehaus von Daniel Stahl gewesen, wo gleichsam die Luft von der Terminologie der Metaphysik infiziert worden sei (Specimen controversiarum circa Jus Naturale ipsi nuper motarum. S. 259 der Ausgabe der Eris Scandica, Frankfurt / M. 1706). Andererseits äußert sich Pufendorf nach 1688 lobend über die Jenaer Philosophen, da diese die von seinen Gegnern (gemeint ist hier vor allem V. Alberti) geforderte Verbindung von Philosophie und Theologie abgelehnt hätten (Eris Scandica, S. 359, wohl eine Anspielung auf Stahl und seine Schule, vgl. Max Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena. Jena 1932, Beiträge zur Geschichte der Universität Jena, Heft 4, S. 34 ff.). 102 Besondere Bedeutung kommt folgendem Werk zu: Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958.2 Bde. Jena 1958 u. 1962. Die Darstellung von Pufendorfs Jenaer Studienzeit besitzt jedoch keinen eigenständigen Charakter (Bd. I, S. 138) und folgt der bekannten Linie. Die Grundlage bilden E. Wolfs "Rechtsdenker" und das bekannte Handbuch von Ueberweg (Nr. 354). Auf die Universitäts geschichte von 1983 wurde schon hingewiesen (s. Anm. 99). 103 Dem eigentlichen Herzogtum Sachsen-Weimar unterstanden noch weitere drei Nebenlinien (Sachsen-Jena, Sachsen-Eisenach, Sachsen-Marksuhl), die beschränkte Eigenrechte (darunter Mitspracherecht bei Universitäts angelegenheiten) besaßen.

1.2 Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie

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professur möge an Johann Andreas Bose vergeben werden, die Professur für Ethik und Politik an Samuel Pufendorf. Als Ausweichkandidaten werden Jacob Thomasius von der Leipziger Universität (für die Poesie) und Philipp Müller (Geistlicher in Eisleben) genannt. Eine nähere Begründung der Vorschläge erfolgte nicht. 104 Hier hilft uns ein Privatschreiben Weigels, das er im Herbst 1664 an Hiob Ludolf (Hofmeister in Gotha) richtete, weiter, zumindest was die Berücksichtigung Pufendorfs betrifft. Es beweist zugleich, daß Weigel selbst die treibende Kraft bei diesem Versuch gewesen ist. 105 Pufendorf wird in den wärmsten Worten empfohlen, sein in Heidelberg erworbenes Renomee findet Erwähnung, seine (zahlenmäßig noch geringen) Publikationen werden aufgezählt, schließlich wird auf eine lobende Äußerung des angesehenen Straßburger Juristen Johann Heinrich Böder über Pufendorf hingewiesen. Zuletzt wird betont, daß Pufendorf ein "Magister Noster" sei. Er, Weigel, habe im Namen der Fakultät bei Pufendorf angefragt, wie er sich zu einer etwaigen Berufung nach Jena stellen würde. Dieser habe geantwortet, daß er eine offizielle Berufung als eine "divinam vocationem" betrachten und daher befolgen werde. Pufendorfs Wechsel nach Jena würde "zweifels frey vieler frembden vornehmen Leuthe Kinder" in die Saalestadt ziehen und so dem Flor der Universität nützen. Die Vorschläge der Fakultät sind über den Rektor in unveränderter Fassung an die Nutriatoren weitergeleitet worden. 106 Die sich nun anschließenden, bis in das Frühjahr 1665 hinziehenden Verhandlungen, die sich anhand der Akten in Weimar, Gotha, Altenburg und Jena verfolgen lassen, sollen hier nicht in ihrer ganzen ermüdenden Breite geschildert werden. Es genügen die Grundzüge und die Hauptrnomente, die schließlich zum Scheitern des von Weigel initiierten Vorhabens führten. Die erste, umgehende Reaktion auf die Vorschläge der Universität erfolgte seitens des Altenburger Hofes. 107 Sei man denn sicher, lautet die in einem Brief vom 17. 8. 1664 an die Universität 108 gestellte Frage, daß Universitätsarchiv Jena, MI, BI. 56r - 57 r . Diese Feststellung wird auch durch einen Vergleich dieses an Ludolf gerichteten Briefes (vom 16. 10. 1664) mit dem noch zu erwähnten Schreiben der Philosophischen Fakultät vom 19. 11. 1664 an die Nutriatoren bestätigt. Die Ausführungen und Argumente sind in beiden Papieren weitgehend identisch. Weigels Briefe an Ludolf befinden sich heute in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt / M. (Ms Ff. H. Ludolf I, Nr. 749 bis 751). Ich danke Herrn Dr. Po witz für die Übersendung von Kopien dieser Schreiben. 106 Vgl. das Schreiben des Rektors an Ernst von Sachsen-Gotha vom 22.8. 1664 (Staatsarchiv Weimar, Acta die Bestallungen der Professorum uf der Universitaet Jehna betreffend, Vol. VI [A 6077], BI. 261 r -26JY) und an Friedrich Wilhelm von SachsenAltenburg vom 15.8. 1664 (Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg Nr. 4585, unfoliiert). 107 Zur Geschichte Sachsen-Altenburgs unter Friedrich Wilhelm II. (1639-1669) vgl. Maria Kuhn: Wiederaufbauarbeit nach dem Dreißigjährigen Krieg in Sachsen-Altenburg. In: Mitteilungen der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes. 14. Bd. (1934), S. 273-379. Auf die Kirchen- und Universitätspolitik des Fürsten wird hier jedoch kaum Bezug genommen. 108 Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Nr. 4585. 104 105

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

keiner der Kandidaten dem an der Universität Rinteln praktizierten Synkretismus oder ähnlichen Erscheinungen des Indifferentismus in Glaubensangelegenheiten anhänge? 109 Man möge berücksichtigen, daß jeder zu einem Lehramt Berufene laut Landtagsbeschluß einen Eid darauf zu leisten hätte, kein Vertreter solcher Irrtümer zu sein. Diese Anfrage mutet insofern merkwürdig an, als aus dem Kreis der genannten Kandidaten kaum einer Anlaß zu dem geäußerten Verdacht geboten haben dürfte. Thomasius lehrte an der über jeden Zweifel erhabenen Leipziger Universität, Bose und der ebenfalls als Anwärter auf den Rhetorikerlehrstuhl genannte Georg Götze saßen in Jena selbst, Müller war Pfarrer im gleichfalls unverdächtigen Mansfeld. Unsicher konnte man höchstens im Fall Pufendorf sein, der an der reformierten Heidelberger Universität lehrte, also in einem Land, das unter der Regierung des toleranten, den Fragen einer Union zwischen Reformierten und Lutheranern aufgeschlossen gegenüberstehenden Kurfürsten Ludwig den Wächtern der reinen Lehre in Sachsen ohnehin suspekt erscheinen mußte 109,. Leider läßt sich zumindest gegenwärtig nichts Näheres über die Hintergründe jener Anfrage ermitteln. Die Universität antwortet am 29.9. 1664: Sie sei davon überzeugt, daß keiner der Nominierten ein Anhänger des Synkretismus sei und verweist auf die Tatsache, daß es sich bei den Kandidaten um Absolventen der eigenen Universität handele. Zur "Versicherung" des Fürsten und zur eigenen "Verwahrung" bitte man jedoch um die Übermittlung der erwähnten Eidesformel, die den genannten Personen zur Unterzeichnung vorgelegt werden solle. 110 Im weiteren Verlauf der Verhandlungen scheint dieses Problem keine Rolle mehr gespielt zu haben, jedenfalls hören wir in den überlieferten Dokumenten nichts davon. Im September 1664 laufen die Beratungen zwischen den einzelnen ernestinischen Höfen um die Besetzung der Professuren an. 111 In Weimar ist man sich anscheinend rasch einig: Götze soll den Lehrstuhl für Rhetorik erhalten, Müller den der Moralphilosophie. Pufendorf würde ohnehin kaum nach Jena kommen und stelle außerdem zu hohe finanzielle Forderungen: "den ob Herr Samuel Pufendorff P. P. zu Heydelbergk welcher auch sonst seiner guten qualitaeten 109 In Kassel war es im Juli 1661 zu Religionsgesprächen zwischen den Theologen der lutherischen, stark von Georg Calixt beeinflußten Universität Rinteln und den reformierten Theologen der Universität Marburg gekommen. Diese Gespräche stießen auf die heftige Kritik der Theologischen Fakultäten in den Hochburgen der lutherischen Orthodoxie (Wiuenberg, Leipzig, Jena). Vgl. Leube (s. Anm. 258), S. 305 ff. 109, Immerhin war bis 1661 J ohann Heinrich Houinger aus Zürich Prof. der Uni versität Heidelberg und engster Berater des Kurfürsten Kar! Ludwig bei dessen Unionsbestrebungen Ende der fünfziger Jahre des 17. Jh. (v gl. Gustav Adolf Benrath: die konfessionellen Unionsbestrebungen des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz. In: Zs. f. die Gesch. des Oberrheins 116/1968, S. 187-252. 110 Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Nr. 4585. 111 Brief von Herzog Ernst an Herzog Johann Ernst von Sachsen-Weimar, 8.9. 1664 (Staatsarchiv Weimar, A 6077, BI. 260') mit der Bitte um nähere Angaben über die Kandidaten. Ein ähnliches Schreiben richtete Ernst an Friedrich Wilhelm am 6. 10. 1664 (Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Nr. 4585).

1.2 Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie

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halber hiennit mittnominiret worden ist, ist doch sehr zu zweiffein ob er gewiß solches acceptiren möchte, ungesehen die kosten welche Er zu seinem umzug begehren dürfte." 112 Zu einem etwas anderen Ergebnis gelangt man in Altenburg: Götze möge den Lehrstuhl für Moral und Politik erhalten, Müller den der Poetik. 113 Johann Ernst erklärt sich alsbald mit dieser Änderung einverstanden und begründet diese Entscheidung Ernst dem Frommen gegenüber damit, daß sich Götze schon lange mit den Problemen der Moralphilosophie beschäftige. 114 Angesichts dieser Wendung der Dinge unternimmt die Universität einen neuen Versuch, dennoch ihre Kandidaten, insbesondere Pufendorf, durchzusetzen. Am 19. 11. 1664 ergeht ein gleichlautendes Schreiben an die Erhalterstaaten, in dem nochmals auf die besondere Qualifikation Pufendorfs auf dem Gebiet der Moralphilosophie und auf dessen enge Verbindungen zur Jenaer Universität verwiesen wird. Man habe unter dem Eindruck, daß die Nutriatoren diesem Vorschlag positiv gegenüberständen, in Heidelberg bereits sondieren lassen und dabei Pufendorfs "gute inclination" feststellen können, eine Berufung anzunehmen. Besonders fühle sich Pufendorf durch die in Jena vertretene reine evangelische Lehre und durch die Nähe seiner Heimat angezogen. 115 Bereits am 16. 10. 1664 hatte Weigel in dem schon erwähnten an Ludolf gerichteten Brief mit ähnlichen Argumenten operiert. Zeitgleich mit dem Schreiben der Universität an die Erhalterstaaten wendet sich Weigel nun nochmals an Ludolf. 116 Pufendorf habe sich zwar in Heidelberg auf mündlichem Wege nicht über die Annahme einer etwaigen Berufung erklären wollen; jedoch läge ihm, Weigel, einen schriftliche Erlaubnis Pufendorfs vor, "seine Gemüthes neigung und endliche Resolution", die er brieflich übennittelt habe, zu Gehör zu bringen. Ludolf möge ihm eine Audienz beim Herzog verschaffen, bei der er Pufendorfs (anscheinend positive) Entscheidung darlegen wolle. In Jena sei man unbedingt für Pufendorf: "Wir alhier wünschen 112 Johann Ernst an Adolph Wilhelm von Sachsen-Eisenach, 16.9. 1664 (Staatsarchiv Weimar, A 6077, BI. 265' - 266 V). Gleichermaßen argumentiert Johann Ernst dem Herzog von Gotha gegenüber (Schreiben vom 28.9. 1664, Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Gotha, Geheimes Archiv, Me Nr. 9). Adolph Wilhelm antwortet am 23.9. und bestätigt den Vorschlag von Johann Ernst. Daß Müller die Professur der Moral erhalte, sei schon bei einer früheren "freundlichen communication" zwischen den Fürsten der einzelnen Linien beschlossen worden (A 6077, BI. 267'). Dieser Festlegung stimmt auch Herzog Bernhard von Sachsen-Jena zu (Brief vom 8. 10. 1664, A 6077, BI. 271'-27JV). 113 Gleichlautende Schreiben von Herzog Friedrich Wilhelm an Ernst von Gotha und Johann Ernst von Weimar (15. 11. 1664 Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Gotha, Geheimes Archiv, Me Nr. 9; Staatsarchiv Weimar, A 6077, BI. 27Y- Am gleichen Tag geht ein an die Universität gerichtetes Schreiben Friedrich Wilhelms ab: Sobald gleichlautende Anweisungen aus Gotha und Weimar eintreffen würden, sollen Müller und Götze in ihre Professuren eingesetzt werden (Universitätsarchiv Jena, A 443", BI. 69'-V). 114 Brief vom 22. 11. 1664 (Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Gotha, Geheimes Archiv, Me Nr. 9). Zugleich wird Ernst darum gebeten, entsprechende Installationsbefehle nach Jena zu schicken. 115 Staats archiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Nr. 4585; Staatsarchiv Weimar, A 6077, BI. 280'-281'; Entwurf im Universitätsarchiv Jena, MI, BI. 61'-v. 116 Nr. 750 der Weigel-Briefe an Frankfurt / M. (s. Anm. 105). V

4 Dö,ing

).

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

nicht mehr, alß daß diese verledigte Profession mit diesem Subjecto ehist ersetzet, und also dieses studium alhier zu Jena so wohl alß zu Straßburg und Helmstedt in Flor gebracht werden möchte, darzu anietzo die beste Gelegenheit ereignet." 117 Beide Schreiben, das der Universität und das Weigels, haben den Gothaer Hof, der als einziger der Berufung Pufendorfs zuneigte, veranlaßt, am 29. 11. bei Friedrich Wilhelm von Sachsen-Altenburg, der die Berufungsfrage durch die Festlegung auf Götze und Müller bereits für gelöst ansah, nochmals im Sinne der Universitätsvorschläge zu werben. Zwar habe man, heißt es, ebenfalls Bedenken getragen, ob Pufendorf eine Berufung annehmen würde (zum al auch der pfälzische Kurfürst kaum mit einem Weggang seines Professors einverstanden wäre), aber es läge jetzt die "glaubwürdige nachricht" vor, daß er dem Angebot, nach Jena überzusiedeln, unbedingt folgen werde. Darum habe man nicht unterlassen wollen, "mit Ew. Liebden fernerweit darauß zu communiciren, Inmaßen, wenn selbiger zu haben were, der studirenden Jugend in dem wichtigen, doch bißhero meistlich schlecht excolirten Professione Philosophiae Moralis, ohne Zweifel guter nutz geschaffet werden würde." 118 Eine Antwort aus Altenburg erfolgt vorerst nicht. Am 12. 1. 1665 schreibt Herzog Ernst in der gleichen Angelegenheit an Johann Ernst in Weimar und empfiehlt nochmals Pufendorf. Allerdings, "wenn hierbey sich einig bedencken ereignen solte", dann möge man Müller die Moralphilosophie übertragen, da er nach den inzwischen eingegangenen Auskünften für dieses Fach besser geeignet ist als für den Lehrstuhl der Poesie. 119 Erst am 23. 1. 1665 rafft sich der Altenburger Hof zu einer Antwort auf das Schreiben des Gothaer Herzogs vom 29. 11. auf. Man bleibt bei der Ablehnung Pufendorfs, die mit den gleichen durchsichtigen Vorwänden wie im September des vorangegangenen Jahres begründet wird: Pufendorfs Berufung "sei unterschiedlicher Schwierigkeiten halber nicht practicirlich auch sonst bedencklich gewesen, zu geschweigen, daß ,benanntes subjectum' von fremden Orten herbeizubringen beschwerlich sei, und der Verzug zur Versäumung der studierenden Jugend gereichen möchte." 120 Am gleichen Tag erteilt Friedrich Wilhelm der Jenaer Universität erneut den Auftrag, Müller und Götze zu "instal117 Über die geringe Bedeutung des Jenaer Lehrstuhls für Moral und Politik im Vergleich zur Professur für Logik und Metaphysik vgl. die in Anm. 101 genannte Arbeit von M. Wundt, S. 40 f. Der vorhergehende Lehrstuhlinhaber (wenn man vom kurzen ZwischenspielOIpes absieht), Philipp Horst (1584 - 1664, seit 1631 Prof. für Moralphilosophie), ist eine ganz farblose Persönlichkeit (s. Wundt, S. 41 f.). Neue Impulse, vor allem in Richtung auf die Aneignung des Naturrechts, wurden eher über die Juristische Fakultät (Georg Adam Struve) in die Universität hineingetragen (v gl. Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958. 1. Bd. Jena 1958, S. 144 ff.). 118 Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, NT. 4585 (Text im Anhang dieser Arbeit). Ein gleichlautendes Schreiben an Johann Ernst von Sachsen-Weimar ist nicht abgeschickt worden (Entwurf im Staatsarchiv Gotha). 119 Staatsarchiv Weimar, A 6077, BI. 291'-v. Mit den erwähnten Auskünften bezieht man sich wahrscheinlich auf einen Brief Weigels an Ludolf vom 31. 12. 1664, in dem es heißt, daß sich Müller noch nie näher mit Rhetorik und Poesie beschäftigt habe. 120 Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Gotha, Geh. Archiv Me NT. 9.

1.2 Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie

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lieren".121 Die Gründe für das lange Zögern Altenburgs mit einer Reaktion auf den erneuten Vorschlag Pufendorfs deutet ein Brief Weigels an Hiob Ludolf an, der uns zugleich den wahren Hintergrund der ablehnenden Haltung Pufendorf gegenüber erkennen läßt. 122 Man habe Nachricht, so Weigel, daß jetzt auch der Altenburger Hof dazu bereit sei, einer Berufung Pufendorfs zuzustimmen. Müller, der sich immer noch um die Professur der Moralphilosophie bemühe, sei bereits abschlägig beschieden worden. Man habe ihm mitgeteilt, daß die anderen Höfe "stärcker rationes" besäßen. Es sei zu hoffen, daß Müller die ihm nun zugedachte Professur der Poesie, zu der er seitens der Universität überhaupt nicht nominiert worden sei, ebensowenig erhalten werde. Im übrigen existiere die Zusage der Nutriatoren, daß bei den Lehrstuhlbesetzungen die Vorschläge der Fakultäten Berücksichtigung finden würden. Es folgt das wiederholte Lob der Fähigkeiten Pufendorfs, der eine große Zahl der studierenden Jugend nach Jena ziehen würde, was der gesamten Universität nur zugute kommen könne. Entscheidend sind die dann folgenden Bemerkungen Weigels. An der Universität bestehte der Eindruck, daß Pufendorf bei den einzelnen Höfen angeschwärzt worden sei, um seine Berufung zu verhindern: "Und meynen vielleicht etliche, daß alle diejenigen Politici welche nicht bey dem Theatro Praetorij oder des Herrn Cellarij seiner Politic allein zu bleiben, sondern die rechte Tiefe dieses Studij durchzusuchen sich vorgesetzet, vor singular und also denen Universiteten (alß ob daselbst nur lauter Schuljungen erzogen werden müßten) nicht vor zuträglich zuhalten." Diese Vermutung Weigels erhält ihre Bestätigung in dem einzigen uns bekannten Schreiben, in dem der eigentliche Grund für die Zurückweisung Pufendorfs unmißverständlich ausgesprochen wird. Es stammt jedoch nicht aus Altenburg, sondern aus Weimar, von wo aus wahrscheinlich auch das erneute Einschwören der Altenburger auf die Zurückweisung der Vorschläge der Universität erfolgt ist 123: "Nachdem aber verlauten will, daß Pufendorff ziemlich singular und neuerlich principia und opiniones statuiren soll, welches doch allerhand ungelegenheidten und collisiones zwischen den Professoren veruhrsachen und also bey der Studierenden Jugend schlechten nutzen stiften dürfte", könne man sich nur eindeutig gegen dessen Berufung erklären. 124 Am 18. 1. 1665 weist Johann Ernst 121 Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Nr. 4585 (Entwurf), Original im Universitätsarchiv Jena, A 443 a , BI. 70r-Y. 122 Nr. 751 der Weigel-Briefe in Frankfurt / M. (s. Anm. 105). 123 Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Verhandlungen um die Neubesetzung des Lehrstuhls für Moral und Politik. Es sei hier jedoch angemerkt, daß auch der Kandidat der Universität für die Poetikprofessur auf die Ablehnung der Erhalterstaaten stößt. In dem gleich zu zitierenden Schreiben von Johann Ernst (s. Anm. 124) heißt es, J. A. Bose sei ein Kranker (valetuanarius) und wenig zu gebrauchen. Er solle sich auf seine Geschichtsprofessur konzentrieren, zumal man höre, daß er nur selten Vorlesungen halten würde. 124 Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Gotha (Brief vom 12. 12. 1664 von Johann Ernst an Ernst von Sachsen-Gotha; Geh. Archiv Me Nr. 9). Der im Staats archiv Weimar befindliche Entwurf des Schreibens weist eine interessante Abweichung von der endgültigen Textauffassung auf: "Nachdem aber gewiße nachricht, daß obbedachter Pufendorff 4*

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

außerdem noch den Vorschlag Ernsts des Frommen, Müller mit der Moralphilosophie zu betreuen, zurück. 125 Daraufhin gibt Herzog Ernst alle Bemühungen endgültig auf und schließt sich am 30. 1. 1665 den Festlegungen Altenburgs und Weimars an. 126 Der Universität bleibt nichts anderes übrig, als sich den Anordnungen ihrer Nutriatoren zu fügen, d. h. Müller und Götze in ihre Professuren einzusetzen und über den Vollzug dieser Amtshandlungen Bericht zu erstatten. 127 Wir wüßten natürlich gerne mehr über die Hintergründe, die zum Scheitern des einzigen bisher bekannt gewordenen Versuchs führten, Pufendorf wieder nach Sachsen zurückzuholen: Wer hat die "Denigration" an den fürstlichen Höfen betrieben und wie lauteten die konkreten gegen Pufendorf erhobenen Vorwürfe? Aus der (geringen) Zahl seiner bis 1664 erschienenen Publikationen hätten höchstens die "Elementarum jurisprudentiae naturalis libri 11", denen er ja teilweise seine Berufung nach Heidelberg verdankte, Anstoß erregen können, evtl. auch noch seine Dissertationen, soweit sie bis zu diesem Zeitpunkt publiziert worden waren. 128 Überhaupt nicht abschätzen läßt sich der über Studenten oder sonstige Besucher der Heidelberger Universität verbreitete Ruf Pufendorfs. Vielleicht ergibt sich jedoch ein Hinweis, wenn wir einen Blick auf die Position Weigels in Jena werfen. Zwar versucht dieser in seinen Briefen an Hiob Ludolf den Eindruck zu vermitteln, daß mindestens die Philosophische Fakultät geschlossen hinter dem Bestreben stünde, Pufendorf für Jena zu gewinnen. Beachtet man allerdings, daß Pufendorf damals weithin als unbedingter Schüler Weigels galt 129, dieser sich jedoch in Jena durchaus keiner unangefochtenen Stellung erfreuen durfte,130 möchte man das von Weigel suggerierte Bild doch etwas in Frage stellen. Es ist wenigstens zu vermuten, daß die Weigel gegenüber kritisch eingestellten Mitglieder der Universität nicht daran interessiert sein konnten, dessen Einfluß durch die Berufung Pufendorfs zu befestigen. Man kann den Briefen ein eigensinniger Kopff und singulares opiniones statuiren solle ..." (A 6077, BI. 283'). Im übrigen werden die Qualitäten Müllers und Götzes laut gerühmt. 125 Staatsarchiv Weimar, A 6077, BI. 292'-295'. 126 Ernst an die Universität Jena (Universitätsarchiv Jena, A 447 [unfo1iiert]). 127 Schreiben der Universität an Friedrich Wilhelm, 9. 3. 1665 (Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Nr. 4585) und Ernst dem Frommen, 9. 3. 1665 (Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Gotha, Geh. Archiv MC Nr. 9); Entwürfe der Schreiben im Universitätsarchiv Jena. Es sei hier nur angemerkt, daß neben den offiziellen Kandidaten eine ganze Reihe weiterer Bewerber für die offenen Professuren antraten, die mit Empfehlungsschreiben aller Art die einzelnen Höfe bombardierten. 128 Leider wissen wir über die frühste Pufendorf-Rezeption noch zu wenig. Wichtigstes Zeugnis ist immer noch der Briefwechsel Boineburgs mit Conring und Böder (s. Nr. 1114). Die Arbeit von F. Palladini (Nr. 660) berücksichtigt (vom "Jus feciale" und dem "Monzambano" abgesehen) allein die Reaktionen auf die beiden Pufendorfschen Hauptwerke zur Naturrechtstheorie). 129 Für diese Auffassung ist der bekannte Brief von Leibniz an seinen Leipziger Lehrer J. Thomasius vom 2. 9. 163 ein Zeugnis: Es wird gesagt (dicitur), daß Pufendorf seine "Elementa" aus Weigels Ethica Eudida entnommen habe (Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, 2. Reihe, 1. Bd., Nr. 3). 130 Vg1. Geschichte der Universität Jena (s. Anm. 102), 1. Bd., S. 133 f.

1.2 Neubesetzung des Lehrstuhls für Moralphilosophie

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Pufendorfs an Boineburg entnehmen, in was für einem Grade der Distanz er sich schon damals dem Aristotelismus, also der herrschenden protestantischen Schulphilosophie gegenüber begriffen fühlte: Nach 2000 Jahren brächten die Philosophen nicht mehr zustande, als immer neue Interpretationen der aristotelischen Schriften auszuschwitzen. 131 Schon in Jena will sich Pufendorf nach eigener Aussage "vielmahl mit H. Weigelio" über die Ethik des Aristoteles "lustig gemachet" haben. 132 Es ist schwer anzunehmen, daß die in den sechziger Jahren in Jena vorherrschende Stahl-Schule, vertreten vor allem durch Friedemann Bechmann und Johannes Zeisold, von der Anwerbung eines Mannes wie Pufendorf sonderlich erbaut sein konnte. 133 Außerdem mögen noch kontroverstheologische Fragen (Verdacht synkretistischer Neigungen) eine Rolle gespielt haben; hier sind wir allerdings noch stärker auf Vermutungen angewiesen. Der vergebliche Versuch, Pufendorf für Jena zu gewinnen, ist nicht der letzte Kontakt gewesen, den der "Magister noster" aus Kursachsen mit der Saalana schließen sollte. Jena ist interessanterweise in den siebziger Jahren des 17. Jh. eines der ersten Zentren sowohl des Widerstandes gegen Pufendorfs Ideen als auch der innerhalb einer Universität betriebenen Propagierung seiner Lehren gewesen. Beide Entwicklungen können hier nur ganz knapp angedeutet werden, zumal es zu deren eingehender Darstellung noch aufwendiger Materialerschließungen (vor allem von Archivalien) bedarf. Jena ist der Erscheinungsort der frühsten bekannten Publikation gegen Pufendorfs "Monzambano" und von den insgesamt 20 Veröffentlichungen, die sich bis zum Jahre 1700 ausdrücklich mit diesem Buch auseinandersetzten, sind immerhin sechs von Jenaer Gelehrten verfaßt worden. 134 Weit umfassender und leidenschaftlicher ist jedoch das Ringen um Pufendorfs Naturrechtslehren geführt worden. Jena war der Wohnort einer ihrer entschiedensten Gegner: Valentin Veltheim (s. Anm. 133). ,Es ist sicher falsch, wollte man Veltheim allein aus seinem Gegensatz zu Pufendorf und nur als Verteidiger hoffnungslos überholter geistiger Positionen verstehen. Man ließe sich in seinem Urteil von der Auffassung der siegreichen Partei bestimmen. I35 Dabei ist gerade der Streit mit Veltheim l31 "Miseranda sine conditione prae Graeco isto sumus, si post bis Mille annos nulli philosopho uHus rationis usus superesse debet, quam ut in eiusdem scriptis interpretandis desudet." (Brief vom 7.2. 1663, Staatsarchiv Würzburg, Schönborn-Archiv, 2946, BI. 124r ). 132 Pufendorf an Thomasius, 19.6. 1688 (Varrentrapp, S. 31). I33 VgI. die Äußerungen des der Stahl-Schule verpflichteten Valentin Veltheim, der 1672 die Professur für Moralphilosophie in Jena übernahm, über Pufendorf: "Videte ergo quomodo profanus ille Pufendorfius non quantum solum, sed omnia Dei praecepta laedat, qui de doctrinis tantorum excellentissimorum Heroum (gemeint sind Thomas v. Aquin und die neueren spanischen Scholastiker. D, D.) dubitare non solum, sed et plane easdem, modo inter Christianos Scholasticos hactenus inaudito, refutare sibi praesumit." (Veltheim: De laudibus scholasticorum, zitiert nach Dahlmann, a. a. 0, S. 723). 134 So nach den Angaben von F. Palladini (Nr. 660, S. 111 ff.). 135 Das Fehlen einer eigenständigen Abhandlung über Veltheim beklagt Hans-Peter Schneider, der seinerseits einen knappen Abriß der Anschauungen Veltheims gibt (Justitia

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1. Probleme der Biographie Pufendorfs

besonders dafür geeignet, einen Einblick in die Problematik der Auseinandersetzungen zwischen Pufendorf und seinen lutherischen Zeitgenossen zu gewähren. Dies ist dem Umstand zu verdanken, daß uns in diesem Falle nicht nur die (publizierten) Äußerungen der bei den Kontrahenten vorliegen, sondern daß wir hier auf den "ersten Pufendorfianer" (so Heumann, s. S. 19) stoßen, auf Gottfried Klinger. Klinger hat nicht nur einige pseudonyme Schriften zur Verteidigung Pufendorfs verfaßt (darunter auch eine Abhandlung zugunsten des "Monzambano"), sondern er ist infolge dieses Wirkens mit der Jenaer Universitätsgerichtsbarkeit in einen sehr fühlbaren Konflikt geraten. Die sehr umfangreichen., bisher völlig unbeachtet gebliebenen Akten über das gegen Klinger gerichtete Verfahren 136 würden in der Auswertung mehr ergeben als die Darstellung einer Zensurmaßnahme im 17. Jh. Besonders beachtenswert ist, daß Klinger in der Mitte der siebziger Jahre als Privatdozent in Jena Lehrveranstaltungen zu Pufendorfs "Monzambano" und zu "De officio hominis" durchführte, sicher eines der frühsten Zeugnisse über die Verbreitung von Pufendorfs Auffassungen an einer deutschen Hochschule. 137 Um so stärker schmerzt auch hier der Verlust des Briefwechsels Weigels mit Pufendorf, zumal Klinger ein Tischgast im Hause Weigels gewesen war. 138

universalis. Quellenstudien zur Geschichte des "Christlichen Naturrechts" bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt/M. 1967, S. 264-270). 136 Es handelt sich u. a. um die Protokolle der Befragungen Klingers, dessen schriftliche Stellungnahmen und Eingaben, die gegen ihn gerichteten Aussagen, die Untersuchungen über Klingers Verbindungen zu anderen Anhängern Pufendorfs. Die Akten befinden sich im Staatsarchiv Weimar und in der Universitätsbibliothek Jena. Die an einen der sächsischen Nutriatoren gerichtete Rechtfertigungsschrift Klingers hat Heumann in den "Acta philosophorum" veröffentlicht (17. Stück [1726], S. 782 ff.) Sehr wichtig sind wahrscheinlich auch 42 Briefe Klingers an Christian Weise (aus den Jahren 1673 -1677), die sich heute in der Stadtbibliothek (Christian-Weise-Bibliothek) Zittau befinden (Ms A 70). Elf dieser Schreiben sind im 18. Jh. von Chr. G. Hoffmann veröffentlicht worden (Christiani Weisii Epistolae selectiores, Bautzen 1716, S. 367 -394). 137 Darüber berichtet Klinger auch an Weise: Veltheim habe erfahren, daß er vor einem ausgewählten Kreis Pufendorfs "De officio" erkläre und habe deshalb bewirkt, daß der Rektor solche Übungen verboten hat (Brief vom 21. 10. 1677, S. 390 f. in der Edition von Chr. G. Hoffmann, s. Anm. 136). 138 So Klinger in seinem in Anm. 137 erwähnten Brief an Weise.

2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller 2.1 Forschungsgeschichte Der Pfarrersohn Samuel Pufendorf hat, so die weit verbreitete Auffassung, zeit seines Lebens mit der Theologie nicht viel im Sinn gehabt. Im Gegenteil, Ablehnung und Kampf wider die lutherischen Orthodoxie bilden einen wesentlichen Inhalt seines Wirkens. Dieser Gegensatz lasse sich bis in die Leipziger Studienzeit Pufendorfs zurückverfolgen. Hatte Dahlmann (Nr. 88) noch berichtet, daß sich Pufendorf anfangs "dem Studio Theologico" mit Eifer und Gewinn ergeben habe, um sich erst später anderen Studien zuzuwenden, so entsteht daraus bei Treitschke der historische Roman vom jungen Feuerkopf, der nach wenigen Wochen angewidert vom Treiben der Leipziger Theologenzunft der Theologie den Rücken kehrt und sich ganz anderen Fragestellungen zuwendet. Andere Autoren (P. Meyer, Malmström, Wolf, Krieger, Denzer u. a.) übernahmen diese Erzählung in mehr oder minder freier Ausgestaltung. Nach der herkömmlichen Auffassung bleibt auch Pufendorfs späteres Verhältnis zur lutherischen Theologie gespannt. Für Treitschke ist Pufendorf ein "tapfrer Mann", der sein gesamtes Leben über einem "Abgrund pfäffischer Unwissenheit und Niedertracht" gegenübersteht. Der "tapfre Mann" ist Pufendorf in der späteren, meist von Historikern der Philosophie und der Rechtswissenschaft verfaßten Literatur weithin geblieben - ein Vorkämpfer der Aufklärung wider theologischer Bevormundung. Seine entscheidende Tat ist die konsequente Säkularisierung des Naturrechts, dessen Loslösung von allen theologischen Bindungen und die unverdrossene Verteidigung dieser Entscheidung gegen alle Angriffe einer bornierten und ränkesüchtigen Theologenschaft. Für Erik Wolf (Nr. 125) ist Pufendorf der moderne Mensch par excellance, "ein Aufklärer von Geburt, ein Feind jeder theologisch-dogmatischen auctoritas, ein unbefangen bejahender Freund neuer Lebensformen in Staat und Gesellschaft" (S. 321).139 Nach Denzers Auffassung (Nr. 416) war für Pufendorf das Studium der Theologie zu abstrakt. In seiner Jugend habe er sich davon abgewandt, und auch später konnte er keinen Zugang zu diesem Bereich finden. 139 Bei der Besprechung des "Monzambano" geht Wolf so weit, Pufendorfletztendlich einen Indifferentismus in konfessionellen Fragen zuzuschreiben. Die Religion würde ganz der Staatsräson untergeordnet (S. 333). Wolf belegt diese Behauptung mit dem Hinweis auf das fehlende Bedauern des Severinus de Monzambano über das Ausbleiben des totalen Sieges der Reformation. Die Kirchenspaltung werde nur als politisches Unglück gesehen. Man muß freilich auch einmal einen Blick auf den Charakter des "Monzambano" werfen. Der vorgebliche Verfasser ist ein italienischer Katholik, der doch wohl schwer in Klagen über den ausgebliebenen Sieg des Luthertums ausbrechen kann.

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2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller

Nur im Zusammenhang mit seiner Hinwendung zu den Problemkreisen StaatKirche, Konfessionspolitik und Toleranz hab er auch das Gebiet der Theologie tangiert. 140 Sein dabei bezogener Standpunkt sei entschieden lutherisch gewesen, insbesondere in den Verhandlungen mit den Reformierten über die Reunion der Konfessionen. Eine weitere Erläuterung erfährt diese Feststellung allerdings nicht. Nach Emanuel Hirsch habe es "ganz außerhalb" der wissenschaftlichen Absichten Pufendorfs gelegen, "auch noch die Theologie zu verbessern: Es genügt ihm, ihr das Naturrecht zu entwinden." 141 Daß sich schließlich auch die marxistische Forschung auf dieser Ebene bewegt, liegt nahe. Erwähnt sei nur Siegfried Wollgast, der Pufendorf zusammen mit Leibniz, Tschirnhaus und Chr. Wolff in eine Linie ordnet, die in einem steigenden Maße die rationalistische Zersetzung der "Dogmen der orthodox-feudalen Theologie" anstrebte. 142 Nun läßt sich nicht übersehen, daß Pufendorf insbesondere gegen Ende seines Lebens intensiv mit Problemen des Verhältnisses Kirche-Staat und der konfessionellen Auseinandersetzung beschäftigt war. Davon zeugen vor allem zwei Publikationen: "De habitu religionis christianae ad vitam civilem" (1687) und "Jus feciale" (1695). Eingehendere Analysen dieser Werke sind jedoch selten; meist begnügt man sich mit knappen Hinweisen. Dies gilt besonders für das postum veröffentlichte "Jus feciale". Im allgemeinen dominiert die Tendenz, hier die modemen Züge im Denken Pufendorfs hervorzuheben: Gewissensfreiheit, Toleranz, Unterordnung der Kirche unter den Staat. Besonders deutlich kommt diese Auffassung bei Karl Rieker zum Ausdruck (Nr. 583): Bei Pufendorf erscheine "der naturrechtliche Kirchenbegriff bereits in seiner ganzen Reinheit" (S. 245). Was Rieker unter dem naturrechtlichen Kirchenbegriff versteht, läßt sich stichworthaft folgendermaßen zusammenfassen: Die Kirche verliert ihren transzendenten Charakter und wird zu einem Verein; verschiedene Vereine können nebeneinander bestehen, so auch die Kirchen; die religiöse Wahrheit ist nicht in einer Kirche allein zu finden, sondern (in unterschiedlichem Grade und unterschiedlicher Ausprägung) in allen Kirchen; das Entscheidende sind nicht die Differenzen zwischen den Kirchen, sondern deren Gemeinsamkeiten - die Wahrheiten der natürlichen Religion. Alle diese Merkmale will nun Rieker in Pufendorfs Schriften nachweisen können, insbesondere in "De habitu ...". Pufendorfs Festhalten am Luterthum ist dann im wesentlichen nur noch Ergebnis einer gefühlsmäßigen Bindung. 143 Allgemein wird Pufendorf als politischer Denker gesehen, der Kirche 140 "Er hat sich nie ein Urteil über genuin theologische Fragen angemaßt. Auch seine ,theologischen' Schriften behandeln nur das Verhältnis von Staat und Kirche." (Denzer, Nr. 576, S. 160, Anm. 110). 141 Emanuel Hirsch (s. Nr. 396), S. 87 0. 142 Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. Berlin 1988, S. 892. 143 Für Treitschke ist Pufendorfs entschieden lutherischer Standpunkt im "Jus feciale" ein Rückfall in die "dogmatische Gebundenheit einer versinkenden Zeit" (Nr. 110, S. 396). Denzer meint, Pufendorfs Luthertum sei eine private Angelegenheit gewesen, die keinen Einfluß auf das wissenschaftliche Denken genommen habe (Nr. 416, S. 271;

2.1 Forschungsgeschichte

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und Theologie ganz unter dem Blickwinkel des staatlichen Interesses betrachtet. Friedrich Lezius, dem wir eine ausführliche Untersuchung über den Toleranzgedanken bei Pufendorfverdanken (Nr. 584), meint, daß dieser in seinem Selbstverständnis als "unfehlbarer deutscher Jurist" mit Verachtung auf die "theologische ,Canaille'" und deren Gezänk geblickt habe (S. 83). Die Kirche sei als Verein wie jeder anderer der absoluten Aufsicht des Staates unterworfen. Die Kirche selbst ist eine Schulkirche "mit passiven Zuhörerschaften und einem nicht minder passiven Lehrstande" (S. 90). Wichtig sind Lezius' Hinweise auf die verschiedenen Beschränkungen, denen Pufendorfs Toleranzidee unterworfen ist. Lezius ist auch einer der wenigen, die dem "Jus feciale" eine nähere Beachtung schenken und das Buch nicht mit der Charakterisierung als "irenische Schrift" rasch abtun. Jedoch beschränkt Lezius seine Ausführungen auf einen sich eng am Text anlehnenden Aufriß des Buchinhaltes. Jede Einbettung der Unionsvorstellungen Pufendorfs in die eigene theologische Entwicklung und die der zeitgenössischen Umwelt fehlt. Auch hier erscheint Pufendorf zuerst als der kühle Politiker, der aus taktischen Gründen den Zusammenschluß der protestantischen Konfessionen anstrebt. Am Ende des damit eingeschlagenen Weges steht der Indifferentismus der Aufklärung und die "territorialistische Friedenspolitik des dogmenfreien Juristentums" (S. 114), wenn auch Pufendorf selbst noch, wie Lezius betont, am Dogmensystem der lutherischen Kirche festhält. Wir wollen hier nicht das gesamte einschlägige Schrifttum, soweit es in nennenswertem Umfange auf das Thema dieses Kapitels eingeht, verfolgen. Entscheidend ist, daß Pufendorfs Beschäftigung mit dem Problem bereich Kirche und Theologie mit wenigen Ausnahmen (s. u.) immer als Randthema erscheint, gleichsam als eine Abteilung im System des politischen Denkers Pufendorf. Dabei kann sich die Einschätzung der Position Pufendorfs von der modernistischen Charakterisierung Riekers bis zu einer Bewertung hin bewegen, die auf die betonte konfessionelle Haltung Pufendorfs verweist (so z. B. Denzer, Nr. 416, S. 216 ff.). In der Summe ergibt sich jedoch letztendlich immer ein Bild Pufendorfs, das ihn als eine zwar mehr oder weniger entschieden auf dem Boden der lutherischen Konfession stehenden Persönlichkeit zeigt, jedoch ohne sonderliches Interesse an dogmatischen Streitigkeiten, soweit sie nicht den Bereich StaatKirche tangieren, als Vertreter unbedingter Toleranz, wenn dadurch nicht die Grundlagen der menschlichen Gesellschaft in Frage gestellt werden (Wahrung der natürlichen Religion), als Verfechter der unbedingten Unterordnung der Kirche unter dem Staat, während der religiöse Glaube ganz in die Zone des Privaten verwiesen wird - kurzum es ist der modeme Mensch des 19. / 20. Jh. mit "religiöser Bindung". Es fragt sich, ob es hier nicht zu einer vorschnellen Modernisierung kommt, die die zukunftsweisenden Tendenzen im Denken Pufendorfs einseitig hervorhebt und darüber die eigengewichtige positive Bedeutung, die NI. 141, S. 38). Nach F. Wieacker hat Pufendorf den Offenbarungsglauben ganz in den Bereich der Innerlichkeit verwiesen und nur für seine Person am lutherischen Glauben festgehalten (NI. 403, S. 307; ähnlich Schönfeld, NI. 387, S. 331).

