Psychotherapie der Misserfolgsangst: Ein Training bei Insuffizienzerleben, Scham und Therapieresistenz [1. Aufl.] 9783662611418, 9783662611425

Diese Anleitung zur Therapie der Misserfolgsangst ist psychologischen Psychotherapeuten, ärztlichen Psychotherapeuten, B

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German Pages XIII, 154 [164] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Misserfolgsangst (Sonja Hollas)....Pages 1-35
Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz (Sonja Hollas)....Pages 37-69
Therapie der Misserfolgsvermeidung (Sonja Hollas)....Pages 71-116
Therapie der Übermotivation (Sonja Hollas)....Pages 117-149
Back Matter ....Pages 151-154
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Psychotherapie der Misserfolgsangst: Ein Training bei Insuffizienzerleben, Scham und Therapieresistenz [1. Aufl.]
 9783662611418, 9783662611425

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Psychotherapie: Praxis

Sonja Hollas

Psychotherapie der Misserfolgsangst Ein Training bei Insuffizienzerleben, Scham und Therapieresistenz

Psychotherapie: Praxis

Die Reihe Psychotherapie: Praxis unterstützt Sie in Ihrer täglichen Arbeit – praxisorientiert, gut lesbar, mit klarem Konzept und auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13540

Sonja Hollas

Psychotherapie der Misserfolgsangst Ein Training bei Insuffizienzerleben, Scham und Therapieresistenz

Sonja Hollas Rehabilitation psychisch kranker Menschen AWO RPK gGmbH Erfurt, Thüringen, Deutschland

ISSN 2570-3285 ISSN 2570-3293  (electronic) Psychotherapie: Praxis ISBN 978-3-662-61141-8 ISBN 978-3-662-61142-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61142-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. © Brad Pict/stock.adobe.com Umschlaggestaltung: deblik Berlin Planung/Lektorat: Monika Radecki Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Misserfolgsangst ist die Angst vor Kritik, Scham und einem erniedrigten Selbstwert, wenn in Leistungssituationen die eigenen Standards nicht erreicht ­ werden. Für Menschen mit einer ausgeprägten, generalisierten Misserfolgsangst sind die meisten Anforderungen im Alltag und im Beruf selbstwertbedrohlich. Die Folgen sind verminderte Selbstwirksamkeitserwartung, Sorgen, Ängste und Insuffizienzerleben bis hin zu erlernter Hilflosigkeit. Die Misserfolgsangst macht psychische Krankheiten wahrscheinlich und überschneidet sich von den Symptomen her mit einer depressiven Erkrankung und Angststörungen, ist aber keine neue, eigenständige psychische Krankheit. Welche Probleme treten bei Versagensängsten gewöhnlich in der Psychotherapie auf? Menschen mit Versagensängsten fühlen sich nicht hilflos, weil sie sich in einer an sich unkontrollierbaren Situation sehen, sondern weil sie sich als unfähige Menschen bewerten, die nicht in der Lage sind, die Situation zu kontrollieren. Diese Bewertung besteht oft über viele Jahre hinweg, auch zwischen eventuellen depressiven Episoden. Bei der Therapie der Misserfolgsangst geht es um genau diese Bewertung: Jeder andere, nehmen Misserfolgsängstliche an, könnte diese Situation mit Leichtigkeit kontrollieren. Die – vermeintliche – eigene Unfähigkeit ist für sie zutiefst beschämend. Bei jeder Aufgabe, die sie bewältigen sollten, nehmen sie gedanklich Scheitern und Scham vorweg. Aus Angst vor der Scham vermeiden sie Aufgaben. Die Betroffenen versuchen, die Scham vor anderen (und vor sich selbst) zu verbergen. Sie verheimlichen ihre vermeintliche Unfähigkeit und gleichzeitig ihre Misserfolgsangst. Scham ist eine Emotion, die davor schützt, aus Beziehungen ausgeschlossen zu werden. Die Beschämten tabuisieren den Grund für ihre Scham und die Scham selbst – wenn jemand als beschämt auffällt, könnten andere auf die Idee kommen, nach dem Grund dafür zu suchen. Mit der Scham hängt die Befürchtung zusammen, in irgendeiner Weise ausgeschlossen, aussortiert, zu werden. Misserfolgsängstliche tun auch in der Psychotherapie alles, um in ihrer tief empfundenen „Unfähigkeit“ nicht entdeckt zu werden – aus Angst vor

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Vorwort

Beschämung und der Angst, dass die Therapie abgebrochen wird. Sie geben eher vor, unmotiviert zu sein, als ihre vermeintliche Unfähigkeit zu zeigen. Patientinnen und Patienten mit starken Versagensängsten scheitern häufig an wichtigen Aufgaben, wenn sie sich gedrängt fühlen, sie anzugehen. Kognitive Vermeidungsstrategien, Sicherheitsverhalten und negative Selbstverbalisationen lassen sie Aufgaben in einer dysfunktionalen Weise angehen. Bei einer langjährigen generalisierten Misserfolgsangst sind die Menschen zusätzlich sehr ungeübt im Lösen von Problemen. Ein Beispiel ist ein Patient in der Psychotherapie, der therapeutische Aufgaben gar nicht oder in sehr dysfunktionaler Weise angeht. Er kann in der Psychotherapie keine ermutigenden alternativen Gedanken erarbeitet wie etwa: „Ich kann das besser, das nächste Mal bereite ich mich gründlicher vor“, weil er weiß, dass er sich in einer ähnlichen Situation nicht einfach mehr Mühe geben oder sich besser vorbereiten kann. Er wird wieder scheitern, aber das sagt er aus Scham nicht. Er kann nicht sagen, warum er Aufgaben so angeht, dass es ihm im Nachhinein selbst lächerlich vorkommt. Das Scheitern misserfolgsängstlicher Menschen kann nicht durch unflexible Verhaltensmuster und starre Reaktionen, wie sie bei Persönlichkeitsstörungen vorkommen, erklärt werden. Eine Leistungsdiagnostik bleibt typischerweise unauffällig, der Antrieb ist reduziert, wenn es um Leistungen geht. Es bleibt die Möglichkeit, einen Krankheitsgewinn, ein Rentenbegehren oder schlicht mangelnde Motivation als Grund anzunehmen. Gleichzeitig sehen Therapeutinnen und Therapeuten, wie verzweifelt diese Menschen über ihre Hilflosigkeit sind. Manchmal entsteht schließlich der Eindruck, dass psychische Krankheiten auf irgendeine unbekannte Weise ganz und gar lebensuntüchtig machen können. Mit dieser Bewertung wird die dysfunktionale Bewertung der Betroffenen, unfähig zu sein, übernommen, ohne dass jemals darüber gesprochen wurde. Die ausgeprägte Scham, die durch die Bewertung der Menschen mit Versagensängsten entsteht, lebensunfähige Personen zu sein, macht es ihnen in der Therapie schwer, Probleme offen anzusprechen. Es ist wahrscheinlich, dass ohne spezifische Interventionen bezüglich der Misserfolgsangst die Therapie der psychischen Erkrankung, die ursprünglich gebessert werden sollte, stagniert oder abgebrochen wird. Worin besteht die Therapie der Misserfolgsangst? Die Menschen mit Versagensängsten brauchen ein Störungsmodell der Misserfolgsangst und Strategien zur Aufgabenbewältigung, um die misserfolgsängstliche Herangehensweise an Aufgaben zu verändern. In der hier vorgestellten Therapie der Misserfolgsangst wird den Patientinnen und Patienten eine Erklärung für ihre Schwierigkeiten angeboten. Das Störungsmodell macht ihnen verständlich, warum sie so häufig an wichtigen Vorhaben scheitern. Sie werden erleichtert erfahren, dass sie nicht lebensuntüchtig sind, sondern dass ihr beständiges Scheitern durch ihre Angst zu erklären ist. Sie können ihr Sicherheits- und Vermeidungsverhalten und ihre dysfunktionalen Problembewältigungsstrategien

Vorwort

VII

identifizieren und sie üben, wichtige Vorhaben in einer funktionalen Weise zu bewältigen. Wichtige Vorhaben sind verschiedene Aufgaben, die gerade anstehen und die bisher immer wieder vermieden wurden. Diese Vorhaben sind vor allem bisher vermiedene therapeutische Aufgaben für die diagnosebezogene Therapie. Die Therapie der Misserfolgsangst hilft, die diagnosebezogene Therapie besser zu bewältigen. Die psychologischen Grundbedürfnisse werden in der Therapie mit einbezogen. Die Patientinnen und Patienten sind dankbar, wenn sie Hilfe bei ihren Problemen erfahren, ohne erneut beschämt zu werden und wenn sie im Bemühen um Kompetenzen, Selbstbestimmung und Akzeptanz wahrgenommen werden. Menschen mit Misserfolgsangst unterscheiden sich darin, wie sehr sie unabhängig von der Misserfolgsangst gleichzeitig von Hoffnung auf Erfolg bestimmt sind. Die misserfolgsängstlichen Menschen mit wenig Hoffnung auf Erfolg vermeiden Leistungssituationen allgemein. Die Patientinnen und Patienten mit starker Angst vor Misserfolg und starker Hoffnung auf Erfolg verfolgen sehr engagiert Therapieziele. Sie übernehmen sich ständig, geraten darüber in gesundheitliche und psychische Krisen und halten dabei starr an ihrem Verhaltensmuster fest. Sie leiden an der Angst zu versagen und sind sich ihrer Fähigkeiten sehr unsicher. Sie weisen in der Regel perfektionistische Tendenzen von sich, wenn Perfektionismus als Grund für ihr Verhalten vermutet wird. Obwohl Menschen mit Angst vor Misserfolg sich auf einem Kontinuum zwischen wenig Hoffnung auf Erfolg und einer starken Hoffnungskomponente befinden, wird die Therapie dieser beiden Gruppen zur Verdeutlichung in zwei verschiedenen Kapiteln getrennt dargestellt. Was sind die theoretischen Grundlagen der Therapie der Misserfolgsangst? Es gibt bei der Misserfolgsangst große Überschneidungen mit dem Konzept der erlernten Hilflosigkeit Seligmans (1972). Die Grundlage der in diesem Buch vorgestellten Therapie bilden Erkenntnisse der Leistungsmotivationsforschung und Theorien über die zentrale Emotion Scham in Verbindung mit Selbstwert und psychologischen Grundbedürfnissen. Etablierte Motivtrainings aus der Arbeitspsychologie und der pädagogischen Psychologie werden mit Problemlösestrategien kombiniert. Die vorgestellte Therapie begründet sich auf der Annahme, dass sich die Motivtrainings in den klinischen Kontext übertragen und sich mit verhaltenstherapeutischen Bausteinen verknüpfen lassen. Die Wirksamkeit der hier vorgestellten Therapie wurde bisher nicht in klinischen Studien geprüft. Studien zu Problemen der Misserfolgsangst, die hier erwähnt werden, beziehen sich hauptsächlich auf den nicht-klinischen Kontext. Die Grundlagen dieser Therapie sind theoretisch untermauert, die Verknüpfung der verschiedenen Theorien und der etablierten Therapiebausteine ist dagegen neu. Die Tatsache, dass dieses Buch ein im klinischen Kontext noch wenig erforschtes Thema aufgreift, bringt mit sich, dass nicht auf umfangreiche Forschungsergebnisse zurückgegriffen werden kann. Die Fallbeispiele in diesem Buch sind Beispiele aus der eigenen Berufspraxis in verschiedenen Settings – stationär, teilstationär und ambulant oder aus der medizinisch-beruflichen Rehabilitation psychisch kranker Menschen, einer

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Vorwort

Rehabilitationsform, in der Menschen, die wegen psychischer Krankheiten in Ausbildung oder Beruf gescheitert sind, wieder an den ersten Arbeitsmarkt herangeführt werden. Bei den Falldarstellungen wurden alle Angaben, die auf eine bestimmte Person schließen lassen könnten, verändert. Ich danke meinem Mann, dem Psychologen Christoph Hölting, und dem Psychologen Dr. Stefan Dilger dafür, dass sie Korrektur gelesen haben. Sie haben mir sehr wertvolle Anregungen und Rückmeldungen gegeben. Ohne sie hätte dieses Buch nicht entstehen können. Den Psychologinnen Vivien Richter und Annelie Schneider und dem Psychologen Elias Escher der Rehabilitationseinrichtung für psychisch kranke Menschen (RPK) in Erfurt danke ich, dass sie das hier beschriebene Motiv- und Fertigkeitstraining in ihre Behandlungen integriert und mit ihren eigenen Konzepten verbunden haben. Sie haben ihre Erfahrungen, die sie damit gemacht haben, mit mir geteilt. Ich danke auch den Mitarbeiterinnen von Springer für die professionelle Begleitung des Buches, insbesondere Monika Radecki und Ina Conrad. Erfurt, den 11.02.2020

Sonja Hollas

Inhaltsverzeichnis

1 Misserfolgsangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Theorien zur Leistungsmotivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1.1 Fallbeispiel (Misserfolgsangst mit starker Vermeidung). . . . 1 1.1.2 Das Risokowahlmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1.3 Leistungsmotivationsforschung aufbauend auf dem Risikowahlmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.1.4 Das quadripolare Modell nach Covington und Roberts. . . . . 11 1.1.5 Fallbeispiel (Übermotivation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.6 Handlungs- und Lageorientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2 Psychotherapie als Leistungssituation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3 Wie lässt sich generalisierte Misserfolgsangst im Verhältnis zu psychischen Krankheiten oder anderen Problemkonstellationen abgrenzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.3.1 Fallbeispiel (Misserfolgsangst nach schwerer psychischer Erkrankung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.4 Diagnostik der Misserfolgsangst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.4.1 Beispiel für verhaltensnahe Diagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.5 Motivtraining. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2 Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz. . . . . . . . 37 2.1 Scham als zentrales Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst . . . . . . . 37 2.1.1 Adaptive Funktion der Scham. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.1.2 Erhöhte Schambereitschaft bei Misserfolgsangst . . . . . . . . . 41 2.1.3 Möglichkeit, Bindungen zu ersetzen und erhöhte Schambereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.1.4 Scham und Misserfolgsangst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.1.5 Entstehung der Misserfolgsangst in der Biographie . . . . . . . 46 2.2 Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham, Angst vor Zurückweisung und Selbstwert . . . . . . . . . . . . . . 47 2.2.1 Need-to-Belong-Theorie und Soziometertheorie. . . . . . . . . . 47 2.2.2 Selbstbestimmungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2.3 Folgerungen aus den dargestellten Theorien für die Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 IX

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Inhaltsverzeichnis

2.3 Therapieresistenz und Misserfolgsangst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.3.1 Fallbeispiel (Therapieresistenz). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3.2 Therapieresistenz bei Misserfolgsvermeidung. . . . . . . . . . . . 63 2.3.3 Therapieresistenz bei Übermotivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.3.4 Brüche des therapeutischen Arbeitsbündnisses. . . . . . . . . . . 65 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3 Therapie der Misserfolgsvermeidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.1 Therapie der Misserfolgsangst als Kombination aus Motivtraining und Strategien zur Aufgabenbewältigung. . . . . . . 71 3.1.1 Fallbeispiel (Misserfolgsvermeidung). . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.2 Grundprinzipien der Therapie Misserfolgsvermeidender . . . . . . . . . 74 3.2.1 Behandlungsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.3 Psychoedukation bei Misserfolgsvermeidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.3.1 Teufelskreismodell der Misserfolgsvermeidung . . . . . . . . . . 78 3.3.2 Psychoedukation zur Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.3.3 Beispiel des Störungsmodells anhand einer konkreten Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.3.4 Individuelles Störungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.3.5 Vermittlung des Behandlungsrationals. . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.4 Zielsetzung und Vorbereiten von relevanten Aufgaben bei Misserfolgsvermeidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3.4.1 Ziel- und Wertklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4.2 Zielsetzungsstrategien, Wählen relevanter Aufgaben . . . . . . 85 3.4.3 Achtsamkeit für Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten aufbauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.4.4 Abbau von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten . . . . . . . 89 3.4.5 Achtsamkeit für negative Selbstverbalisationen aufbauen und Techniken zur Angstreduktion anwenden. . . . . . . . . . . . 91 3.5 Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 3.5.1 Umgang mit verstärkter Angst beim Problemlösen. . . . . . . . 92 3.5.2 Problemlösestrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.5.3 Anleitung zum Problemlösen (erster Teil). . . . . . . . . . . . . . . 96 3.5.4 Problemlösen zweiter Teil (Planung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.5.5 Festlegen von Erfolg oder Misserfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.5.6 Vorbereiten und Bearbeiten der Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . 106 3.5.7 Rücknahme der Entscheidung, die Aufgabe zu bearbeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.6 Nachbereiten der Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.6.1 Ergebnisse mit funktionalen Attributionen bewerten. . . . . . . 109 3.6.2 Veränderung des Fähigkeitskonzeptes und der Selbstbewertungsemotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Inhaltsverzeichnis

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4 Therapie der Übermotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4.1 Grundprinzipien der Behandlung Übermotivierter . . . . . . . . . . . . . . 117 4.1.1 Mangelnde Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.1.2 Behandlungsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.2 Psychoedukation bei Übermotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.2.1 Teufelskreismodell der Übermotivation. . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.2.2 Psychoedukation zur Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.2.3 Fallbeispiel Übermotivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.2.4 Beispiel des Störungsmodells anhand einer konkreten Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.2.5 Individuelles Störungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.2.6 Vermittlung des Behandlungsrationals. . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.3 Zielsetzung und Vorbereiten relevanter Aufgaben bei Übermotivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.3.1 Ziel- und Wertklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.3.2 Unterscheidung zwischen Annäherungsund Vermeidungszielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4.3.3 Achtsamkeit für Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten aufbauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4.3.4 Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten abbauen . . . . . . . . . 131 4.3.5 Funktionale Selbstverbalisationen und Techniken zur Angstreduktion anwenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.4 Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation. . . . . . . . . 132 4.4.1 Problemlösestrategien für Annäherungsziele. . . . . . . . . . . . . 133 4.4.2 Problemlösestrategien bei Übermotivation, 2. Teil (Planung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.4.3 Bearbeiten der Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.4.4 Festlegen von Erfolg oder Misserfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.4.5 Vorbereiten und Bearbeiten der Aufgabe, Abbrüchen des Vorhabens vorbeugen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.5 Nachbereiten der Aufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.5.1 Ergebnisse mit funktionalen Attributionen bewerten. . . . . . . 145 4.5.2 Veränderung des Fähigkeitskonzeptes und der Selbstbewertungsemotionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4.6 Verminderung der Misserfolgsangst über die psychologischen Grundbedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Über die Autorin

Sonja Hollas  ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (VT) und Ärztliche Leiterin der AWO RPK Erfurt, einer Einrichtung zur Rehabilitation psychisch kranker Menschen.

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Misserfolgsangst

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Die Theorien zur Leistungsmotivation in diesem Kapitel helfen, die psychischen Probleme bei Misserfolgsangst zu verstehen. Strategien, sich Ziele zu setzen, Attributionen und Selbstbewertungsemotionen misserfolgsängstlicher Personen werden mit denen von Menschen mit Hoffnung auf Erfolg ohne relevante Misserfolgsangst verglichen. Anschließend wird beleuchtet, wie sich Misserfolgsangst in der Psychotherapie zeigt und wie Versagensängste mit psychischen Krankheiten zusammenhängen können. Ein Abschnitt widmet sich der Diagnostik der Misserfolgsangst im klinischen Kontext. Zuletzt werden die Prinzipien etablierter Motivtrainings in nicht-klinischen Kontexten zusammengefasst.

1.1 Theorien zur Leistungsmotivation 1.1.1 Fallbeispiel (Misserfolgsangst mit starker Vermeidung) Frau D., 26 Jahre, Diagnosen zu Behandlungsbeginn: • (ICD 10) F 40.1, Soziale Phobie • (ICD 10) F33.1, Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode • (ICD 10) F60.6, Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung • Leistungstests: Konzentration, Merkfähigkeit und Intelligenz leicht überdurchschnittlich. • Multi-Motiv-Gitter (siehe 1.4): starke Angst vor Zurückweisung (Prozentrang 93), geringes Streben nach Erfolg (Prozentrang 6), grenzwertig starke Angst vor Misserfolg (Prozentrang 84), übrige Werte innerhalb der einfachen Standardabweichung. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hollas, Psychotherapie der Misserfolgsangst, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61142-5_1

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1 Misserfolgsangst

Frau D. wurde vom Jobcenter aus eine Psychotherapie empfohlen, weil sie jede Arbeit mit der Begründung, dass sie Angst vor anderen Menschen habe, ablehnte. Aus Angst, dass ihre Leistungen ohne Psychotherapie gekürzt würden, bemühte sie sich ein halbes Jahr nach der Empfehlung durch das Jobcenter um einen Therapieplatz. Mit der Hilfe ihrer Hausärztin bekam sie einen Termin für ein Erstgespräch. Frau D. berichtet im Erstgespräch über ausgeprägte soziale Ängste nach einer von Gewalt geprägten Kindheit mit verschiedenen prügelnden, alkoholkranken Stiefvätern und einer depressiven Mutter. In der Schule sei sie jahrelang gemobbt worden. Frau D. vermutet, sie habe ADHS: Sie sei unkonzentriert und vergesse „immer alles“. Sie habe deshalb trotz einer guten Intelligenz in der Schule kaum lernen können und sie habe die Abiturprüfung nicht bestanden. Im Fachhochschulstudium habe sie nur wenige Scheine erreicht. Bei der Ausbildung als Fachinformatikerin habe sie, auch ohne zu üben, mit dem Inhalt zunächst kaum Schwierigkeiten gehabt. Gegen Ende hätte sie jedoch „eigentlich“ lernen müssen. Diese Ausbildung habe sie kurz vor der Abschlussprüfung abgebrochen, weil sie in ihrer Klasse soziale Ängste gehabt habe. Sie lebe allein und habe den Kontakt zur Mutter abgebrochen. Freundschaften zu ehemaligen Mitschülerinnen seien „eingeschlafen“. Sie treffe sich nur mit einem ehemaligen Partner ihrer Mutter, der immer unterstützend gewesen sei, aber leider nur über zwei Jahre hinweg in der Familie gelebt habe. Er begleite sie, wenn er sich frei nehmen könne, zu Behördengängen und helfe ihr mit Formularen. Als spontanes Therapieziel nennt Frau D., dass sie weniger Angst vor anderen haben und ein „normales” Leben führen wolle, wozu auch eine Arbeit gehöre. Als die Therapeutin nach konkreteren positiven Zielen fragt, wird Frau D. unruhig. Ihre Hände zittern. Frau D. antwortet in der Therapie so stark verzögert, dass in einer Sitzung nur wenige Themen besprochen werden können. Weil sie während der Gesprächspausen oft mit den Händen zittert, legt sie ihre Hände in den Schoß, sodass sie vom Tisch verdeckt sind. Die Leistungsdiagnostik zeigt eine leicht überdurchschnittliche Intelligenz und keinen Anhalt für Konzentrations- oder Merkfähigkeitsstörungen. Frau D. ist in der Lage, nach den in der Selbstmanagementtherapie (Kanfer et al. 2005) vorgeschlagenen imaginativen Übungen zur Wert- und Zielklärung Ziele zu erarbeiten. Sie will einige ehemalige gute Freundinnen kontaktieren und zum Frauenfußballtraining gehen. Außerdem würde sie gerne die Lehre zur Fachinformatikerin abschließen. Auffällig ist während der Therapie zum einen, dass Frau D. von ihren erarbeiteten Zielen phasenweise wieder zurücktritt und zum anderen, dass sie offensichtlich nicht einschätzen kann, ob ein Vorhaben für sie leicht oder schwer ist. Mal stellt sich eine Exposition während der Therapiestunde als zu wenig anspruchsvoll heraus, dann wieder ist eine geplante Übung zu stark herausfordernd, um sie in Angriff zu nehmen. Auch nach konkret vorbereiteten Rollenspielen für Telefongespräche ruft sie keine ehemalige Freundin an. Elektronische Nachrichten lehnt sie als zu unpersönlich ab. Auf die Frage, warum sie verschiedenste wichtige Vorhaben nicht erledigt hat, gibt sie meistens ihre Vergesslichkeit an. So vergisst sie monatelang sich zu erkundigen, ob sie ihre Aus-

1.1  Theorien zur Leistungsmotivation

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bildung wieder aufnehmen kann. Die Frage nach der Ausbildung wirft sie selbst immer wieder in den Sitzungen auf und gibt an, sich zuzutrauen, per Mail bei ihrer ehemaligen Ausbildungsstelle nachzufragen. Häufig fällt in der Therapie auf, dass Frau D. sich an Geplantes offenbar wirklich nicht erinnern kann. Schließlich sagt sie, dass sie sich die Ausbildung ohnehin nicht zutraue. Eine andere Erklärung für versäumte therapeutische Vorhaben ist, dass ihr zu Hause klar geworden sei, dass sich das – gemeinsam erarbeitete – Vorhaben wohl doch nicht lohne. Sie sei beispielsweise zum Schluss gekommen, dass sie eine ehemalige langjährige Freundin nicht anrufen brauche, weil diese Freundin inzwischen verheiratet sei und deshalb keinen Bedarf an weiteren sozialen Kontakten mehr habe. Dieses Fallbeispiel wird wahrscheinlich vielen Therapeutinnen und Therapeuten bekannt vorkommen. Die Motive der Patientin sind nicht klar – klar ist nur, dass sie alles, was sie vorhat, dann doch nicht umsetzt – und dass sie dafür die unterschiedlichsten Gründe nennt. Eine ähnliche Fallkonstellation könnte im beruflichen Alltag Verwirrung, Ärger oder therapeutische Selbstzweifel auslösen. Wenn dieses Fallbeispiel aus der Sicht der Leistungsmotivationsforschung betrachtet wird, klärt sich das scheinbar widersprüchliche und unzweckmäßige Verhalten der Patientin.

1.1.2 Das Risokowahlmodell Je nach Studiengang könnten die klassischen Theorien zur Leistungsmotivation, die bis einschließlich 1.1.3 zusammengefasst werden, schon hinreichend bekannt sein. Fortführungen der klassischen Theorien, klinische Aspekte und Folgerungen für die Psychotherapie werden in diesem Kapitel ab 1.1.4 dargestellt. Eine Person mit Misserfolgsangst hat Angst vor Kritik, Scham und einem erniedrigten Selbstwert, wenn sie in einer Leistungssituation befürchtet, ihren Standard nicht zu erreichen. Hoch misserfolgsängstliche Personen verknüpfen ihren Selbstwert stark mit ihrer Leistung. Sie gehen davon aus, dass ihre Fähigkeiten eingeschränkt sind. Sie nehmen viele Nachteile in Kauf, um die vermeintliche Unfähigkeit vor anderen und vor sich selbst zu verbergen: Sie vermeiden Anforderungen, widmen sich unangemessen leichten oder schweren Aufgaben und können auf diese Weise keine wichtigen Lebensziele erreichen. Sie geben schnell auf – oder aber sie überlasten sich und hoffen, mit viel Fleiß die mangelnden Fähigkeiten zu kompensieren. Wenn man sich mit der Leistungsmotivationsforschung beschäftigt, kann man Patientinnen und Patienten mit starker Misserfolgsangst leichter verstehen und ihnen besser helfen. Die Theorien zur Leistungsmotivation bilden die Grundlage für das Motivtraining, das für die Therapie der Misserfolgsangst mit Strategien zur Aufgabenbewältigung verknüpft wird. Atkinson beschrieb 1957 das Risikowahlmodell zur Leistungsmotivation. Er leitete her, wie das Leistungsmotiv (als Hoffnungs- oder Furchtkomponente) im Zusammenspiel mit dem Anreiz eines Ziels die Motivation bestimmt. Die Grundlage für diese Theorie ist das Erwartungs-mal-Wert-Modell. Nach diesem Modell

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resultiert, vereinfacht beschrieben, die Motivation zum einen aus der Erwartung, ein Ziel zu erreichen und zum anderen aus dem Wert, den das Ziel für die Person hat: Erwartung × Wert = Motivation. Wenn ein Mann die Erwartung hat, bei einem Marathonlauf auf alle Fälle ins Ziel zu kommen, ist seine Erwartung hoch. Wenn er sich von dem Marathon viel verspricht – Stolz, Euphorie, Anerkennung und eine gute Fitness – ist der Wert hoch. Die hohe Erwartung und der hohe Wert multiplizieren sich zu einer hohen Motivation, sich beim Marathon anzumelden und dafür zu trainieren. Allgemein gefasst: Ein starkes Leistungsmotiv, gepaart mit einer starken Hoffnung, ein Ziel zu erreichen (hohe Erwartung), führt bei einem starken Anreiz des Ziels (hoher Wert) zu einer hohen Motivation. Der Anreiz eines Ziels ist umso stärker, je schwieriger das Ziel zu erreichen ist, weil dann der Stolz auf die Leistung ebenfalls stark ausgeprägt ist. Personen, die in Leistungssituationen davon ausgehen, die Aufgaben insgesamt gut zu bewältigen (Hoffnung auf Erfolg), antizipieren schon Freude und Stolz auf die Herausforderung, während sie die Aufgabe in Angriff nehmen. Menschen mit Hoffnung auf Erfolg empfinden häufig, stark und langanhaltend Freude und Stolz und dagegen nur selten, schwach und kurz Angst und Scham. Der Wert des Ziels wird durch die positiven Emotionen Freude und Stolz erhöht: Zu dem Wert des Ziels selbst werden die erwarteten positiven Selbstbewertungsemotionen addiert. Die antizipierten positiven Emotionen erhöhen auf diese Weise die Motivation zusätzlich. Bei einfachen Aufgaben ist die Erfolgswahrscheinlichkeit (Erwartung) hoch, aber der Anreiz (Wert) ist nur gering. Daraus folgt eine niedrige Motivation, die Aufgabe zu wählen. Der Marathonläufer würde sich ohne weitere Anreize nicht für eine Wanderung von zehn Kilometern Länge anmelden. Bei zu schwierigen Aufgaben ist der Anreiz (Wert) hoch, die Erfolgswahrscheinlichkeit (Erwartung) aber gering, sodass ebenfalls eine niedrige Motivation resultiert. Der Marathonläufer würde sich nicht für einen 24-h-Ultramarathon von 120 km Wegstrecke anmelden, wenn er glaubt, der Strecke nicht gewachsen zu sein. Die Motivation ist bei mittelschweren Aufgaben am höchsten, weil bei solchen Aufgaben der Anreiz des Ziels (Wert) mittelhoch ist und die Erfolgswahrscheinlichkeit ebenfalls. Daraus folgt, dass Menschen mit Hoffnung auf Erfolg dazu tendieren, mittelschwere Aufgaben auszuwählen: Mittelhohe Erwartung × mittelhoher Wert = optimale Motivation. Bei anderen Personen liegt das Leistungsmotiv in der Furchtkomponente vor. Sie haben Angst vor einem Misserfolg. Die Erwartung, ein mittelschweres Ziel (mittelhoher Wert) zu erreichen, wird von ihnen als gering eingeschätzt. Daraus resultiert eine niedrige Motivation: Sehr geringe Erwartung × mittelhoher Wert = geringe Motivation. Wenn ein misserfolgsängstlicher Mann es wichtig fände, regelmäßig joggen zu gehen (Wert mittelhoch), sich aber nicht zutraut, sich dafür regelmäßig zu überwinden (Erwartung niedrig), ist seine Motivation zum Joggen gering.

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Menschen mit Hoffnung auf Erfolg haben bei erreichbaren Zielen nur dann eine niedrige Motivation, wenn sie kein Interesse am Ziel haben (niedriger Wert) – wenn das Ziel die Anstrengung nicht wert ist. Ein Mann ohne relevante Misserfolgsangst, der mit seiner Arbeit, seiner Familie, seinem Anteil an der Hausarbeit, seinen Freunden und seinem Hobby ausgelastet ist, weiß zwar, dass es eigentlich gut für seine Gesundheit wäre zu joggen, er hätte daran aber keinen Spaß und müsste eine andere Aktivität, die ihm Freude bereitet, vernachlässigen (niedriger Anreiz des Ziels, niedrige Motivation). Wenn Menschen mit Hoffnung auf Erfolg merken, dass jemand wenig Motivation hat, nehmen sie an, dass die Person das Ziel ablehnt. Wenn die Person oft unmotiviert ist, glauben sie, dass sich diese Person offensichtlich nie anstrengen möchte. Hier ist das grundlegende Missverständnis gegenüber Menschen mit Angst vor dem Scheitern begründet: Viele Ziele sind für Menschen mit einer starken Misserfolgsangst wertvoll. Sie würden sehr gerne versuchen, verschiedene Ziele zu erreichen. Sie würden gerne das machen, was sie sich wünschen, sind aber in ihrer Angst vor dem Scheitern genauso gefangen wie ein Patient mit einer schweren Agoraphobie in seiner Wohnung gefangen ist. Es ist in erstaunlich vielen Situationen so, dass Misserfolgsängstliche sich Aufgaben nicht zutrauen – vom Zimmer aufräumen, Akten abheften bis hin zum Ausfüllen eines Stimmungsprotokolls. Menschen mit Misserfolgsangst klagen in der Psychotherapie oft über mangelnde Motivation: Sie würden gerne wollen – aber sie können nicht motiviert sein. Atkinson sagte im Risikowahlmodell nicht nur voraus, dass Menschen mit Misserfolgsangst allgemein eine niedrige Motivation haben, er sagte auch voraus, dass sie entweder sehr leichte Aufgaben oder sehr schwere Aufgaben bevorzugen (dysfunktionales Anspruchsniveau). Bei leichten Aufgaben sind Misserfolge unwahrscheinlich, sodass die Erwartung hoch ist. Multipliziert mit dem zwar niedrigen, aber positiven Wert eines einfach zu erreichenden Ziels resultiert eine niedrige, aber relevante Motivation: Hohe Erwartung × geringer Wert = ausreichend hohe Motivation. Der misserfolgsängstliche Mann traut sich zu, auf seiner Arbeit regelmäßig zwei Stockwerke Treppen zu steigen, statt den Aufzug zu nehmen (Erwartung hoch). Obwohl er nicht glaubt, dass er dadurch viel für seine Gesundheit tut (Wert gering) und der Anreiz seines Ziels ebenfalls gering ist (niedriger Anspruch), ist seine Motivation immerhin so hoch, dass er auf den Aufzug verzichtet. Bei schweren Aufgaben fallen die Misserfolge nicht so stark ins Gewicht, weil die misserfolgsängstlichen Personen ohnehin nicht den Anspruch an sich haben, eine so hohe Anforderung zu bewältigen. Zu offenbaren, dass die Fähigkeiten nicht ausgereicht haben, ist bei sehr schwierigen Aufgaben viel weniger beschämend als bei einfacheren Aufgaben. Der Wert des Ziels wird nicht durch die antizipierte Scham reduziert. Das hochgesteckte Ziel (hoher Wert), lässt die Motivation relevante Werte annehmen, trotz der geringen Erwartung, es zu erreichen: Niedrige Erwartung × sehr hoher Wert = ausreichend hohe Motivation. Diese Gleichung erklärt Entscheidungen, die im Therapiealltag immer wieder vorkommen und zunächst völlig unverständlich erscheinen.

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Der gleiche Mann, der sich nicht zutraut, regelmäßig joggen zu gehen und als Sport einfach nur zwei Stockwerke am Tag Treppen steigt, sieht eine kleine Chance für sich, nach einem zeitlich begrenzten Training einen Marathonlauf durchzuhalten (Erwartung niedrig). Beim Marathon zwischendurch aufzugeben, wäre für ihn nicht beschämend. Einen Marathon durchzuhalten, würde für ihn bedeuten, dass er jemand ist, der etwas Wichtiges erreichen kann. Er könnte endlich wieder stolz auf sich sein (Wert sehr hoch). Er meldet sich zum Marathon an (ausreichend hohe Motivation). Misserfolgsängstliche werden durch die Angst vor Beschämung in ihrer Motivation ausgebremst. Sie vermeiden eine Rückmeldung über ihre Leistungsfähigkeit. Sie haben schon bei der Wahl der Aufgabe Angst vor einem Misserfolg und antizipieren Scham. Sie haben im Vergleich zu Menschen mit Hoffnung auf Erfolg ein hohes Risiko, starke und lang anhaltende Angst und Scham zu erleiden, während Freude und Stolz nach Erfolg nur schwach ausgeprägt sind. Nach einem Erfolg haben sie den Gedanken, „noch gerade davongekommen“ zu sein und sind erleichtert, statt stolz zu sein. Auf diese Weise können sie den Wert ihrer Ziele nicht durch Stolz auf ihre Leistung erhöhen. Wenn der misserfolgsängstliche Mann endlich doch einmal joggen geht, sagt er sich eher, dass sein Antidepressivum an diesem Tag endlich gewirkt hat als dass er zufrieden ist, sich endlich überwunden zu haben. Ziele, die von anderen als attraktiv bewerten werden, werden für misserfolgsängstliche Menschen in ihrem Wert durch die antizipierte Scham gemindert. Daraus resultiert zusätzlich eine niedrige Motivation. Wenn der Mann sich nicht überwindet, regelmäßig zu joggen, zeigt ihm das, dass er unfähig und faul ist und er im Leben nie etwas Wichtiges erreichen kann. Schon bei dem Gedanken daran schämt er sich. Experimente zum Risikowahlmodell Verschiedene Forscher überprüften Atkinsons Theorie in den folgenden Jahren experimentell. Sie maßen Erfolgs- und Misserfolgsmotiv mit dem thematischen Apperzeptionstest. Das bekannteste Experiment war ein Ringwurfspiel (Atkinson und Litwin 1960). Dabei sollten (männliche) Studenten einen Ring über einen Pflock werfen und konnten die Distanz frei wählen. Es zeigte sich, dass sowohl Studenten mit Hoffnung auf Erfolg als auch Studenten mit Angst vor Misserfolg mittlere Distanzen bevorzugten, aber Studenten mit Hoffnung auf Erfolg wählten die mittleren Distanzen relativ gesehen deutlich häufiger. Studenten mit Angst vor Misserfolg wählten immer wieder sehr kurze oder sehr weite Distanzen (dysfunktionales Anspruchsniveau). In der gleichen Studie verglichen Atkinson und Litwin die Prüfungsnoten der Studenten und ihre Ausdauer während der Prüfung mit ihrer Hoffnung auf Erfolg und ihrer Furcht vor Misserfolg. Es stellte sich heraus, dass Studenten mit starker Furcht vor Misserfolg ihren Test häufig weit vor Ende der Prüfung abgaben und nur ein Viertel dieser Studenten gute Noten erreichte, im Gegensatz zu den Studenten mit Hoffnung auf Erfolg. In einer früheren Studie zeigte sich, dass die

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Studenten mit Furcht vor Misserfolg viel bessere Ergebnisse in Tests hatten, die verdeckt stattfanden, sodass die Leistungssituation nicht offenbar wurde. In späteren Experimenten konnte die Vorhersage von Atkinson noch genauer bestätigt werden als im Ringwurfversuch. Die Ergebnisse konnten umso besser vom Risikowahlmodell vorhergesagt werden, je wichtiger ein Erfolg oder ein Misserfolg war. Mahone machte dazu 1960 eine Untersuchung. Er wählte ein besonders relevantes Thema für Erfolg oder Misserfolg, die Berufswahl. Mahone ließ Studierende ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen und befragte sie gleichzeitig, welche Fähigkeiten ihrer Meinung nach für bestimmte Berufe nötig sind. Zusätzlich unterzog er sie einem Leistungstest. Studierende mit Hoffnung auf Erfolg wählten demnach zu 94 % Berufe, für die sie dem Leistungstest nach geeignet waren und für die sie sich die nötigen Fähigkeiten zuschrieben. Studierende mit Angst vor Misserfolg wählten zu 83 % „unrealistische“ Berufe, also Berufe, die im Vergleich zu ihrer selbst eingeschätzten Leistungsfähigkeit und im Vergleich zu den Testergebnissen gar nicht herausfordernd oder zu anspruchsvoll waren.

Zusammenfassung

Menschen mit Hoffnung auf Erfolg empfinden angesichts von Leistungssituationen überwiegend Freude und Stolz. Ihre Motivation ist bei mittelschweren Aufgaben am größten. Menschen mit Angst vor Misserfolg empfinden angesichts von Leistungssituationen Angst und Scham. Ihre Motivation, Aufgaben anzugehen, ist reduziert. Sie wählen außer mittelschweren Aufgaben häufig sehr leichte oder sehr schwere Aufgaben.

1.1.3 Leistungsmotivationsforschung aufbauend auf dem Risikowahlmodell Theorien, die auf dem Risikowahlmodell aufbauen, werden hier zum Verständnis für die Therapie der Misserfolgsangst kurz dargestellt. Annäherungsziel und Handlungsplanung Menschen mit Hoffnung auf Erfolg haben ein Annäherungsziel, nämlich die Aufgabe zu meistern. Wie Carver und Scheier (1998) ausführen, ist die Konzentration bei einem positiven Ziel auf das Ziel selbst gerichtet, in diesem Fall darauf, die Aufgabe zu bewältigen. Bei einem positiven Ziel kann man in der Regel abschätzen, ob das Ziel näher kommt oder nicht. Je näher das Ziel kommt, desto mehr positive Emotionen stellen sich ein. Die Selbstverbalisationen in solchen Situationen steuern die Handlungen, die zum Ziel führen.

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Wenn eine Jugendliche im Musikunterricht einen Song vorsingen muss und dabei benotet wird, kann sie sich darauf vorbereiten, indem sie die schwierigen Stellen des Songs übt, am Klang ihrer Stimme arbeitet und später den Song ihren Freundinnen vorsingt – für Rückmeldungen, was sie noch verbessern könnte (Konzentration auf Handlungen, die das Annäherungsziel näher bringen). Attributionen bei Hoffnung auf Erfolg Nach Weiner (1974) und Heckhausen (1972) attribuieren Menschen mit Hoffnung auf Erfolg den Erfolg internal auf die eigenen Fähigkeiten oder die eigene Anstrengung. Dadurch verstärken sich die Emotionen Freude und Stolz. Misserfolge ziehen nur kurze, relativ schwache negative Emotionen nach sich, weil die eigenen Fähigkeiten nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Als Erklärung für den Misserfolg nennen Personen mit Hoffnung auf Erfolg, dass sie sich nicht genug angestrengt haben oder dass sie Pech hatten. Oft haben sie vor, sich die Fähigkeiten anzueignen, die sie brauchen, um die Aufgabe beim nächsten Versuch zu bewältigen. Wer glaubt, sich wenig angestrengt oder zu wenig gelernt zu haben, empfindet eher Ärger oder Enttäuschung als Scham. Scham ist eine Emotion, die sich auf einen grundsätzlichen persönlichen Mangel bezieht und höchstens in schwacher Form auftritt, wenn eine Person annimmt, sich in einer bestimmten Situation nicht genug angestrengt zu haben. Die Ausrichtung auf ein positives Ziel und das Attributionsmuster der Menschen mit Hoffnung auf Erfolg führen dazu, dass bei ihnen in Leistungssituationen positive Emotionen wahrscheinlicher sind als negative Emotionen. Negative Emotionen sind weniger stark und langanhaltend und von der Qualität her weniger gravierend als die negativen Selbstbewertungsemotionen misserfolgsängstlicher Personen. Selbstbewertungsmodell Nach Heckhausens Selbstbewertungsmodell (1975) wirken die positiven Emotionen Freude und Stolz als Verstärker, als eine Art Motor für leistungsmotiviertes Verhalten. Die positiven Emotionen bringen einen sich selbst verstärkenden Kreislauf in Gang, in dem Leistungssituationen aufgesucht werden und das übergreifende Ziel, die eigene Tüchtigkeit zu steigern, verfolgt wird (Erfolgsmotivation als Selbstbekräftigungssystem). Die Jugendliche, die für den benoteten Song übt, bereitet sich nicht nur vor, um eine gute Note zu bekommen, sondern sie singt auch, weil sie sich freut, wenn sie die schwierigen Stellen immer besser singen kann und wenn ihre Stimme schöner als vor dem Üben klingt (Freude über den Kompetenzzuwachs als Verstärkung). Die Motivation, sich in selbstgewählten, mittelschweren Leistungssituationen anzustrengen ist nach dem Erwartungs-mal-Wert-Modell hoch. Der Anreiz (Wert) liegt vor allem in der Freude und dem Stolz, sich zu verbessern und das Ziel zu erreichen (positive Selbstbewertungsemotionen). Eine Person, die erwartet, ein Ziel zu erreichen, wenn sie sich dabei anstrengt, ist hoch motiviert. Rückschlüsse auf eigene Fähigkeiten als Ziel Durch mittelschwere, herausfordernde Aufgaben können Personen mit Hoffnung auf Erfolg Rückschlüsse auf ihre Fähigkeiten ziehen und gezielt Fähigkeiten verbessern.

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Sie bauen ihre Fähigkeiten aus und bewältigen zunehmend erfolgreicher schwierige Aufgaben. Sie können Fortschritte gut erkennen, weil sie ein immer höheres Niveau bewältigen und werden bei all diesen Vorhaben von Freude und Stolz getragen. Sie neigen dazu, sich in ihrer Beurteilung nach ihrem persönlichen Können zu richten und relativ unabhängig von der Meinung anderer zu handeln, statt sich vorwiegend an sozialen Normen und Rückmeldungen zu orientieren (Breckler und Greenwald 1986). Die Jugendliche, die für den Gesangsvortrag übt, wird sich über eine gut gelungene, schwierige Stelle im Song auch freuen, wenn ihr gerade niemand zuhört. Vermeidungsziel und Handlungsplanung Misserfolgsängstliche Menschen sind besorgt, wenn sich eine Leistungssituation anbahnt. Sie leiden unter der Angst vor dem Misserfolg selbst und sorgen sich um die Konsequenzen, die ein Scheitern nach sich zieht, vor allem, was die soziale Bewertung betrifft (Breckler und Greenwald 1986). Sie haben Angst vor der Scham und vor dem reduzierten Selbstwert. Im Gegensatz zu Personen mit Hoffnung auf Erfolg haben sie kein Annäherungsziel, auf das sie sich konzentrieren können. Ihr Ziel ist, Scham zu vermeiden, also den Selbstwert zu schützen (Heckhausen 1975). Eine misserfolgsängstliche Klassenkameradin des Mädchens, das den Song einübt, fürchtet sich vor dem Tag, an dem die vorgetragenen Songs benotet werden. Sie traut sich nicht zu, vor der Klasse zu singen. Die Lehrerin hat verschiedene Angebote gemacht, die es einfacher machen, den Song vorzutragen – zu mehreren singen, mit einer laut gestellten Anlage im Hintergrund. Die Schülerin sieht sich vor der Klasse stehen, mit hochrotem Kopf, die Töne nicht treffend, und stellt sich vor, wie sie ausgelacht wird. Sie denkt darüber nach, wie sie die Situation vermeiden kann, ob sie sich irgendwie heiser schreien kann, um nicht singen zu müssen und sie überlegt, sich ein ärztliches Attest zu besorgen (Konzentration auf das Vermeidungsziel). Sie denkt darüber nach, welche Folgen ihre verschiedenen Vermeidungsstrategien haben könnten, statt einen Plan zu machen, wie sie den Vortrag für sich erträglich machen könnte (keine Beschäftigung mit dem Annäherungsziel). Die Konzentration ist von der Aufgabe abgezogen und auf das Vermeidungsziel gelenkt. Das behindert misserfolgsängstliche Personen dabei, die Aufgabe zu bewältigen. Da sich bei einem Vermeidungsziel nicht genau sagen lässt, was passieren soll, sondern nur, was nicht geschehen soll, lähmen Vermeidungsziele die Handlungen. Bei einem positiven Ziel muss nur ein möglicher Weg zum Ziel ausgewählt werden. Bei einem Vermeidungsziel ist es nötig, alle möglichen Wege, die zum Vermeidungsziel führen könnten, im Blick zu halten (Schwarz 1990). Wer sich auf das Vermeidungsziel „Scheitern“ konzentriert, ist ständig ängstlich und besorgt (Carver und Scheier 1998). Wenn es gelingt, das Vermeidungsziel – vorübergehend – zu verhindern, entstehen keine positiven Gefühle wie Freunde und Stolz, sondern höchstens Erleichterung (Carver und Scheier 1998).

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Ein Beispiel hierfür ist eine Frau, die eine Party gibt und als Annäherungsziel hat, dass sich die Gäste wohlfühlen. Sie wird als Unterziel haben, dass jeder Gast jemanden zum Reden hat und genügend zu essen und zu trinken. Sie wird einzelne Gäste anderen vorstellen, darauf achten, Essen und Trinken nachzufüllen und sich sonst darauf konzentrieren, mit den Gästen zu plaudern. Eine Frau mit dem Vermeidungsziel, dass die Party ein „Reinfall“ wird, wird auf Zeichen achten, dass sich jemand unwohl fühlt, Gesprächspausen verstärkt registrieren und darüber nachdenken, ob der Salat nicht schmeckt, wenn die Schüssel noch nicht leer ist. Sie wird kaum in der Lage sein, sich entspannt an Gesprächen zu beteiligen und gerade durch die Konzentration auf das Vermeidungsziel den befürchteten Ausgang des Abends wahrscheinlicher machen. Attributionen bei Misserfolgsangst Ein Vermeidungsziel richtet die Konzentration auf die Sorgen. Zusätzlich verhindert das Attributionsmuster misserfolgsängstlicher Personen (Weiner 1974; Heckhausen 1972) ausgeprägte positive Selbstbewertungsemotionen. Misserfolgsängstliche erklären Erfolg external und variabel mit Glück oder leichten Aufgaben, selten mit den eigenen Fähigkeiten oder mit Anstrengung. Sie haben also keinen Grund, auf sich stolz zu sein, sondern sind nach einem Erfolg einfach nur erleichtert. Nach einem Misserfolg sind sie lang anhaltend und ausgeprägt beschämt, weil sie den Misserfolg internal und stabil mit mangelnden Fähigkeiten erklären. Das Risiko für Misserfolgsängstliche, nach Leistungssituationen starke negative Emotionen zu erleben, ist also sehr hoch im Vergleich zu den selten auftretenden, kurzen positiven Emotionen (Atkinson 1957), die zusätzlich von einer geringeren Qualität sind (Erleichterung) als die positiven Selbstbewertungsemotionen von Menschen mit Hoffnung auf Erfolg (Freude, Stolz). Wer Angst vor dem Scheitern hat, kann seinen Selbstwert auf verschiedene Weise schützen: Er wählt extrem leichte oder schwierige Aufgaben, er vermeidet Aufgaben, er spielt fehlendes Interesse vor, er hat wenig Ausdauer und bricht Aufgaben vorzeitig ab und redet das ursprüngliche Ziel klein. Ziel, Rückschlüsse auf die eigenen Fähigkeiten zu verhindern Menschen mit starker, generalisierter Misserfolgsangst vermeiden so umfassend Rückschlüsse auf ihre Fähigkeiten, dass sie selbst ihre Fähigkeiten nicht mehr einschätzen können. Deshalb haben sie keine Möglichkeit, angepasst an ihr Können neue Fähigkeiten aufzubauen. Je früher in ihrer Entwicklung Misserfolgsangst handlungsleitend wurde, desto weniger Möglichkeiten gab es für sie, ihre Tüchtigkeit zu steigern, weil sie Leistungssituationen aus dem Weg gingen und ihre vorhandenen Fähigkeiten kaum einsetzten. Sie können keine Fortschritte ihrer Fähigkeiten erkennen, weil sie ihre Fähigkeiten nicht kennen. Stattdessen vergleichen sie ihre Fähigkeiten mit denen anderer Personen. Dabei nehmen sie einen immer größeren Unterschied zu den Leistungen Gleichaltriger wahr, weil diese im Laufe der Jahre stetig viel mehr Fähigkeiten aufbauen konnten.

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Schutz des Selbstwertes Nach Heckhausens Selbstbewertungsmodell (1975) ist misserfolgsängstliches Verhalten, so unverständlich und unangepasst die Handlungen wirken, adaptiv und nachvollziehbar, wenn als Motiv der Schutz des Selbstwertes gesehen wird. Da Scham als Strafe wirkt, werden Leistungssituationen vermieden. Wenn eine Aufgabe vorzeitig abgebrochen wird, ist das eine Flucht aus der beschämenden Situation. Die Flucht wirkt als negative Verstärkung. Die Betroffenen befinden sich in einem Teufelskreis, in dem sie gar nicht auf die Idee kommen, dass es eine Möglichkeit gäbe, daraus auszubrechen. Misserfolgsängstliche werden in ihrer Umgebung tendenziell als faul und uninteressiert wahrgenommen. Gleichzeitig ist es ihnen wichtig, nicht negativ bewertet zu werden. Sie haben Angst, dass ihre mangelnden Fähigkeiten offenbar werden. Sie werden kritisiert, obwohl sie aus Angst vor Kritik Misserfolge versuchen zu vermeiden. Menschen mit Hoffnung auf Erfolg kümmern sich tendenziell weniger um Kritik als um ihre individuellen Fortschritte. Damit erreichen die Menschen mit Hoffnung auf Erfolg Anerkennung, obwohl sie hauptsächlich selbstgewählte Ziele verfolgt haben.

Zusammenfassung

Menschen mit Hoffnung auf Erfolg attribuieren Erfolg internal auf die eigenen Fähigkeiten oder Anstrengung. Misserfolge attribuieren sie auf Pech oder mangelnde Anstrengung. Die positiven Emotionen nach einem Erfolg wirken als Verstärker für leistungsmotiviertes Verhalten. Menschen mit Angst vor Misserfolg attribuieren Erfolg auf Glück oder leichte Aufgaben. Misserfolge attribuieren sie auf mangelnde Fähigkeiten. Wenn sie negative Emotionen beenden, indem sie Aufgaben aufschieben oder Vorhaben vorzeitig abbrechen, wirkt das als negativer Verstärker. Menschen mit Hoffnung auf Erfolg verfolgen Annäherungsziele, Menschen mit Misserfolgsangst haben Vermeidungsziele. Annäherungsziele führen zu positiven Emotionen, wenn wahrgenommen wird, dass das Ziel näher kommt. Vermeidungsziele führen zu ängstlicher Besorgtheit.

1.1.4 Das quadripolare Modell nach Covington und Roberts Atkinson subtrahierte das Misserfolgsmotiv vom Erfolgsmotiv und bildete es auf einer Achse mit zwei Polen ab. Covington und Roberts (1994) erweiterten das bipolare Modell auf ein quadripolares Modell. Sie schlugen vor, Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg als unabhängig voneinander zu betrachten. Diese beiden Motive trugen sie auf zwei Achsen auf. Je nach Ausprägung des starken oder geringen Erfolgsstrebens auf der einen Achse und der starken oder geringen Misserfolgsvermeidung (Misserfolgsangst) auf der anderen Achse ergeben sich vier Gruppen. Diese Gruppen sind:

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• Erfolgsorientierte (starkes Streben nach Erfolg, geringe Misserfolgsvermeidung) • Übermotivierte (starkes Streben nach Erfolg, starke Misserfolgsvermeidung) • Misserfolgsvermeidende (geringes Streben nach Erfolg, starke Misserfolgsvermeidung) • Misserfolgsakzeptierende (geringes Streben nach Erfolg, geringe Misserfolgsvermeidung). Selbstwerttheorie der Leistungsmotivation Dieses quadripolare Modell verknüpften Covington und Roberts mit der Selbstwerttheorie der Leistungsmotivation (Covington 1992), das Parallelen zum Selbstbewertungsmodell nach Heckhausen (1975) hat. In der Selbstwerttheorie der Leistungsmotivation wird angenommen, dass Menschen nach einem positiven Selbstbild streben. Außerdem verbinden Individuen den Selbstwert eng damit, was sie leisten. Wenn der Selbstwert gleichgesetzt wird mit der Fähigkeit, Leistung zu erbringen, muss der Selbstwert gegen Misserfolg geschützt werden. Dann können Strategien zum Schutz des Selbstwertes genau die Misserfolge verursachen, die ursprünglich vermieden werden sollten. Solche Selbstschutzstrategien sind beispielsweise Prokrastination oder ein viel zu hohes Arbeitspensum, bei dem gar nicht erwartet werden kann, dass es bewältigt wird. Die hier beschriebenen Erlebens- und Verhaltensmuster lassen sich aus den Hoffnungs- und Furchtkomponenten des Leistungsmotivs herleiten. Covington und Roberts haben zur Veranschaulichung die Muster, wie sie an den Polen ihres Modells vorkommen, beschrieben. In ihrem Modell haben jedoch alle Kombinationen der verschiedenen Motivausprägungen ihren Platz. Zu psychischem Leid führt eine stark ausgeprägte Furchtkomponente eines Motivs. Im klinischen Alltag kommen außerhalb der hier beschriebenen Ausprägungen an den Polen der Achsen zusätzlich andere Kombinationen vor: Nicht nur typisch Misserfolgsvermeidende und Übermotivierte leiden unter ihrer problematischen Motivkonstellation, sondern auch Personen mit durchschnittlich ausgeprägter Hoffnung auf Erfolg (beziehungsweise Streben nach Erfolg) und starker Misserfolgsangst und Personen mit nur etwas überdurchschnittlich ausgeprägter Angst vor Misserfolg, wenn die Angst vor Misserfolg durch Angst vor Kritik und Zurückweisung in Beziehungen allgemein in ihrer Auswirkung verstärkt wird. Zusätzlich ändern sich Hoffnung auf Erfolg und Angst vor Misserfolg je nach Krankheits- und Lebensphase und je nach der Phase, in der sich ein wichtiges Vorhaben befindet. Kompliziert wird es, wenn einbezogen wird, dass Übermotivierte in ihren Mustern zwischen Menschen mit Hoffnung auf Erfolg ohne relevante Misserfolgsangst – wenn sie sich auf einem Gebiet für begabt halten – und Menschen mit Angst vor Misserfolg ohne relevante Hoffnung auf Erfolg – wenn sie demoralisiert sind – schwanken. Studie zum quadripolaren Modell der Leistungsmotivation Covington und Roberts (1994) beschrieben ein Experiment, in dem sie das quadripolare Modell der Leistungsmotivation bestätigt sahen. Sie befragten Studierende zur Menge der Zeit, die sie mit Lernen verbrachten, den Ergebnissen

1.1  Theorien zur Leistungsmotivation

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der Prüfungen und zu den Kognitionen und Emotionen, die sie beim Lernen und während der Prüfungsphase beschäftigten. Misserfolgsvermeidende Die Gruppe der Misserfolgsvermeidenden hatte demnach große Zweifel hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und erlebte starke Angst in Leistungssituationen. In der Studie gaben diese Studierenden zwar an, sehr viel Zeit mit Lernen zu verbringen, grübelten währenddessen aber viel, beschäftigten sich mit Sorgen und lernten dadurch nicht effizient. In der Prüfung selbst hatten sie Schwierigkeiten, das Gelernte abzurufen, weil ihre Konzentration nicht auf die Aufgabe selbst gerichtet war, sondern auf Gedanken über ihre Unfähigkeit. Übermotivierte Die Gruppe der Übermotivierten berichtete über ähnlich viele Angstsymptome wie die Gruppe der Misserfolgsvermeidenden. Sie wurde bei den umfangreichen Vorbereitungen für Tests ebenfalls von Ängsten, Sorgen um die Zukunft und Grübeln von einer effizienten Vorbereitung abgehalten. Diese Gruppe neigte dazu, in einer unflexiblen Weise oberflächlich zu lernen, statt sich die basalen Prinzipien einzuprägen. Annäherungs-Vermeidungskonflikt Übermotivierter Übermotivierte erleben der Theorie Covingtons und Roberts nach einen typischen Annäherungs-Vermeidungskonflikt: Sie streben nach Erfolg und wollen gleichzeitig Misserfolge vermeiden. Wer überhaupt Aufgaben angeht, hat immer ein gewisses Risiko, dabei zu scheitern. Wenn Übermotivierte Erfolge erzielen, können sie sich nie wirklich stolz fühlen, sondern sie fühlen sich, als seien sie bei jedem Erfolg „gerade noch mal gut weggekommen“, denn sie gehen davon aus, dass sie zwar einige Fähigkeiten haben, mit denen sie ihre Leistungsziele erreichen können, sie empfinden die Fähigkeiten aber als lückenhaft. Wenn das Vermeidungsziel stark handlungsbestimmend ist, wirken die Problemlösestrategien chaotisch. Dadurch machen Übermotivierte die Erfahrung, dass sie unverhofft an leichten Aufgaben scheitern können – besonders bei sehr wichtigen (und deshalb beängstigenden) Aufgaben. Sie schätzen ihre Fähigkeiten als so wenig belastbar ein, dass ihre Fähigkeiten sie nicht vor katastrophalen Blamagen schützen. Sie sind sich ihrer Fähigkeiten nie sicher, sondern sie fühlen sich wie „intellektuelle Hochstapler“ (Covington und Roberts 1994). Wenn ein übermotivierter Schüler für einen Test lernt, ist das Annäherungsziel, den Test zu bestehen und das Vermeidungsziel, im Test nicht durchzufallen. Annäherungs- und Vermeidungsziel beeinflussen die Handlungsplanung in unterschiedlicher Weise: Effektiv zu lernen wird bei dem übermotivierten Schüler durch das Vermeidungsziel behindert. Er vermeidet gleichzeitig aktiv und passiv. Er vermeidet den Misserfolg passiv, indem er zwischenzeitlich aufschiebt zu lernen. Zusätzlich vermeidet er den Misserfolg aktiv – durch Lernen, das nicht zum Ziel hat, den Stoff zu beherrschen, sondern das zum Ziel hat, dass er nicht in der Prüfung durchfällt.

