Publizistik im Exil und andere Themen [Reprint 2021 ed.]
 9783112422649, 9783112422632

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Exilforschung Ein internationales Jahrbuch Band 7

EXILFORSCHUNG EIN INTERNATIONALES JAHRBUCH Band 7 1989 Publizistik im Exil und andere Themen

Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung / Society for Exile Studies von Thomas Koebner, Wulf Köpke, Claus-Dieter Krohn und Sigrid Schneider in Verbindung mit Lieselotte Maas

edition text + kritik

Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Claus-Dieter Krohn Weidenstieg 9 2000 Hamburg 20

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Publizistik im Exil und andere Themen / hrsg. im Auftr. d. Ges. für Exilforschung von Thomas Koebner ... In Verb, mit Lieselotte Maas. - München: edition text + kritik, 1989 (Exilforschung; Bd. 7) ISBN 3-88377-321-2 NE: Koebner, Thomas [Hrsg.]; GT

Copyright by edition text + kritik GmbH, München 1989 Satz: offizin p + p ebermannstadt Druck: Weber Offset GmbH, München Buchbinder: Buggermann & Wappes GmbH & CoKG, München Umschlagentwurf: Dieter Vollendorf, München ISBN 3-88377-321-2

Inhaltsverzeichnis

7

Vorwort Hermann Haarmann

In der Fremde schreiben. Aspekte der Exilpublizistik. Eine Problemskizze

11

Gerhard Scheit

Die Satire als archimedischer Punkt. Zur Rekonstruktion nicht stattgefundener Exil-Debatten 21

Walter Uka

Willi Münzenberg - Probleme einer linken Publizistik im Exil

40

Zwischen Scheitern und Erfolg: Journalisten und Publizisten im amerikanischen Exil

51

Die Publizistin Erika Mann im amerikanischen Exil

65

The Lesson of Germany. Gerhart Eisler im Exil: Kommunist, Publizist, Galionsfigur der HUAC-Hexenjäger

85

Mit Zeichenstift und Farbe gegen den Hitler-Staat. William Pachners politische Illustrationen in amerikanischen Zeitschriften

98

Der Fall Ullmann - Lherman Oulmän

107

Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?

119

Sigrid Schneider

Irmela von der Lühe

Jürgen Schebera

Guy Stern / Brigitte V. Sumann

Will Schaber

Hélène Roussel / Lutz Winckler

Michel Grünewald

Klaus Ulrich Werner

Waltraud Strickhausen

Dieter Schiller

Literaturkritik in Exilzeitschriften: Die neue Weltbühne

136

Der Feuilletonist und Romancier Hans Natonek im Exil

155

Im Zwiespalt zwischen Literatur und Publizistik. Deutungsversuch zum Gattungswechsel im Werk der Exilautorin Hilde Spiel

166

Arnold Zweig und die Palestine Post in Jerusalem

184

Arie Wolf

Die »Verwurzelungs«-Kontroverse Arnold Zweigs mit Gustav Krojanker. Kommentar zu einer Pressepolemik in Palästina 1942 202

Wulf Köpke

Die würdige Greisin. Marta Feuchtwanger als Beispiel

Hans-Christian Oeser

Kurzbiographien der Autoren

212

»Die Dunkelkammer der Despotie«. Bernard von Brentanos Prozeß ohne Richter im Zwielicht 226 248

Vorwort

Die Publizistik des Exils spiegelt repräsentativ und authentisch die gesamte Bandbreite der politischen und kulturellen Strömungen, die kreative Vielfalt, die politische Heterogenität und nicht zuletzt viel von der Alltagswirklichkeit der in alle Welt verstreuten Flüchtlinge vor Hitler wider. Sie stellte die Plattform dar für grundlegende politische und ästhetische Standortbestimmungen und Debatten, die in einigen Fällen über die eigene Selbstverständigung und Handlungsorientierung hinaus bis heute nachwirken. Zentrale Bedeutung kommt der Presse im Exil als dem Mittel zu, das soziale Kommunikation über den unmittelbaren Nahbereich hinaus überhaupt erst ermöglicht, das informiert, Orientierung, Zuflucht oder auch Entspannung liefert, Zusammenhalt schafft und für viele die einzige Chance zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs darstellt. Wie elementar diese Bedürfnisse waren, zeigt die enorme Produktivität im Bereich der Exilpublizistik, die um so erstaunlicher ist, bedenkt man die zu bewältigenden finanziellen, technischen und organisatorischen Schwierigkeiten. Die Exilforschung hat die Bedeutung der Publizistik des Exils längst erkannt und ihr durch umfangreiche Arbeiten im Bereich der oft sehr mühsamen Rekonstruktion bibliographischer Daten und Fakten, durch systematische Annotationen und Zeitungs- und Zeitschriftenporträts Rechnung getragen. Neben der Dokumentation und Deskription interessierte dabei vor allem die Erforschung von einzelnen politischen, persönlichen und literarischen Entwicklungen. Mittlerweile lassen sich allerdings darüber hinaus auch Ansätze zu einer (ebenso schwierigen wie fruchtbaren) Rekonstruktion des kommunikativen Gesamtzusammenhangs erkennen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Publizistik des Exils erfordert und befördert interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Nutzung der in den verschiedenen beteiligten Einzelwissenschaften jeweils erreichten theoretischen und methodischen Standards zur Erforschung von Fallbeispielen, Rahmenbedingungen der Exilsituation und der Interferenzen von Heimatund Fremdkultur. Der vorliegende Band versteht sich als Angebot, einen Blick in die Werkstatt der Exilpublizistikforschung zu tun, und als Anregung zur kritischen Auseinandersetzung. Die Mehrzahl der hier versammelten Aufsätze erforscht einen vor allem durch »publizistische Persönlichkeiten« im Exil geprägten Bereich. Da sind zunächst diejenigen, deren journalistische Arbeit auch schon vor der Flucht eindeutig politisch motiviert war und im Dienst einer Partei oder politischen Institution stand. Der Beitrag über Willi Münzenberg setzt sich mit dessen Arbeitsmethoden auseinander und fordert eine Überwindung der in der

Münzcnbcrg-Forschung dominierenden Spekulationen durch die systematische Konfrontation von Memoiren- und Sekundärliteratur. Zweifellos muß die Untersuchung nicht flktionalisierter zeitgenössischer Darstellungen und Einschätzungen und die Analyse der publizistischen Produktion und ihrer Bedingungen hinzukommen. Dies soll im nächsten Jahrbuch in einem Artikel über die Editions du Carrefour versucht werden. Wie Münzenberg verfügte der kommunistische Journalist und Redakteur Gerhart Eisler über große organisatorische Qualitäten im publizistischen Bereich und wurde daher von seiner Partei immer wieder zur Entwicklung von Presse- und Propagandaprojekten eingesetzt. Daß sich Eisler mit seiner zweisprachigen Zeitschrift The German American nicht nur an die Gruppe seiner Schicksals- und Parteigenossen im Exil wandte, sondern ausdrücklich auch an ein deutsch-amerikanisches und amerikanisches Publikum, dürfte ein Grund für die antikommunistische Hetzjagd gegen ihn gewesen sein. Unabhängig von Parteien und Institutionen war Erika Mann als engagierte publizistische Einzelkämpferin vor allem auf ihren zahlreichen lecture-tours erfolgreich. Über den inhaltlichen Beitrag zum antifaschistischen Kampf hinaus erarbeitete sie im übrigen ein interessantes Konzept für die Rundfunkarbeit im Exil, das die Rezeptionsbedingungen des Hörerpublikums in Deutschland zugrunde legte. Ganz anders als die bisher Genannten reagierte der Feuilletonist Hans Natonek auf die existentielle Verunsicherung, die er als Identitätsverlust erlebte. Die Entwurzelung nahm ihm die gewohnte Möglichkeit der Verarbeitung des Zeitgeschehens: der Journalist wurde zum Romancier, flüchtete in die Literatur. Als Zeitgenosse und Augenzeuge schildert Will Schaber eine schillernde Persönlichkeit aus dem Randbereich der Exilpublizistik: den Hochstapler Jo Lherman, der kriminelle Energie mit erstaunlichen journalistischen Fähigkeiten verband und als Rundfunkberichterstatter über die Nürnberger Prozesse nach dem Kriege Publizität erlangte. Für zwei entgegengesetzte Reaktionen von Schriftstellern auf die Erfahrung des Exils stehen Arnold Zweig und Hilde Spiel. Der Zionist Zweig hatte Schwierigkeiten mit einer Annäherung an sein Asylland Palästina und sagte das auch. Dagegen brachte Hilde Spiel, die jung ins britische Exil ging, sich dort sehr schnell stabile private und berufliche Kontakte schuf und die Sprache zu eigen machte, großes Interesse an der neuen Kultur und an einem unbekannten Publikum mit. Nicht zuletzt die »Forderungen des Tages« veranlaßten sie zu einem Wechsel vom Roman zum Essay. Ihre Entwicklung kann als Beispiel für eine gelungene Akkulturation gelten. Noch deutlicher wird der Einfluß der Politik auf das künstlerische Schaffen bei William Pachner, der im US-Exil zum politisch engagierten Karikaturisten und Maler wurde und seine antifaschistischen Zeichnungen in auflagenstarken amerikanischen Illustrierten unterbringen konnte. Interessant ist dabei die Haltung eines seichten Mode- und Herrenmagazins wie Esquire, das den antifaschistischen Emigranten Pachner geradezu als Aushängeschild benutzte.

Alle diese Beispiele für die unterschiedlichen Arten publizistischen Engagements einzelner lassen sich in ein Spektrum professioneller Karrieren einordnen bzw. können als Illustration der Berufsgeschichte von Journalisten und Publizisten im Exil gelesen werden. Solche Berufsgeschichten machen unter anderem deutlich, daß zu einem vollen Verständnis von Rolle und Funktion von Exilpublizisten und Exilpresse die Berücksichtigung des gesamten Arbeitsmarkts bzw. des jeweiligen ausländischen Kommunikationssystems dazugehört. Einen Versuch in dieser Richtung macht der Aufsatz über die vertriebenen Journalisten im amerikanischen Exil, der das berufliche Milieu des dortigen Medienmarktes und die Zugangsprobleme für die professionell meist ganz anders geprägten deutschen Publizisten untersucht. Auch im Beitrag über das Pariser Tageblatt wird eine Exilzeitung nicht nur als historische Quelle politischer Aussagen, sondern als publizistische Institution mit komplexen Produktions- und Rahmenbedingungen aufgefaßt. Hier stehen professionelle Konzepte, Kommunikationsstrategien, Marktbedingungen und Lesererwartungen zur Debatte - in kritischer Erwiderung auf einen Beitrag zu derselben Zeitung in Band 3 des Jahrbuchs. Einem anderen Jahrbuch-Aufsatz (in Band 6) - und damit der vorherrschenden Meinung über Lukäcs — widerspricht der Beitrag über die Satire als Mittel des antifaschistischen Kampfes. Diese Arbeit beweist, daß die damaligen literaturtheoretischen Weichenstellungen bis in die heutigen Debatten nachwirken. Der Aufsatz über die Neue Weltbühne zeigt, wie auch hier der Literatur eine didaktische Funktion zugewiesen und Literaturkritik als Beitrag zum politischen Kampf verstanden wurde. Über den Themenschwerpunkt Publizistik hinaus liefert der vorliegende Band neue Erkenntnisse über Bernard von Brentanos Roman Prozeß ohne Richter. Anhand von bisher unveröffentlichtem Material kommt der Verfasser zu dem Schluß, daß Brentano mit diesem Roman nicht, wie stets als selbstverständlich angenommen, eine Allegorie des Faschismus geschrieben hat, sondern Bezug nimmt auf den ersten Moskauer Prozeß vom August 1936. Außerdem wird einer prominenten Frau im Exil gedacht: der im Oktober 1987 verstorbenen Marta Feuchtwanger. Abschließend sei auf die geplanten Schwerpunkte für die künftigen Jahrgänge hingewiesen: In Vorbereitung sind Untersuchungen über das politische Exil, über Remigrationsprobleme und über die Rezeption des »Anderen Deutschland« in der frühen Bundesrepublik.

Hermann Haarmann

In der Fremde schreiben. Aspekte der Exilpublizistik Eine Problemskizze

Als sich Klaus Mann aus dem französischen Exil an Gottfried Benn wandte, um ihm die Folgen einer Parteinahme für das Dritte Reich vor Augen zu führen, verfaßte dieser seine, durch den kalten Zynismus berühmt gewordene »Antwort an die literarischen Emigranten«, die er am 24. Mai 1933 im deutschen Rundfunk selbst verlas und die am folgenden Morgen in vollem Wortlaut in der Deutschen Allgemeinen Zeitung erschien: »Sie schreiben mir einen Brief aus der Nähe von Marseille. In den kleinen Badeorten am Golf de Lyon, in den Hotels von Zürich, Prag und Paris, schreiben Sie, säßen jetzt als Flüchtlinge die jungen Deutschen, die mich und meine Bücher einst so sehr verehrten. (...) Sie stellen mich zur Rede, Sie warnen mich, Sie fordern von mir eine unzweideutige Antwort.«1 Bevor Benn sich sehr eindeutig zum nationalsozialistischen Deutschland bekannte, machte er, eher nebenbei, auf einen kommunikationsgeschichtlich wichtigen Umstand aufmerksam, der weitere Beachtung verdient. »Ich muß Ihnen zunächst sagen, daß ich auf Grund vieler Erfahrungen in den letzten Wochen die Überzeugung gewonnen habe, daß man über die deutschen Vorgänge nur mit denen sprechen kann, die sie auch innerhalb Deutschlands selbst erlebten. Nur die, die durch die Spannungen der letzten Monate hindurchgegangen sind, die von Stunde zu Stunde, von Zeitung zu Zeitung, von Umzug zu Umzug, von Rundfunkübertragung zu Rundfunkübertragung alles dies fortlaufend aus unmittelbarer Nähe miterlebten, Tag und Nacht mit ihm rangen, selbst die, die das alles nicht jubelnd begrüßten, sondern es mehr erlitten, mit diesen kann man reden, aber mit den Flüchtlingen, die ins Ausland reisten, kann man es nicht.«2 Über den offensichtlichen Rechtfertigungscharakter des Arguments hinaus, daß nur der, der vor Ort sei, über die aktuelle Lage in Deutschland urteilen dürfe, ist hier ein Tatbestand angesprochen, den die aufgezwungene Emigration notwendigerweise nach sich zog: die Trennung von authentischen Nachrichten und Meinungen in der ehemaligen Heimat. Was von dort offiziell verlautbart wurde, war mit Vorsicht zu genießen. Man konnte die gleichgeschalteten faschistischen Medien schlechterdings als Sachwalter objektiver Berichterstattung betrachten; diese nach ihrem Wahrheitsgehalt zu hinterfragen, dazu bedurfte es, zumal im Exil, der Kunst des Gegen-den-StrichLesens, denn nicht selten waren Dichtung und Wahrheit kunstvoll miteinander verwoben. Für den Leser im Reich ließ die gewalttätige Selbstverständlichkeit, mit der der deutsche Faschismus sich publizistisch präsentierte,

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keinen Zweifel an der Berechtigung eines parteilichen Journalismus, der jetzt zuerst für das neue Regime und gegen die überwundene sogenannte Systemzeit zu sein hatte: »Gegen volksfremden Journalismus demokratischjüdischer Prägung! Für verantwortungsbewußte Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus! Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Theodor Wolff und des Georg Bernhard.« 3 So unterschiedlich die durch den studentischen Rufer im Mai 1933 während der Berliner Bücherverbrennung vermeintlich an den Pranger gestellten Persönlichkeiten auch sind, sie waren Repräsentanten des liberalen bis bürgerlichen Lagers, die auf Dauer mundtot gemacht werden mußten - so wie die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteigänger, die sogleich vom Verbot betroffen waren. Vorerst noch galt »für die nationalsozialistische Presselenkung (...) der Grundsatz, den langfristig fatalen Eindruck der totalen Reglementierung und der unmittelbaren inhaltlichen Abhängigkeit der Presse von propagandistischen Erfordernissen soweit wie irgendmöglich zu vermeiden.« 4 Der staatliche Eingriff in die Pressefreiheit war unspektakulär, aber wirkungsvoll und wurde vor der breiten Öffentlichkeit geheimgehalten: »der grundsätzlich eingeschränkte und überwachte Zugang zu Informationen - Monopol einer Nachrichtenagentur, des Deutschen Nachrichtenbüros.«5 Bevor ein informatives Wort überhaupt im Druck erschien, war es auf diese Weise schon zensiert worden. Eine vielfältige Aufgabe harrte mithin der (politisch engagierten) Exilanten: Aufklärung nach drei Seiten, das heißt Informationsaustausch untereinander und mit Blick aufs Gastland sowie Informationstransfer ins faschistische Deutschland. Über die deutsche Exil-Presse konstituierte sich die historisch notwendige antifaschistische Gegen-Öffentlichkeit. Während Exilzeitschriften, -Zeitungen und -Verlage die Leserschaft in den Exilzentren versorgten, richteten sich die Tarnschriften 6 , eine Exilpublizistik der besonderen Art, zumeist an ehemals gewerkschaftlich oder politisch organisierte Zirkel im Reich. Schreiben im Exil, Weiterschreiben unter den unwirtlichen Bedingungen des Asyllandes, war von vornherein zielgerichtetes Arbeiten, wobei eine überparteiliche Gemeinschaft durch die antifaschistische Grundhaltung gleichsam unbefragt angenommen wurde. Sich auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, schien angesichts des gemeinsamen Feindes nur folgerichtig. Und doch verlängerten sich Widersprüche, Zwistigkeiten und Animositäten über das Ende von Weimar hinaus ins Exil. Die Exilpresse seit 1933 war so vielfältig, wie ihre Initiatoren und Verleger aus unterschiedlichen Lagern kamen. »Die Exilpresse war, und das ist ein Hauptgrund für ihre zahlenmäßige Stärke, ausgesprochen pluralistisch.«7 Die großen politischen, gewerkschaftlichen, konfessionellen Bewegungen versuchten, sofern sie im Exil weiterexistierten, sich eine genuine Öffentlichkeit zu schaffen, das heißt über ein eigenes Organ miteinander zu kommunizieren, damit vor der drohenden Isolation sich zu schützen und zugleich einen publizistischen Abwehrkampf nach innen und nach außen zu führen. Der insgeheim politische Charakter der Presse verschärfte sich

In der Fremde schreiben

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mithin im Exil - nicht nur im Sinne einer dezidiert ideologischen Ausrichtung; vielmehr veränderte das Exil die objektive Verschränkung von Presse und Politik gleichsam bis zur Kenntlichkeit. Die Exilpublizistik ist, so besehen, immer zuerst politische Publizistik. Ein Tatbestand, der nicht nur für die journalistische Tagesarbeit gilt, sondern auf jedes im Exil geschriebene Wort bezogen werden kann. »Im exilierten Schrifttum ist der Einklang von Literatur und Politik noch intimer als in dem auf heimatlichen Boden gedeihenden. Die politische Publizistik im Exil ist folgerichtig in einem erheblichen Ausmaß eine kultur-politische gewesen.«8 Unter diesem historisch signifikanten Aspekt entscheidet in erster Linie nicht so sehr die massenhafte Rezeption über die kulturgeschichtliche Relevanz der Exilpublizistik. Selbst die einsame Tat des einzelnen ist da von Interesse, reihte doch auch sie ihren Urheber ein in die Phalanx der Hitler-Gegner. Jene Persönlichkeiten, die insbesondere in den ersten Jahren der Vertreibung für das andere, bessere Deutschland, das Deutschland der Aufklärung, Toleranz und Vernunft standen, konnten — unabhängig von der Breite ihrer öffentlichen Repräsentanz durch das gedruckte Wort - als Identifikationsund Sinnstifter in der Fremde wirken. Will sagen, die Beschäftigung mit der Exilpublizistik hat stärker nach deren Inhalt als nach deren Verbreitung zu fragen. So wenig die empirisch-statistischen Ergebnisse einer eher positivistischen Kommunikationsgeschichtsschreibung insgesamt geschmälert werden sollen, so bleibt zu bedenken, ob und wie daraus Schlüsse zu ziehen sind über die Wirklichkeit des deutschen Exils. Was sagt die höhere Auflage einer Exilzeitschrift zuerst einmal anderes, als daß sie offensichtlich auf einen größeren Leserkreis rechnen konnte. Ist dagegen der handgeschriebene Kassiber von geringerer Wichtigkeit? Selbst das Scheitern eines Projekts ist nicht gleichbedeutend für dessen Nichtigkeit. Um noch zugespitzter zu formulieren, auch die nicht geschriebenen Texte sind Zeugnisse des Exils, stumme Zeugnisse sozusagen. Die objektiven wie subjektiven Schwierigkeiten, zu schreiben und zu publizieren, werden im Gegenteil offensichtlicher und lassen erkennen, welchen Zwängen, Unwägbarkeiten und Zufällen jeder Versuch einer Fortführung oder Umorientierung bisheriger Arbeit ausgesetzt war. Je länger das Exil dauerte, um so krasser der Zustand der Monade, ohne direkten Bezug9 zum realen Deutschland. »Im übrigen aber ist uns das tägliche Leben der Deutschen von heute fremder als das von Bewohnern dunkelster Erdteile. Ich weiss nicht, wieviel Platz die Bände des Reichsgesetzblattes von 1933 bis heute einnehmen, aber das weiss ich, dass schon die äusseren Regeln, nach denen sich das Leben des Durchschnittsdeutschen von heute richtet, Legion sind, und alles, was wir gekannt haben, völlig umgestülpt haben. Dazu kommt, dass es unerhört schwer ist, sich die Verheerungen vorzustellen, die die Hitlerschen und Goebbelschen Lügen in den Köpfen unserer Mitdeutschen angerichtet haben. Manchmal fasst mich Zweifel, ob wir noch dieselbe Sprache sprechen.«10 Jenseits des bisher allseitig gültigen Mediums gesellschaftlicher Kommunikation verlor der >aufgehörte

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Hermann Haarmann

Publizist< - um ein Wort von Kurt Tucholsky zu paraphrasieren - sein angestammtes Publikum; und das auf doppelte Weise, denn das Publikum empfängt nicht nur, es reagiert zugleich auf die ihm dargebotene Information. »Der Journalist ist auf Kommunikation angewiesen; wenn sein Publikum ihm >nichts mehr sagtweil man doch leben muß< ... also je n'en vois par la nécessité.«28 Tucholsky verspürte das Ende, das die bisherige deutsche Geschichte mit dem Machtantritt Hitlers erfuhr, als Schock und zugleich als Niederlage einer ganzen Generation von Intellektuellen, die durch das öffentliche Wort, die politische Aufklärung der drohenden Katastrophe entgegenwirken wollten und scheiterten. Dieser Schock saß tief,

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Hermann Haarmann

und er sollte sich noch weiter verstärken: »Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümphe in der Hand hatte. Was ist nun zu tun - ? Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platz. Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. (...) Was geschieht statt dessen? (...) Statt einer Selbstkritik und einer Selbsteinkehr sehe ich da etwas von >Wir sind das bessere Deutschland< und >Das da ist gar nicht Deutschland< und solchen Unsinn.«29 Tucholskys nüchterner Blick fällt auf ein Problem, das die überwiegende Mehrzahl der Zeitgenossen offensichtlich nur am Rande beschäftigte, beschäftigen durfte, die Nachgeborenen jedoch zunehmend interessieren sollte. War die Verdrängung der schweren Niederlage, die der Sieg des deutschen Faschismus sowohl für die (kommunistische und die reformistische) Arbeiterschaft wie für die linke Intelligenz bedeutete, zuerst der bloßen Überlebensstrategie geschuldet, so verbarg sich hinter dieser Haltung doch mehr: Die manchmal an Selbsttäuschung reichende Vorstellung, im Exil bruchlos fortfahren zu können mit der publizistischen Arbeit, entsprach der bisherigen Praxis, Niederlagen kaum als produktiv, das heißt die gesellschaftliche Entwicklung befördernd, vermittelt bzw. vermittelt bekommen zu haben; sie wurden im Gegenteil zu Teilerfolgen uminterpretiert. Ein Beispiel für solch eine Geschichtsklitterung lieferte Wilhelm Pieck noch im Dezember 1933, als er die offizielle Sicht der Exil-KPD folgendermaßen darlegte: »Die faschistische Diktatur in Deutschland wurde aufgerichtet gegen eine unbesiegte Arbeiterklasse, die zwar vorübergehend zurückwich, aber sich wieder zum Angriff sammelt.«30 Wie anders hatte da Rosa Luxemburg nach der gescheiterten Revolution von 1918 argumentiert: »Wo wären wir heute ohne jene >NiederlagenDritte Reichschrieben< nicht nur Politiker wie Georgi Dimitroff, Molotow oder der amerikanische Gewerkschaftsführer John L. Lewis, sondern auch Literaten wie Heinrich Mann und Friedrich Wolf (letzter unter dem Pseudonym Ulrich von Hutten). - 7 Hans-Albert Walter: Deutsehe Exilliteratur 1933-1950. Bd. 7: Exilpresse I. Darmstadt, Neuwied 1974, S. 9. - 8 Bruno Frei: »Die deutsche antifaschistische Emigration in Prag 1933-1936«. In: Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Prag 1967, S. 361. - 9 Die wenigen, z.T. durch Kuriere aus dem faschistischen Deutschland herausgeschmuggelten Augenzeugenberichte von Hitler-Gegnern nahmen mit den Jahren der Machtausübung der Nationalsozialisten beständig ab. - 10 Werner Ilberg: »Schriftstellernöte«. In: 10 Jahre Kulturbarbarei im Dritten Reich - 10 Jahre freie deutsche Kultur im Exil. Published by the Free German League of Culture in Great Britain. London (1943), S. 53. - 11 Anton Austermann: Kurt Tucholsky. Der Journalist und sein Publikum. München, Zürich 1985, S. 94. - 1 2 Lieselotte Maas: »Thesen zum Umgang mit der Publizistik des Exils«. In: Die Erfahrung der Fremde. Hg. von Manfred Briegel u. Wolfgang Friihwald. Weinheim 1988, S. 271. - 13 Leopold Schwarzschild: Das Ende der Illusionen. Amsterdam 1934, S. 12. Zu Vertretern einer ähnlichen, wenn auch politisch sehr unterschiedlichen Haltung würde ich u.a. Fritz Sternberg (Der Faschismus an der Macht, Amterdam 1935), Hans Günther (Der Herren eigner Geist, Moskau 1935) und Karl Korsch (»Das Vorspiel zu Hitler«, in: Living Marxism, Vol. 5, No. 2, [Fall 1940], S. 1-8.) zählen; sie alle trachteten, den gesellschaftlichen Wurzeln des deutschen Faschismus auf die Spur zu kommen. - 14 Kurt Tucholsky: Brief an Walter Hasenclever vom 25. Juli 1933, in: K.T.: Briefe. Auswahl 1913 bis 1935. Hg. von Roland Links. Berlin/DDR 1983, S. 311. - 15 Kurt R. Grossmann: »Ich suche einen Job«. In: Aufbau, 28. Mai 1943, zit. nach: Außau. Reconstruction.

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Dokumente einer Kultur im Exil. Hg. von Will Schaber. New York, Köln 1972, S. 127. 16 Vgl. dazu Lieselotte Maas: »Kurfürstendamm auf den Champs-Elysées. Der Verlust von Realität und Moral beim Versuch einer Tageszeitung im Exil«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 3. München 1985, S. 106-126. - 17 Ebd., S. 106. - 18 Ebd., S. 107. - 19 Vgl. dazu Lutz Winckler, Hélène Roussel: »Pariser Tageblatt/Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?« S. 119 ff. in diesem Band. - 20 Ebd. - 21 Stefan Zweig: Brief an Romain Rolland vom 31. Oktober 1933. In: Romain Rolland/Stefan Zweig: Briefwechsel 1910-1940. 2 Bde. Berlin/DDR 1987, Bd. 2, S. 537. - 22 Sven Papcke bescheinigt im Anschluß an ein frühes Wort von Adolf Muschg der Exilphase insgesamt Vergeblichkeit: »Vergeblichkeit umgibt Emigration und Remigration bis heute gleichermaßen. Vergeblich war der Versuch der von den Nazis unerwünschten Traditionen, sich gegen die aufkommende Barberei in Deutschland zu behaupten; vergeblich das Bemühen, im Exil das >bessere Deutschland als machtvolle Opposition gegen die Hakenkreuzler zu organisieren; vergeblich auch das Streben, nach der Befreiung des Landes wirklich Einfluß auf die kulturelle und politische Entwicklung in der Bundesrepublik zu gewinnen« (S.P.: »Fragen an die Exilforschung heute«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 6. München 1988, S. 14). Diese Einschätzung führe gerade nicht zu einer Abwendung von der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Exilgeschichte, sie befördere vielmehr den Zugang zu ihr im Sinne einer realistischen Aneignung. - 23 Jean Améry: Unmeisterliche Wanderjahre. Aufsätze. Stuttgart 1985. S. 65. - 24 Daß Klaus Manns Roman »Flucht in den Norden« gerade wegen der journalistisch effektvoll geschilderten Verflechtung von Eros und Tod auf dem Hintergrund des ersten Exiljahres im Herbst 1934 im Pariser Tageblatt veröffentlicht wurde, werte ich als zusätzlichen Beleg für meine These. - 25 Ernst Bloch: »Zerstörte Sprache - zerstörte Kultur«. In: E.B.: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. Frankfurt/M. 1970, S. 292 (im Original teilweise hervorgehoben). - 26 Vgl. dazu Anna Seghers, die in ihrem Exilroman Transit den Ich-Erzähler in einem Moment tiefster Depression auf ein unvollendetes Manuskript stoßen läßt: »Ich vergaß meine tödliche Langeweile. Und hätte ich tödliche Wunden gehabt, ich hätte sie im Lesen vergessen. Und wie ich Zeile um Zeile las, da spürte ich auch, daß das meine Sprache war, meine Muttersprache, und sie ging mir ein wie Milch dem Säugling« (A.S.: Transit. Reinbek bei Hamburg 1966, S. 18). - 27 Kurt Tucholsky: Brief an Walter Hasenclever vom 11. April 1933. In: K.T.: Briefe (wie Anm. 14), S. 296. - 2« Ebd. - 29 Kurt Tucholsky: Brief an Arnold Zweig vom 15. Dezember 1935. In: K.T.: Briefe (wie Anm. 14), S. 574. - 30 Wilhelm Pieck: »Bericht der Delegation der KPD auf dem 13. Plenum des EKKI«, Dezember 1933. In: Faschismusanalyse und Antifaschistischer Kampf der Kommunistischen Internationale und der KPD 1923-1945. Heidelberg o J., S. 248. - 31 Rosa Luxemburg: »Die Ordnung herrscht in Berlin«. In: R.L.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Berlin/DDR 1974, S. 537. - 32 Bertolt Brecht: Brief an Johannes R. Becher vom 28. Juni 1933. In: B.B.: Briefe. Hg. und kommentiert von Günther Glaeser. Frankfurt/M. 1981, S. 167.

Gerhard Scheit

Die Satire als archimedischer Punkt Zur Rekonstruktion nicht stattgefundener Exil-Debatten

Für Georg Knepler »Jener Angriffswitz, den ihr Satire nennt, hat seinen guten Nutzen in dieser schlechten, nichtsnutzigen Zeit. Keine Religion ist mehr imstande, die Lüste der kleinen Erdenherrscher zu zügeln, sie verhöhnen euch ungestraft und ihre Rosse zertreten eure Saaten, eure Töchter hungern und verkaufen ihre Blüten dem schmutzigen Parvenü, alle Rosen dieser Welt werden die Beute eines windigen Geschlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien, und vor dem Übermut des Reichtums und der Gewalt schützt euch nichts - als der Tod und die Satire.« Heinrich Heine 18281 Die Hauptschauplätze der Literaturdebatten des antifaschistischen Exils scheinen so ziemlich abgegrast. Die Literaturwissenschaft der letzten zwanzig Jahre hat namentlich den Streit um den Expressionismus wieder- und wiedergekäut, und dabei die schon damals starren, mit Schlagwörtern abgesicherten Frontstellungen eher noch verhärtet, sodaß das einstige Konfliktpotential heute schal schmecken mag. Vielleicht ist es darum sinnvoller, von unbeachtet gebliebenen Nebenschauplätzen der Debatten in den Literaturzeitschriften Internationale Literatur und Das Wort einen neuen Zugang zu diesem Konfliktpotential zu suchen. Ein solcher Nebenschauplatz scheint die Diskussion um die schöpferische Methode des Widerstands, die Satire, zu sein. Wäre es nicht möglich, daß die streitenden Parteien darum so oft und so lange aneinander vorbeigeredet haben, weil sie den eigentlichen Gegenstand ihrer Diskussion - die antifaschistische Satire - verfehlten oder nur nebenbei zu Wort kommen ließen? Was in den Debatten unterging, beherrschte indessen die künstlerische Produktion wie kaum eine andere künstlerische Methode und Gestaltungsform: in den Werken des antifaschistischen Exils, ob bei Brecht, Heinrich Mann oder Feuchtwanger, kam der Satire wohl eine größere Bedeutung zu denn je. 2 Vor diesem Hintergrund der künstlerischen Praxis der Schriftsteller erscheint ihre weitgehende Ausklammerung aus den

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Gerhard Scheit

Debatten um so merkwürdiger. Es macht aber nachgerade das Rezeptionsschicksal vieler dieser Werke aus, immer nur von den Frontstellungen der Debatten her interpretiert zu werden. Der umgekehrte Weg - von den Analysen der Werke aus die Positionen in den Debatten zu erschließen wird nicht nur den Werken selbst gerechter; er könnte auch zu einem neuen Verständnis der Debatten - ja überhaupt des Verhältnisses von Literatur und Politik im Exil die Spur legen. Zur Eigenart stalinistischer Politik gehörte es, das Verhältnis von marxistischer Theorie und Taktik, wie es bei Marx und Lenin entwickelt und verwirklicht wurde, umzukehren. Statt die jeweilige Taktik aus den übergeordneten Gesichtspunkten der Theorie abzuleiten und aus ihrer Anwendung Schlüsse für die Weiterentwicklung der Theorie zu gewinnen, wurde diese zur Legitimation einer Taktik gezwungen, die ihrerseits von keiner Theorie mehr ableitbar war, vielmehr einem bürokratischen Voluntarismus entsprang. Dies hatte verhängnisvolle Folgen auch für die Debatten um die Literatur in der Volksfrontperiode. Die Volksfronttaktik warf - als Taktik - theoretische Fragen auf, die unter stalinistischen Bedingungen nicht mehr auf dem Niveau der Theorie offen diskutiert und entschieden werden konnten. So wurde die theoretische Debatte fortwährend durch taktische Erwägungen gestört und verzerrt - und letztlich taktisch entschieden. Brechts Rückzug aus der Expressionismus-Debatte, seine Unterdrückung der Lukäcs-Kritik waren in dieser Weise taktisch motiviert. Ebenso zog man es vor, sich mit dem Standpunkt Benjamins theoretisch lieber nicht auseinanderzusetzen, ihn vielmehr totzuschweigen. Dadurch erhielt die eine Seite der Streitenden - zu der Lukäcs und Kurella gehörten - ein taktisches Übergewicht, ohne daß sie sich theoretisch durchgesetzt hätte. Doch das Verdrängte kehrt irgendwann wieder. Seit den sechziger Jahren greifen Literaturwissenschaft und -kritik Partei für die Seite Brechts und Benjamins und glauben auf der anderen den rechten Arm Shdanows und dessen Begriffsgespenst des sozialistischen Realismus am Werk. Aber das Stigma stalinistischer Kulturpolitik wäre eher darin zu suchen, wie - in welchem Verhältnis von Taktik, Strategie und Theorie - die Streitenden sich überhaupt gegenübertreten konnten; wobei es dann zur entscheidenden Frage wird, ob sie dabei selbst >im kleinen< der Taktik die Theorie opferten oder der stalinistischen Inversion des Marxismus widersprachen. Um die taktisch verzerrten Fronten zu unterlaufen, um die Diskussion als theoretische zu rekonstruieren, ist es nötig, jene Schauplätze künstlerischer und theoretischer Arbeit aufzusuchen, wo der politische Druck nicht so groß war und sich die Debattenteilnehmer freier, gleichsam wie Partisanen, bewegen konnten. Zu ihnen zählen neben kleineren Diskussionen abseits der großen Polemiken vor allem die eigentlichen Bewegungszentren künstlerischer und theoretischer Entwicklung: Der Weg der Brechtschen Dramenproduktion von den Lehrstücken zu den großen Exildramen verdankt sich zwar dem Anstoß, den die Volksfronttaktik der Literatur zu geben vermochte, - dies mehr noch als es dem Theoretiker Brecht lieb sein

Die Satire als archimedischer Punkt

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kann - und läßt doch in seinen künstlerischen Antworten taktische Überlegungen weit hinter sich. Cum grano salis gilt dies auch für die abseits der Polemiken geschriebenen, großen Arbeiten und Essays von Georg Lukäcs - namentlich für die Studie über den Historischen Roman. I

Satire und Realismusbegriff - eine Debatte zwischen Ernst Fischer und Georg Lukäcs

In einem Artikel für die in Moskau erscheinende Deutsche Zeitung kritisierte Ernst Fischer im Jahr 1939 (unter dem Pseudonym Peter Wieden) bestimmte Tendenzen in der Literaturkritik der Zeitschrift Internationale Literatur. Er befürchtet den Verlust der Satire in der antifaschistischen Literatur und wirft dem Literaturkonzept der Zeitschrift vor, die satirischen Methoden bei der Faschismuskritik ganz allgemein zu vernachlässigen. »Daß wir die >AgitInferno< entgegenlodert.« 7 Georg Lukäcs hat in jenen Jahren ebenso energisch wie Fischer von der deutschen Literatur verlangt, Gerichtstag zu halten über die deutsche Misere. Ja, er hat dies als wichtigste Aufgabe der antifaschistischen Literatur begriffen. Sowenig seine Position mit der Hauptlinie der Internationalen Literatur konvergierte, gegen deren russische Ausgabe er damals noch in der Literatumij Kritik polemisieren konnte, sowenig stimmte sein Realismusbegriff mit jenen elegischen Tendenzen bei Kurella und Becher überein. Vielleicht ist er aus taktischen Gründen - um, ähnlich wie bei Brechts Rückzug aus der Expressionismusdebatte, das Volksfrontbündnis der deutschen Schriftsteller nicht zu belasten - gegen diese Tendenzen nicht so offen polemisch aufgetreten wie Ernst Fischer. Und obwohl er sich über ein Jahrzehnt später auch an der Debatte um Eislers Föuiiuj-Opernprojekt nicht beteiligt hat, läßt ein Aufsatz wie Die verbannte Poesie von 1942 oder die im sowjetischen Exil bereits begonnene Zerstörung der Vernunft in der Frage der deutschen Misere Übereinstimmung mit Fischer, Eisler und auch Brecht erkennen, so ungewöhnlich dies heute klingen mag. In seiner Antwort auf Ernst Fischer nimmt Lukäcs darum keineswegs die Internationale Literatur in Schutz. Vielmehr geht es ihm darum, einem falschen und einengenden Verständnis des Realismusbegriffs entgegenzutreten, das bei Fischer sich andeutet. Denn dieser identifiziert die zitierten elegischen Tendenzen nicht nur mit der Realismus-Konzeption der Internationalen Literatur, sondern mit dem Realismus im allgemeinen - und folgert daraus: »Es ist vielleicht nicht immer möglich, das Deutschland von heute, die Unterwelt des deutschen Faschismus, nur mit den Mitteln des Realismus darzustellen (...) im Pamphlet, in der Polemik, in der leidenschaftlichen Anklage gegen den Faschismus müssen auch andere künstlerische Ausdrucksmittel gestattet sein. Ich kann mir vorstellen, daß auch der Haß, der schöpferische Haß gegen den Faschismus, manchmal nicht umhin kann, über die realistischen Ausdrucksmittel hinauszugreifen und sich der Sprache der Apokalypse anzunähern.« 8 Mit diesem Einwand fühlt Lukäcs sich herausgefordert, seinen Realismusbegriff konkreter zu bestimmen und genauer zu konturieren, wobei die Differenzen zu anderen in der Internationalen Literatur und im Wort vertretenen Positionen vielleicht klarer als sonst zutage treten. »Die Mißverständlichkeit dieser Darlegungen«, schreibt er, »liegt in dem Anschein, als ob jedes Hinausgehen über die schriftstellerische Wiedergabe der Alltagswirklichkeit ein Hinausgehen über den Realismus bedeuten würde.« Das hieße aber, den »Begriff des Realismus, so wie wir ihn aus der Arbeit der großen Theoretiker - man könnte sagen von Aristoteles bis zu den demokratisch-revolutionären Kritikern Rußlands — übernommen haben, bedenklich einengen.« 9 Satire und Phantastik, so prätendiert Lukäcs, gehören

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indessen zum Realismus, denn »die großen Theoretiker der Literatur hat es dabei sehr wenig berührt«, ob bei der Wiedergabe der »wesentlichen Züge der Wirklichkeit (...) die alltäglichen Erscheinungsformen der Wirklichkeit beibehalten oder verlassen wurden. Vers oder Prosa, getreues Nachzeichnen der unmittelbaren Oberfläche der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder pathetisch-satirisches Sprengen des normalerweise Möglichen, Schaffen von erfundenen, - im oberflächlichen Sinn - nirgends existierenden Welten; Festhalten an der gesellschaftlich realen menschlichen Welt oder Darstellung ihrer herrschenden Mächte (als Götter, Gespenster, Teufel) - all dies ist bei dem wirklichen kritischen Begründer der Theorie des Realismus kein Kriterium.«10 Lukäcs läßt es nicht dabei bewenden, die Verengung des Realismusbegriffs aufzusprengen, er versucht vielmehr aus der Eigenart der kapitalistischen Ökonomie sogar eine gewisse Notwendigkeit satirisch-phantastischer Gestaltungsmittel abzuleiten. Die Literatur komme nicht umhin, sich ihrer zu bedienen, um realistisch zu bleiben in einer Welt, die nach Marx beherrscht wird von der »gespenstischen Gegenständlichkeit« der Ware, von der Fetischisierung der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander, von den »phantasmagorischen Formen«, in denen diese Beziehungen als Eigenschaften von Dingen erscheinen. Es entscheidet aber über ihren Wert, ob sie diese Gestaltungsmittel zur Defetischisierung der gesellschaftlichen Beziehungen nützt oder zu deren bloßer Verdoppelung. Hier nimmt Lukäcs offensichtlich den Faden seiner Satiretheorie von 1932 auf. Schon dem früheren Aufsatz Zur Frage der Satire aus der Internationalen Literatur galt in diesem Sinn die aktuelle Wirklichkeit als eine, »in der es schwer ist, eine Satire nicht zu schreiben«11. Dennoch erfüllt die Satire nur dann ihre Bestimmung, wenn »in der grotesken, >unwahrscheinlichen< Einzelheit, zugleich die tiefe Wahrheit des Gesamtzusammenhanges unmittelbar zum Ausdruck kommt«12. Die satirische Komposition geht »nicht bloß weit über das Durchschnittliche, über das Alltäglich-Wahrscheinliche (das tut fast jeder große Realist), sondern auch über das Typische hinaus«; doch muß sie das Typische des Ganzen, des Wesens ihres gesellschaftlichen Gegenstands dennoch mit ihren untypischen Mitteln erreichen - durch das »unmittelbare und zugleich widerspruchsvolle Zusammenfallen von Wesen und Erscheinung«, durch den »Kontrast der nichttypischen Einzelheiten und der inhaltlichen Wahrheit, Richtigkeit der ganzen Komposition«13. Auch in der Frage der Satire legt also Lukäcs das Augenmerk auf die Totalität der Gestaltung, auf den ästhetischen Imperativ, ob und inwieweit das einzelne mit dem Ganzen verknüpft wird - sei dies nun widerspruchsvoll wie in der Satire oder »organisch« wie in den Formen des Typischen. Die Satiretheorie dieses früheren Aufsatzes erweist sich - ebenso wie die Polemiken in der Linkskurve - gerade in dieser Forderung als integraler Bestandteil der später im Exil ausgearbeiteten Ästhetik. (Nicht umsonst hat Lukäcs den Aufsatz auch in die Werkausgabe von 1971 aufgenommen. Nur diejenigen, die in dieser Ästhetik einen bloß taktischen Ausdruck der Volksfrontpolitik sehen

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wollen, versuchen die Satiretheorie von 1932 als echte marxistische Theorie den späteren Schriften entgegenzusetzen.14) Als Beispiel einer Satire, die aufhört, realistisch zu sein, nennt Lukäcs den Schluß der Letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus. »Nicht, weil Karl Kraus den Boden der genauen Wiedergabe von Alltagsbildern aus dem Kriege verläßt und die herrschenden Mächte der Welt in grausig-phantastischer Verkörperung gibt. Vielmehr darum, weil diese Mächte nicht phantastisch dargestellte Wirklichkeiten, sondern bloß ins Phantastische projizierte Wunsch- und Angstträume der Krausschen Subjektivität sind.«15 Tatsächlich verwandelt Kraus am Ende seiner zur Tragödie gesteigerten Satire den imperialistischen Krieg in einen zwischen Mars und Erde. Der Mars, der schließlich die Erde vernichtet, weil sie es nicht besser verdient hat, erscheint als Sachwalter einer höheren Gerechtigkeit - und ist doch nichts anderes als die in den Kosmos projizierte Stimme des Nörglers, die Stimme von Karl Kraus selbst. Dieser Wunschtraum der Krausschen Subjektivität ist wohl insofern nicht realistisch, als er die Widersprüche des gesellschaftlichen Seins transzendiert und die Subjektivität selbst in eine transzendente Macht verkehrt, doch ist die Subjektivität fünf Akte lang durch diese Widersprüche hindurchgegangen und hat mit der Objektivität des gesellschaftlichen Seins sich angereichert wie kaum eine sonst. So scheint der merkwürdige Schluß eher das Schulgeheimnis der satirischen Methode auszuplaudern und die Haltung des Satirikers zur Welt bloßzulegen - die totale Vernichtung der schlechten Wirklichkeit. In dieser Weise ließe sich Lukäcs' Meinung über den Schluß der Letzten Tage der Menschheit zugleich differenzieren und verallgemeinern: der Satiriker wird dann unrealistisch, wenn er seine Haltung zur Welt unmittelbar aussprechen möchte und nicht durch die satirische Methode hindurch seine Stimme erhebt, das heißt: in der am konkreten gesellschaftlichen Sein geübten Negation. Der theologische Charakter, den dadurch der Schluß des Werks erhält, wäre dann als weltanschauliche Verkürzung der künstlerischen Gestaltung durchaus dem allegorisch-religiösen Finale von Faust II vergleichbar. Was aber sagt Lukäcs zu den vorangegangenen fünf Akten? Hätten diese nicht am Vorabend des zweiten imperialistischen Weltkrieges ein besseres Beispiel für realistische Satire geboten als E.T A . Hoffmann, den Lukäcs hier dem Ende der Letzten Tage gegenüberstellt - zumal in einer Antwort auf Ernst Fischer, der als österreichischer Kommunist in einem Nahverhältnis zu Kraus stand? Immer wieder stößt man in der Lukäcsschen Literaturkritik des Exils auf solche blinden Flecke. Ein mit Kraus verwandtes Beispiel stellen wohl die weitgehend unbeachtet gebliebenen satirischen Möglichkeiten der expressionistischen Literatur dar. Nur im Fall von Wedekind hat Lukäcs sie zur Kenntnis genommen. Doch die Versäumnisse des Literaturkritikers sind nicht unbedingt die des Theoretikers. Denn während Lukäcs in den Debatten der Satire eher auswich, entwickelte er eine Literaturtheorie, die satirische Gestaltung als Möglichkeit des Realismus bewahrte. Aus seiner Ästhetik läßt sich darum

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die Analyse und Wertung der damals links liegen gelassenen Werke rekonstruieren - so der Satire von Karl Kraus, so auch der Entwicklung Bert Brechts. Und diese Möglichkeit der Rekonstruktion, die hinter den Taktiken der Theorie auf die Spur zu kommen sucht, macht eine Auseinandersetzung mit seiner Literaturkritik des Exils in einem mehr als bloß zeitgeschichtlichen Interesse lohnenswert. II

Exkurs zur Situation der Literaturkritik im sowjetischen Exil - am Beispiel von Georg Lukäcs

Wenn die wesentlichste Tendenz stalinistischer Politik in der Inversion von Theorie und Taktik besteht, so hat sie ihren unmittelbarsten Niederschlag in der Verknüpfung der Taktik mit dem Terror gefunden. Wer immer in die literarische Praxis des Exils eingreifen wollte und an ihrer Öffentlichkeit - ob als Kritiker oder Schriftsteller - partizipierte, war gewissermaßen automatisch mit den Konsequenzen dieser Tendenz verkettet. Unter ihrer Herrschaft, die jede theoretische oder künstlerische Äußerung unmittelbar in einen taktischen Schachzug umzudrehen drohte, konnte sich kaum ein produktives Wechselverhältnis zwischen Kritik und Literatur entwickeln. Ein Bericht von Herbert Wehner (der sich in Hans-Albert Walters Untersuchung über die Deutsche Exilliteratur findet) mag diesen Zusammenhang veranschaulichen, wenn auch wenig erklären: Wehner, der Anfang 1937 von Paris nach Moskau gekommen und darum angeblich in die dortigen politischen und literarischen Fehden noch nicht eingeweiht war, verfaßte eine kritische Rezension eines Buches von Andor Gabor. Er betrachtete sie als eine »rein literarische Angelegenheit«. »Aber die Wirkung der Kritik war eine ganz andere, als die beabsichtigte. Gabor und sein Freund Georg Lukäcs wandten sich an den deutschen Vertreter beim EKKI (Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale; G.S.) und forderten eine Klärung in einer Schriftstellersitzung. Dort stellte es sich heraus, daß sie von der fixen Idee besessen waren, ich sei von ihren Feinden ausgenützt worden, die diesen Artikel lanziert hätten, um die Vernichtung Gabors herbeizuführen. Sie betrachteten die Redakteurin der D Z Z (Deutschen Zentral-Zeitung), Annenkowa, als den Urheber dieses Schlages, und sie brachten mich in Kombination zu Bredel und Huppert, die als Verbündete der Annenkowa bezeichnet wurden.«16 Heutige Historiker machen es sich indessen entschieden zu leicht, wenn sie das Verhalten der einzelnen Beteiligten unter diesen Bedingungen beurteilen, ohne die solchermaßen eingeschränkten Spielräume individueller Entscheidung und die epochale Situation des sowjetischen Exils mitzubedenken. Mit dem - der Situation im faschistischen Deutschland entnommenen - Kriterium des »Mitläufertums« läßt sich jedenfalls die Lage der Literaturkritik und der Literatur im sowjetischen Exil der Stalinzeit nicht erfassen. Dies betrifft sowohl die Verhältnisse innerhalb der sowjetischen Öffentlichkeit, die objektiven Chancen des Widerstands gegen die stalinisti-

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sehe Politik der Prozesse, als auch den schwerer wiegenden, epochalen Zusammenhang, in dem diese Öffentlichkeit sich befand. »Und wenn man mich heute fragen würde«, schrieb Georg Lukács später über die Prozesse, »warum ich dagegen nicht öffentlich Stellung nahm, so würde ich wiederum nicht die physische Unmöglichkeit in den Vordergrund stellen - ich lebte als politischer Emigrant in der Sowjetunion - , sondern die moralische: Die Sowjetunion stand unmittelbar vor dem Entscheidungskampf mit dem Faschismus. Ein überzeugter Kommunist konnte also nur sagen: >Right or wrong - my partyRight or wrong - my party< demonstrierte, ließ sich in Kunst und Theorie der Freiraum eines Partisanen erobern. Diesem Freiraum verdanken schließlich die Literaturtheorie und Philosophie des Georg Lukács ihre kontinuierliche, von keinem wesentlichen Neubeginn mehr gebrochene Entwicklung von den Arbeiten des Exils bis zu der Eigenart des Ästhetischen und der Ontotogie des gesellschaftlichen Seins. Allerdings finden sich in Lukács' Arbeiten des Exils und der Jahre unmittelbar danach immer wieder Momente, wo er offensichtlich diesen Freiraum preisgab und selbst jene Umkehrung von Theorie und Taktik praktizierte, die er später so scharfsinnig als Kennzeichen des Stalinismus beschreiben sollte. Es handelt sich wohl um mehr als bloß >protokollarische< Zitate, wenn er mit politisch-taktischen Argumenten - etwa den Trotzkismus-Verdächtigungen - gegen literarische Positionen polemisierte. Diese unleugbaren Momente können jedoch den Partisanenkampf nicht vergessen machen, worin es Lukács gelang, die Fundamente für eine marxistische Ästhetik und eine Ontologie zu legen, die als gleichsam organischen Bestandteil die Kritik am Stalinismus enthalten. Die meisten westlichen Historiker des sowjetischen Exils (in den sozialistischen Ländern drückte man sich bisher weitgehend um das heikle Thema herum) ignorierten diesen >Partisanenkampftertium datur< möglich, ähnlich dem, das er selbst während der Moskauer Prozesse für sich in Anspruch nahm: »Und gerade weil Büchner in dieser großen geistigen Krise unerschütterlich an der materialistischen Philosophie festhält und nie den Glauben verliert, mit ihrer Hilfe die großen Probleme des Lebens doch lösen zu können, steht seinem Gefühl die Person Dantons näher, als der ihm politisch verwandtere Saint Just.« (Ebd., S. 19/20). - 19 Lukäcs, Gelebtes Denken (wie Anm. 18). Lukäcs ließ schließlich den »Historischen Roman« als Folge von Aufsätzen in der Literaturnij Kritik erscheinen. S. 174. - 20 David Pike: »Georg Lukäcs und der Stalinismus«. In: Edita Koch, Frithjof Trapp (Hg.): Realismuskonzeptionen der Exilliteratur zwischen 1935 und 1940/41. Tagung der Hamburger Arbeitsstelle ßr deutsche Exilliteratur. In: Exil. Sonderband 1. Frankfurt/M. 1987, S. 146. - 21 Ebd. 22 Ebd., S. 148. - 23 Vgl. hierzu Georg Lukäcs: Moskauer Schriften. Zur Literaturtheorie und Literaturpolitik 1934-1940. Hg. v. Frank Benseier. Frankfurt/M. 1981. - 24 Vgl. hierzu Helga Gallas: Marxistische Literturtheorie.Neuwied, Berlin 1971, sowie dies.: Das Textbegehren des Michael Kohlhaasr. Reinbek 1981, S. 17 ff. - 25 Erich Kleinschmidt: »Schreibpositionen. Ästhetikdebatten im Exil zwischen Selbstbehauptung und Verweigerung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 6. München 1988, S. 223. - 26 Ebd., S. 224 f. - 27 Eine der wenigen Ausnahmen in der Bewertung von Lukäcs' Exilschriften bildet die genaue Untersuchung von Christian Fritsch: »Der archimedische Punkt. Georg Lukäcs und die antifaschistische Literatur«. In: Lutz Winckler (Hg.): Antifaschistische Literatur. Programme, Autoren, Werke. Bd. 2. Kronberg/Ts. 1977, S. 6 ff. - 28 Georg Lukäcs: »In memoriam Hanns Eisler«. In: alternative 12 (1969), S. 221 f. - 29 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 3. Frankfurt/M. 1982, S. 939. - 30 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 4. Frankfurt/M. 1982, S. 1723. - 31 Gerhard Scheit: Am Beispiel von Brecht und Bronnen - Krise und Kritik des modernen Dramas. Wien, Köln, Graz 1988, S. 224. - 32 Vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (2. Aufl.) Berlin/DDR 1974, S. 5 ff. - 33 Lion Feuchtwangen Centum Opuscula. Eine Auswahl. Rudolstadt 1956, S. 51S. - 34 A.a.O., S. 510. - 35 Zit. n. Joseph Pischel: Lion Feuchtwanger. Versuch über Leben und Werk. Leipzig 1976, S. 113. 36 Georg Lukäcs: »Der historische Roman«. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Probleme des Realismus III). Neuwied, Berlin 1965, S. 414 f. - 37 Z.B. bei Herbert Claas: »Satirische Gesellschaftsromane mit historischem Stoff bei Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht«. In: Lutz Winckler (Hg.): Antifaschistische Literatur. Bd. 3 (Prosaformen). Königstein/Ts. 1979, S. 202 ff. - 38 Lukäcs, »Der historische Roman« (wie Anm. 36), S. 415 f. - 39 Ebd., S. 418. - 40 Ebd., S. 419. - 41 Im letzten Kapitel meines Buchs Am Beispiel von Brecht und Bronnen - Krise und Kritik des modernen Dramas (vgl. Anm. 31) habe ich versucht, diesen Dialog zwischen Brecht und Lukäcs zu rekonstruieren.