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2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller

Religion und Theologie in ihrer lutherischen Ausprägung für ihn besaßen, vernachlässigt. 144 Immerhin gibt es einige Versuche, den theologischen Aspekten im Wirken Pufendorfs besser gerecht zu werden. Gegen die Auffassung, Pufendorf habe die Kirche als einen der jenseitigen Bindung entbehrenden Verein betrachtet, wandte sich schon vor Jahrzehnten Friedrich Schenke (Nr. 590). Pufendorf habe zwar in Abwehr der päpstlichen Machtansprüche und in Anknüpfung an die lutherische Kirchenlehre (sichtbare und unsichtbare Kirche) die Gemeinden, zu denen sich die Gläubigen auf regionaler Ebene zusammengeschlossen haben, als Kollegien bezeichnet, die der Kontrolle des Staates unterstehen - dies sei das entscheidende neue Element in Pufendorfs Beitrag zur Diskussion des Kirchenbegriffes - , jedoch habe er andererseits die in der Vorstellung von der unsichtbaren Kirche liegende religiöse Dimension der kirchlichen Gemeinschaftsbildung nie aus den Augen verloren. Als äußere Organisation sei so die Kirche dem Staat unterworfen; als Reich Christi, als corpus mysticum stehe sie weit jenseits aller staatlichen Gewalt. So verbinden sich nach Schenke in Pufendorfs Kirchenbegriff genuin christliche Glaubenselemente mit den Inhalten der neuen Staatsauffassung. Dieser in der lutherischen Tradition stehende Kirchengedanke ist es auch, der Pufendorf vor Illusionen hinsichtlich einer Reunion mit der katholischen Kirche, die höchste weltliche Autorität sein will, bewahrt (s. Schenkes Ausführungen in Nr. 588). Weiter geht H. Rabe, dem es nicht nur um Pufendorfs Verständnis der Ecclesiologie geht, sondern um die allgemeinen theologischen Dimensionen in seinem Denken (Nr. 595). Wichtig ist hier Rabes Hinweis auf den bisher meist übersehenen Anschluß Pufendorfs an die reformierte Föderaltheologie (Ausnahme Gass, Nr. 580). Im übrigen betont Rabe die eklektizistische Anlehnung Pufendorfs an verschiedene theologische Strömungen seiner Zeit. Neu sei dagegen der Versuch, vom Bundesgedanken her das absolute Dekret der Reformierten in Frage zu stellen. So anregend auch Rabes Versuch ist, Pufendorf in Beziehung zur zeitgenössischen Theologie zu bringen, so werden andererseits die Ergebnisse seiner Forschungen durch ihre Abhängigkeit von der Dialektischen Theologie fragwürdig (vgl. die Kritik Welzels, Nr. 393, S. 98). Im Grunde genommen bleibt Rabe bei der angedeuteten einseitigen Vereinnahmung Pufendorfs als Vorkämpfer der Modeme, nur daß dieses Wirken nun unter ein negatives Vorzeichen gestellt wird. Zwar habe Pufendorf einen "theologischen Vorbehalt" ausgesprochen, der die Geltung des profanen Naturrechts auf den postlapsarischen Menschen beschränkt, jedoch sei dieser Vorbehalt letztendlich nur von verbalem Charakter gewesen, da der Sündenfall des Menschen und die Offenbarung Gottes in Jesus 144 Eine der wenigen in dieser Hinsicht differenzierter urteilenden Stimmen stammt von Ulrich Scheuner: "Vor allem kann man aber in Pufendorf einen Vertreter lutherischen Denkens - ungeachtet seines Streites mit der Orthodoxie - erblicken, dem diese religiöse Grundlage den Abstand und das eigene Gewicht gegenüber dem nachfolgenden bürgerlichen Zeitalter der Aufklärung verleiht." (Nr. 123, S. 135).

2.1 Forschungsgeschichte

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Christus nicht wirklich ernst genommen werden. Pufendorf glaube, mit dem Naturrecht den Menschen in seinem eigentlichen Wesen erfassen zu können und so komme es am Ende doch wieder zum Triumph des "seiner selbst mächtigen natürlichen Menschen vor Gott". Pufendorf wird zum Prototyp des Liberalen des 19. Jh., wie ja dann auch Rabe meint, daß Pufendorf bereits den Kirchenbegriff von Ernst Troeltsch vorweggenommen habe. Schenke habe zwar mit Recht die einseitige Beachtung der juristischen Elemente in Pufendorfs Aussagen zur Kirche kritisiert, habe aber andererseits übersehen, daß sein Kirchenverständnis trotz aller erkennbaren theologischen Aspekte letzten Endes in seinem (von Rabe scharf attackierten) Naturrechtsdenken wurzelt. Der Christ werde zum isolierten Individuum, das sich nur deshalb mit anderen Christen in der Form einer Kirche zusammenschließe, um mit Gott einen Kontrakt eingehen zu können, der auf dem Prinzip gegenseitiger Leistungen beruht. Der interessanteste Versuch, Pufendorfs theologisches Schrifttum in eine innere Verbindung zu seinem Gesamtwerk zu bringen, ist ohne Zweifel von L. Krieger unternommen worden. Wir haben bereits gesehen (s. S. 26 ff.), daß Pufendorfs Hinwendung zum Thema Religion bei Krieger eine zentrale Bedeutung gewinnt, indem über die Religion (neben der Beschäftigung mit der Geschichte) der entscheidende Kompromiß zwischen Theorie und Realität geschlossen wird. Es geht also um weit mehr, als nur um das Verhältnis Kirche-Staat innerhalb des naturrechtlichen Systems. 145 Auch hier geht Krieger von größeren Zusammenhängen aus, von der Stellung der "secularizing intellectuals" des 17. Jh. zur Religion. Diese seien keineswegs Vertreter eines säkularisierten Denkens gewesen, die sich mit der Theologie höchstens noch aus taktischen Gründen beschäftigt hätten. Man sei vielmehr ohne die Annahme eines höchsten, göttlichen Wesens nicht ausgekommen, d. h. die natürliche Religion bildete ein unaufgebbares Glied innerhalb der jeweiligen Systeme. Von diesem Standpunkt aus sei jedoch der Weg zur positiven Religion, d. h. zum Christentum, nicht weit gewesen. Auf einer dritten Stufe schließlich habe man über eine intensive Beschäftigung mit der Bibelexegese versucht, Offenbarung und Vernunft in eine sich gegenseitig bestätigende Harmonie zu bringen: "Thus the function of faith was to furnish a natural ethic with a supernatural sanction for the purpose of providing the discursive logic of secular obligations with a final authority that was positive and beyond alllogic." (S. 216.) Pufendorfs Position ist ganz im Kontext dieser Entwicklung zu sehen, nur daß er noch einen entscheidenden Schritt weitergeht. Er bleibt nicht bei der natürlichen Religion und beim Christentum als solchem stehen, sondern greift auf die konfessionellen Dogmen (the religious logic) und die kirchlichen Institutionen zurück, die ihn umgeben, d. h. auf die lutherische Kirche. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen (etwa Hobbes und Locke), die die Religon 145 " . . . he dressed his late writings on religion in the mantle of the relation between church and state or of a special jurisprudence, such as ,covenant law [jus feciale]'." (S.202.)

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2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller

allein als letzte absichernde Autorität innerhalb ihrer Systeme betrachteten, gewinnt damit bei Pufendorf die positive Religion ein weit größeres, eigenständiges Gewicht. Nicht die Religion an sich kann die Funktion erfüllen, das Naturrecht in seiner Geltung zu garantieren, sondern nur die wahre Religion, die Pufendorf im Luthertum verkörpert sieht 146. Entscheidend ist die Verbindung zwischen der beherrschenden Rolle der göttlichen Gnade im Heilswerk und der Freiheit des Menschen, diese zu verwerfen. Im Glauben an Christus gewinnt der Mensch die Disposition, die Forderungen des natural law zu erfüllen. Damit kommt es nach Krieger auch zu der von Pufendorf gesuchten Versöhnung der "general principles of reason" mit den konkreten Verhältnissen in Staat und Gesellschaft, deren Rechtfertigung Pufendorfs letztes Ziel bildet. Im Rückgriff auf die lutherische orthodoxe Kirche seiner Zeit und ihrem Lehrsystem sieht Pufendorf schließlich und endlich die Möglichkeit, diese Zielvorstellung zu realisieren. Sie, die Kirche, ist in der Lage, die Forderung der Zeit zu erfüllen - die Harmonisierung zwischen einer Welt der miteinander konkurrierenden, einen autoritären Charakter besitzenden Institutionen, Staaten und Gesellschaften und den Forderungen eines rationalen Systems. Allein "the Lutheran Doctrine ... could harmonize the authoritarian effects with the libertarian ground of his natural-Iaw doctrine. It was to this exegesis that he finally turned and it was in the exegesis that his long quest for certainty incarnate found rest." (S. 244.) Das Verhältnis zwischen Autorität und Freiheit im Lehrsystem der lutherischen Kirche vermittelt den Schlüssel zur Lösung des gleichen Problems im Gegenüber der staatlichen Autorität, die in ihrer Aufgabe, die menschliche Gesellschaft in eine Ordnung zu zwingen, moralisch geweiht wird und der individuellen Freiheit, die im Naturgesetz begründet ist. Der Mensch muß die von den Autoritäten ausgehenden Forderungen so verinnerlichen, daß er sie in freiwilliger Bindung erfüllt - er ist frei, indem er sich dem Gesetz unterwirft (s. auch S. 86 f.). Die zu diesem Akt notwendige "imposition" kann allein die Lehre des Luthertums vermitteln. Damit schließt sich der Ring - die Theologie wird wieder zu Basis des gesamten Systems: "The religion which he had expelled from the order of nature ended by performing for it a combination of services which only a extranatural order could perform ... " (S.254). Kriegers Ausführungen bringen unbestreitbar wichtige Elemente in die Diskussion ein: Die Theologie wird in Pufendorfs Denken nicht mehr auf das Spezialproblem Kirche - Staat eingegrenzt, sondern mit einer zentralen Stellung innerhalb seines gesamten Systems bekleidet und das entschiedene Festhalten Pufendorfs am Glauben und an den Institutionen der lutherischen Kirche wird betont. Andererseits leuchtet doch die verbreitete These vom obrigkeitshörigen Charakter des Luthertums aus Kriegers Zeiten allenthalben hervor - nicht die Reform des 146 "Within the political framework of church and state that outlined his uni verse of discourse he could indicate that such a true church and doctrine existed and that it was authoritative ... Only his own Lutheranism could ground the complex and problematical relations between politics and religion which he was ostensibly demonstrating." (S. 243.)

2.1 Forschungsgeschichte

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Bestehenden wird als Aufgabe angesehen, sondern dessen Rechtfertigung. Darin liegt der Wert der lutherischen Lehren für Pufendorf, der sich letztendlich mit seinem gesamten System diesem Ziel verpflichtet weiß. Das Ganze wirkt sehr konstruiert und wird im einzelnen auch nicht hinreichend belegt. Auch hier gilt der schon erhobene Einwand, daß Krieger eine anachronistische Darstellung der Vorgänge betreibt. Nicht zuletzt zeigt dies sein Abschlußkapitel "A Recipe for Compromise" (S. 266 ff.), das aus Pufendorfs Wirken eine Anleitung für heutiges (natürlich negativ zu bewertendes) Handeln zieht. Die folgenden Ausführungen versuchen einen anderen Weg einzuschlagen, der Pufendorf selbst zu Wort kommen läßt und sein Wirken auf dem Gebiet der Theologie in eine Verbindung zu seiner Zeit zu setzen versucht. 147 Die Erkenntnis, daß Religion und Theologie in der Entwicklung der Wissenschaft und Philosophie des 17. Jh. keinesfalls nur eine marginale Rolle gespielt haben, sondern weithin die Rahmenbedingungen absteckten, gewinnt erst in letzter Zeit an Boden und eröffnet zugleich ein geradezu unabsehbares Feld der Forschung. Ich verweise hier nur auf einen erst vor wenigen Jahren erschienenen programmatischen Aufsatz von Richard H. Popkin, in dem die ahistorische Fixierung der philosophiegeschichtlichen Forschung beklagt wird, die die Denker des 17. Jh. nicht in ihrer Eigenständigkeit erkennt, sondern nur ihre Bedeutung für die spätere Entwicklung des 18. - 20. Jh. als Thema kennt. Die beherrschende Rolle der religiösen Elemente in den Systemen jener Zeit geht dabei völlig verloren. Dagegen ist zu setzen: "For some like Pascal, More, or Newton, the question for religious truth was central an overriding. If we want to understand them, and not just ourselves, we have to try to get ip.to their world, in which religion, for good or ill, played a monumental role." 147a 147 Alle bisher genannten Autoren stützten ihre Ausführungen in der Hauptsache auf die Schriften "De habitu ... " und "Jus feciale". Bo Lindberg kommt das Verdienst zu, vor einigen Jahren (1979) auf einen bisher unbeachtet gebliebenen (wenn auch in der älteren Literatur erwähnten) bislang ungedruckten Pufendorf-Text aufmerksam gemacht zu haben, der einige wichtige Ergänzungen zum Bild Pufendorfs als Theologen bietet (Nr. 303). Leider verkennt Lindberg diese Bedeutung des Gutachtens Pufendorfs über die von Haquin Spegel besorgte Ausgabe des lutherischen Katechismus, da er von der gängigen, oben angedeuteten Pufendorf-Interpretation ausgeht. In seinem Gutachten würde sich Pufendorf ganz anders geben als dies seiner ideologie geschichtlichen Einordnung entspricht. Statt des zu erwartenden Rationalismus und einer kämpferischen antiorthodoxen Haltung sei vielmehr eine unmittelbare Nähe zur schwedischen Hochorthodoxie festzustellen. Pufendof gebe sich hier als entschiedener Protagonist des lutherischen Lehrsystems gegenüber den Katholiken und Reformierten. Lindberg kann sich diese Wandlung nur damit erklären, daß Pufendorf hier persönliche Rachemotive verfolgt. (Spegel hatte 1672 das "Jus naturae et gentium" kritisiert.) Sein so betont streng lutherischer Standpunkt sei daher in einem ironischen Sinne zu verstehen. Wir werden noch sehen, daß diese Erklärung dem Chrakter jenes Textes nicht gerecht wird. 147a R. H. Popkin: The Religious Background of Seventeenth-Century Philosophy. In: Journal of the History of Philosophy. XXV (1987), S. 35-50, Zitat S. 49. Vgl. u. a. auch: Herbert Dieckmann: Religiöse und metaphysische Elemente im Denken der Aufklärung. München 1974 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 22), S. 258 -274. James E. Force: Secularisation, the Language of God and the Royal

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2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller

2.2 Pufendorf in den theologischen und konfessionellen Auseinandersetzungen der achtziger und neunziger Jahre des 17. Jh. 2.2.1 Pufendorfs Partner in der Diskussion theologischer Fragen

Der allgemein verbreiteten Ansicht, Pufendorfhabe sich während seiner Leipziger Studienzeit alsbald voller Verachtung von der Theologie abgewandt (s. S. 55), steht die nach Pufendorfs Tod geäußerte Behauptung Speners gegenüber, dieser habe sich in seiner Jugend "eine stattliche erkäntniß der gantzen Theologie" angeeignet. 148 In die von Spener angedeutete Richtung weisen auch einige andere uns überkommene Nachrichten, so Pufendorfs Mitgliedschaft in dem zu einem guten Teil mit theologischen Fragen beschäftigten Leipziger Collegium Anthologieum, 149 der die Möglichkeit einer theologischen Karriere seines Bruders erörternde Brief des Esaias Pufendorf vom 31. 3. 1658,150 die spätere häufige Erwähnung des Leipziger Theologen Johannes Hülsemann in Pufendorfs Briefen und Schriften 151 oder die Mitteilung Immanuel Webers, Pufendorf habe viele Jahre hindurch in Leipzig und Jena die Vorlesungen berühmter Theologen besucht. 152 In den langen Jahren seines Aufenthaltes als Professor bzw. Historiograph in Society at the Turn of the Seventeenth Century. In: History of European Ideas. Bd. 2 (1981), S. 221 - 235. (Der Verfasser richtet sich gegen eine simplifizierende Charakterisierung des 17. Jh. als Epoche der Säkularisation. Auch für diese Zeit gilt in Anlehnung an einen Aufsatz von Gregor Sebba: "The his tory of thought is far more complex; it is a catalog ,of transformations, survivals, changes of direction, innovations, revivals' not victories or collapses." (S. 222.) 148 s. Nr. 220, S. 223. Selbst Leibniz, der sich zu Pufendorfs theologischen Aussagen verschiedentlich recht negativ geäußert hat, stellt als Gemeinsamkeit mit Pufendorf fest: "Inter caetera id simile habuimus, quod nobis non Theologis imposita fuit, religionis quoque controversias tractandi necessitas." (Niedersächsische Landesbibliothek, BI. 67, BI. 54r ). 149 Vgl. Nr. 19 und den Beitrag über Pufendorf als Historiker im vorliegenden Band. Die Behandlung exegetischer Fragen und die Beschäftigung mit den konfessionellen Gegensätzen bildeten die Schwerpunkte innerhalb der im Kollegium gehaltenen theologischen Vorträge. Pufendorf selbst hat neun Referate (von insgesamt 50 uns überlieferten Beiträgen) aus dem Themenbereich der Theologie gehalten. Bedauerlich ist der Verlust eines von Pufendorfim Kollegium gebotenen Vortrags über den Passauer Vertrag (1552). Vgl. Pufendorfs Brief an A. Rechenberg vom 12.4. 1684 (abgedruckt in Nr. 3, S. 15). 150 s. Nr. 45, S. 105. Aus dem Brief geht eindeutig hervor, daß Pufendorf noch 1658 mit dem Gedanken umging, eine geistliche Laufbahn einzuschlagen. Samuel werde in der Bibliothek des Herrn Coyet auch "die schönsten Theologischen bücher" finden. 151 So in einem Brief an Adam Rechenberg, 17.3. 1691 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 268). In seiner Streitschrift "Commentatio super invenusto Veneris Lipsicae pullo" (1688) erwähnt Pufendorf, er habe in Leipzig aus dem Munde Hülsemanns bestimmte Mitteilungen über Luthers Disputation mit Eck erhalten. Pufendorf dürfte also Vorlesungen Hülsemanns besucht haben (s. Eris Scandica, S. 368 in der Ausgabe Frankfurt / M. 1705). Auch P. Dahlmann (s. Nr. 88) erwähnt Pufendorfs Teilnahme an Vorlesungen Hülsemanns. 152 Apologeta Posthumius (d. i. Immanuel Weber): S. de PufendorfExercitatio posthuma de consensu et dissensu inter protestanta a calumniis tenebrionis cuiusdam anonymi defensa. 0.0., o. J. (1696?), S. 11.

2.2 Theologische und konfessionelle Auseinandersetzungen

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Heidelberg und in Schweden mögen die Beziehungen zur Theologie stärker in den Rahmen der Verteidigung seiner Naturrechtskonzeption und der Beschäftigung mit der Historie eingegrenzt geblieben sein. 153 Allerdings will sich Pufendorf nach einer 1690 Justus Christoph Schomer gegenüber getroffenen Aussage bereits in den siebziger Jahren mit Plänen zur Abfassung einer Theologia moralis beschäftigt haben. 154 Der Krieg zwischen Dänemark und Schweden und sein Wechsel an den Stockholmer Hof hätten jedoch dieses Vorhaben vereitelt. Für den Beginn der achtziger Jahre beweist der Versuch, über den Bruder Esaias in Kontakt mit den französischen Theologen Daniel Huet zu gelangen. Pufendorfs Interesse an den Problemen der Reunion der Konfessionen, ein Thema, das ihn bis zu seinem Ende immer wieder beschäftign sollte. 155 Zu einer intensiven Beschäftigung mit den Themen Theologie und Kirche scheint es jedoch erst ab der Mitte der achtziger Jahe gekommen zu sein, wohl in der Hauptsache bedingt durch die sich verschärfenden konfessionellen Gegensätze (Aufhebung des Edikts von Nantes, die Regierung Jakob 11. in England u. a.), den sich im Pietismus vollziehenden religiösen Aufbruch innerhalb der lutherischen Kirche und die am Horizont als bisher unerhörte Möglichkeit heraufdämmernde Gefahr des Atheismus. Die folgenden Ausführungen sollen sich mit Pufendorfs Stellung zu diesen Phänomenen beschäftigen. Zuvor scheint es jedoch angebracht zu sein, einen Blick auf den Personenkreis zu werfen, mit dem Pufendorf in seinen letzten Lebensjahren die oben angedeuteten Themen erörtert hat. In seinem überaus wichtigen an Gottfried Klinger gerichteten Brief vom 10. 1. 1676 teilt Pufendorf mit, daß er bisher an allen ürten, in denen er gelebt habe, den dortigen Pfarrern in Freundschaft verbunden gewesen wäre (ausdrücklich werden Leipzig, Jena, Leiden und Heidelberg genannt). 156 Leider läßt sich 153 Allerdings betont Pufendorf in seiner Auseinandersetzung mit N. Beckmann, daß die Abwehr der von Grotius und Hobbes auf dem Gebiet der Religion verfolgten Intentionen eine der Ursachen für die Abfassung seiner naturrechtlichen Werke gewesen sei (s. Pufendorf: Apologia. In: Eris Scandica. Frankfurt / M. 1705, S. 48). An Publikationen, die sich ausgesprochen mit dem Themenkreis Theologie und Kirche beschäftigen, lassen sich aus diesenjahrzehnten nur drei nennen: De concordia verae politicae cum religione christiana. In: Dissertationes selectiores. Lund 1675. Brevis commentatio super ordinum religiosorum supressione ad bullam Clementis IX. In: Dissertationes Lund 1675, S. 640672. Basilii Hyperetae historische und politische Beschreibung der geistlichen Monarchie zu Rom. Hamburg 1679. 154 Brief an Schomer, 6. 10. 1690 (J. Chr. Schomer: Theologia moralis. Rostock und Leipzig 1707). 155 Brief an den Bruder Esaias, 24. 2. 1681. Das Schreiben ist mehrfach veröffentlicht worden, zuerst im 2. Band der Supplemente zu den Acta Eruditorum (1696, S. 98-101). Unbeachtet ist bisher geblieben, daß es eine zweite, auf den 17. 2. 1681 datierte Fassung des Briefes gibt, die unveröffentlicht geblieben ist (Abschriften in der UB Leiden [Burrn. Quarto 22II , BI. 194r -19Y] und in der Franz. Nationalbibliothek [Ms nouv. acq. fr. 6202, BI. 31' - 34r , enthält zwei Abschriften]). Beide Fassungen verfolgen die gleiche Intention, weichen aber im einzelnen erheblich voneinander ab. 156 UB Göttingen, Ms Hist. lit. 15, BI. l7 r _20 v • Eine (verläßliche) Edition in: Acta philosophorum. 16. Stück. Halle 1725, S. 647-658.

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2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller

nach dem dürftigen Stand unserer Kenntnisse über die Biographie Pufendorfs kaum etwas Genaues über die hier angedeuteten Kontakte sagen. Im gesamten Briefwechsel Pufendorfs aus dieser Zeit, der uns allerdings nur in Resten erhalten ist, läßt sich mit einer Ausnahme (s. S. 69 f.) keine Verbindung mit einem Theologen nachweisen. Es sind ausschließlich Staatsmänner, Verwaltungsbeamte und Gelehrte anderer Disziplinen, die mit Pufendorf in einem Schriftverkehr stehen. Eine Sonderstellung nimmt allein sein Briefwechsel mit Adam Rechenberg ein, der neben Erhard Weige1 und Marcus Detlev Friese überhaupt den längsten (über Jahrzehnte andauernden) und intensivsten Briefverkehr mit Pufendorf unterhalten haben dürfte. Zwar ist Rechenberg erst 1699 zum Professor der Theologie in Leipzig berufen worden, doch zahlreiche schon zuvor erschiene Publikationen zu theologischen Themen und seine engen Verbindungen zu Pietistenkreisen, die er als Schwiegersohn Speners unterhielt, weisen ihn schon lange vor seinem Aufstieg in die oberste Fakultät als theologisch interessanten Gesprächspartner aus. Erhalten haben sich jedoch allein, und auch diese nur lükkenhaft, Pufendorfs Briefe aus den Jahren 1684 -1694. 157 Es ist jedoch sicher, daß eine briefliche Verbindung wenigstens seit Beginn der siebziger Jahre bestand. 158 Von den uns überlieferten 25 Briefen sind bisher lediglich 5 veröffentlicht worden und auch dies nur in gekürzten Fassungen. 159 Für die Beurteilung der theologischen Positionen Pufendorfs stellen sie jedoch neben den publizierten Werken die aussagekräftigste Quelle dar. Die folgende Darstellung kann sich erstmals auf den gesamten Umfang der an Rechenberg gerichteten erhaltenen Briefe stützen. Bedauerlicherweise hat sich die bisherige Forschung mit der Person Adam Rechenbergs, der eine sehr interessante Vermittlerrolle zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung eingenommen hat, kaum beschäftigt. 160 In dem uns 157 24 Briefe befinden sich im Original im Rechenberg-Nachlaß in der UB Leipzig (Mss 0335 und 0336); ein Brief (Abschrift) besitzt die Außenstelle Altenburg des Staatsarehivs Weimar (Seckendorf-Archiv, Nr. 1062, BI. 154r -155'). 158 Darauf deutet ein umfangreiches, bisher nicht beachtetes Archivmaterial in der UB Jena und im Staatsarchiv Weimar (s. Anm. 136). Es geht hier um eine seitens der Jenaer Universität gegen den schon erwähnten Gottfried Klinger angestrengte Untersuchung wegen der Veröffentlichung einer Verteidigung Pufendorfs gegen den Jenaer Professor Veltheim. Den Akten ist zu entnehmen, daß die Kontakte zwischen Klinger und Pufendorf z. T. über Rechenberg in Leipzig liefen. Die auszusgsweise Publikation dieser in verschiedener Hinsicht sehr interessanten Materialien wird von mir vorbereitet. In seinem Lessus (Nr. 212) teilt Rechenberg mit, daß er Pufendorf seit zwanzig Jahren (quatuor lustra) kennt. 159 Varrentrapp (Nr. 1). Varrentrapp kennt nur die Briefe im Ms 0335 der UB Leipzig. Über die Schwächen seiner Edition vgl. die Ausführungen im Forschungsbericht, S. 10 f. 160 Die Daten zum Leben und Werk Rechenbergs finden sich am vollständigsten bei Michael Ranfft: Leben und Schrifften derer Chursächsischen Gottesgelehrten ... Zweyter Theil, S. 949 -998. Eine sehr gründliche Zusammenstellung der Daten der akademischen Laufbahn Rechenbergs und seiner überaus zahlreichen Veröffentlichungen findet sich in den handschriftlichen Kollektaneen Vetters zur Leipziger Universitätsgeschichte (Universitätsarchiv Leipzig, Vetter, Bd.4, S. 124-130). Vetter gibt auch einen Überblick

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interessierenden Zusammenhang kann es allein um Rechenbergs Stellung innerhalb der damaligen Gelehrtenrepublik und um seine Beziehung zum Pietismus gehen. Rechenberg ist, wie bereits angedeutet wurde, bereits deshalb eine bemerkenswerte Persönlichkeit, weil es ihm gelungen ist, auch in einer Zeit erbittertster Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen weltanschaulichen Gruppierungen des ausgehenden 17. Ih. mit fast allen Parteien in Verbindung zu bleiben. Nicht wenige der damals viel Staub aufwirbelnden Streitigkeiten (z. B. zwischen ehr. Thomasius und Tschimhaus) konnten daher durch seine Vermittlungstätigkeit beigelegt werden. Auch der in die vielfältigsten literarischen Kämpfe verwikkelte Pufendorf nahm mehrfach die Vermittlerdienste Rechenbergs dankbar in Anspruch, so bei seinen Differenzen mit Veit Ludwig von Seckendorf, insbesondere aber bei seinen scharfen Auseinandersetzungen mit seinem früheren Freund Valentin Alberti. 161 Diese ausgleichende friedens stiftende Funktion hat Rechenüber die im 18. Jh. erschienene Literatur, in der Rechenberg Erwähnung findet. Rechenbergs Beteiligung an den Auseinandersetzungen um den Pietismus in Leipzig berührt verschiedentlich Hans Leube in seiner grundlegenden Arbeit: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Diss. Leipzig 1921 (Masch. Veröffentlicht in: H. Leube, Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Bielefeld 1975, S. 153 - 267). Die Bedeutung Rechenbergs für die Geschichte der Historiographie behandelt Emil Clemens Scherer: Geschichte und Kirchengeschichte an den deutschen Universitäten. Freiburg / Br. 1927 (s. Register). Rechenbergs zwischen Tradition und Neuanfang angesiedelte Stellung innerhalb der Leipziger Universität erörtert Notker Hammerstein, der auch Rechenbergs Stellung zum Pietismus berührt: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und 18. Jh. Göttingen 1972, S. 272 bis 274. Über Rechenbergs Arbeiten zur Geschichte vgl. jetzt: Uwe Neddermeyer: Das Mittelalter in der deutschen Historiographie vom 15. bis zum 18. Jh. Geschichtsgliederung und Epochenverständnis in der frühen Neuzeit. Köln, Wien 1988 (Kölner historische Abhandlungen), S. 161- 164 (s. auch Register). Eine umfassende Beschäftigung mit Rechenberg hätte mit einer geradezu erdrückenden Menge von überliefertem Material zu ringen. Nebem dem schriftstellerischen Werk handelt es sich vor allem um den zu großen Teilen erhaltenen Briefnachlaß. Allein in der UB Leipzig befinden sich ca. 1 700 Briefe, darunter über 1 100 Schreiben der Korrespondenz mit Spener (einschließlich der Antworten Rechenbergs). Soweit dieser Briefwechsel bisher Berücksichtigung gefunden hat (insbesondere bei Leube und in Grünbergs SpenerBiographie), sind mit Ausnahmen nur die Briefe Speners herangezogen worden. (s. zum Leipziger Rechenberg-Nachlaß: Detlef Döring: Unbekannte Quellen zur Geschichte der Leipziger Universität aus dem Bestand der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Leipzig. In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 15/I [1988], S.244-262, hier S. 252 ff.). Sehr viele deutsche und außerdeutsche Bibliotheken und Archive verfügen über z. T. erhebliche Bestände an Rechenberg-Briefen. Stellvertretend genannt seien: Staats archiv Altenburg, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Forschungsbibliothek Gotha, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Königliche Bibliothek Stockholm, Christian-Weise-Bibliothek Zittau. Von Bedeutung wäre auch eine Analyse der umfangreichen (9 141 Bände mit ca. 12000 Titeln) von Rechenberg hinterlassenen Bibliothek (gedruckter Katalog von 1722). Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Sekundärliteratur und auf Rechenbergs Briefe, soweit sie von mir bisher ausgewertet worden sind. Eine umfassende Beschäftigung mit Rechenberg bleibt ein dringendes Desiderat der Forschung. 161 Der Friedenschluß zwischen Pufendorf und Alberti ist von der bisherigen Literatur nicht zur Kenntnis genommen worden. Ernst-Dietrich Osterhom (Die Naturrechtslehre Valentin Albertis. Freiburg / Br. 1962, S. 20 ff.) deutet die Möglichkeit eines friedlichen 5 Döring

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berg auch im Streit um den Pietismus auszuüben versucht, freilich mit nur geringem Erfolg. Er steht dem Pietismus durchaus wohlwollend und aufgeschlossen gegenüber, will sich aber nicht so ohne weiteres als ihm zugehörig betrachten: "Mich halten sie (gemeint sind die Orhodoxen. D. D.) wohl nicht für einen so garanten Pietisten, aber doch für einen favoriten derselben, welches wahr ist, so lange man die ihnen imputierte Heterodoxien nicht beweiset. Ich liebe die rechten frommen mit Demut und haße die gottlosen .... Wenn nomen Pietistae ein nomen studij bedeut, will ich mich so nennen laßen, wenn es aber ein nomen sectae seyn, und einen enthusiasten bedeuten soll, so bin kein freundt solcher leuten." 162 Rechenbergs irenische Ausrichtung läßt ihn über die von der Orthodoxie vorgetragene antipietistische Kampagne kritisch urteilen. Der berühmtberüchtigte Friedrich Mayer ist in seinem Urteil "ein böser Mann"; 163 die Gegner des Pietismus verdammen diesen ungeprüft aus reiner Parteileidenschaft; 164 obwohl durch die in Leipzig gegen die Pietisten angestrengten Untersuchungen keine Beweise der Heterodoxie ans Licht getreten wären, würde, nur um die einmal erhobenen Beschuldigungen zu begründen, "allerlei gewäsch" nach Dresden berichtet werden; 165 der "neue Theologus bey uns" (gemeint ist evtl. Andreas Tilemann Rivinus) lehre wahrlich nicht "ex amore verae pietatis", sondern suche jede Gelegenheit, die "pietatis amantes" zu bedrängen. 166 Nach Möglichkeit versucht Rechenberg, Vertreter des Pietismus zu unterstützen oder vor Angriffen zu bewahren. Deutlich wird dies besonders bei den Leipziger Ereignissen des Jahres 1690, als Rechenberg als Rektor der Universität (Wintersemester 1689/ 90) das Ziel verfolgte, die von der Dresdner Regierung angeordneten UntersuAusgleiches an, bezweifeit aber dessen Zustandekommen. Ein Brief Rechenbergs an Seckendorf gibt uns die wünschenswerte Auskunft: "Sonst werden Sie aus den Inschluß sehen, daß die reconciliation zwischen Herrn von Pufendorf und H. D. Alberti durch meiner vermitlung nun so gut alß gestiftet sey, denn dieser hat sich vorgestern auch gar versöhnlich erklärt, deßwegen heute seine Erklärung nach Berlin überschrieben, und damit soll dieses ärgerliche gezä'ncke ein Ende haben," (Brief vom 21. 3, 1689, Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Seckendorf-Archiv, Nr. 1070, BI. 365'). 162 Brief Rechenbergs an Christian Franz Paullini, 5. 10. 1692 (UB Jena, Ms Bud, f. 348, BI. 279r - 279 In einer Streitschrift gegen Samuel Schelwig verwahrt sich Rechenberg dagegen, von Schelwig als Pietist bezeichnet zu werden, da dieser darunter einen "grausamen Sectirer" versteht. "Ich habe mich niemahls einer neuen Pietät gerühmt, halte aber dafür, er, ich und alle Christen haben nöthig, täglich mehr Früchte neuer (ich rede von wahrer und ungeheuchelter Pietät) sehen zu lassen ... " (Adam Rechenbergs Behauptung seiner gerechten Protestation wider Herrn D. Samuel Schelwigs ungerechte Inculpation, o. O. 1697). 163 Brief Rechenbergs an Andreas AchilI, 6.5. 1691 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Nachlaß A. Francke, 17, 2). 164 "man hat eine decision gemacht, ehe der status controversiae formiret und die partheyn gehöret worden, nun wird es wohl dabey bleiben. Die Pietisten müßen alle unrecht haben." (Brief Rechenbergs an Seckendorf, 28.4. 1692, Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Seckendorf-Archiv, Nr. 1070, BI. 380r ). 165 Rechenberg an Seckendorf, 26.7. 1690 (s. Anm. 164, BI. 374r ). 166 Rechenberg an Joh. Christoph Bielefeld, 23. 10. 1690 (Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Uffenbach-Wolfsche-Briefsammlung, 40 , 26, BI. 32r • V ).

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chungen und Maßnahmen gegen die Pietisten hinauszuzögern. 167 Einzelnen Pietisten versucht er aus den für sie entstandenen Schwierigkeiten zu helfen. Ein Beispiel bildet das freilich vergebliche Unternehmen, seine Verbindungen zu Seckendorf zu nutzen und Kaspar Schade eine geistliche Stelle in Altenburg zu vermitteln. 168 Auch für den später während seines Wirkens in Halberstadt mit den enthusiastischen Strömungen innerhalb des Pietismus sympathisierenden Andreas Achill hat Rechenberg 1690 ein schriftliches positives Zeugnis ausgestellt. 169 Andererseits, dies beweist schon der oben zitierte Brief an Paullini, suchte Rechenberg peinlich danach, den Eindruck zu vermeiden, er begünstigte in dogmatischer Hinsicht irgendwelche heterodoxen Auffassungen. Die bald aufbrechenden radikalpietistischen Wirren sind auf seine erklärte Kritik gestoßen: Es sei nicht angängig, den Chiliasmus Petersens und die Offenbarungen der Madmoiselle von Assenburg dem Pietismus anzulasten 170; besondere göttliche Offenbarungen seien nach der Zeit der Apostel unmöglich und auch unnötig geworden; 171 Achill wird beglückwünscht, daß die "raserey" in Halberstadt ein Ende gefunden habe und die "unruhigen Leute ihre Schwermerey erkennen". 172 Bezeichnenderweise ist in seinem Briefnachlaß, von einem Schreiben des in Leipzig inhaftierten Andreas Stübel abgesehen, kein Beleg eines Radikalpietisten zu finden, obwohl Rechenberg mit einer Unzahl von Pietisten und Sympathisanten des Pietismus in Verbindung stand. In orthodoxen Kreisen galt Rechenberg freilich als ausgesprochener Pietist. Leibniz äußert 1699 Bedenken, Rechenberg zu einer Theologenkonferenz zum Problem der Reunion der protestantischen Kirchen hinzuzuziehen. Seine Teilnahme würde "bey den Rigoristen und Antipietisten vor ein Spiel von Herm Spenern" gelten. 173 Noch 1709 scheiterte an diesem Ruf Rechenbergs seine geplante Berufung als Superintendent nach Dresden. 174 Durch Rechenberg scheint Pufendorf auch mit dessen Schwiegervater Philipp Jakob Spener bekannt geworden zu sein. Auf Pufendorfs theologische Positionen hat diese Verbindung, wie wir noch sehen werden, einen erheblichen Einfluß 167 Vgl. vor allem die Arbeit von Leube (s. Anm. 160). Rechenbergs Haltung brachte ihn in Leipzig und Dresden in nicht geringe Schwierigkeiten. Darauf nimmt Pufendorf in einem an Rechenberg gerichteten Brief Bezug: Rechenberg werde wohl "mehr hitze im leibe haben" als der ebenfalls angegriffene Ioachim Feiler und sich vor "der unsinnigen inquisition" nicht fürchten (I. 10. 1690, VB Leipzig, Ms 0335, BI. 254r ). 168 Briefe an Seckendorf, 12. 7.,16.7.,26.7.,2.8. 1690 (s. Anm. 164, BI. 367 r -375 169 Zeugnis vom 13. 1. 1690 (VB Halle, Archiv der Franckeschen Stiftung, D 40, S. 615/16). 170 Brief an Seckendorf, 10.2. 1962 (s. Anm. 164, BI. 378 r ). 171 Brief an Seckendorf, 28.4. 1962 (s. Anm. 164, BI. 380r ). 172 Brief an AchilI, 6. 5. 1691 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß A. R. Francke, 17,2). 173 Leibniz an Daniel Ernst lablonski, 28. 11. 1699 (1. E. Kapp: Sammlung einiger vertrauten Briefe, welche zwischen ... G. W. Leibniz und ... D. E. lablonski ... gewechselt worden sind. Leipzig 1745, S. 82 ff., hier S. 88). 174 Vgl. Claus Petzoldt: Studien zu einer Biographie Valentin Ernst Löschers. Diss. Leipzig 1971 (Masch.), S. 27 und 42. V ).