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Der Schüler lernt, wenn das Annäherungsziel handlungsbestimmend ist und er lernt, wenn das Vermeidungsziel bestimmend ist. Es könnte angenommen werden, dass die beiden Arten zu lernen gleich sind, aber das Lernen hat je nach dem Ziel eine unterschiedliche Qualität: Im Vergleich zum zielgerichteten Lernen (gerichtet auf das Annäherungsziel) ist das misserfolgsvermeidende Lernen nicht zielgerichtet. Es führt vom Ziel weg und ist bestimmt vom Gedanken, jedes Risiko zu minimieren. Die Sorge, bestimmte Details zu vergessen, führt der erwähnten Studie nach dazu, dass Übermotivierte viel Zeit damit verbringen, Einzelheiten immer wieder zu wiederholen. Der übermotivierte Schüler verbringt vergleichsweise wenig Zeit damit, die größeren Zusammenhänge zu lernen. In der Prüfung kann er das Gelernte nur schlecht wiedergeben, weil er Angst hat und weil er sich beim Lernen zu sehr auf unzusammenhängende Details konzentriert hat. Perfektionistische Tendenzen Das Streben nach Erfolg bei einer gleichzeitigen starken Angst vor Misserfolg führt nach Covigton und Roberts zu perfektionistischen Tendenzen. Der Grund für die perfektionistischen Bestrebungen liegt darin, dass der Misserfolg das Vermeidungsziel ist. Wer alles perfekt beherrscht, ist weniger in Gefahr zu scheitern. Übermotivierte wollen die Gefahr zu scheitern möglichst gründlich bannen. Bei einem Vermeidungsziel gibt es häufig keinen Punkt, an dem sicher ist, dass die Gefahr weit genug weg ist. Die Distanz zum Ziel kann immer mehr ausgeweitet werden (Carver und Scheier 1998), ohne dass Übermotivierte sich irgendwann sicher fühlen. Erfolgsorientierte und Misserfolgsakzeptierende In der Studie von Covington und Roberts gaben die beiden Gruppen mit hoher Misserfolgsangst, Misserfolgsvermeidende und Übermotivierte, an viel zu lernen. Erfolgsorientierte lernten weniger, aber so effektiv, dass sie in Prüfungen am erfolgreichsten waren. Sie lernten strukturiert und konzentrierten sich hauptsächlich darauf, die Grundprinzipien des Lernstoffes zu verstehen. Misserfolgsakzeptierende wurden als ehemals misserfolgsvermeidend beschrieben – und jetzt als relativ zufrieden und anderen Zielen zugewandt als Leistungszielen. Zwei Komponenten der Misserfolgsangst Elliot und Church (1997) bestätigten durch Regressionsanalysen, dass Misserfolgsangst unabhängig von Hoffnung auf Erfolg auftritt. Sie zeigten außerdem, dass das Misserfolgsmotiv in zwei Komponenten zerfällt: eine Komponente mit der Tendenz, befürchteten Misserfolg aktiv bewältigend zu vermeiden und eine passive Komponente (Misserfolge werden passiv vermieden). Bei der aktiven Komponente gehen die Betroffenen davon aus, dass sie mit Anstrengung das Scheitern verhindern können. Ein Erfolg zeigt ihnen, dass sie den Misserfolg abwenden konnten.

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Zusammenfassung

Covington und Roberts unterscheiden zwei Gruppen von Misserfolgsängstlichen: Misserfolgsvermeidende (ohne gleichzeitige Hoffnung auf Erfolg) und Übermotivierte (mit gleichzeitiger Hoffnung auf Erfolg).

1.1.5 Fallbeispiel (Übermotivation) Frau J., 22 Jahre, Diagnose zu Behandlungsbeginn: • (ICD 10) F 32.1, Mittelgradige depressive Episode • Leistungsdiagnostik: Hochbegabung, Konzentration und Merkfähigkeit überdurchschnittlich. • Multi-Motiv-Gitter: starkes Streben nach Erfolg (Prozentrang 96), starke Angst vor Misserfolg (Prozentrang 89), grenzwertig starke Angst vor Zurückweisung, übrige Werte innerhalb der Standardabweichung. Frau J., eine Jurastudentin, kommt im Anschluss an einen dreiwöchigen stationären Aufenthalt zu einem Psychotherapietermin in die psychiatrische Institutsambulanz. Sie habe sich auf der Station missverstanden gefühlt und finde sich in der Verdachtsdiagnose, die dort gestellt worden sei, „anankastische Persönlichkeitsstörung“, gar nicht wieder. Sie habe während der stationären Behandlung viel nachgedacht. Ihr sei klar geworden, dass sie wegen ihrer Überforderung depressiv sei. Ihr Fehler sei, dass sie trotz einer eher unterdurchschnittlichen Intelligenz Jura studiert habe. Sie brauche Hilfe, um eine wenig anspruchsvolle berufliche Nische für sich zu finden, sie brauche Hilfe, um sich im Referendariat nicht zu blamieren und sie brauche Hilfe, um ihren Eltern zu erklären, dass sie einfach nur fleißig, aber nicht besonders klug sei. Sie berichtete, dass sie vor drei Monaten das erste Staatsexamen bestanden habe. Sie habe sich ein Jahr lang exzessiv darauf vorbereitet, weil die Durchfallquote sehr hoch sei. Außerdem fühle sie sich nur vor einem „Blackout“ sicher, wenn sie den Prüfungsstoff sehr gut beherrsche. Sie habe großes Glück gehabt und das Staatsexamen mit einer überdurchschnittlichen Note bestanden. Sie habe sich genau auf die Gebiete vorbereitet, die dann Prüfungsthema gewesen seien. Sie habe, nachdem endlich die Ergebnisse der Prüfung bekannt gegeben wurden, den absurden Gedanken gehabt, sie habe die Prüfer betrogen, weil sich die Note nicht stimmig zu ihrer schwachen Intelligenz angefühlt habe. Sie habe sich wegen der unpassend guten Note geschämt. Im Referendariat werde bestimmt bald auffliegen, dass sie nichts wisse, was sie praktisch anwenden könne. Sie träume im Moment oft, dass ihr die Prüfung wieder aberkannt werde. Andererseits wisse sie, dass sie nur mit extrem viel Pech hätte durchfallen können, weil sie trotz des großen Lernstoffs nur sehr kleine Wissenslücken gehabt habe. Sie habe schon während der Schulzeit Angst gehabt, dass Klassenarbeiten mit „ungenügend“ bewertet werden könnten.

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1 Misserfolgsangst

Während der Grundschule sei ihr das Lernen sehr leicht gefallen. Später habe sie weniger schnell gelernt, deshalb habe sich Angst vor schlechten Noten eingestellt. Sie habe viel Zeit mit Lernen verbracht, weil sie keine Lücken zugelassen habe. Sie habe beispielsweise Vokabeln sehr gründlich gelernt, weil sie die Vorstellung gehabt habe, dass im Test zufällig genau all die Vokabeln, die sie nicht gut beherrschte, abgefragt werden könnten. Oft habe sie in den Tests den Lernstoff zum Teil nicht mehr abrufen können. Sie habe sich mehr für gute Noten bemühen müssen als andere. Sie habe vor sich und vor ihren Eltern den Eindruck aufrechterhalten wollen, ihre Intelligenz habe sich weiterhin gut entwickelt. Als einmal in der siebten oder achten Klasse eine Mathematikarbeit mit „3+“ bewertet worden sei, habe ihr Lehrer die Klassenarbeit bei der Rückgabe mit spitzen Fingern angefasst, die unsaubere Schrift darin moniert und schließlich vor der ganzen Klasse gesagt, dass er sich vor dieser Klassenarbeit geekelt habe. Frau J. habe sich damals geschämt und vor der Klasse geweint. Sie habe sich zusätzlich geschämt, weil sie wegen einer durchschnittlichen Note geweint habe. Ungefähr zur gleichen Zeit habe ihre ältere Schwester die Zensuren „ausreichend“ in zwei Hauptfächern im Zeugnis gehabt. In den Jahren vorher habe ihre Schwester ebenfalls zu den Leistungsstärkeren gehört. Die Eltern, die ohnehin das sinkende Niveau des Abiturs beklagt hätten, hätten ihre Schwester daraufhin vom Gymnasium genommen. Ihre Schwester habe sich nach ihrem sehr guten Realschulabschluss für eine Ausbildung als Krankenschwester beworben. Sie habe geplant, später irgendwann das Abitur nachzuholen und Medizin zu studieren. Sie sei jedoch am Krankenhaus der Heimatstadt ohne Abitur nicht angenommen worden. Sie sei depressiv geworden und habe lange gebraucht, um wieder Fuß zu fassen. Der Vater, ein Universitätsprofessor, habe oft gesagt: „Da kann die noch so klug sein – wenn die so faul ist, wird aus der nichts. Dann soll die halt als Putze arbeiten.“ Er habe ständig über seine „faulen und dummen“ Studierenden geklagt und triumphierend, wenn ein Student eine schlechte Note in der Abschlussprüfung erhalten habe, verkündet, dass dieser Student „keine Chance“ habe: „Das Studium ist für den gegessen, der kann ruhig Taxifahrer werden.“ Die Mutter, eine Chefsekretärin an der Universitätsklinik, habe dazu genickt. Frau J. habe immer wieder das Bild vor Augen gehabt, wie ihre Eltern reagieren würden, wenn sie ihr Examen nicht bestehe. Sie habe sich vorgestellt, wie ihre Eltern ihren Bekannten sagen würden, dass auch aus der jüngeren Tochter leider „nichts wird“, obwohl sie doch alles bekommen habe und so gut gefördert worden sei. Frau J. sei durch das viele Lernen erschöpft gewesen, obwohl sie den Lernstoff interessant gefunden habe. Sie habe ständig Details vergessen und lange gebraucht, bis sie den Lernstoff wirklich begriffen habe. Häufig habe sie in den letzten Monaten, nach dem Examen, geweint, weil sie davon ausgegangen sei, dass sie durchgefallen sei. Sie habe den Prüfungsstoff wiederholt, um die erwartete Wiederholung der Prüfung bestehen zu können. Ihr Freund, ebenfalls Student, sei abends oft ohne sie ausgegangen und habe damit gedroht, sie zu verlassen, wenn sie nicht wieder „normal“ werde und wenn sie weiter lerne, ohne dass eine Prüfung anstehe.

1.1  Theorien zur Leistungsmotivation

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Als sie erfahren habe, dass sie bestanden habe, habe sie sich kaum gefreut. Sie sei kurz erleichtert gewesen und habe sich dann Sorgen wegen der Bewerbung gemacht. Vor vier Wochen habe sie ihren Geburtstag feiern wollen und gleichzeitig das bestandene Examen. Sie habe sich gesorgt, dass die Stimmung auf der Party kippen könnte, weil zwei ihrer Freundinnen das Examen nicht bestanden hätten. Wegen verschiedener Essensvorlieben der Eingeladenen (Veganerinnen, ein Freund mit Zöliakie, mehrere Männer, die gerne Fleisch essen) habe sie verschiedene Rezepte ausprobiert und sich wochenlang vorbereitet, bis sie leckeres Essen für alle habe garantieren können. Sie habe zu viel Essen zubereitet, weil sie Angst hatte, es könnte nicht reichen. Sie habe einen ausziehbaren Tisch ausgeliehen und eine Musikanlage. Sie habe sich lange mit Musik, die allen gefallen würde, beschäftigt und noch verschiedenste andere Dinge beachtet, durch die die Party sonst zum „Reinfall“ hätte werden können. Kurz vor dem Geburtstag habe sie zwei Freundinnen beim Umzug geholfen, weil beide nach dem ersten Staatsexamen die Stadt gewechselt hätten. Sie habe Vorwürfe der Freundinnen befürchtet, wenn sie nicht helfe. Deshalb habe sie bei den Umzügen ihre Hilfe zugesagt. Als sie dann Geburtstag hatte, sei sie so überlastet und unausgeschlafen gewesen, dass sie die Party nicht habe genießen können. Am Morgen nach der Geburtstagsfeier sei sie nicht mehr aufgestanden. Sie habe nur noch geweint. Ihr Freund habe sie in die psychiatrische Institutsambulanz gebracht. Nach dem Gespräch dort sei sie sofort stationär aufgenommen worden. Als die Ergebnisse der Leistungsdiagnostik besprochen werden, glaubt sie, dass ihr sehr hoher IQ ein Messfehler ist.

1.1.6 Handlungs- und Lageorientierung Angst vor Misserfolgen beeinträchtigt zielorientierte Handlungen und lenkt die Konzentration auf das Vermeidungsziel. Diesen Punkt betrachtete Kuhl in seiner Theorie der Handlungskontrolle (1983) mit einem anderen Ansatz als Carver und Scheier. Er zeigte, wie nach wiederholten Misserfolgen und einem zunehmenden Eindruck, dass die Situation unkontrollierbar ist, die Gedanken weiterhin um Misserfolge kreisen und wie diese Gedanken die prospektive Handlungsplanung stören. Dies bezeichnete er als Lageorientierung: das Verharren in Gedanken über die eigene, unkontrollierbare Lage und die emotionalen Folgen davon: „Heute ist wirklich ein Pechtag. Heute funktioniert gar nichts. Diesen Elfmeter werde ich versieben. Das wird peinlich.“ Handlungsorientierung bedeutet im Gegensatz dazu, dass Informationen, die es ermöglichen, eine Absicht zu realisieren, bevorzugt werden. Informationen, die irrelevant sind, um das Ziel zu erreichen, werden eher nicht beachtet: „Ich weiß, ich habe heute ein paar Fehler gemacht, aber wenn ich mich auf die Fehler konzentriere, gewinnen wir das Spiel auch nicht. Ich konzentriere mich jetzt darauf, was ich trainiert habe und schieße den Elfmeter ins Tor.“

1 Misserfolgsangst

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Handlungs- und Lageorientierung können beide je nach Situation vorteilhaft sein. Die einseitige Lageorientierung nach wiederholten Misserfolgen jedoch führt dazu, dass die Personen mehr oder weniger handlungsunfähig werden und Leistungsdefizite zeigen. Kuhl nahm als Grund für die Leistungsdefizite keine Motivationsdefizite an, wie nach der Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman 1972), sondern Leistungsdefizite in der Folge der einseitigen Lageorientierung, einer Störung der Handlungskontrolle. Stiensmeier-Pelster (1988) führte diese Überlegungen weiter und zeigte, angelehnt an die Attributionstheorie Heckhausens (1972), wie sich Motivation und Handlungs- und Lageorientierung verändern, je nachdem in welchem Zusammenhang und wie oft ein Misserfolg auftritt. In seinem Stadienschema geht er davon aus, dass ein Misserfolg anfangs mit mangelnder Anstrengung erklärt werden kann und er deshalb zunächst zu einer stärkeren Motivation und Handlungsorientierung führen kann. Je häufiger ein Misserfolg auftritt oder wenn die scheiternde Person davon ausgeht, dass die meisten anderen die gleichen Aufgaben lösen könnten, zieht sie als Erklärung mangelnde Begabung heran. Dann entsteht Lageorientierung, dabei ist die Handlungskontrolle eingeschränkt, und auch die Motivation – und damit die Anstrengung – sinkt.

Zusammenfassung

Nach wiederholten Misserfolgen kann es zur Lageorientierung kommen. Dabei sind zunächst die Handlungskontrolle und später, oder sobald die Person glaubt, keine Fähigkeiten zum Lösen der Aufgabe zu haben, auch die Motivation eingeschränkt.

1.2 Psychotherapie als Leistungssituation Der Ansatz der Therapie, die in diesem Buch vorgestellt wird, beruht auf der Annahme, dass Therapieziele in der Psychotherapie den Charakter von Leistungszielen haben können: Fähigkeiten und neue Handlungsweisen werden eingeübt und im Alltag erprobt, der Therapiefortschritt wird besprochen und in der kognitiven Verhaltenstherapie werden therapeutische Hausaufgaben vereinbart. Es ist möglich, dass therapeutische Aufgaben misslingen – unter den Augen einer Person, der man viel Persönliches anvertraut hat. Misserfolgsvermeidende befürchten schon bei kleineren Aufgaben, dass sie scheitern – dass sie ein Stimmungsprotokoll falsch ausfüllen oder eine Achtsamkeitsübung nicht korrekt ausführen. Bei größeren Aufgaben ist die Angst zu scheitern noch höher: Um mehr Autonomie zu erreichen, könnte es ein Ziel sein, eine eigene Wohnung zu finden und vorher die Finanzierung beim Amt zu beantragen oder aber, eine Ausbildung zu beenden und danach eine Arbeitsstelle zu suchen.

1.2  Psychotherapie als Leistungssituation

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Übermotivierte könnten sich sorgen, dass sie etwas Wichtiges in der Psychotherapie unbemerkt falsch verstanden haben und deshalb trotz ihrer Mühe scheitern werden. Misserfolgsangst wird nach dieser Annahme durch die Leistungssituation in der Psychotherapie hervorgerufen und beeinflusst den Therapieverlauf. Geleitet von diesen Annahmen werden im Folgenden eigene klinische Beobachtungen mit den beschriebenen Leistungsmotivationstheorien verknüpft – unterteilt nach Misserfolgsvermeidenden und Übermotivierten (nach Covington und Roberts 1994). Misserfolgsvermeidende In der Psychotherapie ist es wahrscheinlich, dass sich bei Misserfolgsvermeidenden eine problematische Motivationslage zeigt (siehe einleitendes Fallbeispiel – Frau D.). Aus der fehlenden Erwartung, die psychische Störung beeinflussen zu können, resultiert nach dem Erwartungs-mal-Wert-Modell eine bestenfalls ambivalente Motivation. Misserfolgsvermeidende beklagen oft selbst ihre mangelnde Motivation und übernehmen im Grunde die Interpretation des Umfeldes, dass sie faul seien. Bei generalisierter Misserfolgsangst bestimmt die problematische Motivation alle Leistungssituationen (wozu auch regelmäßiges Aufräumen und Einkaufen gehören können) und wirkt sich als verminderter Antrieb aus. Dabei fällt eine Diskrepanz zwischen einem unauffälligen Antrieb in vielen nicht leistungsbezogenen Alltagssituationen und einem reduzierten Antrieb in Leistungssituationen auf. Misserfolgsängstliche vermeiden therapeutische Hausaufgaben tendenziell, so wie alle Leistungssituationen. Bei sehr ausgeprägter Misserfolgsangst scheint es so zu sein, dass sie sich wegen der kognitiven Vermeidung selbst dann nicht mehr an die Hausaufgaben erinnern können, wenn sie danach gefragt werden. Wenn die fehlenden Hausaufgaben von therapeutischer Seite als mangelnde Anstrengungsbereitschaft interpretiert werden, erhöht sich die Angst vor Kritik für die Patientinnen und Patienten so sehr, dass sie dazu neigen, die Therapie abzubrechen. Der Abbruch wirkt als negative Verstärkung entsprechend dem Selbstbewertungsmodell nach Heckhausen (1975). Wegen der ausgeprägten Vermeidungsschemata ist es zu Beginn der Therapie schwierig, positive Ziele zu erarbeiten. Nachdem endlich Ziele erarbeitet worden sind, kommt es während der Therapie immer wieder dazu, dass sich die Betroffenen von den Zielen distanzieren, sobald ein – beängstigender – Schritt in die Richtung des Ziels ansteht. Das kann als eine der vielen Strategien, Misserfolg zu vermeiden und gleichzeitig den Selbstwert zu schützen, interpretiert werden. Eine andere Strategie, Misserfolge kurzfristig zu umgehen, ist eine ausgeprägte Prokrastination. Die Misserfolgsangst ist besonders stark, wenn es darum geht, wichtige Schritte zum Therapieziel zu erreichen. In solchen Situationen wird das Anspruchsniveau durch das angestrebte Ziel vorgegeben. Therapieziele sind herausfordernd – wenn sie für eine Person leicht wären, hätte sie diese Ziele wahrscheinlich schon ohne Therapie erreicht, statt daran zu scheitern und krank

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1 Misserfolgsangst

zu werden. Zu schwere Therapieziele werden von den Therapeutinnen und Therapeuten schon früh hinterfragt. Das Ziel kann also nicht so schwer oder so leicht sein, dass die Misserfolgsangst niedrig bleibt. Weil die Misserfolgsangst bei allen wichtigen, therapeutisch sinnvollen Schritten stark ausgeprägt ist, neigen die Patientinnen und Patienten dazu, gemeinsam ausgearbeitete therapeutische Vorhaben zu verzögern und, wenn sie endlich umgesetzt werden sollen, mit dem Verweis auf den niedrigen Antrieb und die schlechte Belastbarkeit abzulehnen. Wenn Therapieschritte daraufhin im Anspruch immer weiter gesenkt würden, wäre, wenn überhaupt, nur ein extrem langsamer Therapiefortschritt möglich. Es kommt vor, entsprechend dem Risikowahlmodell Atkinsons (1957), dass Einzelne das Anspruchsniveau so weit senken, dass die Therapieziele unterhalb ihres bereits bewältigten Niveaus liegen. Ein Patient mit einer sozialen Phobie hat als erste herausfordernde Aufgabe der Angsthierarchie vor, seinen Kollegen zur Begrüßung kurz ins Gesicht zu schauen, obwohl er ihn schon längst mit angemessen lauter Stimme und mit Blickkontakt mit „Hallo“ begrüßt. Die Problemlösefähigkeiten sind bei den Patientinnen und Patienten mit Misserfolgsangst, die schon während ihrer Schulzeit Angst vor dem Scheitern hatten, in der Regel ungeübt. Sie sind Leistungssituationen schon früh in der Entwicklung ausgewichen. Sie äußern in der Therapie kaum eigene Ideen zum Problemlösen. Ihre Herangehensweise an Probleme wirkt hilflos. Die Konzentration auf das Vermeidungsziel Scheitern erschwert ihnen zusätzlich, Probleme zu lösen. In Prüfungsphasen oder im Vorfeld wichtiger Veränderungen ist die Angst vor Misserfolgen nicht zu vermeiden (nicht frei wählbares Anspruchsniveau). Deshalb entstehen gesundheitliche Krisen häufig im Vorfeld wichtiger Prüfungen oder bedeutsamer Entwicklungsschritte. Die psychische Krise wird zum einen durch den erhöhten Stress ausgelöst, zum anderen tritt auch hier wieder negative Verstärkung ein. Eine Krankschreibung beendet das Vorhaben und hilft, den befürchteten Misserfolg zu umgehen. Übermotivierte Übermotivierte wirken zunächst veränderungsbereit und hoch motiviert – sie sind übermotiviert. Sie richten ihr Verhalten darauf aus, gleichzeitig eine Aufgabe zu erfüllen (starkes Streben nach Erfolg) und mit viel Aufwand jedes Risiko, mangelnde Fähigkeiten zu offenbaren, zu verhindern (starke Vermeidung von Misserfolg). Übermotivierte verfolgen also zwei Ziele gleichzeitig, ein Annäherungsziel und ein Vermeidungsziel. Die Vermeidung spaltet sich in zwei Komponenten auf – eine passive Komponente und eine aktive Komponente. Die passive Komponente entspricht der beschriebenen Misserfolgsvermeidung. Übermotivierte können zeitweise Misserfolgsvermeidenden gleichen. Bei der aktiven Komponente der Misserfolgsvermeidung vermeiden die Übermotivierten das Vermeidungsziel aktiv-bewältigend. Sie versuchen, ihre vermeintliche Unfähigkeit durch Fleiß zu kompensieren und sie versuchen, alle Probleme

1.2  Psychotherapie als Leistungssituation

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im Vorfeld zu verhindern. Bei ihren Vorhaben wirken sie oft perfektionistisch. Es fällt ihnen schwer, einen „Sicherheitsabstand“ vom Vermeidungsziel als ausreichend groß anzusehen. Sie haben das Bedürfnis, den Abstand vom Vermeidungsziel ständig weiter zu vergrößern. Der Abstand kann prinzipiell unendlich groß gewählt werden (Carver und Scheier 1998). Ihnen würde ein geringerer Aufwand, eine weniger perfekte Vorbereitung, nur dann ausreichen, wenn sie völlig sicher wären, dass sie nicht scheitern können. Der Aufwand, den sie treiben, um keine Vorboten von Problemen aufkommen zu lassen, ist so hoch, dass sie in Gefahr sind, von der gesamten Aufgabe überwältigt zu werden und das Vorhaben nicht zu Ende zu führen. Häufig verbringen sie viel Zeit mit Nebensächlichem und können kaum Ergebnisse vorzeigen, obwohl sie sich viel Mühe gegeben haben. Das Risiko, an den befürchteten Risiken zu scheitern, wirkt auf Außenstehende unwahrscheinlich. Frau J. bereitete sich akribisch auf ihre Prüfungen und auf ihre Geburtstagsfeier vor, weil sie glaubte, nur so ihr Scheitern verhindern zu können. Sicherheitsverhalten Übermotivierter Übermotivierte verheimlichen beschämt, warum sie den hohen Aufwand treiben. Sie arbeiten so aufwendig, weil sie ihre mangelnden Fähigkeiten verbergen wollen. Wenn sie ihre Befürchtungen offenbaren würden, könnte jemand, ihrer Vorstellung nach, auf ihre mangelnden Fähigkeiten schließen. Aus diesem Grund ist ihr Sicherheitsverhalten nur schwer zu erkennen. Es wirkt, als seien sie perfektionistisch oder als setzten sie nicht nachvollziehbare Prioritäten, die dann ein gutes Ergebnis, das mit angemessenem Aufwand erreicht wurde, verhindern. Versuche, das zeitraubende Sicherheitsverhalten zu vermindern, scheitern, solange das Verhalten nicht als Sicherheitsverhalten behandelt wird. Das Sicherheitsverhalten führt dazu, dass Übermotivierte sich immer wieder so sehr überlasten, dass sie in gesundheitliche Krisen geraten. Frau J. glaubte trotz ihrer Hochbegabung, unfähig zu sein. Sie wollte kein Risiko eingehen, ihre Unzulänglichkeit zu offenbaren und überlastete sich.

Zusammenfassung

Die hier vorgestellte Therapie der Misserfolgsangst geht von der Annahme aus, dass Misserfolgsängstliche therapeutische Aufgaben als Leistungssituationen wahrnehmen und dass der Verlauf der Psychotherapie durch die Misserfolgsangst beeinflusst wird. Starre Erlebens- Denk- und Verhaltensmuster ziehen Schwierigkeiten in der Psychotherapie nach sich. Misserfolgsvermeidende und Übermotivierte unterscheiden sich in den typischen Therapieproblemen.

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1 Misserfolgsangst

1.3 Wie lässt sich generalisierte Misserfolgsangst im Verhältnis zu psychischen Krankheiten oder anderen Problemkonstellationen abgrenzen? Wenn Misserfolgsangst sich nicht nur auf einzelne Bereiche bezieht, sondern generalisiert ist, zieht sie wahrscheinlich psychisches Leid nach sich. Auf der Grundlage der Leistungsmotivationstheorien und der verhaltenstherapeutischen Krankheitsmodelle kann eine Wechselbeziehung von Misserfolgsangst und psychischen Problemen angenommen werden. Da die Misserfolgsangst bisher vorwiegend im Arbeitskontext und im pädagogischen Bereich erforscht wurde, wird hier auf Studien aus diesen Bereichen, die klinische Fragen mit abdecken, zurückgegriffen. Die Folgen einer generalisierten Misserfolgsangst können sich mit den Symptomen der jeweiligen Grunderkrankung überlappen. Zusätzlich können die Ängste und Sorgen bei einer generalisierten Misserfolgsangst nach dem Vulnerabilitäts- Stressmodell psychische Krankheiten wahrscheinlicher machen. Umgekehrt können schwere psychische Krankheiten, die dazu führen, dass man den Alltag plötzlich nicht mehr bewältigen kann, eine Misserfolgsangst verstärken. Die Folgen, die sich aus der Misserfolgsangst sowohl bei Misserfolgsvermeidenden als auch bei Übermotivierten ableiten lassen, sind: Angst vor alltäglichen Anforderungen bis hin zu katastrophisierenden Ängsten zu scheitern, Angst vor Kritik, Vermeidungsverhalten, Schwierigkeiten der Handlungsplanung und niedriger Selbstwert wegen der Vorstellung unfähig zu sein, irgendwelche wichtigen Ziele zu erreichen. Covington und Roberts fanden sowohl bei Misserfolgsvermeidenden als auch bei Übermotivierten hohe Angstwerte, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten und die Sorge, als inkompetent entblößt zu werden. Aus diesen Folgen der Misserfolgsangst lassen sich, je nachdem, auf welchen Folgen der Schwerpunkt liegt, Überschneidungen mit psychischen Krankheiten oder deren Kernsymptomen ableiten. Depressive Störung Wenn die Misserfolgsangst vor allem Insuffizienzerleben, Hoffnungslosigkeit und niedrigen Selbstwert nach sich zieht, sind depressive Symptome wahrscheinlich. In einer prospektiven Studie mit Studierenden (Schöne et al. 2015) zeigte sich, dass die Studierenden, die ihren Selbstwert von ihren akademischen Leistungen abhängig machten, dann in Gefahr waren, Depressionen zu erleiden, wenn sie zusätzlich im Verlauf der Studie Schwierigkeiten im Studium bekamen. Wenn eine Person davon ausgeht, dass sie ohne besondere Verdienste wertvoll ist und trotz ihrer Fehler und Schwächen liebenswert, hat sie einen Selbstwert, der unabhängig von Standards ist. Wenn eine Person im Gegensatz dazu davon ausgeht, dass sie nur wertvoll ist, wenn sie bestimmte positive Eigenschaften hat und keine relevanten Fehler und Schwächen, ist ihr Selbstwert abhängig von Standards. Diese Standards können erstrebenswerte Eigenschaften oder Leistungen sein, zum Beispiel Attraktivität, moralisches Handeln oder

1.3  Wie lässt sich generalisierte Misserfolgsangst im Verhältnis …

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akademische Leistungen. Der Selbstwert, der abhängig von bestimmten Standards ist, wird als kontingenter Selbstwert (Deci und Ryan 1995) bezeichnet. Die Bewertung, dass eine Person nach Misserfolgen weniger wert ist, weil sie leistungsbezogene Standards nicht erfüllt, ist eine Voraussetzung für die Misserfolgsangst. Die Misserfolgsangst nährt sich aus der Angst vor einem reduzierten Selbstwert nach dem Scheitern und der Angst vor der Scham. Die beschriebene Studie zum Depressionsrisiko bei Studierenden bezieht sich auf die psychischen Folgen eines kontingenten Selbstwerts in Leistungssituationen, ohne dass die Misserfolgsangst selbst untersucht wurde. Die Daten dieser Studie legen nahe, dass der kontingente Selbstwert, der Voraussetzung für Misserfolgsangst ist, dann ein Risiko für depressive Symptome ist, wenn die relevanten Standards nicht erreicht werden. Depressive Symptome, die auf eine Misserfolgsangst hindeuten, kreisen um das eigene Unvermögen. Die Patientinnen und Patienten leiden unter Versagensängsten, bewerten die eigenen Fähigkeiten als „kaum vorhanden“, leiden unter Angst vor sämtlichen alltäglichen Anforderungen und erklären erfolgreich erledigte Aufgaben mit Glück oder damit, dass die Anforderungen „nichts im Vergleich zu früher“ sind. Es liegt nahe, dass in solchen Fällen misserfolgsängstliche Grundüberzeugungen durch Lebensereignisse wie etwa Kündigungen, Kritik an der Arbeitsleistung, Überforderung durch zu viele Aufgaben oder private Misserfolge aktiviert werden. Bei manchen Misserfolgsvermeidenden tritt die Angst in den Hintergrund – Aufgaben werden so früh vermieden, dass keine Ängste mehr zu spüren sind. In diesem Fall beklagen die Patientinnen und Patienten eine ausgeprägte Antriebslosigkeit. Generalisierte Angststörung Wenn eher die Angst vor den Folgen der Misserfolge statt des depressiven Insuffizienzerlebens in den Vordergrund rückt, überlappen sich die Symptome mit den Symptomen einer generalisierten Angststörung. Die Ängste beziehen sich auf Misserfolge und deren Nachspiel: Kritik und Scham. Bei einer generalisierten Angststörung, die nicht mit einer relevanten Misserfolgsangst einhergeht, ist zu erwarten, dass sich die Befürchtungen über alltägliche Ereignisse hauptsächlich auf unglückliche Zufälle, plötzliche Krankheiten und Schicksalsschläge beziehen. Wenn Misserfolgsangst im Vordergrund steht, drehen sich die Befürchtungen um Ereignisse, die selbst verschuldet sind. Die beständige Angst vor sämtlichen Aufgaben, die auf irgendeine Weise misslingen können, ziehen ständige Sorgen und Grübeln nach sich, Konzentrationsschwierigkeiten und erhöhte Anspannung bis hin zu körperlichen Angstsymptomen und Schlafstörungen. Menschen mit einer generalisierten Angststörung und Misserfolgsangst sorgen sich primär um eigene Fehler, die schwerwiegende Folgen nach sich ziehen könnten und sekundär um die körperlichen Angstsymptome der generalisierten Angststörung. Mit Misserfolgsangst zu erklären sind Sorgen, auf der Arbeit Fehler zu verursachen, die das gesamte Ausmaß der eigenen Unfähigkeit offenbaren. Diese befürchteten Fehler ziehen die Angst vor Abmahnungen, Kündigung und finanzieller Not nach

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1 Misserfolgsangst

sich. Eine Angestellte im Steuerbüro, die sich sorgt, dass sie trotz ihrer Rückversicherungen immer wieder Gesetze falsch angewendet hat und sich sorgt, dass ihre Fehler aufgedeckt werden, könnte misserfolgsängstlich sein. Bei der misserfolgsängstlichen Form der generalisierten Angststörung werden die eigenen Fähigkeiten stark unterschätzt und damit die Wahrscheinlichkeit, an leichten Anforderungen mit katastrophalen Folgen zu scheitern, stark überschätzt. Andere für die generalisierte Angststörung typische Ängste wie Ängste vor Autounfällen Angehöriger oder plötzlichen Krankheiten lassen sich nicht mit Misserfolgsangst erklären. Bei der hier angenommenen Form der generalisierten Angststörung, die mit der generalisierten Misserfolgsangst verknüpft ist, vermeiden die misserfolgsängstlichen Menschen Leistungsanforderungen entweder passiv, oder sie versuchen, das Scheitern durch erhöhte Anstrengung zu vermeiden (Übermotivierte nach dem quadripolaren Modell nach Covington und Roberts). Die Konzentration auf das Vermeidungsziel schränkt die Handlungsplanung so ein, dass es trotz aller Bemühungen wirklich immer wieder zu unerwarteten Fehlschlägen kommt. Diese Misserfolge verstärken den Eindruck, keine Kontrolle über wichtige Lebensbereiche zu haben. Soziale Phobie und ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung Personen, die starke Angst vor Misserfolgen haben, glauben, dass sie, wenn sie scheitern, insgesamt inkompetent sind, der Liebe nicht würdig und in Gefahr, verlassen zu werden (Elliot und Thrash 2004). Diese Überzeugungen machen zum einen eine soziale Phobie, zum anderen die Symptome einer ängstlichen (vermeidenden) Persönlichkeitsstörung wahrscheinlich. Bei der sozialen Phobie liegen die Symptome der Misserfolgsangst im Schwerpunkt auf Scham und Angst vor Kritik. Wenn die Menschen mit sozialer Phobie Angst davor haben, als dumm und unfähig kritisiert zu werden, vermeiden sie auch bei relativ mild ausgeprägter Misserfolgsangst Leistungssituationen. Misserfolgsängstliche Attributionsmuster und ein dysfunktionales Anspruchsniveau verstärken die Symptome der sozialen Phobie in solchen Fällen. Schließlich kann die soziale Phobie kaum gemildert werden, wenn nicht gleichzeitig die Misserfolgsangst behandelt wird. Ein diagnostisches Kriterium der ängstlichen (vermeidenden) Persönlichkeitsstörung ist die Vorstellung, minderwertig zu sein, eine Vorstellung, die von der Misserfolgsangst begünstigt wird. Prokrastination Wenn die Misserfolgsvermeidung im Vordergrund steht, kann sie zu einer ausgeprägtem Prokrastination führen. Viele Tätigkeiten werden nicht bloß zu spät, sondern gar nicht ausgeführt. Die Kritik und der Ärger, die wegen der unerledigten Aufgaben entstehen, begünstigen wieder die Misserfolgsangst und die Scham. In zwei Studien (Opitz 2004; Patzelt 2004; in Höcker et al. 2017) wurde gezeigt, dass bei Studierenden die Neigung zur Prokrastination stark mit Angst vor negativen Bewertungen und Angst vor Versagen zusammenhängt.

1.3  Wie lässt sich generalisierte Misserfolgsangst im Verhältnis …

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Perfektionismus Der klinisch relevante Perfektionismus überschneidet sich von den Symptomen her mit der Misserfolgsangst Übermotivierter. Der klinisch relevante Perfektionismus ist durch extrem hohe Maßstäbe, Starre beim Verfolgen der Maßstäbe trotz negativer Folgen und einen kontingenten Selbstwert gekennzeichnet (Spitzer 2016). Der kontingente Selbstwert kann bei gleichzeitiger Hoffnung auf Erfolg zu hohen, starren Maßstäben führen; eine Möglichkeit, den Selbstwert, der von Standards abhängig ist, zu erhöhen, ist, die zu erreichenden Standards selbst zu erhöhen (Schöne et al. 2015). Die hohen Standards sind kaum zu erreichen, führen zu Misserfolgsangst und schließlich zum Scheitern an den überhöhten Ansprüchen. Diese hohen, starren Maßstäbe bei einem kontingenten Selbstwert und Misserfolgsangst kennzeichnen den oben beschriebenen klinischen Perfektionismus und können auch bei einigen Übermotivierten gefunden werden. Übermotivierte leiden nur an Perfektionismus, wenn sie hohe Maßstäbe setzen und diese in unflexibler Weise verfolgen. Häufig zeigen sie Verhalten, das an Perfektionismus erinnert und rigide ist, aber nicht durch hohe Maßstäbe gekennzeichnet ist. Wenn Übermotivierte versuchen, alle Risiken auszuschalten sich deshalb auf Details konzentrieren (Covington und Roberts 1994), ähnelt dieses Verhalten perfektionistischen Bestrebungen. Das Verhalten ist aber nicht mit Perfektionismus gleichzusetzen, weil die ursprünglichen Standards nicht überhöht sind. Spitzer (2016) sieht ebenfalls einen Unterschied von Perfektionismus zu Misserfolgsangst: Die Sorge davor, Fehler zu machen, zeige eine Überschneidung von Perfektionismus und Misserfolgsangst, aber Perfektionismus verlange zusätzlich, dass hohe und starre Maßstäbe gesetzt werden, während es bei Angst vor Misserfolgen im Grunde egal sei, ob die Betroffenen den „Nobelpreis nicht erreichen oder es nicht schaffen, telefonisch eine Pizza zu bestellen.“. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung Schließlich können psychische Probleme, die die Leistung direkt beeinträchtigen, Misserfolgsangst nach sich ziehen, wie etwa bei Kindern und Erwachsenen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Diese Menschen erleiden zahlreiche Misserfolge, auch wenn sie sich anstrengen, und entwickeln in manchen Fällen schließlich eine erlernte Hilflosigkeit (Milich 1994). Kinder mit ADHS leiden im Vergleich zu nicht betroffenen Kindern häufiger unter einem ausgesprochen negativen Selbstkonzept (Schöning et al. 2002). Das negative schulische Fähigkeitskonzept unbehandelter Kinder mit ADHS droht, im Erwachsenenalter bestehen zu bleiben: Auch Erwachsene mit ADHS leiden häufiger unter einem niedrigen Selbstwert, selbst wenn sie psychopharmakologisch behandelt wurden (Mazzone et al. 2013). Bei Kindern mit ADHS, die erfolgreich therapiert werden, gleicht sich das Selbstkonzept dem gesunder Kinder dagegen rasch an (Milich 1994; Schöning 2002). Der geringe Selbstwert bei psychopharmakologisch behandelten Erwachsenen mit ADHS könnte für eine chronische Entwicklung eines mangelnden Fähigkeitskonzeptes seit der Kindheit sprechen.

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1 Misserfolgsangst

Misserfolgsangst nach schweren psychischen Krankheiten Es liegt nahe, dass bei Menschen, die zuvor im Leben ein gutes Funktionsniveau hatten, nach sehr schweren psychischen Krankheiten eine generalisierte Misserfolgsangst aktiviert wird. Das Entsetzen über die völlige Unfähigkeit kann in solchen Fällen eine Misserfolgsangst, die vorher im Leben nur moderat ausgeprägt war, in den Vordergrund rücken. Wenn die schwere psychische Krankheit abklingt und die kognitiven Fähigkeiten irgendwann wieder das frühere Niveau erreicht haben, erscheint jede Tätigkeit, die noch nicht wieder leicht von der Hand geht, als ein Zeichen, dass die Krankheit noch weiterhin besteht. Die – noch – Kranken bewerten alle Tätigkeiten, die sie anstrengen, als Scheitern auf dem Weg, gesund zu werden. Während der allmählichen Besserung vergleichen sie ihr aktuelles Funktionsniveau mit dem vor der Krankheit. Sie werden von der ständigen Sorge gequält, dass sie ihre früheren Fähigkeiten nie mehr erreichen werden. Wenn die Misserfolgsvermeidung im Vordergrund steht, verhindert die Misserfolgsangst, dass diese Personen Aufgaben überhaupt beginnen oder strukturiert bearbeiten. Das interpretieren sie als Antriebsmangel (Aufgaben nicht in Angriff nehmen) und Konzentrationsstörung (Ablenkung durch die Angst vor Misserfolgen). Dadurch verstärken sich Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Bei Misserfolgsangst nach einer schweren psychischen Erkrankung mit einer gleichzeitigen Komponente des Strebens nach Erfolg ist es wahrscheinlich, dass die Patientinnen und Patienten verschiedene Aufgaben erledigen. Nach einem Erfolg attribuieren sie, dass sie einfach Glück hatten oder sie glauben, dass die Aufgaben leichter waren als die üblichen Aufgaben vor der Krankheit. Dadurch bleibt die Misserfolgsangst trotz aller erfolgreich bewältigten Vorhaben bestehen. Das Insuffizienzerleben und die chronische Angst begleiten alle Tätigkeiten und lassen die Kranken schnell erschöpft werden. Die Erschöpfung wird als Zeichen der Krankheit, als verminderte körperliche und psychische Belastbarkeit, gesehen. Die verstärkte Erschöpfung ist eine Folge der Misserfolgsangst und verstärkt wieder die Misserfolgsangst selbst und gleichzeitig die Vorstellung, dass die Krankheit chronisch sei. Hoffnungslosigkeit, diffuse Ängste vor allen Anforderungen und depressive Symptome verfestigen sich. In der Psychotherapie fällt auf, dass das Insuffizienzerleben trotz vermeintlicher Gegenbeweise bestehen bleibt. Therapeutische Überlegungen, das Anspruchsniveau zu steigern, um noch mehr Gegenbeweise zu sammeln, scheitern irgendwann daran, dass sich die psychisch Kranken über die Verständnislosigkeit der Therapeutinnen und Therapeuten, die den niedrigen Antrieb nicht wahrzunehmen scheinen, beklagen. Sie verweigern an diesem Punkt anspruchsvollere Aufgaben aus Angst vor Misserfolgen.

1.3.1 Fallbeispiel (Misserfolgsangst nach schwerer psychischer Erkrankung) Herr S., 43 Jahre alt, Diagnose zu Behandlungsbeginn: • Verdacht auf (ICD 10) F32.1 mittelgradige depressive Episode • Differentialdiagnose (ICD 10) F20.4 Postschizophrene Depression

1.3  Wie lässt sich generalisierte Misserfolgsangst im Verhältnis …

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• Leistungsdiagnostik: keine kognitiven Störungen bis auf eine diskrete Störung der Merkfähigkeit. • Motivdiagnostik, Multi-Motiv-Gitter (siehe 1.4): starke Angst vor Misserfolg (Prozentrang 95), übrige Werte innerhalb der einfachen Standardabweichung. Herr S., verheiratet, Inhaber eines Fahrradladens, zwei jugendliche Kinder, kommt wegen depressiver Symptome zur Psychotherapie. Er hatte im letzten Jahr eine Psychose erlitten. Vorher sei er gesund und leistungsfähig gewesen. Mit ein Auslöser für die psychotische Episode sei gewesen, dass der Vermieter erfolgreich wegen Eigenbedarfs gekündigt habe und die Familie in ein weniger gepflegtes Stadtviertel habe umziehen müssen. Kurz nach dem Umzug sei ein neues, wertvolles Fahrrad der Tochter aus dem Hof gestohlen worden. Nach einer Hausdurchsuchung bei einem Drogenhändler sei es in dessen Garage wiedergefunden worden. Die Familie habe es zurückerhalten. Nur zwei Wochen später sei dasselbe Fahrrad vom Schulhof der Tochter gestohlen worden. Noch am selben Tag sei das Fahrrad seines Sohnes aus dem Fahrradkeller im Haus entwendet worden. Daraufhin habe Herr S. sich von drogenabhängigen Fahrraddieben verfolgt gefühlt. Er habe sich eingebildet, dass die Fahrraddiebe ihn vor seinem Fahrradladen ausspioniert hätten und versuchen wollten, den Laden auszurauben. Er sei sicher gewesen, dass Passanten über ihre Handys Informationen über ihn ausgetauscht hätten. Besonders schlimm sei gewesen, dass sich seine Gedanken angefühlt hätten wie „verfilzt“. Inzwischen habe er keine wahnhaften Symptome mehr. Er habe aber den Eindruck, dass er nicht mehr richtig „funktioniere“. Seine Psychiaterin habe ihm gesagt, dass er an Minussymptomen leide, mit denen er sich abfinden müsse. Er habe gelesen, dass diese Minussymptome nach jeder Episode schlimmer werden könnten und habe jetzt ständig Angst vor einem erneuten Ausbruch der Psychose. Er habe wenig Antrieb und sei ständig erschöpft, obwohl er weniger arbeite als früher. Er habe einige Aufgaben an seine Mitarbeiter abgegeben. Er quäle sich jeden Tag zum Laden und mache zwar keine offensichtlichen Fehler, aber die Arbeit gehe ihm nicht mehr leicht von der Hand. Seine Konzentration sei schlecht. Ständig denke er darüber nach, was er nicht mehr gut könne. Jeden Tag sei er erleichtert, dass er sich auf der Arbeit nicht blamiert habe. Zum Glück habe er bei Problemen bisher auf früheres Wissen zurückgreifen können, aber er komme sicherlich nicht mit neuartigen Fragen zurecht. Zu Hause wolle er so wie früher seine Aufgaben im Haushalt übernehmen, sei aber von den kleinsten Aufgaben überfordert und schon nach einer Viertelstunde Wäsche Aufhängen so erschöpft, dass er sich hinlegen müsse. Merkwürdig sei, dass er nicht so müde werde, wenn er sich beim Arbeiten ablenke. Neulich habe seine Frau ihm etwas Interessantes erzählt und dabei selbst nicht mitgeholfen, als er aufgeräumt und Wäsche aufgehängt habe. Da sei ihm die Arbeit viel leichter gefallen. In der Nacht vor dem Erstgespräch habe er wach gelegen, weil er befürchtet habe, auf dem Weg zur Psychotherapiepraxis mit dem Auto einen Unfall zu verursachen. Er sei während der Autofahrt fahrig gewesen. Zum Glück sei auf der Fahrt nichts passiert.

1 Misserfolgsangst

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Zusammenfassung

Misserfolgsängstliche machen ihren Selbstwert von Leistungsstandards abhängig (kontingenter Selbstwert). Sie sind von depressiven Symptomen bedroht, wenn sie ihre Standards nicht erfüllen können. Sie leiden unter Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten und der Sorge, als inkompetent entblößt zu werden. Sie nehmen an, dass sie wegen ihrer mangelnden Fähigkeiten der Liebe nicht würdig sind und befürchten, abgelehnt zu werden, wenn offenbar wird, dass sie ihre Standards nicht erfüllen können. Wenn sie Misserfolge passiv vermeiden, neigen sie zur Prokrastination. Übermotivierte können perfektionistische Tendenzen zeigen – durch überhöhte Standards selbst oder durch eine detailversessene Weise, mit Anforderungen umzugehen. Diese Herangehensweise an Probleme erinnert an Perfektionismus, dient aber in den Augen Übermotivierter dazu, Misserfolge zu verhindern. Wahrzunehmen, dass während schwerer psychischer Krankheiten selbstverständliche Handlungen nicht mehr möglich sind, kann in existentieller Weise verunsichern. Diese Verunsicherung kann zu Misserfolgsangst führen. Dabei können die Folgen der Misserfolgsangst – gestörte Handlungsplanung, Sorgen und eine verminderte Konzentration – für Restsymptome der Krankheit gehalten werden.

1.4 Diagnostik der Misserfolgsangst Wie wird Misserfolgsangst gemessen? Um Motive zu messen, ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, ob explizite oder implizite Motive gemessen werden sollen. Implizite Motive können nicht gemessen werden, indem sie erfragt werden, weil die Selbsteinschätzung mit den impliziten Motiven (und den daraus resultierenden Handlungstendenzen) nur wenig zusammenhängt (Langens et al. 2005). Das basale Motiv, das Zielen und Situationen Anreiz verleiht, ist der Selbstwahrnehmung nur schwer zugänglich (Rheinberg 2004). Deshalb werden Motive mit indirekten, projektiven Methoden gemessen. Der bekannteste projektive Test ist der TAT (thematischer Auffassungstest), der in den meisten klassischen Studien, beispielsweise von Atkinson oder McClelland (1958a), verwendet wurde. Da er sich als zeitaufwendig und nur eingeschränkt objektiv und reliabel (Rheinberg 2004) herausgestellt hat – es werden nach bestimmten Methoden frei erfundene Geschichten zu den gezeigten Bildern ausgewertet – wurde nach Möglichkeiten gesucht, eine Alternative zum TAT zu entwickeln. Dazu wurde der semiprojektive Test Multi-Motiv-Gitter, MMG, entwickelt (Sokolowski et al. 2000). Dort werden, ähnlich wie im TAT, Situationen, die je nach Motivausprägung verschiedenen gedeutet werden können, auf Bildern präsentiert. Unter den Bildern stehen mehrere vorgegebene Aussagen, die Hoffnungskomponenten oder Furchtkomponenten der Motive Anschluss, Leistung oder Macht abdecken. Der Test beruht auf der Annahme dass, je nachdem, wie die

1.4  Diagnostik der Misserfolgsangst

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Motive bei einer Person ausgeprägt sind, die Person eine Passung zwischen Bild und Aussage sieht. Die Stärke der drei Motive in Bezug auf Hoffnung und Furcht ergibt sich daraus, wie oft die entsprechenden Aussagen angekreuzt werden. Der Test MMG erfüllt die Testgütekriterien und ist ökonomisch (Rheinberg 2004). Während mit dem projektiven TAT und dem semiprojektiven MMG implizite Motive gemessen werden, werden in Fragebögen dagegen selbst zugeschriebene, explizite Motive, im Grunde motivationale Selbstbilder (Rheinberg 2004), erfasst. Für Leistungssituationen allgemein gibt es die Achievement Motive Scale AMS (Gjesme und Nygard 1970). Dieser Fragebogen ist am Konzept der Leistungsmotivation nach Atkinson (1957) ausgerichtet. Zu diesem Fragebogen gibt es eine Kurzskala (Engeser 2005) mit nur zehn Items. Dieser Fragebogen gibt das Selbstbild als Person mit Hoffnung auf Erfolg beziehungsweise Furcht vor Misserfolg wieder. Fragen sind beispielsweise, ob die Person hofft, eine schwierige Aufgabe nicht in Angriff nehmen zu müssen (Angst vor Misserfolg) oder ob die Person üblicherweise Spaß an eher schwierigen Problemen hat (Hoffnung auf Erfolg). Wie zu erwarten ist, korrelieren die Ergebnisse der AMS-Kurzskala nicht mit den gemessenen Motiven des TAT, weil im Fragebogen explizite Motive gemessen werden und im TAT implizite Motive. Angst vor Misserfolg kann direkt, ähnlich wie im Fragebogen auf das motivationale Selbstbild bezogen, erfragt werden. Außerdem können Fragen zu Symptomen, die aus der Angst vor Misserfolg resultieren, gestellt werden: „Mit welchen Gedanken beschäftigen Sie sich, wenn Sie eine Aufgabe in Angriff nehmen? Konzentrieren Sie sich dabei auf die Aufgabe oder auf Ihre Ängste? Welche Gefühle haben Sie dabei? Wenn Sie eine Aufgabe erfolgreich bewältigt haben – welchen Grund sehen Sie dafür an?“ Hier ist zu beachten, dass Fragen nach den Auswirkungen der Misserfolgsangst zwar indirekter sind als Fragen, die sich auf die expliziten Motive selbst beziehen, aber dass auch die Antworten zu Symptomen der Misserfolgsangst vom motivationalen Selbstbild bestimmt werden. Ein wichtiger Hinweis auf Misserfolgsangst sind die Handlungen und die Pläne der Betroffenen. Wenn Aufgaben nicht angegangen werden, das Anspruchsniveau dysfunktional ist oder wenn Aufgaben so geplant werden, dass keine Rückschlüsse auf die Fähigkeiten möglich sind, weist das auf eine hohe Misserfolgsangst hin. Umgekehrt können Verhaltensweisen und Pläne, die charakteristisch für Personen mit Hoffnung auf Erfolg sind, Rückschlüsse auf das Motiv ziehen lassen: „realistische Zielsetzung, Unabhängigkeitsstreben und Bevorzugung von Aufgaben mittlerer Schwierigkeit“ (Brunstein und Heckhausen 2018). Als Möglichkeit, verhaltensnah Hinweise auf Misserfolgsangst zu erhalten, bietet sich an, entweder eine Auswahl von verschieden schwierigen Aufgaben vorzulegen (wie etwa die verschiedenen Aufgaben des Spiels „IQ-Puzzle“) oder nur eine mittelschwere Aufgabe auszuwählen (z. B. ein Formular, eine eher schulische Aufgabe oder eine bestimmte Aufgabe des „IQ-Puzzle“) und darum zu bitten, beim Auswählen der Aufgaben und beim Lösen alle Selbstverbalisationen und Überlegungen laut zu äußern. Dabei sollte die Person, die die Aufgaben auswählt oder löst, alles, was sie eventuell gerade liest, laut vorlesen und möglichst genau beschreiben, mit welchen Gedanken sie sich gerade beschäftigt. Diese Aufgabe

1 Misserfolgsangst

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kann auch verwendet werden, um Schwierigkeiten der Handlungsplanung, die aus der Misserfolgsangst resultieren, anhand der beobachteten Ergebnisse zu besprechen. Wenn die Person eine Aufgabe aus verschieden schwierigen Aufgaben auswählt, kann ihre Zielwahl näher betrachtet werden. Wenn die Person sich für einfache Aufgaben entscheidet, werden sich bei der Lösung kaum Schwierigkeiten der Handlungsplanung zeigen. Die gestörte Handlungsplanung bei mittelschweren Aufgaben lässt sich gut mit der Handlungsplanung bei einfachen Aufgaben vergleichen.