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Willi Münzenberg - Probleme einer linken Publizistik im Exil

Willi Münzenberg, eine der herausragendsten, aber auch umstrittensten Persönlichkeiten in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, wäre am 14. August 1989 einhundert Jahre alt geworden. Sein schon zu Lebzeiten begründeter Ruf als genialer Propagandist und Agitator, sein Organisationstalent und seine Fähigkeit, Intellektuelle aus dem bürgerlichen Lager für kommunistisch inspirierte Unternehmungen zu gewinnen, ließen ihn in den Augen vieler als »rote Eminenz«, »dämonischer Magier« und »Menschenverführer« erscheinen. Die durch zahlreiche biographische Schilderungen gewobene »Münzenberg-Legende« ist zählebig, auch wenn Rolf Surmann in seiner Analyse der Publizistik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik darauf verwiesen hat, daß Begriffe und Charakterisierungen wie »Münzenbcrg-Konzern« und »roter Millionär« als Übertreibungen und Unterstellungen gewertet werden müssen.1 Surmanns Untersuchung endet 1933. Für den danach folgenden Zeitabschnitt bis 1940, die Exil-Phase der Münzenberg-Publizistik, existiert (außer der politisch-biographischen Betrachtung seiner Lebensgefährtin Babette Gross2) keine Gesamtdarstellung. Die unterschiedlichen Beurteilungen der Person Münzenbergs durch die Exil-Forschung in Ost und West konservieren den Mythos vom erfolgreichen propagandistischen Gegenspieler Hugenbergs und Goebbels. Dadurch wird eine präzisere Bewertung von Umfang und Wirkung der kommunistisch gesteuerten Anti-Hitler-Propaganda in der französischen Emigration, von Münzenbergs Rolle als Motor und Lenker seiner zahlreichen publizistischen Unternehmungen erschwert. Ebenso kontrovers verläuft die Diskussion um seinen Lösungsprozeß von der kommunistischen Bewegung nach dem Scheitern des Versuchs einer deutschen Volksfront im Exil. In der westdeutschen Forschung überwiegt das Bild vom ehrlichen Makler, der zwischen den taktischen Fronten von Kommunisten und Sozialdemokraten zerrieben wird.3 Die DDR-Exilforschung, die jahrelang Schweigen um sein Lebenswerk verbreitet hatte, kann in ihrer offiziellen, nach Exilländern geordneten Kunst- und Literaturgeschichte der antifaschistischen Emigration nicht umhin, sich ausführlicher mit der Person Münzenbergs und seiner Exil-Publizistik auseinanderzusetzen.4 Die Aufarbeitung erfolgt durch ein stereotypes Verdrängungsritual, wonach zunächst seine »positive Rolle« in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung gewürdigt, anschlie-

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ßend mit Bedauern auf seine »negativen Charaktereigenschaften« verwiesen wird, die dann für seinen »politisch-moralischen Verfallsprozeß« gegen Ende der dreißiger Jahre verantwortlich gemacht werden.5 Es lohnte sich nicht, zum wiederholten Mal auf diesen Aspekt einer tabuorientierten Anti-Forschung hinzuweisen, wenn es nicht gerade Nuancierungen wären, die mittlerweile eine offenere Haltung gegenüber den Problemfällen der kommunistischen Geschichtsschreibung signalisierten. So variierte bereits 1980 Erich Honecker in seiner Autobiographie das Lob-TadelSchema bei der Beurteilung des abtrünnigen Münzenberg, indem er sein »beispielhaftes Wirken für die Kinder des Proletariats« hervorhob und gleichzeitig (weniger anklagend als Franz Dahlem, aber um so nebulöser) auf sein »tragisches Scheitern im Exil in Frankreich« hinwies.6 Versöhnlich und um eine Korrektur bemüht gibt sich auch Heinz Willmann, in dessen Geschichte der Arbeiter-Illustrierten Zeitung Münzenbergs »hervorragende Beteiligung« in einer Anmerkung gewürdigt wird7, wenn er in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag zu dessen Person bemerkt: »Man soll das, was ein Mensch Gutes wollte, nicht unter dem begraben, was er später nicht mehr getan hat. Weshalb sollten wir uns ärmer machen, als wir sind.«8 Abgesehen davon, daß solche Klimaverbesserungen das Interesse an einem zu korrigierenden Münzenberg-Bild in der DDR aktuell wachhalten9, bringt ein derartiges Kaffeesatzlesen für die Forschung wenig. Der Umstand, daß sich die Quellenlage für die Aufarbeitung der kommunistischen Exilpublizistik in den letzten Jahren nur wenig verändert hat (Reprints des ersten Braunbuchs sowie der Zeitschriften Der Gegen-Angriff und Die Zukunft liegen vor10) sowie der Tatbestand, daß viele Aktivitäten Münzenbergs, die unter Exil-Bedingungen illegal und konspirativ sein mußten, nicht dokumentierbar sind, nötigen bei der Darstellung dieses Komplexes vor allem zu einer kritischen Fragehaltung in bezug auf den gegenwärtigen Wissensstand. Insbesondere die sogenannte »Memoirenliteratur« ist dabei höchst interpretationsbedürftig.11 Sie bedarf einer gründlichen Überprüfung durch andere, abgesicherte Quellen. Das gilt auch für die ausführlichste Schilderung von Person und Wirken Willi Münzenbergs, die Babette Gross 1967 herausgab. Dieses mit intimer Kennerschaft, an vielen Punkten jedoch mit gezielter Rücksichtnahme verfaßte Buch ist nach wie vor das einzige Zeugnis aus dem inneren Kreis der Münzenberg-Mitarbeiter. Es hätte dringend einer Ergänzung durch das Wissen von Hans Schulz bedurft, seinem Sekretär, Buchhalter und Kurier, der als »graue Eminenz« hinter den Kulissen an fast allen wichtigen Unternehmungen beteiligt war. Schulz weigerte sich jedoch bis zu seinem Tode, (er starb im Frühjar 1988 in Neustadt an der Weinstraße) Auskünfte über Art und Umfang der zumeist »illegalen« Praktiken bei der Organisation und Finanzierung der kommunistischen Exil-Propaganda zu geben. Nützlich für den Augenblick zur kritischen Beurteilung subjektiv gefärbter »Münzenberg-Erinnerungen«, zur Präzisierung und Zusammenfassung bisher angesammelter Forschungsergebnisse sowie zur genaueren Beschreibung von Wissenslücken könnte vielleicht eine methodisch bewußt

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vorgenommene Konfrontation von Memoiren- und Sekundärliteratur sein, die ausschnittweise, an einer chronologischen Abfolge orientiert, Zustandsbeschreibungen liefert, die neue Fragestellungen ermöglichen. Hilfreich hierfür könnten zwei (an anderer Stelle vorformulierte) methodische Interpretationsansätze sein, die (medien- bzw. literaturhistorisch fragend) eine differenziertere Bewertung der Münzenbergschen Exil-Publizistik zulassen. 1. Rolf Surmann wirft in seiner Untersuchung der Münzenberg-Medien bis zur Errichtung der Nazi-Diktatur die Frage auf, ob diese bis 1933 als propagandistische Gegenmacht gleichsam spiegelverkehrt ein autoritäres Mittel der Massenbeeinflussung von links darstellten, oder ob sie darüber hinaus als realhistorisches Modell eines emanzipatorischen Mediengebrauchs wirksam waren. Anders formuliert: War der relative Erfolg der Münzenberg-Publizistik durch die Verwendung modernster, auf Massenwirksamkeit abzielender Reklametechniken begründet, oder waren Arbeiterkorrespondenten, -fotografen, -filmer und -kolporteure im Netzwerk seines Propaganda-Apparates bereits Garanten für eine »Publizistik von unten«, die nur angesichts übermächtiger Gegner in einer historisch aussichtslosen Situation zum Scheitern verurteilt war? Surmann konstatiert den nicht erreichten Durchbruch der kommunistischen Propaganda zu den kleinbürgerlichen Massen und sieht in der Dominanz von KPD- und Komintern-Politik gegenüber »differenziertesten und weitestreichendsten publizistischen Initiativen für den Sozialismus«12 den Grund für den Mißerfolg der Münzenbergschen Aufklärungs-Propaganda. »Der Weg dieses Scheiterns ist der Weg der sektiererischen Verkümmerung der Einheitsfront - Resultat einer Komintern- und KPD-Politik, die die Tiefe der Spaltung der Arbeiterbewegung unterschätzte und an die Stelle des beharrlichen >Kampfs um die Köpfe< die mechanische Verknüpfung und Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche - Wachsen des politischen Bewußtseins setzen zu können glaubte.«13 Die kommunistische Politik, die den Primat der ideologischen Orientierung (Sozialfaschismus!) für sich beanspruchte, verwies die Propaganda auf den zweiten Rang. Deren »Kampf um die Köpfe« (wurde er manipulativmechanisch geführt) verhinderte die Bildung von Klassenbewußtsein außerhalb der eigenen Anhängerschaft. Die Propaganda der Münzenberg-Medien hielt sich (einerseits) loyal an die inhaltlichen Vorgaben der Partei und wollte (andererseits) doch mehr sein: Aufklärung zum selbstbestimmten Handeln jenseits von Parteibefehlen. Sie mußte, den verschlungenen Pfaden der kommunistischen Tagespolitik folgend, die richtigen Linien diktieren, und verlangte doch von ihren Adressaten, daß sie sich autonom - gemäß ihren eigenen Interessen - verhielten. Münzenbergs publizistische Unternehmungen (allen voran die AIZ) waren Waffen eines aufgeklärten Manipulateurs\ sein paradoxes Bemühen: die manipulierte Aufklärung. Bis zum Ende der Weimarer Republik konnte eine solche Medienpraxis, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer proletarischen Massenbasis,

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begrenzte Erfolge erzielen. Mit der Errichtung der totalen Naziherrschaft war das Experimentierfeld für eine solche aufklärerische Propaganda zerstört. Das Exil schuf veränderte, härtere Bedingungen: den Verlust der Massenbasis, das Entstehen neuartiger Teilöffentlichkeiten: die Emigranten-Öffentlichkeit in den Exilländern, die klandestine Öffentlichkeit der Illegalität im Reich, die (diffuse) Weltöffentlichkeit. Die Propaganda des Exils konnte nicht länger mit ihren Mitteln experimentieren; sie mußte direkt sein. »Auf dem Schlachtfelde der Propaganda hat die für den gesamten antihitlerischen Kampf gültige Forderung eine besondere und aktuelle Bedeutung: Angreifen, Angreifen und nochmals Angreifen.« 14 Das Exil rückte die Propaganda näher an die reine, bewußte Manipulation. Arthur Koestler bekam während der Arbeiten am Braunbuch eine Ahnung davon: »Ich hatte dabei gelernt, daß auf dem Felde der Propaganda die Halbwahrheit eine der Wahrheit überlegene Waffe ist und daß man schon besiegt war, wenn man sich in der Defensive befand.« 15 Doch während der Kampf 1933/34 noch fast euphorisch weiterging16, wurde er schon wenige Jahre später zur Mühsal.17 Die für die meisten Emigranten unerwartet lange Dauer des Exils und ihre zunehmende Isolierung in den Gastländern desillusionierte viele in ihrem Glauben an eine schnelle Rückkehr nach Deutschland. Für eine angreifende Propaganda, die mit ihrem Trommelfeuer permanent Hoffnungen erzeugte, wurde die Exilsituation immer unwirklicher. Warum sie letzten Endes zu einer stumpfen Waffe werden mußte, beschreibt der Schriftsteller Manös Sperber aus der Rückschau im Jahre 1982: »Die Presse, die der Münzenberg aufgebaut hat, die zugleich der kommunistischen Bewegung diente und die keine sektiererische Presse war, diese fand eine Leserschaft, die nach Hunderttausenden zählte. (...) In dem Augenblick, wo die Emigration einsetzte, d.h., wo all das aus war, wo die legale Existenz dieser Zeitungen nicht mehr möglich war und auch die illegale Existenz nicht möglich war, ist der Boden weggezogen. Für wen schreibt man in der Emigration? Für Emigranten und in der Hoffnung, daß man etwas davon hinüber wird bringen können. Und das war anfangs relativ gut möglich und hatte Sensationswert für manche Leute in Deutschland, auch die nicht mal Kommunisten oder Oppositionelle waren, aber das ist immer die Geschichte... Man glaubt am Anfang, das wird immer besser werden. Es ist aber nicht wahr. Im Gegenteil. Es schließt sich immer mehr ab.«18 2. Neben seinem Talent für erfolgreiche Agitation und Propaganda besaß Willi Münzenberg eine weitere Fähigkeit, die seinen historischen Nachruhm begründete und einer Mythenbildung Vorschub leistete: seine unzweifelhafte Begabung, naive und gutgläubige »bürgerliche« Intellektuelle als Sympathisanten für die kommunistische Sache zu gewinnen. Babette Gross spricht von ihm als dem »Schutzpatron der fellow traveller«19, der die Schwächen vieler unpolitischer Geistesarbeiter auszunutzen verstand und sie bei antifaschistischen Aktionen und überparteilichen Kongressen für die Ziele der KPD funktionalisierte. Sie schränkt ihre These vom »Verführer« Münzenberg jedoch wieder ein, indem sie seine Haltung als eine »Mischung

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aus ehrlicher Überzeugung und taktischer Überlegung« kennzeichnet.20 Nimmt man den Teil ehrliche Überzeugung ernst, so läßt sich dahinter eine produktive Haltung, ein Stück programmatischer Politik, die »MünzenbergMethode« aufdecken. Klaus Briegleb hat in seiner Untersuchung der Rolle Münzenbergs bei der Organisation des Kongresses »Das Freie Wort« am 4. Februar 1932 zu zeigen versucht, wie diese funktionierte.21 Wenige Wochen vor dem Reichstagsbrand war es Münzenberg gelungen, ein letztes Mal eine liberale Rede-Öffentlichkeit für eine Anzahl bürgerlicher Politiker und Schriftsteller herzustellen. Die Inszenierung vollzog sich mit »produktiver Routine«.22 Münzenberg hegte längst keine Hoffnungen mehr auf irgendwelche Außenwirkungen dieser linkspluralistischen Manifestation. Es ging ihm um das Angebot einer »augenblicksgerechte(n) Lernsituation im Volksfrontumriß« für die Intellektuellen, um eine »improvisierte >neue< Utopie«, derer sich im »Augenblick der Gefahr« zu erinnern wäre.23 Der utopische Inhalt, der in der Methode Münzenbergs in der Emigration (neben einem verschärften Begriff der Propaganda) aufscheint, ist der unerledigte Volksfrontgedanke. Es war dies nicht allein die Anpassung an den kommunistischen Zeitgeist des Jahres 1935. Die Münzenberg-Methode durchzieht das gesamte Exil. Sie scheiterte an der Unversöhnlichkeit der deutschen Linken (Realpolitik!) und konnte doch im Augenblick der existentiellpolitischen Heimatlosigkeit noch Utopie sein. Parallel dazu relativierte sich - als deutlich wurde, daß der Kampf gegen Hitler-Deutschland nur mit realen Waffen zu führen war - die Notwendigkeit von Propaganda. Versteckt hinter der Analyse der Hitler-Propaganda, sprach Münzenberg diesen Gedanken (für sich selber?) aus: »Jetzt zeigte sich, wie falsch Hitler das Wesen der Propaganda verstand, wenn er behauptete, daß die Propaganda imstande sei, jede, auch die schlechteste Seife als die beste der Welt durchzusetzen. (...) Hitler hat (...) das Wesen der Propaganda nie begriffen. Propaganda ist (...) ein Kampffeld, aber doch nur ein Kampffeld neben anderen.«24 Münzenbergs Exil begann mit einer überstürzt-improvisierten Flucht am Tag nach dem Reichstagsbrand. Die praktische Solidarität eines Genossen, der seinen Paß hergab, half, über die Grenze ins zunächst sichere Saarbrücken zu gelangen.25 Am Morgen des 28. Februar 1933 wurden die Büros der Internationalen Arbeiter-Hilfe, des Neuen Deutschen Verlages und der Münzenbergschen Tageszeitungen besetzt. Für eine Rechtsgrundlage hatten die Nationalsozialisten schnell gesorgt: die »Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat« vom gleichen Tage. Die wenigen Schilderungen vom Ablauf der Liquidation der MünzenbergUnternehmungen in Berlin vermitteln ein Bild gespannt-erregter Erwartung. Man war in der Wilhelmstraße 48 auf eine »gewaltsame Beendigung der Arbeit« vorbereitet. Mehrfach vorher waren bereits Ausgaben der AIZ beschlagnahmt oder verboten, waren Kolporteure verhaftet worden. Die letzte legale Nummer erschien am 5. März 1933 in Berlin. Sie mußte schon illegal verbreitet werden. Mit der »Beschlagnahme der Sachwerte« kam das

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endgültige Aus. Kommunistische Propaganda-Arbeit war fortan im Reich nur noch unter den Bedingungen der Illegalität möglich.26 Der Bericht Heinz Willmanns über die letzten Wochen der AIZ bis zum März 1933 fügt sich in die partei-offizielle These vom geordneten Rückzug der KPD und ihrer Mitglieder angesichts des brutalen Terrors der Nazis.27 Hermann Leupold, Fritz Erpenbeck, Fritz Granzow und Willmann selbst machten in Prag weiter. Die Gruppe der Berliner Arbeiterfotografen unter der Führung von Erich Rinka rettete »alle wichtigen Organisationsunterlagen (...) in sichere Unterkünfte« und diskutierte eine Fortführung ihrer Arbeit »unter veränderten Bedingungen«28. Der Schock der historischen Situation im Februar/März 1933 zwang viele der» bedrohten Akteure zum unmittelbaren Handeln (Illegalität, Flucht, Rettung). Eine Reflexion der veränderten Bedingungen (für Propaganda vorher und nachher) mußte später erfolgen. Kontinuitäts-Geschichtsschreibung heute verweigert ohne Not das Nachdenken darüber, warum es der Links-Propaganda vor 1933 nicht gelang, »die Widerstandskraft gegen die immer drohender werdenden Gefahren« bei einer Mehrheit des Volkes zu stärken.29 Anzufangen wäre empirisch bei einer systematischen und vollständigen Personengeschichte der kommunistischen Publizistik (inklusive der Münzenberg-Mitarbeiter) sowie der Darstellung ihrer lebensgeschichtlichen Brüche und Kontinuitäten. Das Exil-Land Frankreich zeigte sich auf den ersten Blick Münzenberg gegenüber freundlich. »Freunde im Lager der französischen Linken«30 Marie-Claude Vogel, Henri Barbusse, Paul Vaillant-Couturier, Gaston Bergery - sorgten für Wohnung und Aufenthaltserlaubnis und stellten Kontakte her. Funktionierende Solidarität der europäischen Linken? Gemeinsame Furcht vor der Ausbreitung der faschistischen Ideologie? Münzenberg ging mit großem Elan an die Arbeit, setzte von neuem auf die Werbewirksamkeit berühmter Namen. Das Welthilfskomitee ßr die Opfer des deutschen Faschismus versammelte im Weltmaßstab ein moralisches Potential gegen Hitler. Die Deutsche Freiheitsbibliothek und das Internationale Antifaschistische Archiv wurden zu Auffangbecken für versprengte deutsche Emigranten. Sammlung - so hieß das Gebot der Stunde. Es vergingen nur wenige Wochen, und die doppelte Maschinerie von Propaganda und Organisation von Utopie-Angeboten, diesmal für die Linksintellektuellen der ganzen Welt, war von neuem von Münzenberg in Gang gesetzt worden. Die Neuorganisation der Münzenberg-Presse im Exil vollzog sich nach bewährten Gesichtspunkten. Ehemalige Mitarbeiter aus der Weimarer Republik sowie Journalisten und Schriftsteller aus dem Umfeld der KPD übernahmen leitende Funktionen in den Redaktionen. In Basel erschien seit Mai 1933 die von Kurt Sauerland und Rudi Feistmann konzipierte Zeitschrift Unsere Zeit. In Prag konnte Hermann Leupold mit anderen wöchentlich die AIZ weiter herausgeben. Die erste Kupfertiefdruckausgabe im Exil gab es am 18. Mai 1933.31 In Prag und Straßburg, später in Paris, schufen Bruno Frei und Alexander Abusch den Gegen-Angriff, das publizistische Gegenstück

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zum nationalsozialistischen Angriff, das während der Münzenberg-Kampagne zum Reichstagsbrandprozeß seine wichtigste Funktion ausübte. Die Auflagenzahlen, die die Emigrationspresse erreichte, lagen jedoch weit unter denen einer Massenpresse.32 Dennoch wurde sie im faschistischen Deutschland aufmerksam verfolgt, war sie doch für das Ausland »eine der wichtigsten Informationsquellen über das Dritte Reich.«33 Erste Inhaltsanalysen der publizistischen Stoßrichtung der MünzenbergPresse liegen vor34; vergleichende Betrachtungen mit anderen Exil-Publikationen fehlen bisher. Ein extrem schwieriger Punkt bleibt die Wirkungsforschung. Wenig weiß man auch über interne Diskussionen beim Transformationsprozeß von Gegen-Angriff und AIZ in die Volksfrontblätter Deutsche Volkszeitung und Volksillustrierte.35 In welchem Ausmaß und bis zu welchem Zeitpunkt nahm Münzenberg Einfluß auf Inhalte und Ziele der von ihm inspirierten Zeitschriften? Welche Redaktions-Konflikte waren durchzustehen? Ebensowenig Konkretes ist bekannt über den Anteil Münzenbergs an der Herstellung und Verbreitung der illegalen Tarnschriften. Babette Gross erwähnt, daß zwei Exemplare des Braunbuchs im Reich zirkulierten.36 Über den Transport der »Spezial-AIZ« durch Wander- und Klettergruppen, die von Grenzdörfern der CSR aus ihr gefährliches Schmuggelgut nach Deutschland hineinbrachten, berichtet Heinz Willmann37, ohne daß Münzenbergs Name in diesem Zusammenhang auftaucht. Von Arthur Koestler weiß man, daß Münzenberg seinem Sekretär Hans Schulz den Auftrag gab, Erkundungen über die Wetterbedingungen für den Transport von Flugblättern mit Luftballons anzustellen.38 Sicher ist, daß zwei Mitglieder der Deutschen Freiheitspartei, Charlotte und Karl Emonts, im belgisch-deutschen Grenzgebiet ein Haus unterhielten, von dem aus die Freiheitsbriefe und anderes illegales Material ins Reich gelangten.39 Der größte publizistische Erfolg Münzenbergs fiel bereits in das Jahr 1933. Mit dem Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror und den Enthüllungen über die wahren Brandstiftet40 konnte er auf zwei aktuelle Tatbestände unmittelbar reagieren: auf die Anklage der Nazis gegen vier kommunistische Reichstagsabgeordnete, das deutsche Parlament angezündet zu haben, und auf den Schock der Auslandsöffentlichkeit angesichts der brutalen Methoden bei der Festigung der Naziherrschaft im Reich. Eine Handvoll entschlossener Männer und Frauen sichtete über Wochen Materialien und Dokumente über das verbrecherische Regime in Nazi-Deutschland.41 Sie wurden im Buch verknüpft mit (unbewiesenen) Schilderungen der Nazi-Täterschaft am Brand des Reichstags. »All das gründete sich auf Deduktion, Intuition und Poker-Bluff. Das einzige, was wir mit Sicherheit wußten, war, daß irgendwelche Nazikreise es irgendwie zustande gebracht hatten, das Gebäude abbrennen zu lassen. Alles andere waren Schüsse ins Blaue, die aber ins Schwarze trafen.«42 Münzenbergs Propaganda-Methode hatte den Höhepunkt ihrer Kunst erreicht. Auch wenn der Streit um die wahren Brandstifter bis heute nicht

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endgültig geklärt ist, bleibt der Braunbuch-Coup ein Lehrstück für propagandistisches »Timing«. Die Wirkung auf die ausländische Öffentlichkeit wurde zusätzlich verstärkt durch die parallele Inszenierung des Londoner Gegenprozesses, bei dem eine Jury von unabhängigen Gutachtern aus höchsten politischen Kreisen die Tatbestände der Anklage überprüfte und - am Vorabend des wirklichen Prozesses in Leipzig - zum Freispruch für die vier angeklagten Kommunisten gelangte. Bruno Frei, der mit der Zeitschrift Gegen-Angriff, von der während des Prozesses ein »Tägliches Extrablatt« mit dem Titel Der Reichstags-Prozess herauskam, das inszenierte Spektakel wiederum publizistisch ausbeutete, sieht in der Verknüpfung von Selbst-Inszenierung und direkter propagandistischer Medienauswertung den Gipfelpunkt aller Propaganda. »Münzenberg wußte, daß es keine wirksamere Propaganda gibt als das Ereignis, das sich selbst propagiert.« 43 Den Erfolg der Braunbücher konnte Münzenberg mit den Publikationen seines Pariser Verlages »Editions du Carrefour«, in dem zwischen 1933 und 1937 über 50 deutschsprachige Bücher und Broschüren erschienen, nicht wiederholen.44 Es gehörte jedoch zur Tradition Münzenbergscher Publizistik, weiterhin auf die Aufklärungskraft des gedruckten Wortes zu setzen. Das »Leitheft Emigrantenpresse und Schrifttum« der Nazis erkannte denn auch hinter den Buchproduktionen aus dem Münzenberg-Verlag die Bestrebungen der Volksfront: »Die Schriften aus der Edition du Carrefour, Paris, zeigen eine einheitliche und streng durchgehaltene Stoßrichtung aktiver Emigrantenkreise, die offenbar unter marxistischer Führung verfolgt wird. (...) (Der Marxismus) ordnet sich als die immer deutlicher stärkste und geschlossenste Macht gegen das Reich, nach und nach unter der Einheitsfront- und Volksfrontparole große Teile der Emigration unter.« 45 Die Rolle Münzenbergs als Organisator und Vermittler auf dem Weg zu einer deutschen Volksfront im Exil läßt sich an dieser Stelle nicht nachzeichnen.46 Am Ende dieses Bemühens folgte die langjährige, komplizierte Trennung vom Apparat der Komintern und den Funktionärskreisen der KPD, die Übergabe aller Komitees und Verlage an den tschechoslowakischen Apparatschik Bohumil Smeral.47 Münzenbergs politische Hinwendung zu oppositionellen Gruppen außerhalb der KPD, sein zeitweiliger Anschluß an die »Deutsche Freiheitspartei«, die mit der Herausgabe der Freiheitsbriefe und ihrer illegalen Verbreitung im Reich an bürgerliche Kreise heranzukommen hoffte, konnte dem Organisator von Widerstand gegen Hitler im großen Stil nicht genügen. Ein letztes Mal versuchte er, seine »Methode« zur Anwendung zu bringen und mit Hilfe einer Zeitschrift unabhängige Sozialisten auf einer gemeinsamen Oppositionslinie zu vereinigen. Die Zukunft erschien von Oktober 1938 bis zum Mai 1940 und versammelte von Vertretern des bürgerlichen Flügels bis zu ehemaligen Kommunisten ein breites Spektrum an Mitarbeitern und Redakteuren. 48 Nach wie vor unbeantwortet bleibt die Frage nach der Finanzierung der Zeitschrift. Hans-Albert Walter vermutet Zusammenhänge mit der Pressestelle des französischen Außenministeriums. 49 Unklar sind

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ebenfalls die Gründe für das Weitererscheinen der Zukunft nach Kriegsbeginn. Hier wird man auf die Öffnung der französischen Archive warten müssen. Es liegt jedoch nahe, eine Interessen-Koalition zwischen Münzenberg und der rechtsgerichteten französischen Regierung anzunehmen. Während Münzenberg erneut daran ging, ein Einigungs-Angebot für breite Emigrationskreise auf der Grundlage einer »Volksfront ohne Kommunisten« zu schaffen, war man am Quai d'Orsay möglicherweise an einer vagen (Alibi-?) Propaganda gegen Hitler-Deutschland interessiert. Dafür spricht, daß man es dort zuließ, daß mit Beginn des Krieges der antifaschistische und antikommunistische »Deutsche Freiheitssender« auf Welle 29,8 senden durfte. Nähere Einzelheiten über dieses Projekt sowie über Münzenbergs direkte Beteiligung sind bis heute nicht bekannt.50 Bei Kriegsbeginn entging Münzenberg zunächst der Internierung. Bis auf den Chefredakteur der Zukunft, Werner Thormann, wurden fast alle seine engsten Mitarbeiter verhaftet, ohne daß es Münzenberg gelang, sie frei zu bekommen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich »gab es auch für die Mitarbeiter der französischen Rundfunk- und Kriegspropaganda (...) keine Ausnahmeregelungen mehr.«51 Zwei letzte, merkwürdig anmutende kurze Neuigkeiten sind über den Tod Willi Münzenbergs zu vermelden. In Die Weltbühne (Berlin/DDR) spekulierte Harald Wessel unlängst in seinem kurzen Aufsatz »Rysy - Test in Alpinen Regionen« über den flüchtenden Münzenberg, der (»mit kaputten Füßen«) den Weg in die Schweiz nicht schaffen konnte. »Daß er schon nach etwa 50 Kilometern kapituliert und die Flucht in den Tod angetreten haben könnte, weil er den faschistischen Blitzkriegern nicht lebend in die Hände fallen wollte, mochten einige seiner Freunde nicht glauben.«52 Wessel wiederholt die Selbstmord-These, ohne sie zu belegen. Ein solcher Beleg tauchte allerdings etwa zur gleichen Zeit unvermutet in der Autobiographie von Gerhard Leo auf. Danach sei sein Vater (man erfährt seinen Vornamen nicht) einer der beiden Begleiter Münzenbergs auf der Flucht in die Schweiz gewesen. Dieser sei (fußkrank!) im Dorf Montagne zurückgeblieben. Er »wollte etwas ausruhen und dann nachkommen.« 53 Warum eine solche Information erst heute in der DDR bekannt wird, darüber darf gerätselt werden.

1 Rolf Surmann: Die Münzenberg-Legende. Zur Publizistik der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung 1921-1933. Köln 1983. - 2 Babette Gross: Willi Manzenberg. Eine politische Biographie. Stuttgart 1967. - 3 Z.B. Horst Duhnke: Die KPD von 1933 bis 1945. Köln 1972, S. 258: »Für Münzenberg war die Volksfront nicht so sehr ein durch höhere Zwecke geheiligtes Tarnmanöver als vielmehr ein Selbstzweck.« - 4 Dieter Schiller / Karlheinz Pech / Regine Herrmann / Manfred Hahn: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945. Bd. 7. Exil in Frankreich. Leipzig 1981, S. 72 ff. - 5 Franz Dahlem: Am Vorabend des weiten Weltkrieges. Erinnerungen. Bd. 1. Berlin/DDR 1977, S. 226. - 6 Erich Honecker: Aus meinem Leben. Berlin/DDR 1980, S. 14. - 7 Heinz Willmann: Geschichte der Arbeiter-Illustrierten

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Zeitung 1921-1938. Berlin/DDR 1974, S. 20. - 8 Ulrike Bajohr »Was gibt es schon zu fragen, wie einer 80 wird«. In: Sonntag, Nr. 28/1986. - 9 Harald Wessel, stellvertretender Chefredakteur des »Neuen Deutschland« sammelt seit langem Dokumente für eine Münzenberg-Biographie. Thomas Schmidt plant für die DEFA (Gruppe »effekt«) einen Kino-Dokumentarfilm über Münzenberg noch in diesem Jahr. - 10 Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror. Faksimile-Nachdruck der Orginalausgabe von 1933. Frankfurt/M. 1978 (Röderberg-Verlag); Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Der Gegen-Angriff. Antifaschistische Wochenschrift. Reprint. Leipzig 1982; Die Zukunft. Neudruck der Ausgabe Paris 1938-40. Vaduz 1978 (Topos-Verlag). - 11 Die wichtigsten MemoirenBücher, in denen Erinnerungen an Willi Münzenberg ausgebreitet werden, sind in der Broschüre von Diethart Kerbs und Walter Uka: Willi Münzenberg (Zeitgenossen I), Berlin 1988, aufgelistet. Zu ergänzen sind: Willy Brandt: Mein Weg nach Berlin. München 1960; Julius Deutsch: Lebenserinnerungen. Ein weiter Weg. Wien 1960; Joseph Dunner Zu Protokoll gegeben. München 1971; George W.F. Hallgarten: Als die Schauen fielen. Memoiren 1900-1968. BerlinFrankfurt/M.-Wien 1969; Arthur Koestlen Abschaum der Erde. Wien-München-Zürich 1971; Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhunderl. Zürich 1975; Günther Nollau: Die Internationale. Köln 1959; Maximilian Scheer So war es in Paris. Berlin 1972. - 12 Surmann, MünzenbergLegende, a.a.O., S. 214. - 13 A.a.O., S. 214. - 14 Willi Münzenberg: Propaganda als Waffe. Paris 1937, S. 281. - 15 Arthur Koestlen Die Geheimschrift. München-Wien-Basel 1954, S. 211. - 16 Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 253 ff. - 17 Vgl. den Brief Münzenbergs an seinen Schweizer Freund Fritz Brupbacher, Archiv des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte, Amsterdam. Zit. bei Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 295. - 18 Manès Sperber in einem Interview für den Fernseh-Dokumentarfilm des WDR, Propaganda als Waffe, 1982. - 19 Vgl. Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 230 ff. - 20 A.a.O., S. 233. - 21 Klaus Briegleb / Walter Uka: »Zwanzig Jahre nach unserer Abreise...«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 1. München 1983, S. 203 ff. - 22 A.a.O., S. 211. - 23 A.a.O., S. 211 f. - 24 Willi Münzenberg, »Propaganda, das dritte Kampffeld«. In: Die Zukunft Nr. 14, III. Jg., 5. April 1940. - 25 Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 247 f. - 26 Heinz Willmann, Geschichte..., a.a.O., S. 222 ff. - 27 Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 268 ff. - 28 Heinz Willmann, Geschichte..., a.a.O., S. 224 ff. - 29 A.a.O., S. 212. 30 Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 251. - 31 Vgl. Heinz Willmann, Geschichte..., S. 232. - 32 Die Auflage der ExiM/Z schwankte zwischen 6000 und 7000 Exemplaren. Vom Gegen-Angriff wurden regelmäßig 7000 Exemplare verkauft. Vgl. die Angaben bei Jürgen Stroech: Die illegale Presse 1933-1939. Leipzig 1979, S. 104 und S. 162. - 33 Herbert E. Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933-39. Worms 1973, S. 146. - 34 Vgl. Hanno Hardt, Elke Hilscher, Winfried B. Lerg (Hg.): Presse im Exil. München, New York, London, Paris 1979, S. 142. - 35 Heinz Willmann, Geschichte..., a.a.O., S. 306. / Willmann verweist z.B. auf die Schwierigkeit, den Kurznamen »VI« (anstelle von »AIZ«) populär zu machen. - 36 Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 260. - 37 Heinz Willmann, Geschichte..., a.a.O., S. 264. 38 Arthur Koestler, Vorwort zu Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 9. - 39 Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 309. Sie rekurriert dabei auf Dossiers der Geheimen Staatspolizei über die »Deutsche Freiheitspartei«. - 40 Vgl. a.a.O., S. 257 ff. Über die Auflagenhöhe gibt es sehr unterschiedliche Zahlen. Gross spricht von 25000 Exemplaren in deutscher und französischer Sprache und einer Gesamtauflage von etwa 70000. Das DDR-Kollektiv, (Exil in Frankreich, a.a.O., S. 76) sieht die Gesamtauflage bei etwa 500.000 Exemplaren. - 41 Gustav Regler Das Ohr des Malchus. Frankfurt/M. 1975, S. 209 ff. - 42 Arthur Koestler, Die Geheimschrift, a.a.O., S. 206. - 43 Bruno Frei: Der Papiersäbel. Frankfurt/M. 1972, S. 177. - 44 Vgl. zur Verlagspolitik in der französischen Emigration: Hélène Roussel: »Editeurs et publications des émigrés allemands«. In: Gilbert Badia u.a.: Les barbelés de l'exil. Etudes sur l'émigration allemande et autrichienne (1938-1940). Grenoble 1979. Der DDR-Band Exil in Frankreich..., a.a.O., S. 74 f. nennt 56 hervorzuhebende Publikationen. Vgl. auch Babette Gross, Münzenberg, a.a.O., S. 276 f. - 45 Herbert E. Tutas, NS-Propaganda, a.a.O., S. 156. - 46 Vgl. dazu Ursula Langkau-Alex: Volksfront ßr Deutschland? Bd. 1. Frankfurt/M. 1977. - 47 Vgl. Babette Gross, Münzenberg, u.a. das Kapitel »Der >Fall MünzenbergReden< Ihnen möglicherweise gar nicht mehr wichtig erscheint, meine ich noch immer, daß gewisse Resultate erhofft werden können, falls und wenn die richtigen Leute diese kranke Nation in der richtigen Weise ansprechen.« Sowie: »2. Während des Sommers kann ich hier nicht sehr viel tun, doch im November werde ich eine ausgedehnte Vortragsreise antreten. Ich weiß, daß ich meine Zuhörer viel stärker beeindrucken würde, wenn ich den Sommer teilweise in Europa verbracht hätte und mit der Glaubwürdigkeit sprechen könnte, die allein Erfahrung verleiht.«25 Erika Mann hat ihr Interesse an einer Mitarbeit bei den deutschen Sendungen der BBC nicht nur deutlich bekundet, sondern sie hat bekanntlich diese Arbeit auch getan, die es mit sich brachte, daß sie sowohl 1940 (zwischen August und Oktober) als auch 1941 (zwischen Juni und Oktober) in London war.26 Die jeweiligen Wintermonate verbrachte sie tatsächlich »lecturend« in USA; 1942 war sie im Amt des Coordinator for Information in New York tätig, 1943 bis 1944 als Kriegsberichterstatterin mit der 9. amerikanischen Armee27 in Ägypten, Persien, Palästina, Frankreich und Belgien; als Korrespondentin englischer beziehungsweise amerikanischer Zeitungen war sie 1945 bis 1946 in Europa, insbesondere in Deutschland.28 Sie berichtete von den Nürnberger Prozessen; als einziger Frau gelang ihr der Zutritt zum Mondorfer Hotel, dem Gefängnis der Hauptkriegsverbrecher. Was sie dort erlebte, und wie sie es erlebte, mag man den folgenden Zeilen aus einem Brief an ihre Mutter vom 22. August 1945 entnehmen: »Meine letzte Fahrt ging nach Bad Mondorf, wo ich den >Big 52< einen Besuch abstattete. Ein gespenstischeres Abenteuer ist nicht vorstellbar. Göring, Papen, Rosenberg, Streicher, Ley - tout le horreur monde (einschließlich Keitel, Dönitz, Jodl, etc.) eingesperrt in einem ehemaligen Hotel, das zum Gefängnis wurde und aus dem seine Insassen ein regelrechtes Irrenhaus gemacht haben. Da ich mit den Idioten nicht selbst sprechen durfte, schickte ich hinterher Vernehmungsbeamte zu ihnen und ließ sie wissen, wer ich (die erste und einzige Frau, die je den Ort betrat) war. Ley schrie: >Assez!< und schlug die Hände vors Gesicht; Rosenberg murmelte: >Pfui Deubel!< Und Streicher lamentierte: >Du lieber Gott, und diese Frau ist in meinem Zimmer gewesen! < Göring war am erregtesten. Hätte ich mich doch nur vorgestellt, sagte er, dann hätte er alles erklärt; und hätte er den Fall Mann bearbeitet, dann hätte er die Sache anders gehandhabt. Ein Deutscher von T.M.S Format hätte dem Dritten Reich sicherlich angepaßt werden können. Ich kabelte all dies und vieles mehr an den London Evening Standard, der es auf der Titelseite groß herausbrachte.«29 So vielfältig also Erika Manns publizistische Aktivitäten im engeren Sinne bis zum Kriegsende waren, so wurden sie doch immer auch durch andere Arbeiten ergänzt: durch die Mitwirkung an einem Antikriegsfilm für die USArmy unter der Regie von Ernst Lubitsch30, durch einen spektakulären

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Auftritt beim International PEN im September 1941 in London, wo sie zusammen mit Alfred Kerr für die kollektive Verantwortung der Deutschen und für die Notwendigkeit einer systematischen Umerziehung des deutschen Volkes nach der Niederlage plädierte und natürlich mit dieser Meinung entsprechend heftige Auseinandersetzungen und Kritik provozierte.31 Auf diese Auseinandersetzung wird im folgenden noch näher eingegangen werden. Immer wieder sind, die publizistische Arbeit vor dem Mikrofon oder für Zeitungen begleitend oder diese unterbrechend, Bücher entstanden, entweder in Zusammenarbeit mit dem Bruder Klaus oder auch von ihr allein verfaßt.32 Als »politisches Lehrbuch« hat Erika Mann selbst ihre beiden 1938 beziehungsweise 1940 entstandenen Arbeiten School of Barbarians sowie The lights go down bezeichnet33, eine Gattungsbezeichnung, die insbesondere für das letztgenannte Werk ebenso überraschend wie aufschlußreich ist. Das 1940 in New York, in Deutschland hingegen niemals erschienene Buch The lights go down ist eine Sammlung fiktiver, gleichwohl auf authentischen Berichten basierender Geschichten aus dem Alltagsleben unter Hitler. Es ist die Buchform jener für Erika Manns Tätigkeit typischen Mischung aus Tatsachenbericht und Kindergeschichte; in sich geschlossene, denkbar einfach miteinander verknüpfte Erzählungen über das Leben in einer deutschen Kleinstadt, in der ein Gestapo-Mann sich weigert, die sogenannte >Reichskristallnacht< mitzumachen, ein Juraprofessor gegen den offiziellen Rechtsbegriff des »völkischen Staates« durch ironisch zweideutige Vorlesungen Stellung nimmt, eine jüdische Sekretärin den Heiratsantrag ihres nichtjüdischen Chefs ablehnt, usw. Nicht Geschichten aus dem Widerstand werden hier von Erika Mann aneinandergereiht, keine Berichte von der Unerträglichkeit des Alltags in der Diktatur werden gegeben, sondern der Alltag in seiner merkwürdigen Mischung aus Entsetzlichem und Normalem, aus Harmlosigkeiten und Besonderheiten, in seiner Alltäglichkeit also, wird vor dem Leser entfaltet. Für die in der literaturwissenschaftlichen Exilforschung seit vielen Jahren diskutierten Fragen nach der Gattungs- und Begriffsbestimmung von Exilliteratur34 scheinen mir Erika Manns Arbeiten - insbesondere die beiden eben erwähnten, aber auch ihr »Kinderbuch« A Gang of ten aus dem Jahre 1942 - insofern von großem Interesse, als sie in ihrer Mischung aus antiliterarischem, politisch-belehrendem Anspruch und spezifischer Literarizität, in ihrer Mischung aus Alltagsdokumentation und schlichter Fiktion etwas durchaus Eigenes darstellen. Sie selbst hat diese »Mischform« im übrigen nicht nur praktiziert, sie hat sie auch programmatisch »gefordert«, ja für dringend notwendig erklärt in all jenen Fällen, in denen der publizistische Kampf gegen die »braune Pest« mit Aussicht auf Erfolg geführt werden sollte, unter anderem auch im Radio. 1940 und 1941 war Erika Mann als Mitarbeiterin der BBC an deren deutschen Sendungen beteiligt35, und diese Arbeit ist insofern relativ präzise rekonstruierbar, als sich im Münchener Erika Mann-Archiv ein mehrseitiges

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Typoskript36 findet, in dem Erika Mann Prinzipien und grundsätzliche Überlegungen für solche Sendungen, für politische Publizistik gegen Hitler, entworfen hat. Auf die immer wieder gestellte Frage nach persönlichem Selbstverständnis und politischer Intention Erika Manns lassen sich hier einige Antworten finden. Ausgangspunkt aller Sendungen - so Erika Mann - müsse die Überlegung sein, daß das Risiko, diese Sendungen in Deutschland zu hören, um ein vielfaches höher sei als alle Anstrengungen zu ihrer Herstellung. Das aber könne nur heißen, daß es besser sei, weniger zu sagen und zu senden und nur wirklich Wichtiges und Sagenswertes. Es sei schlichtweg unsinnig und unverantwortlich, das Risiko, das die deutschen Hörer beim Einschalten ihres Gerätes auf sich nehmen, durch langweilige, schlechte und überflüssige Sendungen unnötig heraufzubeschwören. Ein Kabarettist in Deutschland, der die Wahrheit sage, gefährde nur sein eigenes Leben, eine englische Rundfunkanstalt, die die Wahrheit auf langweilige und überflüssige Weise sage, gefährde das Leben vieler. Schon in solchen Überlegungen wird eine Publizistin erkennbar, deren Sinn für Unterhaltung und Theater unmittelbar im Sinn für Moral und moralisches Räsonnement begründet ist. Folgerichtig entwirft Erika Mann nach den bisher referierten Vorüberlegungen ein Konzept, das vier Typen von Sendungen vorsieht: 1. einfache, unkommentierte Nachrichten, 2. Kommentare auf der Grundlage ausgewählter, besonderer Nachrichten und Ereignisse, wobei der Kommentar sich immer daran orientieren sollte, daß Sachverhalt und Deutung den Hörern mit Sicherheit fremd seien, 3. persönliche Berichte und Erlebnisschilderungen von exilierten, in Deutschland jedoch angesehenen und noch bekannten Persönlichkeiten, die sich insbesondere an deutsche Frauen, Mütter und Witwen richten und mit der Autorität und Kompetenz der jeweiligen Persönlichkeit wirken sollten, und 4. schließlich schlägt Erika Mann vor, was auch wesentlich ihre eigene Sache war, nämlich das Rundfunkfeature, literarisch-musikalisch präsentierte Sketche und Szenen, Parodien und Imitationen, wobei immer wieder darauf zu achten sei, daß nur durch präzise Tatsacheninformation in Verbindung mit einem spezifisch persönlichen Zugriff des Vortragenden jene Wirkung zu garantieren sei, die man beabsichtige und die einzig die Gefahr zu rechtfertigen vermöge, in die ein deutscher Hörer sich begebe, wenn er eine solche Sendung in Deutschland empfange. Genrebilder aus dem Münchener Hofbräuhaus seien ebenso wirkungslos und ungeeignet wie Horrorschilderungen aus den KZs. Es sei - so betont Erika Mann immer wieder - schlichtweg davon auszugehen, daß die Mehrheit der Hörer »gute Nazis« bzw. »gute Deutsche« seien, patriotisch gesinnte Menschen, die unter den Bedingungen des Krieges zwar »nun erst recht« durchhalten wollten, gleichwohl aber gerade wegen dieser Kriegsbedingungen zunehmend irritiert, unzufrieden, desillusioniert, darüber hinaus inzwischen unterernährt seien und durch Krankheit und Tod von Ehemännern, Vätern und Söhnen zunehmend skeptisch geworden. Dieser Stimmung und materiellen Lage in Deutschland, insbesondere unter den Frauen, habe man Rechnung zu tragen,

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hier möge man in den Sendungen anknüpfen, am alltäglichen Leben, an den täglich mühseliger werdenden Bedingungen des Kriegsalltags; das Tagebuch einer nazitreuen Durchschnittshausfrau beispielsweise könne man in diesem Sinne entwerfen und in Fortsetzung lesen. Vor allem aber möge man nicht den Versuch unternehmen, allgemeine politische Belehrungen und Erklärungen zu senden, diese würden entweder auf Ablehnung stoßen oder gar nicht ernst genommen; man müsse immer wieder daran denken, daß solche Sendungen dann eine Wirkung haben könnten, wenn in ihnen ausgesprochen würde, was die »guten Nazis« in Deutschland allmählich selbst entdeckten; selbstverständlich müsse dazu auch die Erkenntnis gehören, daß sie Schuld seien an diesem Krieg und insofern auch an dem Elend, das sie selbst in ihrem alltäglichen Leben empfänden. Die Einfälle und Ideen, die Erika Mann in diesem Zusammenhang entwickelt, sind insgesamt womöglich nicht besonders originell, wohl auch nicht spezifisch für publizistische Aktivitäten im Exil.37 Indes gibt es einige Prinzipien, die Erika Mann in ihrer Arbeit verfolgt hat und die mir für sie und ihr Verständnis von dieser Arbeit sehr wohl spezifisch zu sein scheinen. Da ist zunächst die Akzentuierung des Einzelnen, des Konkreten, des Anekdotischen und Besonderen, das erzählend, sprechend entfaltet, manchmal gleichsam genüßlich entfaltet wird und von dem aus aufs Allgemeine, aufs Politisch-Grundsätzliche geschlossen werden soll. Es ist charakteristisch für Erika Manns politisch-publizistische Arbeit, daß sie Schlußfolgerungen und politische Positionen nahelegt und andeutet, jedoch nicht zum Ausgangspunkt nimmt. Mit diesem Prinzip hängt etwas Zweites eng zusammen, das ich bereits erwähnte, nämlich die Tradition der Schauspielerin, der Kabarettistin und der Kinderbuchautorin, die in der publizistischen Arbeit immer wieder sichtbar wird. Erika Mann erlebt die Wirklichkeit des Exils und die Erfordernisse des politischen Kampfes gegen Hitler nicht als Aufforderung zum politisch-philosophischen Traktat, Essay oder Bekenntnis, auch nicht als Aufforderung zur großen, in sich geschlossenen Form, sie erlebt diese Wirklichkeit als Aufforderung zur alltäglichen Geschichte, zur ebenso witzigen wie tiefernsten Anekdote, zum Erzählen und Berichten; und was dabei entsteht, sind ganz oft Geschichten, die das Leben schreibt, traurig, aber nicht verzweifelt; anrührend, aber nicht deprimierend; moralisch, aber nicht dogmatisch. In der Arbeit für den Rundfunk, in den kleinen Beiträgen für Zeitschriften und Zeitungen begegnet immer wieder jenes »literarische« Prinzip, das auch ihre Bücher bestimmt: die Montage aus Alltäglichem und Allgemeinem, aus Humor und Witz in der Erzählung bei gleichzeitig klarer und präziser politischer Tendenz. Sie erzählt ohne Zeigefinger, sie sucht den Konflikt und orientiert sich an ihm, aber sie polemisiert unverkrampft und unverkniffen. Frei von pathetischem Abenteuer- und Aufopferungssinn, ist sie stets auch bereit, an der Effektivität ihres eigenen Tuns zu zweifeln, nicht aber an der Notwendigkeit der diesem Tun zugrunde liegenden politischen Positionen.38 Die bisweilen irritierende Kompromißlosigkeit, die sie in Verbindung mit letzterem tatsächlich auch an den Tag zu legen vermochte,

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hat ihr nicht selten den Vorwurf der Halsstarrigkeit, der einseitigen Deutschfeindlichkeit eingetragen. Eine Vielzahl heftiger öffentlicher Kontroversen sind hier zu nennen 39 , auf zwei soll beispielhaft etwas genauer eingegangen werden. Zwischen dem 10. und 13. September 1941 fand in London der 17. Internationale PEN-Kongreß statt, und eines seiner Themen war »Germany today and tomorrow«. Neben Alfred Kerr und W.W. Schütz sprach auch Erika Mann, und was sie hier äußerte, hat heftige Debatten nicht nur während des Kongresses, sondern auch anschließend unter den Emigranten in Amerika ausgelöst. Ihr Beitrag war knapp und programmatisch, provokativ und prononciert. Sie erklärte unumwunden, daß schon seit Generationen die Deutschen »in hohem Maße falsch erzogen worden« seien; wenn man nach der Niederlage tatsächlich verhindern wolle, daß die Deutschen jemals wieder einen Krieg anstrengen, dann müßte man sie systematisch erziehen; ihr Verstand sei »vergiftet«, sie seien »geistig krank«, die »militärische Abrüstung Deutschlands muß mit der moralischen Aufrüstung dieses Landes verbunden werden«. Erika Manns Plädoyer gipfelte in der Aufforderung an die Alliierten, auch für die Zukunft die Politik der Nichteinmischung auf kulturellem und erzieherischem Gebiet zugunsten der Vorbereitung auf einen systematischen Umerziehungsprozeß der Deutschen aufzugeben: »Wir werden die Deutschen erziehen müssen - darüber kann es keinen Zweifel geben. Bücher müssen schon jetzt zum Gebrauch in allen europäischen Schulen vorbereitet werden; niemals wieder dürfen die Deutschen ihre Geschichte, Geographie, Rassenpsychologie lehren; wir müssen uns mit diesen neuen Büchern befassen, Pläne über die Verteilung von Millionen englischer Bücher an diese Institutionen müssen ausgearbeitet werden, wir müssen uns darauf vorbereiten, deutsche Erziehung aus dem Fenster zu werfen.« 40 In ähnlicher Form vertrat auch Alfred Kerr diese Thesen, deren grundsätzliche Orientierung sicherlich richtig erfaßt ist, wenn man den Vansittartismus und die frühzeitig in der Emigration diskutierte Auffassung von der mentalen, psychischen und charakterlichen Disposition der Deutschen für Faschismus und Obrigkeitsstaat in ihnen anklingen hört.41 Zweierlei empörte an Erika Manns Thesen, so wenig neu sie auch gewesen sein mögen: die grundsätzliche Kritik an den Deutschen, die nicht emigriert und in ihren Augen »geistig krank« waren, und das Plädoyer für die alliierte Intervention auch in pädagogisch-kultureller Hinsicht. Das Urteil über die Deutschen, über ihre kollektive Verantwortung für Hitlers Verbrechen und für Hitlers Krieg und Erika Manns Überzeugung von der Verantwortung der emigrierten Deutschen, die gemeinsam mit den Alliierten für ein antinazistisches Deutschland nach der Niederlage zu arbeiten hätten42, das war es, was ihr auf dem Kongreß selbst und unter den Emigranten in Amerika heftige Kritik eintrug. Provozierend war wohl tatsächlich auch, womit sie ihren Redebeitrag in London beendete. Es heißt im englischen Original: »Defeat will come to the Germans as a tremendous shock, and if we think of them as we ought

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to, as a people who are mentally ill, it may serve us to remember that shocks are being produced and employed successfully against all sorts of mental diseases; the invasion shock has shaken many a patient back to his senses and I do not think it unduly optimistic to estimate that the shock of defeat will have a similar effect on the Germans; the poison of Nazism will be at least partly shaken out of them; it will be up to us to fill the minds and hearts of the Germans with new ideas, new hopes and a better faith.«43 Nun sind diese Sätze ebenso wirkungsvoll inszeniert wie von persönlicher Erfahrung, vom privaten Erleben determiniert, und nicht umsonst hatte Erika Mann ihren gesamten Redebeitrag mit einem persönlichen Bericht von ihren lecture-Reisen eröffnet. Immer wieder — so erzählt Erika Mann werde sie im Anschluß an ihre Vorträge von jungen Amerikanern gefragt, ob Deutschland nicht Europa sei, ob nicht Hitler das Verdienst gebühre, Europa geeinigt zu haben. Sie, die Publizistin Erika Mann, erlebe auch immer wieder, daß ihr nach solchen Vorträgen Briefe und Zettel zugesteckt würden, die nicht nur Drohungen und üble Beschimpfungen enthielten, sondern die Behauptung, es seien »criminal treacherous and warmongering activities«, die sie betreibe, und nicht selten seien diese »Botschaften« schlichtweg mit »Heil Hitler« unterzeichnet.44 Wieder also begegnet man dem für Erika Mann so charakteristischen Verfahren: sie erzählt sehr knapp und sehr konkret, sie schildert eine durchschnittliche Episode, an der eben »nur« dieses wichtig und bestimmend ist, daß sie nämlich das Allgemeine, das Politisch-Grundsätzliche, für das die Publizistin Erika Mann eintritt, zu illustrieren vermag: eben die Notwendigkeit einer konsequenten Umerziehung der Deutschen nach der Niederlage und die nicht minder große Notwendigkeit, daß die amerikanischen und europäischen Demokraten die Verantwortung für diese Erziehung übernehmen. Für die Beurteilung dieser Forderung Erika Manns oder Alfred Kerrs, aber auch der durchaus ähnlich lautenden Überlegungen Emil Ludwigs und F.W. Foersters, ist es von nicht geringer Wichtigkeit, den Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem Erika Mann in London spricht. Die Atlantik-Charta, auf die sie sich ausdrücklich bezieht, liegt einen Monat zurück, der durch Pearl Harbour ausgelöste Kriegseintritt der USA erfolgt zwei Monate später. Nicht erst seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte Erika Mann die These vertreten, daß Hitler und der deutsche Faschismus nur mit militärischen Mitteln zu besiegen sein würden, ihre wie auch die Reaktionen vieler Emigranten auf die Ereignisse des Jahres 1938 waren immer schon geprägt von der Hoffnung auf eine militärische Reaktion der westlichen Demokratien. Schon bei ihren ersten öffentlichen Auftritten in Amerika, seit 1937, hatte sie für eine direkte, materielle Reaktion Amerikas auf Hitler-Deutschland, nämlich für den Boykott deutscher Waren plädiert und die sicherlich zu optimistische Prognose gewagt, ein solcher Boykott, konsequent durchgeführt, werde die »unmittelbare[n] Vernichtung des nationalsozialistischen Regimes« zur Folge haben. 45 Erika Mann bewegte sich mit dieser Position ganz auf der Linie der seit 1933 in Amerika