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ausgeübt. Speners Namen nennt Pufendorf erstmals in einem an Rechenberg gerichteten Brief vom 31. 8. 1687, also noch vor seiner Übersiedlung nach Berlin. 175 Er habe Speners Schreiben erhalten, das aber "keinen effect" haben könne, "weil ich noch nicht in Berlin bin, hier aber für solche leute gantz nichts zuthun ist." 176 Diese abschlägige Antwort auf die Bitte um eine Stellenvermittlung führte bei Spener zu einer leichten Verstimmung, wie die an Rechenberg gerichtete Reaktion zeigt. 177 Zwei Jahre später ist über Pufendorfs Vermittlung Spener das anscheinend durch Rechenberg weitergeleitete Angebot unterbreitet worden, die Stelle eines Pfarrers bei der deutschen Gemeinde in Stockholm zu übernehmen. Da uns aus dieser Zeit (Sommer 1689) keine Briefe Pufendorfs an Rechenberg überliefert sind, lassen sich leider keine genauen Angaben ermitteln. Am 18.6. 1689 teilt Spener Rechenberg mit, daß er auf Pufendorfs Vorschlag bald antworten werde und bittet seinen Schwiegersohn, daß er einen Brief an Pufendorf weiterleiten möge. Diese abschlägige Antwort ist von Spener später veröffentlicht worden. 178 Ob ein im Herbst 1689 an Spener abgegangenes Schreiben Pufendorfs noch mit dieser Angelegenheit zu tun hat, läßt sich nicht sagen. 179 Über die bald darauf an Spener gerichtete Bitte, seine, Pufendorfs, Abhandlung über die Reunion der protestantischen Kirchen zu beurteilen, wird noch an anderer Stelle zu berichten sein. Die wachsende Beschäftigung mit theologischen Themen läßt in Pufendorf den Wunsch nach besseren Möglichkeiten eines entsprechenden Gedankenaustausches entstehen. In Berlin sähe es in dieser Hinsicht ungünstig aus: "Ich habe sonst großes verlangen mit einem cordato theo1ogo genaue correspondence in der nähe zu haben. Der verstorbene Probst Täuber 180 were mein Mann geweßen. Der Probst Lüdeke 181 in Cöln ist ein treflicher textualis, allein ich kan Varrentrapp (Nr. 1, S. 24). Ein Hinweis auf die hier gemeinte Angelegenheit findet sich in einem Brief Speners an Rechenberg: " ... quod in causa D. Nefii celeb. Pufendorfius responsurus sit expectabimus." (23.8. 1687, UB Leipzig, Ms 0337, BI. 68 r ). 177 VgI. Speners Brief vom 15.9. 1687 an Rechenbeg: Die ihm durch Rechenberg vermittelte Antwort könne ihn nicht erfreuen: "Celeberr. Pufendorfium viros mihi pantes acceptos durius excepisse, doleo, cum quos amo inter se etiam unanimus esse optem: verum nostra in manu non est, quid alii agant prohibere." (UB Leipzig, Ms 0337, BI. 56r ). 178 Ph. J. Spener: Theologische Bedencken und andere Brieffliche Antworten. III. TheiI. Halle 1702, S. 635 -638. Der dort abgedruckte Brief (21. 6. 1689) ist an Rechenberg gerichtet. Daß er an Pufendorf weitergegeben werden sollte, geht aus dem erwähnten Brief Speners vom 18.6. an Rechenberg hervor: "Ut ad negotium ab Exc. Pufendorfio propositum respondeam, nunc tempus haud permittit. Respondeo Dei gratia proxime non tarnen ipsi Pufendorfio, qui mihi non scripsit, sed Tibi, ita v(ivam) ut ipsam pagellam, quem ob id vemaculo idiomate conscribam, mittere possis." (UB Leipzig, Ms 0337, BI. 213 V -2W). 179 "Der brief an herrn Dr. Spener ist bestelt." (Brief Pufendorfs an Rechenberg aus dem Herbst 1689, UB Leipzig, Ms 0336, BI. 658 v • Das im Brief angegebene Datum (16.2.) ist falsch. 180 Christi an Samuel Teuber (1636-1690), Propst in Berlin. 181 Franz Julius Lütkens (1650-1712), von 1687 bis 1704 Propst an der Petrikirche in Cölln, Vertreter der gemäßigten lutherischen Orthodoxie. VgI. zu seinem Wirken in 175

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keine sunderliche vertrauligkeit ihm angewinnen, weil er mit dem Garlaebo Gesenio 182 verschwägert." 183 Um so interessierter zeigt sich Pufendort an der geplanten, jedoch langwierige Verhandlungen in Anspruch nehmenden Berufung Speners nach Berlin. "Von hertzen" wünsche er sich, "das glück zu haben unter Herrn Dr. Speners zuhörern" sein zu können. 184 Spener könne die Berufung nach Berlin nicht ablehnen, "zumahl er in Teutschland keinen frömmeren, gnädigeren und verünftigeren Herrn finden würde." 185 Daß Pufendorf mit dem im Juni 1691 nach Berlin übergesiedelten Spener engen und vertrauten Umgang pflegte, beweisen nicht nur die häufigen Erwähnungen Speners in Pufendorfs Briefen an Rechenberg, 186 sondern auch die gemeinsame, später von uns ausführlich zu behandelnde Gutachtertätigkeit und die Ausführungen Speners in seiner Leichenrede auf Pufendorf, wo es heißt, er habe mit Pufendorf "öffters vertraulich" über kirchliche Angelegenheiten gesprochen, auch habe es kein Gemeindemitglied gegeben, "daß embsiger meine predigten gehört hätte." 187 Stand Pufendorf mit Spener in einem intensiven direkten Kontakt, war er Rechenberg durch einen lebhaften Briefwechsel verbunden, so scheint sich die Beziehung zu einem dritten Theologen, dem RostockerTheologieprofessor Justus Christoph Schomer (1648-1693), auf den einmaligen Austausch von Briefen beschränkt zu haben. Am 20. 9. 1690 schickt Schomer seine soeben publizierte Schrift "Specimen theologiae moralis" (Rostock 1690) an Pufendorf und bittet ihn um sein Urteil. Pufendorfs Antwort folgt am 6. 10. und enthält einen eigenen Entwurf eines Werkes zur Moraltheologie (s. Anm. 154). Von weiteren Kontakten ist uns nichts bekannt. 188 Und doch muß diese flüchtige Verbindung zu Schomer Berlin: Walter Wendland: Studien zum kirchlichen Leben in Berlin um 1700. In: Jahrbuch f. Brandenburgische Kirchengesch. 21 (1926), S. 129-197, hier S. 149-156. 182 Friedrich Gesenius (gest. 1687), Superintendent in Gardelegen. Gesenius hatte in den siebziger Jahren Pufendorf unter dem Vorwurf, er sei ein Verfechter der Polygamie, angegriffen. 183 Pufendorf an Rechenberg, 8. 10. 1690 (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 256). 184 Pufendorf an Rechenberg, 6. 12. 1690 (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 260"). 185 So nach einem Brief Rechenbergs an Seckendorf, 12.7. 1690 (s. Anm. 164, BI. 367"). Der hier von Rechenberg erwähnte Brief Pufendorfs ist nicht erhalten. 186 Eine entsprechende Auswertung der Briefe Speners an Rechenberg steht noch aus. Von mir sind diese Briefe im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit nur punktuell eingesehen worden. 187 s. Nr. 239, S. 224. 188 Der Herausgeber der "Theologia moralis" von l707, Schomers Bruder, merkt ausdrücklich an, daß er im Nachlaß seines Bruders keine weiteren Briefe Pufendorfs gefunden habe (Praefatio, S. 21). Der Verbleib des Schomer-Nachlasses samt des Briefes Pufendorfs vom 6. 10. konnte von mir bisher nicht geklärt werden. In Rostock selbst scheint nichts mehr vorhanden zu sein (laut Mitteilung von Frau Astrid Händel von der VB Rostock vom 11. 8. 1986 und Frau Steffen vom Vniversitätsarchiv Rostock vom 29. 10. 1986). Einige nähere Angaben zur Versendung der Schomerschen Programmschrift zur Moraltheologie lassen sich einem Brief entnehmen, den Schomer an Rechenberg richtete: Dieser erhält beiliegend mehrere Exemplare der Schrift, die er an Sekkendorf, Alberti, Spener und Seligmann weiterleiten möge. Von allen Empfängern des

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2. Pufendorf als theologischer Schriftsteller

für Pufendorf von einiger Bedeutung gewesen sein, kommt er doch noch vier Jahre später mehrmals ausdrücklich darauf zu sprechen. In seinem letzten uns erhaltenen Brief an Rechenberg bedauert er die mangelhafte Behandlung der Moralphilosophie und fährt fort, daß er "für ein paar jahren einen langen brief an Dr. Schomerum nach Rostock geschrieben" habe, "der vielleicht solches hette ausführen können, wenn er länger gelebt." 189 Ausführlicher muß sich Pufendorf wenige Wochen vor seinem Tode gegenüber einer Gruppe Rostocker Theologiestudenten unter der Leitung des Professors Müller über Schomer geäußert haben. Die über dieses Gespräch angefertigten Aufzeichnungen des Studenten Karl Amd 190 bilden das wichtigste uns überlieferte Zeugnis über Pufendorfs letzte Lebenszeit. Gleichwohl sind sie von der Forschung noch nirgends berücksichtigt worden. Auch hier betont Pufendorf, daß er große Hoffnungen auf Schomers Beschäftigung mit der Theologie moralis gesetzt habe, und daß er ihm einen Brief geschrieben habe. Leider habe Schomers Tod die Fortsetzung der Korrespondenz verhindert. Nach einer Mitteilung von Schomers Bruder soll dies nicht die einzige Äußerung Pufendorfs über die Theologia moralis von Justus Christoph gewesen sein. Sein Bruder habe im Gegensatz zu Pufendorfs säkularisierter Naturrechtslehre die Bestrebung verfolgt, das Naturrecht religiös zu begründen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit habe nun Pufendorf dem Professor Müller mitgeteilt, daß er zugeben müsse, widerlegt worden zu sein: Es sei kein leeres Gerücht, daß "Pufendorfium ipsum mortuo jam Schomero occasione nominati supra colloquii b. Professori Mullero in aurem quasi dixisse; se, etsi publice hoc declarare commode non posset, convictum tarnen esse in conscientia, et principia Schomeri tanquam firmiora et magis sufficientia suis praeferre." 191 Diese 13 Jahre nach Pufendorfs Tod veröffentlichte angebliche Äußerung muß natürlich mit großer Vorsicht beurteilt werden. Vielleicht mag sie dem Ziel gedient haben, Schomers Ruhm zu mehren. Als Faktum bleibt diese Mitteilung freilich immer noch interessant genug (s. aber auch die Ausführungen S. 7R ff.) Auch Schomers Leben und Wirken hat bisher keine nähere Beachtung gefunden. Einige dürftige Angaben sind allein der älteren Literatur zu entnehmen, die sich wiederum fast ganz auf die Angaben des Rostocker Theologen J. Fecht stützen. 192 Schomers hohe Allgemeinbildung und seine Polemik gegen die SoziDruckes erwartet Schomer Meinungsäußerungen und Verbesserungsvorschläge (VB Leipzig, Ms 0336, BI. 706' - 706 V ). 189 Pufendorf an Rechenberg, o. D. (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 281'). Der Brief ist, wie aus verschiedenen hier nicht zu erörternden Gründen hervorgeht, zu Beginn des Jahres 1694 geschrieben worden. 190 Amds Notizen werden im Anhang zu diesem Band im vollen Wortlaut wiedergegeben. Dort finden sich auch biographische Angaben zu Arnd. 191 Vgl. Anm. 154, dort Praefatio S. 25 f. Die Vorrede verfolgt überhaupt das Ziel, Pufendorf von den "Neueren" zu trennen. 192 Fechts biographischer Abriß erschien erstmals als Vorrede zu Schomers "Exegesis in epistolam Pauli ad Romanos et utramque ad Corinthios", Rostock 1699. Aus der von Fecht abhängigen Literatur sei hier nur auf Zedlers Vniversallexikon verwiesen (35.

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nianer, Katholiken und Calvinisten werden sicher die Anerkennung Pufendorfs gefunden haben. Dem Pietismus gegenüber soll er eine zwar grundsätzlich sympathisierende, aber abwartende Haltung bezogen haben. 193 Es ist bemerkenswert, daß die einzigen drei uns näher greifbaren theologischen Bezugspersonen Pufendorfs eine eher gemäßigte, konservative Elemente einschließende Position innerhalb der theologischen und kirchlichen Auseinandersetzungen der Zeit vertraten, denn selbst Spener ist doch letztlich ein Gegner jedes revolutionären Vorgehens und der radikalen Brüche mit der Tradition gewesen. Noch weit sicherer läßt sich dies von dem als Gesprächspartner ja grundsätzlich akzeptierten Probst der Petrikirche J. J. Lütkens sagen, den noch 1699 Jablonski als einen "recht harten Orthodoxen" charakterisierte. 194 Gerne wüßten wir, ob Pufendorf Umgang mit der in Berlin ja zahlreicher vertretenen reformierten Geistlichkeit pflegte. 195 Eine für solche Begegnungen günstige Möglichkeit hätten die sog. Spanheim-Konferenzen in Berlin geboten, die gerade von reformierten Predigern stark frequentiert wurden. Wir besitzen jedoch keinen definitiven Beweis dafür, daß Pufendorf an diesen Zusammenkünften teilgenommen hat. Hinsichtlich der Quellenlage zu diesem Problem verweise ich auf die Ausführungen im Forschungsbericht zur Biographie Pufendorfs (s. S. 370. Da Pufendorf selbst eine wichtige Größe im Berliner geistigen Leben jener Zeit darstellte und Spanheim seit den gemeinsamen Heidelberger Jahren kannte, 196 beide auch in theologischen Angelegenheiten zusammen als Gutachter aufgetreten sind, scheint es mir doch zumindest durchaus denkbar zu sein, daß Pufendorf von den im Hause Spanheims stattfindenden Treffen Notiz genommen hat. Leider setzt die einzige ausführliche Quelle, die wir zu den Spanheim-Konferenzen besitzen, Jablonskis Band, Sp. 984 -986), das auch eine ausführliche Bibliographie der Schriften Schomers bietet. Eigenständige Bedeutung besitzt jedoch J. H. von Seelen: "Athenarum Lubecensium", Pars II. Lübeck 1720, S. 298 - 314. Übrigens berichtet Seelen genau das Gegenteil der von Schomers Bruder gemachten Mitteilung: Pufendorf habe Schomer davon überzeugt, Naturrecht und Moraltheologie zu trennen. 193 Grünberg (Spener, 3. Bd. Göttingen 1906, S. 284) rechnet Schomers "De collegiatismo tarn orthodoxo quam heterodoxo" zu den prospenerschen Schriften. Vgl. auch A. Tholuck: Vorgeschichte des Rationalismus. 1. Teil. 2. Abteilung. Halle 1854, S. 118 f. Tholuck stützt sich hier u. a. auf den schon erwähnten (s. Anm. 188) Brief Schomers an Rechenberg, der seine Sympathien für den Pietismus zu erkennen gibt ("doleo certe ita exosam reddi pietatern, ut et sectae nomen fiat ac erroris."). 194 Jablonski an Leibniz, 17. 12. 1699 (Kapp [so Anm. 173], S. 92). 195 Sein Urteil über sie lautet nicht immer günstig. In einem Brief an Rechenberg heißt es: "Ihre (gemeint sind die Reformierten. D. D.) Staats leute sind wohl gut genug, aber die priester haben ihn hinter den ohren, et habent revera aliquid Jesuitici." (Brief vom 24. 10. 1691, UB Leipzig, Ms 0335, BI. 275'). 196 Vgl. Pufendorfs Brief an Joh. Friedrich Gronovius vom 29.3. 1665, in dem Spanheim genannt wird (veröffentlicht durch Josef Heeg in der Historischen Vierteljahrsschrift, Jg. 1909, S. 538 f.). V. Loewe, der Biograph Spanheims (s. Nr. 300), hat über die Beziehungen zwischen Pufendorf und Spanheim in Berlin nichts ausmachen können. Die "stolze und eigenwillige Persönlichkeit Pufendorfs" habe für die Pflege von Freundschaften "keinen rechten Sinn gehabt" (S. 124). Man wird dies nicht so ohne weiteres unterschreiben können.

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Tagebuch, eist im Mai 1694 ein, also zu einem Zeitpunkt, an dem Pufendorf in Schweden weilte. 197 Immerhin läßt sich dem Tagebuch entnehmen, daß religiöse, vor allem aber konfessionelle Fragen bei Spanheim eine erhebliche Rolle innerhalb der Diskussionen spielten: der Briefwechsel zwischen Leibniz und Pelisson, die Abendmahlstreitigkeiten zwischen den Reformierten und den Lutheranern, die Unionsverhandlungen zwischen den protestantischen Kirchen, die Reden Richard Bentleys gegen den Atheismus u. a. Übrigens nehmen theologische Themen auch im Briefwechsel zwischen Spanheim und Leibniz einen breiten Raum ein. Interessanterweise erkundigt sich Leibniz zuerst bei Spanheim nach dem von Pufendorf hinterlassenen, zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Buch "Jus feciale".198 Hinzuweisen ist schließlich noch aufPufendorfs Briefwechsel mit zwei Nichttheologen außerhalb von Berlin. Soweit Pufendorf überhaupt briefliche Kontakte zu Katholiken unterhalten hat, scheinen sich diese ausschließlich auf Konvertiten beschränkt zu haben: Johann Christian v. Boineburg, Johann Friedrich v. Seilern, Königin Christine von Schweden. Aber auch diese Verbindungen waren auf einen ein- bzw. zweimaligen Briefaustausch begrenzt gewesen, der zudem in keinem Falle theologische Themen zum Gegenstand hatte. Die einzige Ausnahme bildete der sich über zwei Jahre (allerdings in mitunter großen Abständen) erstrekkende Gedankenaustausch mit dem 1652 zum Katholizismus übergetretenen Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels. 199 Die Wiedervereinigung der protestantischen Konfessionen mit einer von Grund auf reformierten katholischen Kirche ist über Jahrzehnte hinweg das große von Landgraf Ernst verfolgte Ziel gewesen; darum vor allem das erhebliche von Leibniz an ihm gehegte Interesse, das sich in einer höchst umfang- und aufschlußreichen Korrespondenz niedergeschlagen hat. 200 Der von Landgraf Ernst zu Pufendorf angeknüpfte Kontakt hatte zwar 197 Vgl. J. Kvacala: Die Spanheim-Conferenz in Berlin. In: Monatshefte der ComeniusGesellschaft. 9 (1900), S. 22-43. 198 Leibniz an Spanheim, 1./11. 5.1695 (Akademie-Ausgabe, 1,11, Nr. 310). 199 Die Briefe Pufendorfs an den Landgrafen sind von Varrentrapp (s. Anm. 159) veröffentlicht worden. Auch für diese Briefe gilt die im Forschungsbericht vorgetragene Kritik an Varrentrapps Edition. Im folgenden wird allein nach den Kasseler Abschriften der Korrespondenz des Landgrafen, die auch Varrentrapp als Vorlage dienten, zitiert. Über den Verbleib der Originale konnte ich trotz langwierigen Suchens bisher nichts ermitteln. Die Literatur zu Landgraf Ernst läßt sich am besten über folgende Arbeit erfassen: Heribert Raab: "Sincere et ingenue etsi cum Discretione". Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels (1623 -1693) über eine Reform von Papsttum, Römischer Kurie und Reichskirche. In: Reformatio Ecdesiae. Festgabe für Erwin Iserloh. Hrsg. von R. Bäumer. Paderbom 1980, S. 813 bis 830. Zu ergänzen ist: Manfred Finke: Toleranz und ,discrete' Frömmigkeit nach 1650. Pfalzgraf Christian August von Sulzbach und Ernst von HessenRheinfels. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Amsterdam 1984 (Chloe. Beihefte zu Daphnis, Bd.2), S. 193-212. H. Raab: Toleranz im Kur- und Erzstift Trier. In: Toleranz am Mittelrhein. Hrsg. von I. W. Frank, Mainz 1984, S. 21-44, zu Ernst S. 2932. Zu den Beziehungen von Leibniz zu Ernst s. auch Wiedeburg (Nr. 289), S. 87 f., H. Teil (Paris), Wiesbaden 1970, S. 410-414. 200 Jetzt am besten zugänglich in der Akademie-Ausgabe, I, 3 -9.

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historische Fragestellungen zum Hintergrund, griff aber auch bald auf das Gebiet der konfessionellen Auseinandersetzungen über. Wir werden noch sehen, daß Pufendorf hier den scharfen Ton eines konfessionellen Polemikers anschlägt, der zwar die Integrität der Bemühungen des Landgrafens anerkennt, sie aber im Grunde für nutzlos hält, da sie innerhalb der völlig verderbten katholischen Kirche keinen Anklang finden könnten. Der Landgraf, der eine ausgewogenere Beurteilung der Schwächen beiden Parteien anstrebte 201 und immer wieder die Versachlichung der Diskussion anmahnte, 202 vermochte daher letztendlich keinen Sinn mehr in der Fortsetzung des Gesprächs erkennen: "Je ne me sere plus de la correspondance avec Monsieur Pufendorf, car il est trop ennemy de notre party et religion." 203 Mehr der Vollständigkeit halber ist noch der Briefwechsel mit Christian Thomasius zu erwähnen, die einzige ziemlich vollständig erhaltene umfangreichere Korrespondenz Pufendorfs (was seine Schreiben angeht). 204 Theologie und Kirche bilden hier nur recht untergeordnete Themen, so daß diese an sich höchst wichtige Quelle von uns nur in einem geringen Maße genutzt werden kann.

2.2.2 Die Theologie in ihrer Beziehung zur Konfessionspolitik und zur Ethik bei Pufendorf bis Ende der achtziger Jahre Wir haben gesehen (s. Forschungsbericht S. 55 ff.), daß sich mit wenigen Ausnahmen das bisherige Interesse an Pufendorfs Beschäftigung mit der Theologie auf dessen Stellung zu den Beziehungen zwischen Staat und Kirche beschränkte. Wir bewegen uns damit weiterhin im Problemkreis der Naturrechtslehre. Im folgenden soll gezeigt werden, daß Pufendorf in zunehmendem Maße ein'genuines Interesse an theologischen Themen entwickelte, wenn auch bei der Behandlung solcher Fragen, wie z. B. das Verhältnis der Konfessionen zueinander oder die Bekämpfung des Atheismus, die Aufgabe der Stabilisierung der bestehenden staatlichen Gewalt ihre Rolle spielt. Der entscheidende Ansatz für Pufendorfs Überlegungen zur Theologie liegt in der Beschäftigung mit den religiösen Kontroversen und in der Suche nach einer Lösung dieser Gegensätze. Die Bewältigung dieser Aufgabe wird zugleich die moralische Erneuerung der christlichen Gesell201 "In summa, auff beyden seiten, wie mehrmaln erwehnet worden, ist transgrediret und excediret geworden" (Landgraf Ernst an Pufendorf, 29.4. 1690, Gesamthochschulbibliothek Kassel, Ms Hass. 238, 3c, BI. 297'-302', Zitat BI. 301'). 202 Im gleichen, eben erwähnten Brief (s. Anm. 201) rät der Landgraf, die Kampfbegriffe Papist und Ketzer endlich fallen zu lassen (BI. 298'). 203 Landgraf Ernst an Leibniz, 6.7. 1691 (Akademie-Ausgabe I, 6, NT. 97). Die Korrespondenz lebt dennoch Ende des Jahres 1691 nochmals auf. Vgl. zu Pufendorfs Einschätzung durch den Landgrafen Anm. 285. 204 Die Originale der Briefe befinden sich in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen (zuverlässige Edition durch Emil Gigas: Briefe Samuel Pufendorfs an Christian Thomasius. München 1897) und in der Forschungsbibliothek Gotha (zu kritisierende Veröffentlichung durch Varrentrapp, s. Anm. 159).

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schaft zum Ergebnis haben, das eigentliche und letzte Ziel aller Bestrebungn Pufendorfs. Alle anderen oben angedeuteten Themen, die Stellung zum Pietismus und zum Atheismus, können nur vor diesem Hintergrund, dem wir uns nunmehr zuzuwenden haben, verstanden werden. Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der Konfessionen zueinander läßt sich bei Pufendorf bis in seine Leipziger Studienzeit zurückverfolgen. Dies belegt nicht nur sein schon erwähnter Vortrag über den Passauer Vertrag (s. Anm. 149), sondern auch die bemerkenswerte hohe Zahl an Referaten zu kontrovers-theologischen Themen, die im Collegium Anthologicum, dem Pufendorf von 1656 - 1658 angehörte, gehalten wurden. 205 Faßbar werden uns Pufendorfs Positionen allerdings erst mit seinem 1667 erschienenen Monzambano-Buch. Die hier zu erkennenden Intentionen sind für Pufendorfbis zu seinem Ende bestimmend geblieben: Der Zwiespalt zwischen den beiden protestantischen Konfessionen ist in der "Halsstarrigkeit der Theologen" begründet 206 und könnte durch eine den konfessionellen Frieden anstrebende Politik allmählich abgebaut werden. Dabei ist eine gewisse Bevorzugung der Lutheraner unverkennbar zu beobachten. So trage die Beibehaltung einiger der im Katholizismus gebräuchlichen Zeremonien in der lutherischen Kirche der geringen geistigen Fassungskraft des einfachen Menschen Rechnung; die Ablehnung des ab~rgläubischen Wundergedankens führe nicht zur Leugnung der das menschliche Begreifen überschreitenden Macht Gottes. In beiden Fragen verletze der Calvinismus die gebotene Grenze, seine Nüchternheit wirke erkältend und sein rationalistisches Durchdringen der Dogmen führe zu unstatthaften Neuerungen. Einen ganz anderen Charakter trage das Verhältnis zum Katholizismus. Hier gehe es nicht um dogmatische Gegensätze, sondern um handgreifliche, um materielle Vorbehalte, denn das bestimmende Prinzip des Katholizismus sei die immerforte Steigerung des Macht und des Reichtums der Geistlichkeit. Das gesamte katholische Lehrsystem sei einzig und allein zum Zwecke der Abstützung dieses Bestrebens entwickelt worden. Alle Religionsgespräche seien aus diesem Grunde letztendlich sinnlos, da sie nur die Oberfläche der konfessionellen Gegensätz berühren. Weit umfangreicher und eingeordnet in dem entsprechenden historischen Kontext behandelt Pufendorf die Entstehung und Entwicklung der Konfessionen in seinem 1679 publizierten Buch "Basilii Hyperetae historische und politische Beschreibung der geistlichen Monarche des Stuhls zu Rom". 207 Die hier getroffe205 Da Pufendorfs Bruder Esaias dem Leipziger Collegium Gellianum angehörte, ist es vielleicht nicht unangebracht, das geistige Profil dieser Gesellschaft auch innerhalb des uns beschäftigenden Zusammenhanges zu beachten. Ein beliebtes Thema scheint dort der Synkretismus Georg Calixts gewesen zu sein. So beschäftigte man sich Ende 1651 mit der Lesung und Diskussion der Apologie Calixts gegen Jacob Weller (VB Leipzig, Ms 2618, BI. 150v . Im Collegium Anthologicum wurde Monate hindurch Bellarmins Werk "Disputationes de controversiis christianae fidei" behandelt (durch Balthasar BebeI, später Prof. der Theologie in Straßburg). 206 Severinus von Monzambano (Samuel von Pufendorf): Über die Verfassung des deutschen Reiches. Verdeutscht und eingeleitet von H. Breßlau. Berlin 1922, S. 120.

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nen Aussagen entsprechen im wesentlichen denen des Monzambano und müssen daher nicht wiederholt werden. Breitesten Raum beansprucht die in düsteren Farben gehaltene Beschreibung des mittelalterlichen Papsttums und des nachtridentinischer Katholizismus. Einer Vereinigung von Protestantismus und Katholizismus stehen materielle Interessen Cu. a. Besitz der Kirchengüter) und die behauptete Infallibilität des Papstes, die Staatsräson des Papsttums, unüberwindlich gegenüber. 208 Neu sind einige Bemerkungen zum Verhältnis der beiden großen protestantischen Konfessionen zueinander. Erstmals findet sich die später von Pufendorf immer wieder traktierte Behauptung, das Auftreten Zwinglis und Calvins habe entscheidend dazu beigetragen, den endgültigen Sieg der Reformation zu verhindern. Die zum Calvinismus führenden Bestrebungen seien sowohl in den äußeren Dingen als auch in wichtigen Punkten des Glaubens "allzu groß und jähling" gewesen,209 wodurch man auf das "gemeine Volck" nur abschreckend gewirkt habe. Neuartig sind auch Pufendorfs Überlegungen über den im "Monzambano" nur ganz allgemein angedeuteten Weg zur Annäherung der beiden protestantischen Bekenntnisse. Seine eigene, mehr als zehn Jahre zurückliegende Empfehlung, durch den allmählichen Abbau der gegenseitigen Vorurteile und durch eine Politik der allgemeinen Befriedigung das anvisierte Ziel zu erreichen, hält er jetzt kaum noch für realisierbar. Das bloße gegenseitige Tolerieren der verschiedenen Auffassungen würde am Ende auf eine religiöse Indifferenz hinauslaufen. Wenn auch zögernd, sieht er jetzt die einzige Möglichkeit eines erfolgreichen Vorgehens im Aufbau eines streng logisch konstruierten theologischen Systems, das die fundamentalen Aussagen des Christentums wiedergibt und so die Grundlagen für eine konfessionelle Versöhnung zu gewährleisten vermag: "Es sind auch einige auff die Gedancken gefallen; man solle versuchen, ob man aus den Puncten, darinnen beyde Partheyen einig sind, ein vollkommen Systema Theologiae, so von Anfang biß zum Ende ad form am justae artis, und wie eine Kette zusammen hienge, formiren könte. Stünde ein solches zu wege zu bringen, und blieben gleich einige unterschiedene Meinungen übrig, wenn diese nur gemeldte Kette nicht abrissen, sondern ausser derselben fielen; so wäre man versichert, daß man im Grund, und in den Mitteln die Seligkeit zu erlangen überein käme; und wäre der übrige Unterschied nicht mehr erheblich gnug, warum man nicht könte in eine Kirche sich vereinigen".210 Es ist dies die erste Andeutung 207 Hamburg 1679. Der Text ist in die 1682 erstmals erschienene "Einleitung zur Geschichte der vornehmsten Staaten ..." aufgenommen worden. Ich benutze hier die Ausgabe der "Einleitung" Frankfurt / M. 1705. 208 "Was demnach für gute Intention diejenigen mögen gehabt haben, die einige Vorschläge zum Vergleich zwischen denen Päbstischen und Protestanten, oder wie mans nennet, zum Syncretismo unter ihnen beyden gethan haben, so sind es doch in der That recht einfältige Gedancken, und darüber sich die Papisten nur hönisch machen. Können es aber wolleyden, daß die Protestantische Theologi sich damit bemühen, weil sie (die Papisten) darbey gewinnen, und nichts verlieren." (S. 859 f.) 209 Einleitung, S. 805. 210 Einleitung, S. 869.

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des Weges, den Pufendorf selbst Jahre später einschlagen sollte. 211 Vorerst freilich erwartet bzw. erhofft er, daß berufenere Hände jene Aufgabe in Angriff nehmen werden. Selbst noch in seinem Brief vom 6. 10. 1690 an Schomer (s. Anm. 154), also bereits zur Zeit seiner beginnenden Arbeit am "Jus feciale", heißt es, er betreibe die Theologie nur "in privatae pietatis usum" und wolle sich nicht, wie der vor Hannibal über militärische Dinge sprechende Sophist Phormion, dem Gelächter preisgeben. Ein in mehrfacher Hinsicht interessanter Beleg für Pufendorfs Bestreben, die Entwicklung einer neuen Theologie in dem von ihm angedeuteten Sinne anzuregen, bietet der schon erwähnte Brief vom 24. 2. 1681 (s. Anm. 155). Esaias hatte seinem Bruder das Werk "Demonstratio evangelica" des katholischen Theologen Daniel Huet zugeschickt und Samuel äußert sich in seiner Antwort geradezu überschwenglich über die während der Lektüre des Buches gewonnenen Eindrükke. Huet habe die Wahrheit des Christentums und die Autorität der Heiligen Schrift in überzeugender Weise gegen die Juden und die Atheisten verteidigtnicht mittels einer weit verbreiteten, staubtrockenen, dem Vorteil der Priester dienenden Art des Theologisierens, sondern durch die Errichtung eines soliden Gefüges streng logisch miteinander verknüpften Demonstrationen. Dies habe in ihm, Pufendorf, den Gedanken aufkommen lassen, daß Huet vielleicht auch dazu berufen sei, ein noch weit bedeutsameres Werk in Angriff zu nehmen - die Versöhnung der Konfessionen. Die konfessionellen Spaltungen seien nicht "a genio veritatis divinae" entstanden, sondern "a malitia human i ingenii", d. h. u. a. auch durch eine unsichere und nachlässigere Art und Weise (e lubrico ac dissoluto modo) des Theologisierens. Hinter dieser falschen Theologie stünde entweder eine hohle Philosophie (ex inani philosophia) oder das Streben der Geistlichen nach materiellen Vorteilen. Der für die gesamte Christenheit entspringende Nutzen läge auf der Hand, wenn der Versuch gelingen würde, die Konfessionen wieder einander anzunähern. Dieses Ziel könne erreicht werden, wenn die Theologie "in formam justae artis" betrieben würde, d. h. "ad modum propositionum mathematicarum" ausgestaltet werden könnte. Mit Hilfe der Heiligen Schrift und der allgemeinen Vernunftbegriffe (e communibus super sciendi modo rationibus) könnten gleichsam Axiome gewonnen werden, aus denen wiederum die Glaubensartikel in zwingender Folge abzuleiten wären. Die entscheidenden Voraussetzungen zur Lösung dieser Aufgabe bilden also die genaue Kenntnis der Bibel und ein gründliches Wissen um die Geschichte der Konfessionsspaltungen, um deren wahre Ursache zu erkennen. Es ist dies das gleiche, nun breiter ausgeführte Programm, daß Pufendorf bereits in seiner Schrift über das Papsttum aufgestellt hatte, jedoch um den Vorsatz bereichert, nun auch die katholische 211 In einem Brief (vom 18. 11. 1690) an Rechenberg deutet Pufendorf selbst an, daß die soeben zitierte Passage den Ausgangspunkt für seine Arbeit am "Jus feciale" bildete: "Ich habe ein klein werk projectiret die consensu et dissensu Protestantium nach dem vorschlag, so im Päbstlichen Stuhl stehet circa finern." (18. 11. 1690, UB Leipzig, Ms

0335, BI. 258 V ).

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Kirche in das Einigungswerk einzubeziehen. Vielmehr noch, es wird sogar der Gedanke geäußert, daß ein katholischer Theologe befähigt sein könnte, die Grundlagen der angestrebten Reunion zu erarbeiten. Denn darin gipfelt der Brief, in der Aufforderung an seinen Bruder, er möge diese, Samuels, Vorschläge an Huet weiterleiten und dessen Meinung auszuforschen suchen. 212 Schon Huet selbst hat den Eindruck gewonnen, der Brief sei eher direkt an ihn, Huet, gerichtet gewesen als an den Bruder. 213 Überhaupt scheint Huet großen Wert auf diese Zuschrift Pufendorfs gelegt zu haben. Das Schreiben ist in die Neuausgabe der "Demonstratio" aufgenommen worden 214 und Huet berichtet sowohl in seinen soeben erwähnten Memoiren (s. Anm. 213) als auch in seinen "Pensees" über diesen Vorgang. 2I5 Auch Bossuet sei das Schreiben zur Kenntnis gebracht worden. 215 • Er habe Huet aufgefordert, einen theologischen Entwurf zu entwickeln, der Pufendorfs Vorschlag entspräche. Die bald ausbrechenden konfessionellen Wirren (Aufhebung des Edikts von Nantes) hätten ihn dann jedoch von dieser Sache Abstand nehmen lassen. Pufendorf hat an keiner Stelle wieder die Möglichkeit eingeräumt, daß die katholische Kirche in die Bemühungen um einen konfessionellen Frieden einbezogen werden könnte. Ebensowenig finden sich spätere Äußerungen über Huet, der 1689 in seiner "Censura philosiohiae Cartesianae" dem Cartesianismus kritisch gegenübertrat. 216 Entscheidend wird für Pufendorf gewesen sein, daß er in Huets "Demonstratio" die Bestätigung seiner Auffassung zu finden meinte, mit Hilfe der mathematischen Methode könne die Theologie auf unbezweifelbare Grundlagen gestellt werden. Bemerkenswert bleibt immerhin, daß Pufendorf hier 212 Begründet ist diese Bitte in den guten Beziehungen Esaias', der eine Reihe von Jahren in Paris verbracht hatte, zur französischen Geisteswelt. 213 P. D. Huet: Commentarius de rebus ad eum pertinentibus. Amsterdam 1718, S. 285. 214 P. D. Huet: Demonstratio evangelica. 5. Auf!. Leipzig 1703. 215 Huetiana ou pensees diverses de M. Huet. Amsterdam 1723, S. 46 ff. Merkwürdigerweise berichtet Huet in beiden Darstellungen, Pufendorf habe ihm bedeutet, daß der Boden für die Reunion der protestantischen mit der katholischen Kirche in der Gegend, aus der er schreibe (Schweden) günstig sei. Nur die früher gefaßten Abneigungen und die Hartnäckigkeit der nordischen Gemüter würden noch eine hemmende Wirkung ausüben. Davon ist jedoch in keiner der beiden Brieffassungen die Rede. Vielleicht verwechselt Huet jedoch den Brief Pufendorfs mit einem Schreiben des französischen Botschafters in Schweden, Marquis de Feuquieres, an Bossuet, der in einem Zusammenhang zu den hier behandelten Vorgängen steht. Es heißt dort, daß in Schweden eine Schrift Huets über die konfessionellen Kontroversen sehr erwünscht sei (so nach einem Brief Bossuets an Huet, s. Anm. 215 a; Bossuet hat diesen Brief an Huet weitergegeben). 215. Dies bestätigt ein Brief Bossuets an Huet vom 16. 3. 1690 (Jacques Benigne Bossuet: Correspondence. Hrsg. von Ch. Urbein und F. Levesque, Bd. 4, S. 69 f.), in dem er sich für die Übersendung einer Neuausgabe von Huets "Demonstration evangelique" bedankt und sich in diesem Zusammenhang an Pufendorfs Schreiben erinnert. 216 Lediglich in einem Brief vom 8. 12. 1689 an Rechenberg heißt es: "Ich vernehme daß Mr. Huet ein tractat ausgegeben, Censura philosophiae Cartesianae. Habe ihn noch nicht gesehen. Er praemittiret noch einen andem: De Concordia Fidei et Rationis. Das soll wohl was gutes seyn." (UB Leipzig, Ms 0336, BI. 663 r ). Das letztgenannte Werk befand sich tatsächlich in Pufendorfs Bibliothek (s. u.).

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seine sonstige entschiedene Ablehnung des Katholizismus durchbricht und gerade in der größeren Autorität der römischen Kirche eine Garantie für den Erfolg der von ihm intendierten Theologie sieht, ja sogar in Ludwig XIV. Hoffnungen setzt. 217 Erweisen sich die Erwartungen auch bald als unbegründet, so bleibt doch das allgemeine Gedankengerüst, dem Pufendorf bis zu seinem Ende verhaftet bleiben sollte: Die Ursachen der zur Kirchenspalt\lng führenden religiösen Auseinandersetzungen liegen in der Vermischung der Theologie mit der Philosophie und im Macht- und Besitzstreben der Menschen, insbesondere der Kleriker. Das einzige wirksame Heilmittel dagegen bildet eine neue Theologie, die mit Hilfe der cartesianischen Methode auf der Grundlage der Heiligen Schrift und des gemeinen Menschenverstandes unbezweifelbare Glaubensartikel aufzustellen vermag. 218 Das Ergebnis ist eine Fundamentaltheologie, d. h. eine Kette heilsnotwendiger Wahrheiten, die geglaubt werden müssen, während alle anderen, nicht zu dieser Kette zählenden Artikel einer Einigung nicht im Wege stehen dürften. Daraus würde letztendlich eine weitgehende, wenn auch nicht völlige Befriedung Europas erfolgen. 219 An dieser Stelle muß ein neuer, weiterführender Gesichtspunkt eingeführt werden, dessen Vernachlässigung eine unakzeptable Verkürzung der Intentionen ergeben würde, die Pufendorf bei seinen Bemühungen um die Theologie bewegten. Es wird sich zeigen, daß hinter jenen Bestrebungen noch mehr stand als der Wunsch, durch den Entwurf eines vereinfachten dogmatischen Grundgerüstes zur innerprotestantischen Verständigung beizutragen. Die Theologie ad formam justae artis hat nicht nur die zum Heil notwendigen und suffizienten Glaubensartikel zu enthalten, sondern sie hat auch die praktische Wirksamkeit der christlichen Religion innerhalb des gesellschaftlichen Lebens im Auge zu behalten. Ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit sei letztendlich nur dann denkbar, wenn die christlichen Moralprinzipien ernst genommen werden. Es läßt sich natürlich die Frage stellen, ob Pufendorf damit nicht die ihm als zentralen Verdienst zugerechnete Trennung zwischen Naturrecht und Moraltheologie wieder aufhebt. In die gleiche Richtung weist der oben erwähnte Bericht vom Schomers Bruder über die angebliche Bekehrung Pufenforfs. Wir haben ebenfalls schon gesehen, daß Krieger von einer letztlichen Rückführung des Naturrechts in den Bereich der Theologie 217 Ludwig XIV. Name fällt allerdings nur in der handschriftlich überlieferten Fassung des Briefes vom 17. 2. 1681. Interessanterweise beruft sich Leibniz bei seiner Forderung, mit den Vertretern der andem Konfessionen ins Gespräch zu kommen, gerade auch auf Pufendorfs Brief über Huet (Niedersächsische Landesbibliothek, LBr. 67, BI. 54 218 Der Kernsatz lautet: "Cui incommodo remedium haut spemendum adferri posse dudum persuasus fui, si Theologia Christiana in forrnam justae artis per continuas demonstrationes digestae adometur; ut nempe praemissis necessariis definitionibus, ac si opus sit, postulatis, cum indubiis axiomatibus, capita Christianae religionis ad salutem necessaria, sufficientia et velut adaequata, ad modum propositionum mathematicarum demonstrentur." (s. Anm. ISS, S. 99.) 219 "Quin autem ejusmodi opus magnam utilitatem orbi Christiano, saltem per cultiorem Europae partem adferre queat, vix cuipiam dubium esse possit." (s. Anm. 155, V ).

S.100.)