1.4.1 Beispiel für verhaltensnahe Diagnostik Das Ziel der verhaltensnahen Diagnostik ist, die Schwierigkeiten der Handlungsplanung bei einer mittelschweren Aufgabe zu erkennen. Therapeutin: Ich möchte gerne mehr darüber wissen, wie Sie Aufgaben überhaupt angehen. Sie haben mir gesagt, dass Sie Angst davor haben, Formulare auszufüllen. Ich habe auf der Homepage des Schulamtes einen Dienstreiseantrag ausgedruckt. Ich bitte Sie, so zu tun, als wären Sie eine Lehrerin, die nächste Woche von Montag bis Freitag eine Fortbildung in Berlin besucht. Sie fahren mit dem Zug und übernachten im Hotel. Angaben wie die Personalnummer oder den Namen der Schule können Sie einfach erfinden. Wenn Sie das Formular anschauen – wie schwer wirkt das auf Sie? Patientin: Hm. Eigentlich ist das leicht, aber ich tue mich schwer mit Formularen. Therapeutin: Soll ich lieber ein einfacheres Formular heraussuchen? Hinweis: Die Therapeutin achtet auch bei Alternativen darauf, dass die Aufgabe im Anspruch mittelschwer ist. Patientin: Nein, das nützt auch nichts. Ich mache halt immer Fehler. Therapeutin: Ich möchte gerne wissen, wie es zu den Fehlern kommt, damit ich Ihnen Strategien vorschlagen kann, die Ihnen helfen. Damit ich mitbekomme, wie Sie mit dieser Aufgabe umgehen, bitte ich Sie, alle Ihre Gedanken während der Aufgabe laut auszusprechen. Ich bitte Sie, mir alles mitzuteilen, was Sie gerade vorhaben, was Sie gerade über die Aufgabe und über sich selbst denken und ich bitte Sie außerdem, alles, was Sie beim Ausfüllen lesen, laut vorzulesen. Mir geht es nicht darum, ob Sie das Formular korrekt ausfüllen oder nicht. Ich möchte genau nachvollziehen, wie Sie die Aufgabe angehen und welche Gedanken Sie dabei haben. Es könnte sein, dass Ihnen das unangenehm sein wird. Sind Sie trotzdem damit einverstanden? Die Patientin stimmt zu und nimmt das Formular. Patientin: Also – hier steht „Antragstellerin“. Das bin ich. Sie füllt den Namen aus und vertauscht Vor- und Nachname. Die Überschrift des Formulars hat die Patientin offenbar nicht gelesen und macht zunächst kein Kreuz bei „Dienstreise“ oder „Aus- und Fortbildungsreise“. Sie füllt das Formular abgesehen davon in der vorgegebenen Reihenfolge weiter aus. Patientin: Das ist ja bis jetzt gar nicht so schwer, wie ich dachte. Hier steht: „Die unten abgedruckten Hinweise habe ich zur Kenntnis genommen.“. Sie liest stumm weiter. Therapeutin: Können Sie bitte laut lesen? Patientin: Ja, hier unten stehen die Hinweise. „Reisekostenvergütung wird nur insofern gewährt… Dauer der Reise… Erledigung des Dienstgeschäftes…steht ein Dienstkraftfahrzeug…“ Mann, benutzen die aber komische Wörter! „…wird Fahrtkostenerstattung oder Wegstreckenentschädigung nur gewährt, wenn die Benutzung des anderen Beförderungsmittels [lässt Satzteile weg] nachträglich genehmigt wird…“ Das kann man

1.5 Motivtraining

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ja nicht verstehen! Und Sie schauen hier zu. Ich kriege das nicht hin. Warum denn „nachträglich“? „Wenn die Benutzung des anderen Beförderungsmittels“ – was soll das sein? – „genehmigt worden ist oder nachträglich“… Ach Mann… Pause. Therapeutin: Was denken Sie jetzt? Patientin: Also, ich kriege das nicht hin. Ich kreuze einfach an, dass ich das verstanden habe, also gelesen habe. Die Patientin bearbeitet anschließend im Formular die Teile des Antrags, die von der Kostenstelle ausgefüllt werden sollten und liest vor: „Der Reise wird wie beantragt zugestimmt.“ Sie macht in dem entsprechenden Kästchen ein Kreuz. Patientin: „Sonstiges“ lasse ich weg. Oh! Da steht ja „Unterschrift des Genehmigenden“. Ach, das war jetzt bestimmt falsch. Da bekomme ich noch nicht mal so einen Antrag hin. Das ist immer so. Ich scheitere an den leichtesten Aufgaben. Die Patientin legt das Formular beiseite. Therapeutin: Würden Sie das Formular, wenn Sie in Wirklichkeit eine Dienstreise antreten wollten, jetzt weiter ausfüllen? Patientin: Nein, das würde ich ja nicht schaffen. Ich müsste mir überlegen, wer mir helfen könnte. Das wäre dann peinlich. Therapeutin: Sie haben vieles richtig ausgefüllt. An manchen Stellen haben Sie offenbar nicht alles durchgelesen und deshalb nicht alles nachvollziehen können. Sie haben aber sehr gut meine eigentliche Aufgabe erfüllt. Sie haben nachvollziehbar Ihre Gedanken ausgesprochen und laut vorgelesen. Ich habe jetzt einen guten Eindruck davon, wie Sie Aufgaben angehen. Die Aufgabe hat mir gezeigt, wie Ihre Versagensängste Sie stören, Ihre Fähigkeiten zu nutzen und wie es zu den Fehlern kommt. Wahrscheinlich urteile ich viel positiver als Sie über Ihre Stärken. Wahrscheinlich ist es Ihnen unangenehm, vor meinen Augen Fehler gemacht zu haben?

Zusammenfassung

Bei der Motivmessung wird zwischen expliziten und impliziten Motiven unterschieden. Implizite Motive können mit Verhaltensbeobachtungen und (semi)projektiven Tests festgestellt werden. Hinweise auf Misserfolgsangst kann das Verhalten während der Therapie liefern. Die Beobachtungen der verhaltensnahen Diagnostik können zur Psychoedukation genutzt werden.

1.5 Motivtraining In der Therapie der Misserfolgsangst wird ein Motivtraining mit Strategien zur Aufgabenbewältigung verknüpft. Im folgenden Abschnitt geht es darum, nach welchen Prinzipien Motivtrainings wirken. McClelland war der erste, der den Versuch unternahm, das implizite Leistungsmotiv zu verändern, obwohl er zunächst davon ausging, dass Motive stabile Persönlichkeitsdispositionen sind (McClelland 1958b). In Max Webers Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ fielen ihm Parallelen zum Modell der Leistungsmotivation auf. Mit der Hypothese, dass das vorherrschende Leistungsmotiv einer Region mehr zu dem wirtschaftlichen Erfolg eines Landes

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1 Misserfolgsangst

beiträgt als die Ressourcen eines Landes und dass die protestantische Ethik das Leistungsmotiv fördere, verglich er die Bruttosozialprodukte der verschiedenen Länder mit der vorherrschenden Religion. Er kam zum Schluss, dass Länder mit vorherrschender protestantischer Kultur wirtschaftlich erfolgreicher waren als andere Länder. Motivtraining für indische Geschäftsleute Daraufhin entwickelte er ein Motivtraining für indische Geschäftsleute (McClelland und Winter 1969). In dem zweiwöchigen Training lernten 52 Kleinunternehmer, wie Unternehmer mit Hoffnung auf Erfolg denken, handeln und Situationen bewerten. Im Vergleich zu nicht trainierten Unternehmern einer Stadt mit ähnlicher Wirtschaftsstruktur, geographischer Lage und Größe hatten die trainierten Geschäftsleute zwei Jahre später signifikant mehr Arbeitsplätze geschaffen. Die wirtschaftliche Situation der gesamten Stadt war besser als die der Vergleichsstadt. Die größte Veränderung ließ sich bei zuvor misserfolgsängstlichen Geschäftsleuten erzielen. In späteren Studien in anderen Ländern und Städten, auch in Gebieten mit westlicher Kultur, wurden die Ergebnisse des Motivtrainings repliziert (Rheinberg und Engeser 2010). Theoriegeleitete Motivtrainings im westlichen Kulturkreis McClelland leitete das Training noch nicht direkt theoretisch ab, sondern benutzte zum Teil Techniken, die in der Psychotherapie oder in religiösen Gruppen verwendet wurden (Rheinberg und Engeser 2010). Später wurden Motivtrainings entwickelt, die sich an das Selbstbewertungsmodell nach Heckhausen anlehnten (Heckhausen 1975). Im Selbstbewertungsmodell werden drei wichtige Unterschiede von Menschen mit Misserfolgsangst zu Menschen mit Hoffnung auf Erfolg (ohne relevante Misserfolgsangst) herausgestellt: Zielsetzungen, Kausalattributionen und Selbstbewertungsemotionen. Krug und Hanel (1976) entwickelten auf dieser Grundlage ein Motivtraining für Schulkinder. Da sich dieses Training nicht gut in den Schulalltag übertragen ließ, wurden in späteren Motivtrainings für die Schule auch Lehrerinnen und Lehrer geschult, hilfreiche attributionale Rückmeldungen zu geben und die individuellen Fortschritte zu beachten. Außerdem zeigte sich, dass Kinder Lernstrategien einüben und verpasste Lerninhalte nachholen mussten, um im Schulalltag erfolgreich zu sein. Ohne gut bewältigte Aufgaben wird die neu gewonnene Hoffnung auf Erfolg sonst wieder zunichtegemacht (Rheinberg und Engeser 2010). Rheinberg und Schliep (1985) testeten den Ansatz, gleichzeitig mit dem Motivtraining schulische Kenntnisse zu vermitteln, an Fünftklässlern, die bis dahin noch nicht schreiben konnten. Sie konnten sowohl Hoffnung auf Erfolg als auch die Buchstabierfähigkeit verbessern. Andere Motivförderprogramme richteten sich gleichzeitig an die Lehrenden (z. B. Rheinberg 2017). Wichtig bei den Motivförderprogrammen ist, alle drei Komponenten – Zielsetzung, Attributionen und Selbstbewertungsemotionen – während eines Trainings zu verändern, damit der Erfolg des Trainings nachhaltig bleibt (Rheinberg und Engeser 2010).

1.5 Motivtraining

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Isolierte Zielsetzung Wenn Misserfolgsängstliche dazu angehalten werden, realistische Ziele zu setzen, ohne die beiden anderen Komponenten zu verändern, werden Leistungssituationen sogar noch bedrohlicher für sie, weil sie Erfolge weiterhin external attribuieren und Misserfolge auf ihre mangelnden Fähigkeiten zurückführen (Sokolowski 2001; Rheinberg und Engeser 2010). Misserfolge bei herausfordernden Aufgaben bedrohen den Selbstwert am stärksten, weil sie auf die eigenen Fähigkeiten rückschließen lassen. Dieses Problem tritt auf, wenn Misserfolgsängstliche zu wichtigen, therapeutischen Aufgaben gedrängt werden, um ihnen zu einem Erfolgserlebnis zu verhelfen oder wenn etwa Fortschritte in einer Angsthierarchie erwartet werden. Die erhöhte Versagensangst verstärkt in solchen Situationen das Vermeidungsverhalten. Erfolge können sich nicht einstellen. Die gesamte Psychotherapie wird stattdessen zur bedrohlichen Leistungssituation. Isolierte Attributionen Kausalattributionen können nur stabil verändert werden, wenn sie an mittelschweren Aufgaben erprobt werden. Bei sehr leichten Aufgaben wäre die Attribution, dass die guten eigenen Fähigkeiten zum Erfolg geführt haben, nicht sinnvoll und bei sehr schweren Aufgaben wird sich zu selten ein Erfolg einstellen. Isolierte Selbstbewertungsemotionen Wenn die Selbstbewertungsemotionen einzeln im Fokus stehen, ohne dass die Attributionen neu gelernt werden, wirkt die Einladung, sich über Erfolge zu freuen, für Menschen mit Versagensangst widersinnig, weil sie keinen Sinn darin sehen, sich über ihren – zufälligen – Erfolg zu freuen (Rheinberg und Engeser 2010). Vermittlung von Kenntnissen Die verpassten Lerninhalte und die spezifischen Fähigkeiten, die im schulischen Kontext nötig sind, um das Motivtraining bei Kindern und Jugendlichen in den Alltag zu übertragen, entsprechen den Strategien zur Aufgabenbewältigung im klinischen Kontext. Misserfolgsängstliche Menschen sind ungeübt im Problemlösen und werden zusätzlich durch ihre Vermeidungsziele behindert. Sie brauchen Strategien zur Aufgabenbewältigung, um das Motivtraining im Alltag umzusetzen.

Zusammenfassung

In Motivtrainings werden alle drei Komponenten, die Menschen mit Hoffnung auf Erfolg von Menschen mit Angst vor Misserfolg unterscheiden, verändert, damit das Motivtraining wirkt: Zielsetzungen, Kausalattributionen und Selbstbewertungsemotionen. Da Menschen, die Misserfolge vermeiden, in der Regel schon sehr lange Aufgaben vermieden haben und wenig Gelegenheit hatten, Fähigkeiten aufzubauen, sollten sie Strategien, um Aufgaben zu bewältigen, gezielt aufbauen. Sonst erleiden Menschen mit Misserfolgsangst wieder von neuem gehäuft Misserfolge.

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1 Misserfolgsangst

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Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

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Ein zentrales Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst ist die Scham. Eine evolutionspsychologische Theorie über die Funktion der Scham erklärt, wann die Emotion Scham funktional und wann sie dysfunktional ist. Die erhöhte Schambereitschaft ist bei Misserfolgsangst der Grund für maladaptive Strategien, mit denen die vermeintliche Unfähigkeit verborgen werden soll. Im zweiten Teil des Kapitels werden die verschiedenen Theorien zur Misserfolgsangst, zum Selbstwert, zur Scham und zur sozialen Integration zusammengeführt. Diese Theorien helfen zu verstehen, welche Möglichkeiten es gibt, um eine generalisierte Misserfolgsangst zu reduzieren und um einen stabileren Selbstwert zu fördern. Im dritten Teil dieses Kapitels wird begründet, warum Therapieresistenz gehäuft bei Misserfolgsangst auftritt.

2.1 Scham als zentrales Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst Die Emotion Scham ist bei Angst vor einem Misserfolg nach dem Risikowahlmodell von Atkinson (1957), siehe 1.1.2, das zentrale Vermeidungsziel. Scham ist eine Emotion, bei der Aspekte des Selbst als schlecht oder als eingeschränkt wertvoll beurteilt werden, im Gegensatz zum Schuldgefühl, bei dem eine bestimmte Handlung als schädlich oder unmoralisch gesehen wird. Es gibt keine Situationen an sich, die entweder Schuldgefühle oder Scham verursachen (Tangney et al. 2007), genauso wenig besteht übereinstimmend Klarheit darüber, ob Scham adaptiv sein kann oder nicht. In den einflussreichsten gegenwärtigen Theorien wird angenommen, dass Scham mit zahlreichen Lebensproblemen einhergeht und eher maladaptiv ist, im Gegensatz zu Schuldgefühlen (z. B. Tangney et al. 2007; Dearing et al. 2005). Gemäß dieser Theorien wären sowohl die Scham als auch

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hollas, Psychotherapie der Misserfolgsangst, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61142-5_2

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

die erhöhte Schambereitschaft überwiegend dysfunktional. Weil Scham eine so zentrale Rolle bei misserfolgsängstlichen Menschen spielt und weil anzunehmen ist, dass jede Emotion eine adaptive Funktion hat, ist es wichtig, die Funktion der Scham genauer zu beleuchten.

2.1.1 Adaptive Funktion der Scham Wenn die Scham im Hinblick auf ihre ursprüngliche Funktion betrachtet wird, zeigt sich ihr adaptiver Anteil. Emotionen können aus evolutionspsychologischer Sicht als genetische Programme begriffen werden, die Einfluss auf Kognition, Motivation, Verhalten und physiologische Vorgänge haben. Was die Angst angeht, dient die evolutionspsychologische Auffassung in der Verhaltenstherapie als übliches psychoedukatives Erklärungsmodell („Programm Kampf oder Flucht im Angesicht eines Säbelzahntigers“). So wie auch Angst adaptiv oder maladaptiv sein kann, ist die ursprüngliche Funktion adaptiv: Die angstfreien Individuen haben nicht lange überlebt. Genau so hat sich die Scham in der Evolution herausgebildet: als Emotion, die einen Überlebensvorteil bietet. Zahlreiche Evolutionspsychologen führten in den letzten Jahrzehnten vergleichende Studien in den verschiedensten Kulturen durch, um die Funktion der Scham zu untersuchen. Der Evolutionspsychologe Sznycer entwickelte die „Information Threat Theory of Shame“ (Sznycer et al. 2016). Laut dieser Theorie ist Scham eine Emotion, die dafür sorgt, nicht aus Gruppen ausgestoßen zu werden. Unsere Vorfahren konnten nur in Gruppen überleben und waren auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Sie mussten nach Sznycers Theorie voraussehen können, wann sie das Wohlwollen der anderen aufs Spiel setzen würden. Sie mussten, bevor sie etwas machten, abschätzen können, was ihren Status in der Gruppe gefährden würde. Dabei warnte sie Scham vor Entscheidungen, die ihren Status in der Gruppe gefährdet hätten. Nach der „Information Threat Theory of Shame“ gefährden nicht Handlungen, die abgelehnt werden, schlechte Eigenschaften oder Krankheiten selbst die Stellung einer Person in der Gruppe. Solange die Gruppe nichts darüber erfährt, bleibt der soziale Status erhalten. Nur die Informationen über die Mängel gefährden das Wohlwollen der Gruppe. Die Information ist das eigentlich Bedrohliche. Das Individuum muss sich dieser Theorie nach vor jeder Entscheidung darüber klar werden, ob die Entscheidung ein Risiko mit sich bringt, dass die Gruppe die Person ablehnen könnte (soziale Kosten). Der Vorteil, den sich die Person von der Entscheidung erhofft, vergleicht sie mit den sozialen Kosten: „Soll ich heute im Büro für die tollen Schuhe im Internet steigern, obwohl wir das Internet privat nicht nutzen dürfen? Wie hoch ist die Gefahr, dass ich erwischt werde und wie würde ich aus dieser Sache wieder herauskommen?“ Dabei hilft die Emotion Scham, Entscheidungen so zu fällen, dass die Vorteile gegenüber den sozialen Kosten überwiegen. Die Scham kodiert dabei die sozialen Kosten – je heftiger die Abwertung ausfallen würde, desto stärker ist die antizipierte Scham (Sznycer

2.1  Scham als zentrales Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst

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et al. 2018): „Ich würde im Boden versinken, wenn unsere Chefin plötzlich hereinkommen würde und auf dem Monitor die Schuhe sähe…“ Die Scham hilft, nicht entwertet zu werden. Wenn negative Informationen in die Gruppe gelangt sind, hilft die Scham dabei, dass sich die Information nicht herumspricht und dass die Person die Information herunterspielt oder sie irgendwie neutralisiert. Nach Sznycer hängt es vom Zusammenhang ab, welche Eigenschaften oder Handlungen als wertvoll für den Status der Gruppe oder als bedrohlich bewertet werden. Wo es um Zusammenarbeit geht, gefährdet unkooperatives Handeln den Status. Bei der Partnerwahl sind Zeichen der Fruchtbarkeit und der Krankheitsresistenz wichtig. Nach Sznycer ist Scham ein genetisches Programm, das Einfluss auf Kognition („Ich bin ein Trottel“), Motivation („Sollte ich das jetzt wirklich machen?“), Verhalten (zum Beispiel Rückzug) und physiologische Vorgänge (Erröten, Herzklopfen) hat. Er nennt dieses Programm das „System der Scham“. Die drei Funktionen des Systems der Scham Sznycer unterscheidet in dem System der Scham drei Funktionen (Sznycer et al. 2016). • Die erste Funktion ist zu verhindern, dass negative Informationen über das Individuum offenbar werden. • Die zweite Funktion ist, das Ausmaß der negativen Information zu begrenzen. • Die dritte Funktion ist, die Folgen der Entwertung zu vermindern. Die erste Funktion des Systems der Scham Die erste Funktion ist, wie beschrieben, dass Entscheidungen, durch die negative Informationen in die Gruppe gelangen könnten, verhindert werden. Als ein Beispiel für eine Situation, in der Scham hilft, nicht abgelehnt zu werden, dient hier ein Mann, der mit Freunden Urlaub macht. Er hat sich nach zwei Gläsern Wein bereit erklärt, für alle am nächsten Abend ein kompliziertes Gericht zu kochen. Dabei behauptet er, dass er dieses Gericht schon häufig zubereitet habe und dass er nicht wisse, warum es als sehr schwierig zuzubereiten gelte. Am nächsten Tag beschäftigt er sich näher mit dem Rezept und realisiert, dass dieses Rezept ihn überfordert. Er stellt sich vor, wie er seinen Freunden später die missglückte Mahlzeit serviert und spürt, wie sein Herz klopft (Angst vor Scham). Er beschließt, etwas weniger Kompliziertes zu kochen. Er sorgt dafür, allein einkaufen zu gehen, bereitet ein anderes, sehr leckeres, Abendessen zu und behauptet dann, er habe die Zutaten für das komplizierte Gericht im Supermarkt nicht gefunden. Mit dieser Ausrede gelangt die Information, dass er ein wenig angegeben hat, nicht zu den Freunden. Die zweite Funktion des Systems der Scham Die zweite Funktion der Scham ist, dass das Ausmaß, in dem schädliche Informationen in die Gruppe gelangen und dort weiter verbreitet werden, limitiert wird.

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

Wenn, um bei der Situation mit den Urlaubern zu bleiben, die negative Information, dass der Mann seine Erfahrungen im Kochen übertrieben dargestellt hat, in die Gruppe gelangte, würde der Mann gemäß dem „System der Scham“ versuchen, das Ausmaß dieser Information zu reduzieren. Am nächsten Tag bringt einer der Freunde die angeblich fehlenden Zutaten von einem Einkauf mit in die Ferienwohnung. Der Mann stellt fest, dass er gezwungen ist, dieses schwierige Gericht zu kochen, wenn er nicht zugeben will, dass er angegeben hat. Damit diese Tatsache nicht herauskommt und damit er sich nicht mit einer misslungenen Mahlzeit blamiert, sucht er im Internet nach Informationen, wie das Gericht gelingen kann (Angst vor der Scham). Er bereitet sich gründlich vor. Als trotzdem ein Zwischenschritt misslingt und er einen Teil der Mahlzeit noch einmal zubereiten muss, wirft er das misslungene Essen heimlich weg. Wegen der guten Vorbereitung gelingt das Gericht schließlich gut. Als eine Freundin den verbrannten Teil des Essens im Mülleimer draußen zufällig entdeckt und fragt, ob es der Mann mit den Kochkünsten vielleicht doch ein wenig übertrieben habe, ist er alarmiert (Angst vor Scham). Er redet sich damit heraus, dass er zwischendurch zu lange abgelenkt gewesen sei. Als die Freunde daraufhin das Essen loben, ist er erleichtert. Die Freunde vermuten zwar, dass das Zubereiten nicht ganz einfach war, aber dank der akribischen Vorbereitung wird die Information, wie sehr er seine Erfahrungen mit der Zubereitung dieses Gerichts zuvor übertrieben hat, limitiert.

Die dritte Funktion des Systems der Scham Die dritte Funktion der Scham ist, die soziale Entwertung zu begrenzen. Die Scham hilft, angepasst an die neue soziale Situation zu reagieren. Wenn schädliche Informationen in die Gruppe gelangt sind, gibt es verschiedene Möglichkeiten, um mit der Ablehnung durch die Gruppe zurechtzukommen: sich zurückziehen, um aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu kommen, sich unterordnen, beschwichtigen oder sich kooperativer als zuvor zu verhalten, um sich wieder in ein günstigeres Licht zu rücken und um Fehler wieder gutzumachen (Sznycer et al. 2018). Eine andere Möglichkeit, die sozialen Kosten einzudämmen, ist nach Sznycer aggressives Verhalten. Aggressives Verhalten kann dann vorteilhaft sein, wenn ein Individuum sich zwar nicht mehr ausreichend wertgeschätzt sieht, um von der Gruppe freiwillig unterstützt zu werden, aber sich als bedrohlich genug empfindet, um die Unterstützung der Gruppe zu erzwingen. Als die Freundin, die das misslungene Essen im Müll entdeckt hat, beim Essen eine teils scherzhafte, teils kritische Bemerkung macht (soziale Entwertung), ist der Mann etwas ärgerlich und andeutungsweise peinlich berührt. Er überlegt, wie er die spitzen Bemerkungen am besten beenden kann und gibt dann zu, dass er vielleicht ein klein wenig übertrieben habe, aber sich heute für die Freunde sehr viel Mühe gegeben habe (beschwichtigen, sich kooperativ zeigen). Daraufhin lenkt die Freundin ein und sagt, die Hauptsache sei, dass alles sehr lecker schmecke. Damit wird die soziale Entwertung zum Teil zurückgenommen.

2.1  Scham als zentrales Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst

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Zusammenfassung

Scham bezieht sich auf die gesamte Person. Sie hat als ein genetisches Programm Einfluss auf Kognition, Motivation, Verhalten und physiologische Vorgänge und verhindert, aus Gruppen ausgeschlossen zu werden. Wie stark die Scham ist, entspricht den sozialen Kosten, die entstanden sind. Die drei Funktionen des Systems der Scham sind nach Sznycer: • zu verhindern, dass negative Informationen über das Individuum in die Gruppe gelangen • das Ausmaß von schädlichen Informationen in der Gruppe zu limitieren • die Folgen der sozialen Entwertung zu minimieren.

2.1.2 Erhöhte Schambereitschaft bei Misserfolgsangst Zu schwache Aktivierung des Systems der Scham Wenn bei einer Person die Emotion Scham zu selten aktiviert ist, lehnt die Gruppe diese Person irgendwann ab. Wenn das System der Scham zu früh und zu stark aktiviert wird, ist das eine erhöhte Schambereitschaft. Sie hat ebenfalls gravierende Nachteile. Die Nachteile können aus den Verhaltensweisen, die aus dem System der Scham resultieren, wie Rückzug, Unterwerfung oder Aggression, abgeleitet werden (Sznycer et al. 2016). Wenn viele Aktivitäten wegen starker Angst vor der Scham vermieden werden, wenn eine Person sich häufig zurückzieht oder ständig aggressiv ist, kann sie aus der Gruppe ausgeschlossen werden. Wer sich häufig unterwirft, hat mit der Zeit einen niedrigen sozialen Status. Adaptive Aktivierung des Systems der Scham Rückzug, Unterordnung oder Aggressionen sind nur adaptiv, wenn sie helfen, eine Entwertung teilweise aufzuheben – und wenn kleine Fehler das System gering aktivieren und große Fehler das System stärker aktivieren. Ein Angestellter kommt ausnahmsweise fünf Minuten zu spät zur Arbeit und damit zu spät zur Dienstbesprechung. Er betritt leise den Raum, um nicht zu stören und entschuldigt sich kurz (Kooperation/Unterordnung), als er an der Reihe ist, etwas zur Besprechung beizutragen. Hier ist das Schamsystem wegen der Unpünktlichkeit in geringem Maße aktiviert. Der Mann entschuldigt sich und geht dann zur Tagesordnung über. Zu starke Aktivierung des Systems der Scham Wenn eine Person zunächst kaum in Gefahr ist, abgelehnt zu werden und ihr Schamsystem trotzdem ständig stark aktiviert ist, wird sie schließlich abgewertet. Ein anderer Angestellter kommt ausnahmsweise fünf Minuten zu spät zur Arbeit. Er ist sehr beschämt wegen seiner Verspätung. In die Dienstbesprechung hineinzuplatzen ist ihm zu unangenehm. Er steht vor der Tür und überlegt, dass er

2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

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heute etwas in der Besprechung präsentieren soll, stellt sich aber lebhaft vor, wie alle ihn anschauen, wenn er hereinkommt und wie die Chefin ärgerlich ihre Lippen zusammenpresst. Er geht in sein Büro statt zur Besprechung (Rückzug). Er hofft, es fällt auf irgendeine Weise nicht auf, dass er fehlt. Im Büro entdeckt ihn nach wenigen Minuten seine Kollegin. Sie wurde geschickt, um nach seiner Aufstellung zu suchen, die er heute präsentieren sollte. Er antwortet ausweichend, als sie ihn fragt, warum er nicht in der Besprechung ist (Versuch, die negative Information zu limitieren). Die Kollegin überlegt in der Mittagspause, ob er „völlig am Ende“ sei, weil er offensichtlich die tägliche Besprechung vergessen hat (mehr negative Informationen gelangen in die Gruppe als durch die Verspätung allein entstanden wären). Der Mann bekommt das Gerede mit und hat vor, sich krankschreiben zu lassen (weiterer Rückzug).

Zusammenfassung

Wenn eine Person stark vermeidet, beschämt zu werden, ist es erst recht wahrscheinlich, dass sie beschämt wird. Misserfolgsängstliche Menschen versuchen zu verhindern, dass sie Informationen über ihre vermeintliche Unfähigkeit offenlegen. Um die mangelnden Fähigkeiten zu verbergen, wählen misserfolgsängstliche Personen häufig den Weg, sich einer Aufgabe nicht zu stellen. Während der Mann im Beispiel mit den Urlaubern (im vorigen Abschnitt) mit der drohenden und mit der tatsächlichen Entwertung erfolgreich umgegangen ist, zeigt das folgende Beispiel, wie dysfunktional ein zu stark aktiviertes Schamsystem ist. Die Situation wird so verändert, dass der Mann misserfolgsängstlich ist. Er ist an der Reihe zu kochen. Angenommen, der misserfolgsängstliche Mann traut sich dieses Vorhaben nicht zu, würde er versuchen, diese Aufgabe vermeiden. Die erhöhte Schambereitschaft führt dazu, dass der Mann bereit ist, viele Nachteile auf sich zu nehmen, um seine vermeintliche Unfähigkeit zu vertuschen. Die erste Funktion der Scham ist, zu verhindern, dass negative Informationen über das Individuum in die Gruppe gelangen. Diese Funktion setzt bei einer erhöhten Schambereitschaft zu früh und zu stark ein. Der Mann hofft, dass er mit dem Kochen nicht an die Reihe kommt, wenn er sich nicht für einen bestimmten Tag meldet. Seine Freunde tragen ihn aber für einen Abend ein. Zuerst hat er vor, eine Mahlzeit zuzubereiten. Als er überlegt, was er kochen kann, stellt er sich lebhaft vor, wie seine Freunde angeekelt auf die matschigen Spaghetti schauen und ihn fassungslos fragen, ob er noch nicht einmal Nudeln zubereiten kann. Er schwitzt bei diesen Gedanken und sein Herz rast. Er beschließt, gar nicht zu kochen. Die Angst vor Scham wird durch die Entscheidung, nicht zu kochen, kurzfristig reduziert und sein Herz schlägt wieder

2.1  Scham als zentrales Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst

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etwas ruhiger. Die Information, dass er anscheinend gar nicht fähig ist zu kochen, gelangt auf diese Weise nicht in die Gruppe. Die zweite Funktion des Systems der Scham ist nach Sznycer (2016), das Ausmaß von schädlichen Informationen in der Gruppe zu limitieren. Gegen Abend fragen die Freunde hungrig, wann er endlich mit dem Kochen beginnen will. Er behauptet, er habe nicht gewusst, dass er an der Reihe war (Versuch, das Ausmaß der negativen Informationen zu limitieren). Dem Mann bleibt, wenn er das Kochen vermeidet, nicht viel anderes übrig, als sich als faul, vergesslich oder unzuverlässig beurteilen zu lassen. Die Information, dass er – seiner Befürchtung nach – gar nicht kochen kann, gelangt zwar nicht in die Gruppe (Scham wurde kurzfristig vermieden), dafür aber die Information, vergesslich und unzuverlässig zu sein (Scham tritt wegen anderer negativer Informationen auf). Diese negative Information ist aus Sicht des Mannes weniger beschämend, als sich als ein Mann mit mangelnden Fähigkeiten und „komplett lebensuntüchtig“ zu zeigen (schädliche Information begrenzt). Die Information, dass er unzuverlässig sei, versucht der Mann zu limitieren – er behauptet, er habe gar nicht gewusst, dass er zuständig sei. Die Freunde werden für diese Ausrede wahrscheinlich nur wenig Verständnis haben (soziale Entwertung, Beschämung). Die dritte Funktion des Systems der Scham ist (Sznycer et al. 2016), die Folgen der sozialen Entwertung zu minimieren. Der misserfolgsängstliche Mann hätte entsprechend der dritten Funktion mehrere Möglichkeiten, auf seine empörten Freunde zu reagieren. Er könnte sich zurückziehen, in der Hoffnung, dass seine Freunde selbst eine Lösung suchen. Eventuell könnte er dabei ausdrücken, dass er beleidigt ist, weil niemand ihm glaubt, dass ein Missverständnis vorlag (entsprechend der zweiten Funktion schädliche Informationen begrenzen – hier durch Verunsicherung). Eine andere Möglichkeit wäre zuzugeben, dass er noch einmal hätte nachfragen sollen, wer für die Mahlzeit zuständig war, und sich zu entschuldigen (Unterordnung akzeptieren, beschwichtigen). Durch die gezeigte Reue kann die Gruppe davon ausgehen, dass der Freund sich bei der nächsten Gelegenheit mehr Mühe geben wird. Dadurch würde die Kritik gemindert (soziale Entwertung vermindern) und die Stimmung ihm gegenüber verbessert (Folgen der Entwertung mindern). Ähnliche Auswirkungen hat die Möglichkeit, sich kooperativer als vorher zu verhalten: Der Mann übernimmt Aufgaben, die er sich zutraut, um seinen sozialen Wert wieder zu erhöhen: Er schneidet das gesamte Gemüse, deckt den Tisch und räumt danach auf, als schließlich gemeinsam gekocht wird. Die Handlungsoption, angesichts eines beschädigten sozialen Status Unterstützung aggressiv einzufordern (Sznycer et al. 2018), könnte in unserem Beispiel so aussehen, dass der beschämte Mann die anderen beschuldigt, widersprüchliche Anweisungen gegeben zu haben. Eine Möglichkeit, mit Aggressionen zu reagieren und dabei soziale Unterstützung einzufordern, wäre der Vorwurf, zu stark „unter Druck gesetzt“ zu werden. Der Mann könnte schlechte Stimmung verbreiten, bis die anderen sich widerwillig für ihre Kritik entschuldigen, um den Urlaubstag zu

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

retten. Auf diese Weise würde er sich den ursprünglichen sozialen Status (vorübergehend) erpressen und hätte gemäß der dritten Funktion des „Schamprogrammes“ die sozialen Kosten der Entwertung vermindert. Zusammenfassend ist die Scham über die vermeintlich mangelnden Fähigkeiten so stark, dass der Mann um jeden Preis verhindern will, die mangelnden Fähigkeiten zu offenbaren. Dadurch ist sein Verhalten starr und er fällt dysfunktionale Entscheidungen, die wieder zu neuer Scham führen. Sein Verhalten ist für Außenstehende nur schwer nachzuvollziehen. Im Gegensatz zum Beispiel zur adaptiven Funktion der Scham führt das Vermeidungsziel des misserfolgsängstlichen Mannes, auf keinen Fall beschämt zu werden, dazu, dass er sich vor den anderen schämt. Der Mann erlebt in diesem Beispiel sowohl Angst vor Scham als auch Beschämung.

2.1.3 Möglichkeit, Bindungen zu ersetzen und erhöhte Schambereitschaft Ausgehend davon, dass in einigen asiatischen Kulturen die Schambereitschaft höher zu sein scheint als in westlichen Kulturen, untersuchte Sznycer diese Hypothese in ländervergleichenden Studien. Sznycer führt die unterschiedlich starke Schambereitschaft sowohl in verschiedenen Kulturen als auch bei einzelnen Personen auf die Einschätzung zurück, wie wahrscheinlich neue Bindungen etabliert werden können, wenn soziale Beziehungen geschädigt wurden oder verloren gegangen sind (Sznycer et al. 2012). Die Schambereitschaft Einzelner hängt von dem sozialen Status, der Situation und der Möglichkeit, soziale Bindungen zu ersetzen, ab. Ein hoher sozialer Status schützt vor Schambereitschaft Ein hoher sozialer Status reduziert nach Sznycer die Schambereitschaft, da angesichts der vielen Leistungen, die zu dem hohen Status geführt haben, kleinere Makel eventuell wenig ins Gewicht fallen. Donald Trumps Behauptung im Präsidentschaftswahlkampf, er könne auf der 5th Avenue stehen, jemanden erschießen und würde trotzdem keine Wähler verlieren, kann vor diesem Hintergrund eingeordnet werden. Die Tatsache, dass er trotz dieser befremdlichen Aussage zum Präsidenten gewählt wurde, könnte belegen, dass bei einem sehr hohen sozialen Status Fehler eher verziehen werden. Menschen mit hohem sozialem Status haben durchschnittlich mehr soziale Beziehungen, sodass eine beendete Beziehung eher ausgeglichen werden kann. Wie wahrscheinlich in einer speziellen Situation Scham entsteht, lässt sich damit abschätzen, wie viele Menschen eventuelle negative Informationen erfahren könnten und wie hoch die Gefahr in der Situation ist, dass eine negative Information als charakteristisch für die gesamte Person bewertet wird. In einer großen Gruppe mit Fremden könnte eine einzige negative Informationen beispielsweise größeres Gewicht haben und negativer beurteilt werden als in einer Gruppe von Freunden, die eine bestimmte Information als untypisch für die Person einordnen würden.

2.1  Scham als zentrales Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst

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Wenn eine Frau vor einer Gruppe von Fremden mit ihrem Fahrrad stürzt, könnte sie sich schämen und überlegen, ob die Leute sie für sehr ungeschickt halten. Wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen wäre, würde sie eher froh sein, dass ihre Freundinnen ihr helfen können, statt sich zu schämen. Die Schambereitschaft wird von der Fähigkeit der Person, neue Bindungen zu knüpfen, moduliert. Ohne die Möglichkeit, abgebrochene Bindungen zu ersetzen, müssen die bestehenden Bindungen besonders gut durch das emotionale Programm der Scham geschützt werden. Verschiedene Kulturen unterscheiden sich darin, wie sehr sie es erlauben, neue Beziehungen aufzubauen. Dadurch unterscheidet sich die Schambereitschaft verschiedener Kulturen aus Sznycers Sicht (2012). Niedriger sozialer Status und Schambereitschaft Aus klinischer Sicht lässt sich mit dieser Theorie herleiten, wie Scham sich etwa bei einer sozialen Phobie oder bei ausgeprägter Misserfolgsangst selbst verstärken kann: Eine stark erhöhte Schambereitschaft führt zu sozialen Kosten und zu noch mehr Scham. Ein niedriger sozialer Status, begleitet von einem überaktiven „Schamprogramm“, erhöht die Gefahr zu vereinsamen. Zusätzlich müssen Individuen mit niedrigem sozialem Status davon ausgehen, dass Informationen über sie im sozialen Umfeld negativer aufgefasst werden als Information über sozial gut eingebundene Menschen. All diese Faktoren verstärken die erhöhte Schambereitschaft weiter und die Person ist noch stärker als zuvor in Gefahr, unnötig soziale Kosten auf sich zu nehmen. Wenn ein Mann mit einem niedrigen sozialen Status einen Strickpullover von vor 20 Jahren trägt, wirkt der Pullover scheußlich und seine Freunde sagen sich, dass er nicht weiß, was modern ist. Wenn jemand mit einem hohen sozialen Status genau die gleiche Kleidung trägt, sieht der Pullover für seine Freunde genauso scheußlich aus, aber hip.

Zusammenfassung

Die Schambereitschaft hängt vom sozialen Status, der Situation und der Möglichkeit, zerbrochene soziale Beziehungen zu ersetzen, ab.

2.1.4 Scham und Misserfolgsangst McGregor und Elliot (2005) überprüften die Annahme Atkinsons (1957), dass Angst vor Scham den Kern der Misserfolgsangst bildet. Sie fanden in ihren Untersuchungen bestätigt, dass Menschen mit Misserfolgsangst nach Misserfolgen mehr Scham empfinden als Menschen ohne relevante Misserfolgsangst. Scham ist mit globalen negativen Bewertungen über die eigene Person verbunden (Tangney 2002). Die Studien von McGregor und Elliot zeigten, dass sich Personen mit starker Misserfolgsangst global abwerten. Sie neigen dazu, ein einzelnes

2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

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Misserfolgserlebnis auf die gesamte Person zu beziehen. Attributionen über den Grund für einen spezifischen Misserfolg sind laut der Studie bei misserfolgsängstlichen Menschen extrem global. Diese Menschen generalisieren nicht nur von dem einzelnen Ereignis auf das Gebiet („Ich habe die Textaufgabe nicht gelöst, weil ich in Mathe nicht gut bin.“), sondern sie generalisieren auf die gesamte Person („Ich bin ein Versager.“). Die Personen mit starker Misserfolgsangst entwerten sich global und befürchten, dass andere sie nach Misserfolgen genauso global abwerten und als gesamte Person ablehnen. Da Misserfolgsängstliche sich in der Folge der Scham stark um Beziehungsabbrüche sorgen, neigen sie dazu, ihre Misserfolge zu verheimlichen. In den Studien von McGregor und Elliot wurden die Sorgen Misserfolgsängstlicher vor Beziehungsabbrüchen ebenfalls bestätigt. Frau J., die Jurastudentin aus dem Fallbeispiel Übermotivation (siehe 1.1.5), berichtete in der Psychotherapie, dass sie beim Lesen für das Staatsexamen ständig vor sich hingemurmelt habe: „Mein Vater bringt mich um“, wenn sie daran dachte, dass sie im Examen durchfallen würde. Sie habe keine körperliche Gewalt befürchtet, aber damit gerechnet, dass ihre Eltern ihr dann nicht zum Geburtstag gratulieren und monatelang nicht mehr mit ihr sprechen würden. Ihrer Schwester hätten die Eltern einmal, als sie von deren Leistungen enttäuscht gewesen seien, eine Trauerkarte zum Geburtstag geschickt. Sie hätten: „Musste das sein?“ darauf geschrieben. Als die Studentin in der Therapie damit kämpft, ihr Sicherheitsverhalten zu stoppen und die Therapeutin sie darauf anspricht, bricht sie in Tränen aus und bittet darum, „noch eine letzte Chance“ zu bekommen, um die Therapie fortzusetzen. Es stellt sich heraus, dass sie glaubt, die Therapeutin sei sehr unzufrieden mit ihr und sehe keinen Sinn mehr in der Therapie. In der Psychotherapie sind die hoch misserfolgsängstlichen Patientinnen und Patienten schambelastet, neigen dazu, ihre Misserfolge, und damit ein zentrales Problem, in der Psychotherapie zu verbergen und befürchten potenziell, dass die Therapie abgebrochen wird, sobald ihre empfundene allgemeine Unfähigkeit sichtbar wird.

Zusammenfassung

Misserfolgsangst erzeugt Scham, globale Selbstentwertung, Angst vor Entwertung durch andere und Angst vor Beziehungsabbrüchen.

2.1.5 Entstehung der Misserfolgsangst in der Biographie Elliot und Thrash (2004) beschreiben, dass Eltern mit Misserfolgsangst dazu neigen, ihren Kindern zu vermitteln, dass Misserfolge um jeden Preis vermieden werden müssen. Misserfolgsangst eines Elternteils geht laut den Studien von Elliot und Thrash mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit misserfolgsängstlicher Kinder einher.

2.2  Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham …

47

Weitere Studien fanden einen Zusammenhang von unsicher gebundenen Kindern und Angst vor Misserfolg (Elliot und Reis 2003). Laut Sokolowski (2001) wird Misserfolgsangst zusätzlich durch Über- oder Unterforderung des Kindes und starken Leistungs- und Konkurrenzdruck in der Schule befördert. Elliot und McGregor (2001) sahen in einer Studie die Hypothese bestätigt, dass ein Erziehungsstil, der allgemein Vermeidungsziele und damit auch Misserfolg als Vermeidungsziel befördere, eine an Kritik und Strafe orientierte Erziehung sei im Gegensatz zu einer Erziehung, die an Belohnung und Unterstützung orientiert sei und deshalb Annäherungsziele befördere (Elliot und McGregor 2001).

Zusammenfassung

Misserfolgsangst kann von Generation zu Generation weitergegeben werden. Ein Risiko, starke Misserfolgsangst auszubilden, besteht, wenn Kinder in der Schule chronisch unter- oder überfordert sind und wenn die Erziehung überwiegend auf Kritik und Strafe ausgerichtet ist.

2.2 Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham, Angst vor Zurückweisung und Selbstwert Wer vor Misserfolgen Angst hat, hat nach Atkinson (1957) Angst davor, beschämt zu werden. Scham hat nach Sznycer (2016) die Funktion, die soziale Integration zu schützen. Die Misserfolgsangst ist also auch gleichzeitig eine Angst vor einer bedrohten sozialen Integration. Nach Heckhausens Selbstbewertungsmodell (1975) dient die Misserfolgsangst dem Schutz des Selbstwertes: Solange keine mangelhaften Fähigkeiten auffallen, ist der Selbstwert nicht bedroht und es gibt keine Gefahr, sich zu schämen oder abgewertet zu werden. Im ersten Beispiel des Urlaubers fällt der Gruppe nicht auf, dass er sich gar nicht zutraut, das komplizierte Gericht zu kochen. Seine (nicht generalisierte) Misserfolgsangst lässt ihn sich gut vorbereiten und schützt ihn vor der Beschämung, die er erfahren hätte, wenn er eine misslungene Mahlzeit serviert hätte. In diesem Fall ist die Misserfolgsangst, so wie die Scham, adaptiv. Wenn die Misserfolgsangst zu stark ist, wie bei dem Mann, der gar nicht erst versucht, ein einfaches Gericht zu kochen, werden Selbstwert und Akzeptanz in der Gruppe nur kurzfristig geschützt, aber langfristig gefährdet.

2.2.1 Need-to-Belong-Theorie und Soziometertheorie Wie hängen die Angst vor Scham und die Angst vor dem Verlust von Beziehungen mit der Angst vor einem reduzierten Selbstwert genau zusammen?

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

Nach der Need-to-Belong-Theorie von Leary und Baumeister (1995) ist das psychologische Bedürfnis nach Zugehörigkeit so zentral, dass andere psychologische Bedürfnisse diesem Bedürfnis untergeordnet sind. In der ­Need-to-Belong-Theorie und in der evolutionspsychologischen Theorie über das System der Scham Sznycers wird betont, dass die Zugehörigkeit zu Gruppen ein grundlegendes, ehemals überlebenswichtiges Bedürfnis ist – die Menschen, die auf sich gestellt waren, waren über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte hinweg vom Tode bedroht. Die Scham hat die Funktion, die Zugehörigkeit zu schützen. Nach Leary und Baumeister hat auch der Selbstwert die Funktion, die Zugehörigkeit zu schützen: Der Selbstwert ist nach der Soziometertheorie, die auf der N ­ eed-to-Belong-Theorie aufbaut (Baumeister und Leary 2000), kein Grundbedürfnis, sondern der Selbstwert hilft, die Beziehungen zu schützen. Der Selbstwert entspricht dabei dem Beziehungswert. Der Selbstwert ist nach der Soziometertheorie eine Art Messinstrument für die wahrgenommene soziale Integration innerhalb einer Gruppe. Der Mann, der das kompliziert zuzubereitende Gericht angekündigt hat, fühlt sich sozial integriert und hat deshalb einen ausreichend guten „Beziehungswert“ oder Selbstwert. Als er sich klarmacht, dass er ein Abendessen angekündigt hat, das ihm vielleicht misslingen wird, fürchtet er, wegen des ungenießbaren Essens vorübergehend etwas weniger anerkannt zu werden. Ein bedrohter oder sinkender Selbstwert löst einen Alarm aus. Der Alarm motiviert dazu, das Verhalten anzupassen, um die Bindungen zu schützen oder sie wieder zu verbessern. Als dem Urlauber klar wird, dass er das angekündigte Gericht – noch – nicht zubereiten kann, fürchtet, er, dass er sich angesichts eines misslungenen Abendessens und seiner hungrigen, unzufriedenen Freunde „schlecht“ – ungenügend – fühlen wird. Von da an ist sein Verhalten darauf ausgerichtet, seine soziale Stellung in der Gruppe zu bewahren: Zuerst kocht er nach einer Ausrede etwas anderes, als seine Ausrede wertlos geworden ist, bereitet er sich gründlich auf das Gericht vor. Ein bedrohter Selbstwert löst Angst vor Beschämung oder Ablehnung aus. Ein sinkender Selbstwert ist die Reaktion auf Scham, Scheitern oder Zurückweisungen und zeigt an, dass die wahrgenommene soziale Integration Schaden genommen hat. Vor einer Handlung wird laut der Soziometertheorie automatisch antizipiert, welche Folgen diese Handlung für die soziale Integration haben könnte. Laut der „Information Threat Theory of Shame“ werden die zukünftigen Handlungen im System der Scham ebenfalls daraufhin überprüft, wie sie sich auf die soziale Integration auswirken. Wenn die Theorien Heckhausens, Sznycers und Leary und Baumeisters zusammengeführt werden, ist ein Ergebnis: Die Scham, der empfundene Verlust von Akzeptanz und ein reduzierter Selbstwert gehen miteinander einher. Der reduzierte Selbstwert signalisiert den empfundenen Verlust an sozialer Integration. Eine Emotion, die damit einhergeht, ist die Scham. Ein Misserfolg kann einen Verlust von Akzeptanz, einen reduzierten Selbstwert und Scham zur Folge haben

2.2  Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham …

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Angst vor den Folgen eines Misserfolgs Angst vor

signalisiert Scham

Empfundener Verlust

signalisiert Verlust an Selbstwert

von Akzeptanz führt zu

führt zu

Abb. 2.1  Folgen eines Misserfolgs

(siehe Abb. 2.1). Sowohl die Misserfolgsangst, die Scham und der Selbstwert können, wenn sie in etwa mittlerer Stärke vorhanden sind, Bindungen schützen. Bei einer generalisierten Misserfolgsangst, einer erhöhten Schambereitschaft und einem niedrigen Selbstwert wird die soziale Zugehörigkeit gefährdet. Wer davon ausgeht, unabhängig von bestimmten Leistungen geliebt und anerkannt zu werden, wird kaum eine starke Angst davor entwickeln, nach einem Misserfolg weniger geliebt und anerkannt zu werden. Die in Kapitel drei und vier dargestellten Interventionen – Motivtraining in Verbindung mit Strategien zur Aufgabenbewältigung – helfen Misserfolgsängstlichen nicht offensichtlich dabei, die soziale Integration zu verbessern, sondern sie helfen dabei, Leistungsstandards besser zu erfüllen und das Kompetenzerleben zu verbessern. Rechnen die Patientinnen und Patienten nach dieser Therapie damit, häufiger Erfolge zu erleben, aber gehen sie weiterhin davon aus, beschämt zu werden, wenn ihnen doch einmal ein Misserfolg unterläuft? Angenommen, der misserfolgsängstliche Urlauber hätte eine Therapie gemacht, in der er gelernt hätte, Aufgaben anders zu bewältigen, Erfolge funktional zu attribuieren und sich über sie zu freuen. Er hätte Gäste eingeladen und kochte zuversichtlich für sie. Beim Auftragen des Desserts würde er bemerken, dass die Creme nicht fest geworden ist. Wäre seine Angst vor Abwertung dann weiterhin so heftig, dass er ohne ein Wort auf die Toilette flüchtete und sich eine halbe Stunde lang nicht mehr hinaustraute? Oder ist das eine absurde Vorstellung und ihm wäre das Missgeschick unangenehm, aber die Angst vor dessen Folgen wäre auf irgendeine Weise gleichzeitig mit der Therapie gemildert worden? Wird die Misserfolgsangst durch mehr Vertrauen in die eigenen Kompetenzen ausreichend vermindert oder wäre es sinnvoller, als Therapie gegen Misserfolgsangst hauptsächlich die wahrgenommene soziale Integration zu verbessern? Wie aber wird die soziale Integration gestärkt? Misserfolgsängstliche Menschen fürchten, wegen ihrer vermeintlichen Unfähigkeit abgelehnt zu werden. Hängt das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen vielleicht sogar mit der sozialen Integration zusammen?

2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

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2.2.2 Selbstbestimmungstheorie Diese Bedingungen für ein sicheres Gefühl der sozialen Zugehörigkeit und damit einen stabilen Selbstwert finden sich in der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1995) wieder. Zusätzlich wird darin auf den Zusammenhang zwischen sozialer Zugehörigkeit, Kompetenzen, Autonomie und dem Selbstwert eingegangen. In der Selbstbestimmungstheorie wird angenommen, dass der Selbstwert sich daraus ergibt, wie drei psychologische Grundbedürfnisse erfüllt werden. Nach der Selbstbestimmungstheorie ist die soziale Integration eines dieser Grundbedürfnisse. Die drei psychologischen Grundbedürfnisse sind das Bedürfnis nach Kompetenz, nach Autonomie und nach sozialer Zugehörigkeit. • Das Grundbedürfnis nach Kompetenz ist erfüllt, wenn ein Individuum davon ausgeht, dass es wichtige Ziele erreichen kann. • Mit dem zweiten Grundbedürfnis, Autonomie, ist in der Selbstbestimmungstheorie gemeint, dass ein Individuum selbstbestimmt, aus eigenem Antrieb, handelt und nicht auf irgendeine Weise dazu gedrängt wird, nach den Vorstellungen anderer zu handeln. • Das dritte Bedürfnis ist das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Dazu gehört, dass andere Menschen für eine Person wichtig sind und umgekehrt. Wenn diese drei Bedürfnisse erfüllt sind, ergibt sich nach der Selbstbestimmungstheorie ein stabiler Selbstwert („true self-esteem“), im Gegensatz zum kontingenten Selbstwert. Wenn eine Person sich sicher zugehörig fühlt und in der Lage ist, selbst gewählte (Autonomie) Ziele zu erreichen (Kompetenzerleben), hat sie einen stabilen Selbstwert. Misserfolgsängstliche Menschen nehmen an, dass sie abgelehnt werden, wenn sie Leistungsstandards nicht erfüllen können. Die Selbstbestimmungstheorie beschäftigt sich mit der Frage, ob für eine als gut wahrgenommene soziale Integration überhaupt Standards gefordert werden oder nicht: Nur die drei psychologischen Grundbedürfnisse zusammen können für einen stabilen Selbstwert sorgen. Sobald Standards ins Spiel kommen, geht die Entwicklung in Richtung eines kontingenten Selbstwerts. Bei der sicheren sozialen Integration dienen die Leistungen der Person nicht bestimmten Standards, sondern dem Gefühl der Kompetenz.

Zusammenfassung

Nach der Selbstbestimmungstheorie gibt es außer dem Grundbedürfnis nach sozialer Integration zusätzlich das Grundbedürfnis nach Kompetenz und das Grundbedürfnis nach selbstbestimmten Handeln – Handeln aus eigenem Antrieb. Wenn diese Grundbedürfnisse erfüllt sind, ist der Selbstwert stabil.

2.2  Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham …

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Autonomie Wenn eine Person sich kompetent fühlt und sozial integriert ist, aber sich ständig gezwungen sieht, Ziele zu verfolgen, die nicht ihren eigenen Motiven entsprechen (extrinsische Motivation), sind die Grundbedürfnisse nach Kompetenz und zum Teil nach sozialer Zugehörigkeit erfüllt, aber nicht das Grundbedürfnis nach Autonomie. Frau J., die Jurastudentin aus dem Fallbeispiel Übermotivation in Kapitel 1, sieht sich, unabhängig von ihren eigenen Bedürfnissen, gezwungen, sehr gute Leistungen zu erbringen, weil sie befürchtet, dass ihre Eltern sonst den Kontakt zu ihr abbrechen. Wenn eine Person sich gezwungen sieht, fremde Ziele zu erfüllen, ist es der Selbstbestimmungstheorie nach wahrscheinlich, dass diese Person einen kontingenten Selbstwert entwickelt: Sie macht ihren Selbstwert an Erwartungen anderer fest und übernimmt diese Erwartungen schließlich. Solche Standards können finanzieller Erfolg, Attraktivität oder Leistung sein. Frau J. hat die Erwartungen an sehr gute Leistungen von ihren Eltern übernommen. Sie hat miterlebt, wie ihre ältere Schwester von ihren Eltern daran gehindert wurde, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten, als ihr Zeugnis nicht den Standards der Eltern entsprach. Wahrscheinlich kennt Frau J. ihre eigenen Bedürfnisse nicht. Aus Angst, an den geforderten Leistungen zu scheitern, überlastet sie sich chronisch. Situationen, in denen jemand sich gedrängt fühlt, die Erwartungen anderer zu erfüllen, sind Situationen, in denen Belohnungen, Liebe und Aufmerksamkeit abhängig vom Erfolg gezeigt werden oder Situationen, in denen gedroht und bestraft wird. Kompetenz Wenn eine Person Ziele aus eigenem Antrieb verfolgt und sozial integriert ist, aber ständig überfordert oder unterfordert, hat sie den Eindruck, nicht kompetent zu sein. Wenn sie unterfordert ist, nimmt sie ihre Erfolge nicht als Ausdruck von Kompetenz war. Frau J. konnte schon im Lauf der ersten Klasse fließend lesen und auf einem guten Niveau rechnen. Sie langweilte sich in der Schule. Ihre Eltern nahmen es als selbstverständlich hin, dass sie immer die besten Leistungen in der Klasse erbrachte. Sie selbst hatte nicht den Eindruck, gerecht benotet zu werden – sie empfand es nicht als „sehr gut“, wenn sie ganz anspruchslose Aufgaben fehlerfrei lösen konnte. Weil das Grundbedürfnis der Kompetenz bei unterforderten Menschen nicht erfüllt ist, sinkt der Selbstwert. Wenn eine Person überfordert ist, fühlt sie sich nicht kompetent, weil sie ihre Ziele nicht erreichen kann. Sokolowski (2001) zufolge (siehe 2.1.5) ist dauernde Über- oder Unterforderung in der Kindheit und Jugend eine der Ursachen für Misserfolgsangst, weil sich darunter kein ausreichendes Gefühl der Kompetenz entwickeln kann.

2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

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Soziale Integration im Zusammenhang mit Autonomie und Kompetenz Die drei psychologischen Grundbedürfnisse sind eng miteinander verflochten. Ohne das Gefühl von Kompetenz ist es nicht möglich, selbstbestimmt zu handeln, und selbstbestimmtes Handeln kann sich hauptsächlich in einer Umgebung, in der sich ein Individuum der Liebe und der Unterstützung unabhängig von Erwartungen anderer sicher ist, entfalten. Wenn autonomes Handeln unterdrückt wird, spielt dabei Zwang eine Rolle. Durch den Zwang ist die soziale Beziehung gestört: Zuwendungen sind an bestimmte Bedingungen geknüpft, die Bindung ist brüchig.

Zusammenfassung

Wenn die drei Grundbedürfnisse gleichzeitig erfüllt sind, kann ein stabiler Selbstwert entstehen. Wenn ein Grundbedürfnis nicht erfüllt ist, werden die beiden anderen Grundbedürfnisse negativ beeinflusst.

2.2.3 Folgerungen aus den dargestellten Theorien für die Psychotherapie Die vorgestellten Theorien in den beiden ersten Kapiteln, das Selbstbewertungsmodell nach Heckhausen, die „Information Threat Theory of Shame“ Sznycers, die beiden Theorien (Need-to-Belong-Theorie und Soziometertheorie) von Baumeister und Leary und die Selbstbestimmungstheorie nach Decy und Ryan zusammen können dabei helfen abzuschätzen, welche therapeutischen Methoden am ehesten eine stabile soziale Integration (beziehungsweise einen funktionalen Selbstwert) unterstützen können. Wenn es möglich ist, die soziale Integration und den Selbstwert zu unterstützen, kann die Misserfolgsangst über diesen Weg gemildert werden (siehe Abb. 2.2). Wer die Prinzipien kennt, die der Entwicklung des Selbstwertes zugrunde liegen, kann den Selbstwert zielgerichtet unterstützen. Zusätzlich können diese Prinzipien psychoedukativ genutzt werden, damit die Patientinnen und Patienten ihren Selbstwert selbst verbessern können. In der Selbstbestimmungstheorie dient die soziale Integration dem stabilen Selbstwert, in der Need-to-Belong-Theorie und in der „Information Threat Theory of Shame“ sichern umgekehrt der Selbstwert beziehungsweise das System der Scham die soziale Integration. Aus evolutionspsychologischer Sicht ist es wichtiger, sozial sicher integriert zu sein, als einen stabilen Selbstwert zu haben. Für die Psychotherapie hat diese Frage kaum praktischen Wert, weil beides auf die gleichen Interventionen hinausläuft. Wenn eine Person sich in ihren Freundschaften einsam fühlt und sich vor allem ein besseres Gefühl der Zugehörigkeit wünscht, kann die Psychoedukation unter der Überschrift „soziale Integration“ stehen, wenn eine Person sich „mehr Selbstbewusstsein“ wünscht, können die gleichen Inhalte als eine Psychoedukation für einen stabilen Selbstwert bezeichnet werden.