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existierenden Boykottkampagne, die, organisiert vom »Joint Boycott Council of the American Jewish Congress and Jewish Labour Committee«, unter anderem am 15. März 1937 jene große Massenversammlung im Madison Square Garden veranstaltete, zu der Thomas Mann ein von Erika Mann vorgetragenes Grußtelegramm geschickt hatte und bei der Erika Mann selbst zum Thema »Woman in the Third Reich« gesprochen hat.46 Schon in diesem Beitrag weigerte sich Erika Mann, eine Unterscheidung vorzunehmen, zu der sie sich auch später nicht durchzuringen vermochte, die ihr - am Rededuell mit Zuckmayer wird man es wiederum sehen können - je länger je weniger einleuchtete: die Unterscheidung zwischen dem zu befreienden »deutschen Volk« und dem zu bekämpfenden, vor allem militärisch zu bekämpfenden Regime. Daß sie zu solcher Differenzierung sich nicht verstehen konnte, hat ihr aus einsichtigen Gründen heftige und bisweilen auch unfaire Kritik eingetragen, daß sie indes früh schon die »vansittartistische Trommel«47 gerührt hätte, wird man nicht behaupten können. Daß Hitler die Bedrohung des Friedens und der Demokratie darstelle, daß er insofern auch der Feind der Amerikaner sei, die nicht zuletzt sich selbst verteidigten, wenn sie im Wege des Boykotts, der Unterstützung deutscher Emigranten und schließlich der militärischen Intervention Hitler und sein Regime bekämpften, dies war in der Tat eine politisch-moralische Argumentation, die sich durch Erika Manns Reden und Vorträge wie ein Leitmotiv hindurchzog und die nicht zuletzt in ihrem Beitrag für den PEN-Kongreß in London in der Behauptung wiederkehrt, es seien die Deutschen zwar in hohem Maße falsch erzogen worden, aber sie seien nicht unheilbar und unbelehrbar; im Wege der Erziehung müsse und könne man die Deutschen von dem Wunsche befreien, je wieder einen Krieg führen zu wollen. Ähnlich hatte sich Alfred Kerr vernehmen lassen, als er sagte: »Die Literatur nach dem Krieg wird zuerst für eine gewisse Zeit erzieherisch sein müssen«, denn der »deutsche Geist, so reich an Qualitäten und doch so irrational« müsse »umgepflügt, umgebildet, erzogen werden«, wenn vermieden werden solle, was Nietzsche »Die Wiederkehr des Gleichen« genannt habe.48 Es sollte im Zusammenhang mit solchen Äußerungen nicht übersehen werden, daß sowohl Erika Manns als auch Kerrs Argumentation einen sehr spezifischen und immer erneut bekräftigten Ausgangspunkt hatte, die Erfahrung nämlich, daß die Nazis durch systematischen Mißbrauch demokratischer Prinzipien an die Macht gekommen waren und daß die Möglichkeit solchen Mißbrauchs eben gerade nicht im allgemeinen Prinzip der Demokratie, sondern in der spezifischen Disposition der deutschen Machteliten zu obrigkeitsstaatlichem und antidemokratischem Denken und Handeln zu suchen sei. Demokratische Prinzipien gegenüber antidemokratisch gesinnten Mächten und Menschen zu verfechten, sei nicht nur nicht ehrenwert, sondern nachgerade töricht.49 Die Literatur im Nachkriegsdeutschland habe erzieherisch zu sein, so Alfred Kerr; die Schulbücher, ja die gesamte Pädagogik müßte revidiert werden, so Erika Mann. Beiden trägt solches Denken heftigen Widerspruch ein30, beispielsweise aus dem Munde Ferdinand Bruckners, der im Oktober 1941S1

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unter dem Titel »Das Versagen der Schriftsteller« zum Londoner PENKongreß und den von Kerr und Erika Mann vorgetragenen Auffassungen folgendes ausführt: so zufällig konzipiert und schlecht vorbereitet wie der Kongreß insgesamt, so wenig repräsentativ sei das zu nennen, was einzelne Schriftsteller vorgetragen hätten. Dies gelte insbesondere für Erika Mann und Alfred Kerr, die man ja sehr schätze und die mit Recht darauf hingewiesen hätten, daß Deutschland von einer »Infektionskrankheit« befallen sei, deren Symptome es schon lange, seit den Zeiten der Befreiungskriege und des deutschen »Idealismus«, in sich trage. Aber man müsse in gewisser Weise »Gott danken, daß diese schleichende Krankheit endlich zum Ausbruch gekommen ist, selbst wenn wir Zeitgenossen ihre Opfer sind.«32 Zweifellos brauche das deutsche Volk einen Erzieher, aber den habe es bereits in Gestalt des Leids, das es erdulde. Außerdem mögen die Emigranten doch grundsätzlich bedenken, daß ihr Schicksal »nichts« sei »verglichen mit dem, was die Gebliebenen täglich erleiden und noch zu erleiden haben werden«. Wer das deutsche Volk unter »geistiges Kuratell« stellen wolle, der mißachte eben jenen Unterschied zwischen Vertriebenen und Gebliebenen, er stelle sich schulterklopfend über die letzteren und repräsentiere insofern »wenn auch im Ausland«, noch immer den »alten deutschen Bazillus«. Von der schlichten Tatsache abgesehen, daß weder Alfred Kerr noch Erika Mann über die Lebenssituation in Deutschland und im Exil gesprochen und auch nicht dafür plädiert hatten, daß das deutsche Volk »in Stücke« gehen müßte, wenn der Friede gesichert sein sollte, ist Bruckners Argumentation noch einer weiteren Unterstellung wegen aufschlußreich: er nennt die Vorschläge Kerrs und Erika Manns schulterklopfend, herablassend und die privilegierte Position des Emigranten ignorierend, er sieht sie behaftet mit dem, was insgesamt die uralte deutsche Krankheit sei, mit »deutscher« Überheblichkeit nämlich. Die auf beiden Seiten arg strapazierte Krankheitsmetapher vermag die politische Kontroverse jedoch im Kern nicht zu verdecken. Wer für alliierte Verantwortung und Erziehung plädiert, ist entweder antideutsch oder nur allzu deutsch eingestellt, wer von politisch-kultureller Erziehung und bewußter Einflußnahme spricht, will vom Ausland aus Deutschland in »Stücke« gehen sehen, er ignoriert das »Leid« der Gebliebenen und überbewertet das Schicksal der Emigranten. Die Argumentationen sind nur allzu bekannt, und in der großen Kontroverse zwischen Erika Mann und Carl Zuckmayer werden sie in verschärfter Form wiederkehren, in den Debatten um das »andere Deutschland«, um die Identifikation Deutschlands mit Hitler, sind sie längst begegnet.53 Immer natürlich verbergen sich hinter den Argumentationen institutionelle Rivalitäten, im vorliegenden Falle diejenigen zwischen dem Internationalen PEN und dem europäischen Exil-PEN in den USA54; im 1944 entbrennenden Konflikt um das von Paul Tillich gegründete »Council for a Democratic Germany« diejenigen zwischen sozialdemokratischen, kommunistischen und liberalen Gruppen unter den Emigranten.55 Erika Manns Skepsis gegenüber dieser Gründung56 war, wie bereits 1941 und im Grunde

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seit Beginn ihres politisch-publizistischen Wirkens, Resultat anderer Prioritäten. Immer wieder hat sie den Argumentationen in Sachen Nazideutschland entgegengehalten, es komme darauf an, für den Sturz dieses Regimes zu kämpfen, den praktischen und militärischen Kampf zu führen und sich dabei allen Räsonnements über die von Hitler unterdrückten, im Grunde innerlich gegen ihn revoltierenden Deutschen zu enthalten. Die Unterscheidung zwischen Nazis und Deutschen sei derzeit ebenso irrelevant wie die Forderungen des »Council«, die vor der Zerschlagung Deutschlands warnten und die alliierte Deutschland-Politik zu beeinflussen suchten, »eine mit antifaschistischen und sozialistischen Forderungen kärglich verbrämte Liste von deutschen Forderungen«, ein »Jammer« und eine »Schande« seien, die von einem »besseren« Deutschland nun wirklich nicht Zeugnis abzulegen vermöchten. 57 Die durch den vom Aufbau erbetenen Artikel Erika Manns entbrannte Kontroverse, in die durch Leserbriefzuschriften auch H. Jacob, S. Gottlieb, S. Marek, Walter Mehring, F. Sternthal und Jan Masaryk eingegriffen haben, zeigt die Publizistin Erika Mann gerade wegen der Prononciertheit ihrer Argumente in einer ihrer Glanzrollen, und ebenso witzig wie schlagkräftig hat noch ein anderer mitgespielt: der Freund und alte »Pfeffermühlen«Mitstreiter Walter Mehring, der in sieben »Entgegnungen« Erika Manns Position nicht nur stützt, sondern radikalisiert. Mit der fünften seiner Entgegnungen hat er sich im übrigen nicht nur als vorausschauender Zyniker erwiesen, dem die Zukunft nur allzu recht geben sollte, er hat darüber hinaus in wenige Worte gebracht, was Erika Manns Anliegen in London 1941, in vielen Vorträgen und auch während ihrer Arbeit als Kriegsberichterstatterin gewesen ist: »5) Man muß das deutsche Volk, das im Gegensatz zu anderen Völkern unter Hitler so gelitten hat, durch Güte erziehen, damit es wieder ein gleichberechtigtes Mitglied der Aufrüstung wird. Dann können die anderen noch was von ihm lernen.« 58 Mehr als sieben Monate war Erika Mann 1945 bis 1946 im »befreiten« bzw. »besetzten« Deutschland unterwegs, sie schreibt Reportagen 59 , spricht mit Menschen auf der Straße, beobachtet ausführlich das Nürnberger Tribunal60, hört die Ansichten der sogenannten normalen, »guten« Deutschen und vermag ihren Eindruck nicht anders zu formulieren als so: »Daß sie nicht >besetzt< sein wollen und, zu feige zu offener Revolte, uns mit passiver Resistenz, vereinzelten Sabotage-Akten und Morden und notdürftig kaschierten Frechheiten in Radio und Presse kommen, ist noch das netteste an ihnen. Weniger nett ist ihr triefendes Mitleid mit sich selbst, das der Leiden anderer schon deshalb niemals gedenkt, weil solche Leiden von jemandem verschuldet sein müssen, weil dieser jemand am Ende Deutschland heißt und weil Deutschland sich so uferlos nicht leid tun dürfte, wenn es schuld wäre, an anderer Leute ebenbürtigem Elend.«61 Aus vielen unveröffentlichten Briefen, aus der Fragment gebliebenen quasi autobiographischen Arbeit mit Klaus Mann62, aber auch aus der Thematik ihrer Vorträge nach 1945 geht hervor, worin sie für die Zukunft das größte

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Risiko sah. Auf nichts - so Erika Mann - warten die Deutschen so sehr wie auf die offene Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR, ja sogar auf den dritten Weltkrieg warten sie, weil sie die Chance sehen, sich auf die Seite des sogenannten Stärkeren zu schlagen. Immer wieder hat Erika Mann vor der Erfüllung dieser Hoffnung, vor dem kalten Krieg gewarnt, für Verständigung mit den Russen in der Berlin-Frage plädiert.0 Die Folge war die Denunziation als Kommunistin64 und die Nicht-Bearbeitung ihres Antrags auf die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Folge war der gescheiterte Versuch, gemeinsam mit dem Bruder Klaus gerichtlich gegen die genannte Denunziation vorzugehen ebenso wie wöchentliche Verhöre durch das FBI65; das Ergebnis war das erneute Exil: die Übersiedlung in die Schweiz 1952.66

1 Erika Mann: Briefe und Antworten. 2 Bde. Hg. v. A. Zanco-Prestel. Münchcn 1984/85. Bd. 1, S. 120 f. - 2 Zur Geschichte der »Pfeffermühle« in Europa vgl. u.a. die kur/.en Darstellungen von Klaus Budzinski: Die Muse mit der scharfen Zunge. München 1961, S. 310-314; Heinz Greul: Bretter, die die Zeit bedeuten. Die Kulturgeschichte des Kabaretts. 2 Bde. Münchcn 1971, Bd. 2, S. 309 ff.; Reinhard Hippen: Satire gegen Hitler. Kabarett im Exil. Zürich 1986, S. 17-47; eine detaillierte und informative Untersuchung über die »Pfeffermühle« in Luxemburg hat vorgelegt: Mars Klein: »Literarisches Engagement wider die totalitäre Dummheit. Erika Mann's Kabarett >Die Pfeffermühle< 1935 und 1936 in Luxemburg«. In: Galerie 3 (1985) H. 4, S. 543-579. - 3 Um den Erfolg der »Pfeffermühle« in Amerika zu gewährleisten, hat Erika Mann eine Fülle von Aktivitäten entwickelt, die auch durch Thomas Mann und Klaus Mann unterstützt wurden. Vgl. z.B. Klaus Mann: »Was will die Pfeffermühle?« In: Neue VolksZeitung, New York, v. 9.1.1937. Thomas Mann: »Die Pfeffermühle. Einführung der Pfeffermühle in Amerika«. In: Ders.: Gesammelte Werke. Frankfurt/M. 1985. Bd. XI, S. 456 ff. Erika Manns Anliegen und die »Pfeffermühle« insbesondere gegen die Kritik der New York Times zu verteidigen bemühte sich u.a. Gerhart H. Seger in der New Yorker Volks-Zeitungv. 9.1.1937, S. 8. - 4 Zur lecture-Tätigkeit der Emigranten in Amerika vgl.: Hans Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1945. Bd. 3: Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im 2. Weltkrieg. Stuttgart 1988, S.455 ff. - 5 Das Erika Mann-Archiv in München verwahrt ca 100 z.T. allerdings fragmentarische Manuskripte, die Erika Mann für ihre Vorträge benutzt hat. Über Erika Manns Erfolge und über die Wirkung, die sie beim Publikum auslöste, geben auch Presseberichte aus amerikanischen Zeitungen sowie die Werbe- und Einladungshandzettel Auskunft, die ihr Agent, Colston Leigh, anfertigen ließ. - 6 Über ihre Erfahrungen beim >Iecturen< hat Erika Mann nicht nur sehr ausführlich und anschaulich immer wieder in ihren Briefen berichtet, sondern auch in einem gedruckt vorliegenden Bericht; Erika Mann: »Lecturer's Lot«. In: Liberty v. 24.3.1945, S. 24 ff. Vgl. außerdem: Erika Mann: »My fatherland, the pullman«. In: Vogue v. 23.2.1944, S. 20 f. - 7 Vgl. Erika Mann: Briefe und Antworten (wie Anm. 1), S. 173 f.; Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1982, S. 278 und S. 282 f. - 8 Erika Manns Buch erschien 1937 in New York unter dem Titel: Schoo! of Barbarians. Die erste deutsche Ausgabe brachte 1938 der Amsterdamer Querido-Verlag heraus; von dieser Ausgabe ist z. Zt. ein Neudruck erhältlich: Erika Mann: Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich. München 1986. - 9 Das gesamte Material einschließlich einer Reihe von Briefen Erika Manns zur »American Guild of German Cultural Freedom« liegt im Exilarchiv der Deutschen Bibliothek Frankfurt/M. - 10 Erika Mann: Briefe und Antworten (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 126. - 11 Zur Arbeit der »Am. Guild« vgl. u.a. Walter: Deutsche Exilliteratur, Bd. 3 (wie Anm. 4), S. 95 ff.; Volkmar Zühlsdorff: »Die Deutsche Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil und die American Guild for German Cultural Freedom«. In: Der freie Beruf 3, 1988. - 12 Während des Sommers 1938 ist Erika Mann zusammen mit dem Bruder

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Klaus mehrere Wochen in Spanien. Gemeinsam schreiben die Geschwister eine Reihe von Artikeln über die Lage; Erika Mann allein hat eine Anzahl von Berichten über den Spanischen Bürgerkrieg u.a. für die New Yorker Volks-Zeitung geschrieben (Vgl. NVZ zwischen dem 16. Juli und dem 27. August 1938). - 13 Vgl. das entsprechende Schreiben Erika Manns an Hubertus Prinz zu Löwenstein vom 16. Okt. 1939 (Nachlaß Löwenstein, Deutsches Exilarchiv Frankfurt/M.) sowie ihre Briefe an die »Am. Guild« (Sign. 70/117 im Archiv in Frankfurt). - 1 4 Auf ihr Engagement für die Freilassung A. Döblins und auch auf die entsprechenden Bemühungen Thomas Manns verweist Erika Mann noch in der Kontroverse mit Döblin im Sommer 1948. Vgl. Erika Mann: Briefe und Antworten (wie Anm. 1), Bd. I, S. 237 ff. 15 Zur Bedeutung des European Film Fund sowie zur Arbeit des ERC vgl. Walter Deutsche Exilliteratur, Bd. 3 (wie Anm. 4), S. 513 ff.; John Russell Taylor Fremde im Paradies. Emigranten in Hollywood 1933-1950. Berlin 1984, S. 194 ff. Zu Erika Manns Arbeit für weitere Hilfskommitees siehe: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 130 und S. 177; Erika Manns Arbeit erwähnt auch: Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen. München 1986. 16 Walter Deutsche Exilliteratur. Bd. 3 (wie Anm. 4), S. 542; Wolfgang Kießling: Exil in Lateinamerika. Leipzig 1980, S. 137 f. - 17 Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943 (wie Anm. 7), S. 344. Über die Situation der in Lissabon auf Aufenthaltsgenehmigungen oder Ausreisevisa wartenden Flüchtlinge hat Erika Mann nicht nur im Familienkreise berichtet, sondern auch mehrfach im Rahmen ihrer »lecturcs« ausführlich erzählt. Ziel solcher Erzählungen, die immer wieder auch die eigenen Empfindungen und Gefühle einbeziehen, war es, den Amerikanern auf möglichst anschauliche Weise deutlich zu machen, daß der Kriegseintritt der USA unbedingt erforderlich sei, ja, daß es so etwas wie eine moralische Verpflichtung Europa und speziell England gegenüber gäbe. Ihre Artikel für die Londoner ZEITUNG, die Erika Mann von Amerika aus nach London schrieb, waren hingegen darum bemüht, in England ein Bild von der Stimmung in Amerika zu geben. Erika Manns Artikel für DIE ZEITUNG stammen vom 12.4., 30.4., 22.5., 18.7.1941 und vom 28.5.1943. - 18 Nachlaß Wilhelm Sternfeld. Deutsches Exilarchiv, Frankfurt/M. Sign EB 75/177. - 19 Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 143. - 20 Immer wieder finden sich in Thomas Manns Tagebüchern Hinweise auf den Gesundheitszustand Erika Manns; insbesondere Stimmbandreizungen, die bisweilen dazu führten, daß sie ihre Vortragsreisen absagen bzw. einzelne Termine verschieben mußte, hat sie auch regelmäßig zum Anlaß ironischer Selbstkommentare genommen. Vgl. u.a. Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943 (wie Anm. 7), S. 345 f. - 21 Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 186. 22 Ebd. - 23 Menno ter Braak: »Die Pfeffermühle«. In: Das Neue Tagebuch Bd. IV (1936), H. 16, S. 379 f. - 24 Erika Manns 1942 in New York erschienenes Kinderbuch A gang of ten ist mit Recht in der Kritik als >Gegenstück< zu ihrem Buch Zehn Millionen Kinder bezeichnet worden. Vgl. die Kritik in: Aufbau v. 22.1.1943. - 25 Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 152. - 26 Über ihre Eindrücke in London, insbesondere ihre Erlebnisse während des Bombenkriegs hat Erika Mann im Rundfunk und in verschiedenen Zeitungen ausführlich berichtet. Vgl. u.a.: Erika Mann: »Arbeit im Bombenregen«. In: Aufbau vom 11.10.1940; Erika Mann: »Eine Nacht in London«. In: Aufbau vom 8.11.1940. (Dieser Bericht erschien auch in englischer Sprache in: The Nation, New York, v. 19.10.1940). Vgl. zu diesem Kontext auch Erika Manns Buchbesprechung: »In England, Now. War Letters from Britain.« In: Decision I, Nr. 3 (März 1941), S. 73-75. Originalaufnahmen von Interviews mit Erika Mann nach der Rückkehr aus dem bombardierten London sowie als Kriegskorrespondentin befinden sich im Deutschen Rundfunkarchiv, Frankfurt/M. (Sign. DRA-Nr.: X 46 sowie DRANr. 4514476). - 27 Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Kriegsberichterstatterin hat Erika Mann u.a. für die amerikanische Zeitschrift Liberty eine Reihe von Berichten und Reportagen geschrieben. Vgl. z.B.: Erika Mann: »Waiting for the General«. In: Liberty v. 9.10.1943; dies.: »The powder keg of Palestine«. In: Liberty v. 8.1.1944; dies.: »Paris Now«. In: Liberty v. 2.12.1944. Über Erika Manns Aufenthalt in Palästina vgl. auch den entsprechenden Bericht in Aufbau v. 14.1.1944. Als »special correspondent« hatte Liberty Erika Mann bereits früher engagiert. Vgl. z.B.: Erika Mann: »Has Britain won the war of nerves?« In: Liberty v. 27.9.1941; dies.: »Rescue Boats«. In: Liberty v. 25.10.1941. Auch als Korrespondentin für den Toronto Star Weekly begegnet Erika Mann in diesen Jahren immer wieder. Vgl. u.a. Erika Mann: »No gloom in this hospital«. a.a.O., 23.5.1942; dies.: »Back from battle«. a.a.O., 8.7.1944. Seit 1944 begegnen immer wieder auch Reportagen, in denen Erika Mann die zukünftige Entwicklung in Deutschland und Europa, die weltpolitische Entwicklung nach dem Ende des Krieges an konkreten Begegnungen und Erlebnissen reflektiert. Vgl. z.B.: Erika Mann: »The future as Benes sees it«. In: Toronto Star Weekly v. 12.8.1944. Siehe auch Erika Manns >Erlebnis-

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erzählungc »Two Worlds«. In: They were there. The Störy of World War II and how it came about. By America's foremost CorTespondents. Hg. v. Curt Riess. New York 1944, S. 547-550. - 28 Für ihre Arbeit als amerikanische Kriegskorrespondentin ist Erika Mann ausdrücklich ausgezeichnet worden. Vgl. Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 180 und S. 276. Vgl. auch: Thomas Mann: Tagebücher 1944-1946. Hg. v. Inge Jens. Frankfurt/M. 1986, S. 276 und S. 740. - 29 Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 206 f.; Erika und Klaus Mann haben den Plan gehabt, eine gemeinsames Buch über ihre Erfahrungen und Erlebnisse im »befreiten« bzw. »besetzten« Deutschland zu schreiben, das den Titel tragen sollte: »You can't go home again«. Vgl. Michel Grünewald: Klaus Mann. Eine Bibliographie. München 1984, Nr. 890. - 30 Der Film sollte den Titel haben: »Know your enemy«. Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943 (wie Anm. 7), S. 469 und S. 475 sowie S. 941. - 31 Hermann Ould (Hg.): Writers in Freedom. London 1941. ND: 1970. Vgl. außerdem: Der Deutsche PEN-Club im Exil 1933-1948. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek. Bearbeitet von Werner Berthold und Brita Eckert. Frankfurt/M. 1980. - 32 Erika und Klaus Mann: Escape to Ufe. Boston 1939; Erika und Klaus Mann: The other Germany. New York 1940. - 33 Als »politisches Lehrbuch« hat Erika Mann ihre beiden Bücher Zehn Millionen Kinder sowie The lights go down bezeichnet, und zwar in Beantwortung des von W. Sternfeld an die ehemaligen Emigranten verschickten Fragebogens, der ihm als Grundlage für sein Buch dienen sollte. Vgl. Wilhelm Sternfeld / Eva Tiedemann: Deutsche Exilliteratur 1933-1945. Eine Bibliographie. 2. Aufl. Heidelberg 1970. - 34 Neben der 1973 und 1974 in der Zeitschrift Akzente geführten Diskussion sei insbesondere verwiesen auf folgende Arbeiten: J.P. Strelka (Hg.): Exilliteratur. Grundprobleme der Theorie. Aspekte der Geschichte und Kritik. Bern 1983. A. Stephan / H. Wagener (Hg.): Schreiben im Exil. Zur Ästhetik der deutschen Exilliteratur 1933-1945. Bonn 1985. W. Koepke / M. Winkler (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur. Studien zu ihrer Bestimmung im Kontext der Epoche 1930-1960. Bonn 1984. 35 Zu den deutschsprachigen Sendungen der BBC vgl. u.a. Carl Brinitzer Hier spricht London. Hamburg 1969; Ernst Loewy: »Exil und Rundfunk. Ein Überblick«. In: W. Frühwald / W. Schieder (Hg.): Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüc/Ulinge im Ausland 1933-1945. Hamburg 1981, S. 145-159; Conrad Pütter: Rundfunk gegen das »Dritte Reich*. München 1986, S. 84 ff. Vgl. außerdem Peter M. Lindt: Schriftsteller im Exil. Zwei Jahre deutsche literarische Sendungen am Rundfunk in New York. New York 1944. Reprint 1974. - 36 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das im EMA liegende Typoskript: Broadcasting To German women (= EMA Nr. 27). - 37 Wie man in Deutschland von offizieller« Seite auf Erika Manns Rundfunkarbeit reagiert hat, dokumentiert ein Artikel im Völkischen Beobachter vom 8. Oktober 1940 unter dem Titel »Der Fall Mann«, der Erika Mann u.a. als »politische Gebrauchsdirne« Duff Coopers bezeichnet. - 38 Erika Manns Neigung, die Bedeutung des eigenen Tuns und der eigenen Person, wenn nicht herunterzuspielen, so doch immer wieder ironisch zu relativieren, wird an vielen Selbstaussagen sichtbar, nicht zuletzt an der häufig wiederholten Behauptung, sie »schwatze« überwiegend. - 39 Wirbel lösten insbesondere zwei publizistische Aktivitäten Erika Manns aus. Eis war dies zum einen ihr Interview mit Lord Vansittart. In: Vogue v. 1.1.1942, und zum anderen eine sich über mehrere Wochen hinziehende Auseinandersetzung, die von einem Leserbrief Erika Manns an die New York Times vom 9.2.1942 ausgegangen war. Erika Mann hatte darin gegen die Tatsache protestiert, daß der amerikanische Rundfunk regelmäßig zu jeder vollen Stunde Kriegsnachrichten ausstrahle und anschließend Musiksendungen bringe, in denen Interpreten klassische deutsche Musik spielten, die, wie beispielsweise Gieseking, mit Hitler an einem Tisch sitzen, wiewohl sie sich für unpolitisch hielten. Erika Manns Leserbrief endet mit der Frage »Why listen to Hitler's man?« Die Reaktion auf diesen Leserbrief in der amerikanischen Öffentlichkeit ist heftig; u.a. wirft der führende Musikkritiker und Komponist Deems Taylor Erika Mann vor, sie wolle für die Vernichtung deutscher Schallplatten eintreten, so wie die Nazis eben Bücher verbrannt hätten; sie verkörpere insofern »prejudice and intolerance«, die Prinzipien derer also, gegen die sie vorgeblich kämpfe. In einem fünfzehnminütigen Rundfunkkommentar hat Erika Mann am 14.3.1942 gegen diese Unterstellungen protestiert und ihren Standpunkt, den zuvor u.a. auch Bruno Walter heftig kritisiert hatte, verteidigt. Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943 (wie Anm. 7), S. 404. Das Manuskript der genannten Radioansprache sowie weiteres Material zu dem Konflikt liegt im EMA (EMA 125) unter dem Titel: Music in War Time. - 40 Der Deutsche PEN-Club im Exil (wie Anm. 31), S. 366. - 41 Ob es insgesamt zutreffend ist, Erika Mann »vansittartistische« Positionen zu unterstellen, muß trotz der deutlichen Sympathie, die z.B. aus ihrem Interview mit Lord Vansittart spricht, vorerst dahingestellt bleiben. Vgl. zum Gesamtkomplex Joachim Radkau:

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»Die Exil-Ideologie vom >anderen Deutschland und die Vansittartisten«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1970, Heft 2, S. 31-48; ders.: Die deutsche Emigration in den USA. Gütersloh 1971, S. 107-214. - 42 Peter Mertz: »Und dies wurde nicht ihr Staat.» Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland. München 1985, S. 103 und S. 105, erwähnt Erika Manns und Alfred Kerrs »Umerziehungspläne«, nennt sie »unrealistische Spekulationen« und verweist sodann auf Alfred Döblin, der in Kap. 9 von »Die literarische Situation« durchaus ähnliche Gedanken, die Änderung des Erziehungswesens und die Einführung neuer Bücher und Lehrpläne betreffend, geäußert hatte. - 43 Hermann Ould: Writers in Freedom (wie Anm. 31), S. 86. - 44 Erika Manns Berichte von bisweilen erschreckenden und bedrohlichen Umständen während ihrer Vorträge erwähnt auch Thomas Mann: Tagebücher 1940-1943 (wie Anm. 7), S. 230. - 45 Erika Mann: Aufruf zum Boykott deutscher Waren. Typoskript im Erika Mann-Archiv ( = EMA 21). - 46 Thomas Mann: Tagebücher 1937-1939. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1980, S. 38 und Anm. S. 569. Vgl. zu dieser ersten großen Massenveranstaltung, an der Erika Mann teilnahm, auch: Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 118 f. - 47 Dietrich Aigner: »Zum Politischen Debüt der Familie Mann in den USA: Das >Peace and Democracy Rally< im New Yorker Madison Square Garden vom 15. März 1937«. In: Heinrich Mann-Mitteilungsblatt. Sonderheft 1981. Lübeck 1981, S. 29-42. Hier S. 3 2 . - 48 Der Deutsche PEN-Club im Exil (wie Anm. 31), S. 364. 49 Peter Mertz (wie Anm. 42), S. 170 und S. 175; Wulf Köpke: »Die Bestrafung und Besserung der Deutschen. Über die amerikanischen Kriegsziele, über Völkerpsychologie und Emil Ludwig«. In: Thomas Koebner u.a. (Hg.): Deutschland nach Hitler: Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1949. Opladen 1987. S. 79-87. - 50 Zur Diskussion um die erzieherische Aufgabe der Literatur im Nachkriegsdeutschland sowie insgesamt zur Nachkriegsliteratur vgl. Volker Wehdeking: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Stuttgart 1971; Frank Trommler »Emigration und Nachkriegsliteratur. Zum Problem der geschichtlichen Kontinuität«. In: Exil und innere Emigration, Hg. v. R. Grimm und J. Ilermand. Frankfurt/M. 1972, S. 173-198. - 51 Ferdinand Bruckner »Das Versagen der Schriftsteller«. In: Aufbau v. 3.10.1941. - 52 Ebd. - 53 Zur Debatte um das »andere Deutschland« unter den Emigranten in Amerika vgl. Konrad Feilchenfeldt: »Amerikanismus und Rußlandsehnsucht. Von der Regionalität des >Anderen Deutschlands In: W. Frühwald / W. Schieder (Hg.): Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933-1945. Hamburg 1981, S. 77-88. - 54 Ferdinand Bruckner »Das Versagen der Schriftsteller« (wie Anm. 51). 55 Zum »Council« vgl. auch Joachim Radkau: Die deutsche Emigration in den USA (wie Anm. 41), S. 193 ff.; Ehrhard Bahr »Paul Tillich und das Problem einer deutschen Exilregierung in den Vereinigten Staaten«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 3. München 1985, S. 31^12. - 56 Erika Mann: »Eine Ablehnung«. In: Aufbau v. 21.4.1944; Carl Zuckmayer »Offener Brief an Erika Mann«. In: Aufbau v. 12.5.1944; Erika Mann: »Offene Antwort an Carl Zuckmayer«. In: Aufbau v. 12.5.1944. Die Kontroverse ist auch abgedruckt in: Ernst Loewy (Hg.): Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945. Stuttgart 1979, S. 1160-1166. Vgl. Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 189-197. - 57 Ebd., S. 190. - 5« Ebd., S. 189. - 59 Vgl. u.a. die folgenden Artikel: Erika Mann: »Our newest Problem - German Civilians«. In: Liberty v. 3.2.1945; dies.: »Thy who live by the sword...«. In: Liberty v. 27.10.1945; dies.: »Tragedy's Children« (Über Slava Lederer, den Mann, der die Kinder von Lidice suchte). In: Liberty v. 22.12.1945. - 60 Von den Nürnberger Prozessen hat Erika Mann fast täglich Berichte für den in London erscheinenden Evening Standard gekabelt. Vgl.: Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 206 ff. - 61 Ebd., S. 215. - 62 Vgl. das in Anm. 29 erwähnte Buchprojekt mit Klaus Mann. Im übrigen bestand zwischen beiden ganz offenbar auch noch der Plan eines weiteren Buches, das sich mit den Perspektiven Deutschlands und Europas beschäftigen und den Titel »Sphynx without a secret« tragen sollte. Vgl. Michel Grünewald: Klaus Mann. Eine Bibliographie, (wie Anm. 29), Nr. 920. - 63 Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 244. Schon ein Jahr zuvor, aus Anlaß einer Reise nach Polen und aufgrund eines entsprechenden Berichts, der sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache erschienen war (»Können die Polen ihren deutschen Landzuwachs verdauen?« In: Sie und Er v. 10.10.1947; »The polish dream«. In: Collier's v. 27.12.1947), hatte Erika Mann wieder einmal heftige Kritik ausgelöst, die für die unmittelbar folgende Behauptung, sie sei eine kommunistische Agentin, nicht unerheblich sein sollte. Vgl. auch den Bericht der Kölnischen Rundschau v. 23.2.1948 sowie Erika Manns >Dank< v. 27.6.1948 in der gleichen Zeitung. - 64 Von der Denunziation waren Erika und Klaus Mann gemeinsam betroffen. Sie ging u.a. von heftigen Angriffen des Journalisten Harry

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Schulze-Wilde in der Münchener Zeitschrift Echo der Woche aus. Die Angegriffenen verteidigten sich mit einem Artikel: »Beispiel einer Verleumdung«. In: Aufbau v. 11.3.1949. Vgl. Erika Mann: Briefe und Antworten. Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 253 ff. - 65 Ebd., S. 275-281. - 66 Zu Erika Manns Arbeit nach der Rückkehr vgl. meinen Aufsatz: »>Wegstreben vom Einst?< Überlegungen zu Erika Manns Arbeit nach der Rückkehr aus dem Exil«. In: Exil Nr. 1 (1988), S. 22-38.

Jürgen Schebera

The Lesson of Germany Gerhart Eisler im Exil: Kommunist, Publizist, Galionsfigur der HUAC-Hexenjäger

Als das reaktivierte Dies-Committee des Repräsentantenhauses der USA, nunmehr unter der Bezeichnung HUAC (House Committee on unAmerican Activities), synchron zur scharfen Rechtswende der Politik von Präsident Truman 1946 seine Hexenjagden intensivierte, brauchte es zunächst eine weithin sichtbare Galionsfigur für die angestrebte antikommunistische Massenhysterie im Lande. Ausgewählt für diese Rolle wurde der deutsche Kommunist Gerhart Eisler, dessen Biographie die nötige Munition bereitzuhalten schien. Daß hierbei mit Ruth Fischer seine eigene Schwester schwerste Kanonen der Anklage auffuhr, konnte den Regisseuren nur recht sein. Knapp drei Jahre, vom Oktober 1946 bis zum Mai 1949, sorgte der »Fall Eisler« für die nötigen Schlagzeilen, begleitet auch von zahlreichen demokratischen Aktionen für Gerhart Eisler. Längst hat sich mittlerweile der Nebel von Anschuldigungen und Sensation gelichtet, sichtbar wird darunter eine der bleibenden Leistungen antifaschistischer politischer Publizistik der deutschen Emigration. Wie Alexander Abusch, Bruno Frei und Albert Norden gehörte Gerhart Eisler zu den führenden kommunistischen Journalisten des Exils. Die journalistische Laufbahn hatte er schon früh eingeschlagen. Am 20. Februar 1897 als zweites Kind des Philosophen Rudolf Eisler in Leipzig geboren, wurde Gerhart wie seine um zwei Jahre ältere Schwester Elfriede (sie nannte sich später Ruth Fischer) nach dem Ersten Weltkrieg Journalist und Berufspolitiker; das jüngste der drei Eisler-Kinder, der 1898 geborene Hanns, schlug die Komponistenlaufbahn ein. Gerhart Eislers Gesellenstück als politischer Journalist (nach Lehrjahren bei Wiener Schülerzeitschriften) war ab Februar 1920 die Redaktion der neugegründeten theoretischen Wochenzeitschrift der Kommunistischen Partei Deutsch-Österreichs Kommunismus. Bis zum Juni 1921 - als Eisler nach Berlin übersiedelte - hatte er in Wien fast 2 700 Seiten dieser Zeitschrift verantwortlich herausgegeben, mit Beiträgen unter anderen von Georg Lukäcs, Eugen Varga und Willi Münzenberg. Zahlreiche gezeichnete wie ungezeichnete Artikel des Redakteurs Eisler belegen seine schon damals unverwechselbare Diktion: wissenschaftlich fundiert, zupackend polemisch und stilistisch äußerst geschliffen.1 Es folgte bis 1923 Pressearbeit in Berlin: Eisler arbeitete als Redakteur beim KPD-Zentralorgan Die Rote Fahne und gab ab 1922 den KPD-Pressedienst

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heraus. Seine Schwester gehörte zu dieser Zeit der engeren Leitung der KPD an, wo sie eine ultralinke Fraktionsarbeit betrieb. Als sich Gerhart Eisler von ihren Praktiken distanzierte 2 , ließ sie ihn ihre Macht spüren: Im Herbst 1923 wurde Gerhart wegen »Fraktionsschwierigkeiten« von seinen Redakteursposten entbunden. Für längere Zeit leistete er nun praktische Parteiarbeit in den Bezirken Mitteldeutschland und Berlin-Brandenburg. Nach Ruth Fischers Parteiausschluß 1926 wurde Gerhart Eisler im März 1927 zum Kandidaten des Thälmannschen Zentralkomitees, im Juni 1928 zum Mitglied des Politbüros gewählt, dem er allerdings nur kurze Zeit angehörte. Im Zusammenhang mit einem Korruptionsfall im Hamburger Parteiapparat, der zur sogenannten Wittorf-Affäre hochgespielt wurde 3 , stellte sich Eisler auf die Seite der »Versöhnler« im ZK, die die Vorfälle zum Anlaß nahmen, den Parteivorsitzenden Thälmann zu diskreditieren. Der Versuch scheiterte, mit anderen Genossen schied auch Gerhart Eisler im Oktober 1928 aus der Führung der KPD aus.4 Sein neuer Auftrag lautete, sich dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) zur Verfügung zu stellen. Im November 1928 traf Eisler in Moskau ein, Anfang 1929 ging er im Auftrag der Komintern nach Schanghai, um die Arbeit der illegalen Kommunistischen Partei Chinas zu unterstützen. Es war Herbst 1931, als er nach Moskau zurückkehrte und nun Mitarbeiter im anglo-amerikanischen Sekretariat der Komintern wurde. Hier fand im November 1932 eine Beratung mit einer Delegation der KP der USA statt, die die zukünftige Politik der Partei nach der gerade erfolgten Wahl von Präsident Roosevelt zum Gegenstand hatte. Besprochen wurden sowohl die nötige Stärkung ihres Masseneinflusses als auch die Beendigung innerparteilicher Fraktionskämpfe. Im Ergebnis der Beratung wurde ein Offener Brief des EKKI an die Mitglieder der KP der USA verabschiedet und es wurde festgelegt, daß Gerhart Eisler als Abgesandter der Komintern in die USA fahren und die Arbeit der Partei unterstützen sollte. Dieser Auftrag wurde auch nach dem 30. Januar 1933, als Eisler darum bat, in die antifaschistische Arbeit der KPD zurückkehren zu dürfen, nicht verändert; da man ihn in den USA brauchte, reiste Eisler im März 1933 nach New York. Wie in China, so war er auch jetzt gezwungen, seine Identität zu verbergen. Die strengen Vorschriften der US-Einwanderungsgesetzgebung untersagten jedem Ausländer, Kontakte zu den amerikanischen Kommunisten zu unterhalten. Eisler arbeitete bis 1936 unter dem Decknamen Edwards und nahm auch als Mitglied der amerikanischen Delegation am VII. Weltkongreß der Komintern 1935 in Moskau teil. Erneut trug er dort dem EKKI seinen Wunsch vor, wieder in Europa arbeiten zu dürfen. Im Frühsommer 1936 war es dann endlich soweit: »Im Mai 1936 fuhr ich wieder nach Moskau und erstattete Genossen Dimitroff Bericht, der mir den Beschluß meiner Rückkehr zur Arbeit in der deutschen Partei mitteilte (...), und es wurde beschlossen, daß ich gemeinsam mit Pieck nach Prag fahren sollte.«5 In Prag übernahm Eisler ab Juni 1936 die Chefredaktion des nunmehr im Exil erscheinenden theoretischen Organs der KPD Die Internationale. Aber schon

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Ende Oktober 1936 stellte ihm die operative Leitung der KPD in Paris eine neue Aufgabe: Die spanische Volksfrontregierung hatte in der Nähe von Madrid einen starken Kurzwellensender für antifaschistische deutsche Rundfunkprogramme zur Verfügung gestellt. Dieser Deutsche Freiheitssender auf Welle 29,8 sollte sein Programm am 10. Januar 1937 beginnen. Gerhart Eisler wurde sein Chefredakteur. 6 Seine ersten Mitarbeiter waren Erich Glückauf und ab Januar 1937 Kurt Hager. Franz Dahlem, der die Arbeit koordinierte, berichtet darüber: »Ich erinnere mich noch lebhaft des Tages, als Gerhart Eisler im >Deutschen Büro< das von ihm fertiggestellte Manuskript für die erste Sendung per Telefon an den Sprecher im Senderaum in Madrid durchgab. Wir waren glücklich und stolz, als wir am 10. Januar 1937 zum ersten Mal im Radio den Ruf vernahmen: >Achtung! Achtung! Hier spricht der Deutsche Freiheitssender im 29,8-Meter-Band!< Nach einer Stunde Durchgabe von Informationen und scharfer Auseinandersetzung mit dem Hitlerregime schloß der Sprecher mit den Worten: >Wir kommen morgen abend zur selben Zeit wieder — trotz GestapoN« 7 Der Sender arbeitete bis März 1939, Eisler aber erlebte auch hier nur die beiden ersten Monate mit, dann rief ihn Walter Ulbricht, der seit Februar 1937 in Paris das Sekretariat des ZK der KPD leitete, erneut in die französische Hauptstadt zurück. Die dort erscheinenden kommunistischen Periodika zu immer wirkungsvolleren Vermittlern der vom VII. Weltkongreß der Komintern beschlossenen antifaschistischen Volksfrontpolitik zu machen, lautete jetzt die Aufgabe, an der in Paris neben Eisler (der wieder die Chefredaktion der Internationale übernahm) vor allem Alexander Abusch (Chefredakteur der Roten Fahne), Albert Norden (Korrespondent der Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung sowie der Inprekorr) und Lex Ende (Chefredakteur der Deutschen Volkszeitung) mitarbeiteten. Die Deutsche Volkszeitung - die Nachfolgerin des von 1933 bis 1936 in Prag und Paris von Bruno Frei redigierten Gegen-Angriff — erreichte dabei die größte Verbreitung. Sie erschien ab Mitte 1936 in einer wöchentlichen Auflage von ca. 45 000 Exemplaren und wurde in fast allen europäischen Ländern sowie den USA vertrieben. 8 Gemeinsam mit Lex Ende zeichneten Paul Merker und Gerhart Eisler für den Inhalt verantwortlich. 1938/39 erschienen hier - neben Artikeln von Franz Dahlem, Wilhelm Koenen, Albert Schreiner und Walter Ulbricht - zahlreiche Beiträge aus Eislers Feder. Regelmäßige Autoren der DVZ waren auch Heinrich Mann, Rudolf Leonhard, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Erich Weinert. Zum dreijährigen Bestehen der Wochenzeitung schrieb Romain Rolland: »Wir sind stolz darauf, die edelsten Geister Deutschlands zu beherbergen, und grüßen mit Achtung die tapfere Zeitung der deutschen Emigration in Paris, die Deutsche Volkszeitung, in der ihre Stimme ertönt.« 9 Vom 30. Januar bis 1. Februar 1939 fand in Draveil bei Paris die »Berner Konferenz« der KPD statt. Wilhelm Pieck hielt das Hauptreferat, Gerhart Eisler, der aktiv an der Konferenzvorbereitung beteiligt gewesen war, sprach ergänzend über die Innen- und Außenpolitik des Naziregimes. Seine

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Feststellung, daß »Hitler dem Krieg zutreibt, aus den Lebensbedürfnissen des deutschen Imperialismus heraus«10, charakterisierte die historische Situation exakt. Nur wenige Monate danach begann der Zweite Weltkrieg. Die letzte Ausgabe der DVZ erschien Ende August 1939, kurz darauf folgte in Paris die Verhaftung tausender deutscher Emigranten. Gcrhart Eisler wurde in seinem Hotel festgenommen. Man brachte ihn zunächst in das Gefängnis Sant6 und kurz darauf in das zum Lager umfunktionierte Stadion »Roland Garros«, wo bereits zahlreiche Kommunisten, unter anderen Dahlem und Merker, festgehalten wurden. Am 12. Oktober 1939 brachte man die Häftlinge in Güterwagen nach Südfrankreich, es begann ihre Leidenszeit in dem berüchtigten Internierungslager Vernet. 11 Mehr als 16 Monate mußte Eisler dort zubringen. Inzwischen hatte die mexikanische Regierung Einreisemöglichkeiten für deutsche Spanienkämpfer und Antifaschisten geschaffen. Auch eine Gruppe kommunistischer Häftlinge in Vernet erhielt mexikanische Visa, darunter Gerhart Eisler. Im April 1941 erfolgte endlich die Verlegung zunächst in das Lager Les Milles nahe Marseille. Dort mußte wieder gewartet werden, bis alle Formalitäten erledigt waren. Am 16. Mai 1941 gingen gemeinsam mit Gerhart Eisler und Hilde Rothstein auch Albert Norden, Adolf Deter, Bruno Frei und Hans Marchwitza mit ihren Familien an Bord des Dampfers »Winnipeg«. Auf der Höhe von Trinidad war die Reise jedoch zunächst zu Ende: ein in britischem Dienst stehendes holländisches Kriegsschiff brachte den Dampfer auf, alle Passagiere kamen erneut in ein Lager, diesmal auf Trinidad. Endlich, als feststand, daß es sich bei den Deutschen tatsächlich um Antifaschisten handelte, durfte die Gruppe mit einem nach New York gehenden Schiff Weiterreisen. Im Juli 1941 dort angekommen, wurden die Emigranten zunächst drei Monate von der Einwanderungsbehörde auf Ellis Island festgehalten, da eine Anordnung der Roosevelt-Administration allen Deutschen und Österreichern die Weiterreise nach Lateinamerika untersagte. Ende September 1941 erhielten sie - gegen ihre ursprünglichen Pläne - Immigrant Visa für die USA und ließen sich in New York nieder. Gerhart Eisler arbeitete die nächsten Jahre ausschließlich als Publizist. Er verfaßte Beiträge für die Presseorgane der KP der USA (Daily Worker, The Communist), teils ungezeichnet, teils in Zusammenarbeit mit dem außenpolitischen Redakteur des Daily Worker, Joseph Starobin, unter dem journalistischen Pseudonym Hans Berger. Wichtigste Station seiner Tätigkeit aber wurde die 1942 gegründete antifaschistische Zeitung Tlie German American, eine Volksfrontzeitung, an der von Anfang an Kommunisten wie Eisler, Norden, Albert Schreiner, Karl Obermann, F.C. Weiskopf und Alfred Kantorowicz regelmäßig mitarbeiteten. The German American wandte sich an die Deutschamerikaner in den USA ebenso wie an die Emigranten, ab 1944 wurden auch die deutschen Kriegsgefangenen in den POW-Camps auf amerikanischem Boden zur wichtigen Zielgruppe. Die Zeitung trat als einziges Exilorgan in den USA konsequent für die Sammlung aller Hitler-Gegner ein, damit wurde sie

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folgerichtig auch zur publizistischen Plattform des 1944 ins Leben gerufenen »Council for a Democratic Germany«. Beiträge von Paul Tillich und anderen Council-Mitgliedern fanden ebenso Aufnahme im German American wie Berichte über die öffentlichen Aktivitäten der Organisation.12 Neben Eisler, Norden und Obermann waren Dr. Felix Boenheim, Max Schroeder und Ernst Krüger als Mitarbeiter der Redaktion tätig. »Eigentlicher Leiter« aber - so Norden später13 - war Gerhart Eisler. Im Zentrum seiner eigenen Artikel stand die Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte. Neben der ständigen Rubrik »Randbemerkungen« und ungezeichneten Leserbriefen zum aktuellen Geschehen schrieb Eisler viele größere Beiträge, in denen er entweder in geschliffener Polemik (z.B. Nazis - nicht Amerikaner brechen Verträge, 6/1942-43) oder mittels sachlicher Analyse (z.B. Was soll aus Deutschland werden?, 2/1942-43) sein Thema behandelte. Mehrfach wandte er sich an die Deutschamerikaner (z.B. Eager to fight - The splendid record of our German American soldiers, 2/1942-43). Nach der bedingungslosen Kapitulation Hitlerdeutschlands erschienen zwei bilanzierende Artikel Eislers, Die letzten Stunden des Hitlerreiches und 8. Mai - Ein Wendepunkt der Weltgeschichte. Was Gerhart Eisler in der dreijährigen Arbeit für den German American bereits vorbereitet hatte, das nahm er nun im Frühjahr und Sommer 1945 gemeinsam mit seinen Freunden Albert Norden und Albert Schreiner in Angriff: angesichts der endlichen Niederlage der Faschisten eine Analyse der deutschen Entwicklung vorzulegen, das heißt Antworten auf die Frage nach den Ursachen der tiefsten Erniedrigung des eigenen Volkes zu suchen. So entstand das Buch The Lesson of Germany. A Guide to her History, das im Herbst 1945 im Verlag der KP der USA International Publishers New York erschien. Die fast zur gleichen Zeit entstandenen Bücher der in Mexiko lebenden Kommunisten Paul Merker {Deutschland - Sein oder Nicht Sein? 2 Bde., 1944/45) und Alexander Abusch (Der Irrweg einer Nation, 1945) waren im Verlag El Libro Libre in deutscher Sprache erschienen14 und beförderten damit vor allem die Diskussion im Kreis der Emigranten. Im Gegensatz dazu war Eisler/Norden/Schreiners Arbeit vorrangig für den amerikanischen Leser bestimmt. In knapper, beinahe abrißartiger Form skizzieren die Autoren auf wenig mehr als 200 Seiten ihre materialistische Analyse deutscher Geschichte. Das Vorwort trägt das Datum des 25. Juli 1945. Weniger als drei Monate nach der Befreiung ihres Volkes vom Faschismus umreißen die Autoren die Zielsetzung ihres Buches: es geht ihnen nicht darum, »einen Entwurf für die Zukunft vorzulegen«, Absicht ist vielmehr »der angemessene Versuch einer Interpretation deutscher Geschichte, der den Leser in die Lage versetzen soll, die künftige Entwicklung des deutschen Volkes im Lichte seiner Vergangenheit besser zu beobachten und zu verstehen.«15 Die Gründe für die Notwendigkeit eines solchen Buches hat Wolfgang Kießling anhand der Entstehung von Abuschs Werk beschrieben - sie gelten gleichermaßen auch für Eisler/Norden/Schreiner: »Verwirrende Vorstel-

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lungen kursierten auf dem amerikanischen Kontinent über Deutschland und die Deutschen. Sie wurden genährt aus Büchern, die angeblich die historischen Wurzeln des Nazismus enthüllen wollten. Aber nicht historischer Sinn, sondern politischer Unsinn hatte vielen Autoren die Feder geführt. (...) Alle Theorien über das Woher des Faschismus und das Wohin nach dem Faschismus wurden gefördert - nur die eine nicht, die das Naziregime aus dem deutschen Imperialismus erklärte. (...) Den Gipfel der Entstellungen bildete die Theorie von der >Erbsünde< des deutschen Volkes, vom Faschismus als charakterlicher Veranlagung der Deutschen.«16 Ziemliche Beachtung in der amerikanischen Öffentlichkeit hatte das 1943 erschienene Buch von Friedrich Stampfer und Siegfried Marek Germany, to be ornot to be gefunden, in dem die beiden prominenten Vertreter der extrem rechtssozialdemokratischen Emigration um die New Yorker Neue VolksZeitung (Stampfer war ihr Chefredakteur)17 den Kommunisten die alleinige Schuld am Ausbruch der faschistischen Diktatur in Deutschland zuwiesen. Nicht zuletzt auch gegen solche denunziatorischen Positionen wandten sich nun Eisler, Norden und Schreiner. Gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial (für das der Historiker Albert Schreiner verantwortlich zeichnete), das dem Buch einen betont dokumentarischen Charakter gibt, werden auf den ersten 60 Seiten in knapper Form wichtige Stationen deutscher Geschichte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert dargestellt (Kapitel I: The German Reformation, II: The Prussian State, III: The Revolution of 1848, IV: The Rise of Modern Germany, V: Imperial Germany on the March). Für das ausgehende 19. Jahrhundert, »der ersten Periode der stürmischen Entwicklung des deutschen Imperialismus«, markiert der 1891 gegründete Alldeutsche Verband für die Autoren den »eigentlichen >brain trust< des deutschen Imperialismus, der die führenden Industriellen und Junker vereint, großen Einfluß auf die konservativen und nationalliberalen Parteien ausübt und dessen Doktrinen später in Adolf Hitler einen bereitwilligen Zuhörer finden.«18 Nach der Darstellung des Ersten Weltkrieges folgt auf 50 Seiten ein ebenso knapper wie treffender Abriß zur Geschichte der Weimarer Republik (VII: Defeat and Revolution, VIII: Counter-Revolution, IX: On the Road to Fascism, X: The Foreign Policy of the Weimar Republic). Deutlich wird das Grundübel dieser Republik benannt, die bereits bei ihrer Entstehung die Wurzeln für spätere faschistische Entwicklung in sich trug: »Die Allianz Ebert - Hindenburg verkörperte eine Verschwörung gegen die demokratische Revolution; sie zielte auf Beibehaltung des kaiserlichen Offizierskorps als Rückgrat der neuen Armee; auf Beibehaltung des alten bürokratischen Staatsapparats; auf Rettung des bedrohten Grundbesitzes der Junker sowie der Fabriken der alldeutschen Industriellen. Diese Verschwörung war Ursache und auslösendes Moment für die bitteren Kämpfe, die Deutschland im folgenden erschüttern sollten.«19 Wenig später heißt es zusammenfassend: »Die alten militärischen Kräfte der Monarchie wurden restauriert; die alten ökonomischen Beziehungen blieben unangetastet; so konnte es nicht