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redet. Den Schlüssel zur Lösung dieses hier nur angedeuteten Problems bietet der bereits mehrmals herangezogene Brief Pufendorfs an Schomer, dem er ja selbst, wie die späteren Erwähnungen zeigen, eine hohe Bedeutung zugemessen zu haben scheint. Er habe, so heißt es dort, die doctrina moralis ursprünglich in drei Teile gegliedert - in die Pflicht des Menschen, des Bürgers und des Christen. Die beiden ersten Teile habe er in seinen bekannten Werken behandelt. Die geplante vernichtende Kritik an der aristotelischen Ethik und der vorgesehene Entwurf der Theologia moralis (die Pflichten des Christen) seien dagegen, bedingt durch äußere Lebensumstände, nicht zustande gekommen. Geblieben sei ihm jedoch die Disposition des Werkes über die Moraltheologie. Über das Verhältnis der drei Teile der Doctrina moralis zueinander hat sich Pufendorf mehr als einmal in seinen Schriften geäußert. 22o Grundlegend ist die Unterscheidung, daß sich das Jus naturale mit den äußeren Handlungen der Menschen beschäftigt, d. h. mit der Frage, wie das Leben der Menschen gemeinschaftlich (sociabilis) gestaltet werden kann, während sich die Moratheologie dem zuwendet, was gleichsam "intra pectus" verborgen ist, der inneren Einstellung des Menschen, seiner Herzensfrömmigkeit. In dieser Sicht können gesellschaftlich durchaus akzeptierte Handlungsweisen vor Gott als falsch und niedrig erscheinen, der korrekte Staatsbürger ist nicht unbedingt ein guter Christ. Das Kriterium des HandeIns bildet nicht die Ausgestaltung des diesseitigen Lebens, sondern dessen Bedeutung für den Erwerb des Bürgerrechts im Himmel. Quelle der Theologia moralis ist nicht die menschliche Vernunft, sondern die göttliche Offenbarung. Handelt es sich hier also um völlig getrennte Bereiche, so ist es andererseits wichtig zu erkennen, daß Pufendorf durchaus auch eine Verbindung des Jus naturale mit der Theologia moralis sieht. Es ist nicht allein die Tatsache, daß beide Bereiche in einem widerspruchsfreien Verhältnis zueinander stehen, sondern vielmehr noch - die Theologia moralis vermag die Durchsetzung des Jus naturale zu befördern: "Etsi, cum et illae ipsae virtutes Christianae animos hominum ad Socialitatem quam maxime disponant, Theologia quoque Moralis honestatem vitae civilis efficacissime promoveat." 221 Andererseits kann das Urteil gefällt werden, daß jemand, der die christliche Religion ständig auf den Lippen führt, sich aber als ungeeignetes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zeigt, im Herzen kein wirklicher Christ ist. Der entscheidende Vorwurf, den Pufendorf an die protestantische Theologie seiner Zeit richtet, geht dahin, daß sie die Moraltheologie zugunsten der Beschäftigung mit der Dogmatik vernachlässigt habe: "Die Theologi wolten sich nicht daran machen (an die Theologia moralis. D. D.), weil Sie vom Gerhardo und Chemnitio nichts vorgefunden."222 Vielmehr gäben sie "genug zu verstehen, daß es ihnen genug sey, daß sie ihren becher 220 U. a. De officio hominis et civis, Praefatio, §§ IV ff.; Specimen controversiarum circa Jus Naturale, caput IV, § 19; Spicilegium controversiarum, caput I, § 20, caput II, § 10. Die folgenden Ausführungen stützen sich vor allem auf "De officio hominis". 221 De officio hominis, Praefatio, § IX. 222 Amds Tagebuch (s. Beilage 9), S. 95.

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auswendig abgespület haben, wenn gleich inwendig ein hauffen hefen und todte fliegen inne liegen."223 Man stütze sich weiterhin auf die Tugendlehre des Aristoteies, die doch nur für die griechischen Gemeinwesen von Bedeutung gewesen sei (darum die Kopplung der Kritik an der aristotelischen Ethik mit dem Entwurf zur Moraltheologie im Brief an Schomer). Es handelt sich im Grunde genommen um die gleiche Kritik, die Pufendorf bereits an der Verbindung der Dogmatik mit der aristotelischen Schul philosophie geübt hat: Die christliche Theologie hat ihre Ethik einzig und allein aus der ihr genuinen Quelle zu schöpfen - aus der göttlichen Offenbarung. Statt dessen habe man dieses Feld den Katholiken überlassen, die hier jedoch eine ganz und gar korrumpierende Wirkung ausüben würden. Ein besonders dunkles Kapitel bilde die Tätigkeit der Jesuiten mit ihrer Lehre des Probabilismus. Dessen Bekämpfung war ein eigenes Kapitel in der geplanten Moraltheologie zugedacht gewesen. Bitter klagt Pufendorf Landgraf Ernst gegenüber, daß die Jesuiten die "so einfältig, so solide" Moral Christi in ein so "dornichtes verworrenes spinnwebigs gifftiges und ohnreines wesen" verdreht hätten, "daß kein Mensch darauß gebeßert, Jedermann verworren und zweiffelhaftig wird."224 Inhalt und Zweck der Theologia moralis sei es jedoch, die christlichen Tugenden zu erklären, vor allem aber zu zeigen "quomodo istae (die Tugenden, D. D.) socialitatem in supremum et perfectissimum gradum evehant."225 Das für alle Völker gültige Jus naturale als solches sei nicht in der Lage, dieses Ziel zu verwirklichen, eben da es nur die äußeren Handlungen beachtet. Erst die Befolgung der von Christus und den Aposteln gelehrten Tugenden bringt die entscheidende Wende zu den von Pufendorfs beschworenen "großen revolutiones" (s. Anm. 228), die die Schrift noch für die diesseitige Welt angekündigt hat. Daß Pufendorf hier chiliastischen Vorstellungen folgt, läßt sich mit Händen greifen und wird uns noch später beschäftigen. Das höchste Maß an Übeln, die uns in dieser Welt heimsuchen, stammt von den Mitmenschen, wie von diesen andererseits nächst Gott Glück und Trost im breitesten Umfange ausgehen kann. Die Vermeidung des einen und die Befolgung des anderen ist erst dem durch Christus wiedergborenen, in den christlichen Tugenden wandelnden Menschen möglich. Dann aber, heißt es in einem feierlichen, geradezu an den Propheten Jesaja erinnernden Tone, "nulla litigia, nulla bella ibi futura essent, et quae bell um consequuntur infinitae calamitates; sed pax perpetua, et rerum omnium abundantia, ac seeura fruito." 226 Eintreten könnte dieser Zustand freilich nur, wenn die Christen endlich "nominis suis sanctimoniam re ipsa studebunt exprimere."227 Daß es darauf ankommt, den christlichen Glauben im täglichen 223 Pufendorf an Rechenberg, 29. 8. 1691 (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 273 r ). 224 Pufendorf an Landgraf Ernst, 18. / 28. 1l. 1690 (Gesamthochschulbibliothek Kassel, Ms Hass. 248, 2° y, BI. 281 r ). 225 Brief an Schomer (s. Beilage 8). 226 Brief an Schomer (s. Beilage 8). 227 Brief an Schomer (s. Beilage 8). Interessanterweise deutet Pufendorf in diesem Zusammenhang auf die für ihn noch unzweifelhaft feststehende Überlegenheit der christ-

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Leben Ausdruck zu verschaffen, ist eine in jenen Jahren immer wieder in Pufendorfs Briefen auftretende Forderung, so z. B. in einem Schreiben an Rechenberg vom 2. 5. 1691: "Ich weis nicht was dieses orthodoxe fidei schaden kan, wenn man glaubet, daß noch einmahl in dieser welt beßere Zeiten seyn werden, aus beßerer observantz der lehre Christi. Ich habe hier mit einigen von uns ern Predigern hierüber discouriret und demonstriret, daß alle das ungemach, so wir in diesem leben außer der fragilitet und sterblichkeit unseres leibes, und nothwendigkeit der arbeit, empfinden müßen, daher komt, wenn wir Christi lehre und geboth nicht nachleben."228

2.2.3 Das "lusfeciale". Vorgeschichte und Entstehung Während Pufendorf Schomer noch bestärkt, in seiner Arbeit an der Theologia moralis fortzufahren, da ihm selbst die Zeit für solche Bemühungen fehle, ist er in Wirklichkeit doch schon seit Jahren im wachsenden Maße auf theologischem Gebiet schriftstellerisch tätig. 229 Bereits in das Jahr 1687 fällt das Erscheinen von "De habitu religionis Christianae ad vitam civilem". Dieses Buch, das in der Forschung bisher noch am meisten Beachtung unter Pufendorfs theologisch engagierten Schriften gefunden hat, ist nach seiner Mitteilung an Schomer als einführender Teil zur Theologia moralis zu verstehen, quasi als überleitendes Kapitel von "De officio hominis et civis" zum Versuch der Begründung einer christlichen Ethik. Das Hauptthema bleibt die Frage nach dem Charakter des Verhältnisses von Kirche und Staat, Religion und weltlicher Gewalt. Den äußeren Anstoß zur Abfassung des Buches bildete sichtlich die Offensive der katholischen Kirche ab Mitte der achtziger Jahre, deren theologisch legitimierten Machtanspruch Pufendorf in seinem Werk widerlegen will. 230 Lassen sich hier auch einige lichen Moral hin.- Die Lehren der Philosophen und heidnischen Völker, ausdrücklich werden die Chinesen genannt, besäßen im Vergleich dazu den Wert von Nichtigkeiten. Die Spitze gegen die in jener Zeit einsetzenden Hochschätzung der chinesischen Kultur, der sich bekanntlich vor allem auch Leibniz zuwandte, ist deutlich. 228 Brief an Rechenberg, 2. 5. 1691 (UB Leipzig, Ms 0335, Bl. 272V ). Bemerkenswert ist das Lob, das Pufendorf der von E. Weigel geplanten Tugendschule erteilt. Es sei zu hoffen, daß sie als Bespiel dienen werde: "Denn freylich ist die ex neglecta informatione herfließende profundissima morum corruptela eine quelle so gros ses Elendes auf der welt, davon gleichsehr die Propheceyungen altes und neues Testaments noch in dieser welt ein ende promittiren, worzu aber große revolutiones den weg bereiten müssen, welche zuveranlassen dem Höchsten Gott leicht ist." (Pufendorf an Erhard Weigel, 5. 11. 1688, Staatsarchiv Altenburg, Seckendorf-Archiv, Nr. 1070, BI. 498'. Es handelt sich um eine Abschrift des Briefes, die von mir erst 1986 ermittelt wurde. Das Original ist nicht bekannt). 229 Diese Beschäftigung wirkte sich übrigens auf die historiographischen Arbeiten Pufendorfs aus. Die unvollendet gebliebene Geschichte Friedrich III. behandelt zu einem Drittel ihres Umfangs die englische Revolution von 1688 und berücksichtigt dabei hauptsächlich die Rekatholisierungsbestrebungen Jakob II. 230 Für falsch halte ich die Auffassung, Pufendorf habe das "Jus fecia1e" geschrieben, um den Verdacht der Religionsfeindlichkeit abzuwehren und die Gunst der lutherischen 6 Döring

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für Pufendorf charakteristische Züge in der Methodik der Behandlung theologischer Probleme beobachten (Heilige Schrift und gemeiner Menschenverstand als alleinige Grundlage des Theologisierens, die Gleichberechtigung des Laien bei der Interpretation der Bibel), so steht doch die Behandlung zahlreicher zentraler Theologumena nur am Rande, d. h. sie finden lediglich insoweit Beachtung, als sie das Verhältnis des Christentums, dessen kirchlicher Organisationen und dessen offizieller Vertreter der weltlichen Macht gegenüber berühren. Ist also "De habitu" in einem nicht unbeträchtlichen Grade als Ergänzung zu seinen früheren naturrechtlichen Werken zu sehen, so begegnet uns der Theologe Pufendorf erst eigentlich in seinem anfangs der neunziger Jahre verfaßten Buch "Jus feciale", das jedoch erst ein Jahr nach seinem Tode im Druck erschienen ist. Es ist, wie wir noch sehen werden, eine der engagiertesten Arbeiten Pufendorfs, für die er sich trotz der enormen Belastung durch die Abfassung der Auftragswerke zur brandenburgischen Geschichte die Zeit buchstäblich abgerungen hat und deren Veröffentlichung er noch kurz vor seinem Tode nachdrücklich angeordnet hatte (s. die an den Leser gerichtete Vorrede). In der Pufendorf-Literatur findet das "Jus feciale" selbstverständlich Erwähnung, auch fehlt nicht der Hinweis auf den dezidiert lutherischen Standpunkt, der in diesem Werk zum Ausdruck kommt, eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Buch läßt sich jedoch nur bei den schon besprochenen Arbeiten von Rabe und Krieger nachweisen (s. Forschungsbericht), 231 die allerdings ganz im Dienste der eigenwilligen Pufendorfinterpretationen beider Autoren steht. Auch die folgenden Ausführungen können keine umfassende Analyse von Pufendorfs Alterswerk bieten, was vor allem eine breite Berücksichtigung der zeitgenössischen theologischen Diskussion erfordern würde (s. Anm. 230). Eine ausführliche Darstellung der Entstehung und der leitenden Intentionen des Buches soll uns jedoch das "Jus feciale" als aussagekräftigstes Zeugnis zu Pufendorfs Stellung in den theologischen und konfessionspolitischen Auseinandersetzungen der Zeit nahebringen. Bevor wir zur Beschäftigung mit der soeben umrissenen Aufgabe übergehen, scheint ein nochmaliger Blick auf die verstärkte Hinwendung Pufendorfs zum Problembereich der Theologie innerhalb der zweiten Hälfte der achtziger Jahre angebracht zu sein. Dies ermöglicht uns eine zwischen "De habitu ... " und dem "Jus feciale" stehende Arbeit Pufendorfs, die mit einer Ausnahme. bislang von der Forschung nicht zur Kenntnis genommen worden ist und die im Anhang zur Theologen zu gewinnen. Diese These scheint von Le Clerc aufgebracht worden zu sein (s. S. 121) und wird in der späteren Literatur hin und wieder aufgegriffen (so bei Brucker, Nr. 96, S. 946, Theo!. Realenzyk!. Nr. 68, Buddeus, Nr. 577). Pufendorfs Schrift ist in einem Zusammenhang zu sehen mit der unendlich breit gefächerten Diskussion um das Verhältnis der protestantischen Konfessionen zueinander. Die umfassendste Literaturübersicht vermittelt J. Georg Walch: Bibliotheca theologica selecta. Tom. 2. Jena 1758, 375 -529, die irenischen Schiften des 17. Jh. werden auf S. 487 -501 aufgeführt. 231 Aus der ganz geringen Zahl der theologischen Publikationen, die das "Jus feciale" erwähnen, ist O. Ritschls Dogmengeschichte des Protestantismus hervorzuheben (Nr.591).

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vorliegenden Arbeit erstmals veröffentlicht wird. Es handelt sich um ein Gutachten (entstanden Ende 1686 oder Anfang 1687) zu der von Haquin Spegel, Bischof von Skara, 1686 besorgten Ausgabe des lutherischen Katechismus. 232 Es wurde bereits darauf hingewiesen (s. Forschungsbericht), daß die Auffassung Bo Lindbergs, es handle sich hier um eine satirisch eingekleidete verspätete Rache Pufendorfs an seinem früheren Gegner, der tatsächlichen Bedeutung des Textes nicht gerecht wird. Die Bemerkungen zu Spegels Edition wollen in jeder Beziehung Pufendorfs ureigenste theologische Überzeugungen zum Ausdruck bringen, was allein die Tatsache beweist, daß die hier formulierten Stellungnahmen uns schon mehrfach begegnet sind und uns auch später immer wieder begegnen werden, sowohl im "Jus feciale" als auch in anderen, meist brieflichen Äußerungen Pufendorfs. An zentraler Stelle steht die unbedingte Abwehr aller vermeintlichen Gefahren für die reine lutherische Lehre, die Pufendorf insbesondere durch die Einflüsse seitens des Katholizismus und Calvinismus bedroht sieht. Die von Spegel gegebene Definition des Evangeliums erwecke den Verdacht, daß sich dahinter die irrige Lehre der Calvinisten vom absoluten Dekret verberge, da der Glaube, der ja ein Geschenk Gottes ist, der Verkündigung vorgeordnet werde. In der Frage nach der Möglichkeit der Einhaltung des Gesetzes durch den wiedergeborenen Christen tendiere Spegel in eine katholisierende Richtung, da seine Interpretation des herangezogenen Schriftwortes (1. Joh., 2, 3-4) den Eindruck entstehen lasse, der Christ könne das Gesetz vollkommen einhalten. Gleiches gilt für die behauptete Zuordnung der Wortverkündigung als gleichberechtigtes Heilsmittel neben der Heiligen Schrift und dem Sakrament. Dies käme der Behauptung gleich, Speise und Koch dienten gleichermaßen der menschlichen Ernährung. Das ministerium verbi sei jedoch keine Heilsmittel, sondern nur das zu deren Vermittlung bestimmte Instrument. In der Überschätzung des in der Verwaltung des Wortes bestehenden Amtes liege letztendlich das Fundament der päpstlichen Herrschaftsansprüche verborgen. In allen diesen Fragen beruft sich Pufendorf ausdrücklich auf die lutherische Orthodoxie (si cum orthodoxa Ecclesia loqui voluisset Autor, ita debuisset dicere) und zieht die Bekenntnisschriften als Argumentationshilfen heran. Andererseits, und hier zeigt sich Pufendorfs Nähe zur Reformorthodoxie des 17. Jh., vor allem aber auch zum Pietismus, geht es nicht nur um die Reinheit der Lehre, sondern auch um deren Umsetzung in die Praxis. Die im Katechnismus zu findende Definition der Heiligung im Sinne einer Separation von allem Sündhaften und Unreinen sei unvollständig. Die sanctificatio würde durchaus auch eine positive Seite besitzen, nämlich die wirkliche und innerliche Heiligung des Menschen. Gleichermaßen sei die Behauptung, wir könnten durch die Erfüllung des Gesetzes Gottes keine Verdienste erwerben, in dieser Formulierung nicht richtig. Zwar ist der Mensch nicht in der Lage, das Gesetz vollkommen zu erfüllen, um so das ewige Leben zu erlangen, aber das heißt nicht, daß die Befolgung des Gesetzes, wenn dies uns nur möglich 232 Zur Textüberlieferung s. die Einleitung zur Edition des Stückes. Zu Spegels Katechismusausgabe und der daran geübten Kritik s. Nr. 301 der Bibliographie.

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wäre, keine Verdienste erbringen würde. In der Erörterung der Gründe des Heils vermißt Pufendorf die Erwähnung des Heiligen Geistes, der durch Berufung, Wiedergeburt, Bekehrung und Erneuerung wirke. Die im vorangegangenen Abschnitt angedeuteten Beziehungen zur lutherischen Orthodoxie (einschließlich Reformorthodoxie) und zum Pietismus läßt die Frage aufkommen, auf welche Grundlagen sich Pufendorf stützte, als er sich der Entwicklung einer eigenständigen theologischen Konzeption zuzuwenden begann? Da die Analyse des "Jus feciale" und der erhaltenen Briefe in dieser Beziehung kaum etwas erbringt, soll hier der bislang noch nicht beschrittene Weg eingeschlagen werden, den Bestand der Pufendorfschen Bibliothek unter diesen Gesichtspunkten zu durchmustern. 233 Von den mindestens 1 800 Schriften, die die Sammlung enthielt, 234 sind rund 200 dem Bereich der Theologie (einschließlich Kirchengeschichte) zuzurechnen. Auffällig ist, daß die Patristik nur in einem geringen Maße,235 die mittelalterliche Theologie bzw. Philosophie überhaupt nicht vertreten ist. Ein mageres Ergebnis bringt auch die Suche nach den Theologen der Reformationszeit. Luther ist bezeichnenderweise nur mit "De servo arbitrio" vertreten (sieht man von Spegels schwedischer Katechismusausgabe ab). Von Calvin befanden sich sein Hauptwerk, die "Institutiones", und die "Harmonia Evangelistarum" im Bestand der Bibliothek. Das gleiche negative Ergebnis erbringt die Durchmusterung nach Vertretern der lutherischen Orthodoxie. Immerhin ist Pufendorfs Lehrer Hülsemann mit vier Titel vertreten, zweimal Dannhauer , einmal Pufendorfs Gegner V. Alberti, einmal Schomer. Der große Außenseiter Georg Calixt ist mit 6 Bänden präsent. Die großen Systematiker der lutherischen Orthodoxie fehlen ganz. Bemerkenswert·ist auch die Abwesenheit jeglicher Literatur, die in der Nachfolge des sog. Linken Flügels der Reformation steht. 236 Die Schwerpunkte des theologischen Buchbestandes liegen dagegen eindeutig bei folgenden Autoren bzw. Themen: An erster Stelle steht die Bibel, von der sich 16 Ganz- oder Teilausgaben nachweisen lassen. 237 Mit diesem Bestand in Verbindung steht eine beachtenswerte Auswahl an Werken und Hilfsmitteln zur Bibelexegese: Gronovius, Hottinger, S. Schmidt,238, J. Buxdorf, Th. Hackspan, M. 233 Catalogus Bibliothecae illustris ... cujus auctio consueta lege habebitur Berolini die 20. Septembr. et seqq ... MDCXCVII (von mir benutzt nach dem Exemplar der Niedersächsischen Landesbibliothek, TA 6621). 234 Der Auktionskatalog enthält 1663 Nummern. Zahlreiche Bände enthalten jedoch mehrere Schriften. Eine genaue Zahl läßt sich anhand der übermittelten Angaben nicht erbringen. 235 Genannt werden Ambrosius, Symmachus, Lactanz, Chrysostemos, Epiphanius, Athanagoras, Photius. 236 Bemerkenswerterweise wird in der Rezension des "Jus feciale" in der "Bibliotheque choisie" (s. S. 121) kritisch festgehalten, Pufendorf habe augenscheinlich nie auch nur ein Werk der von ihm angegriffenen Sozinianer gelesen. 237 In sechs Sprachen: Latein, Griechisch, Französisch, Englisch, Schwedisch, Italienisch. Eine deutsche Ausgabe fehlt merkwürdigerweise. 238 Daß Rechenberg Werke Schmidts für Pufendorf besorgt hat, wissen wir aus einem Schreiben des letzteren vom 9. 6. 1688.

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Geier, Leusdenius, H. Hulsius, Chr. Viweg, E. Leight, E. Tersa. Groß ist weiterhin die Zahl der Titel zur Kirchengeschichte des 16. und 17. Jh.,239 wobei der Anteil der scharf antikatholisch ausgerichteten Literatur auffällt. Von katholischen Autoren andererseits enthält die Bibliothek hauptsächlich Publikationen zur konfessionellen Frage (Bossuet, Huet, Molina, Bellarmin, Steno). Beachtenswert ist schließlich der Besitz an Schriften reformierter Theologen, die sich jedoch in der Hauptsache ebenfals mit der nachreformatorischen Kirchengeschichte und den Konfessionsstreitigkeiten befassen (BlondeI, Beza, F. Spanheim, Casaubonus, Grotius [De veritate], Jurieu, Burnet, Claude). Als beachtlich zu bezeichnen ist auch der zahlenmäßige Umfang an pietistischen Schriften, die sich allerdings auf Publikationen von A. H. Francke (3 Titel) und Spener (10 Titel, darunter einige Veröffentlichungen zum Gebiet der historischen Hilfswissenschaften) beschränken. Diese soeben skizzierte Zusammensetzung der theologischen Buchbestände in Pufendorfs Bibliothek korrespondiert mit dem Inhalt und dem Charakter von "Jus feciale": die Präsenz der Bibel auf fast jeder Seite in Form von Zitaten und Stellenverweisen, das gänzliche Fehlen der Auseinandersetzung mit den Vertretern der lutherischen Orthodoxie oder auch nur deren Erwähnung, das Interesse für die historischen Hintergründe der konfessionellen Spaltungen, das rasche Abtun der Sozinianer und verwandter Richtungen, die scharf antikatholische Note seiner Ausführungen. Die auf den vorangegangenen Seiten ausgewerteten Dokumente (Pufendorfs Gutachten über Spegels Katechismusausgabe, seine Briefe an den Bruder und an Schomer) belegen eindeutig, daß sich Pufendorf spätestens in den achtziger Jahren dem Problem der Enwicklung einer neuen zeitgemäßen Theologie zuzuwenden begann. Erkennbar geworden sind auch deren Strukturen: Auf der alleinigen Grundlage der Bibel und des gesunden Menschenverstandes soll mit Hilfe der cartesianischen Methode, also unter Aufgabe der aristotelischen Schulphilosophie, eine auf fundamentale Glaubensartikel beschränkte Dogmatik erstellt werden, die damit zugleich den konfessionellen Streitigkeiten, soweit sie auf Lehrdifferenzen beruhen, den Boden entziehen wird. Der durch die Reduzierung der Dogmatik freigewordene Raum kann und soll durch die stärkere Entfaltung der Theologia moralis besetzt werden. Die frühsten uns überlieferten Hinweise dafür, daß Pufendorf trotz seiner von ihm immer wieder betonten anderweitigen Belastungen sich mit dem Gedanken trägt, die Durchführung des soeben skizzierten Planes selbst zu übernehmen, stammen aus dem Frühsommer 1688, also aus dem Beginn seiner Berliner Zeit. Am 9. 6. 1688 bittet Pufendorf Adam Rechenberg um die Übersendung von Bibelkommentaren von Sebastian Schmidt 240 und in 239 L. Maimbourg (17 Bände!), Bossuet (Histoire des variations des egli ses protestantes), G. Bumet (Historia reformationis ecc1esiae Anglicanae), Paolo Sarpi (Historia Concilii Tridentini), J. Sleidan (De statu religionis et reipublicae) u. a. Auffällig ist die Zahl der Publikationen über die Jesuiten und deren Missionstätigkeit. Bemerkenswert ist auch der Besitz von Richard Simons "Histoire de l'origine et des revenus ecc1esiastiques".

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einem wenige Tage später geschriebenen Brief an Chr. Thomasius heißt es: "Wenn mich die Alberini ungevexiret wolten laßen, hette ich vor horas subcisivas auf eine meditation zulegen, von dem vernünftige Gottes-Dienst der Christen, der so wohl wieder die atheisterey gienge, als wieder das unnütze gezäncke der protestirenden untereinander, damit der welt weisen könte, das ich so viel sorge gehabt pro vera pietate, als die schwarzmäntel."241 Noch zwei Jahre später stellt Pufendorf Landgraf Ernst gegenüber fest: " ... allein es leydet meine Zeit nicht, in materia Religionis mich zu diffundieren; Ich Will 242 hiervon nichts mehr, als zu meinem eigenen behuff ... "243 Eine ähnliche Aussage trifft Pufendorf noch wenige Monate später Schomer gegenüber (s. S. 76) Aber bereits am 8. 10. 1690, also zwei Tage nach dem Schreiben an Schomer, rühmt er Rechenberg gegenüber eine Schrift, die sich gegen den Übertritt Herzog Heinrichs von Sachsen zum Calvinismus richtet 244 und fährt fort: "Ich bekenne, daß ich unter deßen lesen der eigentlichen beschaffenheit des Calvinismi ergründet ... welches ich glaube, das es viel 100 Calvinisten selbst nicht verstehen. Und ist zu weitläuftig solche gedancken in einem Brief auszuführen, und will sehen, das ich ein ander mahl diese und meine andre Theologische Speculation MGH communicire."245 Im gleichen Brief wird der schon erwähnte Wunsch geäußert, mit einem "cordato Theologo" zusammenzukommen. Schon am 18. 11. 1690 bittet Pufendorf Rechenberg darum, ihm "ein klein werk" mit dem Titel "De consensu et dissensu Protestantium" zuschicken zu dürfen. Rechenberg möge "aus seinem innersten hertzen" heraus über den Text urteilen. 246 Die Zu sendung des Manuskripts erfolgt am 6. 12.: "Überschicke aber hingegen etwas, so gantz unvolkommen, und nur die primas lineas hat, und das noch großen fleiß erfordern wird, ehe es eine gestalt bekommt." Rechenberg möge untersuchen, ob der Text lebensfähig sei und gegebenenfalls auch Speners Meinung einholen: "Im fall Sie diesem embryoni das leben zuerkennen, so were mein Vorsatz, horas subcisivas meines alters auf solches zu emploiren, damit die nachwelt sehen möchte, daß ich nicht allein an die weltlichen intriguen gedacht, daran ich revera einen eckel bekommen, weil es doch ist vanitas vanitatum."247 Schon am 16. 12. reagiert Pufendorf auf 240 VB Leipzig, Sammlung Römer. 241 Pufendorf an Thomasius, 19.6. 1688 (Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 670, BI. 70 v , Varrentrapp, Briefnummer 9). 242 Oder: weiß (TextsteIle ist verderbt). 243 Pufendorf an Landgraf Ernst, 8. /18.7. 1690 (Gesamthochschulbibliothek Kassel, Ms Hass. 248 2° m, BI. 154" Varrentrapp, Briefnummer 16). 244 Christophilus Placidus (Pseud.): Christliches Schrift- und Vemunft-mässiges Bedencken über Herzog Heinrichs zu Sachsen reformirtes ... Glaubensbekenntnis. o. O. 1689. An Achill schreibt Rechenberg am 6. 5. 1691, daß des Placidus Schrift allgemein Gefallen gefunden habe: "Der Herr v. Pufendorf hat es selber gerühmet und den autoren wißen wollen." (s. Anm. 172.) 245 Pufendorf an Rechenberg, 8. 10. 1690 (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 256r ). 246 VB Leipzig, Ms 0335, BI. 259 r (Varrentrapp, Briefnummer 17). 247 VB Leipzig, Ms 0335, BI. 260 v •

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erste Meinungsäußerungen Rechenbergs: "Sonsten mein projekt belangend, so kan MGH so lange Zeit dazunehmen, als ihm beliebet, und sonderlich das ienige, was von dem gemeinen schlendrian abgehet, wohl consideriren, ob es den stich halten kan, und was von dem gantzen Systemata zuhalten ... "248. Am 31. 1. 1691 weist Pufendorf Rechenbergs Lob zurück, da es sich bei seiner Arbeit erst um ein "sceleton" handle: "Ich wo1te nur voraus, ehe ich weiter gehe, ein und andern mannes vernünftiges bedencken hören von der hypothesis und disposition."249 Auch die folgenden an Rechenberg gerichteten Briefe zeigen, daß Pufendorf die Arbeit am "Jus feciale" intensiv fortsetzt. Am 17. 2. geht es um Hülsemanns Vorlesungen zur Formula Concordia und um den Begriff des Bundes (s. Anm. 249). Bemerkenswert ist Pufendorfs Antwort vom 17.3. auf zwei vorangegangene Schreiben Rechenbergs. Daraus geht hervor, daß auch Seckendorf um ein Urteil über Pufendorfs Manuskript gebeten worden ist. Rechenberg möge dem ehemaligen Staatsmann danken, dessen "Capacitet in diesen sachen" auch bei dieser Gelegenheit deutlich geworden wäre. "Allein", heißt es dann weiter, "dasienige, was ich am meisten verlange, nehmlich ob hypothesis foederum der gantzen theologie commode et utiliter zu substernieren, ist er gar zu forsch vorbeygegangen und zwar solche für sich approbiret, aber gezweifelt, ob die meisten Theologi damit einig seyn werden."250 Es folgt Pufendorfs wohl grundsätzlichste Äußerung zum Sinn und Zweck seines Buches, die uns später beschäftigen wird. Von Interesse ist jedenfalls, daß Spener (s. Anm. 249), Seckendorf und, wie wir noch sehen werden, Chr. Thomasius mit Pufendorfs föderaltheologischem Entwurf, dem Kernstück seines ganzen theologischen Systems, nichts recht anzufangen wissen. Am 2.5.1691 schließlich bittet Pufendorf um die Übersendung verschiedener theologischer Werke, die er benötige, "wenn ich werde mit ernst mein werck angreiffen."251 Im August beschäftigen ihn die Anfänge des Zerwürfnisses innerhalb des protestantischen Lagers (s. S. 99 f.).252 Am 24. 10. erörtert er die Möglichkeiten der Reunion der protestantischen Kirchen (s. S. 100 f.).253 Bereits wenige Tage zuvor ist jedoch an Thomasius die Mitteilung ergangen, er, Pufendorf, habe für eine Weile das Theologisieren an 248 249

VB Leipzig, Ms 0335, BI. 262f • VB Leipzig, Ms 0335, BI. 264v Varrentrapp, Briefnummer 19. Rechenberg hatte

das Manuskript Pufendorfs Bitte entsprechend an Spener weitergegeben. Dieser äußert sich seinem Schwiegersohn gegenüber im Februar 1691 mehrmals über den Text, am ausführlichsten am 24. 2. Die Übersetzung des Begriffes mit Bund (foedus) sei sehr anfechtbar; man solle bei dem Begriff Testament bleiben, aus dessen Verwendung im übrigen dem System Pufendorfs keine Gefahr drohe (VB Leipzig, Ms 0337, BI. 60Y). Das Verhältnis von Bund und Testament zueinander behandelt Pufendorf in einem fast gleichzeitigen Brief (17. 2.) an Rechenberg. Vgl. auch § 47 von "Jus feciale". 250 VB Leibzig, Ms 0335, BI. 268 f • Leider klafft in der Überlieferung der Briefe Rechenbergs an Seckendorf für den uns hier interessierenden Zeitraum eine Lücke (2.8. 1690-20.2. 1692). 251 VB Leipzig, Ms 0335, BI. 270 f • 252 Brief vom 29. 8. 1691 (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 273 253 VB Leipzig, Ms 0335, BI. 27Y. f ).

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die Wand gehängt, "weil ich per force mich durch die Nimwegischen friedens tractaten durch arbeiten wollen, damit ich mit der zeit das ende von der itzigen arbeit erblicken möchte. Darnach will ich sehen, ob was weiteres werde zuthun seyn."254 Im späteren, nur sehr fragmentarisch überlieferten Briefwechsel Pufendorfs lassen sich keine Bemerkungen zum "Jus feciale" nachweisen, wenn auch Pufendorfs Interesse an theologischen Fragen unvermindert lebendig bleibt.

2.2.4 Das "Jusjeciale". Inhalt und Bedeutung Über den Zweck seines Buches äußert sich Pufendorf in wünschenswerter Ausführlichkeit in den ersten Paragraphen von "Jus feciale". Das die Menschheit plagende Leid habe in der Hauptsache die Menschen selbst zum Verursacher (so auch in seinem Brief an Schomer), die nicht nach den Prinzipien der klaren Vernunft (sana ratio), sondern als Sklaven ihrer Begierden lebten. Die daraus entstehenden Streitigkeiten berühren jedoch nicht nur das Gebiet der materiellen Interessen, sondern greifen auch in den Bereich der Meinungen und speziell der religiösen Überzeugungen über und schaffen damit ein unerträgliches Klima des Hochmutes und des Hasses. So ist selbst die christliche Religion, die alle ihr Ergebenen in einen Bund der Brüderlichkeit zusammenschließen will, zu einer Quelle des Unglücks geworden. Hier eine grundlegende Änderung herbeizuführen, müßte das Anliegen aller wahrhaft frommen Christen sein. Zwei Wege bieten sich an: Toleranz und Vereinigung (conciliatio). Die Möglichkeiten und Grenzen der Toleranz, ein bereits in "De habitu" berücksichtigtes Thema, werden relativ rasch abgehandelt (§ § 4 - 6), um sich alsbald der eigentlichen, zentralen Fragestellung des Buches nach den Bedingungen einer conciliatio der Konfessionen zuzuwenden. 255 Entscheidend ist Pufendorfs gleich eingangs (§ 7) aufgestellte und uns bereits bekannte Forderung nach einer verbindlichen Fundamentaltheologie als der wichtigsten Voraussetzung aller Reunionsverhandlungen. Die Erklärung der Gleichwertigkeit aller Religionen, Konfessionen und Lehrauffassungen würde die christliche Religion in einen bunten Mischmasch unverbundener Lehrsätze auflösen, während die Wahrheit nur eine sein kann, die christliche Theologie ein in sich geschlossenes System zu bilden hat. 256 Eigentlich kann und muß sich 254 Pufendorf an Thomasius, 21. 10. 1691 (König!. Bibliothek Kopenhagen, Sammlung Thott, 1276; Gigas Briefnummer 26). 255 Pufendorfs Verständnis der Toleranz wird uns noch im Zusammenhang mit seiner Haltung zu den Dissidenten beschäftigen. Im übrigen ist auf die Bibliographie (Abschnitt 22) zu verweisen. 256 "Hoc modo enim Religio Christiana non esset rationalis, ac rite inter se cohaerens disciplina, sed congeries dogmatum inter se haut conspirantium, ac mutuo se destruentium." (Jus feciale, S. 22). Diese Kritik weist eine interessante Parallele zu Pufendorfs Stellung zum Eklektizismus innerhalb der zeitgenössischen Philosophie (vertreten vor allem durch Chr. Thomasius) auf: "MGH preferiret sectam Eclecticarum allen andern in der Philosophie, und bin ich auch von der secte gewesen. Allein sie ist nicht die beste an sich selbst, sondern so feme man die scientiam noch nicht auß rechten principiis

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dieses System über das gesamte Gebiet der Dogmatik erstrecken, jedoch sei dies angesichts der gegenwärtigen Beschaffenheit des menschlichen Charakters mehr zu wünschen als wirklich zu erhoffen. Dazu kommt, daß nicht jedes Dogma gleichermaßen klar und deutlich aus der Heiligen Schrift herausgelesen werden kann. Aus diesen Gründen ist es möglich, bei einer Reihe von Lehrsätzen verschiedene Meinungen zuzulassen. Anders liegen die Dinge bei den Dogmen, die unmittelbar das Heil des Menschen, d. h. die Fundamente des Glaubens betreffen und die daher auch unmißverständlich in der Schrift offenbart worden sind. Es ist daher als unabdingbar zu konstatieren, "ut ante omnia utrinque circa solidum, ac sufficiens seu adaequatum fidei fundamenturn conveniatur, seu ut illi fidei articuli liquido definiantur, qui ad salutem ita necessarii sunt, ut neque ignorari, neque negari, neque detorqueri, aut in diversum sens um trahi debeant." 257 Dies ist nichts anderes als das Programm der Fundamentaltheologie, das Pufendorf mindestens seit Ausgang der siebziger Jahre beschäftigte. Der Versuch, die konfessionellen Gegensätze durch die Betonung einer letztendlichen Übereinstimmung der verschiedenen Parteien in den zentralen Glaubensaussagen zu relativieren, ist selbstverständlich schon vor Pufendorf unternommen worden, freilich mit nur geringem Erfolg. 258 Pufendorf geht in "Jus feciale" nirgends auf die bisherigen Versuche, eine Fundamentaltheologie zu entwickeln, ein, äußert sich aber Rechenberg gegenüber recht kritisch: "Ich glaube ieder, der catecheticam practiciret wird befinden, wie schwer es sey einen den nexum articularum fidei aus den libris symbolis, oder locis theologicis et systematibus beyzubringen, und zwar das er zugleich begreiffen könne was fundamental oder nichten sey. Unser Sehl. Hülsemann hat in seinen praelectionibus ad Formulam Concordiam in loco de Ecclesia die articulos fundamentales wollen determiniren. Aber ich habe niemahls begreiffen könen, wie dero connexion, sufficientia, und exclusio plurimum articularum zu behaupten." 259 Überhaupt seien die Theologen am wenigsten in der Lage, den angedeuteten Weg zur konfessionellen Befriedigung einzuschlagen, da bei ihnen nicht die Sache, sondern die persönliche Geltung im Mittelpunkt stünde. Statt ihre Lehrsysteme auf die klaren Worte der Schrift zu begründen, nehmen sie ihre Zuflucht zu Sophistereien und inhaltlich leeren Disputationskünsten (§§ 8 - 9). Dahinter steckt als Hauptübel die von Pufendorf immer wieder kritisierte Verbindung der Theologie mit der Philosophie, speziell demonstrative deduciret hat." (ForschungsbibI. Gotha, Chart. B 670, BI. 69'-v; Varr. Briefnummer 9). 257 Jus feciale, S. 24 f. 258 Vgl. die immer noch sehr informative Darstellung bei Hans Leube: Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie. Leipzig 1928, S. 138 ff. u. 249 ff. 259 VB Leipzig, Ms 0335, BI. 268' (Brief vom 17.3.1691). Vgl. auch Pufendorfs Bemerkungen in seinem Gespräch mit Rostocker Theologen im September 1694: Die (theologischen) Vorlesungen seien nicht suffizient. "Es würden nur singulare materien ausgeführet, man bekäme kein Connexion de Theologia id quod probabat. Exemplo Prae1ectionum in F. C. Hülsemanni ... " (VB Rostock, Ms var. 21, S. 95, s. den Anhang dieser Arbeit).