2.2  Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham …

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Angst vor den Folgen eines Misserfolgs

Negative Folgen eines Misserfolgs

verringert

verringert

verringert mittlere Schambereitschaft, adaptives System der Scham

verringert Kompetenzerleben und Selbstbestimmung

signalisiert

unterstützt

stärken Als sicher wahrgenommene Zugehörigkeit

stärken signalisiert

führt zu

stabiler Selbstwert

Abb. 2.2  Zugehörigkeit

Soziale Integration Alle therapeutischen Ziele, die soziale Bindungen aufbauen oder positive Bindungen festigen, wirken sich stabilisierend auf den gesunden, funktionalen Selbstwert aus. Positiv sind Bindungen, bei denen alle Beteiligten auf das Wohlergehen der anderen, besonders auf die Bedürfnisse nach Autonomie und Kompetenz, achten (Deci und Ryan 1995). Autonomie Psychotherapien allgemein fördern die Selbstbestimmung, weil sie sich grundsätzlich nach den Werten und Zielen der Patientinnen und Patienten richten. Konflikt zwischen Autonomie und möglichen Zielen in der Psychotherapie Es kann Konflikte zwischen den Zielen der Patientinnen und Patienten geben und den Zielen, die in einer Psychotherapie sinnvollerweise angestrebt werden können. Es gibt viele Möglichkeiten, wie Patientinnen und Patienten sich gezwungen fühlen können, ein anderes Ziel anzugeben als sie eigentlich wollen: Manchmal trauen sie sich nicht anzusprechen, dass sie noch nicht bereit sind, einen Therapieschritt zu gehen, manchmal bezweifeln sie, ob die Mühe und die Verunsicherung, die durch die Veränderung entstehen, sich wirklich lohnen. Patientinnen und Patienten mit Persönlichkeitsstörungen wollen oft nichts an ihrem unangepassten Verhalten ändern – aber von therapeutischer Seite wird angemerkt, dass ohne eine Veränderung keine psychische Besserung in Sicht ist. Frau J. formuliert als spontanes Therapieziel, dass ihr Freund ihr keine Vorwürfe mehr machen solle, wenn sie sich auf ihr Referendariat vorbereitet. Sie habe sich zwar überlastet, aber sie wolle sich nicht im Referendariat blamieren. Sie habe sich auch deshalb überlastet, weil ihr Partner und ihre Freundinnen sie ständig unter Druck gesetzt hätten, etwas „Schönes“ mit ihnen zu unternehmen. Sie wolle jetzt lernen, nein zu sagen.

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

Die Therapie gerät immer wieder in Bereiche, wo die Patientinnen und Patienten gezwungen sind, ihre Ziele zu ändern, um gesünder zu werden und um sich an die Anforderungen der Umwelt anzupassen. Die Therapieziele werden zu Beginn der Therapie besprochen, wenn die therapeutische Beziehung noch nicht gefestigt ist. Manche Patientinnen oder Patienten stimmen aus Angst, sonst keine Hilfe zu erhalten, einem Ziel zu, mit dem sie gar nicht einverstanden sind. Frau J. stimmte während des stationären Aufenthalts dem Therapieziel zu, ihren vermuteten Perfektionismus zu bekämpfen, weil sie gefürchtet hatte, sich sonst bei der Psychologin und dem Stationsarzt unbeliebt zu machen. Als sie nach Hause fahren durfte, um mehr Wäsche zu holen, packte sie ihren E-Book-Reader ein, um auf der Station heimlich ein Lehrbuch durchzuarbeiten. Sie gab vor, darauf einen Roman zu lesen und trug das Lernen als positive Aktivität, als „Roman gelesen“, in ihrem Stimmungstagebuch ein. Wichtig ist, therapeutische Ziele, die von den Zielen der Patientinnen und Patienten abweichen, überhaupt zu identifizieren – etwa mit der Frage, welche von mehreren Zielen vorrangig verfolgt werden sollten und welche eher nachrangig sind. Häufig können die problematischen Ziele, die als vorrangig bezeichnet werden, mit sinnvollen therapeutischen Zielen verbunden werden. In der ambulanten Psychotherapie sagt Frau J., nachdem der Aufbau positiver Aktivitäten vorgeschlagen wird, dass sie weniger unter Druck gesetzt werden möchte, positiven Aktivitäten nachzugehen. Sie könne positive Aktivitäten nicht genießen, solange sie sich ständig frage, wann sie sich auf das Referendariat vorbereiten könne. Sie brauche mehr Verständnis dafür, dass sie sich einarbeiten müsse. Sie brauche, wenn sie mit der Vorbereitung fertig sei, eher etwas Erholung statt noch mehr Aktivitäten. Als ihr die Psychologin nach der Diagnostik ihren Motivkonflikt und das Konzept der Übermotivation nahebringt, ist Frau J. sehr interessiert an der vorgeschlagenen Therapie, weil sie sich dadurch gleichzeitig bessere Leistungen und mehr Erholung erhofft. Wenn die ursprünglichen Ziele der Betroffenen nicht therapeutisch sinnvoll sind, können die neu erarbeiteten Ziele in die vorhandenen Werte und Ziele integriert werden. Die Jurastudentin wird ihr grundsätzliches Streben nach Leistung nicht ändern. Sie ist froh, dass sie darin unterstützt wird, sich effizienter auf das Referendariat vorzubereiten. Anfangs fühlt sie sich von der Therapeutin unter Druck gesetzt, als diese in der Psychoedukation über Depression den Wert positiv verbrachter Zeit hervorhebt. Die Therapeutin lässt Frau J. die Wahl, welches Ziel vorrangig verfolgt wird. Die Studentin entscheidet sich für die effiziente Vorbereitung. Frau J. beginnt später darüber nachzudenken, dass ihre Partnerschaft und ihre Freundschaften sehr wichtig sind und dass sie sich immer wieder vorstellt, wie schön es nach der Einarbeitung im Referendariat sein wird, wenn sie wieder mehr Zeit mit ihrem Partner, mit ihrer Schwester und mit ihren Freundinnen verbringen kann. In der Psychotherapie geht es immer wieder darum, dass Anforderungen und Regeln, die ursprünglich von außen vorgegeben werden, schließlich aus eigenem

2.2  Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham …

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Antrieb umgesetzt werden. Die Patientinnen und Patienten integrieren extrinsisch motiviertes Verhalten, um gesünder zu werden. Integration extrinsisch motivierten Verhaltens Menschen neigen nach Deci und Ryan (1995) besonders dann dazu, extrinsisch motiviertes Verhalten zu internalisieren und in ihr Selbstbild zu integrieren, wenn dieses Verhalten ihnen hilft, in sozialen Situationen gut zurechtzukommen. Frau J. hat die starke Leistungsorientierung ihrer Eltern in ihre eigenen Ziele integriert. So konnte sie als Kind und Jugendliche am ehesten psychisch gesund bleiben. Die Individuen empfinden das ursprünglich fremdbestimmte Verhalten als selbstbestimmt, wenn sie es integriert haben. Auf diese Weise passen sie sich an die Anforderungen der Umwelt an, ohne dass sie das Gefühl von Autonomie aufgeben. Frau J. hat fühlt sich selbstbestimmt, wenn sie nach guten Leistungen strebt. Sie fühlt sich dazu nicht von ihren Eltern gedrängt. Auch wenn sich ihre Eltern theoretisch bei ihren Töchtern für ihre Härte entschuldigen würden und ihnen versicherten, dass sie sich freuten, wenn Frau J. und ihre Schwester ihr Leben mehr genießen würden – selbst dann würde Frau J. ihr Streben nach Leistung nicht plötzlich verlieren. Die Misserfolgsangst könnte in diesem Fall dagegen ein wenig geringer werden. Es gibt verschiedene Abstufungen davon, wie selbstbestimmt extrinsisch motiviertes Verhalten sein kann. Umgekehrt kann sogar ursprünglich selbstbestimmtes, intrinsisch motiviertes, Verhalten seinen ursprünglichen Charakter verlieren, wenn andere so auf das Verhalten reagieren, als hätten sie es erzwungen. Ein Beispiel dafür wäre, wenn ein Kind aus eigenem Antrieb sein Zimmer aufgeräumt hätte und ein Elternteil seine Bemühungen mit „geht doch!“ kommentieren würde. Deci und Ryan führen verschiedene Stufen der Selbstbestimmung für ursprünglich von außen motiviertes Verhalten auf: Wer ein bestimmtes Verhalten zeigt, um ein Lob zu erhalten oder einer Bestrafung zu entgehen, verhält sich nicht selbstbestimmt. Die Jurastudentin verhielt sich nicht selbstbestimmt, als sie während der stationären Therapiein der Kunsttherapie ein Bild malte, das absichtlich nicht perfekt sein sollte. Sie hatte sich nicht getraut zu sagen, dass sie ihren Hang zum Perfektionismus gar nicht bekämpfen wollte. Sie sollte nichts vorzeichnen, nichts ausbessern oder übermalen und dabei sollte sie ihre Gefühle ausdrücken. Sie hätte ihre Gefühle lieber mit etwas besser proportionierten Figuren ausgedrückt. Etwas mehr Autonomie besteht, wenn eine Person Regeln beachtet, weil sie glaubt, dass sich das „so gehört“ oder weil sie sich sonst schuldig fühlen würde. Frau J. war es während der Prüfungszeit wichtig, zum Geburtstag ihres Freundes ein langes Wochenende am Meer mit ihm zu verbringen, weil er sich diesen Kurzurlaub sehr gewünscht hatte. Er hatte sich nicht umstimmen lassen,

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

das lange Wochenende erst nach der Prüfungszeit zu planen. Sie verzichtete sogar während des Aufenthaltes (aber nicht während der Bahnfahrt) auf das Lernen. Sie selbst konnte die Zeit am Meer kaum genießen und bemühte sich, das zu überspielen. Sie hätte sich schuldig gefühlt, wenn sie ihm das Wochenende verdorben hätte, wenn sie dort gelernt oder wenn sie ihre traurige Stimmung gezeigt hätte. Je wichtiger einer Person die Regeln, Werte und Ziele sind, die dem extrinsisch motivierten Verhalten zugrunde liegen, desto freiwilliger zeigt sie das Verhalten und desto selbstbestimmter fühlt sie sich. Frau J. fühlte sich zwar überlastet, aber sie verbrachte sehr gerne Zeit mit ihrem Freund. Sie war bereit, auf seinen Wunsch hin mehr Zeit mit ihm zu verbringen, obwohl sie sich das ihrer Meinung nach eigentlich nicht leisten konnte. Sie lernte nach ihren Treffen einfach für ihr Examen, bevor sie in der Nacht ins Bett ging. Wenn die Person die ursprünglich von außen herangetragenen Werte und Ziele übernommen hat und als die eigenen ansieht, handelt sie autonom. Je stärker selbstbestimmt jemand ist, desto stabiler ist er auch dann motiviert, wenn äußere Einflüsse wegfallen und desto positiver wirkt sich sein selbstbestimmtes Verhalten auf das Selbstbild aus. Im Verlauf der Therapie übernimmt die Jurastudentin die Regel, ihre verschiedenen psychologischen Grundbedürfnisse so weit es geht zu berücksichtigen und ein Gleichgewicht zwischen Pflichten und Erholung zu finden. Lange später noch ist ihr diese Regel sehr wichtig. Deci und Ryan beschreiben die Bedingungen, unter denen Menschen sich besonders gut so an die Anforderungen der Umwelt anpassen können, dass Motivation, Autonomie und Selbstwert unterstützt werden. Wer seine Regeln oder Anforderungen gut begründet, die Gefühle der anderen Person anerkennt, ihre Perspektive einnimmt und ihr so weit wie möglich eine Wahl lässt, statt sie zu kontrollieren, kann die Person dabei unterstützen, extrinsisch motiviertes Verhalten zu internalisieren, sodass sie schließlich selbstbestimmt und gleichzeitig an die Umwelt angepasst handeln kann. Wenn eine Person sich dem Menschen verbunden fühlt, der eine Anpassung einfordert, tut sie sich leichter mit der Integration des eingeforderten Verhaltens. Therapeuten und Therapeutinnen bemühen sich gewöhnlich, diese Bedingungen zu schaffen. In der motivierenden Gesprächsführung werden einige dieser Bedingungen in hohem Maße verwirklicht. Auch ohne explizit Bausteine der motivierenden Gesprächsführung zu verwenden, hilft es in der Psychotherapie, die Elemente, die die Internalisierung besonders unterstützen, zu betonen. Ein Beispiel ist ein Patient, der sich in der Therapiesitzung mit einer Entscheidungsmatrix (Vier-Felder-Schema) beschäftigt. Ohne weitere Erklärungen geht er vielleicht davon aus, dass er sich entscheiden sollte, wenn er das Vier-Felder-Schema fertig ausgefüllt hat – und zwar so, wie es nach der Entscheidungsmatrix zweckmäßig wäre und wie es seine Therapeutin, wie er annimmt, erwartet. In diesem Fall wird er sich gedrängt fühlen, nach der Entscheidungsmatrix zu handeln. Wenn die Therapeutin aber, angelehnt an die Entschlussförderungsintervention nach Margraf und Berking (2005), vorher begründet, warum eine bewusste Entscheidung

2.2  Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham …

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positiv für sein Wohlbefinden sei, wenn sie betont, dass der Patient trotzdem die Wahl habe zwischen einer Entscheidung und keiner Entscheidung und wenn sie ihn darüber informiert, dass er zusätzlich die Wahl habe, sich zu entscheiden wie er will – jede Entscheidung werde akzeptiert, solange sie begründet sei – dann wird er sich selbstbestimmt fühlen – sogar, wenn er sich entsprechend der Entscheidungsmatrix entscheidet. Wenn der Patient sich nicht gedrängt fühlt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er auch Therapieschritte geht, die mit größeren kurzfristigen Nachteilen verbunden sind, viel höher. Abgesehen von den rascheren Therapiefortschritten durch die höhere Motivation unterstützt eine Intervention, die die Autonomie stark betont, den Selbstwert.

Zusammenfassung

In der Psychotherapie gibt es oft Konflikte zwischen ursprünglich genannten und therapeutisch sinnvollen Zielen. Auch dann können die Therapeutinnen und Therapeuten das psychologische Grundbedürfnis der Selbstbestimmung fördern, indem sie den Patientinnen und Patienten explizit die Wahl zwischen verschiedenen möglichen Zielen oder zwischen dem Zustand jetzt und dem Zustand nach einem Veränderungsschritt lassen. Therapeutische Beziehung und Selbstbestimmungstheorie Die therapeutische Beziehung kann als Modell für Beziehungen außerhalb der Therapie dienen: Die Therapeutinnen und Therapeuten unterstützen die Autonomie, und die Beziehung übersteht es, wenn die Patientinnen und Patienten eine andere Meinung haben oder der Therapie nicht immer die höchste Priorität einräumen können. Gute Bindungen erhöhen den Selbstwert. Die Grundhaltung, anderen die Wahl zu lassen und andere Perspektiven und Gefühle anzuerkennen, bahnt an, dass jemand auch außerhalb der Therapie positive Beziehungen sucht, in denen alle Seiten die Autonomie der anderen wertschätzen und sich um deren Wohlergehen sorgen.

Zusammenfassung

Wenn Patientinnen und Patienten wissen, dass wohlwollende Beziehungen ihnen helfen, den Selbstwert zu stabilisieren, sind sie motivierter, ihre Beziehungen zu verändern. In der Therapie kann ein Modell für wohlwollende Beziehungen entstehen. Kompetenzerleben, positive Selbstbewertungen und Ziele In allen gängigen therapeutischen Schulen wird das Vertrauen der Patientinnen und Patienten darin, wichtige Ziele zu erreichen, unterstützt. Explizit geschieht das in übenden Therapieformen wie beispielsweise der Selbstmanagementtherapie. Das Motiv- und Fähigkeitstraining, das in den Kap. 3 und 4 dargestellt

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

wird, unterstützt misserfolgsängstliche Menschen darin, relevante Ziele zu erreichen. Wer seine Ziele erreichen kann, fühlt sich kompetent und erhöht dadurch seinen Selbstwert Nicht jede positive Selbstbewertung ist gesund, sondern nur Selbstbewertungen, die sich auf das eigene Werte- und Regelsystem beziehen. Nach der Selbstbestimmungstheorie unterstützt das Kompetenzerleben nur dann einen stabilen Selbstwert, wenn sich die Kompetenzen auf eine bestimmte Art von Zielen richten. Die Ziele, die einen stabilen Selbstwert fördern, richten sich nach den Grundbedürfnissen und nach den Werten einer Person. Sie haben mit sozialer Zugehörigkeit, Persönlichkeitsentwicklung oder sozialem Engagement zu tun. Die Jurastudentin bewertet das Motiv- und Fähigkeitstraining als eine Psychotherapieform, durch die sie Kompetenzen aufbaut und durch die sie sich insgesamt selbstbestimmter fühlt. Die Kompetenz, effizienter zu arbeiten, sorgt dafür, dass sie mehr Zeit mit Menschen, die sie gern hat, verbringen kann. Positive Selbstbewertungen können dysfunktional sein, wenn sie sich auf Ziele beziehen, die äußere Standards helfen zu erfüllen. Solche extrinsischen Ziele sind etwa materieller Reichtum, Ruhm und körperliche Attraktivität. Vor der Therapie machte Frau J. ihren Selbstwert an sehr guten Leistungen fest und sorgte sich ständig, diese Standards nicht umfassend zu erfüllen. Sie lernte und sorgte sich so viel und verbrachte so wenig angenehme Zeit, dass sie depressiv wurde. Sie gefährdete ihre soziale Integration – ihre Partnerschaft und ihre Freundschaften – weil sie kaum noch Zeit mit Menschen verbrachte, die sie gern hatte. Positive Selbstbewertungen, die sich auf äußere Standards beziehen, führen zu Leid – zu Leid bei anderen Personen und zu eigenem Leid. Das eigene Leid entsteht durch die beständige Sorge, die Standards irgendwann nicht mehr erfüllen zu können. Wenn die Kompetenzen für extrinsische Ziele eingesetzt werden, wird ein dysfunktionaler, kontingenter Selbstwert gefördert. Frau J.s Schwester hat ihrer Mutter vorgeworfen, beide Töchter „kaputt gespielt“ zu haben. Sie selbst hat lange gebraucht, um wieder gesund zu werden und um ihr Leben zu ordnen. Sie hat ihr Abitur nachgeholt, studiert und arbeitet jetzt in einem beratenden Beruf. Sie beklagt sich bei ihrer Mutter, dass sie immer wieder dagegen ankämpfen müsse, sich ungenügend zu fühlen – privat und beruflich. Darum ginge es schließlich auch in Frau J.s Therapie. Die Mutter versucht, ihre Tochter zu verstehen und lässt sich die Therapie ihrer anderen Tochter beschreiben. Später ruft der Vater bei Frau J. an. Er sagt, die Mutter habe ihm von einer Therapie berichtet, durch die Frau J. noch effizienter sehr gute Leistungen erbringen könne. Das höre sich gar nicht schlecht an. Er fragt, ob es möglich sei, dass sie mit diesem Training, klug und fleißig, wie sie sei, alle anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen ausstechen könne, um eine „ganz steile Karriere“ zu starten. So etwas habe er sich immer für sie gewünscht. Frau J. ist gerührt, weil ihr Vater sie zum ersten Mal seit Jahren gelobt hat und enttäuscht, weil ihre Eltern die Probleme ihrer Töchter offenbar nicht verstehen können. Sie begreift, wie unglücklich und einsam ihre Eltern in ihrem Streben danach, andere zu übertrumpfen, sind. Sie haben nur noch sich selbst, sie haben sich mit allen

2.2  Der Zusammenhang zwischen Misserfolgsangst, Scham …

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Bekannten zerstritten und ihre Töchter haben sich ihnen entfremdet. Ihr Vater, ein angesehener Universitätsprofessor, überprüft ständig sein Gedächtnis und sorgt sich um seine Fähigkeit, logisch-schlussfolgernd zu denken. Er sagt häufig: „Ich erhänge mich schon lange bevor ich richtig dement werde.“ Wenn Kompetenzen für intrinsische Ziele eingesetzt werden, wird ein stabiler Selbstwert unterstützt. Die Umgebung begrenzt jedoch oft die Möglichkeit, intrinsische Ziele umzusetzen – die Lebenshaltungskosten sollen bestritten werden, vielleicht sind Kinder zu versorgen, viel Zeit und Energie werden eventuell für eine Arbeitsstelle verbraucht, die wenig dazu beiträgt, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Für einen gesunden Selbstwert können sich die Patientinnen und Patienten auch in vermeintlichen Zwangslagen fragen, wie intrinsische Ziele stärker gewichtet werden können. Kann beispielsweise bei einer eher langweiligen Arbeit das Bewusstsein für das Sinnvolle dieser Tätigkeit, der Beitrag für die Gemeinschaft, verstärkt werden? Gibt es die Möglichkeit, soziale Bindungen auf der Arbeit positiver zu gestalten? Kann sich die Person in irgendeiner Weise in Hinblick auf die Arbeit autonomer fühlen und sei es, dass sie die Entscheidung, die Arbeitsstelle zu behalten, nach ihren Werten und Zielen als die beste aller Möglichkeiten bewusst fällt? In der gleichen Weise können Ziele, die in der Freizeit verfolgt werden, im Hinblick auf den Selbstwert oder das soziale Zugehörigkeitsgefühl überprüft werden. Der Aufbau positiver Aktivitäten wird engagierter verfolgt, wenn die Aktivitäten nicht einfach nur Spaß machen sollen, sondern auch als sinnvoll für den Selbstwert angesehen werden.

Zusammenfassung

Der Selbstwert kann sich stabilisieren, wenn die Kompetenzen für intrinsische Ziele eingesetzt werden. Bei extrinsischen Zielen entsteht eher ein kontingenter Selbstwert. Ziele, die sich auf äußere Standards beziehen, können zu dysfunktionalen positiven Selbstbewertungen führen. Psychoedukation über eine stabile soziale Integration und einen stabilen Selbstwert Die Patientinnen und Patienten können aktiv daran arbeiten, ihren Selbstwert zu stabilisieren, wenn sie über die Prinzipien, die einen funktionalen Selbstwert unterstützen, informiert werden. Wenn sowohl auf der therapeutischen Seite Wert darauf gelegt wird, die Interventionen in die Grundbedürfnisse einzubetten und die Patientinnen und Patienten auch selbst eine Vorstellung davon haben, nach welchen Prinzipien sie ihre Handlungen und Ziele im Hinblick auf den Selbstwert einordnen können, arbeiten beide Seiten am gleichen Ziel. Die Jurastudentin achtet selbständig darauf, ihr Bedürfnis nach Geselligkeit und Zugehörigkeit und ihr Streben nach Leistung in ein Gleichgewicht zu bringen. Sie hat nach dem zweiten Staatsexamen viele Möglichkeiten und entscheidet sich für eine Arbeit, bei der sie im Team arbeitet und eher wenig reine Routineaufgaben erledigen muss. Andere Stellen wären besser bezahlt worden. Sie nimmt

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

eine Stelle in der Nähe ihres Wohnortes an, damit sie weiter viel Zeit mit ihren Freundinnen und ihrem Partner verbringen kann. Sie findet neue Freundinnen und Freunde bei ihrem wieder aufgenommenen Hobby in einem Schachverein. Diese Psychoedukation kann die Diskrepanz von dysfunktionalen Zielen zu dem Ziel, den Selbstwert zu stabilisieren, verdeutlichen. Hilfreich ist diese Psychoedukation zum Beispiel bei einem Patienten mit ängstlichen (vermeidenden) Zügen, der das Ziel einer sozialen Integration ablehnt und über einen mangelnden Selbstwert klagt. Eine Psychoedukation ermöglicht es, diesen Annäherungs-Vermeidungskonflikt in einer Weise zu thematisieren, die gut angenommen werden kann. Es fällt leichter, Diskrepanzen zwischen verschiedenen Zielen zu überwinden, als über problematische Anteile der eigenen Persönlichkeit nachzudenken – vor allem, wenn der Selbstwert ohnehin brüchig ist. Frau J. ist hochbegabt und neigt dazu, Menschen, die ihrer Einschätzung nach durchschnittlich intelligent sind, abzuwerten. Sie behauptet, Gespräche mit ihnen seien uninteressant, weil ihre eigenen Interessen mit solchen Menschen kaum übereinstimmten. Als die Therapeutin anmerkt, dass solche Bemerkungen auch vom Vater der Studentin gefallen sein könnten, ist Frau J. empört. Sie will nicht mit ihrem Vater verglichen werden. Wochen später, als sie sich damit beschäftigt, wie sie ihr Zugehörigkeitsgefühl verbessern könnte, denkt sie darüber nach, dass sie sich oft „anders“ als die anderen fühlt und dass sie die Unterschiede in den Interessen wahrscheinlich übertreibt. Sie habe schließlich nicht vor, mit ihren Freundinnen Differentialgleichungen zu lösen. Wenn sie an anderen Menschen nicht interessiert sei, könne sie die Gemeinsamkeiten gar nicht kennenlernen. Manche Patientinnen und Patienten setzen Selbstwert mit Macht und Egoismus gleich und einen geringen Selbstwert mit Unterordnung, weil sie keine Beziehungen kennen, die auf Gegenseitigkeit, Wohlwollen und der Unterstützung von Autonomie beruhen. Ihnen bleiben die Grundprinzipien solcher Beziehungen fremd. Weil sie diese Prinzipien nicht in ihrer Bedeutung erkennen, können sie das Ziel wichtiger therapeutischer Interventionen nicht erkennen – therapeutische Interventionen, deren Ziel es ist, eigene Bedürfnisse anzusprechen, ohne das Gegenüber zu etwas zu zwingen, Interventionen, deren Ziel es ist, sich als Teil einer großen Gruppe zu sehen oder Interventionen, deren Ziel es ist, die Bedürfnisse anderer zu beachten. Einige setzen Achtsamkeit als entspannendes Vermeidungsverhalten gegen Sorgen ein, statt sich bewusst zu machen, wie sie in die Umwelt eingebettet sind, und manche ärgern sich darüber, dass in Dankbarkeitsmeditationen andere in den Vordergrund gerückt werden, obwohl sie ihre eigenen Bedürfnisse endlich wichtig nehmen wollten und viele können mit der Metta-Meditation ­(Liebende-Güte-Meditation) endgültig nichts mehr anfangen. Selbst bei Therapiebausteinen, bei denen aus therapeutischer Sicht deutlich erkennbar ist, auf welche Weise sie zur Gesundung beitragen, und deren Rational in der Therapie erklärt wurde, ist den Menschen, denen das Prinzip der Grundbedürfnisse fremd ist, der Zusammenhang häufig nicht klar – sei es, Freundschaften aufzubauen oder selbst Entscheidungen zu treffen.

2.3  Therapieresistenz und Misserfolgsangst

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Entscheidungen für langfristige therapeutische Ziele fallen leichter sind fundierter, wenn alle Beteiligten dabei immer gleichzeitig die Grundbedürfnisse und damit den Selbstwert berücksichtigen. Wenn die Patientinnen und Patienten wieder und wieder dazu angeleitet werden, die therapeutischen Interventionen in ihre Grundbedürfnisse einzubetten und Ziele zu verwirklichen, die diese Bedürfnisse unterstützen, werden diese Personen irgendwann die Kompetenzen und die Autonomie anderer etwas besser beachten und sich als ein wenig mehr selbstbestimmt, fähig und sozial eingebunden erleben. Menschen, die sich als selbstbestimmt, fähig und sozial eingebunden erleben, haben wenig Angst vor dem Scheitern.

Zusammenfassung

Wenn die Patientinnen und Patienten über den Zusammenhang zwischen dem Selbstwert und den psychologischen Grundbedürfnissen informiert sind, können sie bestimmte Interventionen besser einordnen als ohne diese Information, und sind motiviert, ihre alltäglichen Aktivitäten und ihre Ziele mit der Selbstbestimmungstheorie abzugleichen.

2.3 Therapieresistenz und Misserfolgsangst In der Psychotherapie kann Therapieresistenz vielfältige Gründe haben. Der häufigste Grund für unglücklich verlaufende Therapien bei Misserfolgsängstlichen ist, dass sie wichtige Aufgaben vermeiden und dass sie es beschämt umgehen, über ihre zentralen Probleme zu sprechen. Vermeidung als Ursache für Therapieresistenz Bei ausgeprägten Vermeidungsschemata wie bei der Misserfolgsangst gibt es keine positiven Ziele oder positive Ziele bleiben abstrakt. Die Selbstwirksamkeitserwartung und damit die Motivation, eine Aufgabe anzugehen, sind gering. Relevante, wichtige Aufgaben, also genau die Vorhaben, die etwas im Leben ändern würden, lösen eine starke Angst aus. Die Patientinnen und Patienten vermeiden aus Angst herausfordernde Aufgaben. Sie befassen sich nur mit Aufgaben, die so leicht sind, dass keine Fortschritte in der Psychotherapie möglich sind. Wenn es keine Fortschritte gibt, zweifeln beide Seiten am Sinn der Therapie: Die einen zweifeln an der therapeutischen Kompetenz des Gegenübers, auf der anderen Seite wird an der Veränderungsbereitschaft gezweifelt. Es ist wahrscheinlich, dass die Therapie deshalb vorzeitig endet. Frau D, die einsame Patientin aus 1.1.1, hat ein abstraktes Therapieziel, ein „normales Leben“. Sie vermeidet alle Vorhaben, die sie gesünder machen könnten (sich über eine Ausbildung informieren, eine ehemalige Freundin anrufen, Expositionen). Sie rechnet nicht mit Verständnis von der Therapeutin. Die Therapeutin merkt, dass sie immer ungeduldiger wird.

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

Scham als Ursache für Therapieresistenz Die misserfolgsängstlichen Menschen verschweigen in der Therapie, dass sie sich als grundsätzlich unfähig sehen. Bei einer starken kognitiven Vermeidung sind ihnen selbst weder die Vermeidung noch die Angst und schon gar nicht die Scham bewusst. Nach Grawe (2004) schließt das kognitive Vermeiden mit ein, dass den Gedanken an das Vermiedene selbst ebenfalls ausgewichen wird. Weil die Therapeutinnen und Therapeuten nicht wissen, dass sich die Betroffenen als unzulänglich sehen, können sie nicht auf ihr zentrales Problem eingehen. Sie haben kaum Möglichkeiten, die Probleme zu verstehen und werden deshalb als wenig verständnisvoll wahrgenommen – und die Interventionen nicht als hilfreich, sondern als bedrohlich. Vorbehalte, dass in der Therapie kein Verständnis möglich sei, Angst vor Abwertung und Schuldgefühle bestimmen die therapeutische Beziehung. Auch die Scham, nicht nur die Vermeidung, macht wahrscheinlich, dass die Therapie abgebrochen wird. Frau J., die übermotivierte Jurastudentin, hat auf der psychiatrischen Station den Eindruck erweckt, sie erfülle die Diagnosekriterien für eine anankastische Persönlichkeitsstörung, weil sie sich zu sehr geschämt hat zuzugeben, dass sie sich als unzulänglich und überfordert sieht und glaubt, nur deshalb depressiv zu sein.

2.3.1 Fallbeispiel (Therapieresistenz) Herr L., 42 Jahre, verheiratet, eine Tochter im Grundschulalter, Diagnosen: depressives Residuum nach schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen. Herr L. wird wegen depressiver Symptome in der psychiatrischen Tagesklinik aufgenommen. Vor über einem Jahr wurde er wegen einer schweren depressiven Episode mit Wahn stationär behandelt. Herr L. ist Sachbearbeiter im öffentlichen Dienst. Eine berufliche Wiedereingliederung hat er sich bisher noch nicht zugetraut. Er befürchtet, bald „ausgesteuert“ zu werden. Die schwere depressive Episode trat auf, nachdem er wegen einiger erkrankter Kollegen in seiner Abteilung sehr viel mehr Arbeit hatte und sich monatelang zusätzlich um seinen kranken Vater gekümmert hatte, bis dieser schließlich starb. Kurz nach dem Tod des Vaters stürzte seine Tochter beim Eislaufen und zog sich einen komplizierten Bruch des Knies zu. Sie wurde mehrmals operiert. Herr L. hatte ihr erlaubt, ohne Schützer eislaufen zu gehen und gab sich die Schuld an der Verletzung. Während der depressiven Episode ging er davon aus, dass alle Menschen ihm ansähen, dass er schuld sei. Er meinte zu hören, wie Fremde über ihn tuschelten und ihn verurteilten. Nach der akuten Krankheitsepisode blieben weiterhin deutliche depressive Symptome zurück. Bei der Aufnahme in der Tagesstation befürchtet Herr L., nie wieder gesund zu werden und nie mehr arbeiten zu können. Er mochte an seiner Arbeit besonders den Austausch mit seinen Kollegen. Jetzt habe er keinen Antrieb mehr und „funktioniere einfach nicht mehr“. Seine Frau sage immer, sie unterstütze ihn, aber irgendwann werde sie sich bestimmt von ihm trennen. Er repariere nichts

2.3  Therapieresistenz und Misserfolgsangst

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mehr am Haus. Der Siphon müsste gewechselt werden, bei der Kinderzimmertür habe sich eine Angel gelöst, dann müsste er schon seit letztem Herbst die Heizung entlüften, was eine Sache von wenigen Minuten sei. Außerdem habe er jetzt im Frühling viele Arbeiten im Garten zu erledigen. Seine Frau liebe ihr Rosenbeet. Er habe, als sie den Garten angelegt hätten, versprochen, ihr beim Rosenschneiden und beim Jäten zu helfen. Die Kaninchen, um die sich hauptsächlich Frau und Tochter kümmerten, bräuchten das Unkraut zum Fressen. Die Reparatur des Kaninchengeheges sei schon seit Wochen überfällig. Wenn ein Marder nachts das Loch entdeckte, würde er die Kaninchen töten. Seine Tochter mache sich deshalb Sorgen. Er selbst habe wenig Bezug zu den Kaninchen, wolle aber für seine Tochter, dass es ihnen gut gehe. Er habe sich schon oft vorgenommen, seine Arbeiten zu erledigen, aber das einzige sei, dass er der Tochter bei den Hausaufgaben helfe. Nach den Hausaufgaben habe er früher häufig mit ihr Karten gespielt. Jetzt verbringe er seine Zeit mit ihr nur noch an der Spielkonsole. Herr L. beklagt Konzentrationseinschränkungen und Merkfähigkeitsdefizite. In der Leistungsdiagnostik gibt es keine Auffälligkeiten. Herr L. bezweifelt, dass das Ergebnis richtig ist. In der Tagesklinik ist Herr L. gesellig und spielt Karten, wenn er gerade keine Therapie hat. Er weiß, wer welche Dienste übernommen hat und erinnert das Team, wenn in der Morgenrunde nicht klar ist, warum jemand fehlt, an die jeweiligen Gründe. Er kennt die Belegung in den Therapiegruppen auswendig und erinnert das Team ungefragt an Organisatorisches, beispielsweise an Vorbereitungen für Ausflüge. Im Gegensatz dazu kann er sich zu Hause weiterhin nicht dazu durchringen, irgendwelche Vorhaben zu erledigen. Hausaufgaben zum Aufbau positiver Aktivitäten erledigt er nicht. Er ist nicht in der Lage, sich schrittweise an Reparaturen heranzutasten. Er wirft dem Team vor, ihm nicht zu helfen. Er erkenne keine Fortschritte in der Therapie. Wenn die Therapeutin den Aufbau positiver Aktivitäten nahelegt, beklagt er sich über ihr mangelndes Verständnis angesichts seines reduzierten Antriebs. Inzwischen hat er sich ausrechnen lassen, wie viel Pension er bekommen würde. Bei dem Gespräch über die Probleme, bei denen es bisher keine Fortschritte gibt, sagt er zur Therapeutin: „Ich weiß, was ich alles machen müsste. Dann mache ich nicht ein klein wenig davon, sondern ich mache gar nichts.“ Die Therapeutin merkt an, dass die Vorhaben, die Herrn L. wichtig sind, ausschließlich Pflichten sind. Sie frage sich, ob es Herrn L. vielleicht besser gehen würde, wenn er Aktivitäten, die ihm früher unmittelbar Freude bereitet hätten, wieder aufnähme. Daraufhin sagt Herr L.: „Wenn die Therapie mir nicht dabei hilft, dass ich wieder funktioniere, dann will ich diese Therapie nicht!“

2.3.2 Therapieresistenz bei Misserfolgsvermeidung Misserfolgsvermeidende nach dem quadripolaren Modell Covingtons und Roberts (1994, siehe Kap. 1) sind in einem Teufelskreis gefangen, in dem sie keine Chance sehen, Fertigkeiten aufzubauen, die ihnen ermöglichen würden, irgendwelche wichtigen Aufgaben zu bewältigen und ihren Selbstwert anders

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

als durch Vermeidung zu schützen. Sie gehen davon aus, dass sie sich ohnehin nicht verändern können und die therapeutischen Interventionen nicht bewältigen werden. Sie sehen die einzige Chance, nicht beschämt zu werden darin, den therapeutischen Aufgaben auszuweichen. Die therapeutische Zusammenarbeit ist dadurch kaum möglich. Verheimlichen der vermeintlichen Unfähigkeit Therapeutinnen und Therapeuten gehen, wenn sie Ziele besprechen oder Interventionen planen, von besseren Fähigkeiten der Patientinnen und Patienten aus als diese selbst. Die Misserfolgsvermeidenden stellen fest, dass ihre eigene Sicht auf ihre Fähigkeiten von der therapeutischen Sicht abweicht und hoffen, dass ihre Unfähigkeit nicht auffallen wird. An dieser Stelle befinden sie sich im Konflikt: Sie möchten die Kritik daran, dass sie Aufgaben ausweichen, beenden und den – aus ihrer Sicht – drohenden Beziehungsabbruch vermeiden. Was sie daran hindert ist, dass sie dabei ihre, wie sie glauben, zutiefst beschämende Unfähigkeit darlegen müssten. Dieser Konflikt ist nicht auf direktem Weg zu lösen. Die misserfolgsvermeidenden Personen sprechen ihr Problem nicht an. Sie versuchen, ihre Bedürfnisse auf indirektem Weg zu erreichen. Die Kommunikation misslingt schließlich. Aktiviertes System der Scham in der Therapie Misserfolgsvermeidender Nach der „Information Threat Theory of Shame“ ist es wahrscheinlich, dass die Misserfolgsvermeidenden gemäß der verschiedenen Funktionen der Scham reagieren, wenn sie sich in der Psychotherapie kritisiert fühlen. Sie wollen die Wirkung der Einschätzung, dass sie wichtige Aufgaben vermeiden, limitieren. Sie ziehen sich zurück und erscheinen nicht zur Sitzung oder antworten mit: „Ich weiß nicht“. Sie beschwichtigen und reden sich aus Fragen heraus, sie ordnen sich in der Therapie unter: Sie versichern, dass ihnen in der Therapie sehr geholfen werde und sie loben die therapeutische Kompetenz. Manche kündigen an, besser zusammenzuarbeiten und bis zum nächsten Mal auf alle Fälle die wichtige therapeutische Intervention umzusetzen. Andere reagieren vorwurfsvoll und aggressiv – etwa mit der Klage, dass von therapeutischer Seite wenig Verständnis für ihren mangelnden Antrieb vorhanden sei. Das zentrale Problem Herrn L.s, die Angst, nie mehr leistungsfähig zu sein, bleibt unausgesprochen. Er beklagt fehlendes Verständnis durch die Therapeutin. Die Therapeutin ärgert sich über eine mangelnde Veränderungsbereitschaft und hat keine Chance zu verstehen, dass es Herrn L. wichtiger ist, für seine Familie zu „funktionieren“ als seine Stimmung zu verbessern.

2.3.3 Therapieresistenz bei Übermotivation Bei Übermotivierten nach dem quadripolaren Modell Covingtons und Roberts (1994, siehe Kap. 1) fallen gravierende Schwierigkeiten erst später in der Therapie auf, weil sie außer Misserfolgsangst auch gleichzeitig Hoffnung auf Erfolg haben.

2.3  Therapieresistenz und Misserfolgsangst

65

Dadurch erarbeiten sie zunächst positive Ziele in einer relativ funktionalen Weise und bewältigen herausfordernde therapeutische Aufgaben. Verheimlichen der vermeintlichen Unfähigkeit durch verstärkte Anstrengung Wenn die Übermotivierten versuchen, ihre chronische Überlastung zu vermindern und wenn sie vorhaben, Aufgaben nur gut und nicht perfekt zu erfüllen, steigt ihre Angst, komplett zu scheitern. Wenn sie in der Therapie auf ihre Belastungsgrenzen achten sollen, wird ihre Möglichkeit, jedes Risiko zu verhindern, eingeschränkt. In ihrer Vorstellung wächst die Gefahr, dass das Ausmaß ihrer bisher gut verborgenen grundlegenden Unfähigkeit offen gelegt wird. Übermotivierte können ihren Aufwand, Misserfolge zu verhindern, nicht ohne weiteres einschränken. An diesem Punkt liegt in der Therapie Übermotivierter das Potenzial für Konflikte. Ähnlich wie in der Therapie Misserfolgsvermeidender stagniert die Therapie hier, und die Therapeutinnen und Therapeuten bezweifeln entweder ihre eigenen fachlichen Fähigkeiten oder die Veränderungsbereitschaft der Übermotivierten. Aktiviertes System der Scham in der Therapie Übermotivierter Auch hier wird das System der Scham aktiviert, wenn in den Fokus rückt, dass die Übermotivierten sich entgegen der therapeutischen Absprachen ständig überlasten. Sie wähnen sich kritisiert und befürchten tendenziell, beschämt, einen Beziehungsabbruch (McGregor und Elliot 2005). Gleichzeitig versuchen sie, ihre vermeintliche Unfähigkeit zu verbergen und damit entsprechend Sznycers „Information Threat Theory of Shame“, negative Informationen über sich zurückzuhalten. Gemäß der Theorie Sznycers versuchen auch sie, den Konflikt zu umgehen, ohne das eigentliche Problem anzusprechen, indem sie sich zurückziehen, beschwichtigen, sich unterordnen, eine bessere Zusammenarbeit ankündigen (was bei Übermotivierten naheliegend ist) oder ­vorwurfsvoll-aggressiv reagieren.

Zusammenfassung

Es ist für beide Gruppen misserfolgsängstlicher Menschen normal, dass sie ohne spezifische therapeutische Interventionen nicht in der Lage sind, in der Therapie Fortschritte zu machen und gesünder zu werden – sie befürchten Kritik und trauen sich aus Scham nicht anzusprechen, dass sie sich als grundsätzlich unfähig ansehen. Der mangelnde Therapiefortschritt und die Probleme, die wir von der therapeutischen Seite her ansprechen, bestätigen ihr vermeintliches Unvermögen.

2.3.4 Brüche des therapeutischen Arbeitsbündnisses Die misserfolgsängstlichen Patientinnen und Patienten sind in der Therapie zum einen überfordert, zum anderen gibt es kaum Möglichkeiten, die Therapie an ihre Bedürfnisse anzupassen, weil sie ihre vermeintliche Unfähigkeit verbergen.

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2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

Konflikt zwischen therapeutischem Fortschritt und therapeutischer Beziehung Von der therapeutischen Seite aus scheint es nur zwei Möglichkeiten zu geben – den therapeutischen Anspruch aufzugeben, um das therapeutische Bündnis zu schützen oder den therapeutischen Anspruch auf Fortschritte auf dem Weg zur Genesung aufrechtzuerhalten und damit das therapeutische Bündnis zu gefährden. In beiden Fällen ist es schwierig, therapeutische Verbesserungen zu erzielen – im ersten Fall, weil es keine positiven Ziele mehr gibt, im zweiten Fall, weil die Betroffenen während der Therapie ständig überfordert und scham- und angsterfüllt sind. In beiden Fällen wird die Therapie wahrscheinlich nicht als hilfreich empfunden. Versuche, das Anspruchsniveau bei Misserfolgsvermeidenden anzupassen oder die Überlastung Übermotivierter zu senken, gefährden die therapeutische Beziehung, weil Therapeutinnen und Therapeuten dadurch als bedrohlich und unempathisch wahrgenommen werden. Brüche der therapeutischen Beziehung Die stagnierende Therapie, die gegenseitigen Zweifel und die schamhaft verschwiegenen Überzeugungen der misserfolgsängstlichen Patientinnen und Patienten führen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu Brüchen des therapeutischen Arbeitsbündnisses: Vorwürfe, Klagen über mangelndes Verständnis, vergessene Hausaufgaben, Ausreden, ausweichende Antworten – das alles sind Brüche der therapeutischen Beziehung. Wenn Brüche des therapeutischen Arbeitsbündnisses nicht gelöst werden, ist es wahrscheinlich, dass die Therapie nicht erfolgreich verlaufen wird. Die Brüche weisen darauf hin, dass Uneinigkeit über die Vorgehensweise und die Ziele der Therapie besteht. Beide Seiten ziehen in unterschiedliche Richtungen und wollen, dass die andere Seite mitzieht. Die therapeutische Beziehung wird emotional belastet. Wenn der Konflikt bestehen bleibt, wird die therapeutische Arbeitsbeziehung wieder und wieder verletzt und die Therapie wird oft vorzeitig abgebrochen (Safran und Muran 2000). Positive Beziehungserfahrung durch reparierte Brüche Brüche der Arbeitsbeziehung bergen die Chance, Konflikte zu lösen, falsche Annahmen über das Gegenüber zu korrigieren, die zugrundeliegenden Überzeugungen und Schemata genauer zu inspizieren und neue Beziehungserfahrungen zu machen. Für die Patientinnen und Patienten ist es eine neue, wertvolle Erfahrung, wenn die andere Person einen Konflikt löst, indem sie nach den Annahmen oder Sorgen fragt, statt Vorwürfe zu machen und wenn sie nach dem Konflikt zugewandt bleibt. Reparierte Brüche sagen deshalb ein positives Therapieergebnis voraus. Alliance Focused Training Safran und Muran entwickelten das Alliance Focused Training, das unabhängig von der Therapieschule hilft, mit Brüchen konstruktiv umzugehen. Sie unterscheiden zwei Arten von Brüchen des therapeutischen Arbeitsbündnisses:

2.3  Therapieresistenz und Misserfolgsangst

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Brüche durch Rückzug (Withdrawal Ruptures) und Brüche durch Konfrontation (Confrontation Ruptures). Bei Brüchen durch Rückzug verschweigen die Patientinnen und Patienten ihre Sorgen oder nicht erfüllten Bedürfnisse in der Therapie. Sie versuchen, nach der Interpretation Safrans und Murans, die therapeutische Beziehung auf Kosten der Autonomie zu schützen. Dabei verleugnen sie Schwierigkeiten, geben auf Fragen kurze Antworten oder vermeiden, über das Problem zu sprechen, indem sie das Thema wechseln. Bei einem Bruch der Arbeitsbeziehung durch Rückzug kommt es vor, dass sie sich in der Therapie extrem unterwürfig, beschwichtigend oder übertrieben rücksichtsvoll verhalten (Coutinho et al. 2011). Herr L. (siehe 2.3.1) erledigt seine therapeutischen Hausaufgaben nicht, weil er ein anderes Ziel hat als das Team: Er will zuerst wieder funktionieren, statt „sinnlos“ etwas zu machen, was ihm gute Laune bereitet. Als er immer wieder Aufgaben zum Aufbau positiver Aktivitäten erledigen soll, protestiert er nicht, sondern „vergisst“ sie. Er will die Beziehung schützen statt zu kritisieren, dass er die Vorschläge nicht hilfreich findet. Bei einem Bruch durch Konfrontation werden Probleme in der therapeutischen Beziehung von den Patientinnen und Patienten in aggressiver Weise geäußert. Vorausgegangen sind den Brüchen durch Konfrontation meistens schon mehrere Brüche durch Rückzug. Herr L. wird immer verzweifelter, je länger das Team immer die gleichen Vorschläge macht. Schließlich wirft er dem Team vor, ihm nicht zu helfen und nicht zu verstehen, wie sehr sein Antrieb reduziert ist. Zuletzt, als die Therapeutin wieder darauf hinweist, dass sie positive Aktivitäten als den richtigen Weg ansieht, zeigt er, dass er ein anderes Ziel hat: „Wenn die Therapie mir nicht dabei hilft, dass ich wieder funktioniere, dann will ich diese Therapie nicht!“ Reparieren der therapeutischen Brüche Typisch für die Brüche der Beziehung ist, dass die zugrundeliegenden Bedürfnisse und Gefühle nicht direkt angesprochen werden. Herauszufinden, was genau das Problem ist, ist Angelegenheit der Therapeutinnen und Therapeuten. Sie haben die Aufgabe, den Gefühlen und nicht erfüllten Bedürfnissen, die zum Bruch geführt haben, auf den Grund zu gehen und für die Gefühle, die zum Bruch geführt haben, Verständnis zu zeigen. Um das zu erreichen, beleuchten sie die Kommunikation in der Therapie näher (therapeutische Metakommunikation nach Safran und Muran). Entscheidend ist, dass sie ihren Anteil am Bruch der therapeutischen Arbeitsbeziehung sehen und Verantwortung dafür übernehmen. Vorbeugend können sie immer wieder fragen, ob die Patientinnen und Patienten mit der jeweiligen Intervention einverstanden sind, sie können eine Wahl zwischen verschiedenen Interventionen anbieten und sie können ihre Interventionen begründen. Parallelen der therapeutischen Brüche zu den Funktionen der Scham Auffällig ist, dass sich die Handlungsmuster, die bei den therapeutischen Brüchen vorkommen, mit den Handlungsmustern, die in der „Information Threat Theory of

2  Misserfolgsangst, Scham, Selbstwert und Therapieresistenz

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Shame“ beschrieben sind, weitgehend decken. Bei beiden Handlungsmustern ist die Intention, einen Beziehungsabbruch zu vermeiden. Verhaltensmuster nach Sznycer, die die sozialen Kosten der negativen Informationen begrenzen, sind auf der einen Seite: sich zurückziehen, sich unterordnen und beschwichtigen oder sich kooperativer als zuvor zeigen (Sznycer et al. 2018). Die gleichen Verhaltensmuster kennzeichnen einen Bruch des therapeutischen Bündnisses durch Rückzug. Die Strategie, durch Aggressionen zu erzwingen, dass die Beziehungen weitergeführt werden, hat Übereinstimmungen mit Brüchen durch Konfrontation, in denen statt Unsicherheit oder Verletzlichkeit (Angst vor einem Beziehungsabbruch) Wut und Ärger gezeigt werden (Safran und Muran 2000). Die Intention bei beiden beschriebenen Handlungsmustern ist, Beziehungen aufrechtzuerhalten – die therapeutische Beziehung beziehungsweise Beziehungen allgemein. Die Emotion, die hilft, die Beziehungen zu schützen, ist die Scham. Die weitgehende Übereinstimmung der beiden beschriebenen Handlungsweisen könnte ein Hinweis darauf sein, dass beide Arbeitsgruppen prinzipiell die gleichen Vorgänge in verschiedenen Kontexten beschreiben: Verhalten, das aus der Scham resultiert, bei Sznycer allgemein betrachtet aus evolutionspsychologischer Sicht und bei Safran und Muran im speziellen Kontext der Psychotherapie beleuchtet.

Zusammenfassung

Bei Misserfolgsvermeidenden führen der Motivationsmangel durch die fehlende Hoffnung auf Erfolg, die Vermeidungsziele, das dysfunktionale Anspruchsniveau und die Scham über die vermeintlich mangelnden Fähigkeiten zur Therapieresistenz. Bei Übermotivierten führen ebenfalls die Vermeidungsziele und die Angst davor, dass ihre vermeintlich mangelnden Fähigkeiten aufgedeckt werden könnten, zur Therapieresistenz. Es ist in der Psychotherapie hoch misserfolgsängstlicher Patientinnen und Patienten häufig, dass aus Scham wichtige Probleme verschwiegen werden, dass das therapeutische Arbeitsbündnis schwach bleibt, dass die Betroffenen nicht gesünder werden und dass nach zahlreichen therapeutischen Brüchen die Therapie vorzeitig beendet wird.

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Therapie der Misserfolgsvermeidung

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Angst vor dem Scheitern in einzelnen Bereichen ist häufig und geht nicht zwingend mit psychischem Leid einher. Wenn eine Person so generalisiert Angst vor Misserfolg hat, dass sie im Alltag ständig Angst hat zu versagen und sich minderwertig fühlt, können ihre Kompensationsmechanismen nach einem gravierenden Misserfolg zusammenbrechen. Dadurch kann die Misserfolgsangst eine psychische Erkrankung begünstigen. Wegen der Motivationsstörung in der Folge der Misserfolgsangst ist es schwierig, die psychische Erkrankung leitliniengerecht zu behandeln. Die hier vorgeschlagene Therapie hilft, die psychische Erkrankung gleichzeitig mit der Misserfolgsangst zu mildern. Die Therapie besteht darin zu verstehen, warum wichtige Ziele nur schwer oder gar nicht erreicht werden, Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten abzubauen, relevante Aufgaben mit Strategien zur Aufgabenbewältigung zu bearbeiten und danach funktionale Attributionen und positive Emotionen für das Erreichte anzubahnen.

3.1 Therapie der Misserfolgsangst als Kombination aus Motivtraining und Strategien zur Aufgabenbewältigung Die Therapie der Misserfolgsangst beruht zum einen auf Motivtrainings auf der Grundlage der Leistungsmotivationsforschung (siehe Kap. 1), die im schulischen, im kinder- und jugendpsychotherapeutischen (Sokolowski 2001) und im beruflichen Kontext erprobt sind und zum anderen auf Problemlösestrategien, beides in einen verhaltenstherapeutischen Kontext eingebettet. Das Motivtraining besteht darin, Zielsetzungsstrategien, Attributionen und Selbstbewertungsemotionen zu verändern (Rheinberg und Engeser 2010, siehe 1.5). Funktionale Ziele sind dabei relevante Aufgaben, die bisher von den Patientinnen und Patienten vermieden © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hollas, Psychotherapie der Misserfolgsangst, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61142-5_3

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

wurden. Das können immer wieder vermiedene positive Aktivitäten sein, wie die immer wieder vermiedene Aufgabe, im Alltag soziale Kompetenzen anzuwenden, vermiedene Prüfungen, vermiedene Bewerbungen, vermiedene Veränderungen im Leben – im Grunde alle vermiedenen therapeutischen Aufgaben für die diagnosebezogene Therapie, wenn als Ursache für das Vermeiden Misserfolgsangst wahrscheinlich ist. Wenn die misserfolgsängstlichen Personen verstanden haben, warum sie wichtige Ziele nicht angehen, können sie dabei unterstützt werden, ihr Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten, ihre Bewertungen und ihre Emotionen zu verändern. Sie lernen, auf verschiedene Vorhaben Problemlösestrategien anzuwenden. Nach der Aufgabe wenden sie funktionale Attributionen an und belohnen sich für ihre Fortschritte. Relevante Aufgaben mit Problemlösestrategien und ohne Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten zu bearbeiten, löst bei misserfolgsängstlichen Individuen viel Angst aus. Deshalb werden rechtzeitig Strategien zum Umgang mit Angst eingeübt. Das Motiv- und Fähigkeitstraining unterstützt einen stabilen Selbstwert, weil es das Kompetenzerleben fördert. Wer kompetent ist, kann besser eigene Ziele erreichen. Dadurch unterstützt dieses Training auch die Selbstbestimmung. Um den stabilen Selbstwert und das Zugehörigkeitsgefühl darüber hinaus zu unterstützen und die Misserfolgsangst über die psychologischen Grundbedürfnisse zu reduzieren, können Therapeutinnen und Therapeuten die Prinzipien, die in Kap. 2 dargestellt wurden, in der Therapie implizit nutzen oder explizit in den Fokus rücken. Ein Therapiebeispiel dafür wird am Ende des 4. Kapitels gebracht.

3.1.1 Fallbeispiel (Misserfolgsvermeidung) Herr S., 35 Jahre alt, geschieden, ein Sohn (6 Jahre alt) mit regelmäßigem Umgang, Speditionskaufmann: • Diagnosen: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, Persönlichkeitsakzentuierung mit ängstlich-vermeidenden Zügen. • Multi-Motiv-Gitter: geringes Streben nach Erfolg (Prozentrang 14) und starke Angst vor Misserfolg (Prozentrang 98), durchschnittlich ausgeprägtes Streben nach Anschluss (Prozentrang 60), starke Angst vor Zurückweisung (Prozentrang 92). • Leistungsdiagnostik: Konzentration, Merkfähigkeit und Intelligenz im durchschnittlichen Bereich. Herr S. lebt allein und hat jedes zweite Wochenende seinen sechsjährigen Sohn zu Besuch. Seine Ehe wurde vor drei Jahren geschieden. Er habe nach der Trennung zwar sehr getrauert, aber er könne verstehen, dass seine Frau ihn verlassen habe. Er habe sich in der Beziehung gehen lassen und sich nicht genug um seine Frau bemüht. Er liebe sie immer noch und hoffe, dass sie irgendwann zu ihm zurück-

3.1  Therapie der Misserfolgsangst …

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komme. Er habe keine Freunde und nur wenige Bekannte. Es sei schwierig für ihn, Freunde zu finden, weil er lange brauche, um Vertrauen zu fassen. Seine Eltern unterstützen ihn, sie seien aber durch seine Probleme belastet. Deshalb erzähle er ihnen möglichst wenig von seinem Leben. Er sei schüchtern und eher misstrauisch, seit er von Klassenkameraden jahrelang verprügelt worden sei. Er sei in seiner Familie sehr behütet worden, er sei unsportlich gewesen, ziemlich klein und dünn. Einige Jungen in seiner Klasse hätten ihn ständig gehänselt und immer wieder geschlagen und getreten. Als er seinen Eltern davon erzählt hätte, seien sie besorgt gewesen und hätten mit der Lehrerin gesprochen, aber die hätte die Übergriffe als „normal“ für Jungen in diesem Alter angesehen. Seine Eltern hätten viel Wert darauf gelegt, dass er sich nur verbal und nicht körperlich wehre. Er hätte ohnehin keine Chance gegen die Anführer in seiner Klasse gehabt. Schließlich habe er es aufgegeben, nach Hilfe zu suchen und habe seinen Eltern nichts mehr erzählt. Zum Glück habe er immer Freunde gehabt, die zu ihm gehalten hätten, aber auch die hätten ihm nicht helfen können. Nachdem er es aufgegeben hätte, etwas an seiner Lage zu ändern, sei er immer fauler geworden und habe immer weniger Durchhaltevermögen gehabt. Schließlich habe er nichts mehr gelernt und keine Hausaufgaben gemacht, das habe keine Konsequenzen gehabt. Seit der Trennung von seiner Frau sei er antriebslos und habe sich zurückgezogen. Seine Freundschaften seien dadurch in die Brüche gegangen. Das seien offenbar nur „Schönwetterfreunde“ gewesen. Er wolle die Freundschaften nicht auffrischen, weil er von seinen ehemaligen Freunden zu enttäuscht sei. Er wolle sich außerdem nicht aufdrängen. Ein Bekannter frage immer wieder, ob sie zusammen ein Bier trinken gehen könnten, aber oft sei seine Stimmung so schlecht, dass er Angst habe, den Bekannten zu langweilen. Dann sage er die Treffen ab. Auf der Arbeit als Speditionskaufmann gehe es ihm schlecht. Die Kolleginnen und Kollegen lästerten übereinander. Er setze sich in den Pausen dazu und unterhalte sich mit den anderen, um nicht negativ aufzufallen. Dabei sei er sehr angespannt. Seine Chefin sei cholerisch. Sie habe ihre Lieblinge, und jederzeit könne es passieren, dass jemand in ihrer Gunst sinke. Dann lasse sie keine Gelegenheit aus, diese Person vor anderen herunterzumachen. Er werde auch regelmäßig von ihr kritisiert, sei aber gerade nicht im Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Auf der Arbeit habe er sich immer schon vor neuen Anforderungen gefürchtet. Jetzt traue er sich gar nichts mehr zu. Inzwischen erledige er nur noch Routineaufgaben und bitte bei allen komplizierteren Aufträgen um Hilfe. Sein Bekannter habe beim Sport von einer Firma erfahren, in der ein Disponent gebraucht werde und in der ein gutes Arbeitsklima herrsche. Davon habe er schon vor einem halben Jahr erzählt. Sein Bekannter habe ihm die Nummer des Angestellten, der von der freien Stelle erzählt habe, gegeben. Herr S. habe immer wieder vergessen, dort anzurufen, bis es ihm schließlich zu peinlich gewesen sei. Er wisse nicht, ob es ihm in einer neuen Firma besser gehen würde. Er habe Angst, dass ihm in der Probezeit gekündigt würde.