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ausbleiben, daß die politische Reaktion fruchtbaren Boden vorfand, auf dem sie gedeihen konnte.«20 In den Kapiteln XI und XII (Hitler Becomes Chancellor / The Nazis Set Up Their Dictatorship) wird danach dargestellt, daß der 30. Januar 1933 weder ein Gipfelpunkt des deutschen Nationalcharakters noch ein »Betriebsunfall« war, sondern Hitler von den reaktionären Kreisen der deutschen Großbourgeoisie planmäßig und ganz bewußt an die Macht gebracht wurde: »Die schreckliche Tragödie Deutschlands - die später zur entsetzlichen weltweiten Tragödie werden sollte - vollzog sich strikt innerhalb der Grenzen der Weimarer Verfassung. Die bürgerliche Weimarer Republik brachte das Nazi-Monster hervor.«21 Von zentraler Bedeutung für die Position der Autoren im Jahre 1945 ist das Kapitel XIII (Surrender to National Socialism), in dem die entscheidenden Jahre 1930 bis 1932 behandelt werden. »Die Mehrheit des deutschen Volkes war gegen die Nazis«, heißt es bei Eisler/Norden/Schreiner, »doch im gleichen Atemzug muß man hinzufügen, daß sich diese Mehrheit ohne einen tatsächlichen Kampf dem Nationalsozialismus ergeben hat. Weder die Arbeiter als Klasse, noch die Demokraten, die Katholiken oder die liberalen Intellektuellen - die alle im Nazismus ihren Feind sahen - erwiesen sich in diesen schicksalhaften Jahren als genügend gerüstet, um einen erfolgreichen Kampf gegen den Nazismus zu führen. (...) Die Tatsache, daß Millionen von Deutschen, Sozialdemokraten ebenso wie Kommunisten, Demokraten wie Katholiken die Notwendigkeit eines solchen Kampfes durchaus sahen, macht die Situation noch tragischer.«22 Danach kommen die Autoren auf die entscheidende Frage zu sprechen, die auch während der Jahre des Exils immer wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen zwischen den emigrierten Leitungen von SPD und KPD gewesen war: die Frage der seinerzeit nicht zustande gekommenen Einheitsfront der beiden Arbeiterparteien. »Nur die Arbeiter hätten zum Zentrum echten Widerstands gegen die beabsichtigte Diktatur werden können. (...) Dies aber hätte zunächst Aktionseinheit erfordert, und eine solche Einheit kam nicht zustande. Die Führer der Sozialdemokraten und der Kommunisten hatten diametral entgegengesetzte Auffassungen vom Kampf gegen den Nazismus; obwohl der Henker für beide vor der Tür stand, waren sie nicht in der Lage, sich auf eine gemeinsame Basis für den Kampf zu einigen.«23 Während Stampfer, Seger und Marek noch 1945 auf der unversöhnlichen Doktrin einer »fehlerfreien« SPD-Politik beharrten und die alleinige Schuld bei der KPD sahen, schätzen Eisler, Norden und Schreiner im historischen Rückblick die Situation wesentlich differenzierter ein (auch kritischer übrigens als Abusch). Sie räumen — bei aller berechtigten Kritik am Verhalten der rechten SPD-Führer - auch Fehler der eigenen Partei ein: »Anstatt des Versuchs, die ganze breite Anti-Nazibewegung, vor allem die Arbeiter, für die Verteidigung der Republik und gegen die drohende Diktatur zu vereinigen, hielten die deutschen Kommunisten an ihrer Losung vom sozialistischen Deutschland fest und machten es damit den Führern der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften um so leichter, jede Zusammen-

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arbeit mit ihnen abzulehnen. Die Sozialdemokraten benutzten dazu in demagogischer Weise den Vorwand, daß die Kommunisten ein SowjetDeutschland anstrebten, während sie für die Weimarer Republik einstünden. Während der ersten Jahre der Krise ließen es die Kommunisten zu, daß ihre verständliche Verbitterung über die Politik der Sozialdemokraten ihre Taktik bestimmte. Sie bestanden darauf, an die sozialdemokratischen Arbeiter über die Köpfe ihrer Führer hinweg zu appellieren, anstatt gleichzeitig immer wieder zu versuchen, mit diesen Führern - oder wenigstens mit den fortschrittlicheren unter ihnen - zu einer Übereinkunft zu gelangen, um eine gemeinsame Front des Widerstands gegen die Nazis zu errichtcn. Die sozialdemokratischen Führer nutzten diesen Fehler aus: sie widersetzten sich einer Einheitsfront unter dem Vorwand, daß die Kommunisten dabei lediglich versuchen würden, die SPD zu vernichten. Sektiererische Haltungen innerhalb der KPD erleichterten es ihnen, derartige Argumente zu benutzen.«24 Das waren klare Worte, auch und gerade im Hinblick auf das nun - 1945 - um so notwendigere Ende der Attacken zwischen den beiden deutschen Arbeiterparteien. Sie fanden freilich keinerlei Echo im antikommunistisch versteinerten Kreis um die NVZ in New York. Auch in der bald darauf in Deutschland einsetzenden erneuten Konfrontation zwischen der von Kurt Schumacher geführten SPD in den Westzonen und der SED in der Sowjetischen Besatzungszone waren solche schmerzlichen historischen Einsichten wenig gefragt — in Berlin wurde zwar Abuschs Buch in mehreren Auflagen nachgedruckt, doch Eisler/Norden/Schreiners Arbeit erlebte keine deutsche Ausgabe. Vier große Kapitel stellen im Buch den Weg Hitlerdcutschlands in den Weltkrieg sowie die Verbrechen des Völkermords dar (XIV: Hitler Consolidates His Dictatorship, XV: Prelude to World War II, XVI: Hitlers Program of World Conquest, XVII: Nazi Barbarism). Besonders heben die Autoren die Rolle der deutschen Großindustrie bei der Kricgsvorbcrcitung hervor. Angesichts der endgültigen Niederschlagung des Faschismus wird nun die Frage gestellt, wer die Schuld an all diesen noch nie dagewesenen Verbrechen trage. Die Antwort der Autoren ist eindeutig: »Es sind nicht nur die bestialischen Täter, die den Massenmord vollzogen; nicht nur ihre unmittelbaren Vorgesetzten; auch all jene, die an Mord, Raub und der Versklavung anderer Völker ihren Profit erzielten, sind in gleichem Maße schuldig. Sie alle müssen vor die Schranken der Gerichte gebracht werden.«25 Im vorletzten Kapitel (The Underground) geben die Autoren einen Überblick über den deutschen Widerstandskampf gegen das Hitlerregime in seiner ganzen Spannweite, von den Kommunisten und Sozialdemokraten über die Kirchen bis hin zur Offiziersbewegung des 20. Juli 1944. Dennoch, so Eisler/Norden/Schreiner: »Von einem tatsächlich wirksamen deutschen Widerstand gegen den Nazismus kann insbesondere während der Jahre des Krieges bis 1945 nicht gesprochen werden.« Nachdem der bewaffnete Volkskampf gegen die Nazis in vielen Ländern Europas dargestellt wurde, heißt es weiter: »So stellt sich das Schicksal des deutschen Widerstands als

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eine weitere tragische Bestätigung der Tatsache dar, daß die deutschen Menschen in ihrer Überzahl vor dem Nationalsozialismus kapitulierten. Die Existenz dieses Widerstands kann die deutsche Nation nicht von ihrer Schuld befreien.« 26 Das letzte Kapitel untersucht schließlich, wie es in Deutschland weitergehen kann und muß. Klar ist für die Autoren, daß nur der radikale Bruch mit der reaktionären Vergangenheit künftige Wiedergeburt ermöglichen wird: »Ist ein Deutschland ohne Reaktionäre und ohne Imperialisten möglich, oder ist dies lediglich ein utopischer Traum, der niemals Realität werden kann?« Auf diese Frage - so Eisler/Norden/Schreiner - hält die im Buch behandelte deutsche Geschichte zwei Schlüsselantworten bereit: »1. Die sozialen Stützpfeiler von Militarismus, Imperialismus und Nazismus sind unverbesserlich. Deutsche Monopolkapitalisten und Junker kann man nicht >umerziehenreprisals< have given Pachner personal as well as patriotic reasons for painting con fuoco, the current Marching Song illustrations (...). He left Europe in 1939 for this country, having promised himself a job on Esquire. On his arrival in New York he learned of the German occupation of Czechoslovakia.«6 Außerdem verwies die Redaktion bei Erscheinen der Serie nochmals auf Pachners Herkunft und seine politische Überzeugung: »This painting by William Pachner depicts the leadership of the United States not only in the War of Survival, but also in the peace that will follow. Pachner, a

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Czechoslovakian artist now living in this country, has symbolized here his feeling that the United States has defined the meaning of democracy and the ultimate aim of the war, having proved by its own example that people of many races, creeds and nationalities can live together in peace.«7 Jene von dem Exil-Journalisten Will Schaber konzipierte UN-Serie von »Marschliedern der Vereinten Nationen« setzte sich von der übrigen Zeitschrift durch ein markantes, gleichbleibendes Format ab. Die Melodie und den Text (im Original und, wenn fremdsprachig, mit englischer Übersetzung) begleiteten monumentale, seitengroße Bilder von Pachner. Sie zeigten jeweils heroische Gestalten, meist junge Männer in der jeweiligen Landesuniform; den Hintergrund bildeten Wappen, Fahnen und skizzenhaft angedeutete Landschaften, Zeichenstil und Farbe erinnern an Hodler. Die Absicht war offensichtlich: die Heroisierung der Gestalten im Geiste der abgebildeten kämpferischen Lieder. 8 Eingeleitet wurden die Bild- und Liederseiten durch Bemerkungen über die Entstehung von Text und Melodie. Der Verfasser dieser Bcgleittexte war ebenfalls Will Schaber, der in einem Gespräch vom 8. September 1988 die Entstehungsgeschichte und den Zweck der Serie umriß: »Ich arbeitete damals für den Inter Allied Information Service im Rockefeller Center. Wir waren zu der Zeit von einem überaus großen Optimismus beseelt. Nach dem Kriege würde ein weltweites Friedensbündnis zustande kommen, so dachten wir, das alle zukünftigen Kriege vereiteln würde. Aus diesem Geist eines überstaatlichen Patriotismus für die Vereinten Nationen - von einem kalten Krieg schwante mir damals nichts - kam mir der Einfall, ein Buch Fighting Songs of the United Nations zu schreiben. Aber mein Agent, Roger Strauss, meinte, der Plan sei für eine Zeitschriftenfolge viel besser geeignet. Er wandte sich also an Arnold Gingrich, den damaligen Herausgeber von Esquire, der nach der Einsendung einiger Probetexte auf meine Idee sofort einging. Alles lief dann plangemäß: Pachner, den ich nach Namen und Ruf kannte, trug die Illustrationen bei; ich die Lieder und den Begleittext. Nur zweimal ging nicht alles nach Wunsch. Gingrich bestand auf dem etwas abgestandenen Lied >Land of Hope and Glory< als exemplarisch für England. Und meine russischen Kollegen schlugen kein repräsentatives Lied vor. Ihnen sei nicht an Liedern, sondern an einer zweiten Front gelegen.« Der Erfolg der Serie veranlaßte Pachner als verantwortlichen Redakteur für Kunst, eine weitere Bilderfolge »Glories of the United Nations« anzuschließen, wobei jetzt auch die Sowjetunion teilnahm. Auch bei dieser Serie stand Pachner eine ganze Seite der Zeitschrift zur Verfügung. Diesmal griff er Szenen aus dem Alltagsleben der gegen die Nazis kämpfenden Nationen heraus. Die sich immer wiederholende, auf Popularisierung zielende Tendenz der Zeichnungen betonte, wie auch die Frauen vom Krieg betroffen werden, wie viele daran aktiv teilnehmen (die Zeichnung über Rußland beispielsweise stellte eine ehemalige Partisanin dar) und erst im Frieden in ihr gewohntes Leben zurückkehren können. Die Zeichnung einer

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norwegischen Gastwirtstochter ist dafür typisch: Bild und Begleittext bringen zum Ausdruck, daß sie nach dem Krieg nicht mehr die deutschen Besatzungstruppen, sondern wieder ihre Landsleute bedienen wird.9 Damit erschöpfte sich Pachners Tätigkeit während dieses Übergangsstadiums zum politisch-künstlerisch engagierten Zeichner und Maler allerdings nicht. Schon Ende 1940 brachte Esquire, wohl als Zugeständnis an den Ernst der Kriegsjahre, eine Artikelserie über verdiente englische und amerikanische Armeeregimenter. Die eher trockenen Essays von James Warner Bellah und Compton Packenham wurden vom Redakteur für Kunst mit miniaturhaften Gemälden (»Painted for Esquire by William Pachner«) begleitet, die in liebevoller Kleinstarbeit jedes Detail einer Uniform oder den entscheidenen Augenblick einer Schlacht wie eine Momentaufnahme wiedergeben. Die Bilderbogen, die zum Beispiel die Geschichte des englischen Worcestershire Regiments bis hin zur Niederlage von Dünkirchen gestalteten oder die des amerikanischen Neunten Infanterieregiments bis zu den Indianerkriegen zurückverfolgten, jeweils unter dem pathetischen Motto »Men die ... but the regiment lives on«, gehören zu den vollendetsten Illustrationen, die Pachner bis dahin hervorgebracht hatte.10 Außerdem schienen sie, einem Leserbrief zufolge, die von Pachner beabsichtigte inspirierende Wirkung nicht verfehlt zu haben: »I think you should know about the excellent comments that are being made about the drawings of your William Pachner. My friends say that his military sketches would seil the magazine (...) It was amazing to see the interest shown in Mr. Pachner's modern work. It sure takes hold.«11 Auch sonst wird Pachners Absicht deutlich, in seiner Themen- und Beiträgerwahl einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Die wenigen Erzählungen, die den Faschismus oder den Zweiten Weltkrieg thematisierten und auch von einem Exilanten stammten, behielt er sich selbst zur Illustration vor. Typisch sind etwa Konrad Bercovicis Erzählung Pledge of the Dibras, die den Aufstand einer albanischen Familiengemeinschaft gegen die italienische Besatzung beschreibt, oder Ralph K. Giffens Geschichte These Four Virtues, ein Loblied auf die Waffenbrüderschaft zwischen vier Armeeoffizieren aus England, Rußland, China und Amerika, die erst im Zusammenwirken ihrer nationalen Eigenschaften einen japanischen Überfall verhindern können.12 Was aber Pachner als Redakteur für Kunst bei einer politisch recht seichten und unbedarften Zeitschrift als großes Verdienst angerechnet werden muß, ist seine Entdeckung des außerordentlichen Talents von Arthur Szyk für Esquire.13 Seit 1942 bot ihm Pachner jeweils eine ganze Seite für seine messerscharfen, trotz ihres beträchtlichen Formats miniaturhaften Farbkarikaturen, die die Nazigrößen demaskierten und ihre Brutalitäten surrealistisch gestalteten, ja, sie für alle Zeiten als Symbol des Bösen schlechthin erscheinen ließen.14 Pachners eigene Malkunst kam dann ab 1942 während seiner freien Mitarbeit bei den Zeitschriften Colliefs und Cosmopolitan immer mehr zur Geltung. Sie entsprach in jeder Weise den politischen Absichten jener

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Magazine, die sich, wie die anderen damaligen amerikanischen Massenmedien auch, voll auf die Antinazi-Propaganda eingestimmt hatten. Collier's stellte den neugewonnenen Mitarbeiter sogar explizit als Nazigegner vor.15 Pachners neue Aufgaben wurden von vier Motiven bestimmt, die simultan zu erkennen und in allen Bildern jener Jahre auszumachen sind. Das erste Motiv kann als eine Werbung Pachners für den Kriegsdienst gewertet werden, der ihm selbst versagt blieb. Soldaten und Matrosen werden in Urlaubssituationen oder in vielversprechenden tete-a-tetes mit idealisierten weiblichen Schönheiten gezeigt. Illustrationen zu den Erzählungen I Love My Draftboard und On the Double sind dafür typisch.16 Der Modezeichner Pachner, der schon als jugendlicher Kunstgewerbeschüler mehrere Preise für Modeentwürfe gewonnen hatte, wandte hier zum letzten Mal diese Kunstfertigkeit an und zeigte Soldaten in tadelloser Uniform und ihre Partnerinnen in high fashion.17 Davon ist bei seinen weiteren Illustrationen und Zeichnungen jedoch nichts mehr zu erkennen, vielmehr treten ernstere und satirisch pointierte Beiträge immer mehr in den Vordergrund. Sie dokumentieren vor allem Pachners Kenntnis von Bombast und der Hybris der Nazis. Seine Illustrationen strotzen von selbstgefälligen oder überheblichen deutschen Offizieren, zum Beispiel zu dem Tatsachenbericht Some Got Away von Lt. Per Fjell, einem Report über den Massenausbruch amerikanischer Kriegsgefangener, oder bei der Karikatur der hochnäsigen Fratze Heinrich Himmlers.18 Ergänzend zu solchen »Herrenmenschen«-Physiognomien bringt Pachner - dies ein weiterer Aspekt seines antifaschistischen Engagements - eine ganze Serie von deren wahrem Gesicht: dem brutalen Vorgehen von SSMännern oder deutschen Truppen. Für diese Zeichnungen ließ sich Pachner immer wieder von Erzählungen der Mitemigranten oder ihnen nahestehender Schriftsteller inspirieren. Die neuen Themen führten zu einer bemerkenswerten Entwicklung, ja zu einer neuen Phase seines künstlerischen Schaffens. In den ersten Kriegsjahren bis einschließlich Frühjahr 1944 sind seine Illustrationen durchaus realistisch. Noch im März 1944 trug Pachner beispielsweise zu Artikeln von Martha Gellhorn, die während des spanischen Bürgerkrieges als amerikanische Korrespondentin mit mehreren deutschsprachigen Exilanten eine Art Waffenbrüderschaft geschlossen hatte", Bilderfolgen bei, die die Mißhandlung von Zivilisten, insbesondere von Frauen, plastisch dokumentieren. Ebenfalls in einem Bild aus dem Frühjahr 1944, das die brutale Eroberung eines griechischen Dorfes darstellt und die Erzählung A Man of Twelve von W.G. Hardy begleitet, wird jener Vorfall mit größter Detailtreue dargestellt.20 Kurz darauf ändert sich der Stil aber; jetzt werden Brutalität und Schrecken mehr apokalyptisch-symbolhaft abstrahiert und verallgemeinernd in einer Weise dargestellt, die an den frühen Expressionismus erinnert. Zu Konrad Warners und Ernst Zauggs Tatsachenbericht Twilight in Gennany vom September 1944 steuert Pachner ein collagenhaftes Bild bei. Im Vordergrund bilden drei gesichtslose SS-Männer, zu ihren Füßen eine Blutlache, ein

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Exekutionskommando, vexierbildhafte Opfer umgeben sie. Im Hintergrund deutet eine endlose Gruppe sich schleppender Menschen den Weg ins KZ oder zur Zwangsarbeit an. Alles überschattet aber eine Todesgestalt im weißen Leichentuch, die symbolisch die Verbindung von Bericht und Bild markiert. 21 Ganz ähnlich verfährt Pachner im März 1945 bei seiner Illustration zu Berlin, City of Fear, einer Reportage über die Reichshauptstadt Berlin einige Monate vor dem Einzug russischer Truppen. 22 Er wählt dazu eine Szene vor dem Hintergrund des tagenden Volksgerichtshofs. Während die Bildbeschriftung vom Erhängen oder Erschießen der Verurteilten berichtet, zeigt das Bild selber, wie das weißgekleidete Opfer von schwarzuniformierten SSMännern zu Tode geprügelt wird. Der Richter, im schwarzen Talar, schaut schmunzelnd zu. Auch hier ist es eine Symbolfigur, die die Darstellung dominiert. An der Wand des Gerichtssaals hängt ein überlebensgroßes, verzerrtes Hitlerporträt. Der >Führer< wird hier zu einer Vampirgestalt, die aus dem Rahmen zu springen droht. Über seinen Schultern schweben an Hieronymus Bosch erinnernde Ungeheuer, mit denen Berlins apokalyptisches Ende vorausgesagt wird.23 Das von Pachner am häufigsten behandelte Sujet war jedoch die Darstellung, besser gesagt, die Heroisierung des Widerstands gegen Hitler. Auch hier begann er mit realistischen Zeichnungen und fand dann etwa im Sommer 1944 einen anderen künstlerischen Stil, um jener Heroisierung adäquaten Ausdruck zu verleihen. Bei der Illustration zu The Winners, einem Artikel von Ira Wolfert über die französische Untergrundbewegung (1943), wird beispielsweise ein deutscher Soldat mit plastischer Wirklichkeitstreue von einem Sprengkörper in die Luft gejagt. Ähnlich illustriert Pachner auch eine Erzählung von Vicky Baum über den Kampf auf Leben und Tod zwischen einem fanatischen Nazi und einem Antifaschisten in einem Kriegsgefangenenlager in den Vereinigten Staaten - ein Kampf, der sich unter den Augen der naiven amerikanischen Wachmannschaft abspielt durchaus realistisch. Zu dieser Stilart gehört ebenfalls ein (leicht und wohlmeinend karikierendes) Colliefs-Titelblatt mit einem lächelnden, von Wählern umgebenen Bild Franklin D. Roosevelts.24 Am selben Tag aber, am 19. August 1944, als die Illustration zu einem Text von Vicky Baum in Colliefs publiziert wurde, erschien in derselben Zeitschrift der »neue« Pachner. Für einen Tatsachenbericht über den französischen Widerstand von Alphonse Dunoyer und Aldo Forte steigert Pachner die Widerständler ins Monumentale. Seine Nachkriegsentwicklung einleitend - so sollte er später die israelischen Freiheitskämpfer malen verkörpern die Franzosen in Körperhaltung und Miene eine unbeugsame Entschlossenheit bei der Tötung deutscher Okkupationsoffiziere. 25 Alle weiteren Kampf- oder Widerstandsbilder hält Pachner im selben Stil, sei es die Abbildung eines sterbenden alliierten Soldaten oder das Begleitbild zu Martha Gellhorns Bericht The Undefeated über den Verbleib der Kämpfer aus der Zeit der spanischen Republik 26 oder die Reportage zur Befreiung

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Hollands, der Pachner durch die mystisch verklärten Farben einer ausgebombten Kirche einen zusätzlichen Zug ins Monumentale verleiht.27 Eine ähnlich surrealistische Abstraktion, diesmal ohne mystische Verklärung, gelingt Pachner in seiner Illustration zu dem berühmten Gedicht Fear von General George S. Patton. Eine menschenleere einfarbig-düstere Straße deutet dieselbe namenlose Angst an, die auch das Gedicht zum Ausdruck bringt.28 Ein Bild bleibt noch zu erwähnen. In einer Illustration »The German Train« zu dem frühen Bericht des polnischen Mitexilanten Jan Karski über die Vernichtungslager fand Pachner 1944 ein Stilmittel, auf das er erst in seiner letzten, womöglich bedeutungsvollsten Entwicklungsphase wieder zurückgreifen sollte.29 In einer Detailliertheit, die vor allem die damals noch wenig informierte amerikanische Öffentlichkeit schockieren mußte, wird Karskis Teilnahme an der Verteidung Polens, seine Befreiung aus russischer, dann seine Flucht aus deutscher Gefangenschaft und seine Untergrundarbeit in Polen skizziert. Nachdem Karski aus erneuter Gefangenschaft und Folter fliehen konnte, schrieb er sein berühmtes, die Vernichtungslager entlarvendes Buch Courier From Poland. Die Redaktion von Collier's merkte dazu an: »The article is a horrifying part of (...) his book.«30 Die Aufgabe, die sich dem von den geschilderten Ereignissen erschütterten Pachner stellte, war die künstlerische Vermittlung des Schreckens, der seine Glaubens- und Gesinnungsgenossen betroffen hatte. Die Redaktion stellte ihm dafür fast eine ganze Doppelseite zur Verfügung - ein erstaunliches Zugeständnis eines Massenjournals an ein Kunstwerk, das dazu angetan war, den amerikanischen Durchschnittsleser zutiefst zu verunsichern. Der abgebildete Bahnhof mit dem abfahrenden Zug stellte den »furchtbaren Augenblick« dar, der den Abtransport in die Vernichtungslager einleitete. Dieses Gemälde31, das (wie bereits erwähnt) die bisher letzte Schaffensperiode Pachners mit der Vielzahl unkontrolliert rasender Züge und Lastwagen, beklemmender Gleise und verlassener Koffer gewissermaßen vorwegnimmt, bildet den Höhepunkt seiner damaligen künstlerischen Phase eines journalistisch-politisch geprägten Engagements. Der Kunstkritiker Bradley J. Nickels schrieb dazu: »(>German TrainFootball for Morales for instance, Clark Shaughnessy shows you how even the T-formation can be fitted into the war effort.« - 6 So kündigte die Redaktion u.a. Erzählungen von Graf und Klaus Mann in der Kolumne »Backstage with Esquire« vom Juli 1940, S. 22 und vom Mai 1941, S. 28 an und zwar bei beiden mit der Charakterisierung als »voluntary exiles«. Allerdings sind die Erzählungen keineswegs politisch und eigentlich als »entertainment« zu werten. Ebenfalls finden sich in den Esquire-Jahrgängen zwischen 1938 bis 1943 gelegentlich Beiträge von Robert Neumann, Alfred Polgar, Ludwig Renn, Walter Schoenstedt, Jan Valtin (Richard J.H. Krebs), Joseph Wechsberg, Franz Werfel und von dem Englisch schreibenden Exilanten Peter Viertel. - 7 Siehe Redaktion: »Backstage with Esquire«. In: Esquire, Dezember 1942, S. 32. - 8 Die Serie erstreckte sich von der August-Nummer 1942 bis zur Mai-Nummer 1943. Eine weitere Zeichnung Pachners, »Flags of the United Nations«, leitete die Serie ein. Siehe Esquire, August 1942, S. 28-29. - 9 Die Serie »Glories of the United Nations« erstreckte sich von der Juni-Nummer 1943 bis zur August-Nummer 1943. Die oben beschriebenen russischen und norwegischen Szenen erschienen in der Ausgabe vom Juni 1943, S. 64 bzw. Juli 1943, S. 46. - 10 Diese Serie wurde ebenfalls länger fortgesetzt; sie begann mit der Oktober-Nummer 1940 und endete mit der Februar-Nummer 1941. Die oben erwähnten amerikanischen und englischen Regimenter wurden in der Januar-Nummer 1941, S. 56-57 und 137, bzw. der Februar-Nummer 1941, S. 74-75 und 128 porträtiert. - 11 C.B. Benton: »Pachner Encore«, in der Leserbriefspalte »The Sound and the Fury«. In: Esquire, Januar 1941, S. 10. - 12 Zu den Erzählungen von Bercovici und Giffens und Pachners Illustrationen siehe Esquire, März 1942, S. 54-55 und 176 ff., bzw. Esquire, März 1943, S. 38. - 13 Zu Arthur Szyk siehe sein The New Order. New York 1941. Eine Monographie über Szyk, »A Life of Art and Politics: The Illustrations of Arthur Szyk« wird zur Zeit von Joseph P. Ansell (Dept. of Housing and Design, Universität Maryland) vorbereitet. Die wohl umfangreichste Szyk-Sammlung befindet sich im Besitz des U.S. Holocaust Memorial Museum. Über die zur Zeit jüngste Anschaffung siehe Newsletter des Museums vom August 1988, S. 2. - 14 Siehe z.B. Esquire, Feburar 1942, S. 53; März 1942, S. 71 bis einschließlich August 1942, S. 15-16. Ein Meisterwerk von ihm erschien ohne nähere Angaben als Titelbild der Ausgabe von Collier's vom 27.2.1943. Hier klingt in der Abbildung eines wahnsinnigen, welteroberungslüsternen Hitler Dürers »Ritter, Tod und Teufel« unmißverständlich an. - 15 Siehe A(my) P(orter): »The Week's Work«. In: Collier's, v. 14.10.1944. - 16 Pachners Illustrationen zu Barbara Dickinsons Erzählung Love My Draftboard und zu Meyer Levins On the Double erschienen in den Ausgaben von Collier's v. 4.9.1943, S. 23 und v. 22.4.1944, S. 26. - 17 Ähnliche Illustrationen erschienen in Collier's v. 30.9.1944, S. 15; 2.10.1943, S. 17; 10.6.1944, S. 68 u.a.m. - 18 Siehe Collier's v. 2.9.1944, S. 16-17. Die Himmler-Karikatur war Teil von Pachners Serie für eine Ausstellung »Wartime Studies«. Das sich im Besitz des Künstlers befindende Bild ist abgebildet in Nickels (wie Anm. 3), S. 20. - 19 Siehe dazu Guy Stern: Themen und Aspekte der Exilliteratur. München 1989. - 20 Die Illustration zu Gellhorns Reportage Three Poles erschien in Collier's v. 18.3.1944, S. 17; zu Hardys Erzählung siehe Collier's v. 1.4.1944, S. 55-59. - 21 Pachners Illustration zu Twilight in Germany in Collier's v. 9.9.1944, S. 17. - 22 Siehe Collier's v. 3.3.1945, S. 18-19. - 23 In einem anderen Zusammenhang weist eine Glosse des Kunstkritikers Robert Goodnough auf die Qualität der Pachnerschen Kunstwerke hin. Siehe »William Pachner«. In: Art News 49 (Januar 1951), S. 47: »William Pachner is a devoted painter concerned with the expression of spiritual values - his close contact with war and death has moved him to deal

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with themes of anticipation ...«. - 24 Pachners Illustration zur Erzählung von Wolfert in Collier's v. 10.7.1943, S. 13; zu Vicky Baums Land of the Free in Collier's v. 19.8.1944, S. 11-12. Das Roosevelt-Porträt erschien in Collier's v. 27.1.1945, Titelblatt. - 25 Siehe Collier's v. 19.8.1944, S. 20. Der Artikel trägt den Titel »We Blind the Wehrmacht«. - 26 Das Bild vom sterbenden Soldaten begleitet Joe Archibalds Erzählung All We Need to Know in Collier's v. 9.9.1944, S. 21; das Gemälde zu Gellhorns (über Radiofunk aus Paris eingesandte) Reportage in Collier's v. 3.3.194S, S. 42. Ein weiteres Soldatenbild begleitet den Essay von James W. Fifield, Jr.: »The Boys Are Ready for the Churches - Are the Boys Ready for the Church?«. In: Cosmopolitan, Februar 1945, S. 62-63. - 27 Die Illustration begleitet die Erzählung The Voice of the Martyrs von Reverend A. Livingston Warnshuis in Collier's v. 7.4.1945, S. 16-17. Ähnlich beschreibt Jo Gibbs Pachners »dramatic pigmented canvases«; in »Season's Preview«. In: Art Digest 20 (August 1946), S. 18. - 28 Gedicht und Illustration in Cosmopolitan, Mai 1945, S. 36-37. - 29 Siehe dazu Nickels (wie Anm. 3), S. 72: »Pachner has often said that the drawings which he has made since his loss of sight are perhaps the strongest of his career ... As for myself, I agree with William Pachner's evaluation of his recent work.« - 30 Siehe Anm. 15. - 31 Das Bild »German Train« in Collier's v. 14.10.1944, S. 18-19.

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Der Fall Ulimann - Lherman - Oulmän

Die Welt war aus den Fugen. Vom Anfang des Jahrhunderts bis zum Beginn seiner zweiten Republik stand Deutschland im Zeichen innerer und äußerer Krisen. Es war von Krieg und Revolution aufgewühlt, von Armut gepeinigt, von schroff entgegengesetzten Ideologien hin- und hergeschleudert. Kein geistiges Zentrum wirkte festigend. Unzählige Kräfte zerrten an der Peripherie. An vielen Punkten verschwammen die Unterschiede zwischen Sein und Schein. Fiktion drapierte sich als Realität. Masken verhüllten Betrug und Scharlatanerie, ganz besonders während der Weimarer Jahre. Da konnte ein Harry Domela, den Prinzen und Kaiserenkel spielend, Reichswehrkommandeure, Oberbürgermeister, Hoteliers, Aristokraten und Korpsstudenten hereinlegen, Erik Hanussen, der in Wirklichkeit Herschel Steinschneider hieß, als Hellseher posieren, der Weißkäseprophet Josef Weißenberg die Massen in »Erbauungsversammlungen« an der Nase herumführen. Das deutsche Theater der zwanziger Jahre war ein Spiegel dieser schwankenden Welt. Bühnen schössen plötzlich aus dem Boden und verschwanden ebenso plötzlich wieder. Natürlich kam bei den zahlreichen Krisen der eine oder andere Finanzier unter die Räder, aber immer wieder fanden sich neue: die Experimentierfreude der Zeit war groß und echt. In diese Welt trat der Mann, der 1898 in Wien als Walter Ullmann geboren wurde, in Berlin unter dem Namen Jo Lherman wirkte und 1949 in Paris als Gaston Oulmän starb: eine schmächtige Figur mit immer blasser, kränklicher Gesichtsfarbe und blitzenden, wachen Augen in einem Habichtsgesicht, das immer bereit schien, eine neue Beute anzuschießen. Er hatte viele Ambitionen, war immer unterwegs. Zeitlebens trieb es ihn, eine Rolle zu spielen, sei es im Theater, sei es in der Publizistik. Und wo ihm das Glück innerhalb der gesetzlichen Grenzen nicht beistand, überschritt er diese ohne Bedenken. Während des fieberhaften Inflationsjahrs 1923 wird Jo Lherman eine notorische Figur. In der Berliner Lützowstraße gründet er eine Experimentierbühne. Sie heißt charakteristischerweise »Das Theater« - Lherman ist in seinen Ansprüchen nie bescheiden. Den Auftakt bildet Hans Henny Jahnns Drama Pastor Ephraim Magnus. Publikum und Presse lehnen das von Arnolt Bronnen inszenierte Stück ab, doch der Kritiker des Berliner Tageblatts, Fred Hildenbrandt, ermutigt den Direktor: »Sie sind jung und ein Organisator. Sie haben eine Kameradschaft um sich gesammelt, die keine

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auswattierten Schultern trägt, rutschen Sie mit diesen Genossen nicht in den Sumpf...«1 Bereits wenige Tage später aber schreibt Hildenbrandt: »Eine Verhaftung Der Gründer und Leiter des Unternehmens »Das Theater«, Dr. Jo Lherman (...) ist gestern verhaftet worden. Schecks sollen nicht gestimmt haben, das Geld soll nicht gestimmt haben, der ganze Mann soll nicht gestimmt haben. Er ist in künstlerischer und ethischer Hinsicht an dieser Stelle so ernst genommen worden, wie man einen Mann nur ernst nehmen kann. Welche Zeit ist das! Noch steht nicht fest, ob er ein Hochstapler ist, noch sind seine Mitarbeiter dabei, in einem Aufruf für seine ideellen Qualitäten einzutreten. Aber man beginnt, angesichts eines Chaos, in dem man, mit Glauben und Treue bewaffnet, auf die jagende Suche geht, nach Menschen mit dem Funken, mit der Tat, mit der Opposition, man beginnt den Mund zu verziehen und mit den Achseln zu zucken. Es scheint alles hohl zu sein und aus Pappe. Es scheint die Zeit bis ins werdende Protoplasma verseucht zu sein vom Wirrwarr. Wer hat recht und wer hat unrecht? Wer ist schuldig und wer ist unschuldig? Wird der Aufrechte doch allmählich erstickt und ist der Weg nur für Charlatans frei ohne Schranke?«2 Lherman hatte sein Doppelgesicht enthüllt. Er war ein Theater- und Publizitätsbesessener. Und er war ein Hochstapler. In diesem Fall wurde er rasch aus der Haft entlassen, da es ihm gelang, die Gläubiger umzustimmen. Er spielte weiter Theater. Und nicht nur in Berlin. Im Sommer 1925 gab es im Stuttgarter Schauspielhaus eine Kette von Uraufführungen, bei denen Lherman - mit relativ geringem Erfolg Regie führte. In Berlin, wo sein Ensemble jetzt »Junge Generation« hieß, wurde er nach der Premiere einer Komödie von Leo Matthias von Herbert Jhering vernichtend kritisiert. »Lherman ist keine Person, er ist ein Klebstoff«, schrieb Jhering. »Er liest ein unaufgeführtes Stück, schon hängt er fester an ihm als der Autor.«3 Nur von Alfred Kerr kam ein schleierbehangenes Lob: »...Zusammengefasst: eine abweichende Regie. Das ist noch nicht eine falsche Regie. Eine falsche Regie - das ist noch nicht eine schlechte Regie. Eine nicht richtige Regie kann eine gute sein. Sie war es.«4 Im Januar 1926 erschien Lherman plötzlich in Heilbronn, das Buch von Hermann Kasack Die Schwester in der Tasche, und gewann die konservative Direktion des dortigen Stadttheaters — er war ein brillanter Überredungskünstler — zur Uraufführung des Stücks. Auch hier nur ein mäßiger Erfolg.s Ebenso in Kassel, wo er eine Tragikomödie des damals dreiundzwanzigjährigen Ernst Glaeser, Seele über Bord, herausbrachte.6 Dazwischen unternahm der Rastlose einen Abstecher in die Literatur: er edierte eine Anthologie zeitgenössischer Dichtung. Der Titel war zwar

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hochtrabend (Die Lyrik der Generation), aber der Band, eine Art Seitenstück zu Kurt Pinthus' Menschheitsdämmerung, hatte gleichwohl Niveau.7 Lhermans Berliner Theaterambitionen endeten schließlich im Gefängnis. Die unsauberen Geschäfte, mit denen er seine Aufführungen finanziert hatte, hatten sich ebenso gehäuft wie seine Schulden bei den Schauspielern, die monatelang ohne Gage geblieben waren.8 Nach seiner Freilassung versucht er sein Glück als freiberuflicher Theaterkritiker. Eine Reihe deutscher Provinzblätter druckt seine Berichte und Rezensionen.9 Dann setzt er sich nach Wien ab, wo er bei Bergis, dem Verlag der seit 1920 bestehenden liberalen Zeitschrift Das Blaue Heft (einer Art Gegenstück zur Berliner Weltbühne, wie diese bemüht um eine Vereinigung des Politikund Theaterbereichs) eine Anstellung findet. Im Januar 1933 siedelt Lherman nach Paris über. Vielleicht war ihm der Boden in Wien zu heiß geworden, vielleicht war er durch die Ereignisse in Deutschland beunruhigt. Jedenfalls ließ er sich den Auftrag geben, den Verlag nach Frankreich zu transferieren. Unter dem Etikett »Les Editions Bergis« bringt er in Paris unter anderem Ciaire Gölls Roman Arsenik, eine Essaysammlung Fritz von Unruhs Politeia. Im Dienst deutscher Sendung und eine Schrift von Marcel Olivier Marx et Engels heraus.10 Daneben profiliert sich Lherman in den Jahren 1932 und 1933 im Blauen Heft auch als Publizist. Seine Rezensionen fallen durch eine bilderreiche Sprache auf. So sah er im Salzburger Jedermann von 1932 »eine Art kräftiger Sinnlichkeit, die sich naturgemäss in Dagny Servaes' fleischiger Drastik am stärksten ausdrückt.«11 Von einer Burgtheater-Aufführung der Jungfrau von Orleans fand er, sie stelle »Schiller breit und flächig dar, die Steigerungen erreichen nur selten erhebliche Höhen.«12 Über R.E. Sherwoods WaterlooBrücke schrieb er: »Man genießt das Stück wie vorzüglich gewebtes englisches Tuch.«13 Elisabeth Bergners Film Der träumende Mund jedoch trieb ihn gar zu ekstatischer Bewunderung: »Das Unbeschreibliche: das ist sie. Sichtbarlich ruht auf ihr die Gnade, den Mund der Beschreiber zu schliessen, ihn wortlos zu machen, ihn zu versetzen in den Traum: diese Welt, die Welt der Bergner, die Welt der Schauspielerin, ist die wirkliche Welt, die einzig erlebniswerte und einzig lebenswerte...«14. Interessanter noch als seine Theater- und Filmberichte sind drei mit »W.M. Ullmann« signierte politische Artikel. Der erste dieser Aufsätze war ein Appell »Gedenkt Ossietzkys«. Der Weltbühnen-Chefredakteur hatte am 10. Mai 1932 die 1931 gegen ihn verhängte achtzehnmonatige Gefängnisstrafe angetreten. Ullmanns Einleitung ist ein markantes Bild: »Seit einer Reihe von Wochen sitzt er seine Strafe im Gefängnis von Berlin-Tegel ab, in einer Zelle, die sechs Schritte in der Länge, zwei in der Breite mißt, zwischen einer Eisentüre mit Schloß ohne Klinke und doppeltem Riegel und zweifach vergittertem, übermannshoch angebrachtem, lukenhaftem Fenster, trägt den sackleinenen Anzug der preußischen Sträflinge, muß seine Pritsche des Morgens an die Wand schlagen und tagsüber vielleicht Papiersäcke kleben oder Tabak schleißen, vielleicht verrichtet er auch eine büromäßige und

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stumpfsinnige Schreibarbeit, das wissen wir nicht, vielleicht schreibt er auch an den langen Abenden und den noch längeren Sonntagen an einem Buch. Vielleicht ist er in einer Zelle in einem unteren Stockwerk untergebracht, die zwar verhältnismäßig kühl sein mag, dafür aber durch das hochliegende Fenstergitter den Blick nur auf eine Feuermauer oder von gleicher Weise vergitterten Zellenfenstern unterbrochene Wand gestattet; vielleicht ist seine Zelle nahe unter dem Dach und er stöhnt schwitzend Tag um Tag unter der Hitze. In guten Stunden mag er sich der letzten Augenblicke seines Freiseins erinnern, da er, von den abschiednehmenden Kameraden begleitet, im Tegeler Wäldchen vor dem Gefängnis unter ihnen stand, und des ernsthaften und guten Gesichtes Ernst Tollers, der die letzten Worte zu ihm sprach, ein Mann, der solchen Zustand aus fünf Jahren bayrischer Gefängniszeit kennt, der ahnungsvoll wußte, wie es Ossietzky binnen kurzem zu Mute sein würde, und, sich dieses Augenblicks und in dem Zeitlupenfilm, den die eigenen Gedanken in dieser entsetzlichen Muße Tag um Tag dem Wachenden und Nacht um Nacht dem Träumenden abrollen, manchmal nur mühsam die Tränen verhalten, wir ahnen sie wohl, und Ossietzky, wiedergekehrt, wird sich ihrer nicht schämen...« Inzwischen, schreibt Ulimann am Schluß, bleibe dreierlei zu tun: »die Front zu halten, aus der er gerissen worden ist, fest zu stehen, keine Lücke zu lassen; von ihm zu reden, seiner zu gedenken, ihn nicht zu vergessen, immer wieder nach ihm zu rufen; und endlich ihn zu lieben von ganzem Herzen als unseren schwer verwundeten Bruder.«15 Der neunzehnte Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs veranlaßt Ulimann zu einem pessimistischen Ausblick auf die internationale Szene. Der Krieg, argumentiert er, sei nie zu Ende gegangen. Was sich in den vier Jahren im Feld zugetragen habe, »schien nur die Hölle«. Jetzt erst sei die Hölle wirklich losgebrochen. Dem Sieg des Nationalsozialismus in Deutschland stellt er gegenüber: die wechselseitige Schwächung der sozialistischen Parteien Frankreichs, immigrantenfeindliche Maßnahmen der Schweiz, die Maßregelung streikender antifaschistischer Arbeiter in Dänemark, die reaktionäre Regierung Österreichs und die unklare Haltung Rußlands. »Worauf also haben wir jetzt zu hoffen?« fragt er. Seine Antwort: »Nichts ist uns geblieben, kein Besitz, nichts als wir selbst. Auf uns selbst zu hoffen, auf uns selbst zu stehen, ohne irgend einen Rückhalt, dies noch einmal zu versuchen, vielleicht ein Jahr lang - vielleicht lohnt es sich doch... Wir haben an nichts zu denken als daß wir Soldaten sind ohne Rang und Titel und Verdienst, einander gleich, und daß wir einen Krieg führen, den man uns aufgezwungen hat... Ob Deutschland in unserem Lager ist, wird sich zeigen; wir haben es zu beweisen. Gewiß ist, daß es in unseren Herzen ist und lebt; wir haben es niemals verlassen.«16 Einer seiner späteren Artikel ist eine vehemente Anklage der Emigrantengruppen, die nicht nur »geistige Werte gerettet«, sondern auch »alle deutschen Unsitten mitgebracht« hätten. Brotneid, Verleumdung und Gezänk wüchsen unter ihnen zu »stachligen Hecken«. Ullmann spricht auch

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von der Rolle betrügerischer Geschäftemacher: »Deutsche Bankiers in Prag und Paris verschieben Devisen nicht ohne die Hilfe deutscher Nationalsozialisten, deutsche Juden im Ausland kaufen bei der reichsdeutschen Industrie, und es gibt Emigranten, die ihren Lebensunterhalt darin finden, daß sie die in Deutschland verbotenen Geschäfte der anderen dort verpfeifen.« 17 Ullmann kannte sich auf diesem Gebiet aus. Er selbst unterschlug nämlich in Paris um jene Zeit Ersparnisse von Emigranten mit Hilfe gefälschter Poststempel. Mit knapper Not entging er der Verhaftung durch Flucht. Um die Jahreswende 1933/34 erschien er plötzlich in Brünn, wo ich damals mit meiner ersten Frau, der Schauspielerin Else Rüthel, lebte. Wir hatten ihn immer nur als Jo Lherman gekannt, seit vielen Jahren nicht mehr gesehen und von seinen Aktivitäten keine Ahnung. Er gab vor, in Brünn mit der Vertriebsstelle des Blauen Hefts, einer örtlichen Werbeagentur, verhandeln zu müssen. Die Erklärung schien uns nicht ganz plausibel. Aber nach einigen Tagen kam Lherman wieder und teilte uns mit, er habe mit der tschechischen Agentur über die Gründung eines deutschsprachigen Pressedienstes gesprochen. Die Leute würden ihr Büro samt Einrichtung und Schreibkräften dafür zur Verfügung stellen. Ob ich mitmachen wolle? Ich fand die Idee eines Pressedienstes, der der Nazipropaganda entgegenwirkte, ausgezeichnet und gewann zwei andere in Brünn lebende emigrierte Kollegen, Rolf Reventlow und Richard Teclaw, für das Projekt. Zusammen mit Lherman gingen wir zu dem Inhaber der Agentur und beschlossen die Gründung des Press Service. PS, dessen Material wir in erster Linie der fremdsprachigen Presse entnahmen, erschien zweimal wöchentlich vier Jahre hindurch. Aber bereits von der ersten Ausgabe an ohne Lherman. Denn die für uns überraschende Nachricht von seinen Pariser Betrügereien war in die Presse gedrungen. Die Sûreté hatte einen Steckbrief erlassen. Lherman-Ullmann verschwand aus Brünn. In Begleitung einer Dame setzte er sich zuerst nach Lissabon ab, später nach Spanien. Wir sahen ihn nicht wieder; die Welt allerdings hörte in den folgenden Jahren noch ziemlich viel von ihm. In Spanien schuf er einen eigenen Pressedienst. Sein Thema: der spanische Bürgerkrieg. Er reiste zwischen den Fronten hin und her. Eine amtliche Wiener Aufzeichnung besagt, daß er Berichte für das Wiener Tagblatt, die Grazer Tagespost und den Pester Lloyd schrieb.18 Belege für diese Berichte liegen nicht vor, aber die Tatsache, daß ausgerechnet die Grazer Tagespost zu Ullmanns Abnehmern gehörte, läßt den Schluß zu, daß sie kaum für die spanische Republik warben: das Grazer Blatt trug seine Hitlerfreundlichkeit deutlich genug zur Schau und verdeckte auch seine Sympathien für Franco nicht. Aber Ullmanns Aktivitäten gingen noch weiter. Das ergibt sich aus einer Zeitungsmeldung vom Sommer 1937, die von seiner von der (loyalistischen) katalanischen Regierung veranlaßten Verhaftung in Barcelona berichtet. Hier wird Ullmann als »Vertreter eines Genfer Pressbüros« bezeichnet und beschuldigt, »nichtzensurierte Nachrichten nach dem Ausland abgesandt und

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mit der nationalspanischen (Franco-)Regierung zusammengearbeitet zu haben.«19 Was Ullmann-Lherman in den folgenden fünf Jahren tat und was mit ihm geschah, ist unbekannt. Man weiß nur, daß er in Frankreich, Deutschland und Österreich steckbrieflich gesucht wurde. Am 16. September 1942 stand er schließlich vor dem Wiener Landgericht. Hier wurden seine Betrügereien - ein Schweizer Konto, das nur in der Phantasie bestand, zahlreiche gefälschte Schecks und Postaufgabescheine, die »Vorfinanzierung« eines Romans durch einen Autor, der dann das Nachsehen hatte in allen Details aufgerollt. Das Urteil lautete auf fünf Jahre Zuchthaus. Der Arzt der Untersuchungshaftanstalt Wien I stellte »hochgradige Unterernährung, 24 kg Untergewicht« fest. Ullmann wurde in die Strafanstalt Straubing überwiesen20 und dort der Schneiderei zugeteilt. Die Anstaltszcugnisse besagen, daß er bei den Arbeiten fleißig und gegenüber den Mitgefangenen verträglich war: »er fügte sich in die Anstaltsordnung ein.«21 Als sich 1945 die amerikanischen Truppen nähern, vertreibt die SS viele Zuchthaus-Insassen. Sie sollen in das KZ Dachau gebracht werden, aber dazu reicht die Zeit nicht mehr aus. So landen die Sträflinge im Barackenkomplex des Stalag VI in der Nähe des oberbayerischen Landslädtchens Moosburg. Einer von ihnen ist ein gewisser Dr. phil. Walter Ullmann aus Wien, der angeblich als politischer Gefangener registriert ist - aber die ihn betreffenden Akten waren verloren gegangen. »In den nächsten Tagen verwandelten sich kriminelle Häftlinge in politische Häftlinge, Nazis in Widerstandskämpfer, Widerstandskämpfer in Geschäftemacher«, schreibt ein Chronist der Zeit, Konstantin von Bayern.22 Nach seiner Darstellung wird Ullmann dem Leiter der örtlichen Betreuungsstelle für Verfolgte des Nazismus, dem bayerischen Journalisten Max Kolmsperger, als »Kollege von internationalem Rang« empfohlen. Und zwar unter einem neuen Namen: Gaston Oulmän. Ullmann-Lhermann tritt jetzt als kubanischer Staatsbürger auf.23 Kolmsperger, der weiß-blaue Journalist, schafft für den »Kubaner« die erste Sprosse auf einer Leiter, die dieser höher und höher zu steigen bereits entschlossen ist. Die Taktik Oulmäns beschreibt der Wittelsbacher Prinz so: »Ich habe meine Familie und meine Gesundheit durch die Nazis verloren, läßt er die Pg-Bürger wissen, aber ich will nicht Unrecht mit Unrecht vergelten. Und dann nach einer Kunstpause: Niemand wird Ihnen helfen wollen und niemand wird Ihnen helfen können - außer - vielleicht - ich.« Und nach solcher Versicherung liefern ihm Nazi-Belastete Naturalien und Stoffe und stellen ihm ein Auto zur Verfügung. Bald beginnen Oulmäns »Ausflüge« nach München.24 Er gewinnt Einfluß im Kreis der dortigen Intellektuellen, Künstler, Journalisten. Die Schauspielerin Trude Hesterberg führt den Publizisten Curt Riess bei ihm ein. An der Eingangstür zu seiner Wohnung liest Riess: »Amerikanischer Korrespondent«. Oulmän deutete auf einen Haufen von Manuskripten: »Das habe ich diese Woche geschrieben!« »Aber«, fragt Riess

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retrospektiv, »wie fanden seine Meldungen ihren Weg nach Kuba? Es gab noch keine Flugverbindungen - noch lange nicht, es gab nur Armeeflugzeuge. Es gab noch keinen regelmäßigen Bahnverkehr. Wir, das heißt die anderen Korrespondenten, sandten unsere Meldungen und Artikel via Radio, das ein Sergeant bediente - es befand sich im Hof des Pressezentrums. Jede abgegebene Meldung wurde in einem Buch eingetragen. Ich fragte den Sergeanten nach unserem Kubaner. Nein, der hatte noch nie etwas senden lassen. Also war der Mann ein Betrüger.. Während des Besuchs hatten Oulmän und seine Sekretärin sich die Kriegsberichterstatter-Uniform von Riess genau angesehen. Oulmän hatte sich bereits Khaki-Uniformstoff verschafft. Jetzt konnte er auch den grünen Streifen mit der goldenen Aufschrift »War Correspondent« kopieren. Auf der linken Schulter der Uniform ließ er die kubanischen Farben anbringen, beiderseits am Kragen das Wort »Cuba« in einem grünen Kreis einsticken. Die Insignien imponierten. Die Liste der Personen von Rang, die Oulmäns Bekanntschaft suchten (und deren Bekanntschaft er suchte), wuchs ständig. Konstantin berichtet, daß er sich auch an seine Familie, das Wittelsbacher Haus, heranmachte. Oulmän erzählte, er habe im Straubinger Zuchthaus mit einem Mitgefangenen, dem inzwischen verstorbenen Freiherrn von Harnier, Führer der monarchistischen Widerstandsgruppe in Bayern, durch Klopfzeichen einen politischen Meinungsaustausch gehabt. Für den aus dem italienischen Exil zurückgekehrten Kronprinzen Rupprecht veranstaltete Oulmän eine Pressekonferenz, bei der für eine Restauration der Monarchie in Bayern geworben wurde. Es gelang dem »Kubaner« sogar, den amerikanischen Stadtkommandanten von München, Oberst Keller, zur Zulassung einer bayerischen »Heimat- und Königspartei« zu bewegen. Aber Washington winkte ab; die Partei wurde verboten.26 Oulmäns Geltungsbedürfnis war grenzenlos. Geld spielte nur insofern eine Rolle, als es zur Erfüllung dieses Bedürfnisses nötig war. Und da verfiel er auf seinen alten Trick: er spiegelte ein Schweizer Bankkonto vor und tauschte Mark gegen das auf dem Papier stehende Versprechen solider Schweizer Franken. Zu seinen bedeutendsten Aktiva in diesen hektischen Münchener Tagen gehörte die Bekanntschaft mit dem amerikanischen Rundfunkbeauftragten für Bayern und Intendanten bei Radio München, Field Horine. Dieser machte den »Kubaner«, der die deutsche Sprache so gut beherrschte, zum Radioberichterstatter der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse.27 Damit verschaffte er diesem die Tribüne seines Lebens - eine um so wichtigere Tribüne, als die deutsche Presse damals infolge der Kommunikationsschwierigkeiten und des Papiermangels noch sehr unterentwickelt war.28 Oulmäns tägliche Reportagen aus Nürnberg - wegen seines Akzents wurden sie nicht von ihm selbst, sondern von einem Sprecher von Radio München gelesen - waren oft beißend ironisch und mißfielen einem großen Teil des deutschen Publikums. Curt Riess schreibt, Oulmän habe seine Berichterstattung »derart antideutsch gehalten, daß die beschimpften

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Zuhörer bald abschalteten.«29 Wie dem auch sei, sein abschließender Kommentar zur Nürnberger Urteilsverkündung am 1. Oktober 1946 verdient ausführlichere Betrachtung.30 »Es ist wie zu Ende eines Krieges, zu dessen Schluß ein letzter Heeresbericht mitteilt: der Kampf ist zu Ende«, erklärte Oulmän, hinzufügend: »Wenn der Kampf zu Ende ist, so ist nicht notwendigerweise der Krieg zu Ende. Mit dem besiegten Gegner muß nicht am gleichen Tage Frieden geschlossen werden.« Er beschäftigte sich dann mit den gegen die Stimmen der sowjetischen Richter gefällten Freisprüchen der Angeklagten Hjalmar Schacht, Franz von Papen und Hans Fritzsche. Die Urteilsbegründung habe mit scharfen Worten ausgedrückt, daß die Freisprüche nur deshalb erfolgt seien, weil »das Statut dieses Gerichtshofs ihre Verbrechen zu bestrafen keine Handhabe biete«, und ausdrücklich betont, daß die Freigesprochenen gegen mehr als ein Gesetz der Moral und Ethik gehandelt, daß sie sich am Wohl der Welt und dem des deutschen Volkes versündigt hätten. In der Öffentlichkeit werde es, sagte Oulmän, an kritischen Beurteilungen des internationalen Gerichts nicht fehlen. Aber die Würde, Objektivität und Gerechtigkeitsliebe sei »heute auch von den Deutschen anerkannt« worden. Die Richter hätten die Angeklagten »bis zum Schluß als Menschen mit Menschenrechten behandelt, wenn sie sie nun auch schließlich als Verbrecher verurteilt haben.« In diesem Prozeß hätten die Angeklagten im Grunde alle Nebenrollen gespielt: »Es ist um ein weit Größeres gegangen als um das Schicksal von einigen Personen, das sich nun erfüllen muß, um ein Ende zu machen mit dieser Zeit, die Deutschland hinter sich hat, mit der Ära des Nationalsozialismus... Diese Männer sind vor allem Symbole dieser Zeit geworden. Sie waren die Führer der nationalsozialistischen Geschichte. Ihre Namen stehen mit großen Buchstaben über ihren Kapiteln. Und über diese Kapitel, über diese Abschnitte nationalsozialistischer Geschichte hat das Gericht geurteilt, als es sie verdammt hat... Nicht die Tür an der Zelle, das Tor der Zeit ist hinter ihnen ins Schloß gefallen.« Die Verkündung des Schicksals der zum Tod Verurteilten habe nur Minuten beansprucht. »Sie aber« - fuhr Oulmän fort - »haben in Jahren Millionen von Menschen zum Sterben verurteilt, in den Tod getrieben oder gehetzt, Opfer, die sie nie gesehen hatten, deren Namen sie nicht einmal kannten, Säuglinge und Kinder, junge Menschen und Frauen, Greise und Sieche. Sie haben keinen Unterschied gekannt. Sie haben sich allen Bitten versagt und keine Gnade erwiesen. Sie haßten diese für sie Namenlosen und ihnen Unbekannten. Sie haßten die Menschheit und führten Krieg gegen sie mit einem Haß, den wir kaum verstehen oder begreifen können...«. Dennoch: Oulmän läßt durchblicken, daß er ein grundsätzlicher Gegner der Todesstrafe ist. »Wir stehen«, sagt er, »auch diesen Todesurteilen nicht ohne Bangen gegenüber... Wir beugen uns dem Urteilsspruch dieses Gerichts, das von 21 Nationen berufen und eingesetzt ist, aber wir haben das Recht, über sein Urteil nachzudenken.« Der vorliegende Fall sei aber