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mit der aristotelischen Schulphilosophie. Die dadurch entstandene "Theologia Scholastica", heißt es in einem fast zur gleichen Zeit entstandenen Gutachten Pufendorfs zur Verteidung des Cartesianismus, diene zu nichts anderem, "alß die studirende Jugend mit unützen grillen und disputiren zu emusiren, und sie von erforschung der Heiligen Schrifft ... abzuhalten."260 Theologie und Philosophie seien jedoch "gantz unterschiedliche wißenschafften"261 mit jeweils voneinander unabhängigen Grundlagen, so daß es z. B. ein "gar schlecht zeug machen würde", die Glaubensartikel (z. B. Christologie, Abendmahlslehre) "nach den regelln der alten oder neuen Physica" einzurichten. 262 Allein schon wegen dieser gerade in Deutschland dominierenden Theologia Scholastica, aber auch gemäß dem Priestertum aller Gläubigen will Pufendorf alle eventuellen Reunionsverhandlungen nicht ausschließlich den Theologen anvertraut wissen, sondern er setzt sein Vertrauen vor allem auf die Teilnahme frommer und theologisch erfahrener Laien (§ 9).263 Ist die Philosophie als Beweismittel innerhalb der theologischen Disputation auszuschließen, so bleibt die Bibel, wie bereits mehrfach angemerkt wurde, als Grundlage jeglichen Theologisierens: "Nam ubi datur principium fallere nescium, quale in Theologicis controversiis est sacra Scriptura, non potest non demum controversiarum eo spectantium exitus reperiri."264 Daß der genuine Sinn der Schrift erfaßt werden kann, leidet kein Zweifel, sofern man nur die legitimen Hilfsmittel der Interpretation (legitima interpretationis adminicula) verwendet. 265 Unmittelbar mit diesen exegetischen Bemühungen verbunden ist der rechte Gebrauch des Verstandes. 266 Dieser erkennt nicht nur den Sinn der Schrift, sondern 260 Unvorgreifflich Bedencken ... wegen abschaffung der Cartesianischen Philosophie (UB Uppsala, Ms Palmskiöld 107, S. 1774). 261 Unvorgreifflich Bedencken, S. 1784. Weiter heißt es, daß im Neuen Testament keine Spur von "philosophischen materien" zu finden sei. "Ja warnet Apostel Paulus ausdrücklich, daß man sich nicht soll durch die philosophie ... betriegen lassen und solche in die Theologie mengen." (s. 1785.) 262 An anderer Stelle wendet sich Pufendorf gegen den Versuch, die cartesianische Philosophie zur Begründung der katholischen Transsubstantiationslehre zu verwenden: "Enimvero non credo ullum Theologum Lutheranum fore tarn dementern, ut nostrae religionis interesse putet, quo fuco isti monstrosum suum dogma adornatum eant; aut orthodox am doctrinam de sacra Eucharistica e Physica esse petendam." (s. Pufendorf: Commentatio super invenusto veneris Lipsicae pullo, S. 366 in der Ausgabe innerhalb der "Eris Scandica". Frankfurt / M. 1706. Wir werden noch sehen, wie rasch Pufendorf selbst die Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl abfertigt (s. S. 82 f.). 263 Damit meint Pufendorf nicht zuletzt sich selbst: "Ich bilde mir ein, wenn man etwas rechtschaffenes könte zuwege bringen, so würde es einen beßern und wahrem effect haben, wenn es von meines gleichen laico, als einen exprofesso clerico herrührte." (Brief an Rechenberg, 31. 1. 1691, UB Leipzig, Ms 0335, BI. 264 v ; Varrentrapp Briefnummer 19). 264 Jus feciale, S. 28. 265 Über die Möglichkeit, ein rasches und zutreffendes Verständnis der Bibel zu gewinnen, äußert sich Pufendorf auch in "De habitu" (§ 36). Man müßte nur über die rechten Kenntnisse (z. B. Sprachen) und Hilfsmittel verfügen sowie seinen Verstand vorurteilslos gebrauchen, um den richtigen Sinn der Bibel zu erfassen.

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knüpft aus den gewonnenen Glaubensartikeln ein in sich geschlossenes theologisches System, in dem sich ein Artikel folgerichtig aus dem anderen entwickelt und das alle zum Heil notwendigen Theologumena, also die Fundamentalartikel, enthält. Wer diese Kette (fidei catena) an irgendeiner Stelle zerreißt, fügt der christlichen Religion unheilbaren Schaden zu (§ 60). Es handelt sich um nichts anderes als um das in dem Brief an den Bruder (1681) formulierte, nunmehr aber durchgezogene Programm einer der mathematischen Methode folgenden Theologie mit dem notwendigen "nexus articularum fidei". Nicht mehr und nicht weniger will Pufendorf durch sein "Jus feciale" leisten: "Meine intention ist gantz nicht ein bloß compendio theologiae zu schreiben, viel weniger etwas in articulis religionis zu alteriren, sondern zu suchen, ob nicht die theologia so könte disponiret werden, das man daraus sehen könte was fundamental oder nicht fundamental sey."267 Ist die Forderung nach einer Theologie entsprechend dem mos geometricus auf der Grundlage der Bibel in Pufendorfs Überlegungen nicht neu, so gilt dies um so stärker für die nunmehrige inhaltliche Realisierung dieses Programms, die Pufendorf bisher von anderen erwartet hatte, die er aber jetzt selbst im "Jus feciale" in Angriff nimmt (§§ 20-60). Das entscheidende Stichwort heißt hier Föderaltheologie, die Pufendorf um 1690 als Möglichkeit entdeckt, seinen bisherigen mehr abstrakten Vorstellungen Leben einzuhauchen. Nun ist die Föderaltheologie bekanntlich kein genuin lutherisches Thema, sondern ist in der reformierten Theologie beheimatet, wo sie insbesondere durch Johannes Coccejus ihre klassische Ausformung erfahren hat. 268 Wir wissen nicht, ob Pufendorf während seines Aufenthaltes in Leiden (1660/61) mit Coccejus in Kontakt gekommen ist. Er erwähnt ihn nirgends; ebensowenig scheint er Bücher von ihm besessen zu haben. 268. Auch besteht die Möglichkeit, daß Pufendorf durch föderaltheologische Entwürfe lutherischer Zeitgenossen angeregt wurde. Zu nennen sind hier vor allem Johannes Musäus in Jena und Georg Calixt. Ein Vergleich der theologischen Systeme könnte nähere Aufschlüsse ergeben. Immerhin scheint deutlich zu sein, daß zwischen Pufendorfs und Calixts Auffassungen wesentliche Unterschiede bestanden (bei Calixt z. B. Fehlen des Vertrags zwischen dem Vater 266 Sehr prägnant heißt es in einem Brief Pufendorfs an Landgraf Ernst: "Ich gehe gantz einen einfältigen weg, von welchem mann mich aber nicht durch sophisterey, sondern durch solche principia, die in der Schrifft, der rechten Politic und gemeinen Vernunfft fundiret seyn (abbringen kann). Brief vom 8./18.7. 1690 (Varrentrap läßt in seinem Abdruck des Briefes [NI. 16] diesen wichtigen Satz weg). Die in Klammem gesetzte Ergänzung stammt von mir. Der Kopist des Briefes muß hier versehentlich eine Satzpassage ausgelassen haben. 267 Pufendorf an Rechenberg, 17.3. 1691 (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 268'). 268 Vgl. Gottlob Schenk: Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus vornehmlich bei Johannes Coccejus. Gütersloh 1923 (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie. 2. Reihe, 5. Band). 268. Eine Mittlerfunktion könnte auch der Heidelberger Theologe Ludwig Fabricius, ein Schüler des Coccejus, ausgeübt haben. Daß er mit Fabricius befreundet sei, berichtet Pufendorf in seinem Brief vom 7.2. 1663 an Boineburg. Zu Fabricius vgl. die in Anm. 109a erwähnte Arbeit von Benrath.

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und dem Sohn, s. Ritschl, Nr. 591, S. 385). Daß sich Pufendorf von der Föderaltheologie angezogen fühlte, liegt sicher schon in derem juristischen Äußeren begründet. So wie Pufendorf die Entstehung des Staates als Serie von Vertragsabschlüssen betrachtet, so beruht hier die christliche Religion auf einer Folge von Bundesschlüssen zwischen Gott und den Menschen. Der vielleicht entscheidende Gesichtspunkt, der Pufendorf bei diesem Versuch leitete, war jedoch die Annahme, hier die Reformierten gleichsam mit der eigenen Waffe schlagen zu können: Die Vorstellung eines Bundesschlusses zwischen Gott und Mensch verträgt sich nicht mit der Prädestinationslehre, die für Pufendorf das Haupthindernis für das Zusammengehen der protestantischen Konfessionen bildet. Wir werden später noch näher darauf einzugehen haben. Was darüber hinaus Pufendorfs Interesse an der Föderaltheologie geweckt haben dürfte, ist deren weitgehende Freiheit von allen metaphysischen bzw. philosophischen Spekulationen und ihr Bestreben, die Auslegung der Heiligen Schrift in den Mittelpunkt zu rücken. Schließlich könnten auch die mit der Föderaltheologie eng verbundenen Vorstellungen vom Reich Gottes und dessen Herannahen bei Pufendorfs Rezeption eine Rolle gespielt haben (v gl. seinen Brief an Schomer). Wichtig ist jedoch zuerst die Möglichkeit, mittels der Föderaltheologie die mathematische Methode in Anwendung bringen zu können. In seinem Brief an Rechenberg vom 17.3. 1691 fährt Pufendorf nach seiner Klage über die Schwäche der Fundamentaltheologie Hülsemanns fort: "wenn ich aber diese hypothesium de foedere nehme, so darf ich nur praemittiren historiam creationis, integritatis, et lapsii. Hemach das protevangelium Gen. 3 und dann de mediatore foederis, was er für uns gethan, und was er von uns hingegen haben wolle, woraus die Klarheit, connexion, und fundamentalitet meines erachtens leicht zuverstehen. Will Herrn Speners meinung erwarten."269 Die Abfolge der von Gott mit den Menschen getroffenen Bundesschlüsse bildet somit den Inhalt der Fundamentaltheologie, die nach Pufendorfs Überzeugung in ihrer auf diesem Wege gewonnenen Klarheit und Stringenz überzeugend und zwingend wirkt, aber auch nur in ihrer unverkürzten Form als Grundlage konfessioneller Zusammenschlüsse dienen kann (§§ 15 und 60). Diese ihr zugesprochene Bedeutung läßt es als notwendig erscheinen, Pufendorfs fundamentaltheologischen Entwurf im folgenden zumindest in skizzenhafter Form wiederzugeben. Von zentraler Bedeutung ist der Bund Gottes mit den ersten Menschen (Werkbund) und der über den Mittler Jesus Christus geschlossene Gnadenbund, der (genauer gesehen) aus zwei Bundesschlüssen besteht (§ 37).270 Der Bund mit Adam ist ganz ein Geschenk Gottes, denn nichts verpflichtet ihn, diese Verbin269 VB Leipzig, Ms 0335, BI. 268'. 270 Man beachte die Parallele zu Pufendorfs Theorie über die Entstehung des Staates, die (nach dem vorausgegangenen Gesellschaftsvertrag) in ein Abkommen der Bürger über die forma regiminis und in einen Vertrag mit der auf diesem Wege gesetzten Obrigkeit zerfällt. Im übrigen ist Pufendorf mit diesem Ansatz ganz kalvinistischen Traditionen verpflichtet.

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dung einzugehen, aus der für ihn auch keinerlei Vorteile entspringen, es sei denn die Mehrung seines Ruhms. Inhalt dieses Bundes ist die Stiftung der Religion, d. h. der Verehrung Gottes, der den Menschen wiederum Unsterblichkeit, Freiheit von allen Leiden usw. zusagt. Der Sündenfall hat den Verlust dieser Wohltaten zur Folge und führt zugleich zur Korruption des menschlichen Willens und Intellekts. Da Gott dennoch den Menschen nicht vom ewigen Heil ausschließen will, stiftet er einen neuen Bund, diesmal allerdings über einen Mittler. Dieser entscheidende neue Bund wird von Gott durch verschiedene partikulare Bundesschlüsse vorbereitet und angezeigt. Deutlich steht hier Pufendorf in der Tradition der über Coccejus zurückreichenden reformierten Auffassung: Die Stiftung des Gnadenbundes folgt unmittelbar dem Bruch des Werkbundes; das Protevangelium ist die erste Ankündigung des Neuen Bundes. Die weitere Geschichte bis zur Inkarnation des Sohnes Gottes ist die Geschichte der immer deutlicheren Bezeugung des Gnadenbundes (§ 28). Der für Pufendorf entscheidende Gegensatz zur kalvinistischen Lehrtradition besteht in der ausdrücklichen Betonung, daß der Bund für alle Menschen Gültigkeit besitzt; es findet sich keine Spur irgendeiner von Gott getroffenen Ausnahme, was auch völlig seiner Gerechtigkeit widersprechen würde. Der in Christus gestiftete Bund setzt sich aus zwei Abkommen zusammen: Der Konvention des Vaters mit dem Sohn folgt der Vertrag des Sohnes mit den Menschen. Im ersten Abkommen tritt Christus an die Stelle der Menschen und leistet für deren Sünden Gott gegenüber Genugtuung und erwirbt damit ihnen das ewige Heil. Der zweite Vertrag besteht in dem an die Menschen gerichteten Angebot der Versöhnung mit Gott, verbunden mit der Gewährung der Kraft, diese Versöhnung anzunehmen, im Glauben an das Wirken des Mittlers und den sich aus diesem Glauben ergebenden praktischen Folgerungen (Streben nach Frömmigkeit und Heiligung). Die Gültigkeit, ja überhaupt nur die VorsteIlbarkeit dieses Bundes beruht auf zwei Axiomen: die Trinität und die Zweinaturenlehre. Mit diesen beiden Fundamentalsätzen steht und fällt der christliche Glaube. Es ist für die von Pufendorf betonte strikte Trennung von Theologie und Philosophie von einigem Interesse, wie er in diesem Zusammenhang die großen Streitfragen um die communicatio idiomatum, die Ubiquitätslehre und die Präsenz Christi im Abendmahl behandelt. Die Spekulationen über das Verhältnis der beiden Naturen in Christus sind nur ein Produkt der menschlichen Neugier. Es genügt, wenn man sich an die klaren Aussagen der Schrift hält. Diese bestätigen letztendlich die lutherische Auffassung von der communicatio idiomatum und der sich daran anschließenden Ubiquitätslehre. 271 Man sollte sich auf jene "regula 271 "Denique uti humana in Christo natura ad omnes officii Mediatorii partes concurrit; alias enim non opus fuisset, ut Verbum caro fieret; ita et eadem participare debuit, ac reipsa participavit de illis attributis divinis ... Et quia inter Protestantes in Articulo de Persona Christi super idiomatum communicatione praecipue controvertitur, judicaverim, eas lites maximam partem elidi posse, si intra isthanc simplicitatem subsistatur, nec curiositas ad ea porrigatur, quae istud officium non tangunt ... Turn ut seponantur, ac in medio relinquantur phrases ac enuntiationes, quae divinis literis non continentur; cum utique hae solae istius Mysterii mensura sint." (§ 46, S. 152 f.).

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antiquitus recepta" beschränken: "quicquid Filio Dei incarnato attributum et collatum dicitur, id respectu humanae naturae factum intelligi."272 Nur unter dieser Bedingung sei das Erlösungswerk denkbar, d. h. die Versöhnung zwischen Gott und Mensch ist nur dann möglich, wenn der zwischen beiden stehende Mittler des Göttlichen und Menschlichen gleichermaßen teilhaftig ist. Es ist ein rein religiöses Interesse, die Sicherung der Möglichkeit, daß der Gläubige Erlösung finden wird, das Pufendorf an der strittigen Ubiquitätslehre der lutherischen Christologie festhalten läßt, jedoch unter Aufgabe des gesamten schwerfälligen dogmatischen Systems zur Begründung dieser Lehrformel, was alles in den Bereich der überflüssigen "phrases ac enuntiationes" gehört. Ähnlich argumentiert Pufendorf bei der Frage nach der Präsenz Christi im Abendmahl. Die Diskussion über die Art und Weise der Gegenwart von Fleisch und Blut des Erlösers wurzle ebenfalls nur in einer unstatthaften menschlichen Neugier (§§ 57, 58, 63). Entscheidend ist die gemeinsame Front gegen die "monströse" Transsubstantiationslehre der Katholiken, die nur der Befriedigung der priesterlichen Machtgier diene (§ 63). Unaufgebbar ist weiterhin das Festhalten an der realen Gegenwart von Fleisch und Blut Christi beim Genuß des Abendmahls, während die Art und Weise dieser Anwesenheit ein für den menschlichen Geist unergründbares Geheimnis bleibt. 273 Daß Christus in der Eucharistie realiter anwesend ist, gebietet das klare Wort der Schrift, aber auch der Sinn und Zweck dieses Sakramentes als Siegel des Neuen Buches. Auch hier geht es Pufendorf um den religiösen, den erbaulichen Bedeutungsinhalt dieses Theologumenon, der die Gewißheit erfordert, daß der Gläubige im Genuß von Brot und Wein tatsächlich des Christus teilhaftig wird, der am Kreuz um der Erlösung der Menschen willen den Bund mit Gott geschlossen hat. Beharrt somit Pufendorf in den bei den noch aus dem 16. Jh. überkommenen zentralen innerprotestantischen Streitfragen auf dem lutherischen Standpunkt, so bilden sie doch in seinen Augen nicht die eigentlichen Gründe für die eingetretene konfessionelle Spaltung zwischen Lutheranern und Reformierten, ist doch die Schärfe der Gegensätze letztendlich auf die unstatthafte Einmischung der Philosophie zurückzuführen. Deren Einbeziehung kann schließlich nur zur Auflösung der Mysterien der christlichen Religion führen, d. h. am Ende den Weg in den Atheismus eröffnen. 274 Zieht man sich jedoch auf die Simplicitas des in den 272 Jus fecia1e, S. 153. 273 "Cum itaque perspicuitas et emphasis verborum non permittat negare, quin utique corpus et sanguis Christi in Sacra Coena percipiatur, quaestio tantum de modo praesentiae superest; qui in medio relinqui posse videtur, dummodo simpliciter credatur, in eo Sacramento revera nobis dari corpus et sanguinem Christi, et a nobis accipi edique ac bibi." (Jus fecia1e, S. 204.) 274 "Enimvero in Articulis fidei tutius est simplicitatem sequi, quam ingenio consectandis argutiis indulgere. Ac observatum fuit, dum circa Articulum de Sacra Coena humanae rationi fraena nimium laxata sunt, alia quoque Mysteria Religionis Christianae fuisse solicitata, sic ut gradatim Socinianismus demum I?rognatus sit." (Jes feciale, S. 229.) Pufendorf folgt der allgemeinen zeitgenössischen Uberzeugung, die im Sozinianismus letztendlich nichts anderes als Atheismus erkennen will.

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Glaubensartikeln Gemeinten zurück, schwindet auch die Schärfe der konfessionellen Gegensätze, zumal die erwähnten bei den Lehrstücke trotz ihrer zentralen Bedeutung nicht das theologische System in seiner Gesamtheit betreffen; es sind partikulare Gegensätze. Ganz anders liegen die Dinge bei einer dritten Frage, deren falsche Behandlung durch die Kalvinisten das fundamentaltheologische System, wie es Pufendorf nunmehr in unbedingt schlüssiger Form gefunden zu haben glaubt, an entscheidender Stelle verletzt. Gemeint ist das erst im 17. Jh. zum zentralen kontroverstheologischen Problem aufgerückte Thema der Prädestination. 275 Fünf z. T. sehr umfangreiche Paragraphen beansprucht die Auseinandersetzung und Widerlegung der kalvinistischen Prädestinationslehre; dazu kommen die häufigen Erwähnungen dieser Thematik in anderen Zusammenhängen. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, daß die Abfassung des "Jus feciale" zu einem ganz erheblichen Teil durch Pufendorfs Ablehnung der Prädestinationslehre, die er nur "mit abscheu" betrachten könne,276 veranlaßt worden ist. Schon im ersten, am 6. 12. 1690 an Rechenberg geschickten Entwurf des Werkes dient die Einführung der Fundamentaltheologie der Bekämpfung des absoluten Dekrets: "Denn mein scopus ist eigentlich den Calvinismus funditus zu haben; weil ich glaube, das dieses eine invicta thesis ist; Si salus nostra est ex foedere, non 275 Daß Pufendorfs unterschiedliche Wichtung der kontroverstheologischen Fragen der allgemeinen Einstellung der lutherischen Theologen in Brandenburg entsprach, zeigt ein Brief Jablonskis an Leibniz: "Sind demnach die hiesige Herrn Theologi im Arickel des heil. Abendmahls so glimpflich und friedlich gesinnet, als man es wünschen kan: Aber desto härter sind die im Artickel von der Gnaden-Wahl." (17. 12. 1699, Kapp [so Anm. 173], S. 92 f.). Pufendorfs Auseinandersetzung mit der Prädestinationslehre ist im Rahmen der europäischen Theologie- und Geistesgeschichte zu sehen, was hier nur angedeutet werden kann. Sowohl in der katholischen (Jansenisten) als auch in der reformierten Kirche erfährt diese Lehre eine letzte Verschärfung, andererseits wirkt in wachsendem Maße die zur Aufklärung hinüber leitende Tendenz der Aufweichung dieser immer stärker als unerträglich empfundenen Lehre. Über die inhaltliche Problematik der sich innerhalb der katholischen Kirche vollziehenden Auseinandersetzungen (Jansenisten contra Jesuiten) vgl. die klassische Arbeit von Bernhard Groethuysen: Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. 2 Bde. Halle 1927, Nachdruck Frankfurt / M. 1978. Selbst die reformierte Kirche kam auf diesem Feld zu keiner Ruhe, auch nicht nach der Verurteilung der Arminianer in Dordrecht. Wenn auch die Theologen von Saurnur (Moyse Amyraut u. a.) sich als Gegner der Remonstranten begriffen, so ist es doch ihr Bestreben, die Härte und das Unbegreifbare der Prädestinationslehre abzuschwächen (nach Amyraut aus den Bedürfnissen der seelsorgerlichen Praxis) und diese in ihrer Bedeutung herunterzuspielen. V gl. die sehr gründliche Untersuchung von F. P. van Stam: The Controversy over the Theology of Saurnur 1635 -1650. Disrupting Debates among the Huguenots in complicated Circumstances. Amsterdam 1988 (Studies of the Institute Pierre Bayle, Nijmegen, 19). Stam betont (S. 433), daß dieses Bestreben von dem Wunsch diktiert war, der Erneuerung des menschlichen Willens zu dienen und damit der Ethik innerhalb der Theologie mehr Raum zu gewähren. Dieses Ziel dürfte bei allen Kritikern der Prädestinationslehre, so unterschiedlich ihre Position im einzelnen war, eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Die gleiche Beobachtung wird sich auch bei Pufendorf anstellen lassen können. 276 "Für diesem dogmate trage ich einen abscheu, welches doch der calvinisten palladium ist." (Pufendorf an Rechenberg, 31. I. 1691, UB Leipzig, Ms 0335, BI. 264v, Varrentrapp, Briefnummer 19).

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estex absoluto decreto." (s. Anm. 276.) Die Reformierten sollen mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden: Beruht, der reformierten Lehrtradition zufolge, das menschliche Heil auf dem mit Gott geschlossenen Bund, schließt dies die Existenz des absoluten Dekrets aus, da ansonsten der Bund zu einer sinnlosen Spielerei Gottes herabgewürdigt würde. Entscheidend für Pufendorfs radikale Ablehnung der kalvinistischen Prädestinationslehre ist deren demoralisierende Wirkung. Pufendorf hält zwar am forensischen Rechtfertigungsverständnis fest, lehnt aber alle daraus ableitbaren Automatismen ab, d. h. über die Annahme des zugesprochenen Heils entscheidet der Mensch; ansonsten wäre er eine Maschine und die Theologie keine moralische Disziplin mehr: "Id tarnen saltem voluntati nostrae relinquendum est, ut resistere, ac oblatam gratiam respuere possit; cum citra hoc moralitas plane extingueretur, ac homines machinarum instar ad supremum finem pertrahendi essent ... Non amplius tunc Theologia foret moralis disciplina, sed Physica, et operationes istae ex legibus motus essent definiendae." 277 Gott als Allwissender kennt die Entwicklung und den Ausgang aller Geschehnisse, aber er bewirkt diese nicht; er läßt den moralischen Kräften vielmehr ihren Lauf. Daß Christus durch die Bosheit der Juden umkommt, ist nicht Gottes Bestimmung, auch wenn er dies gewußt und zugelassen hat. Gottes Wille ist auf die Rettung der gesamten Menschheit bedacht. Wenn dieser Wille nicht zur Durchführung gelangt, ist dies in der Schuld der Menschen begründet, nicht aber in einer Anordnung Gottes, für die sich an keiner Stelle der Schrift ein Anhaltspunkt nachweisen läßt, deren Annahme vielmehr in den Vorurteilen und üblichen Wortverdrehungen der Menschen ihren Ursprung hat. Eine zwischen Lutheranern und Kalvinisten gemeinsame Fundamentaltheologie ist nur dann denkbar, wenn letztere die den Menschen zur Maschine degradierende Lehre vom absoluten Dekret bedingungslos fahren lassen: "Id igitur nullo modo dispicere possum, qua ratione ulla concordia, et unio inter Lutheranas et Reformatas Ecclesias sperari possit, quamdiu hae dogmati de absoluto decreto, ejusque consectariis ita mordicus inhaerent, idque utique inter expresse credenda referre, et primo loco inter Articulos, salutis nostrae oeconomiam explicantes, constituunt."278 Bevor die Reformierten in diesem Punkt nicht nachgeben, hält Pufendorf jede Nachgiebigkeit der Lutheraner auch in den untergeordnetsten Fragen für falsch. Man könne in Dingen wie Exorzismus, Oblaten, Bildern "und solchen bagatellen" zwar durch deren Abschaffung den Reformierten entgegenkommen, aber nur dann, wenn diese in der Prädestinationsproblematik "auf unsre meinung treten". "Solange aber als man mit nachgeben nichts gewinnet, und unser gemein volk nur verwirren würde, so halte ichs mit der meinung eines philosophi der statuirte, quod inter 277 Jus feciale, S. 239 f. Sehr aufschlußreich ist auch eine Äußerung an anderer Stelle: "Ex quo et illud (gemeint ist die Negierung der Mitwirkung der Menschen beim Bundesschluß. D. D.) adparet, omnem Religionem tolli, ac in nudum motum Physicum converti, si quis totum hominem pro nuda tantum machina, et quae alieno dun tax at impulsu moveatur, habeat ... " (Jus feciale, S. 940. 278 Jus feciale, S. 238 f.

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vitam et mortem nihil interest; und als dem ihm einer fragete, cur ergo non moreris verantwortete, quia nihil interest."279 Pufendorfs soeben zumindest in den Grundzügen nachgezeichneter fundamentaltheologiseher Entwurf führt sein so lange verfolgtes Ziel einer neuen vereinfachten, da allein auf biblischen Grundlagen beruhenden Theologie zu einem Abschluß. Ein zweites in "Jus feciale" dominierendes Element bildet die Analyse der Geschichte der konfessionellen Spaltungen und deren politischen Hintergründe. Auch hier setzt Pufendorf eine spätestens im "Monzambano" anhebende Linie der Diskussion fort. Das zeigt sich vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus. Pufendorf wiederholt die uns bereits bekannte Unterscheidung zwischen den lehrmäßig und den politisch-materiell bedingten Gegensätzen, die die Entstehung der Konfessionen zur Folge hatten. Während die zuerst genannten Streitigkeiten über die anvisierte Fundamentaltheologie behoben werden können, ist die zweite Form der Gegensätze nicht zu beseitigen, ist daher ein Zusammenschluß mit der katholischen Kirche von vornherein undenkbar. Die zwischen Protestantismus und Katholizismus strittigen Dogmen sind nicht als solche von Interesse, sondern indem sie die Macht und die Autorität des Papstes und des Klerus (scheinbar) begründen. Ein schon erwähntes Beispiel bildet die Transsubstantiationslehre. Alles Disputieren sei hier gänzlich sinnlos - der Bauch hat keine Ohren. 28o Sowenig ein König und seine Minister ihre Herrschaftsgewalt niederlegen und sich in die Reihen des Volkes zurückziehen würden, sowenig sei zu erwarten, daß der Papst und die katholische Hierarchie die Dogmen fahren lassen, auf denen ihre Macht beruht. Verhandlungen mit den Protestanten könnten daher aus der Sicht des römischen Stuhls nur mit dem Ergebnis der völligen Unterwerfung der "Rebellen" enden. Pufendorf stützt diese Auffassung durch eine Unterscheidung zwischen zwei Formen der Religion: Religio solida und Religio superficaria (§ 11). Der Katholizismus bilde den Prototyp einer oberflächlichen Religion, die sich in der Abwicklung leerer Riten und Zeremonien, die den ursprünglichen Geist des Christentums völlig überwuchert haben, erschöpft. 281 Den Mittelpunkt dieses Ritensystems bilde die Messe, deren Sinn darin besteht, dem Priester eine geradezu unüberbietbare Macht zu verleihen. Wer diesen grundsätzlichen Untersc~ied zwischen dogmatischen und 279 Pufendorf an Rechenberg, 24. 10. 1691 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 275 r). Inwieweit Pufendorf erhoffen konnte, mit seiner Fundamentaltheologie ein wirksames Argument in der Diskussion mit den Reformierten zu besitzen, müßte die Beschäftigung mit der Rezeption von "Jus feciale" ergeben. Seine eigenen Erfahrungen scheinen da nicht die besten gewesen zu sein, heißt es doch in einem Brief an Rechenberg, seine Theorie sei "einigen hiesigen reformirten verbracht worden, so ihnen aber gantz frembd vorkommen, und haben nichts darauf zu antworten gewußt." (Pufendorf an Rechenberg, 31. 1. 1691, UB Leipzig, Ms 0335, BI. 264" Varrentrapp, Briefnummer 19). 280 "Ac revera venter auribus caret." (Jus feciale, S. 32). 281 VgI. Pufendorfs Ausführungen in der "Einleitung ... ": "So hatte auch das Christentum selbiger Zeit eine elende Beschaffenheit. Die Welt war gantz in Ceremonien ersoffen; die bösen Münche herrscheten ungestrafft nach ihrem Muthwillen, die mit unaufflößliehen Stricken die Gewissen eingewickelt hatten." (1. Bd., S. 795.) 7 Döring

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politisch-materiell bedingten Gegensätzen, zwischen der wahrhaften und der oberflächlichen Religion verkennt, wird sich völlig sinnlos um das Betreiben von Unionsverhandlungen bemühen. Zur Illustration dieses Standpunktes behandelt Pufendorf in großer Ausführlichkeit, aber in einem ganz und gar ablehnenden Sinne die hauptsächlich von Gerhard Walter Molanus 1683 verfaßte "Methodus reducendae Unionis Ecclesiasticae inter Romanenses et Protestantes" . Das Ganze ist für Pufendorf nur ein "närrischer Vorschlag", 282 der wohl von den Autoren selbst nicht ernst gemeint gewesen sei. 283 Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht auch eine Äußerung Pufendorfs im Briefwechsel mit Landgraf Ernst. Dieser hatte Pufendorf nach seiner Kenntnis von Bossuets "L'Histoire des variations des Eglises protestantes" gefragt. 284 Man kennt die großen Hoffnungen, die insbesondere Leibniz in den französischen Bischof im Zusammenhang mit den Reunionsbemühungen jener Zeit setzte. Nichts verdeutlicht den Kontrast in der Haltung beider Denker zu diesen Verhandlungen besser als Pufendorfs Antwort an den Landgrafen: "Monsieur de Meaux ist außer zweifel ein habiler mann, der sonderlich das coeffiren und fardiren sehr wohl gelernet, und der sonderlichem die Mouchen artig zu schneiden und zu legen weiß, an die örther dasonsten keine rubinen sitzen. Dennen guten einfältigen Leuthen kan Er wohl einen blawen Dunst machen, die es nicht beßer wißen ... "285 282 Pufendorf an Rechenberg, 16. 12. 1690 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 262 r ): "Daß der närrische vorschlag solte von Calixto herkommen, weis ich nicht, weil es mir gegeben als ein tractatus von 2 Hanoverschen theologen, deren einen ich kenne." Zur "Methodus" vgl. Heinz Wiedemann: Gerad Wolter Molanus. Eine Biographie. 2. Bd. Göttingen 1929, S. 52 ff., s. auch S. 148. 283 V gl. Jus feciale, S. 78. 284 Landgraf Ernst an Pufendorf, 29. 4. 1690 (Gesamthochschulbibliothek Kassel, Ms. Hass. 248 3'. 2. " BI. 300'). 285 Pufendorf an Landgraf Ernst, 12./22.7. 1690 (s. Anm. 284, Ms Hass. 248 2°, m, BI. 152'). Wir haben bereits in anderen Zusammenhängen gesehen, daß Pufendorf gerade dem Landgrafen gegenüber immer wieder die Position des entschiedenen Lutheraners vertreten hat (s. S. 72, 80). Aufschlußreich ist daher eine Einschätzung Pufendorfs durch den Grafen, die dieser für sich selbst notiert hat: "Ich habe in langer Zeit keinen gegen unß so verbitterten Lutheraner gesehen, welches dann wohl schade ist, für einen dergestalt sonsten qualificirten Mann, aber, wie das Sprichwort lautet: auß den stärcksten Weinen wird auch der schärffste Essig." (Ms Hass. 248 2°, y, BI. 222'). Daß Pufendorf in dieser nüchternen Betrachtung religiöser Themen unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Bedeutung den Spuren Machiavellis folgt, ist deutlich. Die Unterschiede bleiben freilich erheblich, man denke nur an die letztliche Relativierung des Christentums bei Machiavelli (v gl. Hans-Joachim Diesner: Die Religion eines frühneuzeitlichen Staatstheoretikers. Machiavelli als religiöser Denker. In: Theologische Literaturzeitung, 114. Jg. [1989], Sp. 249 bis 256). Eine Abhängigkeit von Machiavelli ist Pufendorf von verschiedenen seiner theologischen Gegner vorgeworfen worden (Belege bei F. Palladini, Nr. 660). Die Abhängigkeit Pufendorfs von dem Machiavelli nahestehenden Francesco Guicciardini behandelt F. Palladini in einer anderen Untersuchung. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß Pufendorf in einem erheblichen Maße, gerade auch in seiner Darstellung der Reformationsgeschichte, von Guicciardini abhängig ist. Zu weit scheint mir jedoch die Schlußfolgerung der Autorin zu gehen: "Noi ... siamo convinti, e speriamo de averne convinto con questa ricerca anche i nostri lettori, che uno dei ,maestri' di Pufendorf in questo campo sia stato Guicciardini, e che il risultato di questa influenza sia stato, quanto

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Aber auch der Kalvinismus schneidet in Pufendorfs Ausleuchtung der historischen und politischen Hintergrunde der Religionsstreitigkeiten nicht gerade günstig ab. 2B6 Die Entstehung verschiedener protestantischer Kirchen sei darauf zurückzuführen, daß die Aufgabe der Reform von Theologie und Kirche an verschiedenen Orten durch verschiedene Personen in Angriff genommen worden sei. Luther habe mit der Durchführung der Reformation begonnen. Zwingli, Calvin u. a. seien ihm darin gefolgt, hätten jedoch durch die Entwicklung verschiedener Sonderlehren einen Zwiespalt in die gesamte Bewegung getragen, der das Vordringen der Reformation behindert und deren Gegner die Argumentation ermöglicht hätte, die Theologie der Protestanten sei vom Geist der Konfusion beherrscht (§ 61). Deutschland sei, soweit sich dort die Reformation durchsetzen konnte, dem Lutherthum gefolgt, das durch den Augsburger Religionsfrieden reichsrechtliche Anerkennung und Freiheit gefunden hätte. In diesem Moment habe jedoch die Verbreitung des Kalvinismus im Reich eingesetzt. Die sich daraus ergebenden theologischen Streitereien zwischen den protestantischen Parteien seien von den Katholiken ausgenutzt und geschürt worden. Das katastrophale Ergebnis dieser Entwicklung sei der Dreißigjährige Krieg gewesen. Die im Luthertum verbreitete Auffassung, seine positiven Seiten habe der Kalvinismus von Luther übernommen, seine Besonderheiten dagegen wären nur von Schaden, wird von Pufendorf lediglich referierend wiedergegeben. Daß dies aber sehr wohl auch seiner eigenen Meinung entspricht, verrät der Briefwechsel mit Rechenberg. Die Papisten selbst, heißt es am 29. 8. 1691, würden zugeben, daß die Reformation in der gesamten Welt obsiegt hätte, wenn sie im Sinne Luthers fortgeführt worden wäre. "Aber so führete der böße feind die bilderstürmerey und andre Clavinische wirrerey (?) dazwischen, daraus so viel bludvergießen in Niederlande und Frankreich entstunden . . . Denn wenn wir alle Lutherisch geblieben, wie wir von anfang warn, weren unßre sachen in weit beßren zustand. Aber durch der Calvinisten naseweisheit ist das schädliche Schisma in Teutschland eingerißen, welches unser gantzes wesen fast übern hauffen geworffen, und uns noch diese stunde schwächt. Zumahl ihr wesen und künsteln gar wohl hette unterwegen bleiben können, und alles was sie praeter Lutheri reformationem hinzugethan, theil irrig, theils nicht 3. heller werth ist."2B7 Zwar betont Pufendorf, daß er keinerlei Haß gegen die reformierte Kirche hege, daß er vielmehr durch kalvinistische Herrscher immer eine zuvorkommende Behandlung erfahren habe, 2BB dennoch ist sein Unbeall' ortodossia di Pufendorf' per parafrasare quel che il buon Pallavicino diceva di Grozio, un pensatore che pub chiamarsi ,piu tosto non cattolico che luterano'." (Nr. 569, S. 93). 2B6 ZU den innerprotestantischen Auseinandersetzungen um das eigene Geschichtsbild vgl. Leube (s. Anm. 258), S. 34 ff. 2B7 Pufendorf an Rechenberg, 29. 8. 1691 (VB Leipzig, Ms 0335, BI. 273 v ). Sehr ähnlich argumentiert Pufendorf in seiner "Einleitung zu der Historie der vornehmsten Reiche ... ", S. 805 f. 2BB Vgl. Jus feciale, § 61. Vgl. auch Pufendorfs lobende Schilderung der zu seiner Zeit in Heidelberg herrschenden friedlichen interkonfessionellen Verhältnisse in seiner "Apologie" (~ 6, S. 9 der Ausgabe Frankfurt / M. 1706). 7*

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hagen über das Vordringen des Kalvinismus in Brandenburg unverkennbar. Die Lutheraner würden von der Regierung ausgeschlossen, die fast ganz in den Händen der Reformierten läge. 289 Die von dem Frankfurter reformierten Theologen Johann Christoph Beckmann gegen den dänischen Hofprediger Masius verfaßte Schrift stößt auf Pufendorfs heftige Ablehnung, da Beckmann dort "den sehligen Lutherum greulich mit genommen" habe 290 und überhaupt immer wieder seinen Schriften "heimliches gift" gegen die "unsrigen" einfließen lasse. 291 Daß seine, Pufendorfs, dem Geheimen Rat mitgeteilte Ablehnung der BeckmannSchrift die Kritik des reformierten Hofpredigers Ursinus (Bär) gefunden hat, ist ihm unverständlich: "Allein ich finde ie länger ie mehr, daß unsre leute selbiger gattung nicht unbillig den titel der tockmäuser beygeleget. W olte nur sehen, daß er oder iemand anders mir deswegen was ins gesicht gesaget, ich solte ihm wohl begegnet haben." 292 Dabei erkennt Pufendorf aber durchaus, daß die unlautere Polemik auch von der anderen Seite ausgeht. Masius' Schrift, die die angeblich zur Aufruhr führenden Konsequenzen des Kalvinismus nachzuweisen versucht, wird von ihm nachhaltig abgelehnt. 293 Noch schärfer urteilt er über ein von dem Theologen Philipp Müller verfaßtes Pamphlet gegen die Ehe des lutherischen Herzogs von Sachsen-Zeitz mit einer reformierten Prinzessin. Nicht nur sei dieser Traktat "elend" und "confus", sondern vor allem "unerträglich von einem der unter einer Reformirten obrigkeit lebet, die aber ihn und andere ihre religion unverhindert exerciren läßet, und nicht mehr begehret, als daß sie lästern, schmähen und unnöthiges verdammen bleiben laßen mögen ... Am meisten aber thun sie uns schaden, die wir unter solcher obrigkeit leben, bey denen unser credit geschwächt, und den abgönstigen gelegenheit gegeben wird unsre leute zu calumniren als wenn so hitzige irraisonable Köpfe weren, die unmöglich sich mit iemand vertragen könten, der nicht eben in allen stücken von unserm sentiment ist." 294 Daß Pufendorf jedoch, trotz aller Vorbehalte den Reformierten gegenüber, an einer Annäherung der beiden protestantischen Konfessionen interessiert war, schon der gemeinsamen Abwehr der römischen Offensive wegen, zeigt ja bereits die Tatsache der Abfassung seines "Jus feciale", das zuerst und vor allem die Möglichkeiten einer innerprotestantischen Einigung abwägen sollte. Das gerade in Brandenburg beheimatete Bestreben nach einer Union der protestantischen Pufendorf an Rechenberg, 24. 10. 1691 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 274 v ). Pufendorf an Rechenberg, 2.5. 1691 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 270'). 291 Pufendorf an Rechenberg, 29. 8. 1691 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 273'). 292 Gleicher Brief wie in Anm. 291, BI. 273'. 293 Pufendorf an Thomasius, 18. 5. 1690 (KönigI. Bibliothek Kopenhagen, Thott 1276; Gigas, Briefnummer 20). Dies hat jedoch nicht verhindert, daß ein Unbekannter aus Pufendorfs Schriften eine Zitatensammlung zur ausdrücklichen Verteidigung der Positionen von Masius zusammengezogen und veröffentlicht hat: Aus den Schrifften des Herm Sam. Pufedorffi Kurtzer aber Gründlicher Beweis ... daß der Calvinismus mit einer Monarchi incompatible sey. Zu Bekräftigung der Warheit die D. Masius hievon in seinen Schrifften mit großem Fug und Recht verthädiget ... Zum Druck befordert von Einem Warheit Liebenden. Gedruckt Anno 1692. 294 Pufendorf an Thomasius, 4.2. 1690 (s. Anm. 293; Gigas, Briefnummer 19). 289 290

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Kirchen, welches freilich erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre des 17. Jh. festere Formen annahm, ist daher von Pufendorf durchaus wohlwollend, wenn auch, was die unmittelbaren Erfolgsaussichten betrifft, skeptisch betrachtet worden. Zwar sei die gegenseitige Toleranz nötig und möglich, jedoch erfordere eine Vereinigung mehr, nämlich eine gemeinsame dogmatische Grundlage, die, so das Ergebnis von "Jus feciale", nicht gegeben ist, solange die Kalvinisten an ihrer Prädestinationslehre festhalten. Im Moment lasse sich nicht mehr erreichen als das genaue Konstatieren dieses Tatbestandes: "Unsres Churfürsten intention ist wohl gut, aber es ist ein werck des friedens und der ruhe, davon man in itzigen Zeiten nicht gedenken kan. Ich halte auch die conciliation nicht für practicabel. Aber es ist genug, die possibilitet zu erweisen, und wo entlich der Knoten stecke. Gott stehe uns bey wieder dem Pabstumb, so müßte sich das andere entlich geben, aber mit der Zeit und pedetemptim; denn mit gewalt und auf einen plotz läßet sichs nicht tun." 295 Wir haben bereits gesehen, daß die Herausarbeitung eines die heilsnotwendigen Glaubensartikel enthaltenden theologischen Systems, das den interkonfessionellen Verhandlungen als Grundlage dienen soll, nur die eine Seite der theologischen Bemühungen Pufendorfs bildete. Neben der Lehre steht deren Bewährung im Leben der menschlichen Gesellschaft, das perfektibel ist, freilich nur dann, wenn die Gebote Christi ihre Umsetzung in der täglichen Praxis finden. Beide Seiten gehören zusammen: Eine lebensferne Dogmatik, der es nur um die Reinheit der Lehre geht, ist tot; eine Reduzierung des Christentums auf Moralvorschriften 295 Pufendorf an Rechenberg, 16. 12. 1690 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 262'). Vgl. auch den Brief vom 29.8. 1691: Es sei lächerlich, daß Seckendorf, Spener und er an einer Union der Protestanten arbeiten würden. Das sei wohl "das heiligste werck von der welt ... Aber man darf nicht bange seyn, daß unsre Zeiten solche glückseligkeit sehen werden." (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 273'). Pufendorfs insgesamt gesehen eher zurückhaltende Orientierung in der Frage der innerprotestantischen Einigung wird besonders deutlich, wenn man zum Vergleich die Stellung der von ihm besuchten streng orthodoxen Leipziger Universität zum gleichen Problem heranzieht. Von wünschenswerter Deutlichkeit ist da ein Schreiben der Theologischen Fakultät an den Kurfürsten, in dem über das Kasseler Religionsgespräch geurteilt wird (Universitätsarchiv Leipzig, Theol. Fak. 16, BI. 93' -115', o. D., wohl 1661/62, zum Kasseler Religionsgespräch s. Anm. 109): Die evangelische Kirche stände in der besten Blüte, wenn man in den Hauptpunkten der Lehre einig geblieben wäre. Die Irrtümer Zwinglis und Calvins hätten dies verhindert. Daß die Rinteler mit den Marburgem christliche Freundschaft geschlossen hätten, ginge wohl noch an, aber eine "Fratemitatem Ministerialem et Ecclesiasticam", also eine wirkliche Union sei unmöglich, solange die Reformierten bei ihren schweren Irrtümern blieben. Die verwerflichste Abweichung bilde die Prädestinationslehre. Es ginge auch nicht an, diese und andere Irrlehren der Calvinisten dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man sie für nicht fundamental erklärt. Überhaupt sei die Reunionsfrage nicht mit einem Schlage zu lösen, sondern nur allmählich, unter Heranziehung aller lutherischer Obrigkeiten und Theologen. Was Pufendorf von dieser Position unterscheidet, ist die Reduzierung der Streitpunkte von fundamentalem Charakter auf die Prädestinationsfrage, die Abschwächung der Bedeutung nichtfundamentaler Gegensätze (den Leipzigern zufolge können auch solche Differenzen auf das ganze Dogmensystem zerstörend wirken) und überhaupt eine tolerantere, weniger verbissene Haltung, die auch die Schwächen der eigenen Partei nicht verkennt.