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

3.2 Grundprinzipien der Therapie Misserfolgsvermeidender Die hier beschriebenen Denk- Erlebens- und Verhaltensmuster misserfolgsvermeidender Menschen sind die Folgen der generalisierten Misserfolgsangst ohne relevante Hoffnung auf Erfolg. Der Selbstwert ist in der Regel gering, die Schambereitschaft hoch und das Gefühl der sozialen Zugehörigkeit unsicher (siehe Kap. 1 und 2). Zur Vereinfachung bezieht sich dieses Kapitel auf den Pol der Misserfolgsvermeidung im quadripolaren Modell nach Covington und Roberts (1994) und weniger auf die verschiedenen Motivkonstellationen, die nach diesem Modell möglich sind und die in der Realität vorkommen. Einige Individuen am Pol der Misserfolgsvermeidung können ihre Befürchtungen gut überspielen und fallen nur durch ihre dysfunktionalen Pläne, die ihre selbst erlebte Unfähigkeit verbergen sollen, auf. Bei manchen rückt die Angst vor Misserfolg erst nach einer schweren Krankheit in den Vordergrund. Auch Übermotivierte haben phasenweise kaum Hoffnung auf Erfolg und werden dann hauptsächlich von Misserfolgsangst geprägt. Die Therapie der Misserfolgsvermeidung kann, je nach der individuellen Ausprägung der Hoffnungs- und Furchtkomponente des Leistungsmotivs, mit der Therapie der Übermotivation ergänzt werden. Es sollte idealerweise nicht dabei bleiben, die Patientinnen und Patienten durch das Motiv- und Fähigkeitstraining einfach nur leistungsfähiger zu machen. Zusätzlich können alle Interventionen und therapeutischen Ziele danach bewertet werden, ob sie der Selbstbestimmungstheorie zufolge einen funktionalen Selbstwert unterstützen (Deci und Ryan 1995, siehe Kap. 2). Ein gesunder, stabiler Selbstwert ist für Misserfolgsvermeidende schwer zu erreichen, und schon gar nicht innerhalb weniger Monate, aber alle Schritte hin zu diesem Ziel bilden die Grundlage für Hoffnung auf Erfolg ohne relevante Misserfolgsangst. Die stark misserfolgsängstlichen Patientinnen und Patienten empfinden die Therapie selbst als fortwährende Leistungssituation und haben Angst, in der Therapie zu scheitern (siehe Kap. 2). Sie hoffen zwar, dass sich irgendwie etwas verändert, haben aber so viel Angst, in der Therapie abgewertet zu werden, dass sie die Sitzungen wie mit eingezogenem Kopf über sich ergehen lassen. Genauso oft, wie Therapeutinnen und Therapeuten darüber erstaunt sind, wie häufig eine im Grunde leichte Aufgabe überfordernd wirkt, genauso oft sind sie erstaunt, wie häufig die misserfolgsvermeidenden Menschen in der Therapie Angst davor haben, heftig kritisiert zu werden. Wenn bloß nachgefragt wird, wie es ihnen in der Therapie geht, werden sie ihre Scham wahrscheinlich weiterhin tabuisieren. Selbst wenn sie nicht kritisiert werden, nehmen sie an, dass sie stumm missbilligt werden. Erst wenn die Therapeutinnen und Therapeuten auf Situationen achten, in denen sich die misserfolgsvermeidenden Individuen kritisiert wähnen könnten, und wenn sie immer wieder Verständnis für die Probleme ausdrücken – Verständnis für die Angst zu scheitern, Verständnis für die Angst vor Kritik, Verständnis für die Schwierigkeiten, Vorhaben umzusetzen – und wenn sie ihnen helfen, mit den

3.2  Grundprinzipien der Therapie Misserfolgsvermeidender

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Ängsten zurechtzukommen, erst dann können die Betroffenen es wagen, sich den therapeutischen Aufgaben zu stellen. Verständnis zeigt sich auch darin, dass die Therapeutinnen und Therapeuten vor neuen Interventionen erfragen, welche Sorgen angesichts der Aufgabe entstanden sind. Hilfreich ist es, nach der Angst zu fragen, wegen einer falsch erledigten Aufgabe in der Therapie kritisiert zu werden. Aus der Antwort ergeben sich Hinweise darauf, wie die therapeutische Aufgabe verändert werden kann, ob die Aufgabe schon selbstständig bewältigt werden kann oder ob sie besser therapeutisch begleitet werden sollte. Eventuell werden die therapeutischen Aufgaben in der Schwierigkeit angepasst.

Zusammenfassung

Therapeutische Aufgaben werden von Misserfolgsvermeidenden als Konfrontationen wahrgenommen. Die Patientinnen und Patienten befürchten, in der Therapie kritisiert zu werden. Damit sie sich nicht abgelehnt fühlen, ist es wichtig, immer wieder Verständnis zu äußern. Eine Tendenz in der Therapie Misserfolgsvermeidender ist, ihr mangelndes Fähigkeitskonzept zu übernehmen und ihnen nicht zuzutrauen, jemals wichtige Vorhaben umzusetzen. Eine andere Tendenz kann sein, selbst misserfolgsvermeidende Muster in der Therapie zu zeigen. Die gewöhnlich langsamen Fortschritte und die vergeblichen Versuche, therapeutische Interventionen umzusetzen, lassen an den eigenen therapeutischen Fähigkeiten manchmal so sehr zweifeln, dass die Überlegung aufkommt, einzelne Interventionen oder die gesamte Therapie vorzeitig zu beenden. Das therapeutische Vorgehen angesichts der Misserfolgsvermeidung kann als Modell für die Betroffenen dienen. Ungünstig ist ein Verlauf, in dem die Therapeutinnen und Therapeuten nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Therapie zu lenken, aufgeben und therapeutische Aufgaben wieder zurückziehen. Dann erlebt die misserfolgsvermeidende Person sich als „hoffnungslosen Fall“. Ein günstigeres Modell ist, jede therapeutische Aufgabe zu planen, passende Fähigkeiten dafür zu erarbeiten, die Aufgaben in der Schwierigkeit anzupassen und Elemente der Selbststeuerung (Kanfer et al. 2005) einzuführen. Misserfolgsvermeidende können dieses Modell nach und nach übernehmen.

Zusammenfassung

Bei der Therapie kann die Tendenz bestehen, von therapeutischer Seite aus das mangelnde Fähigkeitskonzept der Betroffenen zu übernehmen und auch selbst misserfolgsängstlich bezüglich der Therapie zu werden.

3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

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3.2.1 Behandlungsübersicht Das Ziel der Therapie der Misserfolgsvermeidung ist, zu denken, zu handeln und sich zu fühlen wie eine Person, bei der die Hoffnung auf Erfolg höher ist als die Angst vor Misserfolg – also eine Person, die so selbstbewusst ist, dass sie davon ausgeht, herausfordernde, wichtige Aufgaben zu bewältigen (McClelland und Winter 1969, siehe 1.5).

Übersicht

Ablauf des Motiv- und Fähigkeitstrainings bei Misserfolgsvermeidung • Motivdiagnostik (siehe 1.4) • Psychoedukation • Vorbereiten relevanter Aufgaben – Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten identifizieren und abbauen

• Vorbereiten wichtiger Aufgaben

– Techniken zur Angstreduktion erlernen

• Relevante Vorhaben mit Strategien zur Aufgabenbewältigung bearbeiten • Nachbereiten der Aufgaben – Funktionale Attributionen anwenden – Sich selbst belohnen Zuerst wird den Patientinnen und Patienten mit dem Störungsmodell eine Erklärung für ihre Schwierigkeiten, Ziele zu erreichen, angeboten. Dadurch steigt ihre Motivation, die in der Therapie vorgeschlagenen Strategien anzuwenden und relevante Aufgaben, die sie bisher vermieden haben, anzugehen. Danach identifizieren die misserfolgsvermeidenden Personen ihr Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten und probieren Strategien aus, um Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten abzubauen. In der Therapie werden relevante Aufgaben vorbereitet und bearbeitet (funktionale Zielsetzung). Um die Aufgaben auch zu bewältigen, statt daran, wie befürchtet, zu scheitern, bereiten die misserfolgsvermeidenden Menschen die Aufgaben mit Problemlösestrategien genau vor. Wenn es nötig ist, üben sie vorher neue Fähigkeiten ein oder eignen sich neue Kenntnisse an. Weil sie gerade wegen ihrer Vermeidung wenig Erfahrung mit Problemlösen und Planen haben, werden diese beiden Strategien eingeübt. Auch schon diese Vorbereitung reduziert die kognitive Vermeidung und macht Angst. Die Erfahrung, sich an die Angst zu gewöhnen, negative Emotionen auszuhalten und die Aufgabe auch ohne Sicherheitsverhalten wenigstens teilweise zu bewältigen, macht es erst möglich, selbstständig wichtige Aufgaben anzugehen. Die misserfolgsvermeidenden Personen lernen in der Therapie, nach der bearbeiteten Aufgabe die Gründe für Scheitern oder Gelingen so zu benennen, dass diese Bewertungen ihnen bei den nächsten Aufgaben helfen (funktionale Attributionen). Die misserfolgsvermeidenden Menschen haben meistens

3.3  Psychoedukation bei Misserfolgsvermeidung

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Schwierigkeiten, positiv über sich zu denken. Sie reden ihre Erfolge gewöhnlich klein und wollen sich nicht belohnen. Umso wichtiger ist, Belohnungen zu planen, um die Selbstbewertungsemotionen zu verändern und dadurch die neuen Verhaltensmuster zu etablieren.

3.3 Psychoedukation bei Misserfolgsvermeidung In der Psychoedukation erfahren die Patientinnen und Patienten, dass es noch eine andere Erklärung für ihre Schwierigkeiten, Ziele zu erreichen gibt als ihre vermeintliche Unfähigkeit. Im Teufelskreismodell der Misserfolgsvermeidung lernen sie die kurz- und langfristigen Folgen ihrer Motivkonstellation kennen und beschäftigen sich danach damit, ihr individuelles Störungsmodell zu erarbeiten. Anschließend stellen ihnen die Therapeutinnen und Therapeuten das Behandlungsrational vor. Gewöhnlich empfinden Misserfolgsvermeidende ihr Verhalten als dysfunktional und beschämend. Sie verstehen selbst nicht, warum sie nicht einfach ihre Aufgaben erledigen und damit ihre eigenen Ziele verfolgen. Es kommt vor, dass sie sich selbst als faul bezeichnen. Häufig sind sie erleichtert, wenn sie ihr Verhalten einordnen können. Es ist zu erwarten, dass sie zu Beginn der Therapie noch skeptisch sind, ob sie ihre Probleme wirklich verändern können. Wenn sich in der Motivdiagnostik (Multi-Motiv-Gitter, Sokolowski et al. 2000, siehe 1.4) Hinweise auf eine starke Misserfolgsangst ergeben – oder eine noch moderat starke Misserfolgsangst in der Auswirkung durch eine weit oberhalb der Norm liegende Angst vor Kritik gesteigert wird – empfiehlt es sich, die Diagnostik durch verhaltensnahe diagnostische Elemente zu ergänzen, bei denen die Zielsetzungen überprüft werden können (IQ-Puzzle oder Ähnliches, siehe 1.4). Die Rückmeldung über die Zielsetzungsstrategien veranschaulicht einen Teil des Problems. Diese Rückmeldung kann gleichzeitig der Beginn der Psychoedukation sein. Zu Beginn der Psychoedukation eignet sich ein simples Schema, in dem dargestellt wird, welche Auswirkungen die Misserfolgsvermeidung hat und was das Ziel der Therapie ist. Beispiel (Illustration zum Beispiel siehe Abb. 3.1) Es könnte sein, dass Sie Angst vor Misserfolg haben und dadurch im Leben stark zurückgeworfen werden. Ich möchte Ihnen das mit dieser Zeichnung veranschaulichen. Diese Linie (eine waagerechte Linie zeichnen) soll für den Standard stehen, den Sie eigentlich für angemessen halten. Es scheint so zu sein, dass Sie sich nicht zutrauen, diesen Standard zu erreichen. Sie möchten sich vielleicht nicht immer wieder darüber grämen, dass Sie weniger erreichen als Sie für angemessen halten oder Sie haben Angst vor harscher Kritik – oder beides. Jedenfalls entspricht diese Linie hier (Linie parallel unterhalb der ersten Linie zeichnen) dem, was Sie sich im Moment zutrauen.

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung Fähigkeitskonzept bei Misserfolgsvermeidung

Anspruch an eigene Leistung

Bereich der Fähigkeiten, wenn sie überprüft würden

Aktuelles Leistungsniveau

Abb. 3.1  Fähigkeitskonzept bei Misserfolgsvermeidung

Wahrscheinlich gehen Sie davon aus, dass sich an diesem niedrigen Niveau nichts ändern lässt – aber die Gründe, warum jemand mit Angst vor Misserfolg seine eigenen Standards nicht erreicht, sind gut erforscht. Es gibt Möglichkeiten, die Angst von dem Scheitern zu verringern. Diese Möglichkeiten werden im Sport, im schulischen Kontext oder im beruflichen Umfeld schon lange erfolgreich angewandt. In der Psychotherapie könnte es darum gehen, dass Sie erkennen, warum Sie mit verschiedenen Aufgaben schlechter zurechtkommen als es Ihrer Intelligenz entspricht. Es würde darum gehen, die Angst vor dem Scheitern zu vermindern. Wo, denken Sie, wäre Ihr Leistungsniveau ohne Misserfolgsangst auf dieser Skizze? Können Sie den Bereich auf der Zeichnung zeigen? Durch die Therapie würden Sie sich irgendwo hier im schraffierten Bereich (Bereich um den gezeigten Punkt herum schraffieren) wiederfinden.

3.3.1 Teufelskreismodell der Misserfolgsvermeidung Das hier beschriebene Störungsmodell kann anhand des Teufelskreises veranschaulicht werden (Abb. 3.2). Einleitend können die Therapeutinnen und Therapeuten mit dem Risikowahlmodell nach Atkinson (1957) die Motivationsstörung, die den misserfolgsvermeidenden Menschen oft selbst ein Rätsel ist, erklären. Beispiel Wie sehr jemand motiviert ist, ein Ziel zu erreichen, hängt nicht nur davon ab, wie wichtig einer Person das Ziel ist. Angenommen, ich würde nach England umziehen: Vielleicht fände ich es dann sehr gut, wenn ich akzentfrei Englisch

3.3  Psychoedukation bei Misserfolgsvermeidung

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Teufelskreis der Misserfolgsvermeidung bei wichtigen, herausfordernden Aufgaben Angst vor Misserfolg Antizipierte Scham

Strategien und Fähigkeiten werden nicht aufgebaut

Vermeidungsverhalten

Während der Aufgabe: -Ablenkung durch negative Selbstverbalisationen -Mangelnde Bewältigungsstrategien -Sicherheitsverhalten -Vorzeitiger Abbruch

Scham

Fähigkeiten werden Unterschätzt, Fehlattributionen Misserfolg wahrscheinlich Hoffnungslosigkeit

Keine Erfahrung, dass eigene Fähigkeiten zum Erfolg führen

Abb. 3.2  Teufelskreis der Misserfolgsvermeidung

sprechen könnte. Warum versuche ich dann nicht, das zu erreichen? Ich gehe einfach nicht davon aus, dass ich je ohne Akzent Englisch sprechen kann. Ich habe keine Erwartung, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb habe ich keine Motivation, so gründlich an meiner Aussprache zu feilen. Die Motivation hängt also nicht nur davon ab, wie wichtig das Ziel ist, sondern auch davon, ob ich glaube, das Ziel erreichen zu können. Menschen, die bei sehr vielen Zielen, die ihnen wichtig sind, keine Hoffnung darauf haben, sie zu erreichen, haben keine Motivation, Aufgaben anzugehen und geben bei Schwierigkeiten schnell auf. Je wichtiger ihnen die Aufgabe ist, desto mehr Angst haben sie vor dem Scheitern. Diese Angst raubt zusätzlich die Motivation, Dinge anzugehen. Sachen, die ihnen nicht wichtig sind, können solche Menschen problemlos erledigen. Sie haben deshalb mehr Motivation, etwas Unwichtiges anzugehen als etwas, was ihnen wichtig ist. Sobald etwas wichtig ist, verlässt sie die Hoffnung. Sie schützen sich vor einem Misserfolg, damit schützen sie ihren Selbstwert, aber langfristig können sie ihre Ziele nicht erreichen und verlieren die Hoffnung, selbstbestimmt leben zu können. Wenn die Therapeutinnen und Therapeuten den Teufelskreis der Misserfolgsvermeidung vorstellen, führen sie Beispiele für Vermeidung auf Verhaltensebene und auf kognitiver Ebene an. Beispiel Viele Menschen mit Angst vor dem Scheitern vermeiden es, sich das Vorhaben im Voraus genau vorzustellen. Sie vermeiden es, an bestimmte Punkte zu denken, sie blenden mögliche Probleme aus. Das nennt man gedankliche (kognitive) Vermeidung. Dadurch wird die Angst kurzfristig eingedämmt – die verminderte Angst

3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

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wirkt wie eine Belohnung für die Person. Die Belohnung führt dazu, dass die gedankliche Vermeidung gelernt wird und schließlich ganz automatisch abläuft – auch schon, wenn die Angst vor dem Scheitern noch nicht stark ist. Dann betrifft die gedankliche Vermeidung auch weniger beängstigende, einfache Aufgaben. Je wichtiger die Aufgaben sind, desto stärker ist die Angst vor einem Misserfolg. Bei sehr wichtigen Aufgaben kann die gedankliche Vermeidung so umfassend sein, dass es sich so anfühlt, als würde die Aufgabe einfach vergessen werden. Die Folge der gedanklichen Vermeidung ist, dass die Person sich nicht ausreichend auf ihre Aufgaben vorbereiten kann. Wenn später Hürden während des Vorhabens auftreten, sind sie völlig unerwartet. Wenn im Teufelskreismodell Verhalten und Kognitionen während der Aufgabe besprochen werden, beschreiben die Therapeutinnen und Therapeuten, wie negative Selbstverbalisationen und Sorgen um die negativen Folgen eines Misserfolgs die Konzentration von der Aufgabe ablenken. Sie veranschaulichen die dysfunktionalen Attributionen nach erfolgreichen Aufgaben und die Diskrepanz zwischen den flachen positiven Emotionen nach einem Erfolg und der tiefen Scham und der Hoffnungslosigkeit nach Misserfolgen. Beispiel Wenn sie eine Aufgabe erfolgreich gelöst haben, sagen sich misserfolgsängstliche Personen: „Das war Glück“, oder „Zufällig habe ich das geschafft“, „Die Aufgabe war leicht.“ Kennen Sie das von sich? Wenn die Aufgabe misslungen ist, sehen solche Menschen den Grund in ihren mangelnden Fähigkeiten. Gründe wie: „Ich habe schnell aufgegeben“, berücksichtigen sie nicht. Menschen, die starke Angst vor dem Scheitern haben, unterschätzen ihre Fähigkeiten. Sie haben keine Hoffnung, dass sie sich verbessern können. Deshalb üben sie wichtige Fähigkeiten weniger ein. Jugendliche geben es oft auf, für bestimmte Schulfächer zu lernen. Irgendwann kommen solche Menschen zum Schluss, dass sie „nichts können“. Ihr Selbstwertgefühl sinkt. Die Angst vor Misserfolgen wird immer bestimmender. Misserfolgsvermeidende fühlen sich extrem hilflos und befürchten bei jedem Vorhaben von neuem, daran zu scheitern, solange sie nicht zufällig Glück haben.

Zusammenfassung

Wenn Misserfolge vermieden werden, schützt das den Selbstwert kurzfristig. Wer Misserfolge und Risiken für den Selbstwert generell vermeidet, kann langfristig keine Lebensziele erreichen und der Selbstwert sinkt. Gedankliche Vermeidung vermindert die Angst vor Misserfolg kurzfristig. Mittelfristig verhindert die gedankliche Vermeidung, dass Aufgaben geplant und später bewältigt werden können. Langfristig bewirkt sie deshalb verstärkte Misserfolgsangst. Das Sicherheitsverhalten erhält die Misserfolgsangst aufrecht, indem es verhindert, dass die Betroffenen ihre Befürchtungen überprüfen können. Die Bewertung, dass sie mit erfolgreich bewältigten Aufgaben nur zufällig

3.3  Psychoedukation bei Misserfolgsvermeidung

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zurechtgekommen sind, lässt Misserfolgsvermeidende auch nach Erfolgen weiterhin an ihren Fähigkeiten zweifeln. Sie haben keine Hoffnung, dass sie ihre Fähigkeiten ausbauen könnten.

3.3.2 Psychoedukation zur Scham Die evolutionspsychologische Theorie über die Funktion der Scham und die erhöhte Schambereitschaft hilft, die Misserfolgsangst besser zu verstehen (Sznycer et al. 2018; Sznycer et al. 2016, siehe 2.1). Beispiel Scham ist eine Emotion, die uns dazu befähigt, in Gruppen zu leben. Sie schützt die Beziehung zu anderen Menschen und sorgt dafür, dass wir nicht aus Gruppen ausgeschlossen werden. Wenn wir uns schämen, ist schon etwas passiert, was unseren Status in der Gruppe gefährdet. Deshalb schützen wir uns vor der Scham. Auf Menschen mit Misserfolgsangst bezogen bedeutet das, dass sie Situationen vermeiden, in denen sie Scham befürchten. Sie vermeiden alle Situationen, in denen sie scheitern könnten. Während die Emotion Scham in mittlerer Ausprägung dafür sorgt, den Status in der Gruppe zu bewahren, bewirkt die erhöhte Schambereitschaft das Gegenteil: Wer aus Angst vor der Scham oft Aufgaben oder soziale Aktivitäten vermeidet, gefährdet seine Stellung in der Gruppe massiv.

3.3.3 Beispiel des Störungsmodells anhand einer konkreten Aufgabe Als Beispiel dient eine misserfolgsvermeidende junge Frau, deren Hausärztin nach häufigen Krankschreibungen zu einer Psychotherapie geraten hat. Die Hausärztin erklärt, dass die Patientin bei ihrer Krankenkasse eine Liste mit Psychotherapiepraxen erhalten oder selbst eine Liste über die Webseite der kassenärztlichen Vereinigung ausdrucken könne. Die junge Frau sieht eine Psychotherapie als „letzte Hoffnung“ an. Da die Ärztin gesagt hat, es sei nicht einfach, einen Platz zu bekommen, traut sich die Patientin die Suche nach einem Psychotherapieplatz jedoch nicht zu (Misserfolgsangst angesichts einer wichtigen, herausfordernden Aufgabe). Sie schiebt ihr Vorhaben auf (Vermeidung). Wenn sie zwischendurch kurz an ihre Suche denkt, ist sie angespannt und stellt sich vor, wie die Hausärztin beim nächsten Praxisbesuch nach ihren Fortschritten bei der Therapiesuche fragt und wie die Frau sich dabei schämt. Sie schiebt diese beängstigenden Gedanken wieder weg, bis sie die Aufgabe zunächst vergisst (negative Verstärkung durch kognitive Vermeidung). Als eine gute Freundin ihr die Telefonnummer einer Psychologin, die ihrer Tante gut geholfen habe, gibt, geht die junge Frau davon aus, dass es vielleicht doch nicht so schwer ist, einen Therapieplatz zu finden (Anspruchsniveau niedrig)

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

und ruft direkt nach dem Besuch der Freundin in der Praxis an. Der Anrufbeantworter springt an. Weil die junge Frau es als peinlich empfindet, auf den Anrufbeantworter zu sprechen (erhöhte Schambereitschaft), hört sie sich die Ansage mit den telefonischen Sprechzeiten an und legt wieder auf. Die telefonischen Sprechzeiten liegen in ihrer Arbeitszeit. Die Aussicht, von der Arbeit aus anzurufen, wo sie ohnehin glaubt, wegen der häufigen Fehlzeiten unter Beobachtung zu stehen, empfindet sie als beängstigend. Von der Arbeit aus anzurufen ist ihr „zu kompliziert“. Sie spürt ihr Herz rasen, sie sagt sich, dass sie „nie etwas hinbekommt, noch nicht einmal einen simplen Anruf“. Sie vergisst, die telefonischen Sprechzeiten aufzuschreiben: Die Planung für den nächsten Anruf ist unvollständig, weil die selbstabwertenden Gedanken und die erhöhte Anspannung die Konzentration von der Aufgabe abgelenkt haben. Die junge Frau kommt zum Schluss, dass eine Psychotherapie ohnehin nicht helfen würde (Vermeidung durch Abkehr von einem wichtigen Ziel). Daraufhin sinkt die Anspannung, es geht es ihr schon besser (negative Verstärkung durch Vermeidungsverhalten). Kurze Sorgen darüber, dass es ihr ohne Psychotherapie weiterhin schlecht gehen werde, schiebt sie beiseite. Beim nächsten Besuch bei der Hausärztin schämt sich die junge Frau, als die Ärztin nach ihren Bemühungen um einen Psychotherapieplatz fragt. Sie befürchtet Kritik und sagt, dass sie sich um einen Termin bemüht habe, aber nie jemanden erreicht habe. Ihr gehe es inzwischen schon besser und sie bezweifle, dass eine Therapie helfen würde (Beschwichtigung gemäß dem „Schamprogramm“ und Vermeidungsverhalten). Die Hausärztin schreibt ihr die Webseite der Terminvergabestelle auf. Die junge Frau nutzt, krankgeschrieben, ihre freie Zeit und gibt die Adresse im Computer ein (Lösungsversuch). Dabei denkt sie besorgt an ihren nächsten Termin bei der Hausärztin, die wahrscheinlich wieder nach ihren Fortschritten bei der Suche fragen wird. Sie sieht sich, wie sie beschämt auf ihrem Stuhl zusammensinken wird, weinend, „ein Häufchen Elend“, und wie der Gesichtsausdruck der Ärztin, die sonst empathisch ist, darauf schließen lässt, dass sie ihre „Versager-Patientin“ fallen lassen wird. Sie stellt sich vor, dass die Ärztin die junge Frau nicht mehr krankschreiben wird, solange sie sich nicht um einen Platz kümmert. Die Konzentration ist auf selbstabwertende Gedanken, Scham und auf Angst vor Zurückweisung gerichtet statt auf die Aufgabe. Sie gibt die Adresse falsch ein, überprüft die Schreibweise nicht (fehlende Einsatz von Strategien) und scheitert daran, die Webseite zu finden. Sie gibt ihr Vorhaben, die Website der Terminvergabestelle zu finden, auf. Weil neben der Tastatur noch der Zettel mit der Telefonnummer der empfohlenen Therapeutin liegt, überwindet sich die junge Frau, dort noch einmal anzurufen (niedriges Anspruchsniveau). Die Psychologin hat zufällig gerade telefonische Sprechzeit. Sie teilt der Interessentin mit, dass sie eigentlich keine Termine mehr frei habe. Die junge Frau verfügt über gute Kompetenzen darin, Sympathien zu erwecken und schafft es, die Psychologin zu einem Termin in einem Monat zu bewegen. Die junge Frau ist erleichtert (flache positive Emotionen nach Erfolg), einen Psychotherapieplatz ergattert zu haben, aber

3.3  Psychoedukation bei Misserfolgsvermeidung

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beschämt, dass sie „zu doof ist“, um eine Website zu finden. Sie geht davon aus, einfach Glück gehabt zu haben (dysfunktionale Attributionen) und rechnet nicht mit ein, dass sie ihre Angst überwunden hat, um noch einmal in der empfohlenen Praxis anzurufen, dass sie hartnäckig war, als die Psychologin sagte, dass kein Platz mehr frei sei und dass sie mit ihren guten sozialen Kompetenzen Erfolg hatte (Fähigkeiten werden unterschätzt). Sie schämt sich über ihre Unfähigkeit am Computer und denkt darüber nach, dass sie lebensuntüchtig sei und nie fähig sein werde, etwas Wichtiges zu erreichen, wenn ihr nicht alles, wie heute, in den Schoß falle (Hoffnungslosigkeit, niedriger Selbstwert). Als die Psychologin drei Wochen später eine Nachricht auf den Anrufbeantworter der jungen Frau hinterlässt, weil sie den Termin für das Erstgespräch verschieben muss und darum bittet, eine E-Mail zur Terminabstimmung zu schreiben, zweifelt die junge Frau daran, dass sie eine verständliche Mail mit korrekter Adresse schreiben kann, nachdem sie schon an der Adresse der Webseite gescheitert ist. Sie glaubt, dass sich an ihrer Unfähigkeit nie etwas ändern werde (keine Hoffnung, konkrete Fähigkeiten oder Strategien aufbauen zu können). Sie spürt, wie ihr Herz wieder rast (Angst vor Misserfolg). Sie stellt sich vor, dass die Psychotherapeutin es nicht nachvollziehen könne, wenn sie anruft, statt eine Mail zu schreiben (Angst vor Kritik) und wie sie sich vor ihrer Hausärztin schämen wird, wenn sie den Psychotherapieplatz wieder verliert (Angst vor Scham). Nachdem sie die Mail längere Zeit aufgeschoben hat, überwindet sie sich, ihre Freundin um Hilfe zu bitten. Sie lässt sich von ihr sagen, was sie in der Antwortmail schreiben soll und bittet ihre Freundin, die Mail zu korrigieren (Sicherheitsverhalten).

3.3.4 Individuelles Störungsmodell Nach dem allgemeinen Störungsmodell wird das Erklärungsmodell individualisiert. Dabei ist es sinnvoll, die psychische Erkrankung, wegen der die Behandlung aufgesucht wurde, mit einzubeziehen. So geht etwa eine generalisierte Angst vor einem Misserfolg mit einem kontingenten Selbstwert einher und verhindert, dass der eigene Standard erreicht wird. Wenn bei einem kontingenten Selbstwert der eigene Standard verfehlt wurde, ist eine Depression wahrscheinlich (Schöne et al. 2015, siehe 1.3). Der individuelle Teufelskreis wird anhand mehrerer typischer Situationen erarbeitet, in denen Angst bestand, an wichtigen Anforderungen zu scheitern. Manchmal ergibt sich dabei die Schwierigkeit, dass die Patientinnen und Patienten sich ausschließlich an Situationen erinnern, in denen sie das Vorhaben vorzeitig abgebrochen haben. Es ist möglich, auch anhand der abgebrochenen Aufgaben Vermeidungsverhalten, negative Verstärkung, Sicherheitsverhalten, Attributionen, Selbstbewertungsemotionen und die Folgen für das Fähigkeitskonzept zu erarbeiten. Bei einer sehr starken Misserfolgsvermeidung führen die Betroffenen nur besonders einfache Aufgaben zu Ende.

3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

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3.3.5 Vermittlung des Behandlungsrationals Nachdem das Teufelskreismodell der Misserfolgsvermeidung und das individuelle Störungsmodell besprochen wurden, werden die Punkte, die in dem Abschnitt „Behandlungsübersicht“ genannt wurden, anhand der Abb. 3.3, „Therapie der Misserfolgsvermeidung“, besprochen.

3.4 Zielsetzung und Vorbereiten von relevanten Aufgaben bei Misserfolgsvermeidung Nach der Psychoedukation erarbeiten die misserfolgsvermeidenden Personen zunächst wichtige Annäherungsziele. Diese Ziele helfen dabei, relevante, bisher verschobene, Vorhaben auszuwählen. Die Personen schaffen anschließend die Voraussetzungen, um die Vorhaben später umzusetzen. Sie identifizieren ihr Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten und probieren Strategien aus, um beides zu reduzieren. Zusätzlich lernen sie, ihre Angst so weit zu kontrollieren, dass sie später, beim Bearbeiten der relevanten Aufgaben, handlungsfähig bleiben. Zu Beginn der Psychotherapie sind Patientinnen und Patienten allgemein häufig demoralisiert, ihre Gedanken kreisen um ihre Probleme (Kanfer et al. 2005). Bei Misserfolgsvermeidenden ist die Resignation besonders stark ausgeprägt. Sie haben kaum Hoffnung, wichtige Ziele zu erreichen. Zusätzlich wissen sie oft nicht, welche Ziele für sie passen würden. Wegen ihrer ausgeprägten Vermeidungsschemata haben sie kaum emotionalen Zugang zu ihren Bedürfnissen.

Therapie der Misserfolgsvermeidung

Funktionale Zielsetzung

Hoffnung auf Erfolg, Verbesserte Motivation

Freude, Zufriedenheit, Stolz

(Teil-) Erfolg wahrscheinlich, Erfahrung, dass die eigenen Fähigkeiten zum Erfolg führen

Einüben funktionaler Attributionen, sich selbst belohnen

Relevante Aufgaben mit Problemlösen und Planen vorbereiten, passende Fähigkeiten aufbauen

Abbau von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten

Abb. 3.3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

3.4  Zielsetzung und Vorbereiten von relevanten Aufgaben …

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Vermeidung lässt eine Person nicht spüren, was sie will, sondern nur, was sie nicht will. Weil ihr „Bauchgefühl“ fehlt, der emotionale Zugang zu ihren Bedürfnissen, neigen sie dazu, Annäherungsziele zu wählen, die nicht mit ihrer Motivlage kongruent sind.

3.4.1 Ziel- und Wertklärung Eine Möglichkeit, den Blick auf die Annäherungsziele zu richten, die mit den impliziten und expliziten Motiven kongruent sind, bieten Fragen zur Ziel- und Wertklärung aus der Selbstmanagementtherapie. Dazu dient beispielsweise die 5-Jahres oder die 10-Jahres Frage: „Wenn Ihr Leben bis dahin gut verläuft, wie sieht ein gewöhnlicher Tag in fünf Jahren genau aus? Was machen Sie? Wo sind Sie? Was sind Sie für eine Person?“ Zu dieser Frage gehört der Hinweis, dass auch die kühnsten Wünsche und Träume formuliert werden dürfen. Eine ähnliche Frage ist die, wie das Leben genau aussähe, wenn alle Symptome weggezaubert wären. Diese Übungen werden in dem Buch „Selbstmanagementtherapie“ ausführlich beschrieben (Kanfer et al. 2005). Die Ziel- und Wertklärung bietet eine gute Möglichkeit, Bedürfnisse zu erkennen, Ziele und Zielkonflikte zu klären, Ziele konkret und positiv zu formulieren und sie emotional zu verankern.

Zusammenfassung

Durch die Vermeidungsschemata und die Hoffnungslosigkeit Misserfolgsvermeidender sind Annäherungsziele zunächst schwierig zu erarbeiten. Eine Hilfe dabei kann die Ziel- und Wertklärung aus der Selbstmanagementtherapie sein.

3.4.2 Zielsetzungsstrategien, Wählen relevanter Aufgaben Die Patientinnen und Patienten lernen in der Therapie, wichtige Aufgaben, die sie bisher vermieden haben, anzugehen. Theoriegeleitet müssten für eine funktionale Zielwahl mittelschwere Aufgaben gewählt werden, aber im psychotherapeutischen Alltag ist es nicht möglich, genau abzuschätzen, welche Aufgaben mittelschwer sind – das sind Aufgaben, die mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit bewältigt werden können. Deshalb wird auf wichtige, erreichbare Aufgaben zurückgegriffen, die so herausfordernd sind, dass sie bisher vermieden wurden. Misserfolgsvermeidende Individuen leiden darunter, dass sie wichtige Aufgaben nicht angehen und dass sie ihre Ziele deshalb nicht erreichen können. In der Therapie finden sich deshalb immer einige sehr relevante Aufgaben, die bisher vermieden wurden. Diese Aufgaben sind die Aufgaben, die in der Therapie bearbeitet werden. Der Patient, der als Speditionskaufmann arbeitet, fühlt sich auf seiner Arbeitsstelle im Team nicht wohl und sieht sich von seiner Chefin ungerechtfertigt

3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

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kritisiert. Er führt seine depressiven Symptome auf seine Arbeit zurück. Obwohl es viele Stellenangebote gibt, hat er sich noch nicht auf einen anderen Arbeitsplatz beworben. In der Therapie der Misserfolgsvermeidung wird die Bewerbung als wichtige Aufgabe ausgewählt. Wenn die Personen Aufgaben wählen, die sie wahrscheinlich nicht bewältigen können, fällt das spätestens auf, wenn sie die Strategien zur Aufgabenbewältigung anwenden, das Problemlösen und die differenzierte Planung. Eventuell können die Aufgaben dann in der Schwierigkeit angepasst werden. Es kommt jedoch immer wieder vor, dass die Betroffenen jede Änderung an der ursprünglichen Aufgabe ablehnen. Aufgaben, die zum Scheitern verurteilt sind, wirken nicht therapeutisch (dysfunktionale Zielwahl, keine Erfahrung, dass Anstrengung zum Erfolg führen kann). Häufig führen Patientinnen und Patienten scheinbar zwingende Gründe an, warum sie gerade diese eine Aufgabe in genau dieser Form angehen müssen. Oft hängt es bei diesen angeblich unumgänglichen Aufgaben zusätzlich von anderen ab, ob die Aufgaben bewältigt werden können oder nicht. Solche Konstrukte sind besonders wenig selbstwertbedrohlich, weil die misserfolgsvermeidenden Menschen nach dem Scheitern anderen Personen die Schuld geben können. Mitunter drängen sie darauf, bei diesen Aufgaben therapeutisch begleitet werden, um „überhaupt eine Chance zu haben“. Eine alleinerziehende Mutter, die als Krankenschwester arbeitet und über Überlastung klagt, will sich zum Ausgleich zwei Pferde anschaffen. Davon verspricht sie sich eine wertvoll verbrachte Freizeit mit ihren Töchtern. Sie bezeichnet das als eine Vorbereitung auf den Aufbau positiver Aktivitäten und lehnt positive Aktivitäten, die sie sofort umsetzen könnte, ab. Sie müsse ihre Energien darauf konzentrieren, ihr Vorhaben voranzubringen. Sie bräuchte finanzielle Hilfe, um ein passendes Grundstück zu kaufen und hofft darauf, dass einige gute Bekannte ihr den Stall bauen werden. Außerdem würde sie sich nicht allein um die Pferde kümmern können, dabei müssten die beiden Töchter, jetzt 10 und 12 Jahre alt, und eine gute Freundin regelmäßig einige Stunden pro Woche helfen. Sich klarzumachen, dass solche Projekte sowohl mit als auch ohne therapeutische Hilfe wahrscheinlich scheitern werden, hilft, dem Drängen zu widerstehen. Die Patientinnen und Patienten können darüber informiert werden, dass die therapeutische Begleitung eines voraussehbaren Misserfolgs schädlich wäre und dass schädliche Interventionen in der Therapie keinen Platz haben. Genauso wenig haben sehr leichte und gleichzeitig unwichtige Aufgaben einen Platz in der Therapie – solche Aufgaben zu vereinbaren würde bedeuten, das Sicherheitsverhalten therapeutisch mitzutragen.

Zusammenfassung

In der Therapie werden wichtige Vorhaben, die bisher aufgeschoben wurden, zum Bearbeiten ausgewählt.

3.4  Zielsetzung und Vorbereiten von relevanten Aufgaben …

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3.4.3 Achtsamkeit für Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten aufbauen Eine Voraussetzung, um aus dem Teufelskreis der Misserfolgsvermeidung auszubrechen, ist, sich das Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten bewusst zu machen. Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten haben nicht die Funktion, einen Misserfolg zu verhindern. Sie haben die Funktion, dass die so erlebten mangelnden Fähigkeiten nicht offen gelegt werden – entweder, indem ein Misserfolg nicht auftreten kann, weil die Aufgabe vermieden wird, oder indem ein Misserfolg, wenn er schon passiert ist, nicht auf die mangelnden Fähigkeiten zurückgeführt wird. Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten verhindern also den Rückschluss auf die eigene, vermeintliche Unfähigkeit und nicht einen Misserfolg. Vermeidungsverhalten verhindert den Rückschluss auf die eigenen Fähigkeiten, indem es verhindert, dass Vorhaben begonnen oder zu Ende geführt werden. Sicherheitsverhalten verhindert den Rückschluss auf die eigenen Fähigkeiten, während eine Aufgabe bearbeitet wird. Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten reduzieren die Angst vor Beschämung kurzfristig. Langfristig verhindern sie, dass Ziele erreicht werden. Vermeidungsverhalten Die Patientinnen und Patienten arbeiten in der Therapie die individuellen Vermeidungsstrategien anhand verschiedener Situationen heraus. Beispiele für Vermeidung auf kognitiver Ebene: • das „Vergessen“ von Aufgaben oder wichtigen Vorhaben • das Vermeiden, an drohende Schwierigkeiten bei Aufgaben zu denken (was die Angst steigern würde) und damit verbunden • das Vermeiden, eine Aufgabe schriftlich zu bearbeiten – ohne Aufzeichnungen müssen sich die Betroffenen nur oberflächlich mit der Aufgabe auseinandersetzen (was die Angst vermindert) • die Vermeidung der Misserfolgsangst selbst durch ein dysfunktionales Anspruchsniveau • die Bewertung wichtiger Ziele als „nicht relevant“, wenn Schwierigkeiten auftreten – als Begründung, sich vom Ziel wieder abzuwenden und vorzeitig aufzugeben Beispiele für Vermeidung auf der Verhaltensebene: • das Verschieben von Aufgaben • die Zeit, die für die Aufgaben reserviert war, mit weniger beängstigenden, unwichtigen Aufgaben verbringen • Termine absagen • vorzeitiges Aufgeben. Die kognitive Vermeidung kann so weit führen, dass den misserfolgsvermeidenden Menschen ihre Angst kaum bewusst wird. Viele von ihnen können deshalb keine

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

Situationen nennen, in denen ihre Angst zu Vermeidungsverhalten geführt hat. Sie berichten häufig, ohne einen Zusammenhang zu erkennen, dass sie in Leistungssituationen „plötzlich keine Lust“ haben, obwohl sie sich ursprünglich für ihr Ziel entschieden hatten. In diesem Fall werden sie gebeten, sich zu erinnern, wann sie bei Anforderungen scheinbar grundlos unmotiviert waren. Angesichts des wiederkehrenden Musters wird ihnen gewöhnlich klar, dass sie angesichts der mangelnden Hoffnung, ein Vorhaben umsetzen zu können, wenig motiviert sind. Der depressive Patient, Herr S., hat vor einem Jahr beschlossen, die Arbeitsstelle zu wechseln und nimmt sich seitdem immer wieder vor, sich auf Stellen zu bewerben. Ein Bekannter wollte ihm vor einem halben Jahr eine Stelle in einer kleinen Firma mit offenbar guter Arbeitsatmosphäre vermitteln, aber der Patient „vergaß“ immer wieder, seinen Bekannten anzurufen, bis so viel Zeit vergangen war, dass ihm ein Anruf peinlich gewesen wäre. Es war ihm ein Rätsel, warum er immer wieder vergessen hatte anzurufen. Er hatte sich den Anruf schon oft fest vorgenommen. Wenn er den Anruf einmal nicht vergessen hatte, konnte er sich nicht dazu überwinden, die Nummer einzugeben. Er hatte einfach keine Lust und dachte: „Das ist bestimmt auch nicht besser als die Arbeit jetzt“. Sicherheitsverhalten Sicherheitsverhalten ist während der Aufgaben selbst zu beobachten. Eine sehr leichte und unwichtige Aufgabe zu wählen, kann als Sicherheitsverhalten gesehen werden, weil leichte Aufgaben die Sicherheit bieten zu gelingen und weil unwichtige Aufgaben kaum negative Folgen nach sich ziehen, wenn sie misslingen. Wenn eine Person Angst hat, dass ihre Fehler kritisiert werden, neigt sie zu dem Sicherheitsverhalten, dass sie nur leichte Teilaufgaben erledigt und dass sie sich immer wieder versichert, keinen Fehler zu machen. Sie wird eher ein langsames Arbeitstempo haben, in der Hoffnung, keine Fehler zu machen. Eine Person, die im Gegensatz dazu Angst hat, eine Aufgabe nicht in der vorgeschriebenen Zeit zu bewältigen, wird als Sicherheitsverhalten flüchtig und ungenau arbeiten, um schnell genug zu sein. Eine andere Form des Sicherheitsverhaltens ist Self-Handicapping. Bei ­Self-Handicapping provozieren die misserfolgsvermeidenden Menschen einen Misserfolg so, dass der Misserfolg nicht mit ihrer vermeintlichen Unfähigkeit, sondern mit einer verantwortungslosen Vorbereitung begründet werden kann. Sie beginnen etwa viel zu spät damit, sich vorzubereiten, betrinken sich am Abend vor einer Prüfung oder gehen vor einem wichtigen Vorhaben viel zu spät ins Bett. Ein häufiges Sicherheitsverhalten ist, sich helfen zu lassen. Dabei bitten die misserfolgsvermeidenden Personen um Hilfe, bevor sie die Gelegenheit hatten, eigene Lösungen zu entwickeln. Auf diese Weise verhindern sie erfolgreich den Rückschluss auf ihre Fähigkeiten. Sie setzen sich dabei nicht gründlich mit ihren Aufgaben auseinander und haben keine Möglichkeit, neue Fähigkeiten einzuüben. Der depressive Patient, der sich auf eine andere Stelle bewerben will, ist so verunsichert, dass er nur noch Routineaufgaben erledigt und sich bei schwierigeren Fragen, deren Lösung er eigentlich kennt – Vertretungspläne anpassen, Touren

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ändern – von einer Kollegin helfen lässt. Diese Kollegin hat ihn deshalb kritisiert. Jetzt fühlt er sich noch unsicherer und schiebt kompliziertere Aufgaben auf, statt sich helfen zu lassen. Er traut sich inzwischen nicht mehr, sich zu bewerben, weil er seine Eignung für den Beruf infrage stellt. Einordnen von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten in das individuelle Störungsmodell Das Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten wird im individuellen Teufelskreismodell der Misserfolgsvermeidung eingeordnet. Die Patientinnen und Patienten werden gebeten, im Alltag auf Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten zu achten und sich die Situationen zu notieren. Wenn mit dieser Aufgabe schon in der Therapiestunde begonnen wird, ist die Chance höher, dass sie zwischen den Therapiesitzungen weitergeführt wird. Beispielsweise kann in der Sitzung Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten, das kürzlich aufgetreten ist, protokolliert werden.

Zusammenfassung

Zunächst wird Achtsamkeit für Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten aufgebaut. Vermeidungsverhalten verhindert, dass eine Aufgabe bearbeitet wird. Vermeidungsverhalten wird benannt, analysiert und in das Störungsmodell eingeordnet. Sicherheitsverhalten ist alles Verhalten, das während der Aufgabe einen Rückschluss auf die Fähigkeiten verhindert. Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten sollen den Rückschluss auf die eigenen Fähigkeiten verhindern und führen erst recht zu Misserfolgen. Damit erhalten sie die Störung aufrecht.

3.4.4 Abbau von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten Bei den Menschen, die schon seit der Jugend ausgeprägte Angst vor Misserfolgen haben, sind die Selbststeuerungsfähigkeiten meistens nicht genügend etabliert, um mit (therapeutischen) Aufgaben selbstständig zu beginnen und sie bis zum Ende weiterzuverfolgen. Die Achtsamkeit für Vermeidungsverhalten allein führt nicht dazu, dass das Vermeidungsverhalten endet. Verschiedene Strategien gegen Prokrastination können die Selbststeuerung verbessern. Aufgaben, mit denen die Selbstmanagementfähigkeiten geübt werden, sollten noch keine komplexen Aufgaben sein, wie sie später mit Problemlösen vorbereitet werden, sondern alltägliche Erledigungen, kurze Protokolle für die Therapie oder beispielsweise Atem- und Entspannungsübungen. Im Folgenden werden Strategien zum Abbau von Vermeidungsverhalten dargestellt. Das Sicherheitsverhalten bauen die Patientinnen und Patienten hauptsächlich ab, indem sie die Aufgabe selbstständig bearbeiten und indem sie sich überwinden, selbst nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, statt sich immer wieder bei anderen zu versichern, ob sie alles richtig machen. Je nach dem identifizierten

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Sicherheitsverhalten werden Möglichkeiten, das Sicherheitsverhalten durch funktionales Verhalten zu ersetzen, vorbereitet. Pünktlicher Beginn Eine Aufgabe zu beginnen wird wahrscheinlicher, wenn eine genaue Uhrzeit und ein Ort festgelegt werden. Zusätzlich können die misserfolgsvermeidenden Personen eine Pufferzeit einplanen, damit sie bei kleineren Verspätungen nicht demoralisiert aufgeben. Wenn sie sich die Regel auferlegen, nach einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr an der Aufgabe zu arbeiten, sich also einen Termin setzen, machen sie es unwahrscheinlicher, die Aufgabe zu verschieben. Als Ziel sollte zunächst das pünktliche Beginnen herausgestellt werden und nicht die erfolgreich bewältigte Aufgabe. Die Patientinnen und Patienten werden gebeten, sich für den pünktlich begonnenen Versuch, unabhängig vom Erfolg, zu belohnen (Höcker et al. 2017). Die Betroffenen legen ein Signal für den Beginn der Tätigkeit fest, etwa mit einem Handywecker. Wenige Minuten vor dem geplanten Beginn hilft ein Einstimmungsritual wie zum Beispiel sich einen Kaffee zubereiten (Höcker et al. 2017). Ablenkungen werden reduziert. Tätigkeiten, die schwierig zu beenden sind, sollten nicht vor der geplanten Arbeitszeit liegen. Wenn Aufschieben trotz dieser Interventionen weiterhin ein Problem ist, legen die Patientinnen und Patienten für jeden Tag ein Zeitfenster fest, in dem sie an der Aufgabe arbeiten dürfen. Wenn sie diese nicht innerhalb der festgesetzten Zeit erledigen, können sie erst wieder am nächsten Tag zu der festgesetzten Zeit weiterarbeiten. Als „Belohnung“ für die gut ausgenutzte Arbeitszeit kann die festgesetzte Zeit für die darauf folgende Woche stufenweise verlängert werden. Die Erhöhung der Arbeitszeit ist dabei freiwillig. Dieses Vorgehen dient dazu, die zur Verfügung stehende Zeit „wertvoller“ zu machen, um weniger aufzuschieben und gemäß der Reaktanztheorie die zur Verfügung stehende, „bedrohte“ Zeit zu verteidigen. Wichtig ist, dass sich die misserfolgsvermeidenden Personen diese Regeln selbst auferlegen. Selbstverbalisationen, Imaginationen und Ressourcenaktivierung zum Abbau von Vermeidungsverhalten Hilfreiche Selbstverbalisationen können eingesetzt werden, um mit Vorhaben zu beginnen. Sehr misserfolgsängstliche Individuen bewerten Selbstverbalisationen, die einen Erfolg suggerieren („Du schaffst das schon!“) als unrealistisch. Für sie sind Selbstverbalisationen, die den Vorteil zu beginnen unterstreichen, hilfreicher: „Du kannst es wenigstens versuchen“, oder: „Wenn du jetzt damit anfängst, hast du nachher den Kopf für etwas anderes frei.“ Sie können Selbstverbalisationen, die Mut für die Aufgabe machen, auf eine Karteikarte schreiben und auf den Platz legen, an dem sie die Aufgabe bearbeiten möchten. Eine ressourcenorientierte Möglichkeit, mit Vorhaben zu beginnen, ist die Frage nach Ausnahmen (Willutzki und Teismann 2013): „Wann haben Sie es in der Vergangenheit geschafft, Aufgaben in Angriff zu nehmen, ohne dass Sie dazu von außen gezwungen wurden? Was war da anders als sonst?“ Wenn die Situation

3.4  Zielsetzung und Vorbereiten von relevanten Aufgaben …

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genau beschrieben wurde, kann geklärt werden, welche Bewertungen, welche Strategien zur Emotionsregulation und welches Verhalten konkret dazu geführt haben, dass die Fähigkeit, mit Aufgaben zu beginnen, besser abgerufen werden konnte als gewöhnlich. Problemverschlimmerungsfragen können helfen, die eigenen Anteile bewusst zu machen (Willutzki und Teismann 2013): „Wie könnten Sie es schaffen zu vergessen, das Formular bei der Bank ausfüllen zu lassen, obwohl Sie schon einen Termin zum Abgeben haben verstreichen lassen und das Arbeitsamt jetzt mit Kürzungen gedroht hat?“

Zusammenfassung

Selbstverbalisationen, die unterstützen, mit einer Aufgabe zu beginnen, sind für Misserfolgsvermeidende glaubwürdiger als Selbstverbalisationen, die einen Erfolg suggerieren. Der erste Schritt, Vermeidungsverhalten abzubauen, besteht darin, mit Aufgaben pünktlich zu beginnen. Die Auseinandersetzung mit den Aufgaben ist ein Fortschritt gegenüber der Vermeidung. Sicherheitsverhalten wird abgebaut, indem die Aufgaben entsprechend der Problemlösestrategie und der Planung bearbeitet werden.

3.4.5 Achtsamkeit für negative Selbstverbalisationen aufbauen und Techniken zur Angstreduktion anwenden Um in der Lage zu sein, trotz der Misserfolgsangst Fähigkeiten einzusetzen, bereiten die misserfolgsvermeidenden Personen Strategien zur Angstreduktion (hilfreiche Selbstverbalisationen, Atemübungen, Achtsamkeitsübungen und Entspannungsübungen) vor. Leider vergessen sie oft, wenn sie angespannt sind, diese Strategien einzusetzen. Sie können die eingeübten Techniken gerade dann, wenn sie am nötigsten sind, zunächst noch nicht anwenden. Dadurch entsteht oft ein neuer Misserfolg. Das Ziel in der Anwendung der Techniken zur Angstreduktion ist, sie rechtzeitig anzuwenden, damit die Angst nur moderat steigt. Die Voraussetzung ist, dass die Misserfolgsvermeidenden die Angst rechtzeitig bemerken. Um den Angstanstieg zu bemerken, tragen sie zusammen, welche Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle zu Beginn des Angstanstiegs auftreten und welche bei starker Angst. Die Gedanken, die mit dem Anstieg der Angst verbunden sind, sind üblicherweise negative Selbstverbalisationen, die einen Misserfolg vorwegnehmen. Die Betroffenen denken „Das schaffe ich nie!“ oder „Das gibt mal wieder Ärger“. Wenn sie diese Bewertungen als ungeprüfte und hinderliche Selbstverbalisationen erkennen, ist das der erste Schritt zur Distanzierung. Zu registrieren, wie häufig sie sich entmutigen, wie deutlich die Angst dadurch steigt und wie jedes zielgerichtete Handeln erschwert wird, ist eine wichtige Erkenntnis für die Patientinnen und Patienten. Strategien, um sich von den negativen Selbstverbalisationen zu distanzieren, können als eine Technik zur Angstreduktion verwendet werden. Die Personen ersetzen dabei die negativen

3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

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Selbstverbalisationen durch andere Selbstverbalisationen, die sich positiv auf die Handlungssteuerung auswirken. Funktionale Selbstverbalisationen können sich auf das angezielte Verhalten beziehen („Was ist hier eigentlich der nächste Schritt?“), auf die eigenen Ressourcen („Du kannst erst einmal durchatmen und wenn du dich beruhigt hast, Schritt für Schritt vorgehen“), auf die Fähigkeit, negative Emotionen auszuhalten („Die Angst hast du schon oft ausgehalten. Heute hältst du sie auch aus“) und auf eine angemessen positive Bewertung („Du hast alles nacheinander abgearbeitet. Das hat schon besser geklappt als vorher“).

Zusammenfassung

Negative Selbstverbalisationen leiten einen Angstanstieg häufig ein. Techniken zur Angstreduktion in Verbindung mit funktionalen Selbstverbalisationen können den Patientinnen und Patienten helfen, die Angst zu kontrollieren.

3.5 Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung In diesem Teil der Therapie lernen die Patientinnen und Patienten, Strategien zur Aufgabenbewältigung anzuwenden – Problemlösestrategien und Strategien zur konkreten Planung. Ob sie Strategien zur Aufgabenbewältigung einsetzen oder nicht, macht bei Menschen mit relevanter Misserfolgsangst einen sehr großen Unterschied, weil sie die Strategien zur Aufgabenbewältigung nicht spontan anwenden. Daran hindert sie die kognitive Vermeidung. In der Therapie bereiten sie die relevanten, bisher vermiedenen Aufgaben mit den Strategien zur Aufgabenbewältigung vor und erledigen die Aufgaben dann möglichst ohne Vermeidungsund Sicherheitsverhalten.

3.5.1 Umgang mit verstärkter Angst beim Problemlösen Strategien zur Aufgabenbewältigung lösen starke Angst aus, weil sie Vermeidungsverhalten und Sicherheitsverhalten vermindern. Der Speditionskaufmann grübelt immer wieder darüber nach, wo er sich bewerben könnte. Er weiß nicht, wie er Bewerbungen formulieren soll und stellt sich vor, wie unfähig er im Bewerbungsprozess dastehen würde. Wenn er darüber nachdenkt, hat er den Eindruck, von seinen negativen Gefühlen überwältigt zu werden. Als er eine alte Bewerbung heraussucht, um sie zu aktualisieren, befürchtet er im Widerspruch zu seinen Sorgen vorher, mit seiner Bewerbung erfolgreich zu sein: Dann würde er eine neue Arbeit finden und könnte dort wieder scheitern. Das würde er nicht aushalten. Sobald er sich mit konkreten Schritten für eine Bewerbung beschäftigt (Strategien zur Aufgabenbewältigung), fühlt er

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung

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sich so sehr von Angst vor dem Scheitern und von Scham über seine vermeintliche Unfähigkeit überwältigt, dass er seine Überlegungen abbricht und sich ablenkt. Das Ziel ist, sich gründlich mit der angstauslösenden Aufgabe auseinanderzusetzen und die Angst mit den eingeübten Techniken so weit zu kontrollieren, dass die misserfolgsvermeidenden Personen fähig sind, trotz der Angst Probleme zu lösen und ihre Konzentration weiter auf die Aufgabe zu richten. Dabei lernen sie, dass sie Fähigkeiten haben, um mit der Angst zurechtzukommen. Viele Patientinnen und Patienten fragen sich, warum in der Therapie der Misserfolgsangst einerseits Strategien, die die Angst und die Scham umgehen, als dysfunktional bezeichnet werden (Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten) und dann wieder Strategien eingeübt werden, um die Angst zu reduzieren und der Scham vorzubeugen. Ein leicht zu erklärender Unterschied ist, dass sich die Person bei Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten vom Problem abwendet: Sie „vergisst“ das Problem, beschließt, es erst später zu bearbeiten oder gar nicht, oder sie lässt Teile des Problems von anderen lösen. Dagegen helfen Strategien zur Angstbewältigung, die Angst so weit zu reduzieren, dass die Strategien zur Problembewältigung angewendet werden können. Wenn die Person die Probleme auf diese Weise bewältigt, ist es wahrscheinlich, dass sie zumindest teilweise erfolgreich sein wird. Vor einer geplanten Aufgabe wird geklärt, wie stark die befürchtete Angst ist und wie stark die befürchtete Emotion Scham. Eine Aufgabe, die stark ausgeprägte Scham auslöst, ist nicht therapeutisch.