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besonderer Art: »Die Gemeinschaft der Nationen« habe die Verurteilung und Hinrichtung der Hauptangeklagten verlangt und das Gericht sie für berechtigt gefunden. »Wollten wir es selbst, wir hätten kein Recht, an einem Urteil Kritik zu üben, das namens der Hinterbliebenen erfolgt ist, denn die Angehörigen der Völker, namens derer dieses Gericht Recht gesprochen hat, sind ja die Hinterbliebenen der Ermordeten, die Opfer dieser Männer, die verurteilt worden sind.« An verschiedenen Stellen erörtert Oulmän die Rolle des deutschen Volkes in den Jahren des Nationalsozialismus. Dieses Volk, bemerkt er, sei in den Urteilsspruch nicht einbezogen: »Ein Volk, von diesen Angeklagten, die nun Kriegsverbrecher, Verbrecher am Frieden und an den Gesetzen der Menschlichkeit heißen, geführt, ist nicht mit ihnen angeklagt, verurteilt oder freigesprochen worden. Aber angesichts dieses Urteilsspruchs lernt und erfährt dieses Volk, wie die ganze Welt über die urteilt, die es zu seinen Führern gemacht und als seine Führer ertragen hat.« Und an anderer Stelle: »Es hat sich in Deutschland kein Sturm erhoben, der sie hinweggefegt hat. Bis zum Ende dieses grauenhaften Krieges, den sie geführt haben, sind sie an der Spitze ihrer Nation gestanden, und wo sich ein Widerspruch erhob, wurde er fast im Keim erstickt. Und nicht einmal als nach dem Krieg sie nicht mehr zu fürchten waren, wurde auch nur ein einziger von den eigenen Volksgenossen gerichtet. Wäre es (nicht) besser gewesen, sie wären sofort erschossen worden, weggefegt von der Volkswut?« Dieser »letzte Heeresbericht« war der höchste Triumph des »kubanischen« Star-Reporters. Millionen hörten ihn. Das Netz der angeschlossenen Stationen umfaßte, nach der Angabe des Sprechers von Radio München, die Sender Berlin, Leipzig, Dresden, Weimar, Magdeburg, Schwerin, Potsdam, Freiburg, Saarbrücken, Koblenz, Kaiserslautern, Hamburg, Köln, Flensburg, Hannover, Drahtfunk Schleswig-Holstein, Bremen, den Rundfunk im Amerikanischen Sektor Berlins, die Sendergruppe Rot-Weiß-Rot mit Wien, Linz und Salzburg, die Sendergruppe West mit Innsbruck und Dombirn, die Sendergruppe Alpenland mit Klagenfurt und Graz und die Ravag Wien. Oulmäns abschließender Kommentar trug ihm in amerikanischen Kreisen den Vorwurf allzu großer Milde ein; besonders wurden ihm die Bemerkungen über die Todesstrafe verübelt. Er verteidigte sich gegen die Kritiker mit dem Hinweis, daß er wie immer in voller Übereinstimmung mit den Weisungen der Militärregierung gehandelt habe; allerdings sei es infolge des Zeitmangels nicht möglich gewesen, das Manuskript dem Intendanten Field Horine vorzulegen.31 Jedenfalls erneuerte Radio München den Vertrag mit ihm nicht mehr. Oulmän wurde dann von der Associated Press in München angestellt, konnte sich aber dem Bürobetrieb der Agentur nicht anpassen und gründete ein eigenes Nachrichtenbüro. Auch dieses Unternehmen geriet bald in eine Krise, da Oulmän zwei Meldungen, die sich zudem als nicht objektiv herausstellten, mit INS, den Initialen des International News Service, gezeichnet hatte. Das Ergebnis war ein Rundschreiben der Deutschen

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Nachrichten-Agentur an ihre Mitglieder: »Wir bitten, Vorsicht walten zu lassen, falls sich dieser Journalist als Mitarbeiter zur Verfügung stellen sollte.«32 Über ein theatralisches Spiel des Poseurs Oulmän schreibt Konstantin von Bayern: »Ausgerechnet er wird zum Verteidiger und Tröster der verlassenen Frauen jener Männer, hinter denen er die Gefängnistür mit lautem Krachen ins Schloß geworfen hat.«33 Besuche Oulmäns bei der Witwe des Generals von Blomberg, bei Henriette von Schirach, Brigitte Frank (der Frau des Exgouverneurs von Polen, Hans Frank) und Emmy Göring werden von dem Wittelsbacher Prinzen ziemlich detailliert geschildert.34 Schließlich fühlte der Mann, der über sechs Autos und drei Wohnungen allein in München verfügte35, daß seine Macht im Schwinden begriffen war. Oulmän, der sich so gut auf das Fälschen verstand, erstrebte plötzlich die Ausstellung regulärer Papiere. Dabei wandte er erneut einen seiner merkwürdigen Tricks an: er inserierte im Münchner Mittag den angeblichen Verlust seiner Brieftasche mit allen Dokumenten! Das amerikanische Konsulat schrieb deshalb nach Kuba. Antwort: Hier unbekannt. Darauf teilte das Konsulat Oulmän mit: »Wir bedauern, Ihnen die gewünschten Papiere nicht ausstellen zu können, da sich der Nachweis Ihrer kubanischen Staatsangehörigkeit nicht erbringen läßt.«36 »Ohne Papiere ist Oulmän vogelfrei«, schreibt Konstantin: »Nun gerät er in den Bereich der deutschen Gerichtsbarkeit. Das Tabu des Alliierten ist gebrochen. Gläubiger melden sich zu Wort. Leute, die ihn laut einen Betrüger schimpfen«. Dem Bericht des bayerischen Prinzen zufolge war Oulmän bereits während des Nürnberger Prozesses vom Chef des Senders Saarbrücken, Losson, ein Posten angeboten worden. Oulmän, der damals abgelehnt hatte, kam jetzt darauf zurück. Er ließ sich von einem Polizeibeamten, der seinerzeit ein Mithäftling von ihm war, in die französische Zone fahren. 37 Als »Directeur politique« erklomm er bei Radio Saarbrücken eine neue Sprosse seiner Karriere. Doch schon nach wenigen Monaten - am 7. Januar 1948 - forderte die sozialdemokratische Fraktion des saarländischen Landtags die »Suspendierung« Oulmäns als Chefredakteur und Kommentator; Begründung: sinnentstellende Meldungen über die saarländischfranzösischen Verhandlungen und ein falscher Bericht über die Ernennung des Gouverneurs Grandval zum Hohen Kommissar. Radio Saarbrücken mußte berichtigen. Am 31. März 1948 folgte eine erneute Beschwerde der SP-Fraktion: die Funkberichte über den saarländischen Landtag seien Propaganda für einen kommunistischen Abgeordneten. Diesmal beschäftigte sich das Hohe Kommissariat mit der Angelegenheit, und Generaldirektor Losson wurde die schnellste Lösung des Vertrags mit Oulmän nahegelegt.34 Eine Funkmeldung über streikende Studenten an der saarländischen Universität gegen einen Befehl des französischen Gouverneurs brachte Oulmän dann vorzeitig - im Mai 1948 - zu Fall. Bei einer Haussuchung der französischen Polizei wurden in seiner Wohnung Blanco-Grenzscheine gefunden. Oulmän wurde verhaftet. Im Gefängnis unternahm er einen nicht

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lebensgefährlichen Selbstmordversuch39 und wurde in die Gefängnisklinik gebracht. Über das, was sich in der Folge abspielte, sind die Angaben in den meist sensationellen Zeitungsberichten nicht ganz übereinstimmend. Es scheint, daß Oulmàn, um wieder auf freien Fuß zu kommen, sich als Freiwilliger für Palästina meldete und bat, sich bei einem Pariser Werbebüro stellen zu dürfen. Sicher ist, daß er von Saarbrücken nach Paris kam. Ob er gleich an der französischen Grenze oder später von der Sûreté noch einmal verhaftet wurde, läßt sich an Hand der vorliegenden Berichte nicht feststellen. Jedenfalls verbrachte er sein letztes Lebensjahr in Paris, und stilgemäß gründete er noch einmal ein Nachrichtenbüro. Zwei Monate vor seinem Tod am 5. Mai 1949 trat er mit einem letzten journalistischen Coup hervor: einem Interview mit dem späteren Botschafter und Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt, Dr. Gauss, über die Unterzeichnung des deutschsowjetischen Paktes am 23. August 1939. Es erschien in der Pariser Tageszeitung Le Monde f Ullmann-Lherman-Oulmàn war tot. Aber Legenden um ihn lebten weiter. Lange nach seinem Tod hieß es, er sei in Tanger und Casablanca gesehen worden. Konstantin von Bayern hörte, der »Kubaner« sei unter seinem wahren Namen und seinen beiden Pseudonymen auf dem Friedhof Montmartre in der Nähe des Grabs von Heinrich Heine bestattet. Der Prinz suchte vergeblich.41 Kein Wunder: Ullmann ist nicht dort, sondern auf dem Friedhof Pantin begraben.42 Möglich, daß das journalistische Talent Ullmanns sich unter anderen Umständen positiv hätte entwickeln können. Denn Talent hatte diese Wiener Spediteurssohn. Sein Hochstaplertum, sein Hang zu Pose und Posieren haben es ruiniert. Er hätte mehr als ein Gaukler werden können.

1 Berliner Tageblatt, 25.8.1923. - 2 Ebd., 31.8.1923. - 3 Berliner Börsen-Courier, 2.11.1925. - 4 Berliner Tageblatt, 2.11.1925. - 5 Allgemein gerühmt wurde die Hauptdarstellerin Else Rüthel, die Lherman aus Berlin mitgebracht hatte. - 6 Hans Sahl schrieb in seiner Kritik im Berliner Börsen-Courier vom 4.3.1926: »Der Regisseur Lherman vermag in der Provinz, wo die Probleme der Regie zwangsläufig um einen Posttag hinter der Entwicklung zurückbleiben, sein expressionistisches Stegreiftheater noch als Novität durchzusetzen. Obwohl gerade »Seele über Bord< sicheren Griff und vorsichtiges Hinübertragen der lyrischen Stellen in eine beruhigtere, sachliche Sphäre verlangte, spielte Lherman mit einem Aufwand an ekstatischem Theaterlärm, der sich bis zur Unerträglichkeit der geschrieenen Vokabeln steigerte...«. — 7 Die Lyrik der Generation, herausgegeben und eingeleitet von Jo Lherman. Berlin, DreieckVerlag 1925. In seiner Einleitung schreibt Lherman: »Wenn er (der Herausgeber) sichtete, er sichtete genau vierzig Nächte, versuchte er seine Empfindung zu der Erkenntnis zu weiten, ob das Gedicht in Form, Gehalt, Sprache oder Ausdruck mit der Zeit, mit seiner Zeit schöpferisch verwachsen war; wenn er eines dieser fünf Symptome empfand, bejahte er.« Vertreten sind in dem Band u.a. Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Franz Theodor Czokor, Claire Göll, Jakob Haringer, Max Hermann-Neiße, Wieland Herzfelde, Heinrich Eduard Jacob, Georg Kaiser, Paula Ludwig, Eduard Reinacher, Else Rüthel, Günther Stern, Armin T. Wegner, Alfred Wolfenstein und Carl Zuckmayer. - 8 Die Angaben über den Zeitpunkt der

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Verhandlung und das Urteil des Berliner Landgerichts weichen stark voneinander ab. Im Skript des vom Zweiten Deutschen Fernsehen am 3.7.1970 ausgestrahlten Dokumentarspiels von Joachim Ulrich Das Chamäleon wird die Verhandlung auf das Jahr 1923 angesetzt. In dem gleichnamigen »Dokumentar-Thriller« von Maximilian Alexander (Ps. für Ulrich Holler, Hamburg 1978) findet sie 1927 statt. Als Strafe werden in beiden Fällen drei Jahre Gefängnis angegeben. Dagegen ist die Verurteilung Lhermans in einem Aktenstück des Österreichischen Bundeskanzleramtes von 1937, das sich im Österreichischen Staatsarchiv befindet, so registriert: »Landgericht Berlin, 21.1.1929... Betrug, 5 Monate Gefängnis«. Als vorangegangene Strafen Lhermans (hier irrtümlicherweise »Shermann« buchstabiert) sind in demselben Aktenstück erwähnt: Rostock (Betrug, 3 Wochen Gefängnis, 1920); Schongau (Betrug, 6 Wochen Gefängnis, 1920); Berlin (Diebstahl, 4 Monate Gefängnis, 1920); München (Betrug, 6 Wochen Gefängnis, 1921); Zwickau (Unterschlagung und Diebstahl, 3 Monate Gefängnis, 1921). - 9 Ich selbst erinnere mich einer Anzahl seiner Berichte, die ich damals als Feuilletonredakteur im Heilbronner Neckar-Echo veröffentlichte, dessen Archivbestände leider dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer Helen. - 10 Nach der Information einer langjährigen Sekretärin Lhermans. - 11 Das Blaue Heft, 15. 8.1932. - 12 Das Blaue Heft, 1.9.1932. - 13 Das Blaue Heft, 1.10.1932. - 14 Das Blaue Heft, 15.10.1932. - 15 Das Blaue Heft, 1.8.1932. - 16 W.M. Ullmann: »Erster August«. In: Das Blaue Heft, 1.8.1933. - 17 W.M. Ulimann: »Die Zukunft«. In: Das Blaue Heft, 1.11.1933. - 18 Nach Angabe von Karl Ullmann, pensioniertem Redakteur des Wiener Neuen Tagblatts, weder verwandt noch persönlich bekannt mit Walter Ullmann. Aktenstück Bundeskanzleramt/Bundespressedienst datiert Wien, 9.9.1937. Österreichisches Staatsarchiv. - 19 Die Meldung des Wiener Telegraf am Mittag war »Barcelona, 29. Juli (1937)« datiert und erschien am gleichen Tag. - 20 Angaben über den Wiener Prozeß finden sich in einer Reportage des Straubinger Tagblatts vom 16. Februar 1951 unter dem Titel »Der Mann, der über seinen Schatten sprang«. Derselbe Artikel erschien am folgenden Tag im Deggendorfer Donauboten. - 21 Zitiert in: »Die Karriere eines Straubinger Zuchthäuslers«. In: Straubinger Tagblatt, 7.2.1951. - 22 Konstantin von Bayern: Nach der Sintflut. Berichte aus einer Zeit des Umbruchs. 1945-1948. München 1986, S. 23. 23 Ebd., S. 23. - 24 Ebd., S 24 f. - 25 Aus Curt Riess: Das waren Zeiten. Nostalgische Autobiographie mit vielen Mitwirkenden. Wien-München-Zürich-Innsbruck 1977, S. 321. 26 Konstantin von Bayern (wie Anm. 22), S. 30 f. - 27 Margot Meade: »Satan stand am Mikrophon«. In: Wochenend, Nürnberg, 19.12.1953. - 28 Siehe dazu Kurt Koszyk: Pressepolitik für Deutsche 194S-1948. Berlin 1986. - 29 Curt Riess (wie Anm. 25), S. 322. - 30 Ein Tonband dieser Sendung wurde vom Deutschen Rundfunkarchiv Frankfurt zur Verfügung gestellt. 31 Zitiert in der Dissertation von Rüdiger Bolz: Literatur und Rundfunk unter amerikanischer Kontrolle. Das literarische Programmangebot Radio Münchens 1945-1949. München 1987, S. 37. - 32 Konstantin von Bayern (wie Anm. 22), S. 56 f. - 33 Ebd., S. 41. - 34 Ebd., S. 35 ff. - 35 »Gaston in allen Gassen«. In: Der Spiegel, 10.4.1948. - 36 Konstantin von Bayern (wie Anm. 22), S. 57 f. - 37 Ebd., S. 58. - 38 Heribert Schwan: Der Rundfunk als Instrument der Politik im Saarland 1945-55. Berlin 1974, S. 135 f. - 39 »Der Mann, der über seinen Schatten sprang«. In: Deggendorfer Donaubote, 17.2.1951. - 40 »Gaston Oulmän rehabilitiert?« In: Die Rheinpfalz, Ludwigshafen, 1.3.1949. - 41 Konstantin von Bayern (wie Anm. 22), S. 61 ff. - 42 Mitteilung einer langjährigen Sekretärin Ullmanns. Für wertvolle Hinweise dankt der Autor den Herren Wolfram Becker (Frankfurt/M.), Hans Dollinger (München), Dr. Fritz Hausjell (Medien und Zeit, Wien), Dr. Werner Röder (Institut für Zeitgeschichte, München), Klaus Schumann (Redaktionsarchiv der Süddeutschen Zeitung, München) und Dr. Walter J. Schütz (Bundespresseamt, Bonn).

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Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung: Gescheitertes Projekt oder Experiment publizistischer Akkulturation?" Lieselotte Maas hat in ihrem 1985 erschienenen Beitrag Kurfürstendamm auf den Champs-Elysées? Der Verlust von Realität und Moral beim Versuch einer Tageszeitung im Exil wichtige und schwerwiegende Argumente »für ein grundsätzliches Scheitern« des Unternehmens Pariser Tageblatt / Pariser Tageszeitung (PTB/PTZ) vorgetragen. 1 Hier sollen nun, ohne freilich auf jeden Einzelbeleg einzugehen, aber doch in Auseinandersetzung mit der Gesamtargumentation, Überlegungen und Gesichtspunkte vorgetragen werden, die zu einer anderen, positiveren Einschätzung anregen wollen. Dazu gehören neben zum Teil abweichenden oder modifizierten Urteilen über den Stellenwert spezifischer Exilprobleme in der Redaktionsgeschichte des PTB/PTZ die Frage nach Einheit und Vielfalt, nach Umfang, Form und Qualität des Textkorpus des PTB/PTZ und schließlich als methodologischer Aspekt die Einbeziehung vergleichender Fragestellungen in Anlehnung an die Akkulturationsforschung. 2 Unsere Ausgangsthese, die wir im folgenden erläutern wollen, lautet, daß das PTB/PTZ nicht so sehr als gescheitertes Projekt des Weimarer Journalismus im Exil, sondern als Experiment publizistischer Akkulturation angesehen werden muß. 1. Die erste Frage gilt den materiellen Grundlagen der Publikations- und Redaktionsgeschichte. Maas' Einwand, es hätten »unter den spezifischen Bedingungen des Exils nahezu alle journalistischen, organisatorischen und materiellen Voraussetzungen« »für eine richtige Tageszeitung« gefehlt3, ist zu differenzieren. Die Finanzdecke war während der gesamten Erscheinungszeit außerordentlich knapp. Auch wenn Profite erarbeitet wurden, wurden sie meistens nicht in die Zeitung investiert.4 Chronische finanzielle Engpässe führten zu wiederholten Redaktionskrisen und bestimmten also zum Teil die Redaktionsgeschichte. Materielle Gründe waren mitursächlich für die Entlassung bzw. Nichteinsteilung von Redakteuren (Manfred Georg 1937/38), für die schlechte und fast systematisch verschleppte Bezahlung freier Mitarbeiter, die Praxis kurzfristiger Verträge fester Mitarbeiter. Das hatte einschränkende und negative Folgen für die Qualität der Zeitung, die

* Das PTB/PTZ erschien zwischen Dezember 1933 und Februar 1940 in Paris. Die wichtigsten Unterlagen befinden sich im Zentralen Staatsarchiv Potsdam, DDR, in den Nachlässen Pariser Tageszeitung, Georg Bernhard und anderen. Wegen des Thesencharakters des Beitrags haben wir davon abgesehen, die Nachweise im einzelnen zu benennen. Eine erste Fassung dieser Thesen wurde von uns vorgestellt auf der Arbeitstagung unseres Forschungsprojekts zur deutschen Exilpresse in Frankreich an der Universität Paris 8 im Dezember 1988 in Paris.

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Kontinuität, Professionalität und Sorgfalt, mit der sie als Ganzes gemacht wurde, aber auch für wichtige Sparten wie das Feuilleton, die Lokalseite oder etwa den Frauen- und Reiseteil. Ein solches Finanzchaos, insbesondere unter Fritz Wolff, dem Verleger der PTZ (1936-1940), hatte jedoch Methode und wurde nicht selten zur Durchsetzung redaktionspolitischer Strategien des Verlegers eingesetzt (Ersetzung von Caro, Breuer, Kaiser durch Bornstein, Fingal und Biermann) sowie als ständiges Druckmittel gegen Status- und Honorarforderungen von Mitarbeitern und Redakteuren ausgenutzt. Zugleich gelang es durch Krisenmanagement und eine halbwegs kontrollierte Finanzstrategie der Flucht nach vorn, den Fortbestand der Zeitung bis September 1939 und darüber hinaus bis Februar 1940 unter den vielfach eingeschränkten »unnormalen« Bedingungen des Krieges zu sichern. Trotz Finanzmisere und Redaktionskrisen gehörten der Chefredakteur Georg Bernhard (mit sehr hohem Gehalt) bis Ende 1937, Redakteure wie Richard Dyck bis April 1937, Erich Kaiser bis November 1938, Kurt Caro bis Januar 1939, Carl Misch (mit wechselndem Status) von Juni 1936 bis Februar 1940, also während längerer Phasen, der Zeitung an und sorgten zusammen mit einem festen Stab freier Mitarbeiter (Paul Bekker bis 1936, Alfred Kerr, Rudolf Olden, Joseph Roth, Erich Gottgetreu, Karl Loewy, Paul Westheim, Harry Kahn, Arkadij Maslow, Paul Marcus, Edgar Katz, R.U. Rose, Herbert Weichmann, Bruno Altmann, Siegfried Marek, Maria Arnold und Gertrud Isolani) für Kontinuität der politischen und wirtschaftlichen Berichterstattung, der Theater-, Film-, Kunst-, Musik- und Literaturkritik, des Lokal- und Sportteils. Zu nuancieren ist auch im Fall von PTB und PTZ die Feststellung L. Maas', Journalisten im Exil seien »abgeschnitten« gewesen »von den Nachrichtendiensten der Welt, einem normalen Korrespondenznetz und anderen journalistischen Instrumentarien«5. Verträge mit Havas (deren Vergütung allerdings zeitweise zu Finanzkrisen führte), mit der Jüdischen TelegraphenAgentur, mit inpress, mit Korrespondenzbüros wie Coopération (zu deren Leitung Georg Bernhard bereits in Berlin vor der Übersiedlung nach Paris gehörte), mit Informationsdiensten wie Berthold Jacobs UZD (Unabhängiger Zeitungsdienst), Walter Fabians Bureau International de Documentation, den Deutschen Informationen gaben der Nachrichtenredaktion immerhin eine Basis, die durch eine tägliche Presseschau über die französische und die internationale Presse vervollständigt wurde. Hinzu kommt, daß Paris bis zum Kriegsausbruch als ein Hauptumschlagplatz von Nachrichten im damaligen Weltkommunikationssystem gelten kann. Zwar fehlten dem PTB/ PTZ regelrechte Korrespondenten in den meisten Ländern, es hatte aber sehr wohl regelmäßige Mitarbeiter in der Tschechoslowakei, in England und den USA sowie zahlreiche spontane Informanten unter ihren Lesern in vielen Asylländern. Zu französischen und ausländischen Journalisten verliefen die Beziehungen nicht einseitig. Wenn der elsässische sozialistische Abgeordnete Salomon Grumbach im PTB/PTZ zahlreiche Beiträge über französische Politik (anonym) schrieb, so wurden deutsche Exiljournalisten und

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-schriftsteiler von französischen Zeitungen nicht selten als qualifizierte Deutschlandspezialisten betrachtet (und zwar nicht nur von der Dépêche, die allein 85 Beiträge von Heinrich Mann, 76 von Georg Bernhard veröffentlichte6). Ein Zeichen der relativen Attraktivität der Zeitung, trotz ihrer eingeschränkten Arbeitsbedingungen, ist die Käufer- und Abonnentenzahl, die zwischen April 1937 und Juni 1939 (für den Zeitraum liegen genaue Zahlen vor), mit einem Einbruch im Jahr 1938, stabil ist: Von 11 000 - 12 000 im Jahr 1937 fällt sie auf 8 000 - 9 500 im Jahr 1938, erreicht aber 1939 wieder mehr als 10 000 Interessenten. Natürlich war das PTB/PTZ ein »Warenhaus mit beträchtlichen Material-« und man kann hinzufügen: Personal-»problemen«7: Das aber unterscheidet dieses Blatt nicht grundsätzlich von anderen Tageszeitungen — wie die Zeitung als »Ware« insgesamt dazu disponiert ist, den redaktionellen Teil als Kostenfaktor unter dem Aspekt der knappen Ressourcen zu behandeln. Nicht anders das PTB/PTZ, dessen redaktioneller Schriftwechsel bei genauer Auswertung der Autorenkorrespondenz — der Mahnbriefe für ausstehende Honorare, aber auch der Zurückweisung von Manuskripten oder etwa der Arbeitsverträge der Angestellten und Mitarbeiter, gerichtlicher Auseinandersetzungen wegen Einstellung und Kündigung ein getreues Bild der Praxis eines kommerziellen Zeitungsunternehmens abgeben würde. Nicht die Tatsache der von L. Maas geschilderten materiellen Probleme und Konflikte also, sondern allenfalls das Ausmaß wäre ein Indiz für den Sonderfall publizistischer Arbeit im Exil. 2. Unsere Position läßt sich verdeutlichen mit dem Hinweis auf den kommunikativen Aspekt der Zeitung. Die Frage des Scheiterns oder Erfolgs der Zeitung stellt sich so dar als Problem redaktioneller Selbstdarstellung und der Durchsetzung publizistischer Strategien innerhalb der Öffentlichkeit des Exils und des Gastlands Frankreich. Soll man das PTB/PTZ mit L. Maas, Ursula Langkau-Alex8 und Walter F. Peterson in erster Linie als Sprachrohr einiger weniger profilierter Journalisten wie Georg Bernhard, Kurt Caro, Carl Misch und Joseph Bornstein verstehen oder sollte man nicht vielmehr versuchen, die Zeitung in der Gesamtheit namentlich publizierter und anonymer Beiträge, redaktioneller und nichtredaktioneller Texte als publizistische Institution zu begreifen? Folgt man unserem Vorschlag, so wird das redaktionelle Erscheinungsbild des PTB/PTZ sogleich sehr komplex. Neben den Leitartikeln und Kommentaren Georg Bernhards und anderer Redakteure stehen die weitgehend anonymen redaktionellen Beiträge der Sparte »Blick nach Deutschland«, der Presseschau und des Lokalteils. Gleichzeitig fällt die große Zahl von zumeist namentlich gekennzeichneten Beiträgen von Gästen, festen wie freien Mitarbeitern in allen Sparten der Zeitung auf. Diese nichtredaktionellen Beiträge treten nicht so »zufällig« auf, wie L. Maas unterstellt, sondern sind als Reihen und Serien angelegt: so etwa Heinrich Manns Leitartikel im Jahr 1935, Joseph Roths und Rudolf Oldens sich über den gesamten Erscheinungsraum erstreckende Gastkommentare und Leit-

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artikel, Hans Wilhelm von Zwehls Saarberichte 1934 (unter dem Pseudonym Jean Christophe), Arnold Zweigs Palästina-Serie im Jahr 1938 oder Erika und Klaus Manns Spanienreportage im selben Jahr. Ahnliches gilt, wenn nicht deutlicher, für das Feuilleton mit Artikelserien von Hans Wilhelm Zwehl (1934), A.M.E. (Hermann Wendel) (1934-1936), Arkadij Maslow (1935-1937), Hesekiel (Pseud.: 1939) sowie den regelmäßigen Beiträgen Max Hochdorfs, Klaus Manns, Alfred Wolfensteins, Ferdinand Hardekopfs, Gertrud Isolanis, die zum Teil - wie auch Joseph Roth - gleichzeitig Autoren von im PTB/PTZ abgedruckten Fortsetzungsromanen waren. Eine besondere, Kontinuität und Homogenität der redaktionellen Institution betonende Rolle spielten dabei die festen Mitarbeiter und die unter Pseudonym publizierenden Redakteure: Paul Westheim und Paul Bekker, Alfred Kerr und Harry Kahn, Bruno Altmann, Siegfried Marek sowie Richard Dyck (Dufour) und Erich Kaiser (egrt) für das Feuilleton; Erich Gottgetreu und Karl Loewy für die Palästina-Berichterstattung, Herbert Weichmann für den Wirtschafts- und Edgar Katz (Joe Edgar, Joe) für den Sportteil. Und schließlich ist hier auch an die redaktionelle Einbindung französischer Autoren wie Salomon Grumbach und Paul Allard (1936) zu denken, auf denen der Hauptteil der Kommentare zur französischen Politik und Diplomatie beruht. Im ganzen gesehen werden redaktionelle Tätigkeit und freie Mitarbeit durch zwei gegenläufige Tendenzen charakterisiert: durch die Festschreibung journalistischer Verantwortlichkeit innerhalb des vorgefundenen und sich weiter differenzierenden Systems der einzelnen Sparten der Zeitung, gleichzeitig aber durch eine Entspezialisierung journalistischer und literarischer Arbeit, die dazu führt, daß dieselben Autoren an den verschiedenen Teilen der Zeitung mitarbeiten. In der Praxis haben sich beide Tendenzen eher ergänzt. Das gilt für das Verhältnis von Politik und Feuilleton: politische Redakteure wie Carl Misch und Kurt Caro haben nicht nur bei der Auswahl der im Feuilleton zu veröffentlichenden Texte und der Vergabe von Rezensionen mitentschieden, sondern gelegentlich selbst Feuilletons und Buchkritiken verfaßt. Umgekehrt stand die erste Seite Schriftstellern wie Joseph Roth, Heinrich Mann, Arnold Zweig, dem Kunstkritiker Paul Westheim und festen journalistischen Mitarbeitern wie Hans Wilhelm von Zwehl und Fritz Lieb grundsätzlich offen. Auch im Feuilleton und Lokalteil überlagerten sich beide Tendenzen: Die langjährigen Lokalredakteure Erich Kaiser und Richard Dyck schrieben Filmkritiken, Hermann Wendel und Robert Breuer schrieben für das Feuilleton und den Lokalteil, Starkritiker wie Paul Bekker und Paul Westheim verfaßten literarische Texte. Die Entspezialisierung hatte fraglos ökonomische Gründe; sie erklärt sich aus dem Zwang zur Improvisation und Zusammenlegung journalistischer Funktionen angesichts der angespannten Finanzlage der Zeitung. Sie stellt aber zugleich eine publizistische Antwort dar auf die Akkulturationsprobleme der Zeitung und ihrer Leserschaft, deren Hauptproblem die Orientierung im Exilalltag war: Das führte in der redaktionellen Praxis dazu, daß sich neue

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übergreifende Schwerpunkte zu Paris und Frankreich herausbildeten. Und sie ist langfristig die Reaktion auf die in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren manifest werdende, nicht nur auf die Zeitung beschränkte Krise der Verständnisses von Politik, Kultur und Alltag. Diese Hinweise sind zunächst einmal als Indiz dafür zu werten, daß zumindest versucht wurde - auch oder gerade unter den Bedingungen des Exils - , eine redaktionelle Form zu finden, die dem publizistischen »Image« des PTB/PTZ eine gewisse Homogenität verlieh und zugleich eine Pluralität des inhaltlichen Ausdrucks und der sprachlichen Form nicht nur notgedrungen in Kauf nahm, sondern aus kommunikationsstrategischen Gründen bewußt praktizierte. 3. Sehr eng mit dem - von L. Maas ausgeklammerten - Axiom der Zeitung als Ware und als Medium der Kommunikation hängt die unterschiedliche Bewertung der /Tfl-Affäre zusammen, die 1936 beginnt und sich bis 1938 hinzieht. In der Darstellung ihres Verlaufs und der Schuldzuweisung folgen wir den Ausführungen von L. Maas, U. Langkau-Alex und auch der ausführlichen Darstellung Petersons weitgehend. Wir haben auch keine Bedenken, den Vorgang selbst, der zur Neugründung der Zeitung (als PTZ) unter Ausschaltung des bisherigen Verlegers Wladimir Poliakoff führte, als »Skandal« und als »konspiratives Komplott«9, wie L. Maas es vorschlägt, zu bezeichnen. Allerdings scheinen uns die Ursachen nicht in erster Linie exilspezifisch zu sein. Sie hängen unseres Erachtens weniger mit den publizistischen Arbeitsbedingungen des Exils oder gar, wie L. Maas an anderer Stelle betont, mit einer »tiefgreifenden moralischen und journalistischen Krise in der Redaktion des PTB« zusammen10 - so wenig der Einfluß dieser Faktoren in Abrede gestellt werden soll. Wir sehen die Ursachen der Affäre auch nicht wie Peterson in einem spezifischen »Dilemma linksliberaler deutscher Journalisten im Exil«11. Schließlich: Von »dem ganz generellen Zusammenbruch früherer Hoffnungen und damit den allgemeinen Enttäuschungen der Emigranten«12 läßt sich 1936 noch nicht reden, da dieses Jahr trotz Konsolidierung des NS-Regimes und der ersten Moskauer Prozesse im Bewußtsein der politisch interessierten Emigration noch deutlich im Zeichen der Bemühungen um eine deutsche Volksfront stand. Auch laden die Erfolge der Volksfront in Frankreich und Spanien sowie der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs zunächst zu einem verstärkten Zusammengehen der antifaschistischen Kräfte ein. Wenn auch gravierende Krisen- und Konfliktfaktoren schon 1936 angelegt sind - wozu auch die iTß-Affäre gehört - , so brechen die politischen Hauptkonflikte öffentlich erst 1937 aus. Die eigentliche Ursache des PTB-»Skandals« liegt für uns in den sozialen Grundverhältnissen publizistischer Arbeit und Produktion begründet: Wie jedes Kommunikationsmedium ist auch die Zeitung im Kapitalismus als Ware zugleich Ausdruck kommerzieller Spekulation und kritischen Räsonnements. Gegenstand also widersprüchlicher Interessen, deren Marktseite durch den Verleger (in der Tradition der Presse der Annoncen- und

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Anzeigenakquisiteur, der wie Mosse und Ullstein seinem Unternehmen die Zeitung anschließt), deren Öffentlichkeitsseite durch die Redakteure und Journalisten vertreten werden. Es ist dieser strukturelle Konflikt, der - übrigens in Wiederholung eines gleichgelagerten Falles aus dem Jahr 1930 zwischen Georg Bernhard als Chefredakteur und Franz Ullstein als Verleger der Vossischen Zeitung - zwischen dem Annoncenunternehmer und Verleger Wladimir Poliakoff und der Redaktion unter Georg Bernhard ausbricht. Allerdings wird dieser strukturelle Grundkonflikt durch die exilbedingte konjunkturelle Ausformung des Pressemarktes stark mitgeprägt, das heißt durch die Monopolstellung des PTB als einziger Tageszeitung innerhalb der gesamten Exilpresse dieser Jahre.13 Darüber hinaus wird er überlagert, ja sogar überformt - und erst in dieser Form tritt er in die Öffentlichkeit durch einen politischen Konflikt, in dem Bernhard und die Reaktion um politischen Einfluß, um eine publizistische Führungsposition innerhalb der Exilöffentlichkeit und um Anerkennung in der französischen und internationalen Öffentlichkeit kämpfen. Der strukturell angelegte Grundkonflikt zwischen Verleger und Redaktion, der sich infolge von Finanzmisere und Mißwirtschaft entwickelt hat, kommt gerade in einer Phase der wachsenden Formierung der politischen Emigration unter dem Motto einer deutschen Volksfront zum Ausbruch, über deren Ziele und Auffassungen, neben dem unverkennbaren neuen Einigungswillen, übrigens große politische Unterschiede unter den tragenden Kräften bestehen bleiben und deren publizistische Mittel trotz Gründung des Informationsdienstes Deutsche Informationen im März 1936 recht begrenzt sind. Unter solchen Bedingungen konnte es zum Tauziehen um das PTB kommen, das als einzige Tageszeitung des Exils eine Sonderstellung auch für die anvisierte politische Formierung einnahm und das sich gleichzeitig am Rande des wirtschaftlichen Ruins befand, dessen Zukunft vollkommen unsicher war und dessen künftiger Kurs allein von der vom Verleger ins Auge gefaßten wirtschaftlichen Lösung abhing. So erscheint es nahezu zwangsläufig, daß der Ausgangskonflikt zwischen dem Verleger und der Redaktion sich schrittweise ausweitete zu einem Konflikt zwischen der Redaktion des Nachfolgeorgans PTZ und anderen publizistischen Meinungsmachern des Exils wie Leopold Schwarzschild, der mit dem Neuen Tage-Buch über ein innerhalb der Exilöffentlichkeit und in Frankreich selbst einflußreiches Presseorgan verfügte. Bei der sich weitgehend verselbständigenden Entwicklung der PTB-Affäre ging es dann nicht mehr nur um Führung und Kurs dieser Zeitung, sondern allgemeiner um Führungsansprüche und politisch-ethische Legitimation innerhalb der Exilöffentlichkeit. (Hier übrigens dürfte - neben älteren, vor 1933 zurückliegenden Konflikten - auch eine Erklärung für die Schärfe der Auseinandersetzung zwischen Bernhard und der FTZ-Redaktion einerseits, Schwarzschild andererseits in dem Nachfolgekonflikt liegen. Davon, daß bei allem Pochen auf rein ethische Ziele eine Einflußnahme auf den Kurs der PTZ von Schwarzschild mit

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angestrebt wurde, scheint uns allerdings die Berufung des damaligen Chefredakteurs des Neuen Tage-Buchs, Joseph Bornstein, zum Chefredakteur der PTZ im Dezember 1938 durch den Verleger Fritz Wolff zu zeugen.) Nicht der strukturelle Konflikt der Presse zwischen Öffentlichkeit und Markt, auch nicht die Tatsache, daß der publizistische Skandal zur politischen Affäre wird, sondern der besondere Inhalt des politischen Konflikts in Zusammenhang mit der Monopolstellung von PTB und PTZ sind an der PTB-Aifäic »emigrationsspezifisch«: Aus dem publizistischen Skandal wird ein politischer Skandal der deutschen Volksfront. Daher unser Vorschlag: Entstehung und Verlauf, Polemik und Kleinkariertheit des Konflikts im Zusammenhang mit dem politischen Kräftefeld der Volksfront, den moralischen Ressourcen und institutionalisierten Verhaltensweisen der politischen und kulturellen Öffentlichkeit des deutschen Exils in Frankreich - und weniger als charakteristische Krise des Exiljournalismus - zu begreifen. Insofern teilen wir die Schlußfolgerungen, die U. Langkau-Alex aus dem politischen Skandal um das PTB zieht: »Die Affaire und ihre Auswirkungen erscheinen in der Retrospektive als ein Signal für die künftigen Krisen und die schließliche Lahmlegung des Ausschusses zur Vorbereitung einer Deutschen Volksfront«. 14 4. Der entscheidende Vorwurf gilt der inhaltlichen Seite des PTB/PTZ. So meint L. Maas, »Spuren eines erkennbaren Programms (seien) nur schwer auszumachen« und nennt als »Charakteristikum« der Zeitung »die zufällige Mischung«15. Als Beweis folgt ein recht kursorischer Gang durch die Zeitung und ihre Sparten - wobei nicht ganz deutlich wird, ob die Aufmachung und publizistische Qualität der einzelnen Sparten oder ihre Existenz an sich schon den Vorwurf der »zufälligen Mischung« belegen sollen. Nun sind Kriterien, wie sie hauptsächlich bei der Erforschung der Exilzeitschriften entwickelt wurden, nicht unverändert anzuwenden auf die Tagespresse des Exils. Einerseits erscheint uns der Aufbau des PTB/PTZ in der Folge: politische Nachrichten und Kommentar /Leitartikel (S. 1), Blick nach Deutschland und Presseschau (S. 2), Lokales (S. 3), Feuilleton und Wirtschaft (S. 4) sowie ein zweiseitiges zusätzliches Feuilleton am Sonntag durchaus professionell - wenn wir auch den Wechsel und die Kurzlebigkeit mancher Einzelrubriken, wie etwa der Frauenseite, der satirischen Sparte »Ulk«, der Kritik des »Neuen Buchs« oder der Zeitschriftenschau des Exils nicht in Abrede stellen wollen. Andererseits entfaltet sich das Gesicht der Zeitung gerade über diese einzelnen Sparten und Rubriken, unter denen sich so wichtige wie die wöchentlichen kunstkritischen Beiträge Paul Westheims, die regelmäßigen Musikbesprechungen - jedenfalls zu Paul Bekkers Zeit - und so interessante wie die wöchentliche Filmseite, die Pariser Lokalberichterstattung und das Paris-Feuilleton befinden. So gesehen, erwarten wir gerade von der Untersuchung des Ganzen und der Teile des PTB/PTZ, der »Institution« Zeitung und ihres vielstimmigen Redakteurs Einblicke in ein vielfältiges, sicher nicht unbedingt widerspruchsfreies, Programm. Nicht »zufällige Mischung«, sondern Mosaik erscheint uns

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als angemessene, durch Einzeluntersuchungen freilich noch zu legitimierende Bezeichnung für die Struktur des Textkorpus. Anzuschließen ist hier die Frage nach den Kriterien für die Analyse des Inhalts und Programms der Zeitung. L. Maas schwächt, wenn wir richtig sehen, ihren Vorwurf der Programmlosigkeit im Verlauf der Darstellung insofern ab, als sie verschiedene redaktionelle Phasen benennt: eine im wesentlichen unpolitische Phase zwischen Ende 1933 und Mitte 1936, eine »Einheitsfront«-Phase der deutschen Emigration zwischen 1936 und 1938, eine politisch defensive, »Meinungsverschiedenheiten« der Emigration ausklammernde Phase von Ende 1938 bis zum Kriegsausbruch im September 1939 und eine Schlußphase, in der die Zeitung »zur bloßen Vermittlerin wichtigster Tagesnachrichten geschrumpft« ist.16 Diese Einteilung erscheint uns nachvollziehbar. Jedoch wäre für die Phase 1933-1936 der negativen Bezeichnung »unpolitisch« eine Definition vorzuziehen, die an der Fragestellung orientiert ist, ob sich nicht gerade aus demselben Grundinteresse für eine Zusammenfassung und Interessenvertretung der Emigration, das sich zunächst - »unpolitisch« - in kritischen Kommentaren zu den Hilfskomitees äußert, ab 1935 eine positive Aufmerksamkeit für die ersten Schritte in Richtung einer diesmal politischen Einigung der Emigration entwickelt - wobei das Politikverständnis von Bernhard und Caro, später auch von Fritz Wolff zu untersuchen wäre. Für die Phase 1936 - 1938 könnte man als Motto das Urteil über die PTZ von Max Braun, Jacob Walcher und Georg Bernhard übernehmen: »Die >Pariser TageszeitungPariser TageblattsKonjunktur< und >AkkulturationWollten die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen?< Die Feuilletonkonzeption der Frankfurter Zeitung während der Weimarer Republik im redaktionellen Selbstverständnis«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjS) 1988, H. 4, S. 697-740. - 30 Zit. ebd., S. 736. - 31 Christian Fritsch / Lutz Winckler »Kunstkrise, Gesellschaftskrise. Zum Stellenwert der Deutschlandthematik und Faschismuskritik im Exilroman«. In: Dies. (Hg.): Faschismuskritik und Deutschlandbild im Exilroman. Berlin 1981, S. 5-15. - 32 Lutz Winckler Autor - Markt - Publikum (wie Anm. 25), S. 13-22; Kurt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Berlin 1966 (Margot Lindemann / Kurt Koszyk: Geschichte der deutschen Presse. Teil 2). - 33 Peterson: Berlin Liberal Press (wie Anm. 4), S. 79 ff. - 34 Maas: »Kurfürstendamm...« (wie Anm. 1), S. 106. Vgl. dazu auch Gilbert Badia u.a.: Les Barbelés de l'exil. Etudes sur l'émigration allemande et autrichienne (1938-1940). Grenoble 1979, S. 16 ff. - 35 Vgl. dazu auch Todorow: »Eintagsfliegen« (wie Anm. 29), S. 725 f. - 36 Vgl. Peterson: Berlin Liberal Press (wie Anm. 4), S. 88 ff.

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Literaturkritik in Exilzeitschriften: Die neue Weltbühne

i Die Wahl eines politischen Blattes als Gegenstand einer Untersuchung über Literaturkritik im Exil mag auf den ersten Blick überraschen. Die zunächst von Willi Schlamm und ab 14. März 1934 von Hermann Budzislawski geleitete Nachfolgerin von Jacobsohns und Ossietzkys Weltbühne ist ja in erster Linie durch ihren Kampf für eine »deutsche Volksfront« bekannt geworden. Und der Raum, den Rezensionen1 und Aufsätze über literarische Themen in der Neuen Weltbühne einnahmen, war tatsächlich verhältnismäßig bescheiden, denn oft war der politische Leitartikel allein umfangreicher als die gesamte Kulturchronik. Diese eher quantifizierenden Beobachtungen dürfen aber andere - in unserem Rahmen wichtigere — Fakten nicht aus dem Blickfcld geraten lassen. Im Gegensatz zu den literarischen Zeitschriften, die meistens kurzlebig waren, gehört Die neue Weltbühne zu den wenigen Presseorganen der deutschen Emigration, die von Hitlers Machtübernahme bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschienen.2 Deswegen bietet sie größere Chancen, sich ein Bild von der literarischen Produktion des Exils und ihrer Rezeption zu machen als etwa Die Sammlung oder Das Wort. Allein die Zahl der in der Neuen Weltbühne besprochenen Bücher macht die Bedeutung erkennbar, die diese Zeitung im literarischen Leben der Emigration hatte. Von 1933 bis 1939 wurden in der Neuen Weltbühne 186 Bücher rezensiert, das heißt fast dreißig im Jahr. Rein literarische Werke sind in dieser Statistik mit 136 Titeln vertreten und essayistische bzw. politische Bücher mit 50. Das Blatt nahm sich in erster Linie der Exilliteratur an, der 80 % der Rezensionen gewidmet waren; 15 % der besprochenen Bücher stammten von ausländischen Schriftstellern und 5 % von reichsdeutschen Autoren. Es ist aber nicht bloß die Zahl der rezensierten Titel, die eine Untersuchung über Literaturkritik in der Neuen Weltbühne rechtfertigt. Die Zeitschrift nahm auch an den wichtigen literaturtheoretischen Auseinandersetzungen der dreißiger Jahre teil: Expressionismusdebatte, Kontroverse über literarische Avantgarde, Diskussion über sozialistischen Realismus und Kulturerbe. Lieselotte Maas ist der Ansicht, daß nach Übernahme der Redaktion der Neuen Weltbühne durch den Linkssozialisten und ehemaligen Sozialdemokraten Hermann Budzislawski die politische Grundtendenz der Wochenzei-

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tung »ohne Zweifel (...) der KPD insgesamt höchst willkommen«3 gewesen sei. Aber sie unterstreicht auch, daß es Budzislawski gelungen sei, Die neue Weltbühne zu einem »offenen und generell diskussionsfreudigen Blatt«4 zu gestalten. Dies gelte insbesondere für die »Literaturkritiken, (in denen) sich die Zeitschrift ausgesprochen pluralistisch« gegeben habe.5 »Pluralistisch« ist Die neue Weltbühne ohne Zweifel gewesen. Obwohl sie oft andere Bücher empfahl als Schwarzschilds Neues Tage-Buch6, wurden in ihr linke Autoren nicht eindeutig favorisiert. Werke von Willi Bredel7 und Bertolt Brecht8 wurden mit je vier Rezensionen zwar öfter besprochen als Bücher von Thomas Mann®, dem nur zwei Beiträge gewidmet wurden. Aber Lion Feuchtwanger10 wurde fünfmal rezensiert und mit je vier besprochenen Titeln schnitten Max Brod" und Joseph Roth12 besser ab als Johannes R. Becher13, von dem nur zwei Bücher den Lesern empfohlen wurden. Die Mitarbeiter der Neuen Weltbühne verstanden Literaturkritik als aktiven Beitrag zur Gestaltung eines freien deutschen Kulturlebens. Und je nach ihrer politischen Zugehörigkeit definierten sie die Aufgabe des Kritikers unterschiedlich. Die Linksbürgerlichen sahen es in erster Linie als ihre Pflicht an, »die Bücher emigrierter Autoren zu besprechen (...), um die deutsche Literatur am Leben zu erhalten.«14 Die Marxisten interessierten sich ihrerseits vor allem für antifaschistische Literatur, und ihr Ziel war »nicht nur den Leser zu informieren, Gutes zu loben, Schlechtes abzulehnen, sondern auch, (den Autoren) zu helfen, um (sie), sofern nur eine Möglichkeit dazu besteh(e), für den antifaschistischen Kampf zu gewinnen, bzw. zu aktivieren.«15 Die bekanntesten linksbürgerlichen Mitarbeiter der Neuen Weltbühne waren Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Klaus Mann, Emil Ludwig, Berthold Viertel und Arnold Zweig. Als Anhänger der »Volksfront« blieben sie dem Blatt bis zu dessen Verbot durch die französischen Behörden treu; und etwa zur Hälfte stammten die Rezensionen in der Neuen Weltbühne von ihnen und anderen Autoren ihrer Denkrichtung. Die eigentlichen Beiträge zu ästhetischen Fragen, die Die neue Weltbühne brachte, wurden hingegen fast ausnahmslos von Marxisten bzw. Kommunisten verfaßt. Daraus ist jedoch nicht die Schlußfolgerung zu ziehen, diese hätten dafür gesorgt, daß die Wochenzeitung in ihrem literaturkritischen Teil eine strikt »orthodoxe« Linie einhielt. Von einigen Fällen abgesehen, waren die marxistischen oder kommunistischen Kritiker der Neuen Weltbühne - wie Franz Carl Weiskopf16, Rudolf Leonhard17, Ernst Bloch - im Ästhetischen keine Dogmatiker, obwohl einige ihrer Urteile durchaus den Einfluß von Georg Lukäcs erkennen ließen. II In der Allgegenwart der Politik sahen fast alle deutschen Exilschriftsteller18 einen der wesentlichen Faktoren, die ihr Schaffen bestimmten. Diese Überzeugung fand auch ihren Ausdruck in den Buchbesprechungen der

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Neuen Weitbühne, die sehr häufig gleichzeitig politische Stellungnahmen waren. Dies war schon der Fall unter Schlamms Redaktionsführung. Wie aus dem Ende 1933 publizierten Beitrag über Ferdinand Bruckners Die Rassen19 hervorgeht, kam es sogar vor, daß in der Neuen Weltbühne Rezensionen buchstäblich umfunktioniert wurden. Der Verfasser kümmert sich hier fast nicht um Bruckners Stück. Für ihn ist die Aufführung von Die Rassen lediglich ein Anlaß, die Unmöglichkeit einer »Pauschalverteidigung des Judentums« zu beweisen und die jüdischen >Wirtschaftsemigranten< anzugreifen. Als Budzislawski Die neue Weltbühne leitete, wurden nicht selten Rezensionen publiziert, die hauptsächlich zur Unterstützung der politischen Linie der Kommunisten dienten. So stellte Werner Türk — ein ehemaliger Mitarbeiter der Roten Fahne - in seinem Beitrag über Alfred Döblins Essayund Prosasammlung Flucht und Sammlung des Judenvolkes die Fehler bloß, die »jüdische Nationalisten« wegen ihrer »politischen Romantik« im Kampf gegen den Nationalsozialismus begingen. Döblins Auffassungen schienen Türk auch anfechtbar, weil er »in seiner Erörterung des jüdischen Problems mit keinem Wort die sozialistische Bemühung um die Lösung der Judenfrage streif(e)«. Und an diese Bemerkung knüpfte Türk den Hinweis, daß in der UdSSR das jüdische Problem gelöst sei, denn »die über zweieinhalb Millionen jüdischen Sowjetbürger (würden) keineswegs vor die Alternative getrieben (...), zu verschwinden oder Eigenland im Sinn des >N(euen) T(erritorialismus)< zu suchen.«20 Nicht nur essayistische Werke wurden in der Neuen Weltbühne aufgrund der politischen Einstellung ihrer Verfasser beurteilt. Wie die Rezension von Hermann Brochs Stück Die Entsühnung zeigt, kam dies auch bei literarischen Texten vor. Schon der Titel des Beitrags von Joseph Halperin über das Werk: Broch flieht21 deutete an, daß Broch nicht zu den Lieblingsautoren des Rezensenten gehörte. Und daß Halperin Broch als »ehemal(igen) Direktor eines Textilkonzerns« vorstellte, war geeignet, diesen dem Leser sofort unsympathisch zu machen. Die eigentlichen Kommentare über Die Entsühnung dienten fast ausschließlich zur Rechtfertigung der These, daß man ein Werk nicht empfehlen könne, dessen Figuren aufgrund der sozialen Herkunft des Autors nicht nach der >eigentlichen< sozialen und politischen Wirklichkeit gestaltet seien. Folgerichtig endete die Besprechung mit einer kaum verhüllten Aufforderung, von einer weiteren Beschäftigung mit Broch abzusehen: »Er flieht vor der konsequenten Gestaltung der Wirklichkeit in verborgene, verlogene Lösungen, und darin ist er repräsentativ für den Literaten, den kümmerlichen Vogel, der weder sterben noch fressen will.«22 Es war keine Seltenheit, daß Mitarbeiter der Neuen Weltbühne (ähnlich wie vor 1933 die Mitglieder des BPRS23) ihre Rezensionen nach dem Grundsatz: »politische Fehler haben immer negative Folgen im ästhetischen Bereich« gestalteten. Werner Türk beurteilte epische Werke positiv, wenn

Die neue Weltbühne 139 man sie »mit bestem literarischen und sozialistischen Gewissen jungen Menschen in die Hand geben«24 durfte. Hermann Kestens Roman Der Gerechte gehörte nicht zu den Büchern, die Türk in dieser Hinsicht empfehlenswert schienen. Türk zufolge zeigte Der Gerechte eher, wie begründet das Mißtrauen gegen einen Schriftsteller sei, der die richtigen Entscheidungen noch nicht getroffen habe. Denn der Roman sei bloß eine »Jeremiade über das Fiasko der Gerechtigkeit« und beweise, daß »ein ideologisch bedingter Mangel an sozialem Wahrheitsgehalt selbst auf die Werkform (...) einen ungünstigen Einfluß ausüben (müsse).«25 Für viele Mitarbeiter der Neuen Weltbühne war Literaturkritik ein unmittelbarer Beitrag zum politischen Kampf. Dies galt in erster Linie für die Arbeiten, die die reichsdeutsche Bücherproduktion zum Thema hatten. Die Buchbilanz, die Willi Bredel vier Jahre nach der »Machtergreifung« zog, ist in dieser Beziehung aufschlußreich. Bredel verwertete in seinem Aufsatz einen Artikel aus dem (Berliner) Deutschen Wort, der zeigte, daß die deutschen Verleger immer weniger neue Titel anzubieten hatten und deswegen immer mehr auf Klassikerausgaben und Biographien ausweichen mußten. Diese Entwicklung war für Bredel der Beweis, daß Deutschland im Begriff sei, sich in »eine kulturlose Wüste inmitten der Völkerfamilie Europas zu verwandeln«26. Dies solle die Emigranten von der »(wachsenden) Verantwortung« überzeugen, »die alle frei schaffenden deutschen Schriftsteller außerhalb Deutschlands vor dem großen deutschen Volk und der ganzen Welt (trügen).«27 Mit ihren literaturkritischen Beiträgen versuchte Die neue Weltbühne das Dritte Reich noch auf andere Art zu bekämpfen: sie machte auf die Gefährlichkeit der nationalsozialistischen Literatur aufmerksam. Diesem Zweck diente zum Beispiel eine Rezension von T. Elfterwalde über einen 1936 bei Ullstein erschienenen Kriminalroman. Das Buch - so Elfterwalde - stelle eine Antwort auf die »Sehnsucht kleinbürgerlicher Leser nach Sicherheit, nach Glanz und Machtbewußtsein«28 dar. Dies geschehe in einer Weise, die den Zielen der Nationalsozialisten diene: ein »Fememörder« werde als »ganzer Kerl« geschildert, für den »Treue das Mark der Ehre«29 sei. Selbstverständlich versäume der Verfasser auch keine Gelegenheit, die »deutschen Menschen« in ein günstiges Licht zu stellen: als eine Nebenperson des Romans, »ein Kerl wie früher die alten Wikinger ausgesehen haben mögen«, vom Messer eines »schmierige(n) Marseiller(s)«30 bedroht wird, eilt ihm ein schwedischer Blutsbruder zu Hilfe und rettet ihm das Leben. Das Werk, aus dem diese Beispiele entnommen waren, erschien Elfterwalde um so gefährlicher, als es für Publikumsschichten bestimmt war, die fast keine Bücher lasen und »deren Geist (deswegen) modellierbar«31 sei. So werde mit Hilfe eines »Kriminalschmökers« »mit primitivsten Mitteln der Gehirnboden geritzt und Saat hineingelegt, die im Kriege blühen und gedeihen soll(e).«32 In ihrem Kampf gegen das Dritte Reich ging es den Emigranten hauptsächlich darum, den auf allen Gebieten vorgetragenen Anspruch der