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würde dessen Fundament letztlich zerstören, nämlich den zwischen Gott und Mensch durch Christus geschlossenen Bund, der ohne bestimmte dogmatische Aussagen nicht denkbar ist (s. S. 82 f.), wie andererseits bestimmte Lehrauffassungen, hier ist vor allem die kalvinistische Haltung zur Prädestinationsfrage gemeint, mit der geforderten praktischen Wirksamkeit des Christentums nicht zu vereinbaren sind. 296 Daß die Vervollkommnung des Zusammenlebens der Menschen das zentrale Thema der erneuerten Moraltheologie zu bilden habe, war von Pufendorf in seinem an Schomer gerichteten Brief mit Nachdruck gefordert worden. Auch im "Jus feciale" ist das Problem der Moraltheologie im Grunde genommen ständig präsent, wenn auch meist verdeckt hinter der Auseinandersetzung um die rechten Fundamentallehren der christlichen Religion und hinter der Abwehr der reformierten Prädestinationslehre. Beide Themen aber besitzen, wie eben gezeigt, eine unmittelbare Auswirkung auf die moralische Potenz des Christentums. Den ausführlichen Entwurf einer Moraltheologie hat Pufendorf jedoch, im Gegensatz zu der den Theologen bisher ja ebenfalls vergeblich abgeforderten Fundamentaltheologie, nicht geliefert. Die entsprechenden Ausführungen nehmen innerhalb des Werkes einen geringen Umfang ein (§§ 5356) und beschränken sich auf grundsätzliche Äußerungen und Andeutungen. Diese lassen sich bis zu einem gewissen Grade durch Pufendorfs Aussagen zum Pietismus ergänzen, die in der folgenden Darstellung berücksichtigt werden sollen. Pufendorfs föderaltheologisches Konzept besitzt auch in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition. Der Bund, den Gott durch Christus mit den Menschen schließt, hat nicht den Charakter eines normalen Vertrages (ich gebe, damit du gibst; ich tue dies, damit du jenes tust usw.), sondern entspricht eher einem Feudalkontrakt: Die eine Seite (Gott) gewährt der anderen Seite (den Menschen) aus reiner Gnade ein bestimmtes Gut (Vergebung und Versöhnung und damit die Wiedergeburt [regeneratio]), das diese nicht zurückzuerstatten hat Ua auch gar nicht kann), sie aber zu Dank, Glauben und Treue verpflichtet (§ 54). Die Frucht der Wiedergeburt ist die Heiligung (sanctificatio) des Lebens, die sich nicht nur im Ablassen von allem Schlechten dokumentiert, sondern auch im Tun des Guten. 297 Der wiedergeborene und geheiligte Mensch ist der homo novus, 296 Über das Verhältnis zwischen Lehre und Leben äußert sich Pufendorf sehr präzise in einem Schreiben an Thomasius: "Es kommt auch nicht bloß und allein ad honestatem vitae, et charitatem an, sondem es muß denselben ein recht fundamenturn fidei et doctrinae substemiret werden. Wer also von der religion vere sprechen will, der muß erstlich ein solidum, perspicuum, adaequatum et demonstrabile Systema articulorum fidei fundamention setzen, so man nicht mit dem munde allein her recitiren muß, sondern das auch in werck exprimiret werden muß; aut quod eodem redit, er muß nur erst fidem mit seinem obiecto recht definiren, der hemach durch die liebe thätig seyn muß." (24.3. 1691, s. Anm. 295; Gigas Nr. 23). 297 Vgl. Pufendorfs Kritik an Spegel Katechismusausgabe (s. S. 83 ff.), Glaube und Werk sind aufs engste miteinander verzahnt: "Unde et poenitentiam agere, et credere in Christum, et studere sanctimoniae vitae, seu virtutibus, actionibus, atque operibus

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der sich durch den Eifer um die von Pufendorf nur mit dem Verweis auf Bibelstellen angedeuteten christlichen Tugenden auszeichnet. 298 Dieser Eifer allein, und hier wendet sich Pufendorf nochmals ausdrücklich gegen die im Vergleich zu den christlichen Tugenden ganz unzulänglichen (insipida plane ac putida) Morallehren der Philosophen (§ 55, S. 196), bietet die Aussicht, das Glück des Menschen schon. auf dieser Erde zu verwirklichen: ,,sic quot curis ac molestiis supersedere homines possent, si res mundanas ad normam legis Christinae metiri nossent? Quam multis morbis ac debilitatibus carere, si diaetam, animique motus ad virtutes Christi anis commendatas componere cordi foret?" 299 Erst der Wiedergeborene, dessen Leben durch die christiana pietas bestimmt wird, ist befähigt, zur Ausformung einer Gesellschaft beizutragen (eine "Christianae pietatis cultura"), die ein anderes Bild bieten wird als die vom Jus naturale und Jus civile beherrschte Welt, nämlich eine Existenz in Frieden und Überfluß, wie wir sie bereits aus Pufendorfs Schreiben an Schomer kennen. Daß die Vernachlässigung des moralischen Elements der christlichen Religion der zeitgenössischen Theologie von Pufendorf zum Vorwurf gemacht worden ist, wurde in den vorangegangenen Ausführungen bereits angedeutet. Auch im "Jus feciale" klingt diese Kritik an: Die Theologen tragen nur Sorge um die Lehre, besitzen aber keinerlei Interesse an der Heiligung des Lebens (S. 190). Pufendorfs Stellung zum Pietismus ist von dieser Grundlage her zu verstehen, denn hier vollzieht sich für ihn die erwartete und geforderte Hinwendung des Christentums zur Aufgabe der Verbesserung des menschlichen Lebens in der Praxis: Der "streit de momento pietistico" ist "in fundo von höhrer importance" , als dies "das gemeine volk" zu verstehen vermag. "Denn es komt eigentlich dahinaus, ob man nicht dahin trachten soll, daß man das reine Evangelische Christenthum saltem in praxi avanciren möge, oder ob mans nach dem bißherigen schlendrian hingehen laßen sollen? Welches gar leicht zu decidiren ist. Niemand begehret neue articules fidei zumachen. Aber wer glaubet, daß man nicht viel dinge in praxi verbeßern solte und könte, der ist ein doctor Carpzov."300 Auch und gerade diese sich der Praxis zuwendenden Intentionen wurden von der lutherischen Orthodoxie, die sich für Pufendorf insbesondere in dem Leipziger Theologen Benedikt Carpzov verkörperte, mit Mißtrauen beobachtet, da man hier die Heterodoxien des Enthusiasmus und Chiliasmus zu wittern meinte. Die scharfe Kritik an dieser Haltung durchzieht fast die gesamte Korrespondenz Christiana vocatione dignis, ita invicem sunt innexa; ut unum absque altero consistere, et locum habere nequeat." (Jus feciale, S. 189.) 298 Ausgeführt werden: Caritas, Spes, Patientia, Humulitas, Mansuetudo, Proc1ivitas ad remittendas offensas et abstinentia a vindicta, Studium pacis, Studium precum, Temperantia, Castitas, Abnegatio sui ipsius, Adquiescentia in voluntate Dei, Autarkeia et adquiescentia in sorte divinitus assignata ac fuga avaritiae (S. 194 ff.). 299 Jus fecia1e, S. 197. 300 Pufendorf an Rechenberg, 20.7. 1692, Varrentrapp, S. 222. (VB Leipzig, Ms 0335, Bl. 280'.)

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Pufendorfs mit Rechenberg. So heißt es beispielsweise am 18. 11. 1690: "Über Carpzovij unsinnigkeit verwundere ich mich zum höchsten und daß er ehrlichen leute verdenken will, quod veliut professione melius. Es sagen ja alle priester zu ihren beichtkindern, sie sollen sich beßern und frömmer werden. Zum wenigsten perrnittiren diese solches. Müßte man also ins künftige secundum Carpzovium sagen: fahret nur so fort, wie ihr bißher gethan. Alzeit halte ich den für einen schlechten Christen, der nicht die contention hat, ut quotidie fiat melior." 301 Dementsprechend tritt Pufendorf für eine entschiedene Entgegnung der antipietistischen Angriffe ein; Spener und Francke seien hier viel zu lau: "Ich bin auch gentzlich der meinung, habe es auch Herrn Dr. Spener selbst gesagt, das die alzugroße gelindigkeit bey diesen grindigten köpfen nicht hilft. Wie denn auch Herr M. Franckes scripturn nur nimis languidum verkeret. Und wenn ich gleich Herrn Dr. Spenern nicht verdenken kan, daß er seiner gelinden art zuschreiben bleibet, so were doch nicht übel gethan, wenn ein andrer denen wiedersachern rechtschaffen die kolbe lausete."302 Was also die Sympathien Pufendorfs für den Pietismus weckt, ist vor allem die sich hier vollziehende Verlagerung des Schwergewichts innerhalb der Theologie von der Dogmatik zur Moral, ist die Forderung nach einem lebendigen Glauben, der auf eine Änderung von Kirche und Gesellschaft drängt. Man wird darüber hinaus unschwer bemerkt haben, daß sich eine ganze Reihe weiterer Parallelen zwischen bestimmten Grundzügen des Pietismus und Pufendorfs Auffassung von Christentum, Kirche und Theologie ergeben: die Forderung nach einem stärkeren Gewicht der Laien in Kirche und Theologie, die Kritik an der Verbindung der Theologie mit der aristotelischen Scholastik, stattdessen die Betonung eines strengen Biblizismus, die Zusprechung des Heils als inneres Erlebnis der Wiedergeburt, die Übernahme chiliastischer Hoffnungen, eine Relativierung der konfessionellen Gegensätze,303 die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche. Daß Pufendorf den pietistischen Strömungen seiner Zeit nahestand und auch in seiner Lebensgestaltung von ihnen beeinflußt wurde, bestätigt nicht zuletzt die schon öfters zitierte Leichenpredigt Speners, die gerade auf die soeben erwähnten Punkte besonderes Gewicht legt: Pufendorfs Drängen auf eine Verbesserung des Christentums "aller orten", sein Bestreben nach einem "lebendigen und liebreichen glauben" an Stelle eines "biossen wissens", sein zuversichtlicher Glaube an eine nahende Erneuerung der Christenheit, sein Trachten "in dem guten zuzunehmen und an sich zubessern", seine öffentlich und 301 UB Leipzig, Ms 0335, BI. 259'. 302 Pufendorf an Rechenberg, 29. 8. 1691 (UB Leipzig, Ms 0335, BI. 274'). Erstmals erwähnt Pufendorf den Pietismus in einem Brief aus dem Herbst 1689 (s. Anm. 179): "Die verfolger der pietisten möchten sich schämen". Am 1. 10. 1690 wundert er sich, "das der antipietistische wurm an einem so galanten ort (gemeint ist Leipzig. D. 0.) so stark grassiret" (Ms 0335, BI. 254'). Die weiteren Ausagen Pufendorfs zum Streit um den Pietismus können hier nicht alle aufgeführt werden. In seinen letzen Briefen richtet sich sein Unwillen besonders gegen Johann Friedrich Mayer in Hamburg. 303 Im Verhältnis zum Katholizismus bleiben sie bei Pufendorf zwar in voller Schärfe erhalten, nur werden sie jetzt weniger dogmatisch als vielmehr politisch begründet.

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privat geübte tiefe Frömmigkeit. 304 Es liegt auf der Hand, daß alle diese Verbindungen und Gemeinsamkeiten geeignet sind, die in den letzten Jahrzehnten von der Forschung nachdrücklich betonte enge Verwandtschaft von Pietismus und Aufklärung erneut zu bestätigen. 305 Wir werden in der Einschätzung der Pufendorfschen Theologie noch darauf zurückkommen. So sehr man sicher der These von der Gemeinschaft von Pietismus und Aufklärung im Grundsatz zustimmen muß, so sind doch zwei einschränkende Bemerkungen anzubringen. Untersuchungen, die sich mit dem Verhältnis großer kulturgeschichtlicher Phänomene (als solche sind Aufklärung und Pietismus zweifelsohne anzusprechen) zueinander beschäftigen, tendieren dahin, einseitig aus der Verfolgung übergreifender geistesgeschichtlicher Linien zu argumentieren. Dadurch entsteht die Gefahr, zu gunsten einiger gleichsam kanonisierter literarischer Spitzenwerke und ihrer Verfasser die konkrete Fülle und Breite der Entwicklung aus den Augen zu verlieren. Diese aber ist von Land zu Land, von Ort zu Ort, von Universität zu Universität, von Personenkreis zu Personenkreis verschieden. 306 Es besteht kein Zweifel, daß 304 Daß er täglich beten würde und auch seine Familie dazu anhielte, berichtet Pufendorf schon in seinem Brief vom 10. 1. 1676 an Klinger (s. Anm. 156). 305 Ich nenne stellvertretend hier nur die folgenden Arbeiten: Martin Schmidt: Der Pietismus und das modeme Denken. In: Pietismus und modeme Welt Witten 1974 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Band 12), S. 9-74. Walter Schmithais: Der Pietismus in theologischer und geistesgeschichtlicher Sicht. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Band 4. Göttingen 1979. S. 235 - 301. Seitens der marxistischen Forschung plädiert mit besonderem Nachdruck Siegfried Wollgast zugunsten einer engen Verbindung von Pietismus und Aufklärung, ja er spricht sogar von einer "pietistischen Linie der deutschen Frühaufklärung" und ordnet somit den Pietismus der Aufklärung unter (zuletzt in: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. Berlin 1988, s. bes. S. 896 ff.). Ich halte dieses Ausziehen einer pietistischen und einer "weltlichen" Linie der Aufklärung für bedenklich. Sie verkennt einmal die wesentlichen religiösen Dimensionen der "weltliehen" Aufklärung (s. gerade das Beispiel Pufendorfs) und läuft andererseits Gefahr, die Spezifik der angesprochenen Phänomene zugunsten ihrer selbstverständlich vorhandenen Gemeinsamkeiten zu verwischen. Im übrigen kann die Verwandtschaft bestimmter Anschauungen durchaus verschiedenen Wurzeln entspringen und muß nicht unterschiedliche Intentionen ausschließen. Wollgasts Charakterisierung der Frühaufklärung, die für alle in ihr vertretenen Fraktionen gültig sein soll, berücksichtigt dies nicht und orientiert sich vor allem in vielen Punkten einseitig an der "weltlichen" Linie der Aufklärung (S. 902 f.). 306 Arbeiten wie die von P. Mack (Pietismus und Frühaufklärung in Gießen) bilden noch eine Ausnahme. Daß die Forschungen zu der für die Frühgeschichte des Pietismus so ungemein bedeutungsvollen Universität Leipzig einen ganz unzureichenden Stand aufweisen, beweist schon die oben angedeutete völlige Vernachlässigung A. Rechenbergs, also einer Person von zentraler Bedeutung. Das Licht der universitätshistorischen Darstellungen fällt voll und ganz auf die spektakulären Ereignisse, die zur Vertreibung von Francke, Thomasius u. a. führten. Die einzig rühmliche Ausnahme bildet immer noch Hans Leubes "Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig" (Diss. von 1921, veröffentlicht in: H. Leube, Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Bielefeld 1975, S. 153 - 267). Leider hat Leubes Beginnen bis heute keine Fortsetzung erfahren. Eine brauchbare Darstellung der Frühaufklärung in Leipzig ist nicht vorhanden (Zur Forschungslage vgl. jetzt: Günther Wartenberg: Der Pietismus in Sachsen - ein Literaturbericht. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 13 [1987], S. 103-114).

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das aus solchen Untersuchungen sich ergebende Bild der jeweiligen speziellen Situationen auf das umfassende Porträt der Epoche eine auf stärkere Differenzierung zielende Rückwirkung haben wird. Solange uns also beispielsweise eine genauere Kenntnis des zueinander bestehenden Verhältnisses von Pietismus, Aufklärung und Orthodoxie in den für unser Interesse wichtigen Orten Berlin und Leipzig nicht zur Verfügung steht, sollte man generalisierende Aussagen mit Vorsicht formulieren. Andererseits ist die von der älteren Forschung stärker vertretene Hervorhebung der Gegensätze von Pietismus und Aufklärung 307 nicht ganz von der Hand zu weisen, beachtet man die von den Zeitgenossen selbst gesehenen Differenzen zwischen beiden Bewegungen. Bevor wir uns den wenigen in diese Richtung zielenden Bemerkungen Pufendorfs zuwenden, soll ein Blick auf die von Leibniz und Thomasius dem Pietismus gegenüber bezogene Stellung das Gemeinte verdeutlichen. Leibniz hat sich in dezidierter Art und Weise in einem Brief an seinen Halbbruder Johann Friedrich geäußert. 308 Sicher bestehe die Aufgabe, die Frömmigkeit zu stärken und zu fördern, jedoch müsse zugleich beachtet werden, daß sich unter der Hülle der Religion auch verdorbene Affekte (pravi affectus) verbergen können. Unter den Pietisten, Spener und Francke werden betontermaßen ausgenommen, finden sich durchaus solche von unlauteren Bestrebungen getriebene Demagogen, die durch ihr Wirken das Gemeinwesen in Verwirrung zu stürzen drohen: Aufputschen des Volkes durch die Verbreitung wunderbarer Stimmungen, Drängen zum Perfektionismus, prophetisches Gehabe, pharisäisches Sittenrichten. Es wird deutlich, daß es die radikaleren, auf eine breite Wirksamkeit bedachten Richtungen innerhalb des Pietismus sind, die Leibniz' Mißfallen erregen. Dies alles führe zum Verderbnis der Religion (Tantum 307 Ich verweise hier nur auf die Arbeiten von Herrnann Hettner (Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert), Wilhelm Dilthey (Leibniz und sein Zeitalter, vgl. auch die aus dem Nachlaß veröffentlichten Ausführungen zum Pietismus in Bd. VII der Werkausgabe, S. 342 ff.) und Ernst Troeltsch (Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit). 308 Die beiden bisher erschienenen Spezialuntersuchungen über Leibniz' Beziehung zum Pietismus berücksichtigen diesen Brief nicht. Zur Zeit der Veröffentlichung von E. Troeltschs "Leibniz und die Anfänge des Pietismus" (erschienen 1902, am leichtesten zugänglich in Band IV der Gesammelten Schriften Troeltschs, S.488-531) war er allerdings noch nicht publiziert worden. Troeltsch skizziert die Grundzüge des Pietismus und des Leibnizischen Denkens, berührt aber nur mit wenigen Worten die Stellung, die Leibniz zum Pietismus einnahm. Peter Baumgart (Leibniz und der Pietismus. In: Archiv für Kulturgeschichte, Bd.48 [1966], S. 364-386) beschränkt seine Ausführungen auf die Darstellung der Kontakte Leibniz' zu A. H. Francke und dessen vielfältige praktische Unternehmungen. Leibniz' Brief an seinen Bruder (3./13. 10. 1691) ist zuerst von H. Lehmann veröffentlicht worden. (Der Briefwechsel zwischen Spener und Leibniz. In: Jb. f. Brandenburgische Kichengesch., 14. Jg. [1916], S. 101-157, der Brief aufS. 123 ff., jetzt in A 1. 7, Nr. 388.) Lehmann ist auch Verfasser einer umfangreichen Studie über das Verhältnis zwischen Spener und Leibniz, die jedoch nicht veröffentlicht worden ist (Spener und Leibniz. Untersuchungen zur Vorgeschichte der die Deutschen Mission unter den Völkern tragenden Sozietäts gründungen des ausgehenden 17. Jh. [1932], von mir benutzt nach dem in der UB Leipzig befindlichen Manuskript dieser Arbeit [Ms 2685]).

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religio, sed male sana, malorum trahit). Die sich im Pietismus Ausdruck verschaffenden Tendenzen könnten nur dann von befruchtender Wirkung sein, wenn sie in feste Bahnen gelenkt würden, und zwar durch "viris probis et sapientibus qui pietatis curam attentius urgent". Ihnen ist die Sorge um die wahre Frömmigkeit zu übertragen; sie haben öffentlich und privat zu erklären, was unter der Wiedergeburt, unter den Graden der christlichen Perfektion zu verstehen ist; sie haben die "plebejos homines" zu mahnen, daß sie sich in ihrem Tun ständig Gott und die Nächstenliebe vor Augen zu halten hätten, niemanden schmähen dürften usw. Verbesserungen und Änderungen im religiösen Leben sind nicht über irgendwelche Konventikel zu betreiben, sondern über die "via regia", d. h. über die zur Beschäftigung mit diesen Fragen beauftragen viri probi und rectores Reipublicae. Gegenwärtig sei jedoch zu befürchten, daß der unüberlegte Eifer dem an sich begrüßenswerten Wollen des Pietismus schweren Schaden zufügen wird. Thomasius' Partner im Lager des Pietismus war weniger Spener als vielmehr August Hermann Francke. Verbündet und befreundet in den gemeinsamen Leipziger und ersten Hallenser Jahren, ist dieses Bündnis zwischen Aufklärung und Pietismus doch schließlich zerbrochen oder zumindest erheblich gestört worden. 309 Entbrannt ist der Streit an der Frage der rechten Pädagogik. 3IO Was Thomasius gegen Francke und damit gegen den Pietismus vorzubringen hatte, 309 Vgl. Liselotte Neisser: Christian Thomasius und seine Beziehungen zum Pietismus. Diss. Heidelberg 1928; August Nebe: Thomasius in seinem Verhältnis zu A. H. Francke: In: Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk. Hrsg. von Max Fleischmann. Halle 1931 (Beiträge zur Geschichte der Universität Halle-Wittenberg. 2. Band), S. 383 - 430. Nebe agumentiert voreingenommen: Thomasius habe an Francke allein "ätzende" bzw. "unfruchtbare" Kritik geübt. Treffender ist die Beobachtung von Ernst Bloch, Thomasius sei zwar von den "Intentionen auf praktisches Christentum" des Pietismus angezogen worden, habe aber dessen wachsende "mönchische Lebensfeindschaft" als immer abstoßender empfunden, ebenso auch die "hoch-überhebliche Unduldsamkeit" der Pietisten (Christian Thomasius. Ein deutscher Gelehrter ohne Misere. Berlin 1953, S. 14 ff.) Von einem "prinzipiellen Unterschied" zwischen Francke und Thomasius spricht Carl Hinrichs (Preußenturn und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiössoziale Reformbewegung. Göttingen 1971, S. 352 ff., hier auch eine ausführliche Darstellung der Auseinandersetzungen um das Pädagogium in Halle). Eine grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Thomasius und dem Pietismus betont Erik Wolf (Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte". Tübingen 1963\ S. 393 ff.) Vgl. auch Hans Hattenhauer: Christian Thomasius. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Band 8 (hrsg. von M. Greschat). Stuttgart 1983, S. 171-186 (zu Thomasius' kritischer Auseinandersetzung mit dem Pietismus S. 175 -181). Bienert (NT. 276, S. 152- 215) versteht dagegen den Streit zwischen Thomasius und Francke als zeitweiligen Richtungskampf innerhalb der großen Aufbruchsbewegung in die "christliche deutsche Neuzeit", die Aufklärung und Pietismus gleichermaßen umfaßt. Vgl. zum Thema zuletzt Stephen Buchholz: Christian Thomasius. Zwischen Orthodoxie und Pietismus - Religionskonflikte und ihre literarische Verarbeitung. In: s. NT. 312, S. 248 - 255. Bei allen (zeitweiligen) Gemeinsamkeiten habe sich Thomasius durch die Betonung der Theologiefreiheit der Sozialethik vom Pietismus grundsätzlich unterschieden. 310 Die folgenden Ausführungen stützen sich hauptsächlich auf Thomasius' Gutachten zu Franckes Entwurf der "Einrichtung des Paedagogii zu Glaucha an Halle" (Gutachten vom Januar 1699, veröffentlicht bei Nebe [so Anm. 309], S. 413-429).

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war der gesetzliche Zwang in Franckes pädagogischen Reformplänen, die dort vertretene geistige Bevormundung, die Züchtung von Pharisäertum und Heuchelei, die Verwerfung des Willens. 311 Der Hauptvorwurf richtet sich jedoch gegen das Erziehungsziel, gegen die Dominanz einer welt- und lebensfeindlichen, einen "mönchischen" Charakter tragenden religiösen Ausbildung, die Thomasius nur als Gegensatz zu dem von ihm verfochtenen Erziehungsziel des "scavant homme" verstehen kann, der sich sehr wohl innerhalb der Gesellschaft, insbesondere aber an den politischen Machtzentren, den Höfen, zu bewegen weiß, dessen Willen darauf gerichtet ist, dem Gemeinwesen nützlich zu sein. 312 Fassen wir nun wiederum Pufendorfs Verhältnis zum Pietismus ins Auge, so stoßen wir, wenn auch nur in Ansätzen, auf eine Kritik, die mit der von Leibniz und Thomasius durchaus verwandte Züge aufweist. Schon Pufendorfs ganzes Naturell, das sich vor allem in seinen Briefen in aller Plastizität zeigt, spricht gegen die Annahme, er habe den engen, konventikelhaften, wissenschafts- und kulturkritischen Zügen des Pietismus Sympathie entgegenbringen können. Das Bekenntnis Pufendorfs zur Ethik Epikurs 3I3 wäre doch wohl im Munde Speners oder Franckes ganz undenkbar gewesen. Man vergleiche Franckes Erziehungsschrift "Unterricht zur Gottseligkeit und Klugheit"314 mit Pufendorfs "Bedencken 311 Die Kultivierung des Willens mit dem Ziel der Selbstverwirklichung bildet für Francke die Hybris des sich seiner selbst mächtig dünkenden Menschen: "Am meisten ist wohl daran gelegen daß der natürliche Eigen Wille gebrochen werde. Daher am allermeisten hierauff zu sehen. Wer nur deßwegen die Jugend unterrichtet, daß er gelehrter mache, sieht zwar auff Pflege des Verstandes, welches gut aber nicht gnug ist. Denn er vegisset das beste, nemlich den Willen unter den Gehorsam zubringen ... " (Unterricht zur Gottseligkeit und Klugheit, zitiert nach folgender Ausgabe: A. H. Francke: Werke in Auswahl. Hrsg. von Erhard Peschke. Berlin 1969, S. 126). Auch für Thomasius ist der Wille die "radix mali" , aber es geht nicht darum, den Willen zu brechen, sondern darum, daß er den Menschen zur rechten Sittlichkeit führt (vgl. Klaus Schaller: Pietismus und modeme Pädagogik. In: Pietismus und modeme Welt [so Anm. 305]; Peter Menck: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Begründung und Intention der Pädagogik August Hermann Franckes. Düsseldorf 1969 [leider fehlt hier ein Vergleich Franckes mit der Pädagogik der Aufklärung], zum theologischen Hintergrund der Pädagogik Franckes vgl. Erhard Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes. 2 Bände. Berlin 1964 und 1966). Ausführlich handelt W. Schneiders (Nr. 312, S. 226 ff.) über die sich wandelnde Stellung Thomasius' zur Willensproblematik: Erst im Weisen vollzieht sich über eine optimale Mischung der Affekte ein Domestizieren des Willens, was der Vernunft die Möglichkeit einräumt, Normen zu entwickeln, die ihrerseits in der Lage sind, den menschlichen Willen zu bestimmen. 312 Über die kritische Stellung des Pietismus zur Wissenschaft vgl. Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit oder vom "allzu großen Mißtrauen in die Wissenschaften". In: Res Publica Litteraria (s. Anm. 79), S. 497 -523. Martens arbeitet zu recht aber auch die gleichfalls vorhandenen gegenläufigen Tendenzen heraus. 313 "Sonsten ist ohne Zweifel des Epicuri ethica beßer, als des Aristotelis seine. Aber der nahme Epicurus ist bey den idioten so verhaßet, daß man sich fürchten muß, Bileams pferd werde auf alle CantzeIn steigen, und predigen, wenn man was gutes von Epicuro sagte." (Pufendorf an Thomasius, 17.7.1688, S. Anm. 295; Gigas, Briefnummer 9). 314 Der vollständige Titel lautet: Kurtzer und Einfältiger Unterricht, Wie Die Kinder zur wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind, ehemals Zu Behuf

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wegen Infonnation eines Knaben": Nichts betont Francke stärker als die Dominariz der religiösen Erziehung, die Pflege der Frömmigkeit, die Hinführung zur Gottseligkeit, während die Beschäftigung mit der Wissenschaft nur insoweit Berechtigung besitzt, als sie in Fonn einer gottgefälligen Klugheit der Verfolgung des Hauptzweckes dienstbar ist. Nach Pufendorf besteht die "Fundamental-Regul" der Vennittlung wissenschaftlicher Bildung in dem Ziel, "daß man vennittelst der Studien geschickter werde zu Genen Geschäfften, dazu man etwa mit der Zeit möchte gebraucht werden."315 Zwar wird eingangs zuerst der Unterricht des Kindes in den christlichen Glaubenslehren gefordert, jedoch verlagert sich der Hauptakzent sogleich auf die Vennittlung gründlicher Kenntnisse auf dem Gebiet der Kirchengeschichte, um die Verquickung der Religion mit politischen Interessen zu erkennen, denn nur dann könne man "in diesen Zeiten für einen grundfesten Christen passiren."316 Wir besitzen jedoch auch direkte Äußerungen Pufendorfs, die seine Ablehnung des rigoristischen, weltfeindlichen Gebarens vieler Anhänger des Pietismus unter Beweis stellen. Im Gespräch mit den Rostocker Theologen heißt es: "Es wäre revera kein Pietismus sondern Ens rumoris: Was hin und wieder paßiret der Exceß mache kein Pietismus. e. g. daß in Leipzig etliche Studiosi alte angefreßene Collegia Metaphysica verbrand ... den daß wäre ihrem unverstand zu zu schreiben: welche da sie gehöret Ein Theologus müste von Jugend auff Erbar u. Heilig leben: sie der meinung worden: Man könte nicht heilig leben wo man nicht mit zerrissenen Kleidern und Mantel gienge. "3!7 Unangebracht erscheint ihm - der sich seit seinem 26. Lebensjahr allein in hohen und höchsten Kreisen bewegte, der Thomasius gegenüber den Vorrang des Lateinischen vor der deutschen Sprache verteidigte 3J8 - das Hineintragen der Auseinandersetzungen um den Pietismus in die breite Öffentlichkeit. 319 Überhaupt sei durch die pietistischen Streitigkeiten eine Erbitterung und ein Zank entstanden, der letztendlich nur den konfessionellen Gegnern zugute kommen würde. Daß er als eine der Ursachen dieser Auseinandersetzungen auch das anspruchsvolle Auftreten der Pietisten ansah, zeigt sein Gespräch mit den Rostokkern: Die Pietisten sollten als Geistbegabte (griech. Pneumatikoi, lat. Spirituales, Christlicher Informatorum entworffen. U. a. enthalten in der von E. Peschke besorgten Auswahlausgabe der Werke Franckes (s. Anm. 311). 315 Bedencken ... S. B. 316 Bedencken ... S. A 6. Charakteristisch ist die jeweilige Stellung zur antiken Literatur. Während Pufendorf besonders die Lektüre der Schriften Ciceros und Caesars empfiehlt, um "eines sothanen Knaben Stylum zu formiren" (B v), meint Francke, es habe ihm sehr geschadet, "daß ich die heydnischen Dinge ohne unterschied ergriffen und also mehr einen heydnischen als christlichen stylum führen lernete ... " (August Hermann Franckes Lebenslauf. In: A. H. Francke: Werke in Auswahl, s. Anm. 311, S. 9). 317 Amds Tagebuch in der UB Rostock, s. Beilage 9, S. 94. 318 Pufendorf an Thomasius, 31. 10. 1691. 319 "H. Speners programma stehet mir nicht an, und hatte er wohl die Kanßley bleiben mögen laßen, denn es schicket sich nicht, daß die wahrheit alle Zeit und von iedem gesagt werde. Man sieht auch hier nicht gerne, daß einer anlaß zu gezäncke giebt." (Pufendorf an Thomasius, 31. 10. 1691, s. Anm. 295, Gigas, Briefnummer 27).

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s. Anm. 320) Gal. 6 (Vers 1) entsprechend leben, d. h. Menschen, die einen Fehler begangen haben, mit Sanftmut begegnen. 32o "Das stünde noch bis dato in seiner bibel, obs aus ihrer ausgerissen wüste er nicht."321 Es versteht sich von daher gesehen fast von selbst, daß Pufendorf den radikalen Strömungen innerhalb des Pietismus erst recht skeptisch gegenüberstehen mußte. Ein Kapitel seines geplanten Buches über die Moraltheologie war ausdrücklich der Auseinandersetzung mit dem Enthusiasmus und dem Fanatismus bzw. mit den von ihnen ausgehenden Gefahren für Religion und Gesellschaft gewidmet gewesen. Noch in seinem letzten uns erhaltenen Brief an Rechenberg äußert er den Wunsch, daß "Speners jungste schrift dem pietistischen wesen ein ende machen wird."322 Vor allem die von Pufendorf immer wieder betonte Notwendigkeit des Festhaltens an einem verbindlichen System von Glaubenssätzen, dessen Fundament allein die Bibel zu bilden habe, mußte in Distanz zu allen subjektivistischen, sich auf Geistoffenbarungen berufenden Tendenzen geraten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Pufendorf, sieht man von seinem Verhältnis zu Spener ab, allein Vertretern der mit dem Pietismus sympathisierenden gemäßigten lutherischen Orthodoxie gegenüber ein hinreichendes Vertrauen faßte, sich über theologische Fragen zu äußern (Rechenberg, Schomer, theoretisch zumindest Lüdeke). Ein besonderes Vertrauen in theologischen Angelegenheiten brachte Pufendorf übrigens einem Nichttheologen entgegen, dem ehemaligen Kanzler Veit Ludwig von Seckendorf,323 den er nach der Beilegung einiger Differenzen (s. S. 65) seinen Briefpartnern gegenüber immer wieder mit Lob bedachte. Er müsse hoch anerkennen, heißt es in einem Schreiben an Rechenberg, daß sich Seckendorf "unserer Religion in einen solchen passu annimmet, da sie es dieser Zeit am meisten von nöthen hat, wo es Gerhardi Loci Communes und unseres seeligen Hulsemanns horribles latein nicht mehr thun will ... "324 Auch der von Pufendorf so geschätzte Spener vertritt ja bekanntlich innerhalb des Pietismus eine vorsichtige, auf eine Wahrung des überlieferten Lehrsystems bedachte Linie. Abgesehen von Spener und Francke werden in Pufendorfs Briefen keine weiteren Vertreter 320 "Lieben Brüder, so ein mensch etwa von einem feil vbereilet würde, so vunterweiset jn mit sanfftmütigem geist, die jr geistlich seid." (Lutherübersetzung nach der Ausgabe Wittenberg 1534). 321 Arnds Tagebuch in der VB Rostock, s. Beilage 9, S. 94. 322 Pufendorf an Rechenberg, o. D. (Anfang 1694), VB Leipzig, Ms 0335, BI. 281'. 323 Zu Seckendorfs Stellung zum Pietismus vgl. Ernst Lotze: Veit Ludwig von Sekkendorff und sein Anteil an der pietistischen Bewegung des XVII. Jahrhunderts. Diss. Erlangen 1911. Nach Lotze war Seckendorfs Beziehung zum Pietismus von ambivalenter Natur: Dem gemeinsamen Interesse an einem lebendigen und praktischen Christentum steht die Abneigung Seckendorfs gegen Mystik, Separatismus, Weltflucht und Schwärmerturn gegenüber. Zu Seckendorfs "Commentarius de Lutherianismo", auf den Pufendorf im folgenden anspielt, vgl. insbes. Dietrich Blaufuß: Der fränkische Edelmann Veit Ludwig v. Seckendorff (1626-1692) als Reformationshistoriker. In: Jb. f. Fränkische Landesforschung, 36 (1976), S. 81-9l. 324 Pufendorf an Rechenberg, 16. 10. 1688 (Staatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg, Seckendorf-Archiv, Nr. 1070, S. 353 f.).