Zusammenfassung

Alle therapeutischen Interventionen, die Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten vermindern, lösen Angst aus, so wie Problemlösestrategien und das Planen der Aufgaben. Damit die misserfolgsvermeidenden Patientinnen und Patienten ihre Fähigkeiten während der Bearbeitung der Aufgabe selbst abrufen können, sollten sie rechtzeitig lernen, ihre Angst zu regulieren.

3.5.2 Problemlösestrategien Die Problemlösestrategien, die hier vorgestellt werden, beziehen sich nicht nur auf psychische Probleme, sondern sie beziehen sich auf Probleme allgemein. Diese Problemlösestrategien haben Anleihen beim Selbstinstruktionstraining nach Meichenbaum (1977) und der Weiterführung des Selbstinstruktionstrainings von Lauth und Schlottke (2009). Sie haben zum Ziel, die gestörte Handlungsplanung zu verbessern. Das Problemlösetraining zeigt implizit, dass Probleme alltäglich sind und durch Anstrengung überwunden werden können. Wer Problemlösestrategien anwendet, konzentriert sich auf das Problem, statt kognitiv zu vermeiden. Eventuelle Schwierigkeiten werden rechtzeitig berücksichtigt. Die negativen Selbstverbalisationen, die ohne Problemlösestrategien üblicherweise bei Miss-

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

erfolgsängstlichen auftreten und die Handlungsplanung behindern, können hilfreichen Selbstverbalisationen weichen. Die hilfreichen Selbstverbalisationen führen durch die einzelnen Schritte der Problemlösestrategien. Mangelhafte Problemlösestrategien bei Misserfolgsängstlichen und bei Menschen mit psychischen Problemen Bei misserfolgsvermeidenden Personen mit psychischen Problemen ist nicht damit zu rechnen, dass sie Problemlösefertigkeiten ausreichend gut einsetzen. Selbst Patientinnen und Patienten mit psychischen Problemen allgemein, ohne eine starke Misserfolgsangst, weisen insgesamt defizitäre Problemlösefertigkeiten auf (Kosarz 2013). Problemlösestrategien sind ein verhaltenstherapeutisches Standardverfahren. Sie wirken therapeutisch wenig herausfordernd. Bei der Therapie Misserfolgsvermeidender besteht die therapeutische Herausforderung darin, dass die Strategien von den Betroffenen überhaupt umgesetzt und nach und nach selbstständig angewendet werden. Misserfolgsvermeidende verwenden Strategien zum Problemlösen selten bewusst. Sie berichten deshalb nach bewältigten Problemen, dass ihnen „zum Glück irgendwie eine Lösung eingefallen“ sei und neigen dazu aufzugeben, wenn ihnen bei einem anderen Problem spontan keine Lösung einfällt. Bei Kindern, deren Schulleistungen hinter ihren kognitiven Fähigkeiten zurückbleiben, wird beschrieben (Johnson et al. 2010), dass sie vermindert auf metakognitive Fähigkeiten zurückgreifen, kaum planen und organisieren und dabei auch keine Strategien verwenden. Wer metakognitive Fähigkeiten einsetzt, kontrolliert beispielsweise, ob ein Lösungsweg funktioniert und verbessert Fehler. Häufig entwickelten Kinder, die keine Strategien anwenden und deshalb lernschwach sind, Angst vor Misserfolgen (Lauth et al. 2014). Schülerinnen und Schüler, die erfolgreich lernen – entsprechend ihrer kognitiven Fähigkeiten (Guldimann und Lauth 2014) – gehen bewusster an Aufgaben heran und analysieren ihre Lösungen gründlich. Diese Beschreibungen entsprechen den Beobachtungen der Studie Covingtons und Roberts (1994) über das ineffektive Lernen Misserfolgsvermeidender und Übermotivierter. Vorgehen beim Problemlösetraining Bei Problemlösestrategien im schulischen und im therapeutischen Kontext werden das eigentliche Problemlösen, die Entscheidung für eine Lösung, das Planen, das Ausführen und die Bewertung meistens als eine einzige Intervention behandelt. All diese Schritte sind bei starker Misserfolgsangst schwierig. Sie machen einen wichtigen Teil der Therapie aus. Deshalb werden Problemlösen und Planen hier separat behandelt. Solange die Patientinnen und Patienten bei dem Problemlösetraining sehr angespannt und ängstlich sind, werden sie therapeutisch begleitet. Erst wenn die Angst beim Anwenden deutlich gesunken ist, können diese Strategien ohne Begleitung ausgeführt werden. Häufig ist bei den ersten Vorhaben das zu lösende Problem, mit der Aufgabe trotz der Angst zu versagen überhaupt zu beginnen.

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung

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Herr S., der Speditionskaufmann, bearbeitet zuerst im Problemlösetraining, wie er es schafft, mit seiner Verzweiflung und seinen selbstabwertenden Gedanken umzugehen, wenn er sich konkreter mit seiner Bewerbung beschäftigt. Er beschäftigt sich mit Möglichkeiten, die Anspannung schon vor der Beschäftigung mit seiner Aufgabe zu reduzieren und damit, wie er sich emotionalen Beistand sichern kann. Erst dann ist er in der Lage, überhaupt mit seinem Vorhaben zu beginnen. Die Problemlöseschritte Übersicht

Problemlösen bei Misserfolgsvermeidung • Problembeschreibung • Lösungsmöglichkeiten sammeln • Entscheidungsvorbereitung • Lösungen auswählen und Hindernisse beachten • Ausgewählte Lösung übersichtlich darstellen Zunächst wird das Problem möglichst genau beschrieben. Fragen zu besonderen Schwierigkeiten und zum Ziel, das erreicht werden soll, dienen dazu, das Problem weiter einzugrenzen. Außerdem wird dazu aufgefordert, sich gründlich damit zu befassen, was die Aufgabe ist. Dabei kann helfen, das Problem in Teilprobleme zu untergliedern. Erfahrungen mit ähnlichen Problemen werden herangezogen. Danach sammeln die misserfolgsvermeidenden Personen Lösungsmöglichkeiten. Dabei sollen keine Möglichkeiten verworfen werden. Alle möglichen Alternativen, auch welche, die offensichtlich nicht möglich sind oder unmoralisch oder „eine mystische Qualität aufweisen“, fördern den kreativen Prozess und bremsen hemmende Emotionen wie beispielsweise Angst. Auch Möglichkeiten, die sich vermeintlich ausschließen, sollten berücksichtigt werden (Schöttke 2010), um Entweder-oder-Denken zu begrenzen und um mehrere Alternativen miteinander zu verbinden. Der nächste Schritt ist die Entscheidungsvorbereitung. Dieser Schritt soll den negativen Einfluss von starren Denkmustern, bloßen Annahmen und von Vermeidungsschemata reduzieren. Erst danach wählen die Personen die Lösungsmöglichkeiten aus. Um die kognitive Vermeidung zu reduzieren, beschäftigen sie sich bewusst mit eventuellen Hindernissen. Jedes Hindernis wird als ein neues Problem betrachtet und wiederum mit der Problemlösestrategie bearbeitet. Um die verschiedenen Lösungsideen zu bewerten, fragen sich die Patientinnen und Patienten, welche Folgen eine Lösungsidee hätte. Diesen rationalen Zugang gleichen sie mit einem emotionalen Ansatz ab. Gegen Ende schätzen sie ein, ob eine mindestens 80-prozentige Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie die Lösungsmöglichkeit umsetzen. Wenn die Wahrschein-

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

lichkeit niedriger ist, sollten entweder andere Lösungen für die Hürden gefunden werden oder die Aufgabe ist zu schwer. Entweder kann sie abgemildert werden oder es ist noch nicht an der Zeit, sie anzugehen. Schließlich werden alle Teilaufgaben übersichtlich dargestellt, um zu überprüfen, ob für alle Hindernisse Lösungen gefunden wurden. Diese Liste ist das Ausgangsmaterial für die weiteren Therapieschritte. Neben jede Teilaufgabe schreiben die Betroffenen die eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, diese Teilaufgabe tatsächlich umzusetzen. Misserfolgsvermeidende werden von therapeutischer Seite bei dem Problemlösen immer wieder daran erinnert, die Höhe ihrer Angst zu registrieren und bei starkem Stress Techniken zur Angstreduktion zu verwenden. Die Fragen, die durch das Problemlösen führen, können als handlungssteuernde Selbstverbalisationen genutzt werden. Dabei bietet es sich an, die einzelnen Handlungsschritte zunächst laut vor sich hinzusprechen und später die einzelnen Schritte nur noch stumm zu formulieren. Dysfunktionale Selbstverbalisationen fallen, wenn sie ausgesprochen werden, schneller auf und können hinterfragt werden. Vorbereitete Sätze wie „Was ist jetzt der nächste Schritt?“ oder „Jetzt mache ich einfach weiter“ können die Selbstverbalisation weiter unterstützen.

3.5.3 Anleitung zum Problemlösen (erster Teil) 1. Problembeschreibung Was ist das Problem? Welches Ziel will ich erreichen? Welches Hindernis muss ich überwinden, um das Ziel zu erreichen? Welche Informationen, die mir helfen könnten, stehen mir zur Verfügung? Was habe ich versucht, um das Problem zu lösen? Warum hat es nicht funktioniert? Bei einer vorgegebenen Aufgabe: Habe ich die Aufgabe Wort für Wort durchgelesen? Kann ich den Auftrag in eigenen Worten wiederholen? Kenne ich etwas Ähnliches? Kann ich das Problem in mehrere Teilprobleme unterteilen? Was hat mir in der Vergangenheit bei ähnlichen Problemen geholfen? 2. Lösungsmöglichkeiten sammeln Alle Ideen, auch sich widersprechende, unsoziale, unmögliche und völlig absurde Ideen haben hier ihren Platz. 3. Entscheidungsvorbereitung Bin ich dabei, eine Möglichkeit ausschließen, weil ich mir eine bestimmte Lösung nicht zutraue, weil ich nirgends anecken will, anderen auf keinen Fall zur Last fallen will oder weil mir eine Möglichkeit zu anstrengend ist? Lassen sich Möglichkeiten, die sich scheinbar widersprechen, miteinander verbinden? Würde eine Lösungsmöglichkeit bedeuten, dass ich es vermeide, mich mit dem Problem auseinanderzusetzen (Vermeidungsverhalten) oder würde eine Lösungsmöglichkeit bedeuten, dass ich, statt meine Fähigkeiten einzusetzen, übermäßig Hilfe

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung

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suche und insgesamt Rückschlüsse auf meine Fähigkeiten verhindere (Sicherheitsverhalten)? 4. Lösungen auswählen Welche Hindernisse könnten bei der ausgewählten Lösung auftreten? Ich behandle jedes Hindernis als ein eigenes Problem. Welche Folgen hat die gewählte Lösung kurzfristig und langfristig? Welche Gefühle löst die Lösungsmöglichkeit in mir aus? Ist mir bei einem Schritt unwohl? Wie fühlt sich das in meinem Körper an? Könnte dieses Gefühl Misserfolgsangst sein? Gibt es Hindernisse, für die ich noch keine Lösung gefunden habe oder über die ich denke: „Das wird schon irgendwie klappen?“ (kognitives Vermeiden, Wunschdenken). Gibt es ein Hindernis, für das ich gar nicht nach einer Lösung gesucht habe, weil es mir zu große Angst macht (vorzeitiges Aufgeben, Vermeidung)? Ist es wirklich zu mindestens 80 % wahrscheinlich, dass ich die Lösungsmöglichkeit auch tatsächlich umsetze? 5. ausgewählte Lösung übersichtlich darstellen Alle Lösungen, auch mehrere Lösungen für ein Problem, werden hier aufgelistet. Die Lösungen sind gleichzeitig die verschiedenen Aufgaben, die später geplant werden. Neben jede Teilaufgabe wird in Prozent aufgeschrieben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit, sie tatsächlich umzusetzen, ist. Diese Liste wird bei den nächsten Therapieschritten verwendet. Beispiel für Problemlöseschritte mit therapeutischer Unterstützung Herr S. möchte eine Bewerbung schreiben, hat aber Angst, sich dabei zu blamieren. Er möchte für die Bewerbung die Problemlösestrategien anwenden. Die Problemlöseschritte traut er sich für das komplexe Problem der Bewerbung jedoch noch nicht zu. Deshalb fragt er sich im zuerst bearbeiteten Problem, was er braucht, um die Problemlöseschritte für ein komplexes Problem anzuwenden. Therapeutin: Sie haben noch keine Vorstellung, was Sie brauchen, um die Problemlöseschritte für das komplizierte Problem anzugehen. Sie haben gerade bei der Problembeschreibung gesagt, dass sich Scheitern für Sie schlimmer anfühlt, als die Aufgabe gar nicht erst anzugehen. Patient: Ja, das ist wie im Sportunterricht früher. Als wir Hochsprung hatten, habe ich mich sehr ungeschickt angestellt. Ich wusste, dass ich mich ohnehin blamiere und habe mich geweigert, weiter mitzumachen, obwohl ich dafür eine Sechs bekommen habe und obwohl allen klar war, dass ich nicht mitmache, weil ich es nicht kann. Aber mitzumachen und zeigen, wie ich es nicht kann und die anderen lachen, vielleicht noch ein dummer Spruch des Sportlehrers – das wäre schlimmer gewesen. Auch wenn meine Freunde gesagt haben: „Komm, mach mit, dann zeigst du Mut.“ Therapeutin: Wenn Sie sich geweigert haben, hatten zwar alle anderen die Information, dass Sie den Hochsprung nicht beherrschen, aber diese Information hat Sie nicht so sehr bloßgestellt wie ein missglückter Sprung? Patient: Ja. Therapeutin: Ich gehe jetzt vom Problemlösen weg und fasse noch einmal zusammen, auf welche Weise die Therapie wirkt: Jetzt geht es darum, dass Sie sich Aufgaben stellen, um aus dem Teufelskreis der Misserfolgsangst herauszukommen. Ihre Angst kann nur weniger werden, wenn Sie die Erfahrung machen, dass trotz der Angst, die Sie vor etwas

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung Schlimmen warnt, dann doch nichts Schlimmes passiert. Wenn Sie sich in der Therapie Aufgaben stellen und sich dabei immer wieder blamieren, würde ihre Angst bestätigt. In der Therapie wird deshalb gegen das Scheitern vorgebeugt – aber nicht, indem Sie vermeiden, sondern indem Sie planen und ihre Fähigkeiten passend einsetzen. Es geht also auch darum, passende Fähigkeiten aufzubauen. Vielleicht kann das bei den Lösungsideen für das Problem jetzt weiterhelfen. Was hätten Sie denn damals gebraucht, um sich beim Hochsprung einen Versuch zuzutrauen? Patient: Mehr Sportlichkeit. Ich hätte wenigstens so springen müssen, dass es für eine Drei oder eine Vier gereicht hätte. Therapeutin: Was hätten Sie trainieren können, damit Sie sich getraut hätten, eine niedrige Latte zu überspringen? Patient: Ich hätte vielleicht die Bewegungsabläufe ohne die Latte trainieren müssen. Eigentlich war ich nicht allgemein unsportlich, sondern nur ängstlich. Wenn ich die Bewegungsabläufe geübt hätte, hätte ich nicht immer vor dem Sprung gezögert. Therapeutin: Sie hätten also den Bewegungsablauf trainieren müssen. Dann hätten sie sich getraut, beim Hochsprung mitzumachen? Patient: Ja. Ich hätte mich nicht geschämt, wenn ich nur über ziemlich niedrige Latten gesprungen wäre. Das wäre kein Grund zur Blamage gewesen im Gegensatz zu den ganz verunglückten Sprüngen. Therapeutin: Wenn Sie die Situation damals auf die therapeutische Aufgabe, das Anwenden der Problemlöseschritte, übertragen – was brauchen Sie jetzt, damit Sie das Problemlösen ausreichend gut bewältigen? Patient: Vielleicht könnten Sie mir beim Problemlösen noch einmal helfen, damit ich genau weiß, was ich machen soll. Dann könnte ich es irgendwann auch allein machen.

Der Patient bearbeitet ein anderes, wenig komplexes Problem anhand der Problemlösestrategien im Beisein der Therapeutin. In der nächsten Therapiesitzung möchte er das Problem, wie er eine Bewerbung schreibt, bearbeiten. In der nächsten Therapiesitzung: Therapeutin: Letzte Stunde ging es um das Problem, dass Sie sich die Problemlösestrategie für die Bewerbung nicht zugetraut haben. Sie haben die Strategie noch einmal geübt und jetzt ist Ihnen klar, was Sie beim Problemlösen beachten. Gibt es noch irgendwelche Hindernisse, die bei Ihrem Vorhaben, jetzt die Problemlöseschritte auf die Bewerbung anzuwenden, auftreten könnten? Patient: Ich weiß nicht (Hinweis auf kognitive Vermeidung). Therapeutin: Würden Sie das Problemlösen jetzt selbstständig schaffen? Patient: Ja (Hoffnung auf Erfolg oder kognitive Vermeidung). Therapeutin: Was wäre dabei noch herausfordernd? Patient: Nichts. Jetzt weiß ich, wie es geht.

Um bei kognitiver Vermeidung das Problem mitsamt seinen Hürden zu erkennen, helfen Vorstellungsübungen. In der Vorstellungsübung werden die Patientinnen und Patienten angeleitet, sich die Situation, in der sie die Aufgabe bearbeiten, vorzustellen. Dabei wird auf körperliche Empfindungen und negative Gefühle geachtet, die anzeigen könnten, dass Hindernisse noch nicht überwunden sind. Unverhoffte Hindernisse führen während der Aufgabe wahrscheinlich dazu, dass sie abgebrochen wird oder dass die Angst die Handlungsplanung stört. Die Vorstellungsübung vermindert die kognitive Vermeidung.

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung Therapeutin: Sind Sie bereit für eine Vorstellungsübung, um noch besser herauszufinden, ob Hürden bei der Aufgabe auftreten könnten? Dann könnten Sie sich darauf vorbereiten. Patient: Ja. (Die Therapeutin leitet die Imagination ein.) Therapeutin: Sie folgen gerade den Problemlöseschritten. Sie haben gerade gesagt, was das Problem ist – Sie wissen nicht, wie Sie die Bewerbung schreiben sollen. Sie haben diese Anleitung mit den Problemlöseschritten vor sich. Wir sitzen hier wie jetzt gerade und Sie fragen sich, was entsprechend der Anleitung der nächste Schritt ist. Wie fühlen Sie sich? Patient: Na ja…vielleicht doch noch ängstlich. Therapeutin: Und wie fühlt sich der Körper an? Patient: (Atmet schwer) Das Gesicht ist ganz heiß, mir ist flau im Magen. Therapeutin: Und was denken Sie? Patient: Gar nichts. Ich kann gar nicht mehr denken. „Kopfleere“. Sie sagen, Sie helfen mir und ich kann mich gar nicht blamieren, aber selbst mit Hilfe schaffe ich nichts. Das passiert sogar jetzt, wo ich mir alles nur vorstelle. Therapeutin: Mhm. Gehen Sie bitte wieder in die Vorstellung zurück – Sie überlegen, was der nächste Schritt ist. Sie haben ein ganz heißes Gesicht, Ihnen ist flau im Magen, der Kopf ist leer… Was können Sie jetzt machen, um wieder klar zu denken? Patient: Weiß nicht. Therapeutin: Was hilft Ihnen, um wieder klar zu denken? Patient: Gar nichts. Therapeutin: Was haben Sie schon einmal gemacht, um in solchen Fällen wieder klarer zu denken? Patient: (macht eine kurze Atemübung) Jetzt geht es wieder. Therapeutin: Was denken Sie jetzt, wenn Sie die Problemlöseschritte anschauen? Patient: Ich atme ganz bewusst weiter, dann kann ich mich aufs Lesen konzentrieren. Therapeutin: Damit können Sie sich gut helfen. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie sich fragen, was der nächste Schritt ist? Patient: Mit dem Atmen klappt es jetzt. Der nächste Schritt ist also…das Problem definieren. (Schaut die Therapeutin an, verlässt die Imagination) Patient: Die Atemübung hilft nur, weil Sie mich daran erinnert haben, sie anzuwenden. Wenn ich angespannt bin, denke ich nie an etwas Hilfreiches. Dann ist der Kopf einfach leer. Ich werde die Problemlösestrategien nie selbstständig anwenden können. Sie sitzen schließlich nicht ständig auf meiner Arbeit neben mir und sagen: „Jetzt mal atmen!“, oder: „Und jetzt mal die Problemlösestrategie anwenden…“ Therapeutin: Ja, das stimmt, das ist ein Problem. Sie sagen, wenn ich jetzt neben Ihnen sitze, Sie frage, wie angespannt Sie sind und Sie an das Atmen erinnere, dann können Sie die Angst gut regulieren. Sie schätzen aber ein, dass Sie das im Moment noch nicht selbständig können. Möchten Sie zuerst das Problem mit der Bewerbung angehen oder das Problem, dass Sie die Techniken zur Angstreduktion noch nicht selbständig anwenden können? Patient: Die Bewerbung ist jetzt dringender. Ich traue mir die Problemlösestrategie zu – jedenfalls jetzt in der Therapiesitzung. Therapeutin: Okay. Sie haben vorhin schon gesagt, was das Problem ist … Patient: Dass ich nicht weiß, wie ich die Bewerbung schreibe. Das ist das Problem. Soll ich das dann hier aufschreiben? Therapeutin: Ja. Ich erinnere Sie an das Atmen und frage nach der Angst und nach Ihren Selbstverbalisationen. Ich helfe Ihnen nicht mehr bei den Problemlöseschritten selbst. Möchten Sie das machen? Patient: Ja. Ich habe hier ja die Fragen für das Problemlösen vor mir. Therapeutin: Wie hoch ist Ihre Angst jetzt?

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

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Der Patient erarbeitet die übrigen Problemlöseschritte. Die Liste der Lösungen, die er in der Therapiesitzung erarbeitet hat (Schritt sechs), ist hier dargestellt. • Problem 1: Ich habe keine seriösen Tipps für Bewerbungen. • Lösung: in der Bücherei Buch zum Bewerben ausleihen und Buch innerhalb von drei Tagen durchlesen. • Unterproblem 1: Ich habe keinen Bibliotheksausweis, die Öffnungszeiten sind mir nicht bekannt. • Lösung: im Internet Öffnungszeiten nachschauen, Jahresgebühr einplanen (Wahrscheinlichkeit mit 95 % sehr hoch, weil ich auch Hörbücher und Filmen ausleihen möchte). • Unterproblem 2: wenig Durchhaltevermögen und Konzentration beim Lesen. • Lösung: zweimal täglich eine halbe Stunde Lesen einplanen, Notizen machen (Wahrscheinlichkeit 65 % bis 70 %). • Problem 2: Ich weiß nicht, wie ich formuliere, warum ich mich auf genau diese Arbeitsstelle bewerbe. • Lösung 1: Ich überlege, was ich laut meinem Zeugnis eher gut kann und was ich interessant finde und gleiche das mit den Anforderungen in der Stellenausschreibung ab (80 %). • Lösung 2: Zusätzlich achte ich im Bewerbungsbuch auf Hinweise für dieses Problem. (90 %, falls ich das Buch lese, sonst unter 70 %). • Problem 3: Meine Rechtschreibung ist nicht sicher genug für ein Bewerbungsschreiben. • Lösung: Ich schlage nach der Rechtschreibprüfung alle unterstrichenen Wörter nach (80 %). • Problem 4: Ich kenne zwar die einzelnen Anforderungen, weiß aber nicht, worauf die Firma bei der Bewerbung besonders wert legt. • Lösung: Ich schaue mir die Website der Firma noch einmal an und überlege, was dort besonders betont wird oder ob es ein Leitbild gibt (80 %). Fähigkeiten einschätzen und aufbauen Das Problemlösen für die Aufgabe im vorigen Abschnitt ist noch nicht abgeschlossen. Bei dieser Liste der Lösungsmöglichkeiten gibt es noch ein Hindernis, das nicht geklärt ist. Der Patient schätzt die Wahrscheinlichkeit, eine Stunde pro Tag im Bewerbungsbuch zu lesen, auf unter 80 % ein. Weil die Angst in der Regel umso stärker wird, je näher die Aufgabe rückt, ist diese Einschätzung ein Hinweis darauf, dass er die Bewerbung nicht schreiben wird, solange er dieses Hindernis nicht klärt. Für dieses Hindernis wendet der Patient noch einmal die Problemlösestrategie an. Der Patient hat eingeschätzt, dass er Fähigkeiten aufbauen muss, um das Buch weitgehend durchzulesen. Er denkt darüber nach, welche Fähigkeit er bräuchte, damit die Wahrscheinlichkeit mindestens 80 % wäre. Er kommt zu dem

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung

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Schluss, dass er die Fähigkeit bräuchte, pünktlich mit einer langweiligen Tätigkeit zu beginnen und die langweilige Tätigkeit auch dann weiterzuverfolgen, wenn Gedanken an interessantere Tätigkeiten aufkommen. Er hätte die Möglichkeit, einen Schritt zurückzugehen und eine andere Lösung zu suchen, zum Beispiel eine seriöse Internetseite, die schnell durchgelesen ist, für Bewerbungstipps zu verwenden. Er möchte vorerst nicht von der Lösungsmöglichkeit, ein Buch auszuleihen und zu lesen, abrücken. Wenn die Aufgabe Zeit hätte, könnte er versuchen, die Fähigkeit, seine Zeit einzuplanen und sich ausreichend gegen interessantere Tätigkeiten abzuschirmen, aufzubauen. Andere Fähigkeiten baut er durch die Aufgabe selbst auf: Der Patient eignet sich durch das Buch, das er lesen möchte, Wissen über Bewerbungen an. Er hat vor, seine Rechtschreibkenntnisse zu verbessern, indem er alle im Rechtschreibprogramm unterstrichenen Wörter überprüft. Beispiel: Problemlösen für ein Hindernis, Fähigkeiten aufbauen Patient: Ich möchte so einen Bewerbungsratgeber einfach durchlesen können. Ich bringe es einfach nicht fertig, dabei zu bleiben und merke das noch nicht einmal. Ich brauche ewig, bis ich so ein kleines Buch durchgelesen habe. Bis dahin ist die Bewerbungsfrist vorbei. Therapeutin: Warum haben Sie es trotzdem so geplant, dass Sie das Buch durchlesen? Patient: Ich will das einfach können. Ich dachte, Sie können mir da Tipps geben. Therapeutin: Mhm. Sie hatten in der Testung keine Konzentrationsstörungen. Deshalb gehe ich davon aus, dass Sie es schaffen können, ein Buch zu lesen, wenn Sie die richtigen Strategien anwenden. Was haben Sie vor, wenn die Zeit, um die passenden Fähigkeiten aufzubauen, doch nicht reicht? Patient: Dann muss ich die Informationen aus dem Internet holen. Therapeutin: Ja, o.k. Also – dann noch einmal zum Problem: Wie ist das, wenn Sie nicht mehr lesen und sich dessen nicht bewusst sind? Patient: Ich sitze da und denke, dass ich zu blöd bin, um ein einfaches Buch durchzulesen. Ich mache mich richtig fertig und beschimpfe mich. Ich habe dann eher Lust, mich zu bestrafen als weiterzumachen, wenn ich merke, dass ich wieder so viel Zeit vertrödelt habe. Dann kann ich nicht mehr weiterarbeiten. Therapeutin: Wollen Sie dafür die Problemlösestrategie anwenden? Patient: Ja, aber nicht selbstständig. Ich habe da alles ausprobiert und nichts hat geklappt. Ich bräuchte mehr Hilfe als beim Problemlösen für die Bewerbung gerade eben. Therapeutin: Okay. Sie möchten, dass ich Sie mehr unterstütze – mit Fragen, die das Problem besser eingrenzen. Wie hoch ist ihre Angst vor dem Problemlösen? Patient: Nur wenig, 3 bis 4 von 10. Ich glaube nicht, dass ich viel Angst haben werde. Ich habe das jetzt oft genug gemacht. Also – was ist das Problem? Therapeutin: Hm. Patient: Ich merke es nicht, wenn ich mich nicht mehr konzentriere. Und ich beschimpfe mich ständig. Das sind also zwei Probleme. Wenn ich mich konzentriere, beschimpfe ich mich nicht. Ich weiß jetzt nicht, ob das jetzt ein oder zwei Probleme sind. Therapeutin: Wie wäre es für sie übersichtlicher? Patient: Zwei Probleme. Ich brauche jetzt mal die Übersicht der Fragen dazu.

(Der Patient nimmt sich das Blatt, auf dem die Fragen stehen) Patient: Welches Ziel will ich erreichen? Dass ich merke, wenn ich nicht mehr lese.

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

Therapeutin: Mhm. Patient: Woran merke ich es, wenn ich nicht mehr lese? Das weiß ich nicht. Therapeutin: Was ist los, wenn Sie nicht mehr lesen, ohne es zu merken? Patient: Ich beschimpfe mich dann. Aber ich merke es nicht. Therapeutin: Was passiert, wenn Sie sich beschimpfen? Patient: Ich werde angespannt. Das merke ich dann irgendwann. Therapeutin: Mhm. Patient: Ich könnte die Anspannung als Signal nehmen, dass ich mich nicht mehr konzentriere. Aber dann ist es zu spät. Ich könnte diese Atemübungen machen, aber ich weiß nicht, ob sie dann noch helfen. Therapeutin: Das würde also nicht sicher klappen. Patient: Ja, wenn ich schimpfe, merke ich es erst nicht, dann werde ich angespannt und es ist schon zu spät. Therapeutin: Was kommt vor dem Schimpfen? (Sehr lange Pause) Patient: „Das verstehe ich nicht.“ Dieser Gedanke ist auf alle Fälle vorher da. Oder: „Das schaffe ich nicht.“ Therapeutin: Also diese negative Selbstverbalisation, die Sie schon bei sich kennen? Patient: Ja. Ich könnte die hilfreiche Selbstverbalisation dagegen setzen. „Ruhig bleiben, durchatmen, was ist das Problem?“ Das hat schon einmal geklappt, aber ich merke nicht immer, wenn ich denke: „Das verstehe ich nicht.“ Therapeutin: Was war denn anders, als es einmal geklappt hat? Patient: Ich habe bewusst darauf geachtet. Das war aber nur eine kurze Aufgabe. Bei einem Buch würde ich es nicht schaffen, ständig darauf zu achten, was ich denke. Therapeutin: Jetzt sind wir inzwischen bei den Lösungsideen. Wie würden Sie es schaffen, bei einer langwierigen Aufgabe auf Ihre Selbstverbalisationen zu achten? Patient: Etwas müsste mich daran erinnern. (Sehr lange Pause) Patient: Ich könnte mir einen Timer alle Viertelstunde stellen und überprüfen, ob ich noch lese. Und wenn ich währenddessen schon schlecht über mich gedacht habe, dann war es wenigstens nicht so lange. Therapeutin: Das klingt nach einer guten Lösung. Gibt es dabei ein Hindernis? Patient: Ich glaube, nicht. Ich weiß aber nicht so recht, ob das reicht. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Therapeutin: Wie haben Sie das in der Leistungstestung gemacht? Da war die Konzentration gut. Patient: Das hat nicht so lang gedauert. Therapeutin: Also geht es für eine gewisse Zeit gut. Wie lange können Sie sich konzentrieren, wenn Sie ein Buch lesen? Patient: Nur kurz. Eine Viertelstunde vielleicht. Therapeutin: Was haben Sie noch gemacht bei dem Konzentrationstest? Patient: Ich habe gedacht: „Hilft nichts, da musst du jetzt durch.“ Therapeutin: Das wäre eine hilfreiche Selbstverbalisation? Patient: Ja. Therapeutin: Was haben Sie noch beim Test gemacht? Patient: Ich habe ganz leise vor mich hin geflüstert. Therapeutin: Das hat geholfen? Patient: Ja. Therapeutin: Hm. Patient: Dann kann ich mich besser konzentrieren (Pause). Ich könnte laut lesen. Therapeutin: Ja. Also auf die Anspannung achten, Atemübungen und positive Selbstverbalisationen nutzen, das Ganze mit einem Timer unterstützen und beim Lesen vor sich hin flüstern. Das sind Ihre Ideen.

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung

103

Patient: Das kann ich alles machen. Ich möchte keine Idee aussortieren. Therapeutin: Gibt es dabei irgendwelche Hindernisse? Patient: Hm. Ich habe einen Timer zum Backen und einen im Handy (Pause). Es könnte sein, dass ich es nicht mache, wenn ich es vorher nicht ausprobiert habe. Sonst gibt es keine Hindernisse. Therapeutin: Wollen Sie das jetzt mal ausprobieren? Patient: Zehn Minuten haben wir noch Zeit. Das ist wenig, aber wenn ich das hier kurz ausprobiere, mache ich es zu Hause bestimmt. Also – beim Lesen flüstern, Timer, Selbstverbalisationen und die Atemübungen. Ich schreibe das mal auf (Pause). Sie haben doch ganz viele Psychotherapiebücher. Da werde ich vieles nicht verstehen und ständig denken, dass ich dumm bin. Therapeutin: Was könnten Sie denn machen, wenn Sie etwas nicht verstehen? Patient: Ich schlage alle Wörter, die ich nicht verstehe, online nach. Therapeutin: Ich gebe Ihnen hier mal ein Selbsthilfebuch. Das sollte etwa so anspruchsvoll sein wie das Bewerbungsbuch. Auf wie viel Minuten wollen Sie den Timer stellen?

Zusammenfassung

Problemlösestrategien sind ein zentraler Baustein in der Therapie der Misserfolgsvermeidung. Menschen mit psychischen Problemen und starker Angst vor dem Scheitern wenden Problemlösestrategien spontan kaum an. Problemlösestrategien vermindern die kognitive Vermeidung und sorgen dafür, dass Aufgaben mit einer hohen Wahrscheinlichkeit erfolgreich gelöst werden können.

3.5.4 Problemlösen zweiter Teil (Planung) Um die ausgewählten Lösungen aus dem ersten Schritt des Problemlösens umzusetzen, schließt sich der zweite Schritt des Problemlösens, die Planung, an. Bei der Planung werden mehrere Aspekte berücksichtigt: 1. der Aspekt der Angstbewältigung: Die Betroffenen planen Strategien, um die Stärke der Angst im Blick behalten, um auf Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten zu achten und um Übungen zur Angstbewältigung anzuwenden. 2. zeitliche und aufgabenbezogen Aspekte: Hier stellt sich die Frage nach dem zeitlichen Rahmen, in dem die Aufgabe erledigt sein soll, was zuerst erledigt wird und wie viele zeitliche Puffer, Pausen und Erholung benötigt werden. Aufschieben gehört zum Vermeidungsverhalten (Punkt 1). Selbststeuerungsfähigkeiten werden, wenn sie nötig sind, aufgebaut. 3. Der Aspekt der Belohnung für erledigte Aufgaben. Der Aspekt der Angstbewältigung Die Planung verhindert, wie auch das Problemlösen, Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten. Dadurch tritt während der Planung verstärkt Angst auf. Die

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

Therapeutinnen und Therapeuten fragen, wie stark die befürchtete Angst ist und erkundigen sich während des Planens regelmäßig nach der tatsächlichen Stärke der Angst. Wenn die Angst so stark ist, dass die misserfolgsvermeidenden Menschen nicht mehr in der Lage sind, die Strategien zum Planen umzusetzen, werden Techniken zur Angstreduktion angeleitet. Ziel ist, dass sie im Laufe der Therapie selbstständig in der Lage sind, die Angst auszuhalten und zu regulieren. Zeitlicher Aspekt Wenn die Reihenfolge der Tätigkeiten nicht zwingend ist, sollte der Zeitplan nicht zu detailliert sein – sonst nimmt das Planen unverhältnismäßig viel Zeit in Anspruch und es passiert zwangsläufig, dass vom Plan abgewichen wird. Vom Plan abzuweichen, macht unzufrieden. Wenn die Patientinnen und Patienten über diese Planung hinaus weiter planen oder die Pläne verändern, ohne gleichzeitig auch die Pläne umzusetzen, ist das Vermeidungsverhalten. Bei der Planung legen sie zunächst einen groben Zeitrahmen fest. Die Grundlage ist die Liste der Aufgaben aus dem letzten Schritt des Problemlösens. Wenn es um eine Aufgabe ohne festes Ende geht, beispielsweise die Aufgabe „sportlicher werden“, wird ein Zeitkontingent pro Woche festgelegt, das zuerst eher niedrig angesetzt ist und sich dann steigern kann. Bei Aufgaben mit einem festen Termin, zum Beispiel einem Bewerbungsschluss, richtet sich die Planung nach diesem Termin. Aufbau neuer Fähigkeiten und Strategien Wenn in der Planung auffällt, dass eine Fähigkeit erst aufgebaut werden muss, um die Aufgaben zu bewältigen, wird an erster Stelle geplant, die neue Fähigkeit einzuüben. Wichtige Fähigkeiten nicht aufzubauen, wäre als Vermeidungsverhalten einzuordnen. Viele Misserfolgsvermeidende prokrastinieren als eine Form der Vermeidung. Deshalb planen sie Strategien gegen das Aufschieben mit ein (siehe Abschn. 3.4.4, „Abbau von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten/pünktlicher Beginn“). Zu Beginn der Therapie nehmen diese Strategien einen großen Teil des Planens in Anspruch. Wenn diese Strategien etabliert sind, werden sie nur noch bei Bedarf während der Planung angepasst und sonst unverändert beibehalten. Wenn möglich, werden neue Strategien schon während der Therapiesitzung ausprobiert (siehe „Beispiel zum Problemlösen für ein Hindernis“ im vorangegangenen Abschnitt). Die misserfolgsvermeidenden Menschen haben die Gelegenheit, hilfreiche Selbstverbalisationen anhand des Problems einzuüben. Die Selbstverbalisationen können darin bestehen, die bewusst eingesetzten Strategien zu benennen: „Jetzt kann ich Notizen machen, um mich besser zu konzentrieren. Was kann ich noch machen, um den Text zu verstehen? Ich schreibe mir das Wichtige heraus und lese die Notizen noch einmal durch. Das hilft mir, den Inhalt zu verstehen.“ Belohnung Nach jedem Arbeitsabschnitt planen die Betroffenen eine Belohnung ein. Belohnungen sind für den pünktlichen Beginn, falls relevant, vorgesehen, für

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung

105

gelöste zusätzliche Probleme und für eine erfolgreich bewältigte Teilaufgabe. Oft lehnen die Patientinnen und Patienten an dieser Stelle ab, sich zu belohnen oder vermeiden dieses Thema. Sie werden gebeten, die Belohnungen so zu planen, dass eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 80 % besteht, die Belohnung umzusetzen.

Zusammenfassung

Die Planung vermindert die kognitive Vermeidung und löst damit, wie das Problemlösen, starke Angst aus. In die Planung gehen der Zeitrahmen, das Training neuer Fertigkeiten und Belohnungen für erledigte Aufgaben mit ein.

3.5.5 Festlegen von Erfolg oder Misserfolg Bevor sie sich ihrer Aufgabe stellen, bahnen die Betroffen funktionale Attributionen an, indem sie Kriterien festlegen, mit denen sie ihren Erfolg oder ihren Misserfolg bewerten. Sie bestimmen, was genau sie mit ihrem Vorhaben erreichen wollen, wann sie es erreichen wollen und was ein Fortschritt gegenüber ihren früheren Leistungen wäre. Bei vielen Menschen wird es reichen, diesen Punkt eher kurz anzusprechen, weil die Strategien zur Aufgabenbewältigung den eigenen Anteil am Erfolg bewusst machen. Bei den Patientinnen und Patienten, die dazu neigen, trotz der Strategien zur Aufgabenbewältigung ihre Erfolge kleinzureden und die ihre Fortschritte als irrelevant ansehen, hilft es, die Kriterien für Erfolg und Misserfolg vorher kleinschrittiger festzulegen. Die Personen, bei denen die aufwendigere Methode angebracht ist, legen für jede Teilaufgabe ein Ziel, das zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht sein sollte, fest. Mit den Teilaufgaben kommen sie dem Ziel, die übergeordnete Aufgabe zu erfüllen, näher. Sie bewerten die Aufgaben danach, wie nahe sie ihrem Ziel gekommen sind und wie sie im Vergleich zu ihren früheren Leistungen abgeschnitten haben. Es ist funktional, wenn sie ihre eigenen Leistungen als Maßstab heranziehen, nicht die vermuteten Leistungen anderer Menschen (intraindividueller Bewertungsmaßstab, Rheinberg und Krug 2017). Wenn die Patientinnen und Patienten die Schwierigkeit der Aufgabe danach bewerten, wie herausfordernd diese Aufgabe für andere Personen wäre, werden sie meistens demoralisiert und ihnen fallen keine eigenen Fortschritte auf. Herr S., der Patient aus dem Behandlungsbeispiel, spricht an, dass es „eigentlich“, damit meint er für viele andere Menschen, leicht sei, ein Buch durchzulesen. Für ihn ist es nicht einfach. Er würde es nach einem intraindividuellen Bewertungsmaßstab schon als Erfolg gelten lassen, den Bewerbungsratgeber zur Hälfte durchzulesen, wenn er sonst schon nach wenigen Seiten aufgegeben hätte zu lesen. Wenn eine Aufgabe erledigt wurde, gilt das als Erfolg, wenn sie nicht begonnen wurde, als Misserfolg. Damit wird zusätzlich klar, dass Vermeiden zu Misserfolg führt und nicht etwa einen Misserfolg umgeht. Die Regeln für die Bewertungen

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

widersprechen der Herangehensweise bei starker Angst vor Misserfolgen. Die Regeln überlassen den Patientinnen und Patienten die Verantwortung für Erfolg und Misserfolg auch dann, wenn nicht sie verhindert haben, die Aufgabe wie geplant zu lösen, sondern andere. Wenn ein Zeitplan für eine bestimmte Aufgabe wegen externer Gründe nicht einzuhalten ist, kann die Person die Aufgabe als erfolgreich verbuchen, wenn sie stattdessen eine andere Aufgaben vorzieht – dann wird das Zeitkontingent insgesamt nicht überschritten. Im Beispiel des Herrn S. ist die übergeordnete Aufgabe, die Bewerbung pünktlich abzuschicken und eine Teilaufgabe, das Buch in einer bestimmten Zeit durchzulesen. Der Patient möchte sich noch am selben Tag ein Buch über Bewerbungen in der Bücherei ausleihen. Die Bücherei hat wegen eines Brückentages geschlossen. Der Patient könnte seinen gesamten Zeitplan nach hinten verschieben und erst nach dem Wochenende an seiner Bewerbung weiterarbeiten. Dann könnte er die Frist wahrscheinlich nicht einhalten. Das würde einen Misserfolg bedeuten, selbst wenn er das Buch später vollständig durchlesen würde. Der Patient könnte als Alternative beschließen, eine seriöse Seite im Internet zu suchen und mit den Informationen dieser Seite weiterzuarbeiten. Damit würde er das Ziel, sich Wissen über Bewerbungen anzueignen, erreichen und könnte den Zeitplan gut einhalten. Wenn er die veränderte Aufgabe bewältigen würde, wäre das ein Erfolg. Eine andere Möglichkeit, den Zeitplan für die Bewerbung einzuhalten, wäre, andere Teilaufgaben früher zu erledigen. Wenn er eine Aufgabe trotz unvorhersehbarer Schwierigkeiten erfolgreich bewältigt, hat der Patient einen wichtigen Erfolg zu verbuchen.

Zusammenfassung

Bevor die Patientinnen und Patienten das Vorhaben selbst angehen, legen sie fest, welche Ergebnisse als Erfolg oder Misserfolg gelten. Dadurch beugen sie Schwarz-Weiß-Denken vor. Personen, die vermuten lassen, dass sie ihre Fortschritte kleinreden werden, vergegenwärtigen sich genauere Kriterien für Erfolg oder Misserfolg.

3.5.6 Vorbereiten und Bearbeiten der Aufgabe Bevor die Patientinnen und Patienten die Aufgabe selbst in Angriff nehmen, erklären sie in der Therapie, warum sie sich für die Aufgabe entschieden haben. Sie müssen sich oft so sehr überwinden, sich ihrer Angst zu stellen, dass eine bewusste Entscheidung nötig ist, um die Aufgabe nicht doch im letzten Moment zu vermeiden. Angelehnt an die Entschlussförderungsintervention nach Margraf und Berking (2005) werden an dieser Stelle die langfristigen Folgen, die durch den Veränderungsschritt entstehen, den langfristigen Folgen ohne diesen Schritt gegenübergestellt. Dabei werden die Nachteile, die mit dem Schritt einhergehen,

3.5  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Misserfolgsvermeidung

107

bewusst in Kauf genommen. Es wird in Erinnerung gerufen, dass es keine Entscheidungen ohne Nachteile gibt. Besonders wichtig ist, die langfristigen Folgen mit den eigenen Werten und Zielen abzugleichen. Bevor sie ihr Vorhaben tatsächlich umsetzen, bereiten die misserfolgsvermeidenden Personen Gedächtnisstützen für die Strategien zur Aufgabenbewältigung und zur Angstbewältigung vor. Sie legen sich Selbstverbalisationen zurecht, um ihre Konzentration auf die Aufgabe zu lenken. So können sie ihre Fähigkeiten besser nutzen. Bevor die Aufgabe bearbeitet wird, steigt die Misserfolgsangst in der Regel stark an. Deshalb ist es wichtig, möglichst viele Teilaufgaben schon während der Therapiestunden zu beginnen – vorausgesetzt, die Betroffenen fühlen sich dadurch nicht behandelt, als würde ihnen nur wenig zugetraut. Der Patient im Behandlungsbeispiel probiert in der Therapiesitzung die Strategien, die er beim Problemlösen erarbeitet hat, aus – weniger, um herauszufinden, ob er damit wirklich über eine halbe Stunde hinweg lesen kann (Diese Zeit hat er in der Sitzung nicht), sondern um die Strategien schon zu kennen, wenn er sie später selbstständig anwendet. Die Therapeutinnen und Therapeuten machen vorher klar, dass sie bei der Aufgabe selbst nicht helfen werden, um kein Sicherheitsverhalten zu fördern, sondern dass sie nur helfen, die eingeübten Strategien umzusetzen. Bei Aufgaben, die nicht innerhalb der Therapiesitzung bewältigt werden können oder bei Personen, die Wert darauf legen, die Vorhaben selbstständig anzugehen, ist es nützlich, wenn sie trotzdem dort vorbereitet werden – in Rollenspielen oder mit Imaginationen. Handlungen, die besonders schwierig erscheinen, können imaginativ vorbereitet werden. Dieses Vorgehen erhöht die Chance, dass die Aufgabe später tatsächlich umgesetzt wird. Die Patientinnen und Patienten werden gebeten, sich selbst bei der Bewältigung der Aufgaben zu imaginieren und sich vorzustellen, wie sie hilfreiche Strategien anwenden. Vorhaben, die zu lange dauern, um in der Therapie Platz zu haben (etwa ein gesamtes Buch durchlesen und dazu Notizen machen, einen Brief aufsetzen) können immerhin dort begonnen werden. Wenn Aufgaben vorbereitet worden sind, ist die Chance sehr viel höher, dass sie außerhalb der Therapie weitergeführt werden bzw. dass mit ihnen tatsächlich begonnen wird. Die Aufgabe wird schließlich entsprechend dem Plan umgesetzt.

3.5.7 Rücknahme der Entscheidung, die Aufgabe zu bearbeiten Auch wenn früh in der Therapie die Entscheidung für die Aufgabe eindeutig gefallen war, kommt es vor, dass die Patientinnen und Patienten angesichts der anstehenden Aufgabe einen Rückzieher machen. Trotz der Vorarbeit revidiert die Angst vor Scham die Entscheidung, die Aufgabe in Angriff zu nehmen. An dieser Stelle sind die Therapeutinnen und Therapeuten angesichts der geduldigen Unterstützung während der Vorbereitung meistens demoralisiert.

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

Gerade hier lohnt es sich, das Ziel weiterzuverfolgen: Wenn sich die misserfolgsängstlichen Personen doch wieder für ihr Vorhaben entscheiden und ihren Plan schließlich umsetzen, übernehmen sie nach dieser Krise in der Regel deutlich mehr Verantwortung. Manchmal ist der Grund für den Rückschritt ein Problem, das vorher gedanklich vermieden wurde und für das es deshalb noch keine Lösung gibt. Ein anderer Grund für einen Rückschritt kann darin liegen, dass bei der Entscheidung für die Aufgabe die Angst, dass das Vermeiden der Aufgabe kritisiert wird, stärker war als die Angst vor dem Scheitern. Die Angst vor Kritik angesichts der Vermeidung hat die Entscheidung für eine Aufgabe angeschoben – beispielsweise Angst vor Kritik von therapeutischer Seite, Angst vor der Reaktion Angehöriger oder vor Sanktionen (Ausbildungsstätte, Arbeitsstelle oder Ämter). Angesichts der drohenden Aufgabe selbst ist dann die Angst vor dem Scheitern wieder stärker als die Angst vor Kritik: Die Entscheidung für die Aufgabe wird zurückgenommen. Der Speditionskaufmann hat seine fertige Bewerbung nicht zum selbst festgelegten Termin abgeschickt. Er habe überlegt, die Therapiesitzung abzusagen, weil er nicht habe sehen wollen, wie enttäuscht die Therapeutin wäre. Seine Eltern unterstützen ihn darin, wieder gesund zu werden und hätten ihm das Versprechen abgenommen, sich auf die freie Stelle zu bewerben. Er fürchte, sie ebenfalls zu enttäuschen. Er habe in der Therapie viel gelernt und es geschafft, ein Buch durchzulesen. Das sei für ihn ein großer Erfolg gewesen. Er habe die Bewerbung jedoch aus Angst, sonst seine Eltern und die Therapeutin zu enttäuschen, geschrieben, ohne dass er schon ausreichend bereit gewesen sei. Natürlich wolle er eigentlich die Arbeitsstelle wechseln, aber jetzt, als er die Mail mit der Bewerbung habe abschicken wollen, habe er an das Bewerbungsgespräch gedacht. Seine Angst vor diesem Termin habe ihn so heftig überfallen, dass er es nicht fertiggebracht habe, auf „versenden“ zu klicken. Es ist wichtig zu klären, warum die Angst vor dem Scheitern trotz der Vorbereitung so hoch ist. Falls die Patientinnen und Patienten die Aufgabe schließlich doch in Angriff nehmen wollen, überarbeiten sie die Problemlösestrategien und die Planung, bis sie die Wahrscheinlichkeit, das Vorhaben tatsächlich umzusetzen, als über 80 % einschätzen. Der Speditionskaufmann ärgert sich während der Therapiesitzung über seine Angst. Nachdem er geklärt hat, was sein Problem ist, beschließt er, die Bewerbung noch am selben Tag abzuschicken und bittet um ein Rollenspiel, um sich auf das Bewerbungsgespräch vorzubereiten. Im Bewerbungsgespräch vereinbart er zwei Probetage, um das Team kennenzulernen. Er ist nach dem Bewerbungsgespräch viel zuversichtlicher als vorher und bereitet in der Zeit vor den Probetagen noch einige andere Bewerbungen vor – für den Fall, dass ihm die Firma doch nicht zusagt.

3.6  Nachbereiten der Aufgabe

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3.6 Nachbereiten der Aufgabe Wenn die Patientinnen und Patienten das Vorhaben erledigt haben, ist der nächste Schritt, die Attributionen und die Selbstbewertungsemotionen zu verändern. Die misserfolgsvermeidenden Menschen lernen, funktional zu attribuieren und sich angemessen zu belohnen. Daran hindern sie oft dysfunktionale Grundüberzeugungen.

3.6.1 Ergebnisse mit funktionalen Attributionen bewerten Wenn sie die Aufgabe erledigt haben, bewerten die Patientinnen und Patienten ihre Leistungen, und zwar nach den Kriterien, die sich aus dem Ziel ergeben oder nach den Kriterien, die sie vorher festgelegt haben. Sie teilen die verschiedenen Aufgaben in erfolgreich, teilweise erfolgreich und nicht erfolgreich ein. Wenn sie eine Teilaufgabe nicht erfolgreich bewältigen konnten, können sie sich klar machen, welche anderen Teilaufgaben sie bewältigt haben. Gleichzeitig können sie überlegen, wie sie Fähigkeiten aufbauen könnten, um bei ähnlichen Vorhaben in Zukunft mehr Erfolg zu haben. Der nächste Schritt ist, dass die Betroffenen nach dem Grund für Erfolg und Misserfolg suchen. Das Ziel ist, die Attributionen für Erfolg und Misserfolg so zu verändern, dass sie den Attributionen von Menschen mit Streben nach Erfolg und ohne relevante Angst vor Misserfolg ähneln. Das Ziel ist also, Erfolg internal und stabil zu attribuieren („Das kann ich einfach gut“) oder internal variabel („Das habe ich endlich einmal nicht vermieden!“, „Ich habe mich sehr angestrengt“). Misserfolg wird external variabel attribuiert („Pech“) oder internal variabel begründet („Jetzt habe ich mir doch keinen Ruck gegeben, um die Angst zu überwinden“). Wenn die Patientinnen und Patienten diese Attributionen anwenden, erleben sie gleichzeitig, dass sie Situationen besser kontrollieren können – sie sehen einen wichtigen Grund, ob ihnen etwas gelingt oder nicht, in ihren Handlungen. Die Patientinnen und Patienten arbeiten heraus, ob ihre Attributionen fair sind oder nicht – und wie sicher sie sich sind, dass eine dysfunktionale Attribution die einzige Möglichkeit ist, die Ursache treffend zu benennen. Wenn die Personen mit Angst vor Misserfolg die Aufgabe gut bewältigen konnten und sie den Grund darin sehen, dass die Aufgabe leicht war, unterschlagen sie, was für sie der schwierigste Part der Aufgabe war: die Angst zu überwinden. Wenn es größere Schwierigkeiten dabei gibt, funktionale Attributionen zu erreichen, kann ein Kreisdiagramm, in dem die verschiedenen Ursachen für einen Erfolg oder einen Misserfolg zusammengestellt sind, sichtbar machen, dass ein Ergebnis mehrere verschiedene Gründe hat.

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

Beispiel (Herr S.) Therapeutin: Sie haben fast alle Punkte erfolgreich erledigt und schätzen ein, dass diese Bewerbung, die Sie letzte Woche verschickt haben, besser geworden ist als Ihre früheren Bewerbungen. Sie haben in Ihrer Bewerbung nur den Punkt weggelassen, Ihre besondere Eignung für die Stelle im Hinblick auf die Werte und Ziele der Firma herauszustellen. Ist dieser Punkt Ihnen überhaupt wichtig? Patient: Ja. Therapeutin: Was war aus Ihrer Sicht der Grund dafür, dass Sie diesen Punkt weggelassen haben? Patient: (leise) Das lag ganz einfach an meiner Unfähigkeit. Therapeutin: Gibt es noch einen anderen Grund? Patient: Nein. Ich konnte das einfach nicht. Therapeutin: Hm. Sie können für die Attributionen einen Kreis zeichnen – mit Kuchenstückchen in der passenden Größe für alle Gründe, warum Sie die eine Teilaufgabe nicht abgeschlossen haben. Dann könnten Sie einschätzen, wie groß das „Unfähigkeitsstückchen“ ist. Glauben Sie, dieser Kreis würde Ihnen jetzt etwas bringen? Patient: Ja, das glaube ich schon (Er malt einen Kreis). Ich habe auf der Firmenwebsite nichts gefunden, woran ich anknüpfen konnte. Da stand nur so etwas Angeberisches – das war Werbung für die Firma: „Perfektionismus, Innovation.“ Da habe ich gesehen, dass ich das nicht kann, so kann ich nicht über mich schreiben. Ich habe das weggelassen. Therapeutin: Wie viele Minuten haben Sie damit verbracht? Patient: Nicht lang. Fünf Minuten. Ich habe aufgegeben, weil das keinen Zweck hatte. So etwas kann ich einfach nicht (malt ein großes Kuchenstückchen und schreibt hinein: „Aufgegeben, sinnlos“). Therapeutin: Haben Sie sich eine Chance gegeben? Patient: Nein, eigentlich nicht. Therapeutin: Sie haben keine Möglichkeit gesehen, aus diesen Schlagwörtern etwas Brauchbares herzuleiten. Wenn Sie sagen, „Ich habe keine Möglichkeit gesehen, deshalb habe ich aufgegeben“ – welche Ursachenzuschreibung ist das? Patient: Das wäre eine Ursachenzuschreibung mit dem Grund in mir, weil ich es nicht konnte und deshalb aufgegeben habe. Nicht veränderbar (Pause). Ich würde also wieder aufgeben (Er schreibt die Attribution neben das Kuchenstückchen). Therapeutin: Sie sehen diese Attribution als internal stabil an. Gibt es sonst noch einen Grund für den Misserfolg? Patient: Na ja, das war einfach zu angeberisch. Werbung. Ich kann ja schlecht kommen und sagen: Ich werde dafür sorgen, dass die Sachen, die Sie herstellen, noch perfekter und noch innovativer werden. Außerdem bin ich kein Ingenieur, sondern ich würde dort als Disponent arbeiten. Therapeutin: Welche Attribution finden Sie da? Patient: Die Aufgabe war schwerer als gedacht. External variabel (Er zeichnet ein neues Kuchenstück ein und schreibt die Attribution auf). Und ich habe auch gedacht, dass der Rest der Bewerbung reicht. Das zeichne ich jetzt so ein, also noch ein Kuchenstück – das war eigentlich der wichtigste Grund. Ich bin kein Ingenieur und muss nichts erfinden. Das ist als Attribution – nicht so viel Mühe gegeben, weil es gereicht hat – internal variabel (zeichnet das größte Kuchenstück bisher ein und schreibt die Attribution daneben). Therapeutin: Ja. Dass Sie schon viel geschafft haben, hat unterstützt aufzugeben. Hätte es denn eine Möglichkeit gegeben, das letzte Vorhaben noch zu schaffen? Der Patient denkt nach. Patient: Ich glaube nicht. Therapeutin: Wie lösen Sie denn sonst Probleme? Patient: Ach ja, die Problemlösestrategie. Was ist das Problem? Dass die Schlagwörter auf der Website zu angeberisch waren (denkt nach). Welche Lösungsmöglichkeiten

3.6  Nachbereiten der Aufgabe

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gibt es? Ich gebe selbst genauso an? Ich formuliere die Werbung für meine Zwecke um? (denkt nach) Also, so etwas wie zuverlässig, gewissenhaft, genaues Arbeiten könnte man für Perfektion schreiben. Therapeutin: Mhm. Patient: Und kreativ, offen für Neues, kann man für „Innovation“ schreiben (Pause). Das muss ich als Disponent aber nicht sein. Ich hätte das gekonnt, aber ich habe vergessen, die Strategie anzuwenden. Also als Attribution ist das „Fähigkeit vergessen anzuwenden“ – internal variabel. Therapeutin: Jetzt scheint Ihnen die Aufgabe sogar leicht gefallen zu sein. Der Patient trägt die letzte Attribution und das letzte Kreissegment in den Kreis ein. Patient: Die Aufgabe war schwer, aber eine Ursache für den Misserfolg war, dass ich zu schnell aufgegeben habe. Und ich habe nicht daran gedacht, bei schwierigen Aufgaben die Problemlösestrategie zu verwenden. Die Selbstverbalisation habe ich auch vergessen. Der Grund lag also auch an mir (Pause). Die meisten Ursachenzuschreibungen sind internal variabel. Das Unfähigkeitsstückchen ist ziemlich klein im Vergleich dazu. Das ist gut. Das heißt, ich kann etwas ändern (Pause). Ich kann irgendwie lernen, daran zu denken, die Strategien anzuwenden (Pause). Und was mir besonders wichtig ist: Ich habe schon daran gedacht, eine Strategie anzuwenden. Zum ersten Mal habe ich es geschafft, ein Buch in wenigen Tagen ganz durchzulesen. Therapeutin: Ja, das war wirklich ein sehr großer Fortschritt. Woran lag es, dass Sie das Buch vollständig gelesen haben? Patient: Ich habe alles so gemacht, wie wir es besprochen haben. Ich dachte, wenn ich es jetzt nicht schaffe, wann soll ich es dann hinbekommen? Ich habe mich zusammengerissen, als es mir zu langweilig wurde und ich habe durchgehalten. Für Sie ist das natürlich nichts Besonders. Therapeutin: Für mich ist es schon etwas Besonderes, wenn ich etwas Neues endlich kann. Patient: Aber die Aufgabe wäre für Sie leicht. Therapeutin: Woran lag es, dass Sie das Buch vollständig gelesen haben – an Ihnen mit Ihren Fähigkeiten oder daran, dass es leicht war, das Buch zu lesen? Patient: Für mich war es nicht leicht – das Lesen selbst natürlich schon, aber es war schwer, nicht aufzuhören. Es war langweilig, aber ich habe mich trotz der Langeweile weiter angestrengt. Es lag also an mir.