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Nationalsozialisten, im Namen des deutschen Volkes zu sprechen, als Betrug zu entlarven. Dies erklärt, warum selbst in Rezensionen zahlreiche Hinweise auf oppositionelle Kräfte in Deutschland vorkamen. So interpretierte zum Beispiel Friedrich Burschell 1935 den Erfolg des Liebesromans Das Herz ist wach in Deutschland als ein Zeichen für die wachsende Abneigung konservativer Kreise gegen das Hitlerregime. Was Burschell zu dieser Schlußfolgerung veranlaßte, war, daß in dem Buch »die (Brüning) nahe stehenden politischen Kreise (...) aus ihrer Versenkung (emportauchten) und (...) erneut ihren Anspruch (anmeldeten).«33 Es ist schon oft nachgewiesen worden, daß die Hinweise der Emigranten auf eine Opposition im Reich eine unrealistische Einschätzung der innerdeutschen Lage verrieten. Dies trifft auch auf die entsprechenden Stellen in den Rezensionen der Neuen Weltbühne zu. Aber um diese Hinweis^ - wie alle Stellungnahmen der Emigranten - angemessen einzuschätzen, muß man sich vergegenwärtigen, welches Ziel die Exilautoren hatten: sie hofften — so Arnold Zweig in einem Beitrag über Heinrich Mann - , »die Ehre des deutschen Geistes vor einer richtenden Nachwelt (zu) retten (und zu) beweisen, daß im allgemeinen Sturz die Stimme der sittlichen Vernunft auch deutsch fortfuhr, zu reden.«34 III Um die »Ehre des deutschen Geistes« zu retten, stellten die Emigranten aber nicht bloß ihre eigenen Leistungen heraus. Es war für sie auch sehr wichtig, als die einzigen legitimen Erben der deutschen Kultur anerkannt zu werden. Dieser Aspekt stand im Mittelpunkt der Rezension, die Berthold Viertel im Juni 1938 der von Alfred Wolfenstein herausgegebenen Anthologie Stimmen der Völker widmete. Viertel zog eine Parallele zwischen diesem Buch und Herders Volksliedsammlung Stimmen der Völker, um hervorzuheben, daß Nationalismus und Provinzialismus tödliche Gefahren für den deutschen Geist darstellten. Dies werde am besten fühlbar, wenn man untersuche, was die Größe der klassischen Literatur ausgemacht habe. Denn es sei gerade die »>Förderung der Humanitär ohne nationale Grenzen« durch Herder und Goethe, die »den deutschen Boden zum Blühen und Früchte tragen«33 ermutigt habe. Was seit 1933 in Deutschland geschehe, bedeute eine radikale Abkehr von allen Werten der deutschen Klassik und zeige, daß die Emigranten beauftragt seien, »die Tendenzen weiterzupflegen, welche die deutsche Literatur einst groß gemacht«36 hätten. Als Viertels Rezension erschien, war die Diskussion um das Kulturerbe in der deutschen Emigration in vollem Gang. Eine Woche später brachte Die neue Weltbühne einen Bericht von Rudolf Leonhard über eine Lesung von Ludwig Hardt, die den deutschen Klassikern gewidmet war. Gleich zu Beginn stellte Leonhard fest, daß bei den Emigranten »eine unendlich vertiefte und verleidenschaftlichte Hingewandtheit zum deutschen Kulturgut« vorhanden sei, weil für sie »dessen Bewahrung und Bewertung Kampfziel geworden«37

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sei. Und Leonhard beendete seine Glosse mit dem Hinweis, das Verhältnis der Emigranten zu den Klassikern sei als »dialektischer Prozeß« zu verstehen, denn »jede Zeit (habe) die >Klassiker< neu, (habe) sie in ihrem eignen Verstände, zu ihrem eignen Gebrauch.«38 Was ein dialektisches Verhältnis zum kulturellen Erbe sein solle, wurde von Ernst Bloch und Hanns Eisler im Dialog Die Kunst zu erben dargelegt, der gleichzeitig eine Kritik an den Thesen der »Vulgärsoziologen«39 und an den Auffassungen von Georg Lukäcs war. Bloch und Eisler distanzierten sich von der »vulgär-soziologische(n) Kunstbetrachtung, die mit dem Nachweis der adligen oder kleinbürgerlichen Herkunft eines Dichters zugleich dessen Produktion zu erklären und herabzusetzen glaubte«, weil diese Methode geeignet sei, »das Proletariat um wichtige Bestandstücke seines Erbes (zu) betrügen.«40 Lukäcs warfen die beiden Verfasser von Die Kunst zu erben vor, er zeige in seiner Behandlung der Klassiker einen »Schematismus«, den die »lebenden Künstler« nicht billigen könnten; denn »die Mitteilung, daß alles, was in heutiger Zeit produziert wird, notwendigerweise faul sein« müsse, könne nur zu einer »künstlerischen, auch politischen Katastrophe« führen.41 Bloch und Eisler sahen nur ein Mittel, um die Fehler zu vermeiden, die sie bei den Vulgärsoziologen und Lukäcs konstatierten: man müsse die entscheidende Bedeutung der »Wechselbeziehung (zwischen) kritische(r) Beachtung der Gegenwart (und) dadurch produktiv ermöglichte(m) Erbantritt der Vergangenheit« voll anerkennen.42 Diese »dialektisch wache Zeitgenossenschaft« allein werde verhindern, daß die »kulturelle Vergangenheit (bloß) zu einem Stapelgut von Bildungsware (werde), aus dem abstrakte Rezepte gezogen«43 würden. Die von ihm empfohlene Methode hatte Ernst Bloch schon in einem Beitrag über die »Schwankungen deutscher Dichter im Verlauf der französischen Revolution«44 angewendet. Dort äußerte sich Bloch zwar sehr positiv über Hölderlin, weil dieser »den Sieg des Bourgeois wahrgenommen und beweint«45 habe. Aber er untersuchte auch ausführlich den »Abfall Klopstocks« von den revolutionären Idealen, um zu zeigen, daß wegen der »vollkommene(n) politische(n) Einsichtslosigkeit« dieses Dichters sein Werk den Antifaschisten nicht helfen könne.46 Auch Schiller empfahl Bloch nicht unkritisch zu behandeln, denn er habe im Lied von der Glocke »ein besonderes Attachement an kleinbürgerliche Sitte und Ordnung gezeigt« und sich unter Goethes Einfluß von den Ideen seiner Jugend »ablenken« lassen.47 IV Als die Diskussion um das Kulturerbe stattfand, stand die »Volksfront« in der deutschen Emigration im Mittelpunkt der politischen Debatte. Die Entwicklung der Volksfrontpolitik bis zu deren Scheitern beeinflußte den literaturkritischen Teil der Neuen Weltbühne erheblich. Die Folgen, die die Entscheidung der Kommunisten für die Volksfronttaktik auch in der Einschätzung schriftstellerischer Leistungen hatte, lassen

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sich leicht nachweisen, wenn man die Beiträge untersucht, die Heinrich Mann in der Neuen Weltbühne nach dem Wechsel an der Spitze der Redaktion gewidmet wurden. Während Der Haß im Herbst 19334®, als Willi Schlamm das Blatt noch redigierte, allen Emigranten zur Lektüre empfohlen worden war, wurde das nächste Buch von Heinrich Mann, Der Sinn dieser Emigration, unter Budzislawskis Redaktionsführung ziemlich kühl aufgenommen. Werner Türk, dessen Mitarbeit an der Neuen Weltbühne gerade begann, beurteilte Der Sinn dieser Emigration nach den linkssektiererischen Kriterien, die vor 1933 in der Linkskurve üblich waren. Türk sah in Heinrich Mann zwar einen der »klarsten und lebendigsten Denker (...) der bürgerlichen Linken«; aber er war auch der Meinung, daß Mann »die Entwicklung der Dinge (zum Sozialismus)« nicht wünsche, obwohl er sie doch sehe.49 Türk zufolge hatte dieser Fehler seinen Ursprung in Manns sozialer Herkunft: »Denn Heinrich Mann gehört dem Bürgertum an, und zwar einer bürgerlichen Schicht, der im Verlaufe jenes Entwicklungsganges von der liberalen Ära der freien Konkurrenz zur faschistischen des Monopolkapitals die Seinsgrundlagen entzogen wurden. Er ist in der liberalen Vorstellungswelt, die der Ausdruck eines sich wirtschaftlich frei betätigenden Bürgertums war, groß geworden (...). Und liberalistisch ist auch die Stellung, die er in dieser Emigration bezogen hat.«50 Im Herbst 1934, nachdem Johannes R. Becher auf dem Moskauer Schriftstellerkongreß Heinrich Mann als »tapferen antifaschistischen Kämpfer« geschildert und »für das Bündnis der ehrlichen Hasser des Faschismus« geworben hatte, beurteilte Türk Heinrich Mann positiver als ein halbes Jahr zuvor.51 Er betonte zwar immer noch, daß Mann sich der »(sozialistischen) Freiheitsauffassung noch nicht (habe) anschließen können.«52 Aber er sprach ebenfalls die Hoffnung aus, Heinrich Mann werde »sich doch eines Tages zu jenen denkerischen Konsequenzen entschlie(ßen), zu denen sich auch Romain Rolland, André Gide, Barbusse und Malraux (...) hinentwickelt«53 hätten. Seit Herbst 1934 fiel in der Neuen Weltbühne kein kritisches Wort mehr gegen Heinrich Mann. Einen Monat nach dem Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, an dem Heinrich Mann Ende Juni 1935 aktiv teilgenommen hatte54 und der für die Kommunisten eine Phase der »Zurückhaltung« einleitete55, erschien in der Neuen Weltbühne ein Beitrag von Arnold Zweig, der sogar einer Zurücknahme der vorher geäußerten Kritik gleichkam. Denn im Gegensatz zu Werner Türk behauptete Zweig, Heinrich Mann habe schon in seinen frühen Werken auf der Seite der »wirkliche(n) Masse des wirklichen Volkes« gestanden: »>Volk< sagten eine Menge Schriftsteller schon damals, aber sie meinten jenes entstellte romantische Geistwesen, an das sich so herrlich unverbindliche Forderungen richten ließen. Heinrich Mann meinte, was er sagte, das wirklich vorhandene, gegenwärtig lebende Arbeitertum (...), um dessen menschenwürdige Einordnung in den Verbrauch des von ihm geschaffenen er sich mühte, für dessen politische Durchsetzung er schon auftrat, als der russische Stoß von 1917

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noch nicht erfolgt war, und man noch hoffen durfte, auf demokratischem Wege die Gesellschaft zum Nachgeben zu zwingen.«56 In der Aufbauphase der »deutschen Volksfront« war der Ton der Diskussion in der Neuen Weltbühne ausgesprochen offen. Die Zeitschrift verdankte dies zum großen Teil ihren linksbürgerlichen Mitarbeitern, die auch in Rezensionen politischer Bücher Differenzen mit den orthodoxen Kommunisten durchaus nicht verharmlosten. Sehr aufschlußreich in dieser Beziehung war die Aufnahme, die das Buch von Hans Günther Der Herren eigner Geist - damals ein Standardwerk der Komintern zu Fragen der nationalsozialistischen Ideologie57 - in der Neuen Weltbühne fand. Der Rezensent, Friedrich Burschell, begrüßte es zwar, daß Günther »die Anregung zu kameradschaftlichen Diskussionen geben (wolle)« und betonte, daß der Mitarbeiter der Internationalen Literatur »das Problem« sehe und in seinem Buch »reich(e) Kenntnisse« ausbreite.58 Die Methode, nach der Der Herren eigner Geist konzipiert war, lehnte Burschell aber entschieden ab. Denn Günther habe sich »an manchen wichtigen Stellen (...) seine Arbeit zu leicht gemacht« und neige zu einer »unüberzeugende(n) Primitivität« und zu einem »sture(n) Schematismus«, die die Einigung der Antifaschisten nur verhindern könnten.39 Am Ende seines Beitrags nahm Burschell die Tatsache, daß Günther in seiner Arbeit auch Ernst Bloch zitierte, zum Anlaß, »nachdrücklich auf das brillante und genialische Buch Ernst Blochs zu verweisen (Erbschaft dieser Zeit (...)), ein Werk, das mit dem Feuer und der Fülle seiner Gedanken einen besonderen Rang in der Literatur der deutschen Emigration einnimmt.«60 Sechs Wochen später erschien in der Neuen Weltbühne ein langer, sehr positiver Aufsatz von Friedrich Burschell über das Werk von Ernst Bloch.61 Schon im Sommer 1936 war vorauszusehen, daß die »deutsche Volksfront«, für die Die neue Weltbühne warb, nicht zustande kommen würde. Der Beitrag der Zeitschrift zur Literaturkritik des Exils spiegelt die Krisen wider, die ein Zusammengehen der politischen Gruppen der Emigration verhinderten. Eine dieser Krisen wurde durch das Erscheinen von André Gides Retour de l'URSS ausgelöst und sollte nachhaltige Folgen haben.62 Wie das Heft vom 11. Februar 1937 zeigt, beteiligte sich Die neue Weltbühne an der Auseinandersetzung über Gides Reisebericht mit großem taktischem Geschick. Sie brachte eine lange, sehr abgewogene Rezension von Retour de l'URSS, deren Verfasser, Klaus Mann, in Exilkreisen als Freund von André Gide bekannt war. Klaus Mann fand eine Diskussion über Gides Buch zwar notwendig wegen der Fragen, die seine Kritik am Stalinismus aufwerfe. Aber er lobte Gide auch wegen seiner »intellektuelle(n) Rechtschaffenheit« und rechnete mit den Kommunisten ab wegen ihrer »Entgleisungen« und ihrer Weigerung, der Wahrheit den Vorrang vor der Taktik zu geben.65 Durch den Abdruck von Klaus Manns Beitrag zeigte Die neue Weltbühne, daß sie keineswegs ins Lager der unkritischen Anhänger der Sowjetunion überge-

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wechselt war. Aber das Blatt gab auch deutlich zu erkennen, daß Klaus Manns Stellungnahme nicht die Auffassung der Redaktion wiedergab. In seinem Leitartikel vom 11. Februar 1937 antwortete Budzislawski Klaus Mann und den »Wahrheitssuchern« und übernahm dabei einen Teil der Vorwürfe der Kommunisten an Gides Adresse.64 Für Budzislawski war die Polemik um Gides Buch letzten Endes eine willkommene Gelegenheit, Kritik an den deutschen Exilschriftstellern zu üben. Er warf ihnen vor, sie seien in vielen Fällen »politische Kinder«65. Und er fand es ganz richtig, daß »Menschen mit besserer politischer Einsicht« sich »gegen den Unfug zur Wehr (setzten) (...), den die größeren Psychologen oder überlegenen Stilisten anzurichten im Begriffe (stünden).«66 Gides Retour de l'URSS erschien zu einer Zeit, als durch die Stalinschen Prozesse bereits Risse in der antifaschistischen Front bemerkbar geworden waren. Wie die Entwicklung von Schwarzschilds Neuem Tage-Buch zeigte67, machten damals - das heißt Ende 1936 - bürgerliche Publizisten, die ursprünglich die Volksfront unterstützt hatten, aus ihrem wiedererwachten Mißtrauen gegenüber den Kommunisten kein Hehl mehr. Während Schwarzschilds Wochenzeitung zunehmend zum Antikommunismus tendierte, vertrat Die neue Weltbühne immer eindeutiger die Auffassung, daß Antifaschismus und Antisowjetismus einander ausschlössen. Diese Entwicklung war auch im Kulturteil der Zeitschrift zu spüren, zum Beispiel in Ernst Blochs Beiträgen. Schon in seiner Rezension von Feuchtwangers Moskau 1937 hatte Bloch den »sturen Bürgerhaß« gegen die UdSSR beklagt.68 Vier Monate später publizierte er eine Abrechnung mit den »literarischen Renegaten«69, die auf einer Parallele zwischen der Haltung Gides und Silones und den Stellungnahmen der deutschen Dichter während der Zeit der französischen Revolution beruhte. Bloch meinte, daß die Säuberungen in Moskau mit den Vorgängen in Frankreich während der Terreur vergleichbar seien. Gide, Silone und alle ihre Freunde begingen jedoch - so Ernst Bloch - einen noch schlimmeren Fehler als Klopstock und Goethe. Denn »die Einsicht in die Bedrohungen der Revolution (sei) heute leichter erlangbar als in den zwanzig Jahren nach 1789.«70 Und Bloch zog aus diesem Unterschied die Schlußfolgerung: »Heute, denkt man, müßte die Einsicht, daß antibolschewistische Parolen dem nackten Teufel dienen, die evidenteste sein. Sinnlos übertriebene Kritik am Mutterland der Revolution befördert durchaus nicht, wie noch Klopstock und Schiller glauben konnten, das Ideal der Revolution; dem dient einzig und allein die Volksfront.«71 V Trotz der Spannung, die ab Anfang 1937 unter deutschen Emigranten herrschte, erschienen von 1937 bis 1939 fast so häufig wie vorher Rezensionen linksbürgerlicher Kritiker in der Neuen Weltbühne. Aber diese Autoren vertraten nicht die im Blatt dominierende Tendenz, sei es im politischen oder im kulturellen Sinn. Die Literaturkonzeption der Neuen

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Weltbühne war wie ihre politische Richtung von betont sozialistischer Färbung und wurde vor allem von ihren marxistischen Mitarbeitern geprägt. Die sozialistische Orientierung der Literaturauffassung in der Neuen Weltbühne war an den dort vertretenen Einstellungen über Wesen und Aufgabe des Schriftstellers erkennbar. Ein Standpunkt wie der, den Klaus Mann in seiner Gide-Rezension verteidigte, »einen Menschen wie Gide in den Reihen einer politischen Bewegung zu empfangen (...), bring(e) ohne Frage gewisse Verantwortlichkeiten, gewisse Verpflichtungen mit sich«72, war für die Neue Weltbühne keineswegs repräsentativ. Die in der Zeitschrift vorherrschende Meinung war vielmehr, daß gegen literarische Außenseiter eher Mißtrauen am Platze sei. Dies erklärt, warum Franz Carl Weiskopf Brentanos Theodor Chindler »mit einer gewissen Enttäuschung«73 aufnahm. Weiskopf war der Ansicht, daß Brentano in seinem Roman »den Skeptizismus, die Verwirrung und die Resignation nicht nur darstell(e), sondern rechtfertig(e).«74 Und das Klima, das in Theodor Chindler herrsche, mache den Unterschied deutlich zwischen Theodor Plivier, »der leidenschaftlich Partei« nehme, und Brentano, der »bemüht (sei), Zurückhaltung zu wahren.«75 Weiskopf hielt die bei Brentano festgestellte »Zurückhaltung« für eine Schwäche und führte sie auf die soziale Stellung dieses Autors zurück, der »ein Außenseiter (der) bürgerlichen Gesellschaft« sei »und nicht ihr überlegener gesellschaftlicher Gegner«76 wie Plivier. Eben weil Brentano seine Außenseiterstellung nicht verlassen habe, dürfe man von seinem Werk keine Hilfe erwarten. Denn »seine Distanz (werde) zur Entfremdung« und seinem Blick blieben »die wesentlichen Züge der irdischen Wirklichkeit verborgen.«77 Was Weiskopf über Bernard von Brentano schrieb, beruhte zum Teil auf denselben Grundgedanken wie Lukäcs' Kommentare über Zolas Standort. Der literarische Außenseiter, dessen Fall Weiskopf schilderte, glich ja den zu »bloßen Zuschauern« degradierten Schriftstellern des Naturalismus.78 Die Auffassungen eines anderen Mitarbeiters der Neuen Weltbühne, Rudolf Leonhard, ließen ebenfalls Lukäcs' Einfluß erkennen. In Anlehnung an Lukäcs' Thesen über Balzac schrieb Leonhard zum Thema »Schriftsteller und Gesellschaft«: »Die großen Schriftsteller aller Zeiten haben die Kräfte und Inhalte ihrer Zeit mitgeformt und ausgedrückt - dies aber gut und ganz. Molière hat die politischen Komödien seiner Zeit und seiner Gesellschaft gemacht, und wollte nicht mehr machen.«79 Leonhard wählte diese Beispiele aus der Vergangenheit, um die Forderung nach Autonomie der Kunst und des Künstlers zu bekämpfen. Man müsse in ihr - so Leonhard - bloß einen Beweis des »unausweichbare(n) böse(n) Gewissen(s)« des Bürgertums sehen, das im 19. Jahrhundert »die konformistischen und interessenhaften Bindungen seines Lebens (überkompensiert habe) (...) durch die einzigartige Stellung, die es, wenigstens theoretisch, dem Künstler (eingeräumt habe).«80 Das Mißtrauen, das die maßgebenden Mitarbeiter der Neuen Weltbühne Einzelgängern gegenüber empfanden, bestimmte auch ihre Ansichten über

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Inhalt und Zweck der Literatur. Nie wurden in der Neuen Weltbühne Bücher positiv beurteilt, die vor allem Privates schilderten. Werner Türk empfahl dem Schriftsteller, »zwischen dem privaten und dem allgemeinen politischen Lebensbereich seiner Figuren das notwendige Verhältnis herzustellen.«81 Und Türks Meinung zufolge war der erste Exilroman von Klaus Mann, Flucht in den Norden, noch kein echtes antifaschistisches Werk, weil »das Privatleben der Heldin die politische Thematik des Stoffes zudeck(e).«82 Wer nach solchen Berurteilungskriterien verfährt, möchte vor allem »aktive Zeitromane«83 fördern. Was man in der Neuen Weltbühne unter diesem Begriff verstand, ging insbesondere aus Leonhards Rezension von Max Brods Annerl hervor. Leonhard maß den Wert eines Romans nicht daran, ob dessen Gestalten wirklich in allen Lebenslagen ein waches politisches Bewußtsein zeigten. Und er tadelte Max Brod nicht, weil dieser einen Liebesroman geschrieben hatte. Er war sogar der Meinung, Brod habe in manchen Partien seines Buches die »Zeitform der Liebe« geschildert, indem er ihre »Konkurrenz mit der Weisheit, ja dem Wissen, ja der Wissenschaft« deutlich gemacht habe.84 Was Leonhard an Annerl mißfiel, war, daß Brod »einen Liebesroman geschrieben (habe), der gewiß heute spiel(e), in einer Ausbeutungsgesellschaft, in einer Klassengesellschaft, (...) aber mit anderen Elementen (...) als denen dieser Gesellschaft, und nicht mit den Grundelementen der Zeit.«85 Leonhards Kommentare über Annerl machen wiederum deutlich, daß die Kritiker der Neuen Weltbühne in ihrer Beurteilung literarischer Texte nach Kriterien verfuhren, die auch Lukäcs' Arbeiten über Balzac zugrunde lagen. Lukäcs empfahl den französischen Realisten zur Lektüre, weil die Personen in seinen Werken sowohl typische Repräsentanten sozio-historischer Abläufe als auch Einzelmenschen seien.86 Leonhard und seine Kollegen taten in ihren Rezensionen das gleiche. Sie lehnten Bücher ab, die die »schöpferischen Kräfte der Gesellschaft«87 nicht genügend ins Blickfeld brachten. Und sie priesen vor allem Autoren, deren »poetische und soziologische Vision sich deck(ten)«, denn auf diese Weise gäben sie »zwingend den Ausblick vom Einzelnen aufs Allgemeine, (und spiegelten) überzeugend das Allgemeine im Einzelnen.«88 Um in der Neuen Weltbühne positiv beurteilt zu werden, mußte ein Buch auf die Bedürfnisse von Lesern zugeschnitten sein, in deren Leben der politische Kampf von entscheidender Bedeutung war. Die unter den Literaturkritikern der Neuen Weltbühne vorherrschende Meinung war, daß diese Leser Werke erwarteten, die ihnen Hoffnung brachten und Mut machten. Hans Mühlesteins Roman Aurora entsprach diesen Forderungen. Und Friedrich Burschell lobte Mühlestein, weil dieser ein »Werber und Trommler vehementester Art« sei und die Leser »zur Entscheidung zu entflammen« wisse.89 Alle Mitarbeiter der Neuen Weltbühne waren der Ansicht, daß literarische Werke »dem Leser (...) helfen (sollten), Antwort auf hundert Fragen und Zweifel zu finden, die ihn bedräng(ten).«90 Wer der Literatur solche Ziele

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zuweist, mißt ihr eine didaktische Funktion zu. Dies war zum Beispiel auch Werner Türks Auffassung. Für ihn sollte der Schriftsteller eine Art Vermittler sein zwischen der Wirklichkeit und dem Leser, »der unserer Zeit ratlos-ringend gegenübersteh(e) und in den Büchern das chaotische Leben geistig druchdrungen und künstlerisch geordnet sehen (wolle).«91 Eine solche Beziehung zum Leser schließt natürlich aus, daß ein Autor sich damit begnügen kann, Beobachtetes zu protokollieren. Joseph Halperin hatte in Ödön von Horväths Komödie Hin und Her diese Tendenz festgestellt und fand das Werk mißlungen, weil Horväth bloß »geißelte«, aber nicht »reinigte«.92 »Erklären« und »Verändern«93 wurden in der Neuen Weltbühne als die wichtigsten Aufgaben der Literatur angesehen. Aber die Mitarbeiter des Blattes hatten auch die Lehren aus den Diskussionen der frühen dreißiger Jahre gezogen und forderten nicht etwa, daß Romane bloß Agitations- oder Anschauungsmaterial liefern sollten. Sie legten Wert auf ästhetische Qualität und schätzten Werke, in denen »das soziologische Wissen (...) die sinnliche Bildkraft des Künstlers nicht behindert(e).«94 Mit anderen Worten: wie Lukäcs und die Theoretiker des »sozialistischen Realismus« befürworteten sie eine Literatur, die sich die Gestaltung der Wirklichkeit zum Ziel setzte.95 Das Urteil Werner Türks über Bertolt Brechts Dreigroschenroman macht dies auf exemplarische Weise deutlich: »Nicht daß Brecht lehrt, ist das Besondere an diesem Buch. Sondern: daß er lehrt, indem er gestaltet. Daß er den Leser durch die Originalität und durch das plastische Vermögen seines Kunstschaffens zum Lernen zwingt.«96 Das publizistische Sprachrohr des »sozialistischen Realismus« war Die neue Weltbühne zwar nicht. Doch ist es zur Einschätzung dieser Zeitschrift nicht ohne Bedeutung, daß ihre wichtigsten Mitarbeiter zum Problem der literarischen Wahrheit gerade die Standpunkte vertraten, die von den Anhängern des »sozialistischen Realismus« verteidigt wurden. In Weiskopfs Rezensionen findet sich zum Beispiel die auf Lukäcs zurückgehende Auffassung, »Wahrheit in der Dichtung bedeute (...) doch mehr als Abbildung der Wirklichkeit.«97 Im Anschluß an diese Behauptung faßt Weiskopf die Grundsätze zusammen, nach denen er selbst literarische Werke beurteilt: »Der Realismus eines sozialistischen Schriftstellers kann sich nicht auf die Darstellung dessen beschränken, was ist; er wird den Prozeß zeigen, der vom Gewesenen zum Gegenwärtigen und weiter zum Zukünftigen führt; und in seinem Bild von der Wirklichkeit muß auch Platz für den Traum sein - einen Traum von der morgigen Wirklichkeit, für die er kämpft.«98 Bernard von Brentano gehörte nicht zu den Schriftstellern, in deren Romanen für einen »Traum« Platz war. Weiskopf sah folgerichtig darin einen Mangel und stufte Brentano sogar als »Apologet(en)« »menschlicher Defekte und gesellschaftlicher Rückstände«99 ein. Wegen der an Brentano geübten Kritik liegt der Einwand nahe, Weiskopf und seine Kollegen hätten nur optimistische Literatur gewünscht. Gegen diesen Vorwurf, den bürgerliche Schriftsteller100 ihnen oft machten, vertei-

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digten sich die Befürworter des »sozialistischen Realismus« mit dem Hinweis, sie seien zwar gegen pessimistische Literatur, aber »rede(ten) keinem rosaroten Optimismus das Wort.«101 Was unter dieser Haltung zu verstehen war, legte Ernst Bloch in einem Aufsatz aus dem Frühjahr 1938 dar, in dem er schrieb, »marxistischer Pessimismus«102, der im Erkennen aller Schwierigkeiten der Gegenwart seine Begründung habe, stehe in einem dialektischen Verhältnis zu echtem Optimismus. Denn, so Bloch, der »marxistische Pessimismus« sei »ein solcher, der aus sich zu handeln versteh(e) und keine Statik mach(e).«103 Dies habe zur Folge, daß »nur der Feind ein Recht auf Pessimismus (habe): als seine letzthin totale Wahrheit.«104 Für einen Marxisten sei der Pessimismus aber nur »ein Teilclement, unentbehrlich zur Überlegtheit, nützlich zur Abwehr. Mit ihm aber komm(e) der Optimismus zu seinem Recht und, bei wachsender Reife der Situation, zu ausreichendem Sieg.«105 Die Literatur des »sozialistischen Realismus« stellte sich in den Dienst des gesellschaftlichen Aufbaus und sollte zur Durchsetzung des sozialistischen Menschenbildes beitragen. Sie sollte auch in erster Linie die proletarischen Schichten der Bevölkerung ansprechen und auf deren Bedürfnisse Antworten finden. Indem sie den Dienst am Proletariat als ihre vordringliche Pflicht ansahen, forderten die Anhänger dieser ästhetischen Konzeption - und an ihrer Spitze Lukäcs - auch eine volkstümliche Literatur, deren Zukunft sie von der Wiederbelebung klassischer Formen abhängig machten.106 Diese Forderung führte Lukäcs und andere dazu, ihre bereits bekannte Abneigung gegen alle ästhetischen Experimente erneut zu bekräftigen.107 Die neue Weltbühne teilte Lukäcs' radikale Abneigung gegen moderne literarische Formen nicht. Sie verteidigte sogar gelegentlich Schriftsteller, deren Bücher in Moskauer Kreisen Anstoß erregt hatten. Dies tat zum Beispiel Franz Carl Weiskopf in seiner Rezension von Ignazio Silones Roman Brot und Wein, die kurz vor Silones Bruch mit den Kommunisten erschien. Weiskopf äußerte sich zwar nicht uneingeschränkt positiv über das Buch, aber im Gegensatz zu Lukäcs, der klassische Formen zum allein gültigen Kanon erhoben hatte, machte er deutlich, daß jede Epoche eigene literarische Formen entwickle. Die dem 20. Jahrhundert »gemäße epische Form« sei der »Zeitroman«, der »kein Roman im strengen Sinn (sei), sondern Reportage, Chronik, Roman in einem.«108 Und um diesen kaum verhüllten Angriff gegen Lukäcs zu untermauern, berief sich Weiskopf auf Ilja Ehrenburg: »>Die Klassiken, sagte Ilja Ehrenburg auf dem Moskauer Schriftstellerkongreß, schilderten gefestigte Lebensformen und Helden. Wir schildern das Leben in seiner Bewegung. Daher erfordert die Form eines klassischen, in unsere Gegenwart versetzten Romans vom Autor falsche Bindungen und, namentlich, falsche Lösungen. Das Aufblühen der Reportagen, Skizzen, das gewaltige Interesse des Künstlers für lebendige Menschen, alle diese stenographischen Aufzeichnungen, Beichten, Protokolle und Tagebücher sind kein Zufall.abstrakte< Kunst, und zwar im bedenklichen Sinne dieses Wortes« gewesen.117 Auf der anderen Seite sprach sich Bloch aber sehr eindeutig gegen jede Verurteilung des »echten Expressionismus«118 aus, wie Franz Marc und Paul Klee ihn insbesondere vertreten hätten. Denn, so meinte Bloch, der »echte Expressionismus« sei »gewiß noch eine innerbürgerliche Revolte (gewesen), (...) aber eine, die aus der Nacht zum Licht (gewollt habe) und sich nicht (gescheut habe), lieber aus der Nacht der Unterdrückten als aus dem bisher herrschenden Tag das Licht herauszudestillieren.«119 Die »wirkliche Avantgarde«120 konnte für Bloch selbstverständlich nicht »bürgerlich« sein. Deswegen durfte, seiner Auffassung nach, die Neue Sachlichkeit (die Bloch ebenso eindeutig ablehnte wie Lukäcs!121) nicht als »avantgardistisch« angesehen werden: sie habe »zwar von allzu verstiegenen Träumen zuweilen zur Welt zurück(geführt), aber sie (habe) den Wurm in dieser Welt (verschwiegen)«, und mit ihr habe das »Ringen um eine Weltanschauung«122 aufgehört. Bloch verwarf auch »dauerhaftes Experimentieren«, weil »das neue Material (...) sich (...) an den neuen Inhalten bewähren und für die sozialen Aufgaben brauchbar sein (müsse).«123 Der Dichter, dessen Werk am besten Ernst Blochs ästhetischen Vorstellungen entsprach, was Bertolt Brecht. Bloch versuchte am Beispiel von Brechts Stücken zu beweisen, daß einer der modernsten Künstler auch ein echter »Leninist«124 sein könne. Denn Brecht, so Bloch, zolle seiner Zeit »echten Tribut«, aber tue es nicht, um seiner Lust am Experimentieren zu genügen, sondern um »das richtige Handeln durchzuerfahren.«125 Seine Abkehr von der »aristotelischen Einfühlungsdramatik« sei in diesem Sinn zu verstehen, denn sie diene dem »Eingriff in das gesellschaftliche Verhalten des Zuschauers.«126 Brechts Werk sei für Antifaschisten besonders wichtig, denn seine Stücke seien im Gegensatz zu den Behauptungen seiner Gegner als »Theorie-Praxis-Manöver auf der Bühne« von höchstem Interesse.127 Während Ernst Bloch Bertolt Brecht auf diese Weise verteidigte, wurde Brecht selbst in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift, Das Wort, nicht die Möglichkeit eingeräumt, auf Lukäcs' Angriffe zu antworten.128 Die Redaktion von Das Wort befand sich allerdings in Moskau und nicht in Prag (und später in Paris) wie die der Neuen Weltbühne. Die Nachfolgerin von Jacobsohns und Ossietzkys Wochenzeitung verdankte es wohl auch diesem Umstand, daß sie unter den prokommunistischen Zeitschriften des Exils im kulturellen Bereich die aufgeschlossenste war.

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1 Literaturkritik wird hier in Anlehnung an die Definition von Peter Uwe Hohendahl als »die öffentliche Kommunikation über Literatur« verstanden (vgl. Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730-1980). Stuttgart 1985, S. 2). Deswegen werden im Rahmen dieses Beitrages alle Rezensionen, Glossen, Essays und Aufsätze zu Problemen der Literatur berücksichtigt, die von 1933 bis 1939 in der Neuen Weltbühne erschienen. — 2 DU neue Weltbühne (= NWB) erschien vom 6. April 1933 bis zum 31. August 1939. Sie war die Nachfolgerin der Weltbühne und der seit September 1932 erscheinenden Wiener Weltbühne. 1933 und 1934 behielt die NWB zunächst die Jahrgangszählung der Wiener Weltbühne (1933 = Jg. 2, 1934 = Jg. 3); ab 1935 nahm die Zeitschrift die Jahrgangszählung der Weltbühne wieder auf (1935 = Jg. 31 usw.). Vgl. Lieselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945. Bd. 2. München 1978; Georg Heintz: Index der *Neuen Weltbühne« von 1933 bis 1939. Worms 1972 (= Deutsches Exil 1933-1945, Nr. 1). - 3 Vgl. Lieselotte Maas: »Die >Neue Weltbühne< und der >AufbauMoskau 1937Erschaft dieser ZeitDas Neue Tage-BuchhostSyndicat< v. 28.4.1940, ebd., S. 344 f. - 53 Hans Natonek: »Racine und der Antisemitismus«. In: Jüdische Welt-Rundschau 1 (1939) H. 11, S. 8; ders.: »Das Lächeln Montaignes«. In: Das Neue Tage-Buch 7 (1939) H. 46, S. 1077. - 54 Ders.: »Glosse zum Juden-Christen Jospeh Roth«. In: ders: Die Straße des Verrats (wie Anm. 1), S. 89-91, hier S. 91. - 55 Ebd. - 56 Laut Schütte: Ebd., S. 362. - 57 Hans Natonek: »Der heilige Isidor«. In: Die Neue Weltbühne 35 (1939) H. 16, S. 505 f.; ders.: »Kapitulation«. In: Das Neue Tage-Buch 7 (1939) H. 43, S. 1000-1002; ders.: »Angelika und Unity«. Ebd. 7 (1939) H. 47,

Hans Natonek im Exil

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S. 1102 f.; ders.: »Trojanisches Pferd«. Ebd., 8 (1940) H. 17, S. 407. - 58 Ders.: »Dieses war der dritte Streich ... - Max und Moritz in der Weltgeschichte«. In: Pariser Tageszeitung Nr. 974 v. 19.4.1939, S. 4. - 59 Ders.: »Schuld und Strafe eines Volkes«. In: Das Neue Tage-Buch 7 (1939) H. 44, S. 1030; Wiederabdruck in: ders.: DU Straße des Verrats (wie Anm. 1), S. 99-101. - verlorenen< deutschen Sprache, aus der sie »zumindest für sieben Jahre (...) gänzlich«52 herausfiel, und der fortschreitenden Vertrautheit mit dem neuen englischen Existenzund Sprachraum. »Was mir die erste, eigene bedeutet hatte, lehrte mich der Verlust. (...) Dennoch erscheint mir, daß ich lange in zwei Sprachen schrieb, als Vorteil. Es verhalf mir dazu, meine Ausdrucksmittel mehrdimensional zu sehen, gleichsam stereoskopisch.« 53 Das Schreiben in einer zweiten Sprache hatte sowohl auf ihre literarische Produktion in der Exilzeit als auch auf das spätere Werk erhebliche Auswirkungen. Hilde Spiel gibt in dem Vortrag Das vertauschte Werkzeug zwei Grundregeln an, die sie für sich erkannt habe. Erstens dürfe man niemals versuchen, den Wortschatz oder die Syntax zu überschreiten, die man im betreffenden Augenblick ohne Schwierigkeiten beherrsche. Zweitens solle man auf keinen Fall den eigenen Gedankengang in das andere Idiom übersetzen; das heißt, die Gedanken müssen sich von selbst in der anderen Sprache und spontan einstellen. Dies wird jedoch nur dann möglich sein, wenn man sich auf die neue Umgebung und die fremde Sprache völlig einläßt. Man »kann sich nicht einschreiben, man muß sich ein-leben in die fremde Welt«54 und ein-lesen. In ihrem Prozeß der Aneignung des Englischen waren zwei Faktoren für Hilde Spiel bedeutsam. Zum einen die Tatsache, daß ihre beiden Kinder in England aufwuchsen und sie mit ihnen die >Ontogenese< nachvollziehen konnte, durch die Nursery Rhymes, die Unsinnsverse Edward Lears und Lewis Carrolls Alice in Wonderland in den Bilderreichtum und das Metaphernreservoir der englischen Sprache eindrang. Ein-gelesen habe sie sich vor allem mit Hilfe von Zeitschriften wie New Statesman and Nation und den sogenannten vier Leitartikeln der Times; nach diesen Vorbildern habe sie Englisch schreiben gelernt. Deren »Ton- und Webart« nachahmen könne man, ohne Schaden zu nehmen. »Der luftigen, witzigen und prägnanten Art, in der man etwa in England über Dinge schreibt, wird man eher habhaft als jener künstlerischen Ausdrucksform, in der die Dinge selbst vermittelt werden sollen: Wo intuitive und individuelle Sprachgewalt erforderlich ist, eine Bewußtmachung in tiefsten Schichten ruhender Bilder und Gedanken, da findet der Eingewanderte häufig noch den Zugang versperrt.« 55 Die als notwendig erkannte Beschränkung auf das in der englischen Sprache mühelos zu Erreichende und die daraus resultierende Vereinfa-

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chung des sprachlichen Ausdrucks und der weitgehende Verzicht auf stilistische Kunstgriffe, wie erlebte Rede oder Traumpassagen, die im Frühwerk zu finden sind, kommt in dem Roman The Darkened Room zum Tragen. Die Möglichkeiten zur Entwicklung eines innovativen Schreibstils waren schon allein dadurch stark begrenzt, daß zunächst einmal das einfache, schlichte Erzählen in der fremden Sprache gemeistert werden mußte. Ein sprachlicher und erzählerischer Stil, wie Hilde Spiel ihn bei Virginia Woolf oder James Joyce bewunderte, schien ihr ihm Englischen unerreichbar. Dies mag ein Grund dafür sein, daß The Darkened Room als größeres englischsprachiges Prosawerk die Ausnahme blieb und sie das Schreiben über >Dinge< - zum Beispiel in Kultur- und Literaturkritiken, Essays und Sachbüchern - bevorzugte. Die im Englischen wichtigen Kriterien des »Anschaulichen, Bildhaften, Durchsichtigen« sowie »eine gewisse Scheu vor der Abstraktion, in die das Deutsche so oft verfällt«56, nahm die Autorin für sich als Vorteil an und übertrug sie später auch auf das Schreiben in der Muttersprache. Die Vereinfachung und >Versachlichung< in Sprache und Zeichnung der Charaktere ist besonders bei einem Vergleich der Werke Kati auf der Brücke (1933) und Mirko und Franca (1980) auffällig. In Kati auf der Brücke ist das Innenleben zumal der Protagonistin, aber auch anderer Figuren ein zentrales Thema des Romans. Die verwirrenden, widersprüchlichen Gefühle und Empfindungen eines jungen Mädchens an der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsensein finden - vermittelt durch einen auktorialen Erzähler - ihren Ausdruck in Passagen der erlebten Rede wie in der direkten, manchmal unvermittelten Wiedergabe von Phantasien, Fieberträumen, von Gedanken und Gedankenfetzen. Sprachlich zeichnet sich der Roman einerseits durch einen stellenweise sehr gedrängten, kurzatmigen Stil aus. Kurze, einfache, zum Teil subjekt- oder verblose Sätze werden aneinandergereiht und erzeugen eine Eindringlichkeit, die bisweilen an Pathos grenzt. Andererseits bedient sich die Autorin einer sehr metaphorischen und symbolgeladenen Sprache. Naturphänomene beziehen sich auf die psychische Verfaßtheit der Hauptfigur. Die Erzählung Mirko und Franca hingegen zeichnet sich durch eine schlichte und sachliche Sprache aus. Wohl treten auch hier kurze, einfache Sätze auf; diese sind jedoch mit der expressiven Sprache des ersten Werkes nicht zu vergleichen. Äußerungen der Figuren werden der Alltagssprache angenähert, unter häufiger Verwendung von elliptischen Sätzen. Die Charaktere und ihre Handlungen werden weitgehend von außen betrachtet. Die Motive ihres Handelns, die Gefühle und Empfindungen der Figuren sind mehr aus der Art der Beschreibung zu erahnen, als daß sie explizit zum Ausdruck gebracht würden. Verbindungen zwischen den menschlichen Verhältnissen und der Natur kommen zwar in Form des Vergleichs oder der Analogie vor, im Gegensatz zu Kati auf der Brücke aber nicht in symbolischer Funktion.

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Zum Vergleich seien hier einige kurze Passagen zitiert: »(...) Nun gibt es auch Wind. Er stößt hinter einer Häuserecke hervor, bringt zugleich ein paar Takte greller Musik mit, die pfeifen um die Ohren und sausen weiter. Grader, krummer, querer Weg, rennt vor einem her wie besessen, man muß nach. Licht immer nur bis zur Hälfte der Häuser, wo die Lampen wackeln, von dort kommt es plötzlich herunter. Regen ist es mit einem Mal... Bindfaden auf mich, tragt mich fort, haltet mich an Armen und Beinen wie die Prinzessin in einem Marionettentheater, ich muß nicht denken, ich muß nichts wollen, ich kann gehen und tanzen und laufen wohin ihr wollt (...).« (Koti auf der Brücke)51 »(...) Da starren sie alle im Kreis herum: an jedem Ast, den die dunkelgesättigten Augen erblicken, hängt eine Maske. Gesichter rundum. Blätter atmen. Plötzlich die Fäuste an den Augen. Funken. Funken (...).« (Kali auf der Brücke »(...) Herbstbeginn. Zuweilen Morgennebel. Dann bricht gegen Mittag die Sonne durch. Eine Nebelwand auch zwischen Mirko und Franca, die zu durchdringen ihm nicht gelingt (...)«. (Mirko und Franca)59 Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen beiden Werken besteht in der Art ihres Schlusses. Während in Kati auf der Brücke der innere Konflikt der Protagonistin zu einer positiven Lösung geführt wird, endet die Erzählung Mirko und Franca völlig offen. Der zweite Faktor, die Frage nach einem potentiell anzuvisierenden Publikum, scheint mir ebenfalls von großer Bedeutung. Mit Blick auf ein englisches Publikum, das als Leserschaft während der Jahre bis 1945 einzig in Frage kam, war für die Romanautorin Hilde Spiel ein bruchloses Anknüpfen an bisherige Produktionsverfahren nicht möglich. Hier stellte sich zunächst das Problem der Wahl des Stoffes. Romane, die sich mit Österreich beschäftigt hätten, dürften beim englischen Publikum kaum auf größere oder lang anhaltende Resonanz gestoßen sein. Hatte der in Italien situierte Roman Flute and Drums 1939 noch einen Verleger gefunden, so blieb doch The Fruits of Prosperity mit seiner Zentrierung auf die österreichische Vergangenheit in England ungedruckt. Hilde Spiels erste drei Romane reflektierten die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse vor allem Österreichs, Frankreichs und ansatzweise Belgiens. In England war man, Hilde Spiel zufolge, im Bereich der erzählenden Prosa in erster Linie an der Darstellung des eigenen Gesellschaftsgefüges interessiert. Auch allgemein sind die englischsprachigen Romane deutscher und österreichischer Exilautoren, nach meiner Beobachtung, in England heute nur in wenigen Fällen noch auf dem Buchmarkt erhältlich und bekannt. Ein Thema aus dem Bereich der englischen Gesellschaft zu wählen England ist im Werk Hilde Spiels nur in wenigen Erzählungen und im übrigen in Essays präsent - , dürfte einigen Mut erfordert haben. Über ein Land, dem gegenüber man einerseits Loyalität empfindet und in dem man gleichzeitig doch immer ein bißchen >Fremde(r)< bleibt, läßt sich vermutlich

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nur schwer schreiben. Außerdem hätte ein solches Unterfangen verlangt, das komplizierte Gewebe kultureller und gesellschaftlicher Traditionen und Zusammenhänge zu durchdringen, was man - wenn überhaupt - sicher erst nach vielen Jahren erreichen kann. Die bisher genannten Faktoren erklären natürlich noch nicht, weshalb nach der Rückkehr in den deutschen Sprachraum keine Wiederaufnahme der erzählerischen Produktion in ihrer früheren Intensität erfolgte. In Österreich und der Bundesrepublik Deutschland hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg edlmählich neue literarische Strömungen durchgesetzt, wurde der Publikumsgeschmack von neuen Prosastilen geprägt, die sich von politischgesellschaftskritischen Inhalten einerseits, andererseits auch von einem realistischen Schreibstil wegbewegten. Die Mehrzahl der österreichischen Epiker der letzten Jahrzehnte habe, so Hilde Spiel, »im wesentlichen ichbezogen, introvertiert und wirklichkeitsfremd« geschrieben und sich vorwiegend »mit linguistischen Problemen oder subjektiver Seelenanalyse«60 befaßt. Eine Aufnahme solcher Tendenzen in den eigenen Schreibprozeß lehnte die zurückkehrende Exilautorin aus verschiedenen Gründen für sich ab. Hilde Spiels Anspruch an die Funktion von Literatur und die Verantwortung des Schriftstellers gegenüber der Gesellschaft entspringt einem Gefühl, den Idealen von Aufklärung und Humanismus unbedingt verpflichtet zu sein. Daher legt sie in ihrem Werk den größten Wert auf den Ausdruck einer humanen, rationalen und moralischen Grundhaltung und die Thematisierung gesellschaftlicher und politischer Probleme. Sie fordert, gerade heute, vom Schriftsteller das Sichtbarmachen des eigenen Standpunktes und den »Zwang zur Vernunft«61. Ihr erzählerisches Werk ist weitgehend von einem realistischen Erzählstil geprägt, der lange Zeit von Kritikern als konventionell und >altmodisch< abgelehnt wurde.62 Daher trat sie erst 1985 mit dem Band Der Mann mit der Pelerine und andere Geschichten an die Öffentlichkeit. Diese Sammlung von Erzählungen reicht von frühen Texten aus den zwanziger und dreißiger Jahren bis zu Schriften neueren Datums, beispielsweise Die Totengräber. Anleitung zum Schreiben eines Romans aus den siebziger Jahren, worin sich die Autorin kritisch mit der Verstädterung ländlicher Gemeinden auseinandersetzt. »Das ist auch der Grund, warum ich nach 45 die >Früchte des Wohlstands< gar nicht mehr angeboten habe, weil es ganz klar war, daß diese traditionelle Erzählmanier, diese >Früchte des Wohlstands< sind sogar bewußt in einem archaischen Ton geschrieben, daß das sinnlos war, denn es wurden am Anfang entweder Hemingway oder Kafka nachgemacht, dann kamen die Linguisten, und es hat Jahrzehnte gedauert, bis man sich getraut hat, einmal wieder etwas zu erzählen. Und tatsächlich hätte ich mich vor den achtziger Jahren nicht getraut, etwas geradehin Erzähltes, wie ich es in den dreißiger Jahren begonnen hatte, unter dem Einfluß der Neuen Sachlichkeit, irgendjemand anzubieten.«63 Ein dritter Faktor für die Hinwendung zu Essay und literarischem

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Feuilleton ist, Aussagen Hilde Spiels zufolge, in der Unmittelbarkeit der Ausdrucksmöglichkeit zu sehen, die diese Formen bieten.64 Mit dieser Auffassung steht sie nicht allein.69 So betont etwa Adorno: »In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt, die seit dem Mißlingen einer seit Leibnizschen Tagen nur lauen Aufklärung bis heute auch unter den Bedingungen formaler Freiheit nicht recht sich entfaltete, sondern stets bereit war, die Unterordnung unter irgendwelche Instanzen als ihr eigentliches Anliegen zu verkünden. Der Essay aber läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben.«66 Obgleich Hilde Spiel der Dichtung die Fähigkeit beimißt, »die Substanz der Dinge« zu erfassen, die durch das »Netz«67, die Sprache, fällt, hat sie ihr für sich persönlich in gewissem Maße eine Absage erteilt, indem sie den Essay, das Sachbuch, die Biographie oder auch die Autobiographie, an der sie zur Zeit arbeitet, als die ihren Intentionen heute adäquatere Ausdrucksform bezeichnet. Sie betont, die Romanform sei ihr nach ihrer Rückkehr nach Österreich nicht mehr als das Instrument erschienen, das sie zu dem Zeitpunkt gebraucht habe. Da sie an der Realität, der politischen Entwicklung und der Kulturpolitik in Österreich, brennend interessiert gewesen sei, habe sie sich nicht mehr mit der Erfindung von Figuren und fiktiven Handlungen aufhalten wollen. Die Priorität der Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Fragen gewinnt selbst in einem als Erzählung angelegten Werk wie Mirko und Franca so sehr die Oberhand, daß die Handlung wie auch die Charaktere eher blaß und schemenhaft bleiben. Lange Passagen befassen sich im wesentlichen mit der Geschichte Triests, dem Konflikt zwischen Italien und Jugoslawien, den neuen Entwicklungen in der italienischen Psychiatrie und erscheinen durch die eigentliche Handlung nur bedingt motiviert, so daß stellenweise der Eindruck thematischer Überfrachtung in Anbetracht der gewählten erzählerischen Form entsteht. Das Projekt für einen großen Roman, »der zugleich in Wien und London spielen« und in dem »die zunehmende Sprachverwirrung und Sprachverwandlung einer Emigrantin durch eine immer deutlicher hervortretende Zuflucht zum Englischen gekennzeichnet«68 werden sollte, das Hilde Spiel noch 1976 beschäftigte und sich schließlich in Form des Filmdrehbuchs Anna und Anna materialisierte, macht allerdings deutlich, daß noch ein weiterer, äußerer Faktor eine nicht unbedeutende Rolle spielte: die Abhängigkeit von Aufträgen der Verlage, Bücher zu bestimmten Themen zu schreiben, wie materielle Zwänge ganz allgemein. »Eingebettet und eingegraben in, überflutet und zugedeckt von, zur Erschlaffung der Geisteskraft getrieben durch Kleinkram, Windspruch, Tagesgestammel, schreibe ich heimlich und unsichtbar, des Nachts, am frühesten Morgen, in leeren Sekunden zwischen dem Aufspüren eines Wortes und dessen Gestaltannahme auf dem weißen Papier mittels Tastendruck auf die elektrische Report de Luxe, oder in kurzen Absencen nach dem nochmaligen Tippen oder telefonischen Durch-

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geben der ephemeren Botschaft, an dem Buch, dem Buch, dem ewigen Buch.«69 Literatur und Publizistik stehen für die Exilautorin Hilde Spiel in einem nie ganz aufgelösten Spannungsverhältnis zueinander, zwischen ihnen herrscht geradezu ein Zwiespalt. Während die erzählende Prosa die ersten drei Jahrzehnte ihres schriftstellerischen Schaffens bestimmte, dominieren die Publizistik und der Essay - wobei die Grenzen hier fließend sind - und das Sachbuch ihr späteres Werk. Ob die genannten äußeren Faktoren oder die eigenen Interessen und Aussageintentionen der Autorin die wesentlichere Rolle für das Zurücktreten der erzählenden Prosa gespielt haben, kann hier nicht entschieden werden. Ebenso wird noch zu untersuchen sein, ob und, gegebenenfalls, inwieweit Kleinschmidts Feststellung, daß das Anknüpfen und Festhalten vieler Exilautoren an einer schon vor der Emigration praktizierten realitätsorientierten Schreibweise als >mentaler Verweigerungsprozeß< zu interpretieren sei, im Falle Hilde Spiels zutrifft. Eine solche Interpretation scheint mir jedoch zunächst problematisch.70 Der Zwiespalt zwischen beiden Bereichen ist in starkem Maße auch von außen verursacht. Während ihr essayistisches Werk zu Beginn der achtziger Jahre - auch recht spät - durch die Verleihung des Johann-Heinrich-MerckPreises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, deren Mitglied Hilde Spiel seit 1972 ist, und des Ernst-Robert-Curtius-Preises für Essayistik öffentlich anerkannt wurde, sind ihr erzählerisches Werk wie auch ihre historischen und kulturgeschichtlichen Arbeiten noch bis vor kurzem weitgehend vernachlässigt worden. Erst im Mai 1988 fanden diese durch die Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste die ihnen gebührende Anerkennung. Dies ist teilweise begründet durch die in der Bundesrepublik wie in Österreich vorherrschende Hierarchisierung der literarischen Gattungen, in der der Essay an unterster Stelle einer Skala eingeordnet wird, an deren oberster Position die Dichtkunst, danach die Prosa rangieren. Das literarische Feuilleton wird per se, was man schon an dessen Darstellung in Literaturlexika feststellen kann, als vergängliches Tagesprodukt gänzlich aus dem Bereich der literarischen Produktion ausgeschlossen, so sorgfältig und ästhetisch anspruchsvoll es auch geschrieben sein mag. Der Essay ist als Gattung umstritten. Bei Adorno wird ihm nicht einmal der Rang einer literarischen Kunstform zugestanden, er sei vielmehr der Theorie verwandt.71 Hinzu kommt, daß das erzählerische, aber auch das Geschichte und Kulturgeschichte darstellende Werk Hilde Spiels im öffentlichen Bewußtsein gleichsam hinter der Präsenz der Journalistin, Publizistin und Kritikerin zu verschwinden schien. Dies veranlaßte die Autorin vielfach zu der Frage, ob es gut gewesen sei, sich für das Schreiben auch als Brotberuf zu entscheiden. Die Form des Essays setzt, analog zu den Auffassungen der englischen Empiristen, die Hilde Spiel lebenslang als Vorbild galten, den kritisch prüfenden Verstand und eine humane Grundhaltung voraus. Vielleicht ist