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des Pietismus genannt, sieht man von zwei eher negativen Bemerkungen über Joachim Justus Breithaupt ab. 325 Interessant wäre eine Untersuchung, welche Beurteilung Pufendorf in pietistischen Kreisen gefunden hat. Leider fehlt es an einer entsprechenden Erschließung der vorhandenen Quellen. Hier können nur einige mehr zufällige Beobachtungen mitgeteilt werden. Daß Spener mit Pufendorf in einer engen persönlichen Verbindung stand, beweist allein schon die bereits mehrfach erwähnte Leichenrede Speners. Bemerkenswert ist, daß der Radikalpietist Hochmann von Hochenau, gegen den 1693 in Halle eine Untersuchung eingeleitet worden ist, Pufendorf einer Gruppe namentlich aufgezählter "rechtschaffener wiedergeborener Christen" zuzählt, der er die Klärung seines Falles anvertraut wissen möchte. 326 Andererseits ist damit zu rechnen, daß die theologischerseits verbreitete Ablehnung des säkularisierten Naturrechtsgedankens Pufendorfs auch in pietistischen Kreisen anzutreffen sein wird. Immerhin urteilte Johann Heinrich Horb, später Schwager Speners und der führende Kopf der Hamburger Pietisten, schon in den siebziger Jahren hart über Pufendorf: Dieser streue durch sein System des Naturrechts den Samen des Socinianismus mit vollen Händen ins Land. Auch sei er, wie man höre, ein Verteidiger der Polygamie. 327 Bezeichnend sind schließlich auch die Schwierigkeiten, auf die Johann Philipp Palthen, ein Verwandter Pufendorfs, stieß, als er an der Greifswalder Universität Fuß zu fassen suchte. Der Verdacht, er sei ein Anhänger der Pufendorfschen Naturrechtslehre, bringt ihn in Konflikt mit einigen dem Pietismus durchaus aufgeschlossen gegenüberstehenden Theologen. Der Dekan Gebhard habe sich, heißt es, Albertis "Compendium juris naturae" gekauft: "Da wird es nun über mich hergehen." Keiner wüßte hier, was Pufendorf gelehrt hat, aber man versuche ihn, Palthen, "illo invidioso nomine per compagnie odiös zu machen". Jakob Henning (ein von Spener geschätzter Theologe) verkünde bei jeder Gelegenheit, "Pufendorf sey ein böser Mensch gewesen, daß er viel Dinge in seiner morale gesetzet, die er sein lebtage in seinen LL. Comm.nicht fünde, und die per consequens nicht wahr seyn könten." 328 In einem Brief an Thomasius (31. 10. 1691) beklagt Pufendorf die dunkle SchreibBreithaupts und fährt fort: "Ich halte sehr viel darauf, daß man deutlich schreibe, und ist solches ein Zeichen, daß man in seinem Kopfe aufgereumet hat." S. Anm. 297. Ähnlich äußert sich Pufendorf den Rostockern gegenüber: Er zweifle nicht an Breithaupts Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, aber seine Darstellungsmethoden würden ihm mißfallen. 326 Vg. Heinz Renkewitz: Hochmann von Hochenau (1670-1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus. Leipzig 1935 (Breslauer Studien zur Theologie und Religionsgeschichte, 2. Band, S. 31 [dort auch die entsprechenden Quellenangaben]). 327 "Vidisti, ni fallor, Pufendorfii de lure Naturae Syntagma, quod Socinianismi plena manu spargit semina. Ferunt, hominem caeteroqui erudite doctum 1tOA:UYCqüaS defensionem haud ita pridem suscepisse." (Horb an Balthasar Bebei, 14.2. 1874. In: Deliciae epistolicae sive centura epistolarum, memoribilia, turn alia, turn in primis Theologica ac Historico-Ecclesiastica, complectentium. Ex Autographis edidit ... Jo. H. Seelen. Lübeck 1729, S. 364 f.). 328 Palthen an J. F. Mayer, 19. 1. 1695 (In: Adolf Hofmeister: Die Berufung Joh. Ph. Palthens nach Greifswald 1694. In: Baltische Studien. N. F. 35. Bd. [1933], S. 222 f.). 325

art

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2.2.5 Zusammenfassung Wir sind am Ende unserer Untersuchung angelangt und es gilt, das Ergebnis zusammenzufassen. Von zentraler Bedeutung scheint mir die Erkenntnis zu sein, daß Pufendorf trotz der vollzogenen Säkularisierung des Naturrechtsgedankens an der Vorstellung von einer Überhöhung dieses rein weltlichen und daher für alle Menschen gültigen Naturrechts durch die christliche Erlösungsreligion und die an sie geknüpfte Moraltheologie festhält. Unter der Herrschaft des Naturrechtes kann bestenfalls ein halbwegs erträgliches Zusammenleben gewährleistet werden, aber niemals wird die Welt die ihr mögliche Perfektion, an die Pufendorf auf Grund der göttlichen Prophezeiungen glaubt, erreichen. Dies wird erst dann geschehen, wenn die Menschen der Morallehre Christi, die eine andere, eine höhere Qualität aufweist als die Vorschriften des Naturrechtes, folgen. Das Christentum erhält damit bei Pufendorf sein Zentrum in der Ethik; die Dogmatik ist nur insofern von wirklicher Bedeutung, als sie eine notwendige Grundlage der Ethik bildet. Es stellt sich damit die Frage, in welchen Beziehungen Pufendorf zu den seine Zeit bestimmenden geistigen Strömungen der lutherischen Orthodoxie, des Pietismus und der Frühaufklärung stand. Nach allem Gesagten kann kein Zweifel bestehen, daß sich Pufendorf in allen wesentlichen Aussagen der christlichen Lehre auf dem Boden der lutherischen Orthodoxie seiner Zeit bewegte. Das seit Augustin und Anselm überkommene Dogmensystem besitzt in allen seinen Hauptstücken (Trinität, die zwei Naturen Christi, die Erbsündenlehre, die Satisfaktionslehre usw.) selbstverständliche Gültigkeit. Daß eine rationalistische Theologie sich daran versucht, diese Lehrpunkte, die sich dem Begreifen des menschlichen Verstandes verschließen, aufzuweichen und auszumerzen, ist Pufendorf ein Greuel. Die Ubiquitätslehre und die sich daraus ergebende Realpräsenz Christi im Abendmahl wird von ihm durchaus angenommen. Die Auffassung von der totalen Verderbnis der menschlichen Natur infolge der Erbsünde ist ihm ein gegen alle Abschwächungen (z. B. zur bloßen schlechten Begierde) zu verteidigendes Grunddogma (hier auch eine Parallele zum Pietismus). Die protestantische Rechtfertigungslehre wird gegen alle katholisierenden Tendenzen geschützt (s. auch Exkurs über Pufendorf und Pfeiffer). Selbst bei den Adiaphora will er den Reformierten nur dann entgegenkommen, wenn sie in den Hauptpunkten der dogmatischen Gegensätze zur lutherischen Position übertreten. Dennoch hat sich ein entscheidender Wandel vollzogen: das christliche Lehrsystem gründet sich spätestens seit den Tagen des Origenes auf eine enge Verkopplung mit der Philosophie, die auch im Luthertum nach dem Abebben seiner religiösen Aufbruchsphase ihre Erneuerung fand, indem man sich an die aristotelische Schulphilosophie zu binden suchte. Für Pufendorf ist diese Philosophie, ihre Logik und Metaphysik schlicht und einfach ein unverständlicher Nonsens, von dem sich die christliche Religion zu trennen hat, um sich allein auf die Offenbarung und auf den gesunden Menschenverstand zu gründen. Daß Pufendorf dennoch an dem überlieferten Dogmensystem festhalten kann, hat zwei Gründe: 1. Sein

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unbedingter Glaube, diese Dogmen klar und deutlich der Bibel entnehmen zu können und sein Vertrauen in die Vernunft, mit Hilfe der mathematischen Methode die der Schrift entnommenen Glaubenselemente in die strikte Aufeinanderfolge eines geschlossenen Systems bringen zu können, das dann im wesentlichen dem lutherischen Bekenntnis entspricht. 2. Erst der wiedergeborene, sein Leben heiligende Mensch ist in der Lage, den christlichen Tugenden entsprechend zu leben. Voraussetzung dieser Erneuerung ist der Bund mit Gott über den Mittler Jesus Christus, der wiederum das Abkommen zwischen Gott und Christus zur Voraussetzung hat. Diese Soteriologie ist nur auf der Grundlage des überkommenen Lehrsystems denkbar. Was jedoch hinwegfällt, das ist die Beschäftigung mit der philosophischen Begründung jener Lehraussagen, was als reine Neugier abgetan wird. Es ist der Abschied von der scholastischen Methode der rationalen Durchdringung der christlichen Heilsartikel. Noch Leibniz sah bekanntlich in dem Nachweis der Denkmöglichkeit dieser Artikel eine seiner zentralen Bestrebungen (s. Exkurs über Leibniz' Stellung zum "Jus feciale"). Statt dessen geht es um die Bedeutung des Christentums für die Gestaltung des menschlichen Lebens, angefangen von der privaten bis hinauf zur politischen Ebene. So wie sich jedoch die Dogmatik von der Last der Metaphysik zu befreien hat, so soll sich die Ethik von der Fessel der aristotelischen Tugendlehre lösen, um sich zu einer eigenständigen, d. h. biblisch begründeten Morallehre zu entwikkeIn. In deren Umsetzung in die Praxis des täglichen Lebens liegt die Chance, die Welt dem Ziel ihrer Vervollkommnung zuzuführen. Pufendorf hält unbedingt an der Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben fest, aber der Schwerpunkt seiner Argumentation liegt doch bei den Wirkungen, bei den Früchten des Glaubens. Das wachsende Insistieren auf das Streben nach einer Verbesserung der Welt, die Betonung des Lebens gegenüber der Lehre, die Ablehnung der philosophisch- metaphysischen Spekulationen, der entschiedene Biblizismus sind Elemente, die Pufendorf in die Nähe des sich herausbildenden Pietismus rücken. Folgerichtig hat er dessen Auftreten mit Genugtuung begrüßt, freilich allein in seiner konservativen, von Spener geprägten Form, wie ja Pufendorf überhaupt in fast allen theologischen und konfessionspolitischen Fragen Spener sehr nahe stand. 329 Allen weiterführenden Tendenzen innerhalb des Pietismus mußte er dagegen mit Skepsis begegnen: Hier lauere die Gefahr der Auflösung des fundamenturn fidei et doctrinae durch einen Subjektivismus, der die Objektivität des Heilsgeschehens zu einem bloßen inneren Vorgang umformte. Auf Ablehnung stoßen mußten auch die weltflüchtigen, kulturverneinenden, auf eine dualistische Scheidung der Menschheit tendierenden Bestrebungen innerhalb des Pietismus, die in Pufendorfs Augen politisch bedenkliche, in religiöser Hinsicht 329 Über die Stellung des Pietismus innerhalb der Gesellschaft Brandenburg-Preußens, die in ihren Auswirkungen vielfach Pufendorfs Intentionen entgegenkam vgl. Klaus Deppermann: Der hallische Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.) Göttingen 1961. Hier sind auch die Parallelen zwischen den Positionen Pufendorfs und Speners leicht erkennbar.

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lieblose, letztendlich lebensfeindliche quietistische Folgerungen zeitigen müssen. In dieser ambivalenten Haltung zum Pietismus ist nicht nur das Erbe der lutherischen Orthodoxie in Pufendorf lebendig, sondern auch die einsetzende Aufklärungsbewegung. Schon seine Betonung der Notwendigkeit historischer Studien zum wirklichen Verstehen der konfessionellen Gegensätze entspricht dem Geist der heraufkommenden Epoche: Nicht die Beschäftigung mit dem "aberwitzigen Gezänk" der Theologen führt uns in das Verständnis jener Auseinandersetzungen, sondern die Vertiefung in die Kirchengeschichte. 33o Überhaupt scheint es fast so, als ob Pufendorf die entscheidende Ursache für die Kirchenspaltung des 16. Jh. eher in den steigenden Machtansprüchen der Päpste gesehen hat, weniger aber in den neuen Glaubenserkenntnissen der Reformatoren. 331 Die Schwerpunktverlagerung von der Dogmatik zur Ethik ist wiederum Aufklärung und Pietismus gemeinsam. Was jedoch Pufendorfs Theologie von der der Radikalpietisten trennt, hätte ihn auch gegen das Christentum der Aufklärung des 18. Jh. Front beziehen lassen, nämlich die in dessen Konsequenz liegende Auflösung des ganzen überkommenen dogmatischen Systems. Die christliche Religion wäre dann am Ende nur noch eine Morallehre (so Pufendorf gegen die Sozinianer und verwandte Richtungen, s. den entsprechenden Exkurs), die sich ganz im Rahmen des menschlichen Verstandes bewegt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch Pufendorfs hartnäckiges Ankämpfen gegen die kalvinistische Prädestinationslehre, obwohl doch diese, so nach Pufendorfs eigener Erklärung,332 in seiner unmittelbaren Umgebung - in dem von einem reformierten Herrscherhaus regierten Brandenburg - kaum eine größere Rolle spielte. Wenn hier Pufendorf dem Beispiel der lutherischen Kontroverstheologie folgt, die im Laufe des 17. 330 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung. Frankfurt / M. 1988, S. 31 ff. In ähnlicher Weise lehnt Thomasius jegliche spekulative Philosophie ab, an die nunmehr nur noch historisch herangegangen wird. 331 Hier eine deutliche Parallele zu Calixt (s. Schüssler [so Anm. 360, S.69]; vgl. auch F. Palladini [Nr. 660, s. Anm. 285 der vorliegenden Arbeit]). Unsere Aufassung wird durch die Darstellung der Reformation in der "Einleitung ... " bestätigt. Auf die neue Theologie der Reformatoren wird hier kaum Bezug genommen. Alle Vorgänge erscheinen allein als Kampf gegen die Irrtümer und Mißbräuche der völlig verderbten päpstlichen Kirche. Der Streit zwischen Erasmus und Luther um den freien Willen wird bezeichnenderweise als ganz untergeordneter Vorgang erwähnt: ". .. war auch eine Materie, die nicht eben das Haupt-Werck antraff ... " (S. 798). Zu berücksichtigen ist auch die im 2. Bd. zur "Einleitung" abgedruckte Auseinandersetzung Pufendorfs mit Antonie Varillas (S. 867 ff.), der den Reformatoren ausschließlich weltliche Interessen zugeschrieben hatte. In der Erwiderung beschränkt sich Pufendorf ganz darauf, das Vorgehen der politischen Mächte gegen die korrupte römische Kirche zu rechtfertigen, obwohl sich gerade hier angeboten hätte, auf die religiöse Dimension der Geschehnisse einzugehen. Vgl. auch E. Seeberg (Nr. 589, S. 319). 332 Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Konfessionen in Brandenburg hätten sich um den Exorzismus und um die Ubiquitätslehre gedreht. Die "andem articul de gratia et praedestinatione haben sich nach der hand eingeschlichen, dann auch die meisten alhier nicht sehr rigoureux seyen." (Pufendorf an Landgraf Ernst, 8./18. 7.1690, Gesamthochschulbibliothek Kassel, Ms Hass. 248 2° m, BI. 149v ).

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Jh. der Prädestinationsfrage immer breiteren Raum gewährte, so ist doch seine heftige Reaktion, die das Prädestinationsproblem geradezu zum Dreh- und Angelpunkt des gesamten theologischen Systems macht, wohl nur dann zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß die Lehre von der völlig souveränen Erwählung und Verwerfung des einzelnen durch Gott von dem sich herausbildenden modernen Menschen des Aufklärungszeitalters als eine besonders unerträglich erscheinende Zumutung empfunden werden mußte: Gott ist Liebe und Christus wurde allen Menschen gesandt. Das ist letztendlich auch der Inhalt von Pufendorfs Bundestheologie, die sich als adäquate Wiedergabe der ewig gleichen Botschaft der chrIstlichen Religion versteht. 333 Gott ist nicht der willkürliche Herrscher der im Kalvinismus erneuerten augustinischen Prädestinationslehre, sondern er geht, freilich aus freien Stücken, im Bundesschluß mit den Menschen eine Bindung ein (s. S. 102 über Pufendorfs Vergleich des Bundesschlusses mit einem Feudalkontrakt). Der Mensch wiederum ist in der Lage, auf diesen Bund einzugehen oder ihn zu verwerfen, während er bei den Kalvinisten zu einer äußeren Impulsen folgenden Maschine wird. 334 1. Exkurs: Pufendorfs Stellung zum Atheismus, Sozinianismus und Spinozismus

Während die konfessionellen Gegensätze die politische Szenerie in Europa ein letztes Mal in einem bedeutsamen Maße bestimmten und die Gemüter der Menschen in einem später nicht mehr anzutreffenden Grade beherrschten, während innerhalb der protestantischen Kirchen (ähnliche Prozesse vollzogen sich zur gleichen Zeit im Katholizismus) die Orthodoxie mit neuen, auf eine stärkere innere Verlebendigung des Glaubens abzielenden Strömungen zu ringen hatte, wetterleuchtete am Horizont bereits eine ganz andere, so bisher nicht gekannte Infragestellung des christlichen Glaubens, nämlich der Abfall von ihm selbst. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, daß es bei den Auseinandersetzungen um den Atheismus, die damals in großer Breite erfolgten, seltener um Erscheinungen der völligen Leugnung der Religion ging, sonder öfters um Phänomene, die im Umkreis des sogenannten linken Flügels der Reformation ihren Ursprung haben, wenn der Begriff Atheismus nicht überhaupt als reine Kampfformel der Polemik Verwendung fand. 335 Es ist bekannt, daß die Widerlegung des Atheismus nicht 333 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Randbemerkung Pufendorfs auf einen an Rechenberg gerichteten Brief: "Meine hypothsis de foedere stehet meists in der Liebe ... Es ist gar nichts neues oder gefährliches darunter." (Brief vom 17. 3.1691, UB Leipzig, Ms 0335, BI. 268'). 334 Die Wiederbelebung der Prädestinationslehre in ihrer strengen Form in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit ändert nichts an ihrer grundSätzlichen Fremdheit für das modeme Empfinden. Hier ergibt sich übrigens ein weiteres Element der Abgrenzung dem Pietismus gegenüber, insoweit dieser sich Vorstellungen öffnet, die zum Bereich des Prädestinationsgedankens zählen (z. B. Annahme eines Gnadentermins). 335 Über den Kampf der Theologie des 17. Jh. gegen den Atheismus informiert am ausführlichsten die materialreiche, vorzügliche Studie von Hans-Martin Barth: Atheismus

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allein seitens der Theologen als Aufgabe betrachtet wurde, sondern auch in den Reihen der sich fonnierenden Aufklärungsbewegung Aufmerksamkeit fand. Gottfried Wilhelm Leibniz bildet das berühmteste Beispiel. Wenn nun auch Pufendorf der Bekämpfung des Atheismus keine eigenständige Abhandlung gewidmet hat, so sind doch andere, insbesondere die Theologen, von ihm dazu aufgefordert worden, sich diesem Thema zuzuwenden. 336 Die Abfassung seines "Jus feciale" schließlich ist, wie wir bereits gesehen haben, nicht zuletzt durch den als Aufgabe empfundenen Kampf gegen den Atheismus motiviert worden. Das entwickelte theologische Fundamentalsystem soll nicht nur die tragfähige Grundlage für einen Zusammenschluß der protestantischen Kirchen bilden, sondern zugleich auch der Abgrenzung allen "Fanatikern" gegenüber dienen. Denn es ist für Pufendorf deutlich, daß jene mit ihren Lehren das Fundament des christlichen Glaubens verletzen und daher mit aller Kraft zu bekämpfen sind. Dies wird freilich nur dann deutlich, wenn man sich auf ein klares, das Heil sichernde Fundamentalsystem der christlichen Religion stützen kann. 337 Dieses ist auf den oben skizzierten Grundlagen zu errichten, nicht aber auf der Basis des Apostolischen Glaubensbekenntnisses oder ähnlicher "laxer Fonneln".338 Zwar würde sich darin jede Sekte wiedererkennen, aber es wäre gleichsam das Ende der christlichen Theologie und in der letzten Konsequenz auch das Ende des Christentums überhaupt, denn die Gleichgültigkeit in Fragen des Dogmas fördere die Tendenz, "aus der Christlichen Religion nichts anderes als eine nette ,Philosophiam Moralern' zu machen" (Beschreibung der geistlichen Monarchie ... , s. Anm. 207, S. 870). Auch im "Jus feciale" wird dieses Thema aufgegriffen: Die enonne Anziehungskraft des Sozinianismus auf die Weltmenschen (profanes homines) bestehe in der hier vollzogenen Reduzierung der Religion auf das dem und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jh. Göttingen 1971. Zu bemängeln ist jedoch, daß Barth die Tendenz verfolgt, Atheismus und Aufklärung schlicht zu identifizieren. Von einer "gewaltigen Kesselschaft" der beginnenden Aufklärung gegen Christentum und Religion kann m. E. nicht gesprochen werden. Auf die umfassenden Werke von Fritz Mauthner (Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland) und Hermann Ley (Geschichte der Aufklärung und des Atheismus) sei hier nur hingewiesen. 336 Vgl. Pufendorfs Gespräch mit den Rostocker Theologen: "Die Theologi solten sich nur angelegen seyn laßen die Socinianer und Atheos zu refutieren (aber weit gefehlt)." Im "Jus feciale" (§ 14) wird die Forderung erhoben, daß alles daran gesetzt werden solle, die Irrtümer der Socinianer und der ihnen Nahestehenden zu widerlegen. S. auch S. 74. Zur Bedeutung des Kampfs der Aufklärung gegen den Atheismus vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, passim, insbes. S. 53 ff. Das Hauptargument der theologischen Gegner der Aufklärung sei gewesen, daß diese letztendlich in den Nihilismus führen würde. Diesen Verdacht von sich zu weisen, sei für die neue Weltanschauung daher eine Überlebensfrage gewesen. 337 Vgl. Jus feciale, §§ 3 u. 14. 338 Jus feciale, § 14 (S. 81 f.). Pufendorf könnte hier selbstverständlich an Georg Calixt und seinen "consensus quinquesaecularis" gedacht haben. Zur möglichen Berührung Pufen.dorfs mit den Ideen Calixts vgl. Anm. 205. In der Bibliothek Pufendorfs lassen sich sechs Bücher Calixts nachweisen.

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Verstand Faßbare und in der Minderung der ethischen Anforderungen auf die dem Menschen angeborene natürliche Bestrebung nach einem ehrenhaften und ruhigen Leben (S. 81). Was bleibt, ist eine sich selbst genügende bürgerliche Moral, fernab von allen religiösen Begründungen. Was Pufendorf dem Atheismus als solchem entgegenzuhalten hat, ist der üblichen Argumentation seiner Zeit entnommen: die Bezeugung des Gottesglaubens bei allen Völkern (consensus gentium), der kosmologische Beweis (Gott als prima causa), der physikotheologische Beweis. Um bestehen zu können, müßten die Atheisten nicht nur diese Argumente widerlegen, sie müßten vielmehr auch ihre Thesen mit überzeugenden Gründen vertreten können. Zudem läge es an ihnen, den Beweis anzutreten, daß das menschliche Geschlecht durch das Bekenntnis zum Atheismus zu einem besseren Leben gelangen könne als durch die Verehrung Gottes. Dieser Beweis sei jedoch schlechterdings nicht zu erbringen. 339 In "De jure naturae et gentium" verknüpft Pufendorf diese generellen Feststellungen mit einer ausführlichen kritischen Auseinandersetzung mit Hobbes' Stellung zum Atheismus. 34o Dieser hatte den Atheismus als Ausdruck der Unklugheit bzw. der Unwissenheit definiert, d. h. es handelt sich in Hobbes' Augen hier um kein Verbrechen. Der Atheist könne daher auch nicht wegen der Verletzung der Gesetze der Gottesverehrung belangt werden, hat er sich doch diesen niemals unterworfen, sondern muß als äußerer Feind bekämpft werden. Pufendorf hält dagegen, daß die oben erwähnten Beweise für die Existenz Gottes in einem solchen Grade evident seien, daß der Atheismus nicht mit Unkenntnis oder Einfalt zu erklären ist, sondern allein aus dem Wahn einer leichtfertigen Weisheit (non per imprudentiam aut simplicitatem, verum ex petulanti sapientiae persuasione).341 Daher sei es auch nicht angängig, die Behauptung aufzustellen, der Atheist sei nicht der Herrschaft Gottes unterworfen. Niemand könne sich der potentia Dei entziehen, der alles und jedes untergeordnet ist. Der Atheist sei daher kein Feind, sondern ein Rebell, dem das crimen laesae majestatis anzulasten sei. Dem Atheisten gegenüber ist daher auch keine Toleranz denkbar, würde dies doch die hoffnungslose Zerrüttung der Gesellschaft nach sich ziehen: Ohne Religion gibt es kein Gewissen, was in der Konsequenz dazu führt, daß dem Verbrechen Tür und Tor geöffnet wird. 342 Pufendorf geht es jedoch nicht nur 339 De officio hominis et civis, Caput IV, § 2. 340 De jure naturae et gentium, Lib. III, Cap. IV, § 4. Pufendorf bezieht sich hier auf: Thomas Hobbes: De cive, Cap. 14, § 19. 341 S. 353 der von mir benutzten Ausgabe Frankfurt / M. 1706. Auch in diesem Zusammenhang greift Pufendorf auf das Thema der Verbindung zwischen Philosophie und Theologie zurück. Hobbes hatte bestritten, daß jedermann mittels der natürlichen Vernunft Gott erkennen könne. Dagegen argumentiert Pufendorf abschätzig: "Equidem fortasse artificiosam et philosophicam de DEI existentia demonstrationem eruere aut capere non cujusvis idiotae fuerit. Non tarnen ideo cuipiam impune de DEO dubitare, aut eundem abnegare licebit." Es folgen die bereits erwähnten Gottesbeweise. 342 Vgl. De habitu religionis Christianae ad vitam civilem, § 48. Auf die ausführliche Analyse dieser Schrift stützt sich die Arbeit von Friedrich Lezius (s. Nr. 584).

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um den Schutz der natürlichen Religion, vielmehr erstreckt sich seine Forderung nach einer Beschränkung der Toleranz auch auf das Gebiet der geoffenbarten Religion. 343 Denn nur wenn es um Lehrfragen geht, die nicht die Fundamente des christlichen Glaubens berühren, ist ein Tolerieren vorstellbar. 344 Ist daher schon eine Hinnahme der kalvinistischen Prädestinationslehre nicht möglich, 345 so gilt dies noch viel mehr für die Sozinianer und ihre Leugnung der Trinität, da mit ihr die christliche Religion schlechterdings steht und fällt, ist doch ohne sie die Erlösung und Erneuerung des Menschen ein unvorstellbarer Vorgang. 346 Im übrigen seien alle diese Gruppierungen schon deshalb zu unterdrücken, da sie Unfrieden in die Gemeinschaft tragen, vor allem aber Auffassungen vertreten, die der staatlichen Macht Abbruch leisten. 347

343 Im "Jus feciale" (§ 92, S. 372) klagt Pufendorf, daß die religiöse Toleranz in Holland viel zu weit gehe; innerhalb der verwendeten Religionsdefinitionen bliebe kaum noch etwas Christliches. Vgl. auch die in "De habitu" gutgeheißene Verfolgung der ,heidnischen' Religionen" (§ 48). 344 Dabei ist zu berücksichtigen, daß Pufendorf zwischen einer kirchlichen und einer politischen Toleranz unterscheidet (v gl. Jus feciale, §§ 4-6). Das folgende bezieht sich auf die kirchliche Toleranz. 345 Pufendorf begründet dies in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem reformierten Theologen Pierre Jurieu (Jus feciale, § 92). Zwar wolle er niemanden nur deswegen das Heil absprechen, weil er das absolute Dekret vertritt, aber es werde eben dadurch die christliche Theologie in ihrem Fundament verletzt (s.o.). Ein solcher Irrtum auf dem Gebiet der Religion, dessen furchtbare Konsequenzen von den Lutheranern zur Genüge aufgezeigt worden sei, könne nicht toleriert werden, auch wenn die Reformierten im Gegenzug versprechen, irrtümliche Auffassungen der Lutheraner hinzunehmen, was für Pufendorf schon daher widersinnig ist, weil die lutherische Kirche nicht auf Irrtümern, sondern auf der Schrift basiert. 346 "In hoc quippe Articulo de tribus personis in una divina essentia residet fundamentum genuinae Religionis Christianae, quo subruto et haec collabitur, et nil remanet, ni si accurata quaedam Philsophia moralis. Si enim in divina essentia non sunt plures una personae, non est Salvator, non est redemptio, non fides, non justificatio." (Jus feciale, § 52, S. 174). 347 In der "Beschreibung der geistlichen Monarchie" (s. Anm. 207) meint Pufendorf, die Sozinianer und verwandte Gruppen hätten "ich weiß nicht was für neue Policeyen im Kopff und also dem Staat, wo sie solten überhand nehmen, sehr gefährlich sind." (S. 870.) Thomasius kritisiert im Kommentar zu dieser Pufendorf-Schrift (Halle 1714) diese Position. Eine politische Gefährlichkeit der Sozinianer könne auf keinen Fall behauptet werden; auch sei ihnen gegenüber Toleranz zu wahren (S. 377 ff.). Sehr scharf kritisiert übrigens die Rezension des "Jus feciale" in der "Bibliotheque choisie" Pufendorfs Auslassungen über den Sozinianismus. Pufendorf habe wahrscheinlich gar keine Bücher der Unitarier gelesen, ansonsten müßte er geradezu als Verleumder betrachtet werden (Tom. VII, 1705, S. 395 f.). Tatsächlich enthielt Pufendorfs Bibliothek nur wenige Schriften zum Thema Atheismus in der hier gemeinten Breite des Begriffsverständnisses (Spinozas "Theologisch-politischer Traktat", Spizels "Scrutinium Atheismi" und A. Pfeiffers "Lectiones Anti-Atheisticae"). Es wäre ansonsten denkbar, daß Pufendorf in seiner Heidelberger Zeit den Sozianianismus aus direkter Anschauung kennenlernte, da von 1663 -1666 in Mannheim eine sozianianistische Gemeinde bestand (vgl. Janusz Tazbir: Die Sozinianer in der zweiten Hälfte des 17. Jh. In: s. Anm. 359, S. 60 f.). Leider erlaubt die Dürftigkeit der Quellen keine Antwort auf diese Frage.

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Es ist natürlich von besonderem Interesse, wie Pufendorf zu dem von der Polemik gemeinhin unter dem Sammelbegriff Atheismus subsumierten Spinozismus als der vielleicht interessantesten philosophischen Strömung jener Zeit stand. Nun wird Spinoza im gesamten bisher bekannt gewordenen Briefwechsel Pufendorfs nur zweimal erwähnt, und zwar im Sinne einer eindeutigen Verurteilung: In einem Schreiben an Thomasius vom 17. 7. 1688 begrüßt Pufendorf das Vorgehen gegen den des Spinozismus beschuldigten Tschirnhaus: "Und sehe daß MhH H. Tschirnhausen nichts schuldig geblieben, und wundere mich, daß die ienigen herrn, die so schreyen, wenn man die Jungfer Barbaries ein wenig darbey kriegen will, sich so laulig erweisen, wenn selbiger Mann des Spinosa meinung ausbreiten will, welcher ein unverschämter atheist ist."348 Deutlicher noch hatte er bereits einige Wochen zuvor über Spinoza geurteilt: "Spinosam habe ich gekennet, das war ein leichtfertiger vogel, deorum hominumque irrisor, und hatte das novum Testamenturn und Alcoran in einem Band zusammen gebunden. Ich finde auch nichts subtiles bey ihm, ist aber schon der mühe werth, daß man ihn funditus destruire."349 Immerhin hatte es Pufendorfbereits in "De jure naturae et gentium" als notwendig empfunden, sich mit dem kurz zuvor erschienenen "Tractatus theologico-politicus" bzw. mit der dort vertretenen Naturrechtslehre auseinanderzusetzen. Wir können Pufendorfs Argumentation hier nicht im einzelnen verfolgen, da die dort angesprochene Problematik nur am Rande des uns beschäftigenden Interesses liegt. Indem Pufendorf gegen Spinozas Naturrechtskonzeption zielt, geht es ihm letztendlich um die Widerlegung der Anschauungen von Hobbes, die er schon 1663 Boineburg gegenüberals "irgendwie gottlos" bezeichnet hatte. 350 Spinoza definiere das Naturrecht falsch, wenn er es als das Recht eines jeden interpretiere, das zu tun, wonach es ihm gelüstet. Was notwendigerweise hinzutreten muß, das ist die Vernunft, die der Mensch auch im Naturzustand 348 König!. Bibliothek Kopenhagen (s. Anm. 254), Gigas, Briefnummer 9. Thomasius hatte Tschirnhaus in Juniheft seiner "Monatsgespräche" scharf angegriffen. Vg!. zu diesen Vorgängen: Jean-Paul Wurtz: Tschirnhaus und die Spinozismusbeschuldigung. Die Polemik mit Christi an Thomasius. In: Studia Leibnitiana. Bd. xm/l (1981), S. 6175. Pufendorf hat später Tschirnhaus gegenüber eine sehr positive Einstellung gewonnen. Dies beweisen seine Briefe an Rechenberg. 349 Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 670, BI. 70 v, Varrentrapp, Briefnummer 9. Dieser Passage folgt die bereits schon zitierte Absichtserklärung !:,ufendorfs über den "vernünftigen Gottes-Dienst der Christen" zu schreiben (s. S. 74). Uber ein Zusammentreffen von Pufendorf und Spinoza ist sonst nicht bekannt. Als Zeitraum einer solchen Bekanntschaft käme Pufendorfs Studienaufenthalt in Leiden (1660/61) in Frage. Vermutlich hat Pufendorf aber auch in späteren Jahren mehrfach Holland besucht. 350 Pufendorf meint über Hobbes, daß "eiusdem hypothesis plerisque nescio quid profani videatur sapere." (Brief an Boineburg vom 13. 1.1663, Staatsarchiv Würzburg, Schönborn-Archiv, 2946, BI. 43"v; zu benutzen ist jetzt die von F. Palladini besorgte Edition des Briefes, die allerdings nicht auf dem Original beruht: Le due lettere di Pufendorf als Barone di Boineburg. In: Nouvelles de la Republique des Lettres, 1984/ I, S. 119 bis 144). Die Ausführungen über Spinoza in "De jure" folgen der Kritik an Hobbes. Nach F. Palladini ist der Gegensatz zwischen Pufendorfund Hobbes im wesentlichen nur von scheinbarer Natur (vg!. Nr. 277).

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schon besitzt. Läßt er sich von seinen Begierden leiten, steht er nicht innerhalb des Naturrechts, sondern außerhalb desselben. 351 Letztendlich steht hinter dieser irrigen Auffassung eine falsche Gottesvorstellung. Spinoza hatte die absolute Freiheit eines jeden Individuums, seinen natürlichen Instinkten entsprechend zu leben, damit begründet, daß die Macht der Natur die Macht Gottes selbst wäre. Pufendorf entgegnet dem, daß Gott und Natur unterschiedliche Größen sind: Die Natur wurde von Gott geschaffen, aber sie erschöpft nicht dessen Macht, sondern wird vielmehr von dieser Macht begrenzt, d. h. jedem Individuum kommt ein bestimmtes, in seinem Umfang fest begrenztes, von Gott gesetztes Recht zu, das zu erweitern ihm nicht gestattet ist. 352 Aus einer falschen Wesensbestimmung Gottes folgert eine falsche Auffassung des Menschen. 353 Ist auch Pufendorf, wie bereits erwähnt, schriftstellerisch nicht in größerem Umfange gegen die als atheistisch empfundenen Strömungen der Zeit aufgetreten, wenn auch seine mit dem "Jus feciale" verfolgten Intentionen zu beachten sind, so hat er sich doch zumindest in einem sehr spektakulären Falle dem direkten Kampf gegen einen von ihm befürchteten dogmenzerstörenden Rationalismus zur Verfügung gestellt. Gemeint ist das Verfahren gegen Friedrich Wilhelm Stosch, der als einer der ersten deutschen Spinozisten gilt. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Auseinandersetzungen um Stosch, besonders um das von ihm verfaßte Buch "Concordia rationis et fidei" (1692) im einzelnen zu verfolgen. 354 351 De jure naturae et gentium, Lib. II, Cap. Ir. § 3 (S. 152 ff. der Ausgabe von 1706. Die Bemerkungen über Spinoza finden sich erst in der 2. Auf!. von 1684, vgl. NT. 277, S. 231). Pufendorfs Kritik zielt auf das 16. Kapitel des Theologisch-politischen Traktats, wo Spinoza u. a. meint, daß nicht alle Menschen von der Natur her dazu bestimmt sind, den Vorschriften der Vernunft entsprechend zu leben. Pufendorfhält dagegen: "Enimvero ut quis juxta rationem vivere teneatur, non necessum est, ut naturaliter determinatus sit ad operandum juxta leges rationis, id est, ut aliter agere non possit; sed sufficit tantum habere naturalis potentiae, ex qua possit an injuriis et molestiis inferendis abstinere, quo nihil est facilius." (S. 154.) 352 "Nam est quidem potentia naturae a Deo producta, ut tarnen totam potentiam Dei non exhauriat, sed limitibus ab ipso assignatis circumscribatur ... Ast ego non puto haec consequi: potentia totus naturae est potentia omnium individuorum simul: ergo quodlibet individuum habet summum jus ad omnia. Quin potius quodlibet individuum certam et definitam juris particulam obtinet; eoque hautquidquam singula individua sibi illud jus arrogare poterunt, quod cuivis ex universitate naturae competit." (S. 153.) 353 Nebenbei bemerkt hat diese eindeutige Ablehnung Spinozas nicht verhindert, daß Pufendorf selbst nicht nur des Sozianianismus, sondern sehr wohl hinsichtlich seiner Naturrechtslehre auch des Spinozismus beschuldigt worden ist. So bei Robert Sharrock: Hypothesis Ethike de finibus et officiis secundum naturae ius. Oxford 1682, S. 122 ff., nach F. Palladini (s. NT. 660), S. 304 ff. 354 Die Hauptquelle unserer Kenntnisse über die Affäre Stosch bildet der Abdruck der in der Untersuchung gegen ihn angefallenen Akten in den "Unschuldigen Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen" (Jg. 1749, S. 639 - 702). Als Quelle heranzuziehen ist außerdem: Georg Gottfried Küster: Marchiae litteratae specimen tertium. Paralipomena ad notitiam Concordiae rationis fidei a Stoschio editae exhibens. Berlin 1743. Der Text bietet einige in den "Unschuldigen Nachrichten" nicht zu findende Informationen und gibt einen Überblick über die Beurteilung von Stoschs Werk in der Literatur vor und nach 1700. Der Verbleib der Originale der in den "Unschuldigen

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Es geht allein um Pufendorfs Anteil bei diesen Vorgängen. Im Januar 1694 wurde auf Befehl des Kurfürsten gegen Stosch eine Untersuchungskommission eingesetzt, die zuerst unter der Leitung des Oberhofmeisters Eusebius von Brandt stand, dann aber von Ezechiel von Spanheim geführt wurde; Pufendorf war von Beginn an eines der Mitglieder der Kommission. Weiter gehörten ihr Spener, Jablonski und Benjamin Ursinus an. Der anfangs ebenfalls beteiligte Paul von Fuchs ist auf eigenen Wunsch von dieser Funktion zurückgetreten. 355 Stosch, der spätestens nach Bekanntwerden der seitens der Frankfurter Theologen gegen ihn erhobenen Beschuldigungen die größten Schwierigkeiten auf sich zukommen sehen mußte, versuchte zwar über verschiedene an den Kurfürsten gerichtete Eingaben das Verfahren aufzuhalten, jedoch ohne allen Erfolg. In diesem Zusammenhang ist ein an Pufendorf und Spener gerichtetes Schreiben Stoschs zu sehen (vom 11. 2. 1694).356 Er werde, so heißt es dort, keine von seinen Widersachern erfundenen überflüssigen Fragen beantworten, selbst wenn er darüber exkommuniziert werden sollte. Zu einer mündlichen Verhandlung über die gegen ihn erhobene Anklage sei er nicht willens und auch nicht in der Lage: man möge ihm "die materiam ihrer Commission schriftlich" zuschicken, "worauf ich nach reiffen Bedacht deutlich und meinem besten Wissen und Gewissen nach, mich schriftlich herauslassen, und meine Antwort ihnen föderlichst wieder zukommen lassen will." Gleichwohl ist vom Kurfürsten am 24.2. eine Vernehmung Stoschs angeordnet worden. Das letztendliche Ergebnis dieses Vorgehens bildete Stoschs Widerruf aller in seinem Buch aufgestellten, mit dem Inhalt der Symbolischen Bücher nicht in Übereinstimmung zu bringenden Behauptungen (vom 17.3. 1694). Wenn sich Stosch durch seine Appellation an Spener und Pufendorf Hoffnungen gemacht haben sollte, ähnlich wie zur gleichen Zeit Johann Philipp Pfeiffer (s. 2. Exkurs), bei diesen als flexibel eingeschätzten Personen mehr Verständnis zu finden, so hat er sich allerdings erheblich getäuscht, zumindest was Pufendorf angeht. Das zeigt eine in ihrer Deutlichkeit keine Wünsche offenlassende Passage im letzten Brief Pufendorfs an Rechenberg: "Unser unsinnig buch De concordia rationis et fidei machet hier viel terrores. Der autor ist ein Churfürstlicher secretarius Stoschius genandt, deßen vater hier hofprediger gewesen,357 aber insgeheimbt für einen heimlichen Socinianer gehalten worden. Der Nachrichten" veröffentlichten Dokumente ist nicht bekannt. Im Zentralen Staatsarchiv Merseburg, wo sie am ehesten zu vermuten wären, konnten sie nicht ausfindig gemacht werden (laut einer an mich gerichteten Mitteilung vom 24. 2. 1988). Auffälligerweise ist kein abschließender Bericht der Untersuchungskommission bekannt, obwohl er vom Kurfürsten angefordert worden ist (Verordnung vom 24.2. 1694, Unsch. Nach., S. 699). Eine Inhaltsanalyse des von Stosch verfaßten Werkes bietet Leo Baeck: Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland. Diss. Berlin 1895, S. 41-57. Aus der Zahl der späteren Publikationen besitzt eigenständige Bedeutung allein Winfried Schröder: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung. Würzburg 1987. Nach Schröders Auffassung verwendet Stosch zwar Elemente der Philosophie Spinozas, ist aber nicht als Spinozist zu bezeichnen (S. 32-58, S. 52 die Rezeption Pufendorfs durch Stosch). 355 Paul v. Fuchs an den Kurfürsten, 16. 2. 1694 (Unschuldige Nachrichten, S. 690 ff.). 356 Unschuldige Nachrichten, S. 687 -689.