Zusammenfassung

Die Patientinnen und Patienten lernen, funktionale Attributionen für Erfolg und Misserfolg zu finden, bis sie den Attributionen von Menschen mit Streben nach Erfolg und ohne relevante Angst vor Misserfolg ähneln. Dabei berücksichtigen sie, wie viele Schwierigkeiten sie überwinden müssen, um Aufgaben anzugehen.

3.6.2 Veränderung des Fähigkeitskonzeptes und der Selbstbewertungsemotionen Die Patientinnen und Patienten werden gebeten, sich bewusst zu machen, welche Fähigkeiten sie nutzen, um die Konzentration auf die Aufgabe zu lenken und sie strukturiert zu bearbeiten. Zusätzlich werden sie gebeten, sich bewusst zu machen, was sie in der Therapie gelernt haben: Sie haben gelernt,

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

• Selbstverbalisationen hilfreich einzusetzen, • Selbstmanagementstrategien zu verwenden, • die Angst vor Misserfolgen zu überwinden, • Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten durch funktionales Verhalten zu ersetzen, • die Angst zu kontrollieren und • Strategien zur Aufgabenbewältigung aufzubauen. Anschließend werden sie gebeten zu benennen, wie sie sich fühlen angesichts der bewältigten Aufgabe (Selbstbewertungsemotionen). Das Ziel ist, positive Selbstbewertungsemotionen angesichts der eigenen Fähigkeiten zu empfinden. Der Speditionskaufmann wird nach den beiden Probetagen, die er vereinbart hat, um das Team kennenzulernen, eingestellt. Er fühlt sich von seinen neuen Kolleginnen und Kollegen herzlich aufgenommen. Obwohl er es schon als Belohnung empfindet, in einer guten Atmosphäre zu arbeiten, ist er so stolz auf sich, dass er sich aus eigenem Antrieb belohnt. Er lädt den Bekannten, der ihm die Firma empfohlen hat, zum Essen ein. Als eine Kollegin krank wird, übernimmt er zusätzlich einen Teil ihrer Aufgaben. Nachdem er diese anstrengende Woche gemeistert hat, attribuiert er zunächst, dass diese Aufgaben nicht schwierig gewesen seien und lehnt eine Belohnung ab. Später kann er funktionale Attributionen für seine erfolgreich bewältigten Zusatzaufgaben während der Einarbeitungszeit finden und belohnt sich und seinen Sohn mit einem Picknick. Die Belohnung fühlt sich für ihn stimmig an. Positive Emotionen nach erfolgreich bewältigten Aufgaben motivieren für spätere Aufgaben. In den meisten Arbeiten zur Leistungsmotivation werden als positive Selbstbewertungsemotion die Emotionen Freude und Stolz genannt. Zufriedenheit ist ebenfalls eine positive Selbstbewertungsemotion. Gerade misserfolgsvermeidende Personen haben oft Hemmungen, auf sich stolz zu sein und freuen sich nicht über ihre Leistungen. Für einige von ihnen könnte eher ein Zustand, in dem sie mit ihrer Leistung wirklich zufrieden sind, das Ziel sein. Manche der misserfolgsvermeidenden Menschen werden kaum von selbst ihre Fortschritte ansprechen. Häufig fallen ihnen ihre Fortschritte erst nach Monaten im Rückblick, im Vergleich zum Beginn der Therapie, auf. In der Regel übersehen sie die Fähigkeiten, die sie für ein Vorhaben neu aufgebaut haben, sie übersehen, dass sie neue Strategien verwendet haben, sie übersehen, dass sie ihre große Angst überwunden haben und Probleme bewältigt haben, statt sie zu vermeiden. Wenn die Therapeutinnen und Therapeuten eine wohlwollende Haltung einnehmen und neu gelernte Fähigkeiten hervorheben, die andere Menschen viel früher im Leben gelernt haben, sind sie ein Modell, um die Fortschritte auf eine funktionale Weise zu bewerten. Häufig haben die misserfolgsängstlichen Menschen große Schwierigkeiten damit, sich zu belohnen. Sie schämen sich, wenn sie gelobt werden. Ziel ist, dass sie sich selbst gegenüber freundlich und fürsorglich sind, so wie gute Eltern sich ihren Kindern gegenüber verhalten: nicht nur freundlich und wohlwollend, wenn das Kind alles perfekt erledigt hat, sondern auch unterstützend und ermutigend, wenn das Kind Schwierigkeiten hatte oder wenn etwas

3.6  Nachbereiten der Aufgabe

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nicht gelungen ist. Je nach therapeutischer Ausrichtung kann das Ziel, sich auch angesichts von Misserfolgen zu unterstützen, durch klassische kognitive Verhaltenstherapie, m ­ eta-kognitive Techniken, Imaginationen, Stuhldialoge oder Rollenspiele verankert werden. Wenn die Patientinnen und Patienten bewerten, dass eine Belohnung für ihre Leistung nicht angebracht sei, ist eine Möglichkeit, gegen diese Bewertung anzugehen, entgegen dieser Bewertung zu handeln und sich trotzdem zu belohnen. Beispiel Herr L., Besitzer des Fahrradladens, aus 2.3.1, der nach der durchgemachten psychotischen Episode wieder arbeitet. Therapeutin: Sie gehen wieder arbeiten, Sie kommen finanziell über die Runden, Sie kümmern sich um Ihre Kinder, Sie verbringen Zeit mit Ihrer Frau und Sie machen Ihren Anteil am Haushalt. Vor einigen Monaten wäre daran noch nicht zu denken gewesen. Sie vergleichen sich aber mit sich selbst, als Sie noch gesund waren. Wenn Sie in Ihrem Fahrradladen irgendetwas falsch gebucht haben, denken Sie: „Mein Gehirn ist völlig kaputt. Das wird nie mehr was.“ Sie kritisieren sich, aber wenn Sie etwas gut gemacht haben, belohnen Sie sich nicht. Herr L.: Ja, das stimmt (lacht verlegen). Therapeutin: Was denken Sie darüber, wie Sie sich beschimpfen? Herr L.: Vor der Krankheit sind mir solche Fehler nicht passiert. Wenn ich das so von Ihnen höre – das klingt schon sehr hart. Meine Tochter hat einen Deutschlehrer, der die Klasse auch so fertig macht. In Deutsch versteht sie vor Schreck nichts mehr. Therapeutin: Das ist also ähnlich wie bei Ihnen? Herr L.: Ja. Wenn ich etwas Schwieriges mache, sage ich mir gleichzeitig, dass ich das überhaupt nicht kann oder dass mein Gehirn kaputt ist. Ich kann mich dann erst recht nicht konzentrieren. Therapeutin: Kennen Sie es von früher, dass jemand Sie so beschimpft hat? Oder, dass Sie sich selbst so beschimpft haben? Was hat Ihnen da geholfen? Herr L.: Beim Fußball früher hatten wir einen Trainer, der hat uns auch immer so übel beschimpft. Damals bin ich vor Angst nur noch über den Ball gestolpert. Therapeutin: Wie sind Sie damals zurechtgekommen? Was hat Ihnen geholfen? Herr L.: Ich habe als ich etwas älter war, innerlich zurückgeschimpft. „Alter Blödmann, du machst mich nicht fertig! Du machst mir mein Spiel nicht kaputt!“ Therapeutin: Und jetzt beschimpfen Sie sich selbst. Herr L.: Ja. Der Trainer dachte wohl, wir spielen besser, wenn er herumbrüllt. Dabei hätte er uns besser loben sollen, als Belohnung, wenn wir das umgesetzt hätten, was wir trainiert haben. Therapeutin: Was können Sie jetzt machen, um sich auf Ihrer Arbeit zu belohnen? Herr L.: Ich müsste ausprobieren, ob ich mich mit Pausen besser konzentrieren kann. Das wäre schon eine Belohnung (Pause). Ich habe mich früher mit kurzen Pausen belohnt. Die Pausen fehlen mir jetzt. Wenn die Pausen nützen würden, hätte ich ja die Hoffnung, dass mein Gehirn doch nicht so kaputt ist. Therapeutin: Pausen wären also eine Belohnung an sich und sie könnten vielleicht dazu führen, dass Sie sich besser konzentrieren können. Das wäre dann auch wieder eine Belohnung für Sie? Herr L.: Ja, aber dieser alte Trainer in mir lässt mich keine Pausen machen. Irgendwie müsste ich ihm sagen können, er soll mir mal eine Chance lassen (lange Pause). Ich gebe mir selbst gar keine Chance. Therapeutin: Sie sehen traurig aus.

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

Herr L.: (nimmt sich ein Taschentuch) Ich lasse mir gar keine Chance. Das bringt doch nichts. Ich sollte einfach nicht mehr auf mich hören. Wie früher, als ich beim Trainer innerlich zurückgeschimpft habe. Therapeutin: Was kann Ihnen dabei helfen, nicht mehr auf sich zu hören? Herr L.: Das, was Sie Stuhldialog nennen. Das hilft ganz gut, glaube ich.

Menschen, die schon seit Jahren oder Jahrzehnten Misserfolge vermeiden, sind häufig nicht geübt darin, auf Grenzen ihrer Belastbarkeit zu reagieren und sich angemessen mit einer Pause für die erledigte Arbeit zu belohnen. Das gilt auch für Patientinnen und Patienten, die nach einer schweren Krankheit an ihren Fähigkeiten zweifeln. Fortsetzung des Beispiels Herr L.: Ich bin auf der Arbeit oft erschöpft und denke: „Wenn ich jetzt eine Pause mache, zeigt das, dass ich noch sehr krank bin. Außerdem habe ich noch nicht genug gearbeitet, um mich mit einer Pause zu belohnen.“ Therapeutin: Wie klappt das mit der Konzentration, wenn Sie keine Pausen machen? Herr L.: Schlecht. Wenn ich so an der Kasse stehe und zwischendurch fragt jemand nach der Werkstatt, wo die Luftpumpen zu finden sind oder wer sie zu Fahrradhelmen beraten kann, dann ist es einfach anstrengend. Therapeutin: Wie ging das früher? Herr L.: Es ging schon deutlich leichter. Der Leuteschinder in mir sagt immer: „Früher konntest du das alles. Da hast du von morgens bis abends durcharbeiten können. Jetzt klappt nichts mehr.“ Therapeutin: Sie haben früher nie Pausen gemacht? Herr L: Doch, das schon (Pause). Ich fand es früher zur Saison auch ganz schön anstrengend. Aber ich gönne mir jetzt keine Pausen mehr. Früher habe ich gedacht: „Du hast jetzt gut gearbeitet, jetzt genießt du einfach mal eine kleine Pause.“ Jetzt denke ich immer, dass ich nicht gut genug war. Therapeutin: Was würde Ihnen helfen, sich Pausen zu nehmen? Herr L.: Wenn ich nicht auf meinen Leuteschinder hören würde – früher habe ich auch gesagt: „Bitte warten Sie einen Augenblick, ich kann Ihnen gleich weiterhelfen“, wenn ich gerade etwas abkassiert habe und jemand hat dazwischengefragt. Und dann brauche ich in der Saison einfach nach einer Stunde Beratung, wenn ich ständig zwischen verschiedenen Leuten hin- und herwechseln muss, eine Pause. Die habe ich früher auch gemacht. Therapeutin: Was können Sie dem Leuteschinder sagen, um sich mit Pausen für Ihre Arbeit zu belohnen? Herr L.: Ich sage dem Leuteschinder das gleiche wie eben im Stuhldialog: Du hältst jetzt mal deine Klappe! Früher war nicht alles besser. Mir geht es jetzt besser als noch vor einem halben Jahr! Du kannst dich gerne melden, wenn du mir wirklich helfen willst. Therapeutin: Um eine Pause zu nehmen, müssten Sie also dem Leuteschinder widersprechen, wenn er etwas gegen die Pause einzuwenden hat. Abgesehen von dem Leuteschinder – wann finden Sie es denn angebracht, sich mit einer Pause zu belohnen? Herr L.: Also, wenn ich genug gearbeitet habe. Therapeutin: Und wann ist das? Wovon hängt das ab? Herr L.: Jetzt gönne ich mir oft lange keine Pause und mache erst eine Pause, wenn ich völlig am Ende bin. Wenn ich mal darüber nachdenke: Die Mitarbeiter machen viel mehr Pausen. Die Raucher gehen rauchen, die Nichtraucher nehmen sich immer mal einen Kaffee oder gehen kurz mit den Rauchern vor die Tür. Ich glaube, ich muss die Pausen richtig planen. Als ich noch gesund war, habe ich nach jeder abgeschlossenen Arbeitseinheit eine kleine Pause gemacht, wenn das ging, und war dabei zufrieden mit

Literatur

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mir: Eine Stunde Fahrräder repariert – Kaffee geholt. Halbe Stunde Kasse – kurz im Büro die Augen geschlossen und durchgeatmet. Zwischendurch habe ich auch mehr mit den anderen über irgendetwas Privates geredet – Kinder, Fußball… Therapeutin: Wollen Sie die Pausen wieder als Belohnung für die erledigte Arbeit einführen? Herr L.: Ja. Es wäre einfacher, wenn ich mit der Arbeit zufrieden wäre. Ich weiß nicht, warum ich nicht mit der Arbeit zufrieden bin. Vielleicht muss ich mir die Arbeit aufschreiben, damit ich sehe, was ich gemacht habe. Wenn ich hinter all die Kleinigkeiten, die ich erledigt habe, Haken setze, dann ist das schon ein gutes Gefühl, glaube ich. Ich war zwar krank, aber ich schaffe trotzdem, einiges zu erledigen. Ich könnte mir die Arbeiten abhaken, ohne dass die Mitarbeiter das mitbekommen. Vielleicht bin ich dann abends noch genauso erschöpft, weil ich nun mal so schwer krank war, aber wenigstens zufrieden erschöpft …

In der Therapie ist es wichtig, immer wieder die Fortschritte anzusprechen und auf den geplanten Belohnungen zu beharren, um die Selbstbewertungsemotionen nach und nach zu verändern. Die positiven Selbstbewertungsemotionen sind der Motor, um neue Vorhaben anzugehen. Um die Selbstbewertungsemotionen zu verändern, wird den Attributionen, den Belohnungen und den Denkmustern, die verhindern, mit sich zufrieden zu sein, genauso viel Platz in der Therapie eingeräumt wie den Konfrontationen mit wichtigen Aufgaben. Die Belohnungen sind therapeutische Hausaufgaben wie auch andere therapeutische Vorhaben. Erst wenn sich positive Emotionen nach einem spontanen Erfolg einstellen, sind zusätzliche Belohnungen nicht mehr nötig: Die Freude über den Erfolg selbst ist die wirksamste Belohnung.

Zusammenfassung

Menschen mit starker Misserfolgsangst neigen dazu, sich abzuwerten – selbst wenn sie funktionale Attributionen eingeübt haben und schon einige Erfolge mit wichtigen, herausfordernden Aufgaben aufweisen können. Ein realistisches Fähigkeitskonzept und positive Selbstbewertungsemotionen sind die Voraussetzung, um Aufgaben freiwillig anzustreben. Wenn die Patientinnen und Patienten Belohnungen für sich ablehnen, kann das ein Anzeichen für demütigende Selbstkritik sein.

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3  Therapie der Misserfolgsvermeidung

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Therapie der Übermotivation

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Wenn eine Person generalisiert Angst vor Misserfolg hat und gleichzeitig nach Erfolg strebt, bahnt dieser Konflikt eine chronische Überlastung an. Dadurch kann die Misserfolgsangst psychische Erkrankungen begünstigen. Diese übermotivierten Menschen (nach Covingtons und Roberts quadripolarem Modell der Leistungsmotivation) nehmen sich immer wieder vor, ihre Belastungsgrenzen zu wahren. In der nächsten Leistungssituation glauben sie aber, ihre lückenhaften Fähigkeiten nur mit besonderer Anstrengung verbergen zu können. Sie überlasten sich wieder. Die hier vorgeschlagene Therapie hilft, die psychische Erkrankung der überlasteten Menschen gleichzeitig mit der Misserfolgsangst zu mildern. Sie besteht darin zu verstehen, warum wichtige Ziele nur mit sehr viel Mühe erreicht werden, Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten abzubauen, relevante Aufgaben mit Strategien zur Aufgabenbewältigung zu bearbeiten und danach funktionale Attributionen und positive Emotionen für das Erreichte anzubahnen.

4.1 Grundprinzipien der Behandlung Übermotivierter Dieses Kapitel bezieht sich auf Patientinnen und Patienten am Pol der Übermotivation im quadripolaren Modell der Leistungsmotivation nach Covington und Roberts (1994). Einzelne Aspekte können auch für vorwiegend misserfolgsvermeidende Menschen hilfreich sein – zwischen den verschiedenen Polen des quadripolaren Modells sind viele Motivkonstellationen möglich und je nach Situation ändert sich das Gleichgewicht zwischen Hoffnungs- und Furchtmotiv. Die diagnosebezogene Therapie Übermotivierter wird zu Beginn meistens von Streben nach Erfolg bestimmt: Die Patientinnen und Patienten denken sich in die Krankheitsmodelle ein, erledigen ihre therapeutischen Aufgaben und © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hollas, Psychotherapie der Misserfolgsangst, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61142-5_4

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4  Therapie der Übermotivation

beschäftigen sich häufig noch zusätzlich mit psychotherapeutischen Fragen. Erst wenn es darum geht, sich im Alltag oder im Beruf nicht mehr zu überfordern und vom Sicherheitsverhalten abzulassen, dreht sich die Therapie im Kreis (siehe Abschn. 2.3.3, „Therapieresistenz bei Übermotivation“). Ihre Angst, durch eine nicht beachtete Kleinigkeit zu scheitern oder sich mit dem geforderten Standard verschätzt zu haben und als eine unfähige Person entlarvt zu werden, lässt sie verzweifelt an ihrer perfektionistischen Herangehensweise an Probleme festhalten. Solange Hoffnung auf Erfolg und Angst vor Misserfolg ähnlich stark ausgeprägt sind, bleibt das Vermeidungsverhalten im Hintergrund. Bei Übermotivierten beeinflusst die Angst vor einer Blamage die therapeutische Beziehung und treibt sie dazu, sich für die Therapie zu verausgaben. Einige Patientinnen und Patienten befürchten, zuerst überschätzt und später als „zu unfähig für eine Psychotherapie“ entblößt zu werden. Diese Angst wird größer, wenn die Therapie auf der Stelle tritt. Um die Angst zu mildern, in der Therapie bloßgestellt zu werden, ist eine unmissverständlich wohlwollende Einstellung wichtig (siehe Abschn. 3.2, „Grundprinzipien der Therapie Misserfolgsvermeidender“). So können die Patientinnen und Patienten in der Therapie die Erfahrung machen, dass sie auch als wertvolle Personen angenommen werden, wenn sie nichts Besonderes leisten.

4.1.1 Mangelnde Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem Übermotivierte halten es für unverzichtbar, allen Risiken vorzubeugen, auch den Risiken, die mit einer nur geringen Wahrscheinlichkeit auftreten könnten. Sie schätzen die Konsequenzen als katastrophal ein, wenn sie auf eine bestimmte Detailfrage von Vorgesetzten nicht antworten können oder wenn sie einen besonders hohen Standard, der mit einer geringen Wahrscheinlichkeit von ihnen erwartet wird, nicht erreicht haben. Alle Details können nach ihrer Ansicht wichtig sein. Alles, was einen Leistungsstandard erhöht, könnte entscheidend sein, um das befürchtete Scheitern abzuwenden. Es fällt Übermotivierten sehr schwer, ihr dysfunktionales Verhalten zu identifizieren, wenn dysfunktionales Verhalten charakterisiert ist als Verhalten, bei dem sie zu detailversessen, zu perfektionistisch und insgesamt zu viel arbeiten. In ihrer Vorstellung gibt es keine unwichtigen Details oder zu hohe Standards – beides ist ihnen sehr wichtig, weil sie davon ausgehen, dass beides hilft, das Scheitern abzuwenden. Übermotivierte überschätzen die Konsequenzen eines negativen Ereignisses und sie gehen davon aus, dass sie mit einem negativen Ereignis nicht zurechtkommen werden. Übermotivierte zu bitten, sich in Zukunft nur auf das Wesentliche zu konzentrieren, führt nicht dazu, dass sie sich auf das Wesentliche konzentrieren, sondern dazu, dass sie die Therapeutinnen und Therapeuten davon überzeugen wollen, welche Details und welche Leistungen, die einen Standard erhöhen, eben nicht unter die Kategorie „unwesentlich“ fallen. Es ist also kein brauchbarer therapeutischer Ansatz, die Überlastung durch die Konzentration auf das Wesentliche zu verbessern. Eine

4.1  Grundprinzipien der Behandlung Übermotivierter

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Unterscheidung, die Übermotivierten viel leichter fällt als die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem ist die Unterscheidung zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen.

4.1.2 Behandlungsübersicht Das Ziel der Therapie der Übermotivation ist, zu handeln und sich zu fühlen wie eine Person, bei der die Hoffnung auf Erfolg höher ist als die Angst vor Misserfolg – eine Person, die davon ausgeht, wichtige Aufgaben mit etwa so viel Aufwand wie andere Menschen zu bewältigen und die sich zutraut, unverhoffte Probleme zu meistern.

Ablauf des Motiv- und Fähigkeitstrainings bei Übermotivation

• Motivdiagnostik (siehe Abschn. 1.4) • Psychoedukation • Vorbereiten wichtiger Aufgaben – Annäherungs- und Vermeidungsziele identifizieren – Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten identifizieren und abbauen – Techniken zur Angstreduktion erlernen • Relevante Aufgaben mit Strategien zur Aufgabenbewältigung bearbeiten, dabei Annäherungsziele beachten • Nachbereiten der Aufgabe – Funktionale Attributionen anwenden – Sich selbst belohnen Die übermotivierten Personen lernen in der Therapie, wichtige Vorhaben zu verfolgen und sich nach Annäherungszielen statt nach Vermeidungszielen zu richten. Zuerst wird ihnen mit dem Störungsmodell eine Erklärung für ihre chronische Überlastung beim Bewältigen wichtiger Vorhaben angeboten. Wenn sie die Hoffnung haben, Aufgaben effizienter als bisher zu lösen, steigt ihre Motivation, relevante Aufgaben ohne Sicherheitsverhalten anzugehen. Die übermotivierten Personen identifizieren Annäherungs- und Vermeidungsziele und ihr Vermeidungsund Sicherheitsverhalten. Sie probieren Strategien aus, um Vermeidungsziele durch Annäherungsziele zu ersetzen und um Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten abzubauen. In der Therapie werden relevante Aufgaben ohne Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten vorbereitet und bearbeitet. Um die Aufgaben effizient zu bewältigen, bereiten die übermotivierten Menschen die Aufgaben mit Problemlösestrategien vor. Diese Problemlösestrategien werden für Annäherungsziele, nicht für Vermeidungsziele, angewendet. Die übermotivierten Personen lernen in der Therapie, nach der bearbeiteten Aufgabe die Gründe für Scheitern oder Gelingen so zu benennen, dass diese

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4  Therapie der Übermotivation

Bewertungen ihnen bei den nächsten Aufgaben helfen (funktionale Attributionen). Sie planen anschließend Belohnungen, um die neuen Verhaltensmuster zu etablieren und um die Selbstbewertungsemotionen zu verändern.

Zusammenfassung

Übermotivierte befürchten zu scheitern, wenn sie sich nicht exzessiv um Kleinigkeiten und um sehr hohe Standards bemühen. Da die Vermeidungsziele sie zu einer perfektionistisch anmutenden Handlungsweise drängen, lernen sie in der Therapie, Annäherungsziele zu verfolgen. Um die Handlungsplanung zusätzlich zu verbessern, verwenden sie Problemlösestrategien. Sie trainieren, Aufgaben ohne Sicherheitsverhalten zu bearbeiten, um Erfolge zu haben, ohne sich zu überlasten. Nachdem sie die Aufgabe bewältigt haben, lernen die Patientinnen und Patienten, funktional zu attribuieren und sie verbessern ihre Selbstbewertungsemotionen, indem sie ihre Erfolge akzeptieren und sich belohnen.

4.2 Psychoedukation bei Übermotivation In der Psychoedukation erfahren die Patientinnen und Patienten, dass es noch eine andere Erklärung für ihre Schwierigkeiten, Ziele zu erreichen gibt als ihre vermeintliche Unfähigkeit. In den Teufelskreismodellen der Übermotivation und der Misserfolgsvermeidung lernen sie die kurz- und langfristigen Folgen ihrer Motivkonstellation kennen und beschäftigen sich danach damit, ihr individuelles Störungsmodell zu erarbeiten. Anschließend stellen ihnen die Therapeutinnen und Therapeuten das Behandlungsrational vor. Damit die übermotivierten Personen verstehen, warum sie immer wieder scheitern oder schlechtere Ergebnisse erzielen als es nach ihren Fähigkeiten und ihrer Mühe zu erwarten wäre, ist es wichtig, ihnen ihren Motivkonflikt im Störungsmodell nahezubringen. Die Psychoedukation kann mit den Ergebnissen der verhaltensnahen Diagnostik (siehe Abschn. 1.4) und der Motivdiagnostik (z. B. Multi-Motiv-Gitter, Sokolowski et al. 2000) beginnen. Um die Motivationsstörung, die in der Regel kurz vor einem wichtigen Ziel auftritt, nachvollziehbar zu machen, fassen die Therapeutinnen und Therapeuten früh in der Psychoedukation das Erwartungs-mal-Wert-Modell (Atkinson 1957) zusammen und erläutern, dass Hoffnungs- und Furchtkomponente des Leitungsmotivs gleichzeitig vorkommen können (siehe Abschn. 1.1.2 und 1.1.4).

4.2.1 Teufelskreismodell der Übermotivation Das hier beschriebene Störungsmodell kann anhand des Teufelskreismodells der Übermotivation (Abb. 4.1) veranschaulicht werden.

4.2  Psychoedukation bei Übermotivation

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Teufelskreis der Übermotivation bei wichtigen, herausfordernden Aufgaben Hoffnung auf Erfolg: Antizipation von Stolz Angst vor Misserfolg: Antizipation von Scham Fähigkeitskonzept: Muss sich für Erfolg mehr anstrengen als andere

Person, die trotz Anstrengung oft scheitert

Festhalten an Aufgabe, Anstrengung Zielsetzung wechselnd Hoffnung auf Erfolg: herausfordernde Aufgaben Angst vor Misserfolg: unwichtige, zu leichte oder zu schwere Aufgaben Versuch, Misserfolg durch Anstrengung abzuwehren: Detailversessenheit. Gleichzeitig Vermeiden wichtiger Grundlagen

Hohes Risiko zu scheitern (Scham) Wenig Fortschritte, steigende Misserfolgsangst Erfolg: Erleichterung. Aufgabe selbst: Ergebnis im Verhältnis Konzentration auf zum Aufwand schlecht: Angst, negative Enttäuschung, Erschöpfung Selbstverbalisationen

Misserfolgsangst überwiegt Hoffnung auf Erfolg: Vermeidung, Flucht

Abb. 4.1  Teufelskreis der Übermotivation

Beispiel In manchen Situationen fühlen Übermotivierte sich sicher und können an frühere Erfolge anknüpfen. Dann können sie wichtige Vorhaben zügig umsetzen. In anderen Situationen haben sie starke Angst vor dem Scheitern und glauben nicht daran, dass sie eine Aufgabe bewältigen können. Dann neigen sie dazu, Aufgaben zu vermeiden. Solche Situationen sind kurz vor wichtigen Vorhaben häufig. Häufig fühlen sich diese Personen grundsätzlich fähig, wichtige Aufgaben zu bewältigen und haben gleichzeitig Angst, sich bei der Aufgabe zu blamieren. Sie haben mir gesagt, dass Sie sich ständig überfordern, ohne dass Sie das wollen, egal ob bei privaten Aufgaben oder beruflich. Es könnte bei Ihnen auf folgende Weise zur Überlastung kommen: Übermotivierte konzentrieren sich oft darauf, Fehler im Detail zu vermeiden. Sie wollen sich gründlich auf alles vorbereiten. Sie vermeiden es dagegen, sich mit wichtigen Grundlagen zu beschäftigen, weil Aufgaben um so mehr Angst machen, je wichtiger sie sind. Häufig sagen sich die Übermotivierten, dass sie „gerade keine Zeit“ haben, um sich mit den grundlegenden Prinzipien zu beschäftigen. Dadurch wirkt ihre Arbeitsweise sprunghaft.  Außenstehende beobachten, dass sie sich exzessiv auf die Anforderungen vorbereiten und sich in Details verlieren. Übermotivierte Personen sind schließlich überlastet und müssen ihr Vorhaben oft abbrechen – beispielsweise wegen einer stressbedingten Erkrankung. Dagegen sorgen sich die übermotivierten Patientinnen und Patienten selbst gewöhnlich darum, dass sie wegen einer Kleinigkeit, die sie vorher nicht beachtet haben, versagen oder dass sie in einer Prüfungssituation vor Angst nicht mehr handlungsfähig sind. Sie hoffen, dass sie in der Prüfungssituation weniger Angst haben, wenn sie sich exzessiv vorbereiten. Wichtig bei der Psychoedukation ist, die Rolle des Vermeidungsziels zu verdeutlichen.

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4  Therapie der Übermotivation

Beispiel Wenn bei Übermotivierten die Misserfolgsangst steigt, ohne dass sie ihr Vorhaben vermeiden, sind Denken und Handeln von der Sorge bestimmt, trotz ihrer Mühe zu scheitern. Übermotivierte versuchen, während sie ihr Vorhaben umsetzen, gleichzeitig allen Risiken vorzubeugen. Allen Risiken vorbeugen bedeutet, jede Kleinigkeit zu bedenken und allen irgendwie möglichen Anforderungen gerecht zu werden. Die übermotivierten Personen kümmern sich im Verhältnis dazu kaum darum, die Aufgabe systematisch zu bearbeiten und zu überlegen, wie sie dabei eventuelle Hindernisse überwinden können, statt ihnen vorzubeugen. Die übermotivierten Personen sind interessiert an Erklärungen für ihre starke Angst kurz vor einer anstehen wichtigen Aufgabe. Beispiel Wenn Übermotivierte schließlich feststellen, dass sie trotz eines hohen Aufwandes kaum vorangekommen sind oder sich erschöpft fühlen, wächst ihre Angst zu scheitern. Die beständige Angst vor einem Misserfolg raubt zusätzlich Energie. Kurz vor der Anforderung selbst stellen die Patientinnen und Patienten oft fest, dass sie überanstrengt sind, und sie fühlen sich trotz ihrer Mühe nicht ausreichend gut vorbereitet. Sie haben sehr viel Energie auf eine Aufgabe verwendet, von der sie wissen, dass andere sie leichter bewältigt hätten. Sie haben keine Hoffnung mehr und neigen dazu aufzugeben. Andere werden unter dieser hohen Anspannung krank und können ihr Vorhaben nicht beenden. Sie fühlen sich den Krankheitsphasen, die „immer zur falschen Zeit“ kommen, hilflos ausgeliefert. Sie schämen sich, dass sie trotz ihrer großen Anstrengung versagt haben. Einerseits wissen Übermotivierte, dass sie über einige Fähigkeiten verfügen, um Aufgaben erfolgreich zu bewältigen, andererseits haben sie die Erfahrung gemacht, dass sie trotz ihrer Fähigkeiten und eines hohen Aufwandes vergleichsweise wenig erreichen. Beispiel Selbst wenn Übermotivierte die Aufgabe erfolgreich gemeistert haben, fühlen sie sich oft wie Hochstapler: Sie mussten viel mehr Aufwand als andere treiben, um die Aufgabe zu bewältigen. Die Erfolge verbessern ihr Selbstvertrauen kaum, weil sie glauben, dass sie Aufgaben nur an der Grenze zur Überlastung bewältigen können und dabei auf den Zufall vertrauen müssen, um einer Blamage zu entgehen.

Zusammenfassung

Bei übermotivierten Patientinnen und Patienten ändert sich die Gewichtung von Hoffnungs- und Furchtmotiv immer wieder. Deshalb ist ihr Störungsmodell komplizierter als das Misserfolgsvermeidender. Die Angst bezieht sich oft darauf, dass unbeachtete Details ein Vorhaben zum Scheitern bringen und dass der Beurteilung ihrer Leistung ein unerwartet hohes Arbeitspensum oder ein sehr hoher Standard zugrunde gelegt werden. Die Vermeidungsziele verhindern, dass die Betroffenen ihre Aufgaben strukturiert angehen und wichtige Anforderungen ihres Vorhabens beachten.

4.2  Psychoedukation bei Übermotivation

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4.2.2 Psychoedukation zur Scham Beschämt zu werden ist das zentrale Vermeidungsziel bei Misserfolgsangst, verbunden mit der Angst, abgewertet zu werden und der Angst, sich minderwertig zu fühlen (Sznycer et al. 2016, 2018) – siehe Beispiel in 3.3.2 (Psychoedukation zur Scham Misserfolgsvermeidender) und Kap. 2.

4.2.3 Fallbeispiel Übermotivation Frau M., 32 Jahre alt, verheiratet, 2 Kinder (2 und 5 Jahre alt), Bauzeichnerin: • Diagnose: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode • Multi-Motiv-Gitter: starkes Streben nach Erfolg (Prozentrang 98) und starke Angst vor Misserfolg (Prozentrang 100), starke Angst vor Zurückweisung (Prozentrang 88). • Leistungsdiagnostik: gut durchschnittliche Konzentration und Merkfähigkeit, IQ 115. Frau M. kommt wegen depressiver Symptome zur Psychotherapie. Sie sagt, sie sei allgemein überfordert, von ihrer Familie, von ihrer Anstellung als Bauzeichnerin und von ihren Schwiegereltern. Sie wisse nicht, wie sie aus ihrer schwierigen Lebenssituation herauskommen könne. Ihre Ehe drohe zu scheitern. Sie sei bis vor wenigen Monaten in tiefenpsychologischer Behandlung gewesen. Die Therapeutin habe die Therapie abgebrochen, weil sie Frau M. als unmotiviert erlebt habe. Frau M. sagt, alle Menschen, die ihr nahe stünden, seien sauer auf sie. Sie wolle sich unbedingt ändern, aber sie wisse nicht, wie. Sie wohne mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern in einer beengten Wohnung im Haus ihrer Schwiegereltern auf dem Dorf. Diese Wohnung sei als Zwischenlösung geplant gewesen, aber inzwischen wohne die Familie seit Jahren dort. Die Schwiegereltern mischten sich in die Erziehung der Kinder ein und seien sehr kritisch. Sie lehnten es ab, die Kinder stundenweise zu betreuen, weil das ihrer Meinung nach die Aufgabe der Mutter sei. Der Ehemann leide stark unter den Launen seiner Eltern. Es gebe viel Streit unter den Eheleuten, weil Frau M. aus Sicht ihres Mannes seit zwei Jahren den Umzug in ihre Eigentumswohnung in der Stadt, in der Nähe der Arbeitsstellen und des Kindergartens, boykottiere. Ein anderes Thema, über das Frau M. mit ihrem Mann streite, sei der Vorwurf, dass sie trotz einer Teilzeitstelle mehr als 40 h pro Woche arbeite. Ihr Mann habe ebenfalls eine Teilzeitstelle und übernehme den größeren Anteil am Haushalt und an der Kinderbetreuung. Er ärgere sich darüber, dass Frau M. für gemeinsame Gespräche oder für Unternehmungen mit den Kindern zu erschöpft sei. Frau M. fühle sich auf der Arbeit von den vielen Aufgaben überfordert und habe Angst, dass ihr in der Probezeit gekündigt werde, wenn sie pünktlich Feierabend mache. Ihr Chef sage, sie habe zwar gute Ideen und sei gründlich, aber sie verzettle sich und müsse lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, um Termine einzuhalten.

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4  Therapie der Übermotivation

Als sie mit dem älteren Kind schwanger gewesen sei, habe das Ehepaar in der Stadt preiswert ein Reihenhaus gekauft. Sie habe sich in dem Viertel nicht wohlgefühlt und sich vor ihren Freundinnen geschämt, weil es ihr gar nicht gelungen sei, das Haus schön einzurichten. Sie habe unter der Vorstellung gelitten, dass jeder Besucher sofort merke, dass sie eine schlechte Bauzeichnerin sei. In ihrem Beruf müsse sie die Vorgaben der Architekten technisch korrekt umsetzen. Dabei brauche sie ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen und Wissen über die verwendeten Materialien. Sie sei davon ausgegangen, dass ihr diese Fähigkeiten angesichts der Einrichtung des Hauses abgesprochen würden. Vor allem habe an ihr genagt, dass ihr geerbter, riesiger antiker Schrank im Wohnzimmer deplatziert gewirkt habe. Sie habe sich als Kind oft zusammen mit ihrem Bruder in diesem Schrank versteckt und sich dort geborgen gefühlt. Eine eigene Wohnung ohne diesen Schrank könne sie sich nicht vorstellen. Sie sei in dem Reihenhaus unglücklich gewesen. Der Zigarettenrauch der Vorbesitzer habe noch ausgedünstet, sodass sie im Reihenhaus viel häufiger unter Schwangerschaftserbrechen gelitten habe als an anderen Orten. Sie sei schließlich so depressiv gewesen, dass sie sich in stationäre psychiatrische Behandlung begeben habe. Das Ehepaar habe das Haus wieder verkauft und sei zurück in das Haus der Schwiegereltern gezogen. Seit zwei Jahren besäßen sie eine günstig gelegene Altbauwohnung in der Stadt. Der Mann lasse sie über die Inneneinrichtung entscheiden, weil er Angst habe, dass sie sonst wieder depressiv würde. Andererseits leide er unter der Lebenssituation, er sei erschöpft und gereizt und er könne nicht nachvollziehen, warum die neue Wohnung nicht einfach gestrichen werde, bevor die Familie umziehe. Frau M. beschäftige sich intensiv mit Plänen für die Wohnung. Die Familie habe nicht genug Geld, um die alte Einbauküche und die alten Fliesen im Bad zu ersetzen. Frau M. fürchte, dass es ihr nicht gelinge, die Wohnung so einzurichten, wie es angemessen sei. Sie gehe davon aus, dass ihr Chef, ein Architekt, der zufällig in der Nähe wohne, die Wohnung besichtigen wolle. Er werde ihr bestimmt unter einem Vorwand kündigen, wenn er die misslungene Wohnung sehe. Ihr Mann könne ihre Sorge nicht nachvollziehen. In der vorigen Therapie habe sie immer wieder über diese Sorge gesprochen und sei nicht weitergekommen. Sie wisse, dass sie zu viel Angst vor Kritik habe, um den Umzug zu schaffen. Andererseits könne sie nicht darauf warten, bis diese Angst gebessert sei, bevor sie umziehe. Sie sei also in einer Zwickmühle. Frau M. überlege ständig, wie sie aus der Wohnung etwas Besonderes machen könne und denke über viele Details nach – etwa kleine Ausbesserungen an der Stuckdecke, Lichtleisten, die Farbe des Sichtschutzes, Lichtschalter und ähnliches.

4.2.4 Beispiel des Störungsmodells anhand einer konkreten Aufgabe Frau M., die Bauzeichnerin aus dem Fallbeispiel, hat Hoffnung auf Erfolg, was den Umzug betrifft: Sie beschäftigt sich intensiv mit verschiedenen Plänen und gibt den Plan, die Einrichtung nach ihren Wünschen zu realisieren, nicht auf. Sie weigert sich,

4.2  Psychoedukation bei Übermotivation

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die Aufgabe an ihren Mann abzutreten – der darüber sehr froh wäre. Gleichzeitig hat sie Angst, dass der Umzug zeigt, wie hoffnungslos unfähig sie als Bauzeichnerin eigentlich ist. Sie hat Angst vor der Kritik ihres Chefs und davor, ihre Anstellung zu verlieren. Das Anspruchsniveau wechselt: Mal traut sie sich den Umzug nicht zu und will von ihrem Vorhaben zurücktreten, dann wieder sucht sie nach besonderen Lösungen, die gleichzeitig preiswert sind, was ein sehr hoher Anspruch an ihre Fähigkeiten ist. Bei anderen Problemen findet sie angemessene Lösungen, etwa für die Farben der Wände und die Behandlung der Böden (wichtige Aufgaben). Aus Angst, dass ein höherer Standard von ihr gefordert ist als eine preiswerte, pragmatische Lösung, verzettelt sie sich in Details und ändert nichts an den eigentlichen Problemen: erstens die unerträgliche familiäre Situation und zweitens die Tatsache, dass ihr niemand in ihrer Umgebung mehr viel zutraut. Sie kommt nicht weiter (mangelnde Fortschritte). Ihre Zuversicht, das Vorhaben noch umzusetzen, schwindet. Wenn kein finanzieller Verlust drohen würde, hätte sie das Vorhaben aufgegeben (Vermeidung, Flucht). Sie befindet sich in einer Situation, in der sie vor sich selbst nicht zugibt, dass sie bisher an der Aufgabe gescheitert ist – trotz ihrer vielen ausgefeilten Pläne. Wenn sie die Wohnungseinrichtung plant, konzentriert sie sich auf ihre Angst vor einer Blamage, ihre Angst vor Kritik und ihre Angst, als Folge des Scheiterns depressiv zu werden. Sie sagt sich: „Das schaffe ich nie. Wenn mein Chef die Wohnung sieht, kündigt er mir“ (Konzentration auf negative Selbstverbalisationen). Auf der Arbeit sieht sie sich zwar als gründlich und mit guten Kenntnissen, sie weiß aber, dass sie sich für ihre Aufträge mehr anstrengen muss und mehr Zeit braucht als andere. Sie schwankt in ihrem Fähigkeitskonzept zwischen der Ansicht, dass sie begabt sei und noch mehr Routine brauche und der Auffassung, dass sie eine Hochstaplerin sei, die sich selbst und andere getäuscht habe.

4.2.5 Individuelles Störungsmodell Nach dem allgemeinen Störungsmodell wird das Modell auf die hilfesuchende Person individuell zugeschnitten. Wichtig ist, herauszuarbeiten, wie die Motivkonstellation wechselt. Übermotivierte kennen Situationen, in denen die Hoffnung auf Erfolg stark handlungsleitend ist, Situationen, in denen die Angst vor Misserfolg zu misserfolgsvermeidenden Mustern führt und Situationen, in denen beide Motive gleichermaßen aktiviert sind. Sie erarbeiten deshalb außer dem Teufelskreismodell Übermotivierter (Abb. 4.1) auch das Teufelskreismodell Misserfolgsvermeidender (Abb. 3.2) und lernen im Gegensatz dazu das Selbstbewertungsmodell Heckhausens (1975) von Personen mit Hoffnung auf Erfolg ohne relevante Misserfolgsangst kennen (siehe Abschn. 1.1.3). Die Patientinnen und Patienten finden zu allen drei Motivkonstellationen eigene Beispiele, beginnen, Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten zu identifizieren und ordnen ihre Denk- Verhaltens- und Bewertungsmuster anhand der Abb. 3.2 und 4.1 in die Modelle ein. Anhand der Störungsmodelle kann für die Übermotivierten klar werden, dass sie gerade dann dazu neigen, schlechte Ergebnisse im Verhältnis zum

4  Therapie der Übermotivation

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Aufwand zu erzielen, wenn sie jedes Risiko zu scheitern im Voraus verhindern wollen. Es kann für sie verständlich werden, dass sie erfolgreicher sind, wenn sie ihre Ressourcen auf ein positives Ziel richten. Bei dem individuellen Störungsmodell können Bezüge zu der psychischen Erkrankung, wegen der die Behandlung aufgesucht wurde, gefunden werden. So macht etwa eine Überlastung eine depressive Episode wahrscheinlich.

4.2.6 Vermittlung des Behandlungsrationals Nachdem die Teufelskreismodelle der Misserfolgsvermeidung und der Übermotivation besprochen und eigene Beispiele dort eingeordnet worden sind, werden die oben genannten Punkte anhand der Abb. 4.2, „Therapie der Übermotivation“, besprochen. Bei Patientinnen und Patienten, die oft misserfolgsvermeidend sind, kann die Abb. 3.3 „Therapie der Misserfolgsvermeidung“ ergänzend herangezogen werden.

Zusammenfassung

Wenn die Therapeutinnen und Therapeuten das Behandlungsrational vermitteln und die übermotivierten Personen das individuelle Störungsmodell erarbeiten lassen, legen sie viel Wert darauf, dass die Folgen der Annäherungs- und Vermeidungsziele deutlich werden.

Therapie der Übermotivation Verringerte Misserfolgsangst, verstärkte Hoffnung auf Erfolg Fähigkeitskonzept: Person, die auch ohne sich zu überlasten Erfolg hat

Freude, Zufriedenheit, Stolz

Anstreben von Annäherungszielen

effiziente Arbeitsweise mit optimierter Handlungsplanung, (Teil-) Erfolg wahrscheinlich

Einüben funktionaler Attributionen, Planen von Belohnungen

Abb. 4.2  Therapie der Übermotivation

Problemlösen und Planen mit Annäherungszielen Abbau von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten, Einüben hilfreicher Selbstverbalisationen

4.3 Zielsetzung und Vorbereiten relevanter Aufgaben bei Übermotivation

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4.3 Zielsetzung und Vorbereiten relevanter Aufgaben bei Übermotivation Nach der Psychoedukation erarbeiten die übermotivierten Personen zunächst wichtige Annäherungsziele. Diese Ziele sind die Grundlage dafür, relevante therapeutische Aufgaben auszuwählen. In diesem Teil der Therapie schaffen sie die Voraussetzungen, um die Vorhaben umzusetzen. Dafür lernen sie, zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen zu unterscheiden, und sie identifizieren ihr Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten. Sie achten darauf, wie sich Annäherungsziele nutzen lassen, um Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten zu reduzieren. Außerdem lernen sie, ihre Angst so weit zu kontrollieren, dass sie später, beim Bearbeiten der relevanten Aufgaben, handlungsfähig sind.

4.3.1 Ziel- und Wertklärung Bei Misserfolgsvermeidenden folgt nach der Psychoedukation die Ziel- und Wertklärung, angelehnt an die Selbstmanagementtherapie (Kanfer et al. 2005), um eine bessere Veränderungsmotivation aufzubauen. Übermotivierte sind zu Beginn der Therapie in der Regel hoch motiviert. Die Ziel- und Wertklärung ist bei ihnen häufig nicht nötig, um Veränderungsmotivation aufzubauen, aber hilfreich, um Therapieziele zu finden, die zu ihren Bedürfnissen passen. Die Ziel- und Wertklärung wird in Abschn. 3.4.1 beschrieben.

4.3.2 Unterscheidung zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen Der nächste therapeutische Schritt ist, dass die Patientinnen und Patienten zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen unterscheiden lernen. Sie lernen, welche Art von Ziel bei ihnen mit welchen Gedanken, Gefühlen und welchem Verhalten verbunden ist und sie lernen zu registrieren, ob gegenwärtig Annäherungs- oder Vermeidungsziele handlungsbestimmend sind. Ausgehend vom Störungsmodell wird erarbeitet, dass Annäherungsziele sich positiv auf das Wohlbefinden und auf die Handlungsplanung auswirken, während Vermeidungsziele zu ständiger Besorgnis und einer gestörten Handlungsplanung führen (Carver und Scheier 1998; Kuhl 1983 siehe Abschn. 1.1.3 und 1.1.6). Die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigen wird explizit umgangen, weil Menschen mit Angst, an Details zu scheitern, Details kaum als unwichtig ansehen werden. Beispiel Wenn ein Patient in seiner Ausbildung als Tischler eine Holzkiste baut, strukturiert das Annäherungsziel, die Holzkiste zu bauen, seine Handlungen: Zuerst muss er Material und Werkzeug besorgen und einen Plan machen, dann abmessen,

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4  Therapie der Übermotivation

sägen und die Teile miteinander verbinden. Wenn der Patient seine dafür eingeplante Zeit eingehalten hat, ist von therapeutischer Seite nichts dagegen einzuwenden, wenn er eine möglichst glatt abgeschliffene Kiste herstellt (gute Qualität als Annäherungsziel). Das Augenmerk liegt darauf, nicht länger an der Kiste zu arbeiten als geplant, damit noch Zeit für andere Aufgaben und für Pausen bleibt. Der Übergang zum Sicherheitsverhalten mit dem Vermeidungsziel, einen sehr hohen Qualitätsstandard zu unterschreiten, würde sich eher darin zeigen, dass er den letzten Arbeitsschritt, das Abschleifen, wieder und wieder wiederholen würde, ohne dass ein Fortschritt zu erkennen wäre. Um zu erkennen, welche Art von Ziel aktuell vorherrscht, können in einer Leistungssituation folgende Fragen helfen: • Was will ich gerade erreichen? • Stelle ich mir gerade die bewältigte Aufgabe vor oder eine beschämende Situation? • Wenn ich darüber nachdenke, was ich jetzt als nächsten Schritt vorhabe: Möchte ich damit meinem Ziel näherkommen oder will ich damit einem Risiko oder einer Kritik ausweichen? • Sind meine Selbstverbalisationen hilfreich oder nicht? Ist es eher: „Wenn du das geschafft hast, bist du ein ganzes Stück weitergekommen“, „Das hier sind viele Kleinigkeiten, aber das Grundgerüst steht“ – oder eher: „Wenn du das nicht schaffst, klappt das nie!“, „Das ist so ein Berg von Details, ich weiß nicht weiter“? • Wie fühle ich mich? Zuversichtlich oder besorgt und getrieben? • Wie fühlt sich mein Körper an? Um sich die Unterschiede zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen klarzumachen, wählen die übermotivierten Patientinnen und Patienten eine vergangene Leistungssituation aus, in der die Hoffnung auf Erfolg bestimmend war und eine andere Situation mit einem deutlichen Konflikt des Leistungsmotivs. Um die Situationen auszuwählen, können die Fragen zur Unterscheidung zwischen Annäherungs- und Vermeidungsziel helfen. Die Betroffenen werten aus, wie sie sich gefühlt haben und wie die Ergebnisse im Verhältnis zum Aufwand waren. Anschließend werden sie gebeten, in den folgenden Tagen nach Leistungssituationen (Arbeit oder Prüfungen, alltägliche Aufgaben im Haushalt oder beim Hobby) zu protokollieren, ob gerade Vermeidungs- oder Annäherungsziel bestimmend sind – einzeln oder gleichzeitig. Wenn sie das Protokoll in der Therapie besprechen, ergänzen sie die jeweilige Situation mit den Selbstverbalisationen, den Gefühlen, dem Verhalten und mit dem Ergebnis (Erfolg, Misserfolg oder Teilerfolg), das aus dem Annäherungs-, dem Vermeidungsziel oder dem Konflikt zwischen beiden Zielen resultiert hat.

4.3  Zielsetzung und Vorbereiten relevanter Aufgaben bei Übermotivation

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Zusammenfassung

Für übermotivierte Patientinnen und Patienten ist es so schwierig, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, dass dieses Thema in der Therapie umgangen wird. Stattdessen lernen die übermotivierten Personen, zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen zu unterscheiden und Annäherungsziele anzustreben. Die verbesserte Handlungsplanung bewirkt indirekt, dass wichtige Teilaufgaben gegenüber unwichtigen bevorzugt werden.

Beispiel: Unterschied zwischen Annäherungs- und Vermeidungsziel bewusst machen Jurastudentin aus dem Fallbeispiel in 1.1.5: Patientin: Sie sagen, in der Prüfung nicht durchzufallen ist ein Vermeidungsziel. Ein Annäherungsziel wäre demnach, die Prüfung zu bestehen. Ich finde, das ist Haarspalterei. Klar bestehe ich die Prüfung, wenn ich nicht durchfalle. Therapeutin: Das stimmt. Sie bestehen die Prüfung, wenn Sie nicht durchfallen. Der Unterschied liegt darin, wie das Ziel Ihre Gefühle, Ihre Gedanken und Ihr Verhalten beeinflusst. Woran denken Sie, wenn Sie sich vorstellen, dass Sie nicht durchfallen wollen? Patientin: An die Prüfung. Dass ich viel lernen muss … Therapeutin: Woran genau denken Sie bei der Prüfung? Patientin: Dass bei den früheren Prüfungen ganz schön schwierige Fragen gestellt worden sind. Dass ich bei einer schwierigen Frage nichts mehr weiß und nichts mehr sagen kann, dass ich wie gelähmt bin. Therapeutin: Und woran denken Sie, was Sie alles lernen müssen? Patientin: Ach, einfach alles. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll … Therapeutin: Wie fühlen Sie sich? Patientin: Schlecht. Überfordert. Ich will lieber nicht daran denken, dann will ich lieber sofort aufspringen und mich an die Gesetzestexte setzen. Therapeutin: Okay. Sie denken an die vielen Details, die Sie noch lernen müssen, die schwierigen Fragen, Sie haben offenbar Angst, Sie wissen nicht, wo Sie anfangen sollen und Sie sind hin- und hergerissen zwischen gehetztem Lesen und Fliehen? Patientin: Ja. Therapeutin: Was ist mit dem Annäherungsziel, die Prüfung zu bestehen? Woran denken Sie, wenn Sie sich sagen: Was kann ich tun, um die Prüfung zu bestehen? Patientin: Na ja – auch lernen halt … Therapeutin: Und wie kommen Sie dem Ziel näher? Patientin: Ich mache mir eine Übersicht, welches Kapitel ich wann durchlesen sollte. Und ich gehe die alten Prüfungsfragen durch … Therapeutin: Woran sehen Sie, dass Sie dem Ziel näher gekommen sind? Patientin: (Pause) Wenn ich die Fragen hinter den Kapiteln mit meinen Freunden durchgearbeitet habe, weiß ich schon einiges. Therapeutin: Woran merken Sie, dass Sie weiter weg vom Risiko durchzufallen sind? Patientin: Wenn ich das Wichtigste gelernt habe. Richtig fertig werden mit dem Stoff ist schwierig. Ein Risiko bleibt immer. Wenn ich daran denke, werde ich wieder unruhig. Ich fühle mich überfordert (Pause). Nicht durchfallen ist ein Vermeidungsziel (Pause). Ja, das macht doch einen Unterschied. Wenn ich daran denke, wie ich mich am besten vorbereite, fühle ich mich besser. Mit dem Annäherungsziel habe ich mehr Ideen, wie ich es anstelle.

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4  Therapie der Übermotivation

4.3.3 Achtsamkeit für Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten aufbauen Wenn Vermeidungsziele aktiviert sind, treten Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten auf. Beide verhindern keine Misserfolge, sondern den Rückschluss auf die eigenen Fähigkeiten, soweit sie als ungenügend empfunden werden. Vermeidungsverhalten kann sich auf Teilaufgaben beziehen – etwa, wenn die Patientinnen und Patienten aus Angst, Grundprinzipien eines Themas nicht zu verstehen, sich nicht mit den Prinzipien beschäftigen, sondern stattdessen die Fakten auswendig lernen. Vermeidungsverhalten tritt bei Übermotivierten so wie bei Misserfolgsvermeidenden auf, wenn die Misserfolgsangst gegenüber der Hoffnung auf Erfolg deutlich überwiegt. Wenn sie vor einer Anforderung feststellen, dass sie trotz ihrer Mühe schlecht vorbereitet sind, sind sie demoralisiert. Nach einer (stressbedingten) Krankheit geben sie oft die Hoffnung auf, überhaupt Aufgaben bewältigen zu können. Das Sicherheitsverhalten Übermotivierter kann dem Sicherheitsverhalten Misserfolgsvermeidender gleichen. In diesem Fall verbergen die übermotivierten Personen während einer Anforderung ihre vermeintlich mangelnden Fähigkeiten, indem sie den eigenen Anteil an der Leistung (oder an dem Scheitern) verschleiern: Sie helfen anderen, statt eine Aufgabe selbstverantwortlich zu übernehmen, sie lassen sich übermäßig viel helfen oder sie konstruieren Situationen, die kaum zu bewältigen sind und in denen am Ende nicht klar ist, was genau zum Scheitern beigetragen hat. Das Sicherheitsverhalten dagegen, das für den Motivkonflikt Übermotivierter typisch ist, bezieht sich darauf, eventuelle Risiken im Vorfeld auszuschalten – Risiken, dass die vermeintliche Unfähigkeit offenbar wird. Dieses Sicherheitsverhalten besteht darin, alle irgendwie möglichen Details zu beachten oder darin, sämtliche Anforderungen zu übererfüllen, um sich keine Blöße zu geben. Eine sehr gründliche Vorbereitung soll einer hohen Anspannung und damit „Aussetzern“ vorbeugen. Das Sicherheitsverhalten verringert die Angst kurzfristig. Die Jurastudentin, Frau J., aus dem Fallbeispiel in 1.1.5 zeigt bei der Vorbereitung auf ihre Geburtstagsfeier Sicherheitsverhalten: Sie ist auf das Vermeidungsziel, dass auf der Party schlechte Stimmung herrscht, ausgerichtet und bereitet von der Menge her zu viel Essen vor (Vermeidungsziel, dass das Essen nicht reicht), sie bereitet sehr viele verschiedene Gerichte vor (Vermeidungsziel, dass sie nicht allen Bedürfnissen der Gäste gerecht wird), sie bereitet besonders komplizierte Gerichte vor (Vermeidungsziel, dass der Besuch das Essen als mittelmäßig und langweilig bewertet). Sie geht allen Risiken aus dem Weg, statt eine angemessene Menge Essen zuzubereiten und sich zu überlegen, wie sie, falls es wider Erwarten nicht reichen sollte, für Nachschub sorgen könnte. Das gleiche Muster verfolgt sie bei der Dekoration, der Musikauswahl und sie bereinigt eventuelle Konflikte, bevor sie aufkommen. Auf der Party sorgt sie sich um die Schüsseln, die noch voll sind (es könnte vielleicht nicht schmecken) und um die Schüsseln, die sich schnell leeren (es könnte vielleicht nicht reichen), statt darum, dass alle Gäste jemanden zum Reden haben und darum, dass auch sie selbst mit den Gästen ins Gespräch kommt (Annäherungsziele).

4.3  Zielsetzung und Vorbereiten relevanter Aufgaben bei Übermotivation

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Wenn bei Arbeiten ein Leistungssoll erfüllt werden soll (Call-Center, Fließbandarbeit, Lernen für Prüfungen), zählt zum Sicherheitsverhalten, das Soll aus Angst, es zu unterschreiten, ständig zu übererfüllen. Eine typische Angst Übermotivierter ist vor Prüfungen, dass alle Fragen sich zufällig ausschließlich auf gerade die Details beziehen, die sie nicht genau kennen. Die Patientinnen und Patienten haben im letzten Therapieschritt gelernt, zwischen Annäherungs- und Vermeidungszielen zu unterscheiden. Im darauf folgenden Schritt benutzen sie die protokollierten Situationen zu Annäherungsund Vermeidungszielen, um zusätzlich Vermeidungsverhalten und Sicherheitsverhalten zu identifizieren. Wichtig ist, dass sich die Übermotivierten ihre subtilen misserfolgsvermeidenden Verhaltensweisen in Bezug auf herausfordernde Teilaufgaben bewusst machen. Sie werden gebeten, weiter auf Annäherungs- und Vermeidungsziele zu achten und ihr Protokoll weiterzuführen, ergänzt um Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten. Die Situationen mit Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten (beeinflusst durch Vermeidungsziele) vergleichen sie mit Leistungssituationen, in denen sie kein Vermeidungs- oder Sicherheitsverhalten gezeigt haben (dominante Annäherungsziele). Sie vergleichen den zurückgelegten Weg hin zu dem übergeordneten positiven Ziel im Verhältnis zum Aufwand und den Unterschied im Wohlbefinden.

4.3.4 Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten abbauen Vermeidungsverhalten tritt bei Übermotivierten oft erst kurz vor der eigentlichen Aufgabe in den Vordergrund. Dann können Überlegungen zu Rücknahmen von Entscheidungen (siehe Abschn. 3.5.7) helfen, passend darauf zu reagieren. Bei Vermeidungsverhalten, das dem Vermeidungsverhalten Misserfolgsvermeidender gleicht, kann wie im Abschn. 3.4.4 („Abbau von Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten“) beschrieben, vorgegangen werden. Sicherheitsverhalten können die übermotivierten Patientinnen und Patienten am ehesten abbauen, indem sie es durch Verhalten, das sich auf ein Annäherungsziel richtet, ersetzen und indem sie überlegen, wie sie beim Bewältigen der Aufgabe ihr selbst gewähltes Zeitkontingent einhalten können.

4.3.5 Funktionale Selbstverbalisationen und Techniken zur Angstreduktion anwenden Wenn übermotivierte Individuen auf ihr Vermeidungsziel konzentriert sind, die Handlungsplanung dadurch beeinträchtigt wird und schließlich die Angst vor Misserfolgen sehr viel stärker wird, fühlen sie sich vor Leistungssituationen hilflos. Um dem plötzlichen Anstieg der Angst entgegenzuwirken, sind funktionale Selbstverbalisationen und Techniken zur Angstreduktion, rechtzeitig eingesetzt, hilfreich. Häufig beginnt der plötzliche Angstanstieg, der handlungsunfähig

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4  Therapie der Übermotivation

macht, mit einer negativen Selbstverbalisation. Die Personen überlegen, welche funktionalen Selbstinstruktionen – etwa: „Ich atme tief durch und überlege, was der nächste Schritt ist“ – ihnen in vielen Situationen helfen könnten. Zusätzlich üben sie Entspannungstechniken, die als Kurzform im Alltag rasch wirken. Sie üben, positive Selbstverbalisationen beziehungsweise -Instruktionen und Techniken zur Angstreduktion vorbeugend einzusetzen. Das Ziel ist, ihre Angst schließlich so gut zu kontrollieren, dass sie in Leistungssituationen handlungsfähig bleiben.

Zusammenfassung

Bei Übermotivierten geht es weniger darum, überhaupt Aufgaben in Angriff zu nehmen als darum, Aufgaben so effizient zu lösen, dass die Patientinnen und Patienten sie zu Ende führen können, ohne sich zu überlasten. Für eine effiziente Aufgabenbewältigung ersetzen sie Sicherheitsverhalten durch zielgerichtetes Verhalten. Die Aufgabenbewältigung bereiten sie vor, indem sie Methoden zur Angstkontrolle einüben.

4.4 Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation In diesem Teil der Therapie lernen die Patientinnen und Patienten, Strategien zur Aufgabenbewältigung für Annäherungsziele anzuwenden – Problemlösestrategien und Strategien, um die Umsetzung konkret zu planen. Die Strategien zur Aufgabenbewältigung befähigen die übermotivierten Personen, wichtige Vorhaben ohne überlastendes Sicherheitsverhalten erfolgreich zu bewältigen. Sie bereiten die relevanten Aufgaben, durch die sie bisher überlastet waren, mit den Strategien zur Aufgabenbewältigung vor und erledigen die Aufgaben dann, wobei sie weiter darauf achten, Annäherungsziele zu verfolgen. Übermotivierten ist meistens klar, dass sie ihrer Gesundheit schaden und dass sie dazu neigen, kurz vor wichtigen Aufgaben krank zu werden, weil sie sich ständig übernehmen. Die Patientinnen und Patienten haben schon oft die Ratschläge anderer, alles „langsam angehen“ zu lassen, verpuffen lassen. Übermotivierte Menschen zeigen Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten, wenn sie befürchten, vermeintlich geforderte, hohe Standards nicht erfüllen zu können – etwa nach einer Nacht, in der sie schlecht geschlafen haben. Sie können verstehen, dass sie mehr leisten können und langfristig besser beurteilt werden, wenn sie auch an Tagen, an denen sie nicht so leistungsfähig sind wie sonst, ihre Vorhaben verfolgen – obwohl sie an solchen Tagen nicht so schnell und konzentriert arbeiten können wie sonst. Wenn sie an solchen Tagen Aufgaben bewältigen, zur Arbeit oder zu einer Prüfung gehen, ist das für sie beängstigend. Um sich solchen Anforderungen zu stellen, brauchen sie einen Plan mit Bewältigungsstrategien für negative Ereignisse, falls diese tatsächlich eintreten.

4.4  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation

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4.4.1 Problemlösestrategien für Annäherungsziele In der Therapie planen die Patientinnen und Patienten Aufgaben mit Annäherungszielen und bereiten damit funktionales Verhalten vor. Sie planen Auswege aus Problemen, die sie befürchten, statt die Energie darauf zu verwenden, allen Problemen vorzubeugen. Um ihre Handlungsplanung zu verbessern, nutzen sie in der Therapie Problemlösestrategien (angelehnt an Lauth und Schlottke 2009). Wichtig ist, die Problemlösestrategien ausschließlich für Annäherungsziele zu verwenden und damit Vermeidungsziele in ihrer Wirkung stark einzuschränken. Sie bedenken beim Problemlösen Hindernisse, legen Lösungen für eventuelle Probleme fest und vergegenwärtigen sich ihre Fähigkeiten, um mit Hindernissen umzugehen, statt aufwendig zu verhindern, dass ein Hindernis auftritt. Vermeiden, dass das Hindernis auftritt, ist ein Vermeidungsziel, das Hindernis zu überwinden ist ein Annäherungsziel. Das Annäherungsziel wird so festgelegt, dass das Ziel wahrscheinlich innerhalb eines bestimmten zeitlichen Rahmens erreicht werden kann. Trotz der Mühe, das Ziel zu erreichen, sollte genug Zeit und Energie für andere Verpflichtungen, positive Aktivitäten und passive Erholung bleiben. Auf die Geburtstagsfeier im Fallbeispiel der Jura-Studentin bezogen, wäre mit zwei veganen und glutenfreien Beilagen aus Reis oder Kartoffeln, zwei Fleischoptionen und einem Obstsalat die größte Strecke auf dem Weg zum Ziel zurückgelegt (jeder Gast hätte Auswahl und würde satt werden). In der restlichen Zeit kann die Jura-Studentin sich noch bemühen, etwas Besonderes vorzubereiten. Wenn keine besonderen Gerichte gelingen, verhindert die übrige Vorbereitung, dass die Studentin beschämt wird. Die Zeitbegrenzung sorgt zum einen dafür, dass realistisch geplant werden kann und zum anderen, dass innerhalb einer überschaubaren Zeit Grundlagen geschaffen werden, die Sicherheit geben. Diese Sicherheit reduziert das Risiko, dass später wieder Vermeidungsziele in den Vordergrund rücken. Das Ziel ist, Aufgaben so anzugehen, dass die Menge der Arbeit theoretisch über Jahre hinweg mit gleichbleibender Energie verfolgt werden könnte. Die Problemlösestrategie ist prinzipiell gleich aufgebaut wie die Problemlösestrategie in der Therapie Misserfolgsvermeidender. Um sicherzugehen, dass ein Annäherungsziel statt eines Vermeidungsziels mit der Problemlösestrategie erreicht werden soll, sind die Fragen zur Unterscheidung zwischen Annäherungsund Vermeidungsziel in das Problemlösen mit eingearbeitet.

Problemlösen bei Übermotivation

• Problembeschreibung • Annäherungsziel formulieren • Lösungsmöglichkeiten sammeln • Entscheidungsvorbereitung • Lösungen auswählen und Hindernisse beachten, Lösungen zum Überwinden von Hindernissen wählen • Ausgewählte Lösung übersichtlich darstellen

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4  Therapie der Übermotivation

Zusammenfassung

Die Problemlöseschritte werden explizit für Annäherungsziele formuliert und unterscheiden sich sonst nicht von den Problemlöseschritten Misserfolgsvermeidender.

Anleitung zum Problemlösen bei Übermotivation (erster Teil) 1. Problembeschreibung: Was ist das Problem? Welches Ziel will ich erreichen? Welche Informationen, die mir helfen könnten, stehen mir zur Verfügung? Was habe ich versucht, um das Problem zu lösen? Warum hat es nicht funktioniert? Bei einer vorgegebenen Aufgabe: Habe ich die Aufgabe Wort für Wort durchgelesen? Kann ich den Auftrag in eigenen Worten wiederholen? Kenne ich etwas Ähnliches? Kann ich das Problem in mehrere Teilprobleme unterteilen? Was hat mir in der Vergangenheit bei ähnlichen Problemen geholfen? 2. Annäherungsziel formulieren: Ist mein Ziel ein Annäherungsziel? Stelle ich mir gerade die bewältigte Aufgabe vor und möchte ich einem Ziel näherkommen (Annäherungsziel) oder stelle ich mir eine beschämende Situation vor, wenn die Aufgabe misslingt und möchte ich einem Risiko oder einer Kritik ausweichen (Vermeidungsziel)? Welches Hindernis gibt es, um das Ziel zu erreichen? Wie kann ich dieses Hindernis überwinden? 3. Lösungsmöglichkeiten sammeln: Alle Ideen, auch sich widersprechende, unsoziale, unmögliche und absurde Ideen haben hier ihren Platz. 4. Entscheidungsvorbereitung: Schließe ich eine Möglichkeit aus, weil ich mir eine bestimmte Lösung nicht zutraue, weil ich nirgends anecken will, anderen auf keinen Fall zur Last fallen will oder weil mir eine Möglichkeit zu anstrengend ist? Lassen sich Möglichkeiten, die sich scheinbar widersprechen, miteinander verbinden? Würde eine Lösungsmöglichkeit bedeuten, dass ich es vermeide, mich mit dem Problem auseinanderzusetzen (Vermeidungsverhalten) oder würde eine Lösungsmöglichkeit bedeuten, dass ich, statt meine Fähigkeiten einzusetzen, übermäßig Hilfe suche und insgesamt Rückschlüsse auf meine Fähigkeiten verhindere (Sicherheitsverhalten)? Bezieht sich eine Lösung auf ein Vermeidungsziel wie etwa zu verhindern, dass ein Detail vergessen wird, zu verhindern, dass ein Risiko entsteht oder zu verhindern, dass der erreichte Standard niedriger ist als er von anderen mit einer geringen Möglichkeit erwartet wird (Sicherheitsverhalten als Folge des Vermeidungsziels)? 5. Lösungen auswählen: Welche Hindernisse könnten bei der ausgewählten Lösung auftreten? Will ich Hindernisse vermeiden (Vermeidungsziel) oder beschäftige ich mich damit, die Hindernisse zu überwinden, wenn sie wirklich auftreten sollten (Annäherungsziel)? Welche Fähigkeiten habe ich, um die Probleme erst dann zu lösen, wenn sie wirklich auftreten? Welche Folgen hat die gewählte Lösung kurzfristig und langfristig? Welche Gefühle löst die Lösungsmöglichkeit in mir aus? Ist mir bei einem Schritt unwohl? Wie fühlt sich das in meinem Körper an? Habe ich starke Angst vor einem Misserfolg? Gibt es Hindernisse, für die ich noch keine Lösung gefunden habe oder über

4.4  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation

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die ich denke: „Das wird schon irgendwie klappen?“ (kognitives Vermeiden, Wunschdenken). Gibt es ein Hindernis, für das ich nicht nach einer Lösung gesucht habe, weil es mir zu große Angst macht (vorzeitiges Aufgeben, Vermeidung)? Ist es wirklich zu mindestens 80 % wahrscheinlich, dass ich die Lösungsmöglichkeit tatsächlich umsetze? 6. Ausgewählte Lösung übersichtlich darstellen: Alle Lösungen, auch mehrere Lösungen für ein Problem, werden hier aufgelistet. Die Lösungen sind gleichzeitig die verschiedenen Teilaufgaben, die später geplant werden. Neben jede Teilaufgabe wird in Prozent aufgeschrieben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit, sie tatsächlich umzusetzen, ist. Diese Liste wird bei den nächsten Therapieschritten verwendet.

Beispiel: Annäherungsziel für das Problemlösen formulieren Bauzeichnerin aus dem Fallbeispiel in 4.2.3: Patientin: Also – wir wollen alle so schnell wie möglich in unsere eigene Wohnung umziehen, aber das Problem ist, dass ich keine Zeit habe, das alles zu schaffen. Ich würde es nur so hinbekommen, dass alles erst einmal ganz schrecklich aussehen würde. Dann würde ich bestimmt wieder depressiv werden wie nach dem letzten Umzug, als es mir nicht gefallen hat. Wie schaffe ich, dass nicht alles hässlich ist, damit ich nicht depressiv werde? Und wie schaffe ich es, dass mir nicht gekündigt wird, wenn ich für den Umzug kaum noch Überstunden mache? Und dass mir nicht gekündigt wird, wenn mein Chef den Pfusch in der Wohnung sieht? Jetzt werde ich wieder ganz angespannt und ängstlich. Das sind alles Vermeidungsziele. Ich bekomme gar nichts hin. Therapeutin: Jetzt fühlen Sie sich überfordert. Treten Sie doch bitte innerlich einen Schritt zurück und überlegen, was der erste Punkt im Problemlösetraining ist. Patientin: Das Problem definieren. Oder die Probleme … Therapeutin: Wie viele Probleme sind das denn? Patientin: Also, erstens nicht depressiv werden, zweitens die Wohnung soll nicht hässlich sein, drittens nicht in der Probezeit gekündigt werden. Ich habe Angst, dass ich wieder depressiv werde, wie nach dem letzten Umzug (weint). Therapeutin: (stellt eine Taschentuchbox auf den Tisch) Ihre Gesundheit ist natürlich am wichtigsten. Wie können sie Ihre Ziele positiv formulieren, um aus Ihrer Situation herauszukommen? Patientin: Ich muss mich wohlfühlen. Aber ich fühle mich nicht wohl, wenn ich mich vor anderen schäme. Ich schäme mich vor den anderen, wenn es nicht perfekt ist. Therapeutin: Da dreht es sich im Kreis. Patientin: Ja. Perfekt muss die Wohnung sein, sonst werde ich depressiv. Das schaffe ich nicht, deshalb bin ich in der Situation, wie sie jetzt ist, sowieso schon depressiv. Und wenn die Wohnung perfekt werden soll, brauche ich so viel Zeit, dass ich immer gereizt bin und müde, dann verliere ich die Stelle, und mein Mann hält das auch nicht mehr ewig aus. Therapeutin: Die Wohnung ist wichtig und sie muss unbedingt perfekt werden. Patientin: Ich weiß nicht … also für mich selbst müsste sie nur hübsch sein, nicht perfekt, aber gut genug, damit andere nichts Schlechtes über mich denken. Therapeutin: Wie sähe gut genug aus? Patientin: Na ja, der Garten kann warten. Der muss nicht perfekt sein. Die Kinder sind ohnehin zu klein, sie würden durch die schönen Beete trampeln.

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4  Therapie der Übermotivation

Therapeutin: Was ist Ihr Ziel, was Ihre Gesundheit angeht? Das Vermeidungsziel als Annäherungsziel formuliert? Patientin: Na ja, gesund eben. Therapeutin: Wie fühlen Sie sich in der Wohnung, wenn Sie gesund sind? Patientin: Einigermaßen ausgeruht, zufrieden mit dem, was ich dort geschafft habe. Mit dem Schrank, in dem mein Bruder und ich immer gesessen und uns Geschichten erzählt haben. Da ging es mir immer gut. Mir ist wichtig, dass der Schrank gut zur Geltung kommt. Therapeutin: Also, der Schrank muss in die Wohnung, das ist ohnehin geplant. Wie sollte die Wohnung mindestens sein, damit Sie zufrieden sind? Patientin: Wir bräuchten in der Stadt nicht mehr zwei Autos wie jetzt. Wenn wir ein Auto verkaufen und die Benzinkosten sparen, könnten wir trotz des Kredits noch sparen und in fünf Jahren alles noch perfekter machen. Das hat mein Mann schon ausgerechnet. Therapeutin: Wenn Sie also denken, in fünf Jahren haben Sie noch andere Möglichkeiten – womit wären Sie jetzt zufrieden? Was ist das Ziel für die Wohnung? Patientin: Es müsste einfach hübsch aussehen und ich hätte nicht den Anspruch, dass es für die Ewigkeit halten müsste. Ich bräuchte keine Angst haben, dass ich mich satt sehe. Einfach ein nettes Provisorium, das ungefähr fünf Jahre hält für die Küche und das Bad. Das sind die beiden Räume, mit denen ich nicht weiterkomme. Alles andere braucht nur Farbe an den Wänden und einen abgeschliffenen Boden. Wenn das Annäherungsziel festgelegt und weiter präzisiert ist, folgen die Problemlöseschritte. Therapeutin: Sie wollen von den verschiedenen Problemen also zuerst das Problem der Wohnung angehen? Patientin: Ja, der Umzug ist ganz dringend. Ich habe ihn schon zu lange hinausgezögert. Wenn der Umzug klappt, sind einige der anderen Probleme gelöst. Mein Mann wäre auch entlastet. Therapeutin: Sie haben also das Vermeidungsziel, dass die Wohnung nicht hässlich sein soll, in ein Annäherungsziel umformuliert: Die Wohnung soll für fünf Jahre hübsch gemacht werden. Patientin: Die Wohnung soll kurz nach dem Einzug hübsch genug sein. Und keine Baustelle sein. Therapeutin: Ja. Patientin: Die Küche und das Bad sind jetzt überhaupt nicht mein Geschmack: Eiche rustikal im Landhausstil als Küchenzeile, noch ziemlich neu, ein Fliesenspiegel mit Kaffeebohnen darauf … Im Bad sind Fliesen mit Wolken und Engelchen darauf. Das würde mich an mein Elternhaus erinnern, wo ich mich immer verloren gefühlt habe. Und die Wände müssen neu gestrichen werden, auch der Stuck an den Decken. Der ist überall bunt bemalt. Therapeutin: Also, Farbe an die Wände, Küchenzeile und Fliesen in der Küche und im Bad. Patientin: Das Problem ist, dass wir kein Geld haben, um überall Fliesen legen zu lassen und um eine neue Küche zu kaufen. Wir hätten Geld, um alles streichen zu lassen. Die Dielen will mein Bruder uns abschleifen. Nach dem Streichen hätten wir noch Geld übrig, aber nicht mehr viel. Therapeutin: Also, es gibt zwei Probleme: Küche und Bad. Wie formulieren Sie das positiv? Patientin: Wie bekomme ich es hin, die Küche ohne großen Aufwand zu verschönern? Und das Gleiche mit dem Bad. Bei der Küche habe ich genaue Vorstellungen, aber das geht vom Preis her nicht. Mein Mann würde einfach die Fronten weiß streichen und die Griffe erneuern. Ich kann mir das nicht vorstellen. Weißer Landhausstil gefällt mir auch nicht. Ein Schreiner hat die Küche mit Sondermaßen gebaut. Neue Fronten wären zu teuer. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Farbe zu ändern.

4.4  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation

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Therapeutin: Jetzt sammeln Sie Ideen. Sie haben ein Problem herausgesucht und das Problem als Annäherungsziel definiert. Was kommt danach bei den Problemlöseschritten? Patientin: Woran mich das erinnert und wie ich ähnliche Probleme schon gelöst habe (Pause). Welche Fähigkeiten habe ich, um die Küchenfront neu zu gestalten? (Pause) Ich habe so etwas bei meiner letzten Arbeitsstelle mitbekommen – ich kenne viele Techniken zum Streichen und Verzieren. Das kann ich selbst. Wahrscheinlich muss ich mich von der Vorstellung, die ich mir für die Küche wünsche, lösen, um Ideen zu bekommen. Ich kann etwas mit Muster anbringen, damit man die Form der Kassetten nicht mehr wahrnimmt. Ich lasse die Kinder einfach alles mit Fingerfarbe bemalen und tausche die Küche in fünf Jahren aus. Oder ich klebe in Serviettentechnik lauter röhrende Hirsche auf, das passt dann. Oder ich schleife alles ab, streiche es in einer kräftigen Farbe und befestige ein Paneel mit einem schönen Muster über dem Fliesenspiegel. Das mache ich. Das geht an zwei Wochenenden, wenn ich mich sonst um nichts kümmern muss. Besser wäre das noch vor dem Umzug. Also, es wäre nicht das, was ich zuerst wollte, aber es ginge schnell, sähe gut aus und wäre preiswert. Das Problem mit dem Bad kann ich genauso lösen. Ich bekomme es nicht perfekt hin. Der Boden ist zum Glück gut, einfach ein helles Lindgrün. Dann müssen die Wandfliesen passend dazu mit Fliesenfarbe gestrichen werden – ein etwas blasseres Grün. Die Wand darüber könnte ich noch passend gestalten. Da habe ich eine Idee, die recht schnell geht. Das habe ich schon einmal gemacht. Fliesenfarbe an Wandfliesen hält einige Jahre. So wie ich mir das Bad und die Küche vorstelle, wäre beides schön genug, damit ich gesund bleibe. Ich kenne jemanden über die Firma, der mir die Fliesen streichen würde. Jetzt fühle ich mich richtig gut. Also hoffnungsvoll. Ich darf nicht immer alles perfekt wollen, nur weil ich glaube, dass andere das von mir erwarten. Das klappt nicht.

Umgang mit Hindernissen Bei der Problemlösestrategie zeigt sich bei den ersten Schritten häufig noch keine starke Angst. Erst bei der Frage, welche Hindernisse auftreten könnten, neigen die übermotivierten Patientinnen und Patienten zu katastrophisierenden Ängsten und planen vorbeugendes Sicherheitsverhalten. Der funktionale Umgang mit Hindernissen ist ein wichtiges Therapieziel. Es lohnt sich, immer wieder auf diesen Punkt zurückzukommen und die Folgen des Sicherheitsverhaltens unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Rollenspiele und Verhaltensexperimente können dabei helfen. Die Aufgaben ohne Sicherheitsverhalten zu bearbeiten, löst bei Übermotivierten starke Ängste aus. Wenn sich Übermotivierte beim Problemlösen die Frage nach möglichen Hindernissen stellen, neigen sie dazu, diese Frage aufzufassen als: Wie kann ich verhindern, dass Hindernisse auftreten (weil sie katastrophale Folgen hätten)? Diese Frage führt zu Sicherheitsverhalten und damit meistens zur Überlastung. Therapeutisch hilfreicher sind stattdessen die Fragen zum Überwinden eines Hindernisses, die im Problemlösetraining aufgeführt sind. Weiterführung des Beispiels (Umgang mit Hindernissen) Patientin: Welches Hindernis könnte auftreten? (Pause) Also – es könnte sein, dass der Lack auf der Küchenfront und der Lack im Bad einigen Bekannten und Nachbarn nicht gefällt. Dass die finden, eine Bauzeichnerin sollte doch in der eigenen Wohnung etwas Richtiges machen und nicht einfach alles übermalen. Das wäre für den Ruf des Büros, in dem ich arbeite, schlecht. Vielleicht würden potenzielle Kunden wegbleiben. Das würde

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4  Therapie der Übermotivation

bestimmt auch mein Chef sagen. Bei so viel Pfusch sucht er einen Grund zum Kündigen, sogar noch nach der Probezeit. Therapeutin: Vor welcher Möglichkeit haben Sie am meisten Angst? Patientin: Dass der Chef sagt: So einen Pfusch hätte ich von Ihnen nie erwartet. Wie sollen wir Ihren technischen Plänen denn vertrauen? Dann würde ich am liebsten im Boden versinken und ich weiß, das war es jetzt mit der Anstellung. Therapeutin: Wie hoch ist Ihre Angst jetzt? Patientin: Sehr hoch. Über 7 von 10 (macht eine Entspannungsübung). Jetzt geht es wieder. Ich bin jetzt frustriert. Erst dachte ich – toll – warum bin ich nicht eher darauf gekommen, wie leicht es ist, die Probleme mit einem Schlag zu lösen? Jetzt weiß ich, warum. Es funktioniert einfach nicht. Wahrscheinlich muss ich die Arbeit einfach aufgeben. Das wäre schrecklich. Therapeutin: Jetzt sind Ihre Gedanken in einer Sackgasse. Sie sind sehr angespannt. Vielleicht geht es Ihnen besser, wenn Sie Ihre Gedanken von einer anderen Perspektive aus betrachten. Wo befinden Sie sich jetzt in dem Teufelskreis? Patientin: Bei den katastrophisierenden Gedanken, also Vermeidungsziel. Sie würden jetzt bestimmt sagen, dass die Katastrophe unwahrscheinlich ist, aber mit diesem Risiko müsste schließlich ich leben, nicht Sie. Ich kann nicht einfach sagen, ich lasse es darauf ankommen, ob ich die Stelle verliere! Therapeutin: Ich verstehe, dass Sie jetzt verzweifelt sind. Aber – können Sie, angespannt wie Sie jetzt sind, aus der Zwickmühle herauskommen? Patientin: Ich brauche ein Annäherungsziel. Das hat aber nicht geklappt. So einfach ist das Leben nicht. Therapeutin: Mhm. Bei der ersten Lösung waren noch keine Hindernisse einbezogen. Sie sind gerade frustriert (Pause). Möchten Sie trotzdem versuchen, das Hindernis in ein Annäherungsziel umzuformulieren? Hinterher schauen Sie, ob Sie mit der Lösung zufrieden sind. Patientin: (Pause) Was bleibt mir anderes übrig. Also: Wie gehe ich damit um, wenn ich die Stelle verliere? Therapeutin: Mhm. Es gibt verschiedene Katastrophen, die Sie drohen sehen. Welche sind das? Patientin: Also, dass es mir doch nicht gefällt und ich depressiv werde, dass andere so viel Pfusch als unangemessen für eine Bauzeichnerin ansehen, dass mein Chef mir kündigt. Also unter einem Vorwand, aber aus diesem Grund. Und wenn meine Wohnung am Ende der Kündigungsgrund wäre, würde sie mir nicht mehr gefallen. Ich finde das selbst nicht gut, aber ich habe einfach nicht das Selbstbewusstsein zu sagen: Na und, mir gefällt es. Therapeutin: Es ist wichtig, diesen Umstand in der Lösung zu beachten. Wie können Sie die drei Vermeidungsziele in Annäherungsziele umformulieren? Patientin: Wie verhindere ich, dass die Wohnung anderen nicht gefällt? Na ja, das ist sowieso nicht möglich, das ist ein Vermeidungsziel. Wie gehe ich damit um, wenn die Wohnung anderen nicht gefällt? Wenn mein Chef die Küche und das Bad als Pfusch ansieht? Wie finde ich eine neue Arbeit? Wie fühle ich mich trotzdem wohl? Das entspricht dem ersten Problem (Listet die verschiedenen Probleme auf). Also, ich mache das mit dem Chefproblem, weil das die größten Folgen hätte.

Das Risiko für Misserfolge abschätzen Manche Misserfolge hätten gravierende Folgen – etwa Kündigungen auf der Arbeit oder nicht bestandene Prüfungen, die den Abbruch der Berufsausbildung nach sich zögen. Wenn solche Misserfolge möglich sind, ist es nicht sinnvoll, darauf zu verweisen, dass die Personen Fähigkeiten haben, um mit

4.4  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation

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solchen Misserfolgen umzugehen. Übermotivierte neigen dazu, fast überall Vorboten des Vermeidungsziels zu sehen und würden sich nicht auf diese Vorgehensweise einlassen. Bei solchen vermeintlichen Bedrohungen ist es sinnvoll, Informationen darüber einzuholen, wie wahrscheinlich die Bedrohungen sind. Übermotivierte beugen dem Scheitern auch dann aufwendig vor, wenn es keine Anzeichen für eine Gefahr zu scheitern gibt. Eine reale Gefahr ist nicht nötig für die Angst vor dem Scheitern: In der Vorstellung der Übermotivierten hat bisher allein der hohe Aufwand das Scheitern verhindert und dafür gesorgt, dass es nie Vorboten für Misserfolge gab. Die Jurastudentin aus dem Fallbeispiel in 1.1.5 sorgt sich, ähnlich wie Hermine Granger aus „Harry Potter“, ihr Examen nicht zu bestehen, obwohl sie vorher sämtliche Klausuren außerordentlich gut bewältigt hatte. In der Psychotherapie macht sich die Jurastudentin klar, ob es tatsächlich Anzeichen für einen Misserfolg gibt. So kann sie trotz ihrer Angst, die sie zwischendurch immer wieder plagt, mit ihrem Plan entsprechend ihres Annäherungsziels fortfahren, solange keine eindeutigen, messbaren Warnzeichen auftreten. Die Möglichkeit, Informationen über das Risiko zu scheitern einzuholen, wählt die Bauzeichnerin im Fallbeispiel: Sie fragt ihren Chef nach seiner Meinung zu ihren Ideen. Kritische Bemerkungen wären Vorboten für den Misserfolg, der für sie darin bestehen würde, dass bestimmten anderen Personen die Wohnungsgestaltung nicht gefällt. Eine positive Rückmeldung dagegen ist das Signal dafür, den ursprünglichen Plan ohne Sicherheitsverhalten weiterzuverfolgen.

Zusammenfassung

Damit die Frage nach Hindernissen nicht den Blick auf Annäherungsziele versperrt, wird das Risiko, mit dem Vermeidungsziele auftreten können, eingeschätzt. Vermeidungsziele werden damit in ihren Auswirkungen begrenzt. Außerdem werden Vermeidungsziele zu Annäherungszielen umformuliert.

Informationen für ein Risiko einholen – Fortsetzung des Beispiels Die Patientin erarbeitet Lösungen für die verschiedenen Probleme. Nach ihrer Einschätzung wäre es nicht wieder gutzumachen, wenn ihr Chef von ihrer Wohnung abgestoßen wäre. Sie beschließt, ihn nach seiner Meinung zu ihren Ideen zu fragen. Eine ablehnende Rückmeldung wäre ein Warnzeichen, das einen anderen Plan verlangen würde. Vorher will sie ihren Mann, eine gute Freundin und ihre perfektionistische und kritische Mutter fragen, wie ihre Ideen beurteilt würden. Sie möchte zusätzlich von ihrem Mann, ihrer Freundin und ihrer Mutter wissen, ob sie angesichts ihrer Lösung ihre Qualifikation als Bauzeichnerin gemindert sehen. Ihr ist bewusst, dass sie sich damit abhängig von der Meinung anderer macht, sie sieht sich aber nicht in der Lage, innerhalb einer begrenzten Zeit autonomer zu werden. Sie weiß, dass sie sich schämen würde, wenn einige andere Personen ihre Lösungen für die Wohnung ablehnen würden. Wenn sie weniger von der Meinung anderer abhängig wäre, hätte sie schließlich längst umziehen können. Sie plant, nach dem Umzug das Thema Autonomie in der Therapie zu vertiefen.

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Der Ehemann ist von ihren Vorschlägen begeistert. Er wirkt allerdings, als würde er auch den absurdesten Ideen zustimmen, um endlich umziehen zu können. Er möchte gerne die Aufgabe übernehmen, den Garten anzulegen, solange Frau M. ihm nicht hineinredet. Er bietet an, an einem oder zwei Wochenenden die Kinder allein zu betreuen, damit seine Frau die Einbauküche streichen kann. Die Freundin ist von ihren Ideen auch angetan. Sie kann nicht nachvollziehen, warum die Patientin die Küchenfront und die Badezimmerfliesen schon in fünf Jahren ersetzen möchte. Ihre Mutter schlägt zwar andere Farben vor und ist davon überzeugt, dass auch schadstoffgeprüfte Farben nach dem Aushärten noch giftig für ihre Enkelkinder seien. Sie sieht die Eignung der Patientin als Bauzeichnerin durch die Pläne nicht infrage gestellt – schon aber ihre Eignung als Mutter. Ermutigt von den positiven Einschätzungen, was die Einrichtung angeht und unbeeindruckt von der Kritik der Mutter plant Frau M., ihren Chef nach seiner Meinung zu fragen. Dazu ist viel Vorarbeit nötig: Imaginationen früherer Erfolge, Auflisten der Fähigkeiten, für die der Chef sie bisher gelobt hat und einige Rollenspiele. Der Chef gibt die Rückmeldung, dass die Fliesenfarbe an den Wänden wahrscheinlich länger als fünf Jahre gut aussehen wird. Er führt ihre Lösungsideen darauf zurück, dass er ihr hartnäckig versuche nahezubringen, einen Kompromiss zwischen Anspruch und Aufwand zu finden. Er wünsche sich, dass sie auch auf der Arbeit pragmatischere Lösungen finde. Sie solle besser in einer angemessenen Zeit ausreichend gute technische Pläne erstellen als perfekte Pläne, die sie nur mit Überstunden und zu spät realisiere. Er habe vor wenigen Tagen ihr Passwort herausgesucht und ihren Anteil an einem termingebundenen Projekt gesichert, als sie behauptet hatte, sie habe ihre Arbeit nicht erledigt. Da habe er beschlossen, ihr zum Ende der Probezeit zu kündigen. Wenn sie jetzt bis zum Ende der Probezeit zeige, dass sie Kompromisse zwischen Anspruch und Aufwand schließen, Termine einhalten und die Überstunden begrenzen könne, würde er die Probezeit verlängern und ihr eine Chance geben. Er schätze ihr Wissen, sie habe viel Potenzial und sie sei, abgesehen von ihrer Sturheit, eine sympathische Person. Frau M. ist schockiert, als sie erfährt, wie gefährdet ihr Arbeitsplatz ist. Sie schämt sich, weil sie vor ihrem Chef in Tränen ausgebrochen ist. Sie überlegt, ob sie sich jetzt vorrangig um die Probleme auf der Arbeit kümmern soll statt um den Umzug. Weil es viel Energie und Zeit raubt, im Haus der Schwiegereltern zu wohnen, entscheidet sie sich, den Umzug voranzutreiben. Sie hat sich umfassend mit Plänen für die Wohnung beschäftigt. Jetzt muss sie noch die beiden Lacke und das Paneel für den Fliesenspiegel in der Küche heraussuchen, dann organisiert sie mit ihrem Mann zusammen die Renovierung und den Umzug. Das Einzige, was sie dem Plan hinzufügt, ist der Esstisch, dessen Platte sie passend zur Küchenfront streicht. Sie fühlt sich nach dem Umzug in der neuen Wohnung wohl. In den Therapiestunden beschäftigt sie sich eine Weile hauptsächlich mit Problemlösen für Projekte ihrer Arbeit, bis sie trotz ihrer Angst, die Arbeitsstelle zu verlieren, selbständig effiziente Lösungen finden kann. Ihr Chef sagt, dass er viel zufriedener mit ihrer Leistung sei. Frau M. lässt ihn im Glauben, ihr beigebracht zu haben, wie sie Projekte pragmatisch angeht.

4.4  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation

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Der Umstand, dass es Frau M. trotz funktionaler Attributionen über eine lange Zeit hinweg schwerfällt, sich zu belohnen, nimmt einen großen Raum in der Therapie ein. Nachdem Frau M. die dringendsten Probleme privat und auf der Arbeit gelöst hat und gelernt hat, ihre Erfolge anzunehmen und sich darüber zu freuen, fühlt sie sich deutlich selbstbestimmter und zufriedener. Anschließend ist ihr Therapieziel, unabhängiger von der Meinung anderer zu werden und ihre Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie zu verbessern.

Fähigkeiten zum Umgang mit Hindernissen sammeln Je nach Art des befürchteten Hindernisses können die Patientinnen und Patienten Fähigkeiten sammeln, um das Hindernis zu überwinden. Dazu gehört: • Fähigkeiten sammeln, die auch an „schlechten Tagen“ zur Verfügung stehen • Fähigkeiten sammeln, die nötig sind, um mit unverhofften Problemen fertig zu werden • Zwischen jetzt und einer blamablen Situation früher unterscheiden. Die Personen sammeln Situationen, in denen sie mit unverhofften Problemen umgehen konnten, in denen sie trotz einer Nacht mit wenig Schlaf oder geschwächt durch eine Erkältung einer Aufgabe gewachsen waren, sie sammeln Situationen, in denen sie einen Fehler wieder ausbügeln konnten. Hilfreiche Fragen dazu sind: „Auf welche Fähigkeiten kann ich auch an schwierigen Tagen zurückgreifen? Welche Gedanken und Gefühle und welches Verhalten haben zur Problemlösung geführt? Wie hoch war mein Anteil daran, dass ein Patzer keine relevanten Folgen hatte? Wie könnten diese schützenden Fähigkeiten noch verstärkt werden?“ Wenn nötig, wird die vergangene, gut bewältigte Situation imaginiert. Ein Bild aus dieser Imagination kann als Unterstützung für eine ähnlich geartete zukünftige Situation dienen. Bei einigen Übermotivierten verursachen katastrophisierende Gedanken, die sie nicht zu Ende führen, eine starke Anspannung. Wenn die Patientinnen und Patienten diese katastrophisierenden Gedanken zu Ende führen, können sie häufig Lösungen für ihre Probleme entwickeln. Einige Übermotivierte wollen Aufgaben nur angehen, wenn sie sich ohne Einschränkungen gesund fühlen. Aus Angst, nicht leistungsfähig zu sein, weichen sie Anforderungen aus, wenn sie sich kränklich fühlen oder besonders schlecht geschlafen haben. In solchen Fällen kann die Annahme, gar nicht leistungsfähig zu sein, überprüft werden: Die Therapeutinnen und Therapeuten können einen Konzentrationstest aus der Leistungsdiagnostik mit einem Konzentrationstest nach einer teilweise durchwachten Nacht vergleichen. Übermotivierte können sich trotz der Analyse, welche Auswirkungen bei ihnen Annäherungsziele und Vermeidungsziele bisher hatten, oft weiterhin nicht vorstellen, dass sie ohne Sicherheitsverhalten erfolgreich sein könnten. Hier bieten sich Verhaltensexperimente mit und ohne Sicherheitsverhalten an – etwa das Experiment, einen Raum (oder eine Ecke eines Raumes) in der Wohnung so herzurichten,

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4  Therapie der Übermotivation

als würde dort am nächsten Tag die Queen einkehren und jeden Makel als Affront ansehen. Mögliches Sicherheitsverhalten wäre, einen sehr hohen Standard anzunehmen und sich um Details und um winzige Fehler zu kümmern. Der Vergleich wäre, einen anderen Raum (oder eine andere Ecke des Raums) so herzurichten, dass ein blinder Besucher sich dort zurechtfindet: Wichtig ist, dass nichts auf dem Boden und den Stühlen herumliegt und der Tisch frei ist. Klebrige Flecken oder groben Dreck auf dem Boden würde der blinde Besucher wahrnehmen, aber Kleinigkeiten fallen ihm nicht auf. Die Betroffenen vergleichen anschließend den Zeitaufwand mit den Ergebnissen.

Zusammenfassung

Der starken Angst vor Misserfolg gerade kurz vor Leistungssituationen kann begegnet werden, indem die übermotivierten Personen sich vergegenwärtigen, wie sie mit schwierigen Situationen umgehen können, auch wenn sie gerade nicht optimal leistungsfähig sind.

4.4.2 Problemlösestrategien bei Übermotivation, 2. Teil (Planung) Um die ausgewählten Lösungen aus dem ersten Teil des Problemlösens umzusetzen, schließt sich der zweite Teil des Problemlösens, die Planung, an. Bei der Planung werden mehrere Aspekte berücksichtigt: 1. Der Aspekt der Angstbewältigung: Die Patientinnen und Patienten planen darauf zu achten, wie stark ihre Angst ist und sie planen, hilfreiche Selbstverbalisationen und Übungen zur Angstbewältigung zu verwenden. Sie planen, Strategien einzusetzen, um auf Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten zu achten und sie planen Strategien, um zu registrieren, dass sie sich vom Annäherungsziel abwenden, zum Vermeidungsziel hin, und sich in Details vertiefen. Ziel ist nicht, dass sie keine Angst vor dem Scheitern mehr haben, sondern dass sie die Aufgabe so lösen, als hätten sie wenig Angst. 2. Zeitliche und aufgabenbezogen Aspekte: Hier stellt sich die Frage nach dem zeitlichen Rahmen, in dem die Aufgabe erledigt werden soll, was zuerst erledigt wird und wie viele zeitliche Puffer, Pausen und Erholung sinnvoll sind. Das Zeitkontingent deutlich zu überschreiten, rührt in der Regel von Sicherheitsverhalten. 3. Der Aspekt der Belohnung für erledigte Aufgaben: Die Belohnungen werden so geplant, dass die Betroffenen sich nach einem Erfolg wahrscheinlich belohnen, statt die Belohnung wegzulassen oder zu verschieben.

4.4  Strategien zur Aufgabenbewältigung bei Übermotivation

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Zusammenfassung

Bei der Planung achten die Patientinnen und Patienten noch mehr als Misserfolgsvermeidende darauf, den zeitlichen Rahmen einzuhalten, um nicht in Sicherheitsverhalten abzugleiten.

4.4.3 Bearbeiten der Aufgabe Die Aufgabe wird bei Patientinnen und Patienten mit Misserfolgsvermeidung, mit Übermotivation oder Motivkonstellationen zwischen diesen Polen unterschiedlich vorbereitet. Nach der Psychoedukation, der Vorbereitung, dem Problemlösen und Planen unterscheidet sich das Vorgehen kaum zwischen Misserfolgsvermeidung und Übermotivation.

4.4.4 Festlegen von Erfolg oder Misserfolg Die Betroffenen bereiten funktionale Attributionen vor, indem sie im Voraus Kriterien festlegen, mit denen sie Erfolg oder Misserfolg bewerten. Dafür bestimmen sie, welches Ziel sie erreichen wollen, wann sie es erreichen wollen und was für sie ein Fortschritt wäre. Einigen übermotivierten Patientinnen und Patienten sind die Kriterien klar, weil sie sich aus der Aufgabenliste der Problemlösestrategien ableiten lassen. Bei den Patientinnen und Patienten, die nur sehr hohe Standards gelten lassen und die sich trotz ihrer Fortschritte weiter kritisieren, hilft es, die Kriterien für Erfolg und Misserfolg genauer festzulegen. Dafür legen die übermotivierten Personen für jede Teilaufgabe ein Ziel fest. Sie bewerten die Aufgaben danach, wie nahe sie ihrem Ziel gekommen sind und wie sie im Vergleich zu ihren früheren Leistungen abgeschnitten haben (intraindividueller Bewertungsmaßstab, Rheinberg und Krug 2017). Bei übermotivierten Personen gilt die geplante, effizientere Arbeitsweise als Erfolg und das Verharren in Details mit der Konzentration auf Vermeidungsziele höchstens als Teilerfolg – unabhängig davon, ob die Aufgabe insgesamt erfolgreich abgeschlossen werden konnte: Mit der Konzentration auf Annäherungsziele wäre das Ergebnis wahrscheinlich besser gewesen. Wenn die Patientinnen und Patienten das Zeitkontingent wegen perfektionistischer Tendenzen überschreiten, gilt das ebenfalls als nur zum Teil erfolgreich – denn langfristig drohen bei dieser Arbeitsweise Überlastung und stressbedingte Krankheiten. Die Leistung auf Kosten der Erholung ist wie ein Kredit, bei dem ungewiss ist, ob er zurückgezahlt werden kann.

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4  Therapie der Übermotivation

Zusammenfassung

Bevor die Patientinnen und Patienten das Vorhaben selbst angehen, legen sie fest, welche Ergebnisse als Erfolg, als Teilerfolg oder als Misserfolg gelten. Dadurch beugen sie Schwarz-Weiß-Denken vor. Personen, die vermuten lassen, dass sie ihre Fortschritte kleinreden werden, vergegenwärtigen sich genauere Bewertungsmaßstäbe für Erfolg oder Misserfolg.

4.4.5 Vorbereiten und Bearbeiten der Aufgabe, Abbrüchen des Vorhabens vorbeugen Wenn ein Vorhaben unmittelbar ansteht, steigt die Misserfolgsangst in der Regel stark und die Hoffnung auf Erfolg sinkt. Die Patientinnen und Patienten neigen dazu, in überwunden geglaubte Muster zurückzufallen. Dann haben die Therapeutinnen und Therapeuten den Eindruck, als seien ihre Geduld, ihr Beistand und die gesamte gründliche Vorbereitung umsonst gewesen. Es lohnt sich, in solchen Situationen die Patientinnen und Patienten trotz der eigenen Demotivation weiter zu unterstützen: Wenn sich die übermotivierten Menschen jetzt überwinden, ihr Vorhaben anzugehen, sind sie nach dem bewältigten Vorhaben in der Regel deutlich selbständiger als vorher. Kurz vor einer anstehenden Aufgabe ist es deshalb wichtig, die Angst noch einmal zu senken und die Hoffnung auf Erfolg noch einmal zu stärken. Bevor sie ihr Vorhaben tatsächlich umsetzen, vergegenwärtigen sich die übermotivierten Menschen die Fähigkeiten, die ihnen dabei helfen, eventuelle Hindernisse zu überwinden. Sie vergegenwärtigen sich ihre eingeübten Techniken zur Angstreduktion, hilfreiche Selbstverbalisationen und ihre Fähigkeit, ihre Konzentration auch bei einer erhöhten Anspannung auf die Aufgabe zu lenken. Um sich trotz der Angst zu überwinden, die Aufgabe weiterzuverfolgen, rufen sich die Patientinnen und Patienten die Entscheidung für die Aufgabe und die Entscheidung für den Nachteil, der damit einhergeht, in Erinnerung (Margraf und Berking 2005). Der Nachteil ist vor allem die Angst vor dem Misserfolg. Bevor die übermotivierten Personen die Aufgabe selbst in Angriff nehmen, erklären sie in der Therapie, warum sie sich für die Aufgabe entschieden haben. An dieser Stelle werden die langfristigen Folgen, die durch den Veränderungsschritt entstehen, den langfristigen Folgen ohne diesen Schritt gegenübergestellt. Zu einer bewussten Entscheidung gehört, die langfristigen Folgen der Entscheidung mit den eigenen Werten und Zielen abzugleichen. Wenn die Angst angesichts eines bisher unbewältigten Problems stark gestiegen ist, wird die Problemlösestrategie erneut angewendet. Eine immer wieder auftretende Schwierigkeit bei Übermotivierten ist die neu belebte Vorstellung kurz vor der Aufgabe, dass sehr hohe Standards gefordert sind oder dass sie Fehler übersehen haben. Sie sind der Auffassung, dass in dieser Situation Sicherheitsverhalten funktional sei. In diesem Fall können die Patientinnen und Patienten daran erinnert werden, dass sie sich gerade mit Vermeidungszielen beschäftigen.

4.5 Nachbereiten der Aufgabe

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Gemeinsam können Möglichkeiten gefunden werden, um die Vermeidungsziele in Annäherungsziele umzuformulieren. Frau M. berichtet in der Therapie, sie habe wenige Tage vor dem Umzug befürchtet, dass Gäste in der Wohnung kleine schadhafte Stellen bemängeln könnten. Obwohl sie von den Umzugsvorbereitungen erschöpft gewesen sei und noch viel zu tun gewesen sei, habe sie angefangen, viele Kleinigkeiten an der Wohnung auszubessern. Sie sei darüber mit ihrem Mann in einen heftigen Streit geraten. Sie habe am nächsten Tag reflektiert, dass sie sich gerade auf ihre Angst konzentriert habe und sie habe überlegt, wie sie damit umgehen könnte, wenn jemand abgebröckelte Stellen am Stuck kommentieren würde. Sie habe sich eine sozial kompetente Antwort auf die befürchtete Kritik überlegt und sich dann wie geplant auf den Umzug vorbereitet. Im Laufe der nächsten Monate stellt sich heraus, dass die kleinen Schäden offenbar nicht auffallen. Die Aufgabe wird schließlich entsprechend dem Plan umgesetzt.

4.5 Nachbereiten der Aufgabe Nach dem erledigten Vorhaben lernen die Patientinnen und Patienten, die Attributionen und die Selbstbewertungsemotionen zu verändern. Sie üben sich darin, sich für Erfolge zu belohnen und sie verfolgen das Ziel, Stolz oder Freude zu empfinden. Hier zeigen sich oft dysfunktionale Grundüberzeugungen, die es erschweren, sich zu belohnen.

4.5.1 Ergebnisse mit funktionalen Attributionen bewerten Nachdem sie die Aufgabe erledigt haben, üben die Patientinnen und Patienten funktionale Attributionen ein. Das fällt vielen angesichts der bewusst eingesetzten Fähigkeiten und der vorher festgelegten Kriterien leicht. Ziel ist, Erfolg internal stabil zu attribuieren und Misserfolg external („Pech“) oder internal variabel („Ich habe in dieser Situation meine Angst unterschätzt“). Diese Attributionen helfen, passende Fähigkeiten für zukünftige Aufgaben aufzubauen („Ich möchte noch mehr Strategien lernen, um trotz meiner Angst das zu machen, was ich mir vorgenommen habe“). Wenn die Angst vor neuen Aufgaben im Verlauf der Therapie nicht abnimmt, ist der Grund dafür häufig, dass die misserfolgsängstlichen Menschen Erfolge weiterhin ausschließlich external variabel attribuieren und bei jeder neuen Anforderung Angst haben, dass sie beim nächsten Mal kein Glück haben werden. Frau M. hat während ihrer verlängerten Probezeit Angst vor einer Kündigung. Sie wendet zwar immer selbstverständlicher Problemlösestrategien an und arbeitet zügiger als vorher, weil sie sich weniger in Details verliert, sie fürchtet aber immer wieder, dass sie etwas Wichtiges übersehen haben könnte oder dass alle Aufgaben nur zufällig so wenig anspruchsvoll waren, dass sie die Aufgaben gut bewältigen konnte. Ihr Chef sagt ihr, dass ihre Arbeitsweise sich sehr gebessert

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4  Therapie der Übermotivation

habe. Sie führt seine positiven Rückmeldungen darauf zurück, dass er ein freundlicher Mann sei, der jetzt ausgleichen wolle, dass er sie heftig kritisiert habe. Außerdem habe er gesagt, dass er sie sympathisch finde. Erst als Frau M. auch besonders anspruchsvolle Projekte erfolgreich bewältigt hat, beginnt sie, internal stabil zu attribuieren.

4.5.2 Veränderung des Fähigkeitskonzeptes und der Selbstbewertungsemotionen Die Patientinnen und Patienten werden gebeten, sich zusätzlich zu ihren verschiedenen Fähigkeiten bewusst zu machen, welche Strategien zur Aufgabenbewältigung und welche Techniken zum Umgang mit negativen Emotionen sie gelernt haben, um ihre Ziele besser zu erreichen. Anschließend versuchen sie, positive Emotionen wie Zufriedenheit, Stolz oder Freude angesichts ihres erledigten Vorhabens zu wecken. Übermotivierte wollen ernsthaft an positiven Selbstbewertungsemotionen arbeiten und sie nehmen ihre Belohnungen ernst, wenn ihnen klar ist, dass positive Emotionen für spätere Aufgaben motivieren. Misserfolgsängstliche Personen haben Hemmungen, auf sich stolz zu sein und schämen sich häufig, während sie sich belohnen. Ihnen hilft die Information, dass sie lernen können, sich selbst zu belohnen, wenn sie sich immer wieder dazu anhalten, sich tatsächlich wie geplant zu belohnen, die Belohnung zu genießen und sie gegen Selbstkritik zu verteidigen. In vielen Fällen helfen eher emotional gefärbte Interventionen wie etwa Rollenspiele, in denen sich die Personen gegen Kritik verwahren. Die Kritiker, gegen die sie sich behaupten lernen, können reale andere Personen sein, die im Rollenspiel verkörpert werden. Sie können sich im Rollenspiel auch gegen eine fiktive Person wehren, die den Übermotivierten deren eigene Kritik vorhält.

Zusammenfassung

Menschen mit Übermotivation sind oft sehr kritisch mit sich. Sie können lernen, funktional zu attribuieren und sich selbst zu belohnen. Ein realistisches Fähigkeitskonzept und positive Selbstbewertungsemotionen sind die Voraussetzung, um Aufgaben ohne Sicherheitsverhalten freiwillig anzustreben.

4.6 Verminderung der Misserfolgsangst über die psychologischen Grundbedürfnisse Wie in Kap. 2 beschrieben, hängen die psychologischen Grundbedürfnisse nach der Selbstbestimmungstheorie, die Schambereitschaft und der Selbstwert eng miteinander zusammen. Wenn die psychologischen Grundbedürfnisse befriedigt

4.6  Verminderung der Misserfolgsangst über die psychologischen …

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sind – Selbstbestimmung, Kompetenzerleben und soziale Integration – und wenn intrinsische Ziele verfolgt werden, ist der Selbstwert stabil (Deci und Ryan 1995). Bei einem stabilen Selbstwert ist die Angst vor Misserfolgen gering: Die Person ist sicher, auch dann sozial integriert und geliebt zu bleiben, wenn sie einen Fehler macht. Die erhöhte Misserfolgsangst dagegen geht mit einem Selbstwert, der auf äußeren Standards beruht (kontingenter Selbstwert nach Deci und Ryan) einher, mit der Bewertung, inkompetent zu sein, nicht selbstbestimmt zu handeln (wichtige Ziele können nicht erreicht werden) und mit einer erhöhten Schambereitschaft. Die erhöhte Schambereitschaft zeigt nach Sznycer (2016, 2018, siehe Kap. 2) eine unsichere soziale Integration an und sie gefährdet umgekehrt die soziale Integration, weil sie zu unangepassten Verhaltensmustern führt. Es ist möglich über das hier dargestellte Motiv- und Fähigkeitstraining die Misserfolgsangst zu senken, indem das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gestärkt wird (psychologisches Grundbedürfnis der Kompetenz) und indem durch das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen wichtige, eigene Ziele erreicht werden können (Selbstbestimmung). Beides steigert den Selbstwert und verringert die Schambereitschaft. Ergänzend ist es möglich, die Misserfolgsangst zu senken, indem die beiden psychologischen Grundbedürfnisse Selbstbestimmung und soziale Integration direkt gefördert werden. Gerade wenn, wie im Fallbeispiel der Bauzeichnerin, eine starke Abhängigkeit von den Zielen anderer und eine unsichere soziale Integration auffallen, können die psychologischen Grundbedürfnisse explizit mitberücksichtigt werden. Es bietet sich an, über die psychologischen Grundbedürfnisse und deren Zusammenhang mit dem Selbstwert und der Misserfolgsangst aufzuklären und die Therapieziele mit den Grundbedürfnissen abzugleichen. Frau M. hat langfristig zum Ziel, ihren Selbstwert zu verbessern. Parallel zum Umzug und zu den therapeutischen Interventionen im Hinblick auf ihre Arbeitsstelle rückt über Monate hinweg in der Psychotherapie das Thema in den Vordergrund, wie gut sie ihre Grundbedürfnisse nach der Selbstbestimmungstheorie umsetzt. Sie fühlt sich deutlich kompetenter, seit sie sich angewöhnt hat, effizienter zu arbeiten, weil sie ihre Ziele jetzt besser erreicht. Ihre soziale Einbindung innerhalb der Familie hat sich seit dem Umzug und seit sie viel weniger Überstunden macht, gebessert. Das Ehepaar streitet jetzt selten, beide haben mehr Zeit füreinander und für die Kinder. Sie empfinden diese Zeit als angenehm und wertvoll. Sie haben Besuche bei Personen, von denen sie sich kritisiert und gedrängt fühlen, reduziert. Frau M. hat eine Freundin und sonst flüchtige Bekannte. Sie schätzt zunächst ein, dass sie keine Zeit und kein Interesse daran habe, noch mehr Freunde zu finden. Im Verlauf von mehreren Monaten gesteht sie sich ein, dass sie sich ihrem Mann gegenüber, der einen stabilen Freundeskreis hat, minderwertig fühlt. Sie schätzt sich als langweilig ein und weiß nicht, warum ihr Mann sie offensichtlich liebt. Frau M. beschäftigt sich mit der Frage, warum andere Menschen gerne Zeit mit ihr verbringen und versucht schließlich, einen Freundeskreis aufzubauen. Sie wählt als ein weiteres Therapieziel, mit ihrem Mann über Gefühle zu sprechen – ein Thema, das ihrem Mann wichtig ist und das sie bis jetzt immer vermieden hat. Sie verspricht sich davon, ihren Mann besser zu verstehen, selbst besser verstanden zu werden und die Beziehung für sich als sicherer wahrzunehmen.

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4  Therapie der Übermotivation

Als Frau M. über das Grundbedürfnis Selbstbestimmung nachdenkt, stellt sie fest, dass sie weniger abhängig von der Meinung anderer ist, seit sie sich kompetenter fühlt. Das Kompetenzerleben führt sie vor allem auf den bewältigten Umzug und auf die effizientere Arbeitsweise im Büro zurück. Sie ist zunächst zufrieden damit, dass sie viel in ihrem Leben selbst bestimmen kann. Zunächst möchte sie nichts ändern: Ihr Beruf gefällt ihr und sie verbringt große Anteile ihrer Freizeit so, wie sie es mag. Im Verlauf mehrerer Monate stellt sich eine gewisse Unzufriedenheit ein. Sie erkennt, dass sie im Beruf vermisst, sich in ein Projekt zu vertiefen und die Vorgaben trotz ihrer eher technischen Arbeit kreativ umzusetzen. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich nicht mehr mit Plänen für ihre Wohnung, weil sie fürchtet, dass ihr Mann sie sonst als „rückfällig“ ansehen würde. Sie ist selbst unsicher, was an ihrem Wunsch, sich in einzelne Aufgaben zu vertiefen, ein echtes Bedürfnis ist und was davon überwunden geglaubten Verhaltensmustern entspricht. Sie kommt zum Ergebnis, dass bei ihrem Wunsch Annäherungsziele dominieren. Nachdem sie beschlossen