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dies der wesentlichste Grund dafür, daß sich Hilde Spiel in den letzten Jahrzehnten primär diesem Genre zugewandt hat. Im Mai 1988 stellte sie dementsprechend fest: »Was ich von mir selbst verlange, obschon ausdrücklich von niemand anderem, ist die unverwandte Teilnahme am Zeitgeschehen und dessen Niederschlag in dem, was ich schreibe. (...) Nach wie vor sehe ich in der Illumination des Geistes (der Aufklärung, Anm. d. Verf.), in der Austreiberin verderblicher Mythen und Mysterien, in der Ordnungsbringerin im Chaos, in der Bekämpferin des Aberglaubens und irrationalen Vorurteils die einzige Rettung vor unser aller Lemmingsturz. Darum wehre ich mich gegen die Obskuranten in der Kunst, gegen die Schaumschläger in der Philosophie, gegen die Wortführer einer >neuen Weinerlichkeit< ebenso wie gegen die Praktiker einer achselzuckenden Frivolität, die den Zustand der Dinge verächtlich ablehnen, statt deren Verbesserung zu erwägen.«72

1 Der vorliegende Aufsatz stellt Ergebnisse meiner Staatsexamensarbeit und Thesen meiner laufenden Dissertation über das Gesamtwerk der Exilautorin Hilde Spiel dar. Ich möchte den Thesencharakter betonen, um den Leser zur Kritik einzuladen. Die wiedergegebenen biographischen Informationen beruhen zum Teil auf einem persönlichen Gespräch mit Milde Spiel im April 1988. Für einen Überblick über das Werk der Autorin sowie eine umfangreiche Bibliographie vgl. Peter Pabisch: »Hilde Spiel - Femme de Lettres. (Mit Werkübersicht)«. In: Modem Austrian Lileraure 12 (1979) H. 3/4, S. 393-421 (Bibliographie: S. 412^121) und ders.: »Hilde Spiels »Rückkehr nach Wien< - eine besondere Thematik der Exilliteratur«. In: Wirkung und Wertung. Ausgewählte Beiträge zum 5. Symposium über deutsche und österreichische Exilliteratur. Hg. v. Donald G. Daviau und Ludwig M. Fischer. Columbia/S.C. 1985, S. 173-183. - 2 Die Einwirkung der Exilsituation auf die Produktivität der emigrierten Schriftsteller ist vielfach thematisiert worden. Vgl. hierzu z.B. Wulf Köpke: »Die Wirkung des Exils auf Sprache und Stil. Ein Vorschlag zur Forschung«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd. 3. München 1985, S. 225-237, wo die Untersuchung von Stil und Sprache der Autoren angeregt wird. - 3 Vgl. Hilde Spiel: Rückkehr nach Wien. München 1968, S. 42, im folgenden zitiert als: Rückkehr nach Wien, und Ariane Thomalla: »Ein halbes Leben im Exil. Gespräch mit Hilde Spiel«. In: General-Anzeiger (Bonn) v. 14.5.1982. - 4 Hilde Spiel: »Sehr geehrte Herren«. Brief vom 20.7.1971, St. Wolfgang am See. In: Hans-Joachim Müller (Hg.): Butzbacher Autorenbefragung: Briefe zur Deutschstunde. München 1973, S. 169-170. - 5 Vgl. Hans Winge: »Der Schauspieler im Film«. In: Neue Freie Presse (Wien) v. 30.8.1935, S. 5. - 6 Hilde(gard) Spiel: Versuch einer Darstellungstheorie des Films. Dissertation Universität Wien. M. 1935 PN 12850 (Dissertationsverzeichnis Wien & Innsbruck 4. Nachtrag, Philosophie Nr. 51). - 7 Vgl. International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933-1945. München/New York/London/Paris 1983, S. 698. - 8 Persönliche Mitteilung Hilde Spiels. - 9 Vgl. z.B. Hilde Spiel: »Vom Pendelschlag der Generationen«. In: Barbara Bondy (Hg.): Frauen der Zeit zu Fragen der Zeit. München 1961, S. 31-50, im folgenden zitiert als: »Vom Pendelschlag der Generationen«. - 10 Hilde Spiel: »Über Frankreich und England«. In: In meinem Garten schlendernd. Essays. München 1981, S. 25-28, Zit.: S. 28. - 11 Dies.: »Ich lebe gern in Österreich. Bekenntnis einer Heimgekehrten«. In: Bernt Engelmann (Hg.): Literatur des Exils. Eine Dokumentation über die P.E.N.-Jahrestagung in Bremen vom 18. bis 20. September 1980. Im Auftrag des P.E.N.-Zentrums Bundesrepublik Deutschland. München 1981, S. 150-154, Zit.: S. 151. - 12 Dies.: »Psychologie des Exils«. In: Protokoll des Internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945, abgehalten vom 3. bis 6. Juni 1975 in Wien. Hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Wien 1977, S. xxii-xxxvii, Zit.: S. xxii. - 13 Dies.: »Nur nicht die Wirklichkeit«. In: Jochen Jung (Hg.):

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Glückliches Österreich: Literarische Besichtigung eines Vaterlandes. Salzburg 1978, S. 169-172. - 14 »Exil und Rückkehr. Hilde Spiel im Gespräch«. Gespräch mit Hartmut Krug, 7.9.1985 in St. Wolfgang. In: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin (Hg.): Kunst im Exil in Großbritannien 1933-1945. Berlin 1986, S. 289-295, Zit.: S. 289, im folgenden zitiert als: »Exil und Rückkehr«. - 15 Margit Steiger, Margit Suppan, Theo Venus: »>In Österreich wurde ich eigentlich vernachlässigt««. Ein Gespräch mit der österreichischen Publizistin Hilde Spiel. In: Medien & Zeit. Forum für historische Kommunikationsforschung. Jahrgang 2 (1987), H. 1, S. 8-16, vgl. S. 12, im folgenden zitiert als: »>In Österreich wurde ich eigentlich vernachlässigt«. - 16 Vgl. »Exil und Rückkehr« (wie Anm. 14), S. 294. Dazu auch: Helmut F. Pfanner Exile in New York. German and Austrian Writers after 1933. Detroit 1983, S. 87/88. - 17 »Exil und Rückkehr« (wie Anm. 14), S. 294. - 18 Hilde Spiel: »Der kleine Bub Desider«. In: Neue Freie Presse (Wien) v. 31.10.1929, S. 11; v. 7.11.1929, S. 9 und v. 14.11.1929, S. 11. - 19 Hilde Spiel: »Menschwerdung«. (Vorabdruck eines Kapitels ihrer in Arbeit befindlichen Autobiographie). In: Literatur und Kritik 23 (1988), S. 42-49, Zit.: S. 48. - 20 Dies.: »Experimente des Films«. In: Neue Freie Presse (Wien) v. 25.3.1932, S. 10; dies. (Paris): »Film in Frankreich«. In: Neue Freie Presse v. 29.9.1933, S. 6 und dies.: »Die schönen Damen im Film«. In: Die Bühne (Wien), 1. Juli-Heft 1937, Nr. 451, S. 28-30. - 21 Dies.: »Die Pfeffermühle«. In: Neue Freie Presse (Wien) v. 19.10.1933, S. 6. - 22 Dies.: »Vom Pendelschlag der Generationen« (wie Anm. 9), S. 39. - 23 Dies.: Kati auf der Brücke. Berlin/Wien 1933. Neu erschienen in: dies.: Frühe Tage. München, Hamburg 1986. - 24 Vgl. o.V.: »Neunzehnjährige als Romanautorin«. (Kritik zu Kati auf der Brücke) In: Wiener Sonn- und Montagszeitung v. 27.2.1933. - 25 M. Steiger, M. Suppan, T. Venus: »>In Österreich wurde ich eigentlich vernachlässigt« (wie Anm. 15), S. 11. 26 Diese erschienen im Jahresring 1986/87. - 27 Hilde Spiel: Verwirrung am Wolfgangsee. Leipzig/Wien 1935. Neu erschienen unter anderem Titel: Sommer am Wolfgangsee. Reinbek 1961. Neu erschienen unter dem ursprünglichen Titel in: Frühe Tage. München/Hamburg 1986. - 28 M. Steiger, M. Suppan, T. Venus: »>In Österreich wurde ich eigentlich vernachlässigt«« (wie Anm. 15), S. 11. - 29 Hilde Spiel: Flute and Drums. London 1939. Deutsche Ausgabe: Flöte und Trommeln (Wiener Verlag) 1947 sowie Hamburg 1949. — 30 Eva Priester »Österreichische Schriftsteller in der britischen Emigration«. In: Protokoll des Internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945 (wie Anm. 12), S. 437-440, vgl. S. 437. - 31 Peter de Mendelssohn: »Writers without Language«. In: Hermon Ould (Hg.): Writers in Freedom. A symposium based on the XVII. International Congress of the P.E.N. Club held in London in September 1941. London/New York/Melbourne 1941, S. 92-98. - 32 Ebd., S. 94. - 33 M. Steiger, M. Suppan, T. Venus: »>In Österreich wurde ich eigentlich vernachlässigt«« (wie Anm. 15), S. 12. - 34 Hilde Spiel: The Fruits of Prosperity (Die Früchte des Wohlstands). Teile abgedruckt in: Die Zeitung. London (Maxwell Publ. Co.) 21., 22., 24., 25.11.1941 (Nr. 218, 219, 220, 221), 83.1942, S. 6; 2.7.1943 (Nr. 330), S. 6 sowie in: Kulturelle Beilage des Zeitspiegel. London, April 1946, S. 9/10. Als Buch erschienen: München 1981 und Rastatt 1984 (Taschenbuchausgabe). - 35 Dies.: »Kafka, Flaubert und das elfenbeinerne Dachkämmerchen«. In: Die Feder, ein Schwert? Graz 1981, S. 170-175, Zit.: S. 174, im folgenden zitiert als : »Kafka, Flaubert und das elfenbeinerne Dachkämmerchen«. - 36 Dies: The Darkened Room. London 1961, deutsche Übersetzung: Lisas Zimmer. München 1965, 1982, sowie München 1968, 1984. (Auch in ¡tal., holl., slow. Sprache erschienen). - 37 Dies.: Mirko und Franca. Erzählung. München 1980, 1983. 38 Vgl. Anm. 2. - 39 Hilde Spiel: Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation. Frankfurt/M. 1962. - 40 Dies.: Rückkehr nach Wien. Tagebuch 1946. München 1968 sowie 1971. - 41 Dies: Rückkehr nach Wien. München 1968, »Hilde Spiel an den Verlag« (Klappentext). - 42 Die entsprechenden Nummern (nach Kriegsbeginn) sind in der Londoner Newspaper Library nicht erhalten. - 43 »Books in General«. In: The New Statesman and Nation v. 12.8.1944 und v. 16.2.1946. - 44 Hilde de Mendelssohn (Spiel): »The Trek to Palestine«. In: The New Statesman and Nation v. 23.3.1946, S. 206; dies.: »Vienna«. Ebd., 13.4.1946, S. 262; dies.: »Garrison Festival«. Ebd., 7.9.1946, S. 168. - 45 Vgl. M. Steiger, M. Suppan, T. Venus: »>In Österreich wurde ich eigentlich vernachlässigt«« (wie Anm. 15), S. 12. - 46 Hilde Spiel: Der Park und die Wildnis. Essays. München 1953; dies.: Welt im Widerschein. Essays. München 1960; dies.: Städte und Menschen. Beiträge. Wien/München 1971; dies.: kleine schritte. Berichte und Geschichten. München 1976; dies.: In meinem Garten schlendernd. München 1981 (gekürzte Ausgabe: Frankfurt/M. 1984); dies.: Englische Ansichten. Berichte aus Kulturgeschichte und Politik. Stuttgart 1984. - 47 Dies. (Hg.): Der Wiener Kongreß in Augenzeugenberichten. Düsseldorf 1965. - 48 Dies.: Vienna's Golden Autumn. London 1987;

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(autorisierte Übersetzung a.d. Engl. v. Hanna Neves): Glanz und Untergang. Wien 1866-1938. Wien 1987. - 49 Dies.: Anna und Anna. Programmbuch Nr. 30. Hg. v. Burgtheater (Wien), 13.4.1988. - 50 Dies.: »Das vertauschte Werkzeug. Schriftsteller in zwei Sprachen«. In: Literatur und Kritik (1973), S. 549-552, Zit.: S. 549, im folgenden zitiert als: »Das vertauschte Werkzeug«. - 51 Vgl. dies: (Vorstellung.) In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1972, S. 93/94, im folgenden zitiert als: Vorstellung. - 52 Ebd., S. 93. 53 Ebd., S. 94. - 54 Hilde Spiel: »Das vertauschte Werkzeug« (wie Anm. 50), S. 551. 55 Ebd., S. 551. - 56 Hilde Spiel: Vorstellung (wie Anm. 51), S. 94. - 57 Dies.: Kati auf der Brücke (wie Anm. 23), S. 154. - 58 Ebd., S. 155. - 59 Dies.: Mirko und Franca (wie Anm. 37), S. 68. - Palestine Post< dazu beigetragen, die Existenz meiner Familie und meiner Arbeit zu sichern«38, schreibt Zweig 1942 bitter. Ein Brief an Feuchtwanger vom 17. Februar 1941 spricht von »viel Kleinzeug«, das er mache. »Die deutschen Blättchen hier und die hebräischen verweigern mir ihre Hilfe, nur die >Palestine Post< bringt Artikel oder eine short story.«39 Wie begrenzt diese Möglichkeiten aber

Arnold Zweig und die Palestine Post in Jerusalem

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waren, belegt Zweigs Hinweis an Feuchtwanger vom 31. Januar 1943, die einzige englische Zeitung sei »auf vier Seiten beschränkt, auf denen sie Weltund Landesereignisse, amtliche und zionistische Bekanntmachungen und Propaganda unterbringen muß.«44 Im gleichen Brief spricht Zweig davon, eine der Säulen der Zeitung sei »unser alter C.Z. Klötzel«. Er ist einer der redaktionellen Briefpartner Zweigs. Dazu kommen H. Zinder und G. Agronsky, der unverkennbar der wichtigste Ansprechpartner und der leitende Kopf unter den dreien ist. Der Ton der redaktionellen Korrespondenz ist trotz der Meinungsverschiedenheiten und ungeachtet einer Vielzahl von abgelehnten Beiträgen Arnold Zweigs immer sachlich-freundschaftlich. Die Bemühungen der Redaktion um seine Mitarbeit sind von echtem Interesse getragen. Zweigs Wertschätzung dieser Bemühungen spricht aus der brieflichen Bemerkung, die Palestine Post sei die einzige Institution in diesem Lande gewesen, die erkannte, daß ein verfolgter Autor nicht nur von der Luft leben konnte, auch nicht von der des heiligen Landes.41 Zum Charakter der Zeitung gibt ein Brief G. Agronskys an Zweig vom Dezember 1942 Auskunft. Die Politik der Zeitung werde gänzlich vom Herausgeber bestimmt und nicht von der Jewish Agency, der Vertretung der jüdischen Bevölkerung Palästinas. Doch stimme ihre Politik mit der der bestimmenden Gruppe dieser Organisation überein. Es sei seine - also Agronskys - feste Überzeugung, daß die Zeitung niemals mit der offiziellen jüdischen Politik in Konflikt geraten solle.42 Arnold Zweigs wachsende Distanz zum Zionismus und seiner Politik setzten zusätzliche Grenzen für seine Mitarbeit. Die Liste abgelehnter Texte Zweigs ist beträchtlich. Ein Artikel zur Araberfrage wird ebenso abgelehnt wie das Angebot, die Novelle Der Spiegel des großen Kaisers in Fortsetzungen zu drucken: es gebe Anspielungen, die das bessere arabisch-jüdische Verständnis stören könnten.43 Abgelehnt wird auch eine Serie von Artikeln über Hitler Ende September 1939. Zweig hatte sie noch vor Kriegsausbruch geschrieben, nun am Ende des ersten Kriegsmonats sah Agronsky keine Notwendigkeit mehr, sie den englischen Lesern anzubieten. Als Chamberlain noch Hoffnungen in Hitlers Reformen setzte, habe sie Sinn gehabt, nun, da er Krieg gegen Hitler führt, nicht mehr.44 Zweig hat sich dadurch nicht entmutigen lassen, sein Projekt weiterzuverfolgen. Es dürfte sich hier um die Keimzelle des großen Essays Der Typus Hitler handeln. Ohne Zusage der Redaktion hat er im Juli 1940 eine Aufsatzserie gleichen Titels an die Übersetzerin Lea Ben Dor geschickt.45 Erst 1947 wurde der Entwurf zur Interpretation des Zeitalters, eine der grundlegenden Arbeiten Zweigs auf dem Feld der politischen Publizistik, veröffentlicht, nachdem der Autor ihn nach dem Fall von Stalingrad überarbeitet hatte. Kein Genie, sondern der Typus des gegenrevolutionären Agenten sei Hitler - das ist der Grundansatz der Analyse des Problems, warum dieser Typus zur Kult-Figur aufsteigen konnte. Der Gedanke, dem Führer-Kult in Deutschland und der Erfolgsanbetung im Ausland den

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Nachweis entgegenzusetzen, daß die Naziführer ganz durchschnittliche Zeitgenossen seien, war Zweig offensichtlich wichtig. Er taucht auch in dem Artikel auf, der den Flug des Führer-Stellvertreters Rudolf Heß nach England kommentiert. Deutlicher noch als der Titel The Fuehrer and His Deputy*6 drückt die Überschrift des Originalmanuskripts »Deutscher Durchschnitt fliegt in die Unsterblichkeit« aus, daß dieser Flug Heß ein Maß an Aufmerksamkeit sichert, das ihm als einem durchschnittlichen Deutschen nicht zukommt. Unter das Niveau seiner Argumentation geht Zweig allerdings, wenn er glaubt, ihn als »männliche Privatsekretärin« abtun zu können. Der Essay über den Typus Hitler sucht der Person Hitlers und ihrer Wirkung näher zu kommen durch den Nachweis seiner infantilen Pcrsönlichkeitsstruktur und der Instrumentalisierung seiner Eigenschaft als erfolgreicher »Blinden-Führer« durch die herrschenden Schichten Deutschlands. Die letzte Ursache seines Aufstiegs sieht Zweig im Unvermögen der Weimarer Republik, mit der preußisch-militaristischen Tradition zu brechen. In Freuds Theorie sucht er den Schlüssel zum Verständnis der Verhaltensweisen der Deutschen in ihrer Geschichte, aber auch die Argumente gegen Lord Vansittarts Thesen von der Verwurzelung des Hitlerfaschismus im deutschen Nationalcharakter. Der Deutsche — heißt es im Typus Hitler — sei weder besser noch schlechter als seine Nachbarn. 47 Daß nach der Mitverantwortung der europäischen Staatsmänner gefragt werden müsse, die nach dem Weltkrieg zunächst antidemokratische Kräfte und dann mit der Appeasement-Politik das Naziregime stärkten, weil sie mit der antibolschewistischen Losung auftraten - das waren Einsichten, die Arnold Zweig mit vielen linksdemokratischen Freunden gemein hatte. Zu ihnen gehörte Rudolf Olden, der mit seiner Frau Ika der Torpedierung der »City of Benares« zum Opfer gefallen war. Die Rezension seines nachgelassenen Buches Ist Deutschland ein hoffnungsloser Fall? macht Zweig in der Palestine Post zu einem würdigenden Nachruf und einer Mahnung, das Vermächtnis Oldens anzunehmen: zu begreifen, daß Deutschland kein hoffnungsloser Fall sei und ein neues Europa nur mit einem neuen Deutschland errichtet werden könne.4® Eben deshalb bespricht er Leopold Schwarzschilds Buch World in Trance weitaus distanzierter. Nicht daß er dem Herausgeber des Neuen Tage-Buch die Solidarität aufkündigt. Eine antifaschistische Haltung billigt er ihm zu, sie sei wesentlich bestimmt gewesen von der »Liebe zur Kultur unserer demokratisch-kapitalistischen Epoche«. Sachkenntnis und Scharfsicht der Analyse des bedeutenden politischen Publizisten stehen für Zweig nicht in Frage, auch wenn er dessen Abneigung gegen »Diktaturen jeder Art«, ob des Proletariats oder des »wild-barbarischen Kleinbürgertums«, nicht teilt. Zweigs Einwand gegen das Buch konzentriert sich auf die individualistische Perspektive, die Beschränkung auf einzelne Politiker, wo von Parteien, von politischen Grundstrukturen gesprochen werden müßte. Von Max von Baden, Ebert und Hitler ist die Rede, wo vom deutschen Volke gesprochen

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werden sollte, während Spartakus, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner oder Gustav Landauer fehlen. Weil - so schließt Zweig die Rezension - im Buch die herrschenden Klassen von 1919 bis 1933 als rechtmäßige Inhaber der politischen und ökonomischen Macht erscheinen, muß der Leser, der ihm unkritisch folgt, die Welt nur in einem ideologischen Dämmerzustand sehen, wo »in Wirklichkeit die Angst vor dem Bolschewismus und die Sorge um das arbeitslose Einkommen Triebkraft und Aufschluß« geben.49 Zweig hat die Anläufe, durch gesellschaftskritisch dimensionierte Analysen moralisch-politische Orientierungshilfen zu geben, auch in den folgenden Jahren nicht aufgegeben. Sein zentrales Interesse für psychologische Aspekte blieb dabei immer bestimmend. In der Rezension eines Buches über die Psychologie des Faschismus - einer höchst positiven übrigens - hat Zweig eine Art Schlüssel zu seinem Verfahren formuliert: »Politische Bewegungen sind Gruppen-Erlebnisse, Pendelbewegungen von Menschenmassen, die von einer gemeinsamen Idee elektrisiert werden und aus gemeinsamen ökonomischen Voraussetzungen zu Handlungen angeleitet oder verführt werden. Soweit die Gruppenseele dabei eine Rolle spielt, hat der Psychologe das Wort...«50. Doch Entwürfe dieser Art hat er nicht mehr an ein größeres Publikum bringen können. Von der Serie »Antigermanismus«51 konnte er nur einen einzigen Teil in der Palestine Post unterbringen: War and Human Values52, eine Betrachtung zum dritten Kriegsjahr. Betont wird die Rolle Amerikas in der Phase »offensiver Verteidigung« gegen den »Ansturm wilder Völker aus dem Urwald der deutschen Seele«. Daß die Furcht des Kleinbürgers vor der als bolschewistisch denunzierten - deutschen Linken diesen Ansturm ermöglicht hat, ist das eine. Das andere, heute Entscheidende aber ist für Zweig, daß in diesem Krieg »wieder menschliche Werte im Vordergrund« stehen und »eine Generation, von uns dazu erzogen, im Krieg ein hassenswertes Unglück zu sehen, ... sich so kriegstüchtig und fähig zur Selbstaufopferung (erweist) wie nur irgend eine der früheren...«. Abgesehen von der etwas bombastischen Apostrophe Roosevelts als Karl Martell, verrät der eher propagandistische als analytische Artikel ein Dilemma, das Dilemma des Standpunkts und der Adressierung. Als deutscher Antifaschist hofft Zweig, der Ausgang des Krieges werde »das deutsche Wesen« vom Schutt der Suggestionen befreien, die »der hysterische Hitlerkult es lehrte.« Aber zu Deutschen kann er nicht sprechen, als Deutscher und Jude nur die Jugend der Alliierten und ihre Wertvorstellungen preisen. Wenn er - mit Recht - sich zu den Erziehern einer friedensliebenden Jugend zählt, kann er die deutsche nicht einschließen. Kurz: Argumentation und Appell weisen Brüche auf, und das um so mehr, als auch Nachkriegsprobleme thematisiert werden. Das wird dann zum Hintergrund einer Kontroverse zwischen Autor und Redaktion, deren Auslöser wahrscheinlich eine Artikelserie ist, die als ein in sich geschlossener Zyklus essayistischer Betrachtungen unter dem Titel »Das Nachkriegsrätsel« in der erwähnten Schriftenreihe Warner und Künder erschienen ist.53

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Als ein »prominenter Vertreter des antifaschistischen Denkens im Vorkriegs-Deutschland« war Zweig von Agronsky aufgefordert worden, seine Auffassungen niederzuschreiben, »welche Maßnahmen in Deutschland nach Ende des Krieges getroffen werden müßten.«54 Statt seine Erwartungen über die Behandlung Deutschland in einer künftigen Friedensordnung habe Zweig aber seine Ansichten über die Behandlung Deutschlands nach dem letzten Krieg dargestellt.55 Die sieben Artikel56, die Zweig geschrieben hatte, wurden als Serie abgelehnt. So groß die Bedeutung eines richtigen Verständnisses der Vergangenheit als Wegweiser in die Zukunft auch sein mag, argumentierte Agronsky, für eine Tageszeitung - noch dazu eine an englische Leser gerichtete - sei die Aktualität wichtiger.57 Tatsächlich war Zweigs Verfahren, aus den Folgen des Ersten Weltkrieges Umrisse von Gegenwartsaufgaben zu entwerfen, eher auf Selbstverständigung unter Antifaschisten und Aufklärung ernüchterter Intellektueller in Deutschland gerichtet, als daß sie Leser ansprechen konnte, die nach pragmatischen Orientierungen suchten oder sich in der neuen Heimat aus Denkmustern deutscher geistesgeschichtlichen Tradition bewußt ausgliedern wollten. Das verweist auf das Dilemma widersprechender Beziehungen zwischen dem realen Adressaten und der den Texten immanenten Adressierung. Zweigs Neigung zu spekulativen philosophischen Argumentationsketten mußte dieses Dilemma verstärken. Nachdenkend, wie er sich von einem realistischen Standpunkt aus und für englische Leser verständlich dem Thema nähern könnte, was in und mit Deutschland passieren wird, entschließt er sich, mit einem Artikel über Deutschlands bevorstehenden Leidensweg zu beginnen.5* Der Epiker Zweig kann sich nur schwer der Aufforderung unterwerfen, am Schreibtisch konkrete Maßnahmen zu erdenken. Selbst als er endlich ankündigt, in 14 Tagen werde er seine Beiträge zum Problem auf den Tisch legen, wie man mit Deutschland umgehen sollte, konzentriert er sich auf sein altes Thema, der deutsche Militarismus könne nicht zerstört werden, ohne den Einfluß der Junkerklasse auszuschalten.59 Das jedenfalls ist Thema von neun essayistischen Studien, die - vermutlich um 1942/43 geschrieben - einen gedanklichen Bogen vom »Umgang mit den Deutschen« bis zur Erwartung der sozialen Revolution in Deutschland schlagen. Die »unbekannte Kraft, von der alles abhängt«, so lautet ein zentraler Satz, »ist die Wiedergeburt des deutschen Menschen aus dem Geist der Scham, der Verzweiflung und der Umkehr.«60 Deshalb sollten sich die Alliierten der Emigranten als Berater versichern und begreifen, daß der Weg zur Befreiung des Proletariats »mit dem der Demokratie identisch«61 ist. Gefordert wird Solidarität mit den deutschen Linken, die noch vor den Juden Opfer der Nazis waren und nun Verantwortung haben, daß die Chance des Neubeginns genutzt werden kann. Die Haltung der Sieger wird deshalb ein entscheidender Faktor. Als dieser Text spät, aber immerhin doch noch durch eine Publikation für Kriegsgefangene zu deutschen Lesern gelangte, waren die Würfel der Nachkriegspolitik längst gefallen. Zweig selber dachte schon an seine

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Rückkehr nach Europa. Adressaten, die seine Analysen und Schlußfolgerungen als Impuls für gesellschaftlich-politische Entscheidungen von außerhalb oder auch innerhalb des vom Nazifaschismus befreiten Deutschland hätten verwerten können, fand er nicht. Die praktische Wirkungschance des großen essayistischen Entwurfs erwies sich für ihn als noch geringer als die der journalistischen Gelegenheitsarbeiten. Um zu Wort - und zu Geld - zu kommen, hat Arnold Zweig die Redaktion zeitweise geradezu mit Vorschlägen und Angeboten überschüttet, teils realistischen, teils illusionären. Den Vorschlag, zum Rosch-HaschanahFeiertag eine Beschreibung der Feier an der Front im Herbst 1916 zu geben62, wurde rasch aufgegriffen.® Anlässe zu Publikationen boten auch Gedenkund Todestage, soweit ein Leserinteresse zu erwarten war. Dem verdankt der Kipling-Essay seine Entstehung, der nicht nur Würdigung des Schriftstellers ist, sondern auch die Haltung dieses Konservativen beschreibt, welcher, fern der Gesellschaftskritik moderner Gewissensliteratur, doch in seiner Verachtung für den Ungeist des »neudeutschen Kaisertums« sich von der Geistfeindlichkeit des konservativen Lagers in Deutschland abhebt. 64 Nachrufe auf die jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig65 und Richard BeerHofmann 66 sind als kurze, sehr persönlich gehaltene Skizzen angelegt, nicht unkritisch, vor allem die Leistungen würdigend. Auch einige politische Artikel gehen über den Charakter reiner Gelegenheitsarbeiten hinaus. Hier sind vor allem Arnold Zweigs Auseinandersetzungen mit dem »Gewaltgeist« zu nennen, der ihn in den Jahren des arabischen Aufstands tief beunruhigte. Ausführliche Auseinandersetzungen mit dem jüdischen Nationalismus hat er in der Pariser Tageszeitung und im Orient veröffentlicht. Doch auch in der Palestine Post suchte er mit seinem Aufsatz »Gewaltgeist und Jugend« - englisch unter dem Titel Idolizing Aggression67 - die wirklichen Sorgen des Landes anzusprechen. 68 Die Gesetzlosigkeit des terroristischen Nationalismus habe zur Störung der zivilisatorischen Bestrebungen geführt und Jugendliche zu Asozialen und Verwahrlosten gemacht. Die wilde Gewaltanwendung und -anbetung während des Krieges sieht Zweig als Ursache vieler Verbrechen. Im arabischen wie im jüdischen Sektor gelte es, die Achtung vor dem Menschenleben und den Ergebnissen der Menschenarbeit wiederherzustellen. Dazu sei soziale Fürsorge nötig, aber auch der Kampf gegen die gefährliche Verwechslung zwischen Taten zur Verteidigung der Kultur und der Demokratie und der Glorifizierung des Angreifers und seines Gewaltgeistes. Gegen Wirklichkeitsfremdheit und militaristische Besessenheit eines Exponenten des Gewaltgeistes im jüdischen Lager polemisiert Zweig in seinem Nachruf Jabotinski. Tribute to an Adversary.m Trotz der eigenwilligen und in manchen Zügen der öffentlichen Meinung des Landes querliegenden Position Zweigs kann bis 1943 von regelmäßigen Bemühungen um Mitarbeit auf beiden Seiten die Rede sein. Aus dem Briefwechsel geht sogar hervor, daß er Extrazahlungen 70 über das normale Honorar hinaus erhielt, und es dürfte nicht die Regel gewesen sein, wenn

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Zweig nach Ablehnung seiner Serie über das deutsche Problem im November ein Ausfallhonorar erhielt, damit seine Arbeit nicht umsonst sei, wie Agronsky schreibt.71 Freilich hat Zweig auch Grund zum Klagen, vor allem, daß steigenden Ausgaben eine sinkende Frequenz gedruckter Beiträge gegenübersteht.72 Viele Ideen und Vorschläge werden nicht realisiert.73 Das trifft auch auf die berühmte Interpretation des Grimmschen Märchens Der Jude im Dorn1* zu. Doch immerhin ist das hier entwickelte Verfahren, in einer Märcheninterpretation Aspekte der Psychoanalyse und der Geschichtsanalyse zu vereinen, um Modelle gefährlicher Grundhaltungen sichtbar zu machen, hier und da in der Palestine Post produktiv geworden. Das »Nazi-Märchen« mache großen Eindruck, berichtet Agronsky im Juni 1940.75 Gemeint ist der Text Hitlers Knapsack, Hat, and Hont.16 Der »aktuelle Kommentar« legt Schritt für Schritt dar, wie das Grimmsche Märchen Der Ranzen, das Hütlein und das Hömlein77 in der Nußschale die ganze Geschichte des deutschen Militarismus enthalte, ebenso wie Der Jude im Dom die des Antisemitismus in Deutschland. Aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges stammend, kein Meisterstück der großen Märchensammlung, steuere es doch aus der Tiefe dichterischen Wissens ein Bild vom Willen zur Macht in der Märchenwelt bei, vom Drang nach Herrschaft, gegründet auf den Besitz von Soldaten und Kriegsmitteln, wirksam in der Seele des besitzlosen Abenteurers. Der Kommentar transzendiert diese Märchenwelt, legt gleichnis- und modellhafte Strukturen bloß, die auf die wirkliche Welt verweisen. Drei Glücksritter brechen auf, ihr Glück zu machen, mit ihnen soll der Leser von heute das schlimme Märchen der Deutschen Republik erleben. Denn in diesen Männern sieht Zweig die gescheiterten und entwurzelten Landsknechtstypen des Ersten Weltkrieges, die mit Pensionen und mit Stellungen in der Industrie ihren Schnitt machen. Mit solchen Abfindungen gibt der Dritte sich aber nicht zufrieden: Mit dem Wunschtuch kann er die Köhler befriedigen und ihnen zugleich die Waffen entreißen, mit denen er militärische Macht gewinnt und das Königreich erobert. Dieser Glücksritter nimmt die Züge Hitlers an. Mit wissenschaftlicher Analyse hat das wenig zu tun, weder das Märchen noch die darüber gelegte Ebene gegenwärtiger Geschichte geben mehr als dem Leser bekannte Fakten preis. Der eindringliche Effekt der Verflechtung der Ebenen ergibt sich aus dem überraschenden Kurzschluß von Märchen und Realität, aus der Tiefendimension, die Dichtung und Zeitgeschichte wechselseitig gewinnen. Der Kommentar macht aus dem Märchen das Meisterstück, das es für sich nicht war, wenn auch auf einer anderen, der journalistischen Ebene. Setzte das »Nazi-Märchen« ein gewisses Maß von Vertrautheit mit dem deutschen Märchenwald und seinen gefährlichen Köhlerwinkeln voraus, so kann Zweig in der Purim Story for 194178 subtile Vertrautheit seiner Leser erwarten mit der »Erinnerung an die Errettung der Juden in Persien ..., die im Buch Esther beschrieben ist.«79 Seine Neudeutung der Geschichte folgt dem gleichen Prinzip der ironischen Verschränkung von altehrwürdiger Erzählung und Gegenwartshistorie. Nur erfolgt diesmal die Verschränkung

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nicht durch einen Kommentar, sondern durch pointierte Neuformulierung, welche satirische Züge trägt. Haman ist eine Figur des »Typus Hitler«, sein Schlachtruf »Rache für Marathon« führt ihn zum Sieg über schwache Nachbarn und zum Scheitern an Griechenland — so wie Hitler an den Demokratien scheitern muß. Die Juden aber schrieben dieses Stück Weltgeschichte nicht auf, weil sie sich nicht einigen konnten, in welcher Sprache das geschehen müsse und erfanden später den bekannten Roman über das Privatleben des persischen Königs, in dessen Figuren Haman, Mardochaj und Esther überdies Götter des Altertums weiterleben. Der Zeitgenosse in Palästina konnte im Sprachenstreit und der Geschichtslegende leicht den halb satirischen, halb heiter-ironischen Rekurs auf Fragen erkennen, die Zweig immer wieder teils im Zorn und zuweilen resignierend seinen nationalistischen Landsleuten entgegengehalten hatte. Auch hier war das große Anliegen, nach dem Platz der Juden im Kampf gegen Hitler zu fragen. Im locker erzählten, didaktische Absicht nur leicht ironisch verhüllenden politischen Feuilleton findet Arnold Zweig Anfang der vierziger Jahre ein Medium antifaschistischer Wirksamkeit in der offiziösen Presse. Hier trifft er den Ton, alte und neue Landsleute anzusprechen. Im Memorial to Austria*0 - einem von Zweig in englisch geschriebenen Text - läßt er den Geldwechsler Mr. Shalmoni um Österreich klagen, die arme kleine Republik, die niemand zu retten wagte. Soll er die Münzen aller von Hitler, dem Blindenführer, unterjochten Länder als Steinchen auf ihre Gräber legen? Die Geschichte vom Bauer Boris hält ihn ab, der in der Inflation die Kupfermünzen in den Keller warf und freudig feststellte, daß sie am Ende ihren Wert behalten hatten. Er wird sie behalten, die Münzen, vielleicht kommt auch für sie eine Auferstehung. Skurril und heiter ist dieser Dialog des Wechslers mit seiner Frau, aber er zeigt auch Verbundenheit mit dem Land, das - so wenig es den Juden freundlich war - doch Solidarität verdient als Opfer der Gewalt. Zweig der Erzähler erweist sich als ein Meister des gehobenen Feuilletons mit politischem Hintergrund in seinem Lob des Pfeifenrauchens.81 Mit Behagen verbreitet er sich über die Vorzüge des Pfeifenrauchens, läßt auch eine ironische Anspielung auf mythische Hintergründe nicht aus, in dem er die Pfeife zum kleinen Altar für die Brandopfer der Vorzeit erklärt. Gleichsam nebenbei wird die Herkunft der Pfeifen, aus Deutschland, Frankreich, England zum Angelpunkt von Reflexionen über die Stellung dieser Länder im Krieg gegen Hitlerdeutschland und schließlich gar Symbol der Erziehung zur Entschlossenheit - der Eigenschaft, die zum Gewinnen von Kriegen nötig ist. Plaudernd bringt der Autor sich selbst ein, selbstironisch und selbstverliebt, aber auch am Schreibtisch mit seiner Pfeife dem weltgeschichtlichen Kampf verbunden, bemüht, selbst dem kleinsten Zufall noch Anstöße abzugewinnen für Ruhe, Selbstgefühl, Standhaftigkeit und letztlich Gewißheit des Sieges. Der Schriftsteller - hatte Zweig 1935 geschrieben - habe das heilende

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Wort nicht zu scheuen. Was er damals als die Zerrüttungen analysierte, die das seelische Gleichgewicht älterer Einwanderer durcheinanderbringen, erhält - punktuell zwar - in Kurzgeschichten für die Palestine Post eine gültige und künstlerisch eindringliche Formulierung. Die alte Heimat ist Last, Irritation, aber zugleich auf seltsame Weise auch untilgbarer Teil der Persönlichkeit, zurückgenommen in die Erinnerung, und doch alle Wertvorstellungen prägend, die noch in der Zerrüttung eine Art Halt geben. Das etwa läßt sich der Erzählung Geister - englisch Spirits walk abroad 82 ablesen. Auf Geister, Kobolde, wie er sie aus Sagen der alten Heimat kennt, projiziert ein sonderbarer Mann die Widrigkeiten seines Alltags. Ein Gespinst geheimer Zeichen scheint ihm die Welt zu überziehen, latenter Gefährdungen, die ihn nur deshalb nicht mehr ernstlich bedrohen, weil er eigentlich schon tot ist, ein Geretteter von einem gesunkenen Flüchtlingsschiff. Wie ihn die Geister nicht niederzwingen können, so werde der Heilige Geist sich der Midgardschlange erwehren, der Hitlerdrache untergehen. Sachlich und mit Wärme, offen für die Seltsamkeit des Mannes und seine in der Verwirrung des Geistes noch durchgehaltene Zuversicht, berichtet der Erzähler kommentarlos von der Begegnung. Die kleine Geste, das Geschenk einer Tabakpfeife, ist der Kern der Geschichte: eine Geste der Zuwendung, der Anteilnahme, der Achtung vor dem Leid, das in der skurrilen Projektion nach außen tritt. Humorvoll gelöst ist der Grundton der letzten Geschichte dieses Themenkreises: FensterscheibenVon einem Mann ist die Rede, der sich sechs Monate lang weigert, von Bomben zerstörte Fensterscheiben zu reparieren, weil sie schon am nächsten Tag wieder hin sein könnten. Dann eines Tages tut er es. Warum? Der ehemals bekannte Anwalt aus Deutschland hat geträumt, Bismarck - oder war es Hindenburg - habe ihm in Berlin versichert, in Haifa werde es keine Bomben mehr geben, um so mehr in Berlin. Heiter erzählt es der eilte Liberale seiner Familie, der Traum hat die Hemmung gelöst. Das erlösende Wort, er hat es gleichsam zu sich selbst gesprochen. Die Moral der Geschichte ist ihrem Helden selbst in den Mund gelegt: »Zu Jahren gekommene Bäume soll man nicht verpflanzen ... Aber hat man mich gefragt? Man hat mich nicht gefragt. Also verbraucht mich, wie ich nun einmal bin.«84 Seit 1943 wird die Mitarbeit Arnold Zweigs in der Palestine Post sporadisch. Seine Bemühung um eine marxistische Weltsicht ist hier nur spurenweise wahrzunehmen. Es war nicht der ganze Arnold Zweig, der in den Essays, Berichten und Geschichten des Blattes zu den Lesern spricht. Zweifellos hat sich auch die Distanz zu dem Organ verstärkt, das lange seine publizistische Zuflucht war. Sarkastisch empfiehlt er der Redaktion im Mai 1946, ein Prosastück zu drucken, das 1942 von der Militärzensur verboten worden war45: am Tag der Siegesparade mit dem Hinweis, warum es erst jetzt veröffentlicht wird.86 Das Original hatte die Mitteilung des Zensors getragen, der Artikel komme »der Wahrheit zu nahe«87. Der letzte Beitrag Zweigs war ein Nachruf auf einen englischen Beamten, Sir Arthur Wau-

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chope.88 Seine Gestalt - heißt es im melancholischen Abgesang - werde in der Erinnerung lebendig bleiben und erst verdunkelt werden, »wenn unser Bewußtsein erlischt und wir selber ins Nichts versinken. Und das ist die einzige Art von Unsterblichkeit, auf die der Mensch, dessen Werke sich im Alltag abspielen und die nicht von künstlerischer Form verewigt werden, rechnen kann. Ein freundliches Gedenken: denn er nahm den Vertriebenen auf und gab ihm unter die Füße den festen Boden, den er für seine Arbeit brauchte.«

Diese Arbeit wäre ohne die großzügige Unterstützung des Arnold-Zweig-Archivs der Akademie der Künste der DDR nicht zustande gekommen, Ich danke vor allem Frau Ilse Lange für ihre Hilfsbereitschaft und Frau Christina Horn für Zuarbeiten und Materialbeschaffung. Zitate sind der jeweils nachgewiesenen deutschen Fassung entnommen. 1 Sigmund Freud / Arnold Zweig: Briefwechsel. Hg. v. Ernst L. Freud. Frankfurt/M. 1984, S. 1 1 9 . - 2 Vgl. dazu Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Zweiter Teil. Königstein/Ts. 1983, S. 49 ff.; David R. Midgley: Arnold Zweig. Eine Einführung in Leben und Werk. Frankfurt/M. 1987. Kap. V: Arnold Zweig in Palästina, S. 123 ff. - 3 Arnold Zweig (= A.Z.): »Verwurzelung«. In: Orient, Haifa 3 (1942) Nr. 14. - 4 A.Z.: »Hitler und Antihitler IV«. In: Pariser Tageszeitung (= PTz) Nr. 755 v. 5.8.1938. - 5 A.Z. an H. Zinder, 8.9.1935 (Arnold-Zweig-Archiv der Akademie der Künste der DDR = AZA). - 6 H. Zinder an A.Z., 4.8. (recte 9.) 1935 (AZA). - 7 H. Zinder an A.Z., 26.8.1935 (AZA). - 8 A.Z.: »A Judge of Juvenile Offenders«. In: The Palestine Post (= P.P.) v. 4.9.1935. Dt. Fassung »Ein Jugendrichter«. In: Danziger Echo v. 4.7.1936. - 9 (AZA) Mskr. in deutscher Sprache in 14 selbständigen Abschnitten. Die fehlenden Teile I und VIII lassen sich im Kontext der Serie als zwei in deutscher Sprache veröffentlichte Artikel in der Zeitung Danziger Echo identifizieren. - 10 A.Z.: »The Fountain-Head of Life. Jewish Doctors from Germany«. In: P.P. v. 20.12.1935. Dt. Mskr. »XII. An der Quelle des Lebens« (AZA). - 11 A.Z.: »Improving Conditions. The Newcomers Real Contribution«. In: P.P. v. 6.12.1935. Dt. Mskr. »X. Die Verbesserung der Bedingungen.« (AZA). - 12 Vgl. A.Z.: »Das Skelett der PalästinaSituation«, T. 1-6. In: PTz v. 27.5.1938-1.7.1938; A.Z.: »Die Wahrheit über Palästina«, T. 1-9. In: PTz v. 9.9.1938 - 18.11.1938; A.Z.: »Hitler und Antihitler. Die Dialektik des nationalsozialistischen Geschehens und seiner Ausstrahlung«. T. 1-8. In: PTz v. 14./15.7.1938 - 2.9.1938. - 13 A.Z.: »The Story of Women in Exile. Pampered Voluptuousness Belied«. In: P.P. v. 11.9.1935. Dt. Mskr. »III. Die Frauen« (AZA). - 14 A.Z.: »Engineers and the New Technique. Out of Old World Chaos - Towards a New Order«. In: P.P. v. 20.9.1935. Dt. Fassung »Ingenieure im Neuen Land«. In: Danziger Echo v. 20.6.1936. - 15 A.Z.: »Ingenieure im Neuen Land«, ebd. - 16 A.Z.: »The Baton and the Bayonet. Keeping the Orchestra Going«. In: P.P. v. 1.12.1939. Dt. Mskr. »Das Notwendige und das Überflüssige« (AZA). Vgl. dazu Brief G. Agronsky an A.Z. v. 2.12.1939, in dem es heißt, es würde uns ein Vergnügen sein, die »kleine Reklame für das Orchester« zu drucken. Der Titel der engl. Fassung stammt offenbar von der Redaktion. - 17 A.Z. an G. Agronsky, 24.10.1935 (AZA). - 18 G. Agronsky an A.Z., 31.10.1935 (AZA). - 19 A.Z.: »Disintegration. Balance Disturbed in Transplanting«. In: P.P. v. 3.10.1935. Dt. Mskr. »IV. Zerrüttungen« (AZA). - 20 A.Z.: »Max Eitingon. In Memoriam«. In: P.P. v. 10.8.1943. Dt. Mskr. »Gedenkworte für Max Eitingon« (4.8.1943) (AZA). - 21 A.Z.: »Sigmund Freud. Explorer. 80th Birthday Reflections«. In: P.P. v. 6.5.1936. Vgl. A.Z.: »Freud und der Mensch«. In: Die psychoanalytische Bewegung, Wien 1 (1929) 2. Zitiert nach A.Z.: »Die Natur des Menschen und Sigmund Freud«. In: A.Z.: Früchtekorb. Rudolstadt (1956), S. 78. - 22 Arnold Zweig 1887-1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Hg. v. G. Wenzel, Berlin/DDR, Weimar 1978, S. 307 (= AZ 1987-1968). - 23 »Amold Zweig über Palästinas Zukunft. Ein Gespräch mit dem Dichter«. In: Pariser Tageblatt Nr. 103 v. 25.3.1934. - 24 Z.B. A.Z.: »Der Geist des Bauens«, In: PTz Nr. 702 v. 3.6.1938. - 25 A.Z.: »The Towns and Their Builders. Owner, Architects an Tenant«. In: P.P. v. 29.11.1935. Dt. Mskr. »IX. Die

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Leute vom Bau« (AZA). - 26 A.Z.: »Haifa's Jewish Crowds. A Picture of the Streets and People«. In: P.P. v. 27.12.1935. Dt. Mskr. »XIV. Massen« (AZA). - 27 Sigmund Freud / Arnold Zweig. Briefwechsel (wie Anm. 1), S. 131. - 28 A.Z.: »Ready-Made Clothing. Transformations Among German Jewish Settlers«. In: P.P. v. 3.1.1936. Dt. Mskr. »VII. Konfektion« (AZA). - 29 A.Z: »Erich Heimann. Bookseller. An Appreciation«. In: P.P. v. 18.3.1942. Dt. Mskr. »Nachruf auf einen Antifaschisten: Erich Heimann, Buchhändler und Journalist einem Herzleiden erlegen« (1S.3.1942) (AZA). Der gedruckte Text ist stark gekürzt. - 30 A . Z an H. Zinder, 8.9.1935 (AZA). - 31 A.Z, Dt. Mskr. »VI. Verlegenheit mit Rechtsanwälten« (AZA). - 32 A.Z, Dt. Mskr. »XI. Schönheit und das Lebensnotwendige« (AZA). - 33 A.Z., Dt. Mskr. »V. Wie eine Sprengwirkung zustandekommt« (AZA). 34 A.Z., Dt. Mskr. »II. Existenzfragen« (AZA). - 35 AZ 1887-1968, S. 333. - 36 A.Z., Dt. Mskr. »XIII. Politische Physik« (AZA). Der Begriff ist grundlegend für A.Z.S historischpolitisches Denken; vgl. das Schlußkapitel des (ungedruckten) Buches »Die Alpen oder Europa« (AZA). - 37 Vgl. dazu Dieter Schiller »Arnold Zweigs Exilpublizistik als Bemühen um den Dialog unter Antifaschisten in den Jahren 1933-1938«. Vortrag auf dem Arnold-ZweigSymposium, Cambridge 1987. - 38 A.Z: »Verwundung«. In: Orient 3 (1942) Nr. 14. 39 Lion Feuchtwanger / Arnold Zweig: Briefwechsel 1933-1958, Bd. I. Berlin/DDR, Weimar 1984, S. 224. Zur Verteilung der Artikel A.Z.S in den Jahrgängen der P.P. (auf der Grundlage der im AZA vorliegenden Ausschnitte): 1935: 9; 1936: 3; 1939: 2; 1940: 4; 1941: 8; 1942: 3; 1943: 3; 1945: 2; 1947: 1 . - 40 Lion Feuchtwanger / Arnold Zweig: Briefwechsel (wie Anm. 39), Bd. I, S. 269. Ein Brief von G. Agronsky an A . Z v. 21.9.1939 enthält den Hinweis, daß die Zeitung im Umfang werde reduziert werden müssen (AZA). - 41 A.Z. an G. Agronsky, 14.12.1941 (AZA). Freilich enthält der Brief auch die Bemerkung, er sei sehr traurig, daß in diesen Wochen weder seine Artikel noch seine Kurzgeschichte gedruckt worden seien. — 42 G. Agronsky an A.Z., 28.12.1942 (AZA). - 43 A . Z an G. Agronsky, 20.12.1936; G. Agronsky an A.Z., 1.1.1937; G. Agronsky an A.Z., 29.1.1940 (AZA). - 44 G. Agronsky an A.Z., 21.9.1939 (AZA). - 45 A . Z an Lea Ben Dor, 23.7.1940 (AZA). Es handelt sich, wie aus dem Brief von A . Z an G. Agronsky v. 13.6.1940 hervorgeht, um eine Artikelfolge, die mit der Analyse von Rudyard Kiplings Erzählung The Man who would be King beginnt. Das entspricht dem Text des ersten Kapitels des großen Essays Der Typus Hitler, der 1947 in der Schriftenreihe Warner und Künder erschienen ist. Der Brief enthält auch den Hinweis, er — A . Z — werde diese Serie auch ohne Verpflichtung der Redaktion beginnen. Demnach ist eine erste Fassung der Arbeit zwischen 13.6. und 23.7.1940 entstanden. Die Übersetzerin Lea Ben Dor, geb. Halpern, war eine Schwester von Ika Olden vgl. Feuchtwanger / Zweig: Briefwechsel (wie Anm. 39), Bd. I, S. 378. - 46 A.Z: »The Fuehrer and His Deputy. A Spurious Immortality«. In: P.P. v. 9.6.1941. - Dt. Mskr. »Deutscher Durchschnitt fliegt in die Unsterblichkeit« (153.1941) (AZA). - 47 Schriftenreihe Warner und Künder. Zur Deutschen Selbsterkenntnis. Hg. v. Dr. A. Sindler, Fanara 1947, S. 12. - 48 A.Z: »Rudolf Oldens Heritage«. In: P.P. v. 10.11.1940. Dt. Mskr. »Rudolf Oldens Vermächtnis« (5.11.1940) (AZA). In A.Zs politischem Konzept der ersten Hälfte der vierziger Jahre spielt die Orientierung auf einen »Bund der vereinigten Demokratien Europas« als Modell einer Nachkriegsordnung eine große Rolle. Vgl. Warner und Künder, S. 15. - 49 A.Z: »Versailles and After«. In: P.P. v. 9.11.1945. Dt. Mskr. »Erinnert Euch. Von Versailles zu Pearl Harbour« (AZA). - 50 A.Z: »A Scientist Looks on Politics« (Rez. v. Peter Nathan: The Psychology of Fascism, London 1943). In: P.P. v. 10.12.1943. Dt. Mskr. »Ein Wissenschaftler betrachtet die Politik« (AZA). - 51 A.Z: »Antigermanismus«. In: Orient 3 (1942) Nr. 30-38. - 52 A.Z: »War and Human Values«. In: P.P. v. 3.9.1941. Dt. Fassung (gekürzt) »Roosevelt - Karl Martell«. In: Jedioth Hitachduth Olej Germania we Olej Austria. Tel Aviv v. 24.10.1941. Dt. Fassung (vollständig) Orient 3 (1942) Nr. 37. 53 Schriftenreihe Warner und Künder (wie Anm. 47), Zweites Buch: Das Nachkriegsrätsel. - 54 C.Z. Klötzel an A.Z, 9.2.1943 (AZA). - 55 G. Agronsky an A . Z , 18.11.1943 (AZA). - 56 A.Z. an G. Agronsky, 17.10.1943 (AZA). - 57 G. Agronsky an A.Z., 18.11.1943 (AZA). - 58 A . Z an G. Agronsky, 17.10.1943 (AZA). - 59 A . Z an G. Agronsky, 16.1.1944 (AZA). - 60 Schriftenreihe Warner und Künder (wie Anm. 47), S. 37. - (1 Ebd., S. 39. 62 A . Z an H. Zinder, 8.9.1935 (AZA). - 63 A.Z: »New Year at the Front. An Incident of 19 Years Ago«. In: P.P. v. 27.9.1935. Dt. Fassung »Neujahr an der Front«. In: Pariser Tageblatt v. 29.9.1935. - 64 A.Z: »To Rudyard Kipling. In Gratitude. The Light That Can Never Fail«. In: P.P. v. 14.2.1936. Dt. Fassung »Rudyard Kipling«. In: Die Neue Weltbühne 33 (1937), S. 331 ff. - 65 A.Z: »Stefan Zweig Dies in Brazil. An Appreciation by a Friend and Contemporary«. In: P.P. v. 25.2.1942. - 66 A.Z.: »Death in Exile. Richard Beer-Hofmann«. In: P.P. v. 1945. Dt. Mskr. »Death in Exile« (AZA). - 67 A.Z: »Idolizing Aggression.

Arnold Zweig und die Palestine Post in Jerusalem

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A Plea for Misguided Youth«. In: P.P. v. 24.12.1939. Dt. Mskr. »Gewaltgeist und Jugend« (AZA). - 68 A.Z. an G. Agronsky, 18.12.1939 (AZA). Offenbar hatte A.Z. Sorge, der Artikel werde die Zensur während des Krieges nicht passieren. — (9 A.Z.: »Jabotinski. Tribute to an Adversary«. In: P.P. v. 16.8.1940. Dt. Mskr. »Nachruf auf einen Gegner« (AZA). 70 G. Agronsky an A.Z., 29.4.1941 (AZA). - 71 G. Agronsky an A.Z., 18.11.1943 (AZA). - 72 A.Z. an G. Agronsky, 20.11.1941 (AZA), vgl. auch Briefe A.Z.S vom 15.7.1941 u. 15.9.1941. - 73 U.a. G. Agronsky an A.Z., 21.9.1939 (Rezension zu S. Freud: Der Mann Moses); G. Agronsky an A.Z., 2.12.1939 (Idee einer Novelle in Serienform); G. Agronsky an A.Z., 31.10.1935 (Courage), (AZA). - 74 A.Z.: »Der Jude im Dorn«. In: Die Neue Weltbühne 32 (1936), S. 717 ff. u.744 ff.; Ablehnung G. Agronsky an A.Z., 1.1.1937 (AZA). 75 G. Agronsky an A.Z., 2.6.1940 (AZA). - 76 A.Z.: »Hitlers Knapsack, Hat and Horn. An Old German Fairy Tale, with Topical Comment«. In: P.P. v. 31.5.1940. Dt. Fassungen 1.): »Der Ranzen, das Hütlein und das Hörnlein«. Mskr. (AZA); 2.): Überarb. zu »Das Märchen vom Nazi«, Mskr. (AZA); sowie 3.): stark Überarb. Fassung »Drei rußige Kohlenbrenner oder Gebrüder Grimms Aufrüstungsmärchen«. In: Aufbau, Berlin 8 (1952), Nr. 1. - 77 Kinder und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollst. Ausgabe, 1. Bd., Nr. 54. 78 A.Z.: »Purim Story for 1941«. In: P.P. v. März 1941. Dt. Mskr. »Purim-Historie 1941« (15.3.1941) (AZA). - 79 Und lehrt sie: Gedächtnis. Eine Ausstellung ... zum Gedenken an den faschistischen Novemberpogrom ... Berlin, Ephraim-Palais 1988, S. 40. - 80 A.Z.: »Memorial to Austria«. In: P.P. v. 11.3.1941. - 81 A.Z.: »In Preise of the Pipe«. In: P.P. v. Dez. 1940. Dt. Mskr. »Lob des Pfeifenrauchens« (27.11.1940) (AZA). - 82 A.Z.: »Spirits Walk Abroad. A Palestine Short Story«. In: P.P. v. 11.2.1942. Dt. Fassung (erweitert) »Geister«. In: Orient 3 (1942) Nr. 27; sowie (stark Überarb.) »Scheuseimännchen«. In: Sinn und Form 10 (1958) Nr. 1 . - 8 3 A.Z.: »Window Panes«. In: P.P. v. 2.2.1941. Dt. Fassung »Fensterscheiben«. In: Heute und Morgen. Literarische Monatszeitschrift. Schwerin 1949/3. - 84 Zitiert nach Heute und Morgen, 1949/3, S. 112.-85 G. Agronsky an A.Z., 8.10.1942. Er teilt mit, der vor Monaten an die Zensur gesandte Artikel »Die Macht der Wahrheit« könne nicht veröffentlicht werden. - 86 A.Z. an G. Agronsky, 31.5.1946 (AZA). - 87 G. Agronsky an A.Z., 8.10.1942 (AZA). - 88 A.Z.: »Silhouette of a Gentleman. Two Visits to Sir Arthur Wauchope«. In: P.P. v. 22.9.1947. Dt. Mskr. »Silhouette eines Gentleman. Sir Arthur Wauchope zum Gedächtnis« (AZA).

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Die »Verwurzelungs«-Kontroverse Arnold Zweigs mit Gustav Krojanker Kommentar zu einer Pressepolemik in Palästina 1942

Daß Arnold Zweig bis zu seiner Einreise nach Palästina Ende 1934, wo er sich in Haifa auf dem Carmelberg mit seiner Familie niederließ, Zionist war, ist eine bekannte Tatsache, die er auch ausdrücklich in seiner Korrespondenz mit Lion Feuchtwanger bestätigt hat.1 Weniger bekannt ist, daß er ein aktiver, gewissermaßen organisierter Zionist war, wenn auch nicht in dem streng institutionalisierten Sinne der Parteiangehörigkeit, wie er sich bei der organisierten Arbeiterschaft (Sozialisten und Kommunisten) oder bei den extrem nationalistischen Parteien (besonders im 20. Jahrhundert) herausgebildet hat. Ein Parteibuch mag Arnold Zweig zeitlebens nicht besessen haben. Dennoch war er kein nur platonischer »Lippenbekenntnis«-Zionist. Dafür gibt es mehrere Beweise.2 Das alles bedeutete aber nicht, daß er des Hebräischen in seiner Jugend oder in späteren Jahren mächtig war, obwohl das von einem aktiven Zionisten zu erwarten war. Wie ist das zu erklären? In erster Linie durch sein Augenleiden, das das Erlernen der recht komplizierten, durch ihre grammatikalische Struktur wie durch ihren lexikalischen Bestand von den europäischen Sprachen grundverschiedenen hebräischen Sprache erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Ferner durch seine geringe Begabung für fremde Sprachen, die ihm sein Jugendfreund, der bekannte zionistische Politiker Nahum Goldmann bescheinigte.3 Und drittens hat e r - trotz seines zionistischen Engagements - vor 1933 offenbar nie die Alija ernstlich erwogen. Besonders nach dem Erfolg seines G/wc/ia-Romans (1927) fühlte er sich der deutschen Literatur verbunden und dachte kaum daran, Deutschland zu verlassen. Als er sich dazu gezwungen sah, ging er nach Palästina ohne Kenntnis des Hebräischen. Dieser Mangel an landessprachlicher Verständigungsfähigkeit erschwerte die Akkulturation, die Integration in den hebräisch sprechenden Jischuw, zwang ihn zu einem »insularen« Ghettodasein innerhalb des »jeckischen« Milieus. Die Unkenntnis des Hebräischen bedeutete nicht bloß eine soziopsychische, sondern zugleich eine ökonomische »discomfort«-Situation, da sie zum Beispiel die Möglichkeit einer partiellen Anstellung in der Jewish Agency ausschloß; eine solche Anstellung hätte die literarischen Einkünfte wesentlich ergänzen können. Hinzu kamen schließlich Schwierigkeiten politischer Natur. Dazu äußert sich etwa Nahum Goldmann: »(...) ich fürchtete, daß er wegen seiner von Buber

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und mir beeinflußten politischen Haltungen, ganz auf Verständigung mit den Arabern eingestellt, sich dort (in Palästina, A.W.) nicht wohlfühlen würde (...). Weil er sehr heftig gegen die zionistische Politik - noch lange vor der Entstehung des Staates - Stellung nahm, wurde er kritisiert und gesellschaftlich beinahe boykottiert, und da für ihn jedes politische Erlebnis auch ein persönliches war, hat er während der letzten Jahre seines Aufenthaltes sehr gelitten.«4 Dieses hier skizzierte Unbehagen (zwar in Goldmanns Darstellung etwas übertrieben) nahm durch Zweigs wachsende Radikalisierung und Annäherung an kommunistisch orientierte Kreise (Louis Fürnberg, Rudolf Hirsch, Dr. Wolfgang Ehrlich, den Jerusalemer Book-Club u.a.m.) zu. Schließlich mußten die häufigen Auftritte bei öffentlichen Versammlungen in deutscher Sprache in der damaligen historischen Situation, dem Kampf um die Wiederbelebung der hebräischen Sprache, nur als Provokation wirken. Jene Kreise, die in der deutschsprachigen Massenalija die Gefahr einer Überfremdung sahen5, fanden sich darin durch den Autor des Gnic/ia-Romans nur bestätigt.6 Ein besonders traumatisches Erlebnis war für Zweig die Sprengung einer Versammlung im Esther-Kino in Tel Aviv am 30. Mai 1942. Als Präsident der sogenannten »Liga-V«, einer von ihm ins Leben gerufenen Gesellschaft zur Unterstützung der Sowjetvölker im Kampf gegen die Hitleraggression, trat Zweig mit einer Rede zugunsten des Ambulanz-Fonds für die Rote Armee auf. Nun war zwar die Rote Armee zu der Zeit die Armee einer verbündeten Nation, aber der Vortrag war in deutscher Sprache gehalten, der »Sprache des Feindes«, und das galt den nationalistischen Hitzköpfen Palästinas als Verrat. Eine Gruppe zionistischer Extremisten, die sogenannten »Revisionisten«, Anhänger des Zionistenführers Jabotinsky, nahmen das zum Anlaß, die Versammlung rowdyhaft zu sprengen. Der Vorfall wurde von Zweig im Orient Nr. 13 vom 26. Juni 1942 in einem umfangreichen Aufsatz Cinema Esther Pantomime aufs schärfste verurteilt. Auch das Mitteilungsblatt der Einwanderer aus Deutschland und Österreich (HOGOA), das MB reagierte in gleicher Weise auf den »Tumult« in der gesprengten Versammlung, wo »aggressive Parteileidenschaften« zu einer »terroristischen Ruhestörung« geführt hätten. In diesem Bericht wurde ausführlich der Verlauf der Sitzung der Tel-Aviver Stadtverwaltung am 2. Juni 1942 geschildert, in der stürmische Debatten über jenen Vorfall stattgefunden hatten. Auf Antrag des Bürgermeisters Rokach mißbilligte der Stadtrat »sowohl die Zwischenfälle im Esther-Kino wie auch den öffentlichen Gebrauch von Fremdsprachen«! (Ähnlich äußerte sich zu diesem Skandal die hebräische sozialistische und liberale Presse).7 Die Atmosphäre der Intoleranz, das Gefühl der Entfremdung wirkten auf Zweig deprimierend und riefen Erbitterung hervor. Diese Erbitterung verstärkte sich noch durch die nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eingetretene Notlage, als sein literarischer »Absatzmarkt« erheblich schrumpfte und die Honorare und Tantiemen ausblieben, die er bis dahin

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vom Amsterdamer Querido-Verlag erhalten hatte. Fortan war er auf die großzügige Hilfe Lion Feuchtwangers in den USA angewiesen, denn die Einkünfte, die ihm die Übersetzungsauflagen seiner Werke in den USA, Großbritannien und der Sowjetunion brachten, waren mehr als dürftig. Etwas trugen ihm auch verschiedene Artikel bei der Palqstine Post und bescheidene Gelegenheitseinnahmen ein, meist philanthropischer Natur all das aber war unzureichend, um seinen Haushalt zu bestreiten. Denn es ist zu bedenken, daß er nicht nur eine Familie von vier Personen zu unterhalten hatte, sondern wegen seiner Sehbehinderung auch auf die Hilfe einer Sekretärin und einer Maschinenschreiberin angewiesen war. Was Wunder also, daß er in dieser Zeit, um 1942, nicht in der besten Gemütsverfassung war, zumal er sich auch noch verkannt, ja gehaßt wähnte. Inwieweit diese Vorstellung dem objektiven Sachverhalt entsprach, möge hier dahingestellt bleiben, doch ist die Tatsache dieser subjektiven Empfindung nicht aus der Welt zu schaffen. Vor diesem gesellschaftlichen und psychischen Hintergrund entstand Zweigs gereizt-ressentimentgeladener Aufsatz Verwurzelung (Orient Nr. 14, 3. Juli 1942). Der Aufsatz beginnt mit einer polemisch-ironischen Einleitung: »Unter den Narreteien, die ich anläßlich neuerlicher Streitigkeiten mit der hebräischen Presse zu hören bekam, fand sich eine, die, man wird es sehen, als Bumerang auf die Verfasser zurückfällt. Sie besagt, daß ich mich offenbar noch immer als Emigrant fühle, noch immer im Lande nicht verwurzelt sei - woraus sich mein sonderbares Verhalten herleitet, zu deutschen Juden deutsch zu sprechen.« Anschließend an eine »botanische«, sehr bildhafte Auseinandersetzung mit dem Begriff »Verwurzelung« wird die polemische Attacke fortgesetzt: »Ich hatte die Fähigkeit, lange Luftwurzeln auszusenden, die mir aus Amerika und Rußland, Britannien und Italien, Dänemark und der CSR Hilfsmittel zuführten, so daß ich existieren konnte. Der Boden von Erez Israel jedoch verschloß sich mir. Bildlos gesprochen: im Laufe der 8 Jahre, die ich mich hier aufhalte, haben nur die Honorare der Palestine Post dazu beigetragen, die Existenz meiner Familie und meiner Arbeit zu sichern. Verwurzelung kann schwerlich die Folge solchen Verhaltens sein. Oder muß ich noch deutlicher werden? Darlegen, daß jeder geistigen Verwurzelung die ökonomische vorhergehen muß?«8 Das Verhältnis des Autors zu seinem Einwanderungsland, das ihm im Prinzip nicht als Exil- oder Asylland zu gelten hatte, sondern - angesichts seiner früheren zionistischen Gesinnung - als wiedergewonnene historische Heimat, wird von ihm auf die historisch-materialistische Formel zurückgeführt: »Das Sein bestimmt das Bewußtsein«. Dann meldet sich das gekränkte Selbstbewußtsein ironisch zu Wort: Man trage ihn in Palästina nicht auf den Händen, wie der naive Friedrich Wolf irrtümlicherweise annehme, im Gegenteil, sein Schaffen werde hier ignoriert. Darauf folgt ein charakteristischer Passus: »Und dabei stand der Fall doch so, daß mir für meine Emigration so ziemlich alle Länder zur Wahl standen, in denen meine Bücher erschienen waren, ich mir aber in Deutschland viele Wege verschüttet hatte,

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dadurch, daß ich jüdische Themata auf zionistische Weise zur Gestaltung brachte.«9 Die Argumentation wirkt etwas naiv und egozentrisch: er habe Palästina anderen Emigrationsmöglichkeiten vorgezogen, und diese Entscheidung wie auch die Behandlung »jüdischer Themata auf zionistische Weise« seien hier auf Undankbarkeit gestoßen, ja man entgelte sie mit »wirtschaftlichem Boykott«10. Nicht ohne Verlegenheit liest man diese teilen, in denen der Autor auf Verdienste pocht, die für einen Zionisten, der er doch nach eigener Aussage vor semer Einwanderung war, keine besonderen Verdienste darstellten, sondern selbstverständlich waren. Diese Passage der Zweigschen Argumentation hat Gustav Krojanker, vormaliger Kollege aus den Zeiten der Buberschen Zeitschrift Der Jude und freundlicher Kritiker des jungen Zweig11, 1942 Aktivist der HOGOA und Mitarbeiter des MB, in seiner Replik Sentiment und Ressentiment (MB, Jg. 6, Nr. 33, S. 3 f.) geschickt anzugreifen und zu widerlegen verstanden. Er schrieb: »Niemand wird die Schwere des Problems verkennen, das Zweig hier berührt; niemand auch die Tatsache des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlicher und geistiger Eingliederung. Aber angesichts von Zweigs Formulierung fragt man sich doch erstaunt, ob er denn als reiner Emigrant ins Land gekommen ist, bei dem innere Bindungen erst entstehen mußten (...). Wir hatten immer geglaubt, er sei als Zionist gekommen, also auf der Grundlage bestehender Bindungen, die einmal ganz unökonomisch zustandegekommen waren, und die durch wirtschaftliche Schwierigkeiten allein auch nicht ganz zerrissen werden können, so wenig wie ein erfolgreiches Wirtschaften allein sie zu schaffen vermag.«12 Hierzu weist Krojanker recht einleuchtend nach, daß unter den ökonomischen Schwierigkeiten in gleicher Weise auch die hebräische Literatur zu leiden habe, »die doch in diesem Lande am meisten Anspruch auf eine zureichende Grundlage hätte. Sie hat sie nicht (...).« Krojanker glaubte »die Wurzel der NichtVerwurzelung« in dem Umstand zu sehen, daß Zweig, wie er sich jetzt präsentierte, eigentlich kein jüdischer Dichter mehr sei: »(...) er hat in deutscher Sprache und für das deutsche Volk geschrieben, er hätte es nie abgelehnt und würde es unter anderen Umständen auch heute nicht ablehnen, als deutscher Dichter proklamiert zu werden. Und er ist nicht hergekommen, weil die alte Heimat (gemeint ist Erez Israel, A.W.) ihn zog, sondern weil er eine neue, irgendeine doch gebraucht hat. Warum soll da eigentlich das jüdische Volk ihn auf Händen tragen?«13 Klarsichtig hat Krojanker mit dieser polemisch zugespitzten These genau ins Schwarze getroffen. Und hätte er Einblick in Zweigs Kalendereintragungen der ersten Monate des Jahres 1933 gehabt, er würde sich in seiner Klarsicht und Menschenkenntnis - nicht ohne Bedauern freilich - bestätigt gefühlt haben.14 Krojanker glaubte, Zweig habe seiner Vergangenheit abgeschworen: »Er geht seinen Weg, einen Weg, den wir tief bedauern, dessen Richtung aber schließlich immer von dem Gesetz einer Persönlichkeit bestimmt wird, die über dem Einzelfall steht, mit dem wir uns hier zu

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befassen hatten«.13 Für Krojanker handelte es sich im Falle Zweig um mehr als persönliche Charakterunzulänglichkeit, nämlich um Überschätzung der eigenen Person und ihres Gewichts.16 Den Ausführungen über Zweig geht im Artikel Krojankers eine negative Charakteristik der Zeitschrift Orient voraus, zu deren Herausgebern Arnold Zweig gehörte. In ihr sah er nicht nur eine dürftige Nachahmung der Weltbühne17: »Bei der Lektüre der Wochenschrift Orient (die hier im Lande in deutscher Sprache erscheint) sieht man gewisse Teile unserer deutschsprachigen Alija leibhaftig vor Augen: diejenigen nämlich, die das Land, wenn möglich, wieder verlassen werden, ohne vorher dagewesen zu sein. Denn soweit die Zeitschrift ein Gesicht hat (...), wird es durch drei Züge bestimmt: das Sentiment der Erinnerung, das Ressentiment gegen die Umwelt und Hochmut.«18 Obwohl der Ton des Angriffs auf den Orient gehässig und, wie es in einer gereizten Polemik oft vorkommt, überspitzt und ungerecht ist, finden wir in den letzten Absätzen des Streitartikels dennoch Zeilen, die der intellektuellen Ehrlichkeit und der Fairneß Krojankers gegenüber dem kritisierten Widerpart zur Ehre gereichen: »Es ist anzunehmen, daß der Geist der Zeitschrift, die Zweig mit seinem Namen deckt, nicht eine Folge der Erfahrungen ist, die er hier gemacht hat, sondern daß er seine enttäuschenden Erfahrungen gemacht hat, weil dieser Geist von vornherein seine Haltung bestimmte. Mag Arnold Zweigs persönlicher Fall liegen wie immer: er, auch wenn man ihn in Erwiderung auf seinen Angriff >angreifen< muß, bleibt doch nach Persönlichkeit und Leistung ein Kapitel für sich. (...) Nun aber ist er, der Sonderfall, zum Schild und Sprachrohr einer Menge geworden, die zwar nichts aufzuweisen hat als das Verdienst ihrer Anwesenheit im Lande, aber doch mit dem gleichen Anspruch auftritt wie er, seine Urteile, die durch besondere Umstände bedingten, zu den ihren macht und sich in seinem Schatten, mit ihm groß und verkannt fühlt. Das hat eine verhängnisvolle Wirkung. Sie bedeutet, daß dem dumpfen Ressentiment einer Menge Nahrung und Argument geliefert wird. (...) Und wenn Arnold Zweig Gegenstimmen nicht zugänglich sein sollte, vielleicht kann die Menge, die ihm folgt, ihn nachdenklich machen.«19 Dieser Ausklang bezeugt Respekt für den kritisierten Gegner, Wissen um die eigentliche Dimension des »Sonderfalls Zweig«. Und wie reagierte Zweig auf die »Gegenstimme«? Er war zu intelligent, um den springenden Punkt in der Argumentation seines Widerparts nicht bemerkt zu haben. Aber liest man seine Replik {Des Pudels Kern, Orient, Nr. 23/24 vom 11. September 1942), kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, er weiche ihm aus und nütze eine Schwäche in der polemischen Position Krojankers dazu aus, sie völlig zu desavouieren. Denn in der >Hitze des Gefechtes< hatte sich Krojanker vergriffen, als er »Ton« und »Stil« der Weltbühne für die ehedem angeblich ablehnende Reaktion des nichtjüdischen Leserpublikums auf diese linksliberale Wochenschrift verantwortlich machte: »Und wenn wir es nicht schon früher verstanden hätten, so würden wir jetzt verstehen, was die

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Deutschen, die nichtjüdischen Deutschen nämlich, am Ton und Stil der Weltbühne so bis aufs Blut gereizt hat.«20 Diese polemische Entgleisung griff nun Zweig geschickt auf, um - ohne auf den Grundtenor von Krojankers Anklage einzugehen - diese insgesamt zu diskreditieren: »Sehr zu bedauern ist, wer noch nach 20 Jahren an Irrtümern klebt, die uns schon damals nur zum Achselzucken reizten: daß jemand Narr genug sein könnte im Lager der Juden, anzunehmen, daß es nur Ton und Stil seien, wegen derer die Faschisten aufschäumten und nicht die Enthüllung der Fakten, um die es ging, der militaristischen Wiederversklavung, der geheimen Aufrüstung, des noch einmal zu wagenden Endspiels und Endsiegs im Ansprung des feudalistischen Alldeutschtums nach der Weltherrschaft. (...) Heute, wo dieser Wunsch ganz Europa überschattet und wo die vier großen Demokratien der Welt (die Sowjetunion mit einbegriffen! A.W.) alle ihre Kräfte anspannen müssen, um den drei feudalen Raub-Rittern 21 Schranken zu setzen, faucht aus einer zionistischen Ecke, einem imperialistischen Klüngel, noch immer derselbe Geist.«22 Diese maßlose Polemik Arnold Zweigs gegen Gustav Krojanker erregte großes Aufsehen bei der Leserschaft des MB. So greift in Nr. 34 vom 21. August 1942 ein mit den Initialen P.R. gezeichneter Leser in die Kontroverse ein und setzt sich ebenfalls mit dem Orient auseinander: »Würde es sich dabei nur um die Zeitschrift Orient handeln, die man so oder so bewerten kann, so könnte man darüber hinweggehen, aber in Wahrheit handelt es sich um eine schwerwiegende Realität, nämlich das Schicksal (und den Seelenzustand) einer großen Zahl von mitteleuropäischen Juden, wobei in der Praxis kein großer Unterschied zwischen (...) Zionisten und Nichtzionisten besteht. (...) Denn schließlich hat es keinen Sinn, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß es unter den Einwanderern aus Westeuropa solche gibt, die so denken wie der Verfasser des von Krojanker mit Recht verurteilten Aufsatzes (...) Man muß die Frage aufwerfen, wo die tieferen Gründe für diese unerfreuliche Erscheinung liegen. Gewiß zum Teil in den Menschen selbst, die oft mit unberechtigten Prätentionen und Vorurteilen an die Wirklichkeit dieses Landes herantreten, aber nicht ausschließlich in den Menschen selbst.« Und dann setzt sich der Autor des Leserbriefes für den kritisierten Arnold Zweig ein, indem er erklärt: »Nicht nur bei Schriftstellern, auch bei vielen anderen sind die gefühlsmäßigen Bindungen< zu Palästina, die sie im Ausland ohne Kenntnis der Wirklichkeit hatten, rein ideologischer Natur gewesen (...); leider sind viele (...) beeindruckt von dem (...) Verhalten, das der deutschen Alija da und dort entgegengebracht wird (...). Falsche Verallgemeinerungen, gegen die man kämpfen muß. Aber man kann sich der Einsicht nicht verschließen, daß es auch hier zumindest zwei Seiten gibt; und Krojanker hat, wie manchen Lesern scheint, Licht und Schatten zu einseitig verteilt und dadurch dem Problem selbst keinen echten Dienst erwiesen.«23 Ein anderer Leser, Ludwig Hoffnung aus Haifa, setzt sich für Arnold Zweig und gegen seinen Kritiker Krojanker viel militanter und vorbehaltloser ein.

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»Daß das Niveau des Orients nicht an das der Weltbühne heranreicht, bedaure auch ich«, erklärt er, »man kann auch, wenn man will, gewisse Entgleisungen nicht geschmackvoll und auch manche Polemiken zu scharf finden deswegen braucht man aber noch nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten.« Dann nimmt er zu jenem Gegenstand der Kontroverse Stellung, den Zweig als »des Pudels Kern« bezeichnet hat: »>Bis aufs Blut gereizt< wurden durch die Weltbühne nur Faschisten und Militaristen, und eine ähnliche Reaktion über (!) den Orient ist wohl auch nur bei Faschisten oder extremen Nationalisten möglich.«24 Und direkt auf Zweig bezogen heißt es: »Was verlangt Krojanker eigentlich von Arnold Zweig? Bei allen seinen Anklagen und Vorwürfen liest man doch aus seinen Anklagen oder zwischen den Zeilen von Krojanker die persönliche Anerkennung heraus, die er einem weltbekannten Schriftsteller nicht versagen kann. (...) Soll das heißen, daß Zweig besser daran getan hätte (...) anzufangen, hebräisch zu schreiben oder gar öffentlich zu radebrechen? (...) Wundert sich Krojanker darüber, daß Leute, die in ihren Herkunftsländern prominente Stellen besaßen und hervorragende Leistungen aufzuweisen hatten, sich darüber beklagen, daß sie hier nicht anerkannt werden und nicht weiterkommen können?« 25 Die zunehmende Schärfe und Bitterkeit der Polemik veranlaßte Robert Weltsch, den ehemaligen Chefredakteur der Jüdischen Rundschau in Berlin und gegenwärtigen Redakteur des MB26, einzuspringen, um die Wellen zu glätten. Mit ausgewogenem Feingefühl schrieb er in seinem Aufsatz Zur Klärung. Nachwort zu einer Diskussion: »Als wir Dr. Krojanker, einen der repräsentativsten Autoren des alten zionistischen Kreises aus Mitteleuropa, baten, sich mit der, den meisten von uns bedenklich erscheinenden, Haltung eines Teiles der mitteleuropäischen Alija in Palästina auseinanderzusetzen, so wußten wir, daß damit ein höchst delikates Problem angerührt ist, denn es handelt sich um Menschen, die vielen von uns durch ihre Vergangenheit, durch gemeinsame Arbeit und durch andere Bande nahestehen, aber auch um eine Situation, die durch die intolerante Haltung gewisser Kreise des Jischuws gegenüber einer Alija, die sie selbst in vielen Resolutionen herbeigewünscht haben und von der sie viele unbestreitbare Vorteile hatten, überaus verworren geworden war. Der Artikel von Krojanker hat, wie wir feststellen konnten, in weiten Kreisen der HOGOA Zustimmung gefunden. Wir konnten aber nicht annehmen, daß die Aufnahme einer Entgegnung in manchen Kreisen einen Unwillen erzeugen wird, der nach unserer Meinung in keinem Verhältnis steht zur Bedeutung des Gegenstandes. (...) Die Debatte über die deutschen Juden wird seit langem geführt und wird wohl noch weiter gehen. Sie hat (...) zwei Seiten, und es ist ein Mißverständnis zu meinen, daß nicht Krojanker ebenso wie wir sich mit aller Kraft einsetzt, daß die deutschen Juden nicht nur nicht benachteiligt werden, sondern ihren vollen Anteil an der Verantwortung im öffentlichen Leben des Jischuw haben und an der Bildung einer öffentlichen Meinung erhalten - was freilich voraussetzt, daß sie den eindeutigen Willen haben, sich allmählich in das hebräische Leben einzugliedern und sich als Bürger des Landes betrachten.« 27

Die »Verwurzelungs«-Kontroverse 209 Und auf die Vorwürfe und Beschuldigungen anspielend, die in Zweigs Replik und in den anderen Diskussionsbeiträgen zum Ausdruck kamen, erklärte er: »Im übrigen sind wir, was Gesinnung betrifft, alles weniger als totalitär (,..).«28 Dann nimmt Weltsch gegen die polemischen Übergriffe, besonders im Beitrag L. Hoffnungs, Stellung: »Auch wehren wir uns gegen überhebliche Geringschätzung der russischen Juden seitens mancher Mitteleuropäer genau so scharf, wie gegen die seitens mancher Teile des Jischuws der mitteleuropäischen Alija entgegengebrachte Abneigung.« Und kategorisch stellt er fest: »Es ist ein Irrtum (um nicht zu sagen eine Beleidigung), es so darzustellen, als ob jeder, der gegen die Haltung mancher Juden aus dem Kreis der Weltbühne und anderer ähnlicher Publikationen war, >profaschistisch< sei.«29 Auf gewisse kritische Überspitzungen Intellektuellerjüdischer Herkunft eingehend, erklärt Weltsch: »In unserem Zeitalter empfanden wir das Problematische von jüdischen Figuren wie Tucholsky, Alfred Kerr oder Emil Ludwig, selbst wenn manche von ihnen sich gelegentlich jüdisch-national gebärdeten. (...) Aber es ging ihnen etwas Fundamentales ab, nämlich das Verständnis für die Judenfrage, und das verführte sie zu schweren Taktfehlern, zum Mangel an Selbstkritik, ja sogar zu einer schiefen Perspektive. Demgegenüber kann man es sich nicht so leicht machen, jede Einwendung als >faschistisch< oder »antisemitisch abzutun.«30 Den Artikel schließt Weltsch mit der Aufforderung zur Besinnung auf die Schicksalsgemeinschaft, die »in Momenten wirklicher Gefahr und wirklichen (buchstäblichen!) Lebenskampfes« stärker sein müsse als frühere und gegenwärtige ideologische Differenzen: »Die Stunde der Gefahr, aber auch des Aufbaus schafft echte Gemeinschaft.«31 Übrigens war der Aufsatz Zur Klärung nicht das abschließende Wort des im Orient und besonders im MB ausgetragenen Streits. In der Nr. 39 des MB vom 25. September 1942 äußerte sich Gustav Krojanker noch ein zweites Mal. Im Aufsatz Der Unterschied heißt es: »Die beiden Lager in dieser Diskussion sind nicht geschieden nach alten Zionisten und ehemaligen Nichtzionisten. (...) Der Unterschied liegt auch nicht in dem kritischsachlichen Urteil über die inneren Verhältnisse des Landes. (...) Der Unterschied liegt in etwas anderem. (...) Da gibt es Menschen, die schon beinahe verzweifeln oder sich in der Verzweiflung befinden, ja es gibt vielleicht sogar einige, es sind nicht die schlechtesten, die auch die Verzweiflung hinter sich gebracht haben und nun mit einem gewissen Zynismus auf das sehen, was hier geschieht. Das ist im Sinne dieser Gruppierung die eine Seite. Die andere Seite kann gar nicht verzweifeln (...). Sie sieht die Dinge, mag sie auch richtig sehen. Aber das Ziel war ihrem Herzen niemals so nahe, daß sie angesichts all der äußeren Schwierigkeiten und inneren Mängel zu verzweifeln vermöchte.« In den weiteren Ausführungen Krojankers stellt sich heraus, daß das eigentlich differenzierende Kriterium zwischen den beiden Gruppen im Vorhanden- oder Abhandensein einer seelischen Disposition besteht, die er mangels eines adäquaten deutschen Ausdrucks mit dem jiddischen Wort »Brenn« wiederzugeben

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sucht. »Brenn« aber bedeutet etwa soviel wie »leidenschaftliche Teilnahme«, »leidenschaftliches (enthusiastisches) Engagement, Dazugehörigkeitsgefühl«. »Den >Brenn< kann man leider nicht schaffen«, bedauert Krojanker, »aber dann soll man wenigstens die Unterschiede nicht verwischen. Ich könnte mir denken, daß es Menschen gibt, die zwar selbst diese Art von Antrieb und Gefühl nicht in sich haben, aber trotzdem verstehen, daß es etwas derartiges gibt und daß es gerade das ist, was in unserer Situation vor allem nottut.«32 Die Anspielung auf Arnold Zweig wird in diesen Worten erneut transparent. Aber Zweig hat das nicht mehr beachtet. Da er augenscheinlich ohne »Brenn« war, verläßt er das Land am 15. Juli 1948, kaum zwei Monate nach Ausrufung der Unabhängigkeit Israels und nach Ausbruch des Befreiungskriegs.33

1 »Ich bin hierhergegangen (nach Palästina, A.W.), weil ich nicht heimlich Wein trinken wollte, nachdem ich öffentlich 25 Jahre Wasser gepredigt hatte.« (Hervorhebung A.W.). Vgl. Lion Feuchtwanger / Arnold Zweig: Briefwechsel 1933-1958. Bd. I. (1933-1948). Berlin/DDR, Weimar 1984, S. 277 (Brief vom 20.4.1943). - 2 Vgl. Jüdische Rundschau (im folgenden: JR) 24 (1919), Nr. 2, S. 20 f.; JR 29 (1924) Nr. 102/103, S. 475; JR 30 (1925) Nr. 6, S. 49 f.; JR 34 (1929) Nr. 72, S. 475; JR 35 (1930) Nr. 90, S. 599 u. Nr. 94, S. 629 f.; Zionistisches Zentralarchiv (ZZA), Jerusalem, Zweig-Akte, Mappe A 320/348; The Daniel A. Reed Library (Stefan Zweig Collection), Briefe A. Zweigs vom 2.6.1927 u. 15. Mai 1928; mündliche Informationen von Nathan Arnim, Tel-Aviv, und Käthe Elkeles, Jerusalem. - 3 Nahum Goldmann: Mein Leben. USA - Europa - Israel. München, Wien 1981, S. 391: »Er war auf der schwatzen Liste der Nazis und wußte, daß er Deutschland verlassen mußte. Ich warnte ihn davor, obschon er Zionist war, nach Palästina zu gehen, weil ich wußte, daß er Hebräisch niemals lernen würde (wie manche großen Schriftsteller, war er sprachlich unbegabt) ...«. - 4 Ebd., S. 393 f. 5 Interessante Fakten in diesem Zusammenhang enthält das Buch des Rechtsanwalts und Notars Nissan Ruda (Jerusalem): Ein Mensch kehrt in sein Land zurück. (Hebr.) Jerusalem 1945. Einige Zitate: »Wenn man einen deutschen Juden hebräisch ansprach, pflegte er zu antworten, daß er die >asiatische Sprache< nicht verstehe und weigerte sich, sie zu gebrauchen.« (S. 188) In einem Jerusalemer Kaffeehaus antwortete ein Wiener Gast auf die hebräische Ansprache der Kellnerin: »Ich verlange, daß mit mir deutsch gesprochen wird, in einer mir verständlichen Sprache. Meine Heimat ist Wien und meine Muttersprache Deutsch. Ich werde es nicht dulden, daß man sich an mich in asiatischer Sprache wendet.« (S. 189) »Ein Immigrant aus Deutschland erklärte, daß in Erez Israel eine Gefahr für... die deutsche Sprache, Sprache der Bildung und Kultur bestehe! »Sollten wir es erleben< - setzte er fort - , xJaß unsere kommende Generation, Gottbehüte, nicht imstande sein würde, Goethe und Heine im Original zu genießen?< ...« (S. 191) Ich zitiere diese Stellen in meiner freien Übersetzung. Ruda übertreibt vielleicht etwas den Sprachpatriotismus der dünkelhaft für ihre »Muttersprache« eintretenden »Jeckes«. Übrigens galt der Eifer der »Sprachverteidiger« im gleichen Maße auch dem Jiddischen (vgl. Ruda, a.a.O., S. 188). Heute, nach dem endgültigen, irreversiblen Sieg des Hebräischen ist man toleranter und duldet kulturellen und sprachlichen Pluralismus, der nicht mehr die Positionen des Hebräischen zu gefährden vermag. Vgl. auch Josef Bundheim: »Die Gefahr der Fremdsprachen«. In: Mitteilungen der HOGOA (MB) 6 (1942) Nr. 27, S. 4. HOGOA = Abkürzung von »Hitachdut Olej Germania we-Olej Austria« (»Verband der Einwanderer aus Deutschland und Österreich«). - 6 Ebd., S. 188. - 7 »Der Überfall im Kino Esther«. In: MB 6 (1942) Nr. 2 3 . - 8 Beide Zitate: a.a.O., S. 5. - 9 Ebd., S. 6. - 10 Ebd. - 11 Vgl. Arie Wolf: »Das Problem Arnold Zweig«. In: Heinrich-MannJahibuch 4 (1986) H. 4, S. 69-84. Gustav Krojanker (1891-1945), geboren in Berlin, deutscher

Die »Verwurzelungs«-Kontroverse

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Schriftsteller und Zionist, studierte Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Berlin und München, promovierte 1914 mit der Dissertation Die Entwicklung des Koalitionsrechts in England. Er begann seine zionistische Aktivität im Alter von 18 Jahren unter den jüdischen Studenten; Soldat im Ersten Weltkrieg; nach dem Krieg gab er das bekannte Sammelbuch Juden in der deutschen Literatur heraus (1922,2. Ausgabe 1926). Er lernte Hebräisch und begann Essays über die hebräische Literatur zu veröffentlichen, zuerst in deutscher Sprache, dann auch auf hebräisch. Nach Hitlers Machtergreifung ging er nach Palästina, schrieb literaturkritische Aufsätze über die hebräische Literatur für die Zeitung Ha'arez und die von ihm geleitete und herausgegebene Zeitschrift AMUDIM ( hebr. = Blätter), Organ der sogenannten »Alija Chadascha« (= Neue Immigration). Er veröffentlichte eine Anzahl von Pamphleten in Deutsch und Hebräisch zur Frage der Alija aus Deutschland. — 12 A.a.O., S. 3 f. 13 Ebd., S. 4. - 14 Vgl. etwa Kalendereintragungen der ersten Monate des Jahres 1933: »1.3. Ich will nicht abreisen. (...). 18.3. 3 Fragen: 1) Kann ich in Deutschland noch schreiben, wozu es mich treibt? 2) Kann ich in D. leben, ohne denen in (den) Rücken zu fallen, die das nicht mehr können, moral(isch) genommen? 3) Kann ich mich in D. ernähren?« Das alles nach Hitlers Machtübernahme, nach dem Reichstagsbrand ... Und am 18.5., nach der Abfahrt aus Wien, wo er von Freud Abschied genommen hat, und im Begriff, nach Basel zu reisen, notiert e r »Abfahrt aus Wien (...). Sehr deprimiert. (...) Führe lieber nach Norden. (...)«. Vgl. Georg Wenzel (Hg.): Arnold Zweig 1887-1968. Werk und Leben in Dokumenten und ßiMem.Berlin/DDR, Weimar 1978, S. 208 f. - 15 MB 6 (1942) Nr. 33, S. 4. - 16 Vgl. Arie Wolf: »Das Problem Arnold Zweig« (wie Anm. 11). - 17 MB 6 (1942) Nr. 33, S. 3. 18 Ebd., S. 3; NB.: Erklärung des Titels des Aufsatzes. - 19 Ebd., S. 4. - 20 MB 6 (1942) Nr. 33, S. 3. - 21 Daß Deutschland eigentlich ein feudaler Obrigkeitsstaat war und noch immer ist (gemeint: Nazideutschland), diese obsessive Auffassung können wir sowohl in Einsetzung eines Königs als auch in Zweigs Publizistik verfolgen. Der Faschismus ist ihm auch eine kleinbürgerlich getarnte feudale Diktatur. - 22 Orient (1942) Nr. 23/24, S. 12. - 23 A.a.O., S. 2. - 24 Ludwig Hoffnung: »Nochmals »Sentiment und Ressentiment««. In: MB 6 (1942), Nr. 36, S. 4. - 25 Ebd., S. 4 f. - 26 Wie aus dem Nachruf Eli Rothschilds auf den am 23. Dezember 1982 verstorbenen Robert Weltsch hervorgeht (»Der zionistische Schiedsrichter«. In: MB 46 (1982), Nr. 46, S. 3) wurde Weltsch »für eine geraume Zeit auch Redakteur des MB« (nach seiner Alija 1938). - 27 MB 6 (1942), Nr. 38, S. 3 f. - 28 Ebd., S. 3. - 29 Ebd., S. 4. - 30 Ebd. - 31 Ebd. - 32 A.a.O., S. 5. - 33 Vgl. Arie Wolf: »Ein Schriftsteller nimmt Urlaub«. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch Bd. 6, München 1988, S. 230 ff.

Wulf Köpke

Die würdige Greisin Marta Feuchtwanger als Beispiel

»Frauen im Exil« ist eine gängige Formel, aber deshalb noch kein gängiges Forschungsgebiet. Die bekannteren Schriftstellerinnen des Exils, Anna Seghers, Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler, Irmgard Keun, Hermynia zur Mühlen, Hilde Domin, Vicki Baum, Annette Kolb, Herta Pauli, Hilde Spiel - um einige Namen zu nennen - werden ebenso beachtet oder nicht beachtet wie ihre männlichen Kollegen; dabei wird jedoch allenfalls, wenn überhaupt, nach weiblichen Kennzeichen des Werks gefragt und kaum nach einer weiblichen Exilerfahrung oder nach den Lebensbedingungen der Frau im Exil. Die Ehefrauen berühmter Männer im Exil werden durchweg gelobt für ihre Durchhaltekraft und ihre selbstlose Hingabe, wenn nicht gar Aufopferung: Biographen und Autobiographen haben immer wieder festgestellt, daß die Frauen oft die notwendige Stütze des Mannes waren: sei es, daß sie Geld verdienten, um dem Mann Freiraum zur Arbeit zu verschaffen, sei es, daß sie es verstanden, eine Wohnung einzurichten, ein >NestAn manchen TagenGoya< und kein Wettlauf«. In: Goya. Vom Roman zum Film. Eine Dokumentation zum Film von Konrad Wolf. Arbeitsheftel, Deutsche Akademie der Künste zu Berlin, 1971, S. 19: »Alle >Stufen< der literarischen Vorarbeit, von der Konzeption bis zum Drehbuch, hat sie erhalten, gelesen, beurteilt und soweit sie es für erforderlich hielt, unter Kritik gestellt.« - 17 Vgl. Janka, ebd. S. 20, 21; Lothar Kahn: Insight and Action (wie Anm.10), S. 314 f., 345. - 18 Janka »Kein Experiment« (wie Anm. 16), S. 20. - 19 Ebd., S. 22 f. - 20 Nur eine Frau, S. 5. - 21 Vgl. meinen Aufsatz »Das dreifache Ja zur Sowjetunion« (wie Anm. 14). - 22 Nur eine Frau, S. 262 f.; zu Werfel vgl. Ulrich Weinzierl: »Osterreich als Wille und Vorstellung«. In: Wulf Köpke und Michael Winkler (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur. Studien zu ihrer Bestimmung im Kontext der Epoche 1930 bis 1960. Bonn 1984, S. 248 f. - 23 Vgl. Lothar Kahn: Insight and Action (wie Anm. 10), S. 243-245; Volker Skierka: Lion Feuchtwanger (wie Anm. 3), S. 206-210. Ein besonders scharfer Kritiker Feuchtwangers war Franz Schoenbemer, der sich auf einen 7Yme-Artikel stützte, um zu sagen, Feuchtwanger habe so viel über die Fluchtwege verraten, daß er ebensogut zur Gestapo hätte reden können. Vgl Nur eine Frau, S. 308 f. 24 Vgl. die Hinweise im Kapitel »Marta« bei Volker Skierka: Lion Feuchtwanger (wie Anm. 3), S. 295-302, die sich allerdings mehr auf Feuchtwangers Ansicht von Frauen und ihre Zusammenarbeit bezieht als auf sie selbst; Nur eine Frau und der entsprechende Fernsehfilm sind in der Bundesrepublik ganz besonders gelobt worden. - 25 Vgl. den unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Marta Feuchtwanger und Oskar Maria Graf. Für die Überlassung dieser und weiterer Dokumente möchte ich Hilde Waldo und besonders Harold von Hofe herzlich danken.

Hans-Christian Oeser

»Die Dunkelkammer der Despotie« Bernard von Brentanos Prozeß ohne Richter im Zwielicht

In Tagebuch mit Büchern, seinem Journal littéraire aus dem Schweizer Exil, notierte Bernard von Brentano unter dem 15. Dezember 1935: »Man könnte die Frage diskutieren, ob es die Mühe lohnt, von den Dichtern mehr zu erfahren, als ihre Werke erzählen, und über ihre Person mehr zu wissen, als sie selber mitgeteilt haben; ob man ihr Leben betrachten, ihre Biographie lesen soll. Auf diesem Felde hat die Wissenschaft zweifellos einen Berg von Sünden aufgehäuft, und man kann sagen, daß den Philologen um so mehr entging, je weniger sie sich entgehen ließen. Unter der Summe seiner Teile ist manches Ganze begraben worden. Besonders die banale Kausalität, die man zwischen Erlebnis und Dichtung konstruiert hat, erzeugte unter allen nur denkbaren-Wirkungen die schlimmste: sie isolierte die Dichter und umgab sie mit jener Art von Wunderbarkeit, welche Präparate abnormer Gebilde haben, die man zuerst in Spiritus legt und darauf in durchsichtigen Gläsern aufstellt.«1 Mit diesen Worten bezog Brentano Stellung gegen den Biographismus, der, ausgehend von der Annahme einer Einheit von Mensch und Werk, einer Synthese von Leben und Kunst, kraft genetischer Deduktionen der Erlebniswelt des Autors Einlaß in die Literaturbetrachtung gewährt. Die zugegebenermaßen häufig allzu leichthin angenommene Kohärenz und Kontinuität von Person, Oeuvre und Text läßt sich indessen nicht immer radikal zertrennen; Samuel Becketts Diktum »Wen kümmert's, wer spricht?« verliert seine Schlagkraft, wenn es mit Werken konfrontiert wird, deren scheinbare Eingängigkeit erst durch eine biographische Perspektive auf den Text dekonstruiert werden kann. Brentanos Roman Prozeß ohne Richter2 ist ein solches Werk, dessen Risse und Brüche erst dann richtig zum Vorschein kommen, wenn das Exilerlebnis des im historischen Kontext plazierten Autors in die Interpretation einbezogen wird. Die dem Roman vorangehenden oder nachfolgenden Äußerungen des Verfassers begreife ich daher nicht als das »Gemurmel des Diskurses«, sein persönliches Verhalten in der Exilsituation nicht als irrelevant, sondern eher umgekehrt als Selbstkommentar des Texts - und sei es auch entgegen der Absicht des Autors selbst. I Fabel und Parabel Der 1937 im Amsterdamer Exilverlag Querido erschienene und ins Serbokroatische und Holländische übersetzte Kurzroman, 1964 kurz nach dem

»Die Dunkelkammer der Despotie«

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Tode Brentanos von Helmut Huber recht freizügig für den Funk bearbeitet, folgt einer einfachen Fabel von geradezu anekdotischer Qualität, die sich so sehr auf einen Einzelfall konzentriert, daß der Text entgegen der gewählten Genrebezeichnung eher novellistischen Charakter trägt. Der dreiundfünzigjährige Klitander, Professor für Mathematik an einer angesehenen Universität, wird ebenso wie seine jüngeren Kollegen, der Anglist Oront und der Mathematiker Alzest, vom Ministerium für Volksbildung und Gesundheit beauftragt, der bevorstehenden Reifeprüfung an einer höheren Lehranstalt beizuwohnen und die in Verruf geratenen Leistungen der Schüler, und damit auch der Lehrer, in getrennten Gutachten zu beurteilen. Dieser alltägliche, kaum für eine breitgefächerte Romanhandlung geeignete Vorfall gewinnt seine Brisanz allein dadurch, daß das Land »eine harte Regierung bekommen, welche autoritär herrschte und den Menschen nicht achtete« (21). Alzest hegt den Verdacht, daß die drei in eine Falle gelockt werden sollen, und stattet Klitander einen Besuch ab, um ihn vor den lebensgefährlichen Folgen eines politisch naiven, das heißt wahrheitsgemäßen Berichts zu warnen. Indessen schenkt Klitander seiner Warnung keine Beachtung, nicht nur, weil er sich als Wissenschaftler nicht mehr um Politik bekümmert, sondern auch, weil er plötzlich Verdacht schöpft, daß Alzest selbst zum Spitzel geworden sei, der seine Haltung dem Regime gegenüber in Erfahrung bringen will. Während sich Alzest am Prüfungstag durch eine Operation unpäßlich macht, verfertigt Oront gleich zwei Gutachten: zunächst ein positives, sodann unter dem Eindruck der abfälligen Bemerkung eines anwesenden Beamten aus dem Ministerium für die Sicherheit des Staates ein negatives. Einzig Klitander hält sich, wenn auch argwöhnend, daß »nicht jene Schüler auf der Prüfungsbank saßen, sondern er selber auf der Anklagebank« (50), an die Wahrheit. Eine Woche nach Abfassung der Gutachten setzt eine Pressekampagne gegen Klitander ein, die vor allem seine Ehefrau Fine völlig verängstigt. Als diese sich mit Alzests Gattin Marietta beratschlagen will, wird sie vor die Tür gesetzt: die politische Diffamierung mündet in soziale Isolation. Die Freunde verleugnen ihn, die Studenten boykottieren seine Vorlesungen, die Kollegen fallen von ihm ab. In dieser Situation gesellschaftlicher Ächtung beginnt Klitander, jenen Prozeß ohne Richter zu halluzinieren, der dem Roman den Titel gab. In einer Ecke seines Arbeitszimmers führt drei Wochen lang ein aus sieben kahlgeschorenen Männern bestehendes Richterkollegium gegen den apolitischen Gelehrten eine Verhandlung wegen Konspiration, an deren Ende er sich, zermürbt, schuldig bekennt. Die Ironie will es, daß der Mann, der sich auf diese Weise selbst den Prozeß macht, am Ende verhaftet und in ein Lager gesteckt wird, ohne je angehört zu werden. Fine ist durch die Degradierung ihres Mannes so außer sich vor Zern, daß sie in ihrem blinden Haß auf die Machthaber Marietta erdolcht, als sei diese zur Rechenschaft zu ziehen. Auf die Nachricht von der überraschenden Tat seiner Frau hin nimmt sich Klitander das Leben. Damit findet die Novelle, in der das romanhafte Erzählprinzip auf ein Minimum reduziert ist, einen raschen Abschluß.

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Bereits diese knappe Zusammenfassung des Handlungsstranges dürfte eine Parallele deutlich machen, die auch den Zeitgenossen nicht verborgen blieb: Mit Franz Kafkas Roman Der Prozeß hat Brentanos Werk mehr als nur den Titel gemein. Im März 1937 schrieb etwa Bertolt Brecht aus seinem dänischen Exil in Svendborg an Brentano, mit dem ihn eine zehnjährige politisch-intellektuelle Freundschaft im Sternzeichen der Kommunistischen Partei verband, die nun allerdings ihrem Ende zuging (es handelt sich um den letzten Brief Brechts): »Den neuen Roman habe ich mit allergrößtem Interesse gelesen, wie alles, was Sie schreiben. Er ist so leicht und elegant geschrieben, wie man bei uns sonst nicht eben oft schreibt, und wenn ich mit etwas unzufrieden bin, dann damit, daß er zu kurz ist. Eine Nebenbemerkung: Das Buch liest sich wie eine Konkretisierung des Kafkaschen >Prozeßfarbig< sagt.«13 Auch Thomas S. Hansen, der einzige Literaturwissenschaftler, der sich genauer mit Prozeß ohne Richter befaßt hat, betont, was bereits Ludwig Marcuse in seiner zeitgenössischen Rezension des Romans immer noch als »Blick auf Deutschland« anzuerkennen bereit war. Trotz aller erhobenen Vorbehalte gegen ein generalisierendes Porträt des Totalitarismus zählt Hansen ihn zu einer spezifischen Kategorie der Exilliteratur, den »Deutschlandroman«14, jenen spezifischen Typus von Zeitroman, der sich unmittelbar der zurückgelassenen Heimat unter politischen Vorzeichen annimmt. Damit wäre auch weiterhin der Nationalsozialismus Thema des Romans, auch wenn er seiner spezifischen gesellschaftlichen Inhalte und politischen Formen beraubt ist und nur einen Sonderfall des »Totalitarismus als Universalübel«15 darstellt. Obwohl Hansen in einem späteren Forschungsbeitrag, in dem er von einer Abschwächung der Faschismuskritik unter dem Mantel der Totalitarismuskritik bei Brentano spricht, deutlich von seiner These des Deutschlandromans abrückt, hält er immer noch daran fest, daß wir es mit einer »Technik der Allegorisierung des Faschismus«16 zu tun hätten. Andere zeitgenössische Kritiker, auch wenn sie gleichfalls der Emigrantenszene zuzurechnen sind, sahen in der Abwesenheit konkreter historischer Bestimmungsmerkmale von Anfang an kein Manko, sondern den großen Vorzug des kleinen Werks, der ihm Dauerhaftigkeit, Lesbarkeit und Aktualität noch dann verschaffe, wenn die Reiche, gegen die es ankämpfe, dahin seien. In einer zustimmenden Kritik formulierte Konrad Heiden: »Brentano erzählt die Vernichtung eines Menschen durch die Diktatur. Vom Leser erlebt wird die Vernichtung des Menschen durch die Diktatur. Keine bestimmte Diktatur wird genannt, keine politische Richtung angedeutet,

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weder bei der Staatsgewalt noch bei ihrem Opfer. Das macht den künstlerischen Reiz des Buches und seine tiefere Wahrheit aus. (...) Dies gibt der Gestalt und ihrem Schicksal Allgemeingültigkeit. (...) Die Fabel trifft in ihrer Einfachheit glänzend die Aufgabe, die Diktatur als das Prinzip des Bösen zu symbolisieren.« Daß Brentano »das Thema unserer Zeit, nämlich den Zusammenstoss des Menschen mit dem Staat«, »den Kampf des Menschen mit der Macht«17 abstrakt und ahistorisch behandelt, gilt Heiden im Gegensatz zu den Kritikern, die das kämpferische Element des Romans und die hierfür unerläßliche Bestimmung des politischen Gegners vermissen und Unverbindlichkeit der Aussage sowie Beliebigkeit der Auslegung befürchten, als »tiefere Wahrheit«. Ähnlich wie Heiden verfuhr auch Alfred Döblin. In seiner Besprechung des Romans lobte er »den klaren logischen Verlauf« der Fabel und »die Atmosphäre des zivilen Drucks, der unsäglichen Beklemmung, der Heuchelei, der halben und ganzen Angst, unter der Verfolgungswahn wächst«, und charakterisierte darüber hinaus die selbstauferlegte Beschränkung folgendermaßen: »Warum die Abstraktion gewählt ist, (...) ist klar: man will klar und scharf den Konflikt in seinem engen Rahmen. Es dreht sich ferner um Prinzipien und sonst um nichts, also nicht um Lokalkolorit, um Zeitumstände in irgendwelcher Detaillierung. Man weiss schon. Und wer nicht weiss, dem ist nicht zu helfen.« Und nachdem er die Geschichte »eine furchtbar reale Welt im Spiegel eines Wassertropfens« genannt hat, fällt das Wort von der »Dunkelkammer der Despotie, in der Seelen und Moralen verwüstet werden.«18 So sehr auch der Begriff »Dunkelkammer« Assoziationen mit den Folterkammern der Diktatur wecken mag, so ist er doch eigentlich wörtlich zu verstehen als die Kammer, in der die Bilder von der Wirklichkeit der Diktatur entwickelt werden oder in der umgekehrt diese die Bilder von ihren Feinden entwickelt. Die Frage lautet daher: Welche Dunkelkammer? Welche Despotie? Welches Feindbild? Zuvor aber möchte ich die Metapher der Dunkelkammer zum Ausgangspunkt von Überlegungen machen, die die psychologische und metaphysische Dimension der Parabel verdeutlichen helfen. II Wille und Vorstellung Es liegt auf der Hand, daß der »Wassertropfen«, die »Dunkelkammer« sich auf jene zentrale Szene bezieht, in der Klitander seine seelischen Beklemmungen aus sich hinausverlagert. Einen bedeutsamen Hinweis auf die Bewandtnis, die es mit dem Prozeß des Romantitels hat, gibt Alzest bei seinem Besuch, durch den er Klitander vor der Gefahr der Teilnahme am Gutachten warnen will, mit einem halb erinnerten Zitat: »Schopenhauer sagt da ungefähr, der Mensch sei der heimliche Theaterdirektor seiner Träume, und jeder bereite sich sein Schicksal selber, indem man ausführe, was man sich selber befehle, ohne es zu wissen.« (33) Brentano war auf das Schopenhauerwort gestoßen, als Thomas Mann am 4. Mai 1936 in seinem

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Domizil in Küsnacht vor geladenen Gästen, darunter Bernard und Margot von Brentano, zur Probe, wie es seine Gepflogenheit war, seinen Festvortrag Freud und die Zukunft verlas." In seiner Rede schreibt Thomas Mann Schopenhauer »mit der Durchschauung des scheinbar Objektiven und Akzidentellen als Veranstaltung der Seele« die »philosophische Vorwegnahme tiefenpsychologischer Konzeptionen« 20 zu. Das von Alzest angeführte Zitat stellt die verkürzte Wiedergabe einer Annahme dar, die Schopenhauer selbst befremdlich, exorbitant und gewagt nennt: »(...) daß, auf analoge Weise, wie jeder der heimliche Theaterdirektor seiner Träume ist, so auch jenes Schicksal, welches unsern wirklichen Lebenslauf beherrscht, irgendwie zuletzt von jenem Willen ausgehe, der unser eigener ist, welcher jedoch hier, wo er als Schicksal aufträte, von einer Region aus wirkte, die weit über unser vorstellendes individuelles Bewußtsein hinausliegt, während hingegen dieses die Motive liefert, die unsern empirisch erkennbaren individuellen Willen leiten, der daher oft auf das heftigste zu kämpfen hat mit jenem unserm als Schicksal sich darstellenden Willen, unserem leitenden Genius, unserm >Geist, der außerhalb von uns wohnt und seinen Stuhl in die obern Sterne setzt