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auch selbiges gift an diesen orten nicht wenig ausgestreut, und sonsten unsern kirchen hier viel verdruß gethan. Nun scheint Gott die sünde der väter an den kindern zu straffen. Er ist ein solitedimrig (?), und bizarrer kopf, hat auch vorhin die medicin an sich selbst lernen wollen, und an seinem eigenen leibe proben gethan, aber dadurch seine gesundheit gantz ruiniret. Nun gehet es ihm mit der Theologie auch also. Es ist mir lieb, daß der kerl nicht von unsrer kirche ist. Er bildet sich ein, er wolle seine sachen wohl defendiren. Man wird aber sehen, wie es entlieh wird ablauffen." 358 Es fällt auf, daß weder hier noch in den gegen Stosch erhobenen Anklagepunkten von Spinoza und Stoschs Abhängigkeit von dessen Ideen die Rede ist; der beschworene Popanz ist allein der Sozinianismus, dessen Duldung nach Pufendorfs Auffassung im Diesseits zur Zerrüttung der menschlichen Gesellschaft und im Jenseits zum Verlust des ewigen Heils führen würde. 359 2. Exkurs: Synkretismus und Vordringen des Katholizismus Pufendorf und die Affäre Pfeiffer Beschäftigt man sich mit den Bemühungen um eine Reunion der Konfessionen innerhalb des 17. Jh., so stößt man alsbald auf den Namen Georg Calixts und auf die von ihm ausgegangenen synkretistischen Streitigkeiten, die wie nichts sonst in der Zeit zwischen der Bildung der Konkordienformel und den Beginn der Auseinandersetzungen um den Pietismus die lutherische Theologie beschäftigten. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, in eine nähere Diskussion um Charakter und Erscheinung des Synkretismus einzutreten. 360 Die folgenden Ausführungen 357 Gemeint ist der Hofprediger Bartholomäus Stosch (vgl. R. von Thadden: Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jh., Berlin 1959, S. l79-184). 358 Brief o. D. (Anfang 1694), UB Leipzig, Ms 0335, BI. 281 v • 359 Die Fixierung des Blicks auf den Sozianianismus ist vor dem Hintergrund einer von Polen übergreifenden Verbreitung der Sozinianer auf brandenburgisches Gebiet zu sehen (v gl. dazu die lebendigen Schilderungen in Jablonskis Tagebuch. Abgedruckt in: Wilhelm Bickerich: Zur Geschichte der Unitarier in der Neumark. In: Jb. f. Brandenburgische Kirchengesch. 29. Jg. 1934, S. 122-129, hier S. 126 ff.) Zur allgemeinen Verbreitung des Sozinianismus vgl. Paul Wrzecinko: Reformation und Frühaufklärung in Polen. Göttingen 1977. Nach einhelliger Auffassung der Forschung ist die Geschichte des Sozinianismus im deutschen Reichsgebiet bisher sehr ungenügend aufgearbeitet worden. Die neueste und umfassendste Darstellung zu diesem Thema gibt S. Wollgast in seinem bereits erwähnten Werk (s. Anm. 305, zum Sozinianismus S. 346 -422, dort auch ausführliche Literaturhinweise. Allerdings bringt Rechenberg in einem Brief an Tschimhaus (4./14.2. 1694) Spinoza mit Stosch in Verbindung: Es sei Tschimhaus sicher schon bekannt, "daß zu Berlin wider den geheimen Secretarium Stoßium, als autorem des liederlichen Buchs, concordia rationis et fidei genannt, requirirt wird, welches aus Spinoza, Hobbesio und der Socinianer Schriften meistens genommen." (Mitteilung von Herm Prof. G. Mühlpfordt vom 19. l. 1989.) 360 Zu Calixt ist die Arbeit von Hermann Schüssler maßgebend: Georg Calixt. Theologie und Kirchenpolitik. Eine Studie zur Ökumenizität des Luthertums. Wiesbaden 1961 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Band 25). Zum Synkretismus insgesamt immer noch unübertroffen: Otto Ritschl: Dogmengeschichte

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gehen von der verbreiteten Auffassung aus, daß es sich beim Synkretismus letztendlich um eine Auflösungserscheinung innerhalb der lutherischen Orthodoxie handelt, wobei seine Verbindung zum Humanismus (Melanchthon!) eine gewichtige Bedeutung besitzt. Es ist daher für unsere Untersuchungen von einigem Interesse, die Frage zu beantworten, welche Stellung Pufendorf in diesen Auseinandersetzungen bezogen hat, geht es doch ihm und Calixt um das gleiche Ziel, um die Annäherung der Konfessionen auf der Grundlage der Fundamentalaussagen des christlichen Glaubens. Leider verfügen wir nicht über direkte Zeugnisse, d. h. über ausdrückliche Äußerungen Pufendorfs zu Calixt und seiner Schule. Aus einigen indireken Bemerkungen sowie aus der Kenntnis seiner theologischen Positionen läßt sich doch immerhin ein ungefähres Bild gewinnen. Daß sich Pufendorf bereits in Leipzig mit dem Streit um Calixt und die Helmstedter Theologie konfrontiert sah, wird, wenn auch nur indirekt, durch die kontroverstheologische Ausrichtung der Leipziger Gelehrtengesellschaften (s. vor allem' Anm. 205 über die sich mit Calixt beschäftigende Diskussion im Collegium Gellianum) und das energische Engagement der Universität Leipzig im Kampf gegen den Synkretismus gerade in der Studienzeit Pufendorfs (J. Hülsemann als Verfasser des "Calixtinischen Gewissenswurms" , dessen Mitarbeit am Consensus repetitus) bezeugt. 361 Inwieweit sich Pufendorf während seiner Zeit in Heidelberg und später in Schweden mit dem Streit um den Synkretismus beschäftigt hat, könnte erst die noch ausstehende Untersuchung dieses biographischen Abschnittes ergeben.lmmerhin deutet die Existenz einer größeren Anzahl von Calixt-Schriften in Pufendorfs Bibliothek in diese Richtung. Auf den ersten Blick scheint das Verhältnis zwischen den Anschauungen Calixts und Pufendorfs einer grundSätzlichen Übereinstimmung nahezukommen. Beiden geht es um eine Vereinfachung der Dogmatik (Fundamentaltheologie); beide stützen sich dabei auf einen betonten Biblizismus; beide streben eine wesentliche Aufwertung der Ethik an; beide legen großen Wert auf die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte. Dennoch sind die Unterschiede zwischen beiden Positionen unübersehbar. Der Haupteinwand, den die Vertreter der Orthodoxie gegen Calixt und seine Anhänger gerichtet hatten, lautete dahingehend, daß deren Gleichgültigkeit hinsichtlich der dogmatischen Unterschiede zwischen den Konfessionen schließlich in einen Indifferentismus in allen Belangen der Religion überhaupt münden würde. Nach dem oben Gesagten kann kein Zweifel bestehen, daß Pufendorf diese Auffassung der Leipziger und Wittenberger Theologen im des Protestantismus. IV. Balld: Das orthodoxe Luthertum im Gegenstz zu der reformierten Theologie und in der Auseinandersetzung mit dem Synkretismus. Göttingen 1927. Vgl. aber auch Leube (s. Anm. 160). 361 Einen plastischen Einblick in den Kampf der Leipziger Theologischen Fakultät gegen die Helmstedter gewährt der Nachlaß des Theologen Daniel Heinrici (VB Leipzig, Ms 2017 ff.). Auch Leibniz berichtet, daß er während seiner Leipziger Jugendzeit Gefallen an den Schriften Calixts gefunden habe (Leibnizens Gesammelte Werke. Hrsg. v. G. H. Pertz, 1. Folge. 1. Bd., S. 170).

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Grundsatz teilt. Schon in der "Beschreibung der geistlichen Monarchie ... " hatte es geheißen, es ginge nicht an, "daß man eine Meinung so gut halten wolle als die andere: und ist eine sothane Indifference eine Anzeigung, daß einem am gantzen Werck nicht viel gelegen ist." Gefährlich sei es auch, Lehrpunkte, über die keine Einigung erzielt werden kann, einfach beiseite zu stellen. 362 Wie sehr es Pufendorf auch im "Jus feciale" um eine Vermeidung des Indifferentismus und um eine Begrenzung der Duldung verschiedener Lehraussagen gegangen ist, wurde bereits mehrfach deutlich. In diesem Zusammenhang ist auch die indirekt gegen Calixt gerichtete Feststellung zu sehen, daß es eine konfessionelle Einigung auf der Grundlage des Apostolikums schlechterdings nicht geben könne, da dieses Bekenntnis nicht alle zum Heil notwendigen Glaubensaussagen enthalte (s. Anm. 338). Aufschlußreich ist hier auch Pufendorfs schon erwähnte scharfe Kritik am "Methodus" Molans, der als Schüler Calixts in diesem Entwurf eine Reihe grundsätzlicher Positionen seines Lehrers übernimmt. Es ist für Pufendorf eine ganz vordergründige Betrachtungsweise, von einer angeblichen Übereinstimmung der verschiedenen Konfessionen in den meisten Grundaussagen der christlichen Religion auszugehen. Die äußeren Worthülsen mögen wohl überall die gleichen sein, die Substanz, d. h. das jeweilige Begriffsverständnis kann dagegen einen völlig anderen Charakter aufweisen. Ähnlich operiere eine Diktatur oft noch mit dem Vokabular einer legitimen Herrschaft, obwohl deren eigentlicher Inhalt längst ausgehöhlt worden ist. So sei es auch in der katholischen Kirche geschehen, der die Glaubensartikel nur zur Begründung und Absicherung der päpstlichen Macht dienten. Es geht also nur auf den ersten Blick um dogmatische Differenzen; entscheidend ist letztendlich vielmehr der Machtanspruch Roms, und hier ist eine Einigung ohne totale U·nterwerfung nicht möglich. 363 Ebenso verwirft Pufendorf die Auffassung, man habe in der Exegese der Bibel den Konsens mit der alten Kirche zu suchen. Dieser kann höchstens dazu dienen, ein aus der Schrift selbst gewonnenes Verständnis noch näher zu erläutern. 364 Überhaupt findet sich bei Pufendorf nirgends eine Berufung auf die Tradition oder auf den Consensus patrum. Wenn es außerhalb der Schrift noch einer Autorität bedarf, so sind es noch am ehesten die lutherischen Bekenntnisschriften, auf die man sich berufen kann. 365 Die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte dient Pufendorf nicht dem Nachweis der letztendlichen gemeinsamen dogmatischen Grundlage aller Konfessionen, sondern im Gegenteil der Demonstration S. 868 der in Anm. 207 angeführten Ausgabe. Jus feciale, S. 51 f. 364 Jus feciale, S. 76 "Ac in universum nullius Ecclesiae aut sedis sententiam circa definiendum locorum Scripturae sensum velut infallibilem admittimus; Sed eum jam ex ipsa Scriptura stabilitum suo consensu illustrari posse facile concedimus." Über die Stellung der lutherischen Kirche zur Tradition als Hintergrund der Position Pufendorfs vgl. Wemer EIert: Morphologie des Luthertums. 1. Band. München 19522, S. 176 ff. und S. 240 ff. 365 Vgl. Pufendorfs Gutachten über Spegels Katechismusausgabe und das von ihm mitverfaßte Gutachten über Pfeiffer (s. unten). 362 363

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der Verquickung von Politik und Glaube, die im Katholizismus dazu geführt habe, daß dem Glauben nur noch eine machtlegitimierende Funktion zukommt; jeder Glaubensdisput geht daher am Kern der Sache vorbei. Zwar läßt sich verfolgen (im einzelnen müßte dies allerdings noch untersucht werden), daß Pufendorf in den meisten Calixt von Hülsemann, Calov u. a. vorgeworfenen dogmatischen "Abirrungen" den Positionen der Orthodoxen nahe steht, 366 jedoch dürfte für ihn von entscheidenderer Bedeutung gewesen sein, daß die katholisierenden Tendenzen der Helmstedter Schule am Ende zu einer Aufweichung der protestantischen Abwehrfront gegen das Papsttum zu führen schienen. Immerhin ist es eine Tatsache, daß die große Welle an Konversionen zum Katholizismus, die das protestantische Deutschland (aber nicht nur dieses) in der zweiten Hälfte des 17. Jh. überrollte, auch und gerade mit dem Auftreten des Synkretismus in Verbindung gebracht werden konnte, bildete doch für viele Konvertiten die Bekanntschaft mit der Helmstedter Theologie eine wichtige Zwischen station ihrer Entwicklung. 367 Erklärte man den ganzen Konfessionshader für überflüssig, besänne man sich nur auf die gemeinsamen Grundlagen, wie sie schon in der alten Kirche vertreten worden sind, so lag der Schritt der Rückkehr zur römischkatholischen Kirche, die ja ganz von der Weihe dieser Ursprünge umgeben schien, nahe, wenn auch bei solchen Konversionen selbstverständlich noch eine Reihe andere Faktoren eine Rolle spielen konnte. War Helmstedt der Ausgangsund Mittelpunkt der synkretistischen Strömungen, so konnten diese insbesondere an der Universität Königsberg eine intensive und lange Zeit anhaltende Wirkung entfalten. Bald blieb dieser Einfluß nicht auf die Theologische Fakultät und die Universität beschränkt, sondern breitete sich über die Stadt und Teile Ostpreußens aus. 368 Ab Mitte der siebziger Jahre kommt es schließlich zu einer wachsenden Zahl von Konversionen zum Katholizismus - nicht nur im Kreise der Theologen 366 Das betrifft z. B. die von Pufendorf verteidigte Ubiquitätslehre, sein Widerstand gegen jegliche Abschwächung der Erbsündenlehre, die Verteidigung der Klarheit der Schrift (zumindest in den für das Heil zentralen Aussagen). 367 Den Werdegang einer Reihe solcher Konvertiten beschreibt Bemhard Erdmannsdörffer: Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648 bis 1740. 1. Bd. Meersburg, Naunhof, Leipzig 1932, S. 454 ff. 368 Eine minutiöse Darstellung der Ereignisse auf der Grundlage der Quellen (in Berlin und im damaligen Staatsarchiv Königsberg) gibt Franz Dittrich: Geschichte des Katholicismus in Altpreußen von 1525 bis zum Ausgange des achtzehnten Iahrhunders. In: Zeitschrift für die Geschichte der Alterthumskunde Ermlands. 13. Band (1901), zum Synkretismus in Preußen s. S. 573 -741. Wichtige, von Dittrich nicht genutzte Quellen zu den Vorgängen jener Iahre besitzt das Archiv der Franckeschen Stiftung in Halle. Zu nennen sind hier vor allem die Briefe Theodor Gehrs an Spener (Ms D 66), in denen auch ausführlich über die gleich zu behandelnde Pfeiffer-Affäre die Rede ist. Illustrativ und von hohem Informationsgehalt ist auch ein Schreiben von Friedrich v. Derschau an einen Geheimen Rat in Berlin (Paul v. Fuchs?) vom 9./19. 4.1694 (Ms D 88, Bl. 74'80v ). Interessant ist Derschaus Hinweis, daß die katholische Propaganda mit dem Argument arbeiten würde, es werde ohnehin bald zu einer Union der drei Konfessionen kommen. Eine lange Liste der wichtigsten Konvertiten findet sich bei Räß, S. 611 ff. (s. Anm. 370).

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und Pfarrer, sondern auch unter (höhergestellten) Laien - , um endlich in den neunziger Jahren einem Höhepunkt zuzustreben. Bei der Beurteilung dieser Vorgänge ist zu beachten, daß Ostpreußen konfessionspolitisch auf Grund der engsten Nachbarschaft zum katholischen Polen ein besonders schwieriges Terrain darstellte. War auch im Frieden von Oliva (1660) die polnische Lehnshoheit über Preußen endgültig abgeschafft worden, so gebot doch die exponierte Lage des Landes angesichts der labilen Kräfteverhältnisse in Osteuropa besondere Vorsicht bei der dem Katholizismus gegenüber einzuschlagenden Politik. 369

In das Zentrum des Geschehens trat seit Beginn der neunziger Jahre der aus Nürnberg stammende Königsberger Theologieprofessor Johann Philipp Pfeiffer. Sein Weg zum Katholizismus, der im Sommer 1694 mit der Konversion endete, ist von Franz Dittrich in allen Einzelheiten beschrieben worden und soll uns daher hier nicht weiter beschäftigen. 370 Interessant ist für uns allein die Beteiligung Pufendorfs an der im Frühjahr 1694 (also parallel zum Vorgehen gegen Stosch) seitens des Kurfürsten gegen Pfeiffer angeordneten Untersuchung, die im Ergebnis zur Amtsenthebung und Landesverweisung Pfeiffers führte. Nachdem er schon seit Jahren in dem Verdacht gestanden hatte, in se~nen theologischen Anschauungen eine katholisierende Richtung zu verfolgen, hatte Pfeiffer durch die Abfassung eines Katechismus, dem alsbald ein ganz und gar "papistischer Charakter" nachgesagt wurde, den Zorn der Geistlichkeit und der preußischen Stände endgültig auf sich herabgerufen. Eine von ihm auf den 22. 11. 1693 datierte "Explication und Beantwortung" sollte ihn in dieser Situation in den Augen des Kurfürsten rechtfertigen. 371 Friedrich III. übergab daraufhin den Katechismus Pfeiffers und die gesamten über ihn geführten schriftlichen Auseinandersetzungen an einige "dazu verordnete und nicht weniger in der Historia Ecclesia369 Grundlegend immer noch die große Quellenpublikation von Max Lehmann: Preußen und die katholische Kirche seit 1640. Leipzig 1878 ff. Für den hier interessierenden Zeitraum s. Bd. 1. Wichtig nach wie vor Hugo Landwehr: Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten. Berlin 1894. Neueste Überblicksdarstellung: Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte. Hrsg. von G. Wirth. Berlin 1987, S. 44 ff. (hier auch neuere Literatur). Vgl. auch Johannes Weinberg: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten in Preußen. Würzburg 1963 (Beihefte zum Jb. der Albertus-Universität, XXIII). 370 Dittrich (s. Anm. 368), S. 631-679. Ob die von Dittrich herangezogenen Königsberger Akten heute noch vorhanden sind, ist von mir nicht untersucht worden. Die benutzten Dokumente des damaligen Geheimen Staatsarchives sind ohne Verluste in das zentrale Staatsarchiv Merseburg gelangt, wo ich im Dezember 1987 in sie Einsicht genommen habe (Alte Rep. Rep. 7, 68, BI. 647 -707). Quellenwert besitzt auch: Johann Philipp Pfeiffers Leben und Schrifften. In: Erleutertes Preußen, 3. Bd. (stützt sich zu einem guten Teil auf Helwichs Biographie, s. Anm. 379). Die ausführliche, aber sehr tendenziöse Darstellung von Andreas Räß (Die Convertiten seit der Reformation. 8. Bd. Freiburg/Br. 1868, S. 472 - 521) beruht ebenfalls weithin auf Helwich, druckt aber auch einige wichtige Dokumente ab. Über Pfeiffers literarische Arbeiten informiert am besten Daniel Heinrich Amoldt: Historie der Königsbergischen Universität. 2. Theil. Königsberg 1746, S. 207 f., 225, 371; Zusätze (Königsberg 1756), S. 42; Fortgesetzte Zusätze (Königsberg 1769), S. 35. 371 Ausführliche Inhaltsangabe bei Dittrich, S. 652 ff.

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stica als der Theologie gelehrte der Evangelisch-Lutherischen Religion zugethane Commissarien", damit diese "mit fleis nachsehen und erwegen auch ihre Gedankken und Gutachten, wie Sie solches der Heyl. Schrifft geheimes befinden und es vor Gott und Ihrem Gewissen zu verantworten gedencken", abgeben. 372 Die Untersuchungskommission setzte sich aus drei Personen zusammen: Pufendorf, Spener und Lütkens. Einer späteren Nachricht zufolge soll Pufendorf den Vorsitz geführt haben. 373 Das am 13.4. 1694 zu den Akten genommene undatierte Gutachten über Pfeiffers Katechismus und dessen "Explicatio" nennt nirgends den Synkretismus und bringt an keiner Stelle Pfeiffer mit dieser "Häresie" in Verbindung. 374 Dennoch wird bald deutlich, daß es ganz um die von Pfeiffer nur konsequent weitergeführten Positionen der Helmstedter Theologie geht. Einige in der Bedeutung minder wichtige Separatmeinungen will die Kommission noch hingehen lassen. 375 Bei anderen Fragen von schlechthin zentraler Bedeutung kommt sie jedoch zu dem Schluß, daß Pfeiffer derart gravierende Abweichungen von den Aussagen der symbolischen Bücher vertritt, daß er damit seinen auf jene Bekenntnisschriften geleisteten Eid in eklatanter Weise verletzt. Der erste Haupteinwand betrifft Pfeiffers Rechtfertigungslehre. Der Glaube verliere bei ihm seine Stellung als alleiniger Weg der Rechtfertigung und werde zur bloßen causa efficiens reduziert, ansonsten "müßen es die Werke thun", d. h. die Rechtfertigung durch den Glauben vollziehe sich nur ein einziges Mal, in der Taufe, wobei Pfeiffer den Begriff des Glaubens zu einem gleichsam formalen Bekenntnis zur christlichen Religion umfälsche. Ansonsten sei die Errettung des Menschen vom Ableisten der guten Werke abhängig. Neben den Werken stehe bei Pfeiffer die Buße als Mittel zur Erlangung der Rechtfertigung. Die Buße bestehe bei ihm jedoch nicht mehr in der "änderung des menschlichen herzens", sondern in der Übernahme einer St ra Fe, um damit der göttlichen Gerechtigkeit Genüge zu tun. Es ist deutlich, daß es die von den Helmstedtern erhobenen Forderungen nach einer Aufwertung der Ethik, 372 Aus einem Schreiben des Kurfürsten an die preußische Regierung (Entwurf im Staats archiv Merseburg, Alte Rep., Rep. 7,68, BI. 702'·'). 373 Im "erleuterten Peußen" (s. Anm. 370) heißt es, daß Pufendorf "in gedachtem Collegio zweiffelsohn die Ober Stelle gehabt." (S. 733.) In dem gleich zu erwähnenden Gutachten ist die Schlußformel von Pufendorf eigenhändig geschrieben worden, der auch die erste Unterschrift leistete. Schlüssig bewiesen wird damit sein Vorsitz freilich nicht. 374 Das Gutachten ist in den Merseburger Akten enthalten (s. Anm. 370) und umfaßt 15 Seiten in Folioformat (BI. 647' - 6544 ), s. Anlage Nr. 11. Daß nirgends der ja einen polemischen Charakter tragende Begriff des Synkretismus fällt, könnte aus dem Bestreben des Kurfürsten erklärt werden, dieses Schlagwort möglichst von den theologischen Auseinandersetzungen fernzuhalten (vgI. Dittrich, S. 619). 375 Auch hier handelt es sich um typische Positionen der Calixtschule: Bestreitung der Ubiquitätslehre (die bezeichnenderweise im Bericht der lutherischen Kommission an den reformierten Kurfürsten für minder bedeutungsvoll erklärt wurde), Leugnung der Beweisbarkeit der Trinität aus dem Alten Testament, Behauptung der Verfasserschaft der Apostel am Apostolikum u. a.

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die durch den einseitigen Kampf der lutherischen Theologie gegen den Majorismus Schaden genommen habe, sind, die von Pfeiffer aufgenommen und bis in die Nähe katholischer Positionen weiterentwickelt wurden. Die weitere Kritik trifft insbesondere Pfeiffers Abendmahlsverständnis. Zwar verwerfe er offiziell die Transsubstantiationslehre, de facto würde er sie jedoch trotzdem vertreten. Ebenso habe er von den Katholiken die Auffassung übernommen, es handele sich beim Abendmahl um eine Opferfeier. Überhaupt, heißt es zusammenfassend, verwische Pfeiffer die Unterschiede zwischen der katholischen und der protestantischen Kirche, zu welchem Zwecke ihm insbesondere die Berufung auf die Kirchenväter diene, denn nach deren Schriften wolle er beurteilt werden, nicht aber nach den symbolischen Büchern. Nicht die Bekenntnisschriften seien maßgebend, sondern der consensus Ecclesiae catholicae. Die Kommission argumentiert dagegen, Pfeiffer habe einen Schwur auf die symbolischen Bücher geleistet und müsse es sich daher gefallen lassen, nach deren Aussagen beurteilt zu werden. Unabhängig davon sei allerdings festzustellen, daß auch die Kirchenväter mit ihrer Theologie auf der Seite der Protestanten stünden. Die übrigen Pfeiffer vorgeworfenen Abirrungen, "welche ob sie nicht gleicher, doch meistensteils auch großer wichtigkeit" sind, 376 waren bereits in den Jahren zuvor dem Königsberger Theologieprofessor Christian Dreier, Schüler Calixts und Lehrer Pfeiffers, entgegengehalten worden: Behauptung der Siebenzahl der Sakramente, Wertschätzung der Gebete für Verstorbene, überhaupt die Übernahme vieler katholischer Riten u. a. Auch gewinne man den Eindruck, so die Kommission, daß Pfeiffer in seinen Aussagen sich noch zurückgehalten habe. Seine "wahre Herzens meinung" ginge wahrscheinlich noch viel weiter. Trotzdem wollte man ihm gegenüber "die allergelindeste wege" einschlagen, zumal Pfeiffer durch seine Lehrer zu diesen falschen Auffassungen geführt worden sei, wenn nicht die Gefahr der Kirche in Ostpreußen ein entschiedenes Vorgehen gebieten würde. Nur der bedingungslose Widerruf seiner falschen Lehren könne Pfeiffer retten, ansonsten sei er aller seiner Ämter zu entbinden und aus Königsberg auszuweisen. Der Bericht der Kommission ist dem Kurfürsten unterbreitet worden, der "selbigen in allen stücken gar vernünfftig, equitable und auf guten grunde bestehend gefunden" und den dort vorgetragenen Vorschlägen für das weitere Vorgehen zustimmte. 377 Pfeiffer lehnt jedoch den geforderten Widerruf ab und kommt allen weiteren Schritten mit dem Antrag um Entlassung zuvor. Selbst wenn er den gebotenen Widerruf leisten würde, werde er keine Ruhe mehr finden, da "ich darbey stets in Verdacht deß Syncretismi und Catholicismi werde gehalten; und bey dem geringsten, was contra libros Symbolicos, zulauffen scheinet, fort und fort besprechung, ungelegenheit, und verfolgung zu gewarten haben."378 376 Staatsarchiv Merseburg, Alte Rep., Rep. 7,68, BI. 651'. 377 Friedrich III. an die preußische Regierung, 5./15. 4. 1694 (Staatsarchiv Merseburg, Alte Rep., Rep. 7, 68, BI. 702'). 378 Brief Pfeiffers an den Kurfürsten, 23. 4. 1694 (Staatsarchiv Merseburg, Alte Rep., Rep. 7, 68, BI. 662').

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Wenige Wochen darauf (am 25. 7. 1694) ist Pfeiffer zur katholischen Kirche übergetreten. Bereits ein Jahr später verstarb er als katholischer Pfarrer. Bemerkenswert für uns ist jedoch noch die Nachricht, daß sich Pfeiffer an Pufendorf mit der Bitte um Hilfe und Vermittlung gewandt haben soll. Christian Helwich, der Schwiegersohn Pfeiffers, berichtet darüber in der Lebensbeschreibung seines Schwiegervaters, und von dort ist diese Mitteilung in die Biographie Pfeiffers im "Erleuterten Preußen" übernommen worden. 379 Pfeiffer sei zu diesem Schritt durch Pufendorfs Äußerungen zu Fragen der Religion in seinen Werken (genannt werden der "Monzambano" , die "Einleitung" und "De habitu") ermutigt worden: "Allein eben deswegen würde sich ja D. Pfeiffer, wenn ihm nur immer zu helffen wäre gewesen, eines gelindem Urtheils haben erfreuen können, weil Puffendorff, nach Helwichs eigenem Geständniß, es in der Religion so genau nicht genommen. Da nun aber die Sache für Pfeiffern gar nicht favorabel ausgefallen, so ists ein unfehlbahr Zeichen, daß D. Pfeiffer zu sehr müsse gravirt gewesen seyn."380 Die Tatsache, daß sich Pfeiffer an ihn gewandt habe, wird durch Pufendorf selbst bestätigt, so jedenfalls nach den Aufzeichnungen Arnds über das Gespräch Pufendorfs mit den Rostockern: "De Academia Regiomontana. In Specie de Pfeiffero. Daß er gemeinet Herr Pufendorff solte ihm defendiren aber er hette sich betrogen. Er were nicht halb fisch und halb fleisch."381 Pfeiffer unterlag also einer Täuschung, wenn er, wie andere in späteren Zeiten, Pufendorfs Säkularisierung des Naturrechts, seine damit verbundenen heftigen Auseinandersetzungen mit der lutherischen Theologenschaft, seine Toleranzforderungen, wohl auch seine Kritik der Theologie und Kirche als Ermutigung für sein Verlangen aufnahm, Pufendorf werde sich die Verteidigung seiner theologisch bereits außerhalb des Protestantismus angesiedelten Position zur Aufgabe machen. Schon aus Gründen der Staatsräson konnte Pufendorf schlechterdings nicht zulassen, daß durch die Aushöhlung des lutherischen Bekenntnisses dem von ihm so gefürchteten politischen Katholizismus in einer so brisanten Gegend wie Ostpreußen Vorschub geleistet werde. 382 Andererseits sollte man aber auch das bei Pufendorf vorhandene Bestreben nicht unterschätzen, die Fundamente der lutherischen Theologie vor synkretistischen Aufweichungstendenzen zu sichern.

379 Mir stand nur die gekürzte lateinische Fassung der Biographie in der von Christian Gryphius besorgten Ausgabe zur Verfügung (Vitae selectae XVII, eruditissimorum nominum Breslau 1738). Dort wird über diese Vorgänge nicht berichtet. Das "Erleuterte Preußen" zitiert aus der deutschen Übersetzung der vollständigen Fassung (Oliva 1695). 380 Erleutertes Preußen, S. 732 f. (Anm. u.). 381 UB Rostock, Ms var. 21, S. 94. 382 Dieser politische Aspekt wird im Gutachten der Kommission betont: Der Kurfürst werde schon in "betrachung der weltlichen sicherheit ihrer provintz Preußen" zu schärferen Maßnahmen gegen Pfeiffer geneigt sein, denn dieser Sicherheit würde eine große Gefahr zuwachsen, "wann das Papsttum, wie es anfengt, selbs in dero Hauptstatt durch die allmähliche bereitung der gemüther zu denselben und geringschätzung der Päpstisehen Irrthüme, eine mehrere macht heimlich gewinnen solte" (s. Anm. 374, BI. 653 v ). 9 Döring

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3. Exkurs: Zur Rezeption von Pufendorfs "Jus feciale" (insbesondere durch Gottfried Wilhelm Leibniz) Hat die Entstehung und der Inhalt von Pufendorfs "Jus feciale" bisher kaum nähere Beachtung gefunden, so gilt diese Feststellung in einem noch viel stärkeren Maße für die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes, das zwischen 1695 und 1721 immerhin sieben Ausgaben erlebte (4 lateinische, 2 englische, 1 deutsche). 383 Daß die Existenz des Pufendorfschen Werkes schon vor seinem Erscheinen in den Gelehrtenkreisen bekannt war, beweist mindestens Leibniz' an Spanheim gerichtete Frage nach dem Schicksal von Pufendorfs hinterlassener Arbeit. 384 Wenn nicht durch Pufendorf selbst, so können doch Berichte über das Buch durch Spener, Rechenberg oder Thomasius, denen das Manuskript zur Begutachtung ausgehändigt worden war, in die Öffentlichkeit gedrungen sein. Über die unmittelbare Reaktion auf das postum herausgegebene Werk wissen wir wenig. Immerhin will Leibniz von den verschiedensten Seiten mündlich und schriftlich die Aufforderung erhalten haben, seine Meinung über dieses Buch zu äußern, was auf ein breiteres Interesse schließen läßt, das nicht zuletzt wohl auch auf den Namen des Verfassers zurückzuführen ist. 385 Es ist bekannt, mit welchem Eifer um 1700 vor allem zwischen Hannover und Berlin unter Beteiligung der Helmstedter Theologenschaft die Frage einer Vereinigung der bei den großen protestantischen Konfessionen diskutiert worden ist. Trotz der Beteiligung von Leibniz an diesen Verhandlungen hat dieses Kapitel der Kirchengeschichte samt seiner theologischen Hintergründe bisher nur am Rande Aufmerksamkeit wecken können. 386 Da sich, wie im folgenden zu zeigen sein wird, Leibniz und Gerard Wolter Monalus, die führenden Köpfe auf Seiten der Lutheraner in Hannover, Pufendorfs Ansichten gegenüber ablehnend verhielten, dürfte das "Jus feciale" von ihnen wohl kaum als Anregung in die Verhandlungen eingebracht worden sein. Bemerkenswert ist dagegen, daß Friedrich Ulrich Calixt, der diesen Bemü383 Nach den Angaben von H. Denzer (Nr. 416, S. 372 f.). Daß Pufendorfs "Jus feciale" gerade in England größeres Interesse fand, dürfte mit der Erbfolge des lutherischen Hauses Hannover zusammenhängen. Der Gedanke an eine Annäherung der anglikanischen und der lutherischen Kirche lag damals in der Luft und wurde z. B. von Jablonski intensiv verfolgt (vgl. Ernst Benz: Bischofsamt und apostolische Sukzession im deutschen Protestantismus. Stuttgart 1953, bes. S. 23 f. und 48 ff.). Untersuchungen über die Aufnahme der englischen Übersetzung sind mir nicht bekannt. 384 Leibniz an E. Spanheim, 1./ 11. 5. 1695 (G. W. Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. 2. Reihe, 11. Bd., S. 455). 385 Leibniz gibt diese Wünsche als Grund für die Abfassung eines zu seiner Zeit unveröffentlicht gebliebenen Aufsatzes an (teilweiser Abdruck dieses Textes bei G. Grua [Hrsg.]: G. W. Leibniz: Textes inedits. Paris 1948. S. 376 - 378). 386 Vgl. W. Delius: Berliner Kirchliche Unionsversuche im 17. und 18. Jh. In: Jahrbuch f. Brandenburgische Kirchengesch. Jg. 45 (1970), S. 7 -121. Nur in einem dürftigen Auszug bekannt geworden ist mir die Diss. von Wilhelm Ziegler: Der Unionsgedanke in der Kirchenpolitik der Hohenzollern von Sigismund bis auf Friedrich Wilhelm H. Diss. Freiburg / Br. 1925.

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hungen skeptischer gegenüberstand, die zurückhaltende Position Pufendorfs in der Frage der Wiedervereinigung der Konfessionen beifällig hervorhebt. 387 Greifbarer ist die im Anschluß an die Publikation des "Jus feciale" veröffentlichte Streitschriftenliteratur. F. Palladini nennt sieben selbständige Titel und drei Rezensionen. 388 Ist schon diese Liste nicht vollständig,389 so ist vor allem zu beachten, daß fünf der sieben Ausgaben des "Jus feciale" erst nach 1700, also nach der von Palladini gezogenen Zeitgrenze für die Erfassung der Literatur über Pufendorf, erschienen sind und mit Sicherheit irgend welche Reaktionen hervorgerufen haben werden. Eine Rezeptionsgeschichte des "Jus feciale" ließe sich erst dann schreiben, wenn das vorhandene entsprechende gedruckte und ungedruckte Material hinreichend erschlossen worden ist. Die folgenden Ausführungen werden sich daher nach einem kurzen Überblick über die bislang bekannt gewordenen zeitgenössischen Meinungsäußerungen zum "Jus feciale" auf nur eine Stellungnahme konzentrieren, die dafür von niemand Geringerem stammt als von Gottfried Wilhelm Leibniz. Gerade der Vergleich zwischen den theologischen Positionen dieser beiden Denker kann uns beim Verstehen des jeweiligen besonderen Charakters ihrer Stellung innerhalb der Geistesgeschichte helfen. Es nimmt nicht Wunder, daß Pufendorfs Schrift eigentlich bei keinem der theologischen bzw. geistigen Lager jener Zeit auf sonderliche Zustimmung stoßen konnte. Im geringsten Maße war wohl seitens der Katholiken mit einer irgendwie positiv gefärbten Reaktion zu rechnen, hatte doch Pufendorf alle Register gezogen, um die angebliche Verderbtheit der katholischen Geistlichkeit und die Oberflächlichkeit bzw. Absurdität des von ihr vertretenen Glaubens nachzuweisen. Habe sich Pufendorf, heißt es daher bei Pacificus Lügenfeind (s. Anm. 389), in der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus des inhumanen Hasses enthalten, um allein der Wahrheitssuche zu dienen? Nicht im geringsten, lautet die Antwort. Wesentliche Artikel des katholischen Glaubenssystems würden falsch dargestellt (z. B. Eucharistie und Rechtfertigungslehre) und seine gegen die Geistlichen 387 Gutachten Calixts für Herzog Anton Ulrich von Wolfenbüttel über die Unionsfrage (UB Leipzig, Ms 01360, BI. 59 r - 64r , hier BI. 62 ff., eigenhändige Ausfertigung Calixts). Interessanterweise hat man sich auch seitens der Pietisten bei der Ablehnung der Unionspläne Leibniz' auf Pufendorf berufen: "von H. v. leibnitz hatt man gantz gewiß sagen wollen, Er würde die religion ändern, ja hette es auch schon gethan ... Ohnmöglich ist es nicht, wenn ich bedencke seine vorschlage der union, welche H. puffendorff See1. in seinem jure faecali wiederleget." (e. H. Canstein an A. H. Francke, 3.2. 1714. Peter Schicketanz [Hrsg.]: Der Briefwechsel Carl Hildebrands von Canstein mit A. H. Francke. New York, Berlin 1972 [Texte zur Geschichte des Pietisumus, Abt. III., Bd. 1], S. 635). 388 F. Palladini (Nr. 660), S. 66 und S. 395 ff. Diese Übersicht erfaßt nur die lateinischsprachigen Veröffentlichungen. Mindestens eine dieser Schriften, Immanuel Webers Verteidigung Pufendorfs (Nr. 135 des Verzeichnisses bei Palladini), ist auch in deutscher Übersetzung erschienen (s. Palladini, S. 400 f.). 389 Ich verdanke Frau Dr. Palladini den Hinweis auf eine von ihr erst kürzlich entdeckte katholische Streitschrift: Samuelis Liberi Baronis de Pufendorf ... Jus feciale divinum ... paucis discussa a Pacifico Lügenfeind. Köln 1696. Vg1. die folgende Darstellung. 9*

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gerichteten Vorwürfe könnten sehr wohl auch an die lutherischen Pfarrer adressiert werden. Ausführlich und in einer nicht ungeschickten Art und Weise wird Pufendorfund anderen Lutheranern (besonders V. L. v. Seckendorf) vorgehalten, daß sie mit ihrer Toleranz bzw. Indifferenz in der Abendmahlsfrage den genuin lutherischen Standpunkt schon längst verlassen hätten, was mit einer Fülle von Zitaten (aus Lutherschriften, den Bekenntnissen der lutherischen Kirche und Publikationen von Theologen des 17. Jh.) belegt wird. Pufendorfund Seckendorf würden mit den Reformierten gemeinsame Sache machen, nur um in ihrem Kampf gegen den Katholizismus Verstärkung zu erhalten, obwohl die verdammungswürdige Sakramentslehre der Calvinisten nach der eigenen Erkenntnis der lutherischen Kirche die Seele geradewegs in die Hölle führt. 390 Die Reformierten verzeichnen zwar mit Befriedigung Pufendorfs moderate Haltung in den das Abendmahl und die Christologie betreffenden Fragen, fühlen sich jedoch in seiner Darstellung ihrer Prädestinationslehre nicht verstanden. 391 Eine recht zurückhaltende Position scheinen die Lutheraner bezogen zu haben; jedenfalls ist uns nur der Austausch einiger Streitschriften zwischen dem Tübinger Theologieprofessor Johann Wolfgang Jäger und dem Leipziger Rechtsprofessor Johann Balthasar Wernher bekannt geworden. 392 Das Thema dieser Schriften ist weniger die Möglichkeit einer konfessionellen Union als die im Luthertum unübliche Rezeption der Föderaltheologie und die alten, seitens der lutherischen Orthodoxie schon über Jahrzehnte hinweg vorgetragenen Angriffe gegen Pufendorfs voluntaristische Wertethik. Interessant sind die wenigen Reaktionen, die uns aus der Feder von Vertretern der Aufklärung überliefert sind. Sie sind durchweg negativer Natur und untermau390 "Quandoquidem Lutherus noluit, immo sub comminatione damnationis aeternae vetuit, Religiosam cum Sacramentariis Fraternitatem a Filiis suis, ex illo Papae, eidemque adhaerentium Catholicorum odio iniri." (S. 70.) 391 Vgl. die Schrift des Genfer Theologieprofessors Benedict Pictet: De consensu ac dissensu inter Reformatos, et Augustanae Confessionis fratres, Dissertatio. Amsterdam 1697 (Nr. 136 bei Pallavicini). Positiver fiel das Urteil seines Lausanner Kollegen Jeremie Sterky aus, der seine "Observations pacifiques", die u. a. an den Ce1ler Hof geschickt wurden, unter vorrangiger Benutzung des Jus fecilale verfaßt haben will. Kein am konfessionellen Frieden interessierter Reformierter könne zögern, Pufendorfs "Confessio de foy" zu unterschreiben (Stercker [so Anm. 410], S.90). F. B. Carpzov in Leipzig glaubt, daß Pufendorfs Buch seinem Briefpartner Th. von Almeloveen besonders zusagen würde, da hier das föderaltheologische System der Reformierten, denen Almeloveen angehört, zur Anwendung gelangt (Carpzov an Almeloveen, 21. 1. 1696, Bayerische Staats bibliothek München, Scheriana VIII, BI. 69'). 392 Vgl. Palladini (Nr. 597), S. 406 ff. Insgesamt werden dort vier Texte aufgeführt. Meine folgende Bemerkung über deren Inhalt stützt sich allein auf die Angaben von Frau Palladini. Nach einer Notiz in der "Bibliotheca juris imperantium" (Nr. 93), S. 46, hat ein Anse1m Bittig 1702 eine Schrift veröffentlicht, die den Versuch unternimmt, die Positionen Jägers und Wernhers zu versöhnen (Dissertatione academica de natura et origine moralitatis et juris connati, occasione litis inter Theologum Wurtenbergicum, et quendam B. Puffendorffii Vindicem, nuper recrudescentis. Augsburg 1702). Ich bin dieser Schrift bisher nicht habhaft geworden.

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ern erneut die oben vertretene Ansicht, daß Pufendorf in seinen theologischen Anschauungen seinen Leipziger Lehrern näher steht als den zur Aufklärungstheologie des 18. Jh. weisenden Tendenzen. An erster Stelle ist hier Christi an Thomasilis zu nennen, der (wie bereits mehrfach erwähnt) das Manuskript des "Jus feciale" noch vom Autor zur Durchsicht erhalten hatte. 393 Das einzige bleibende "positive" Ergebnis des Buches werde darin bestehen, daß der Nachwelt bewiesen wird, wie sehr zu Unrecht Pufendorf der Mißachtung der Religion beschuldigt worden ist, da er sich in diesem Buch "zum wenigsten auf 3/4 'Y"TJo-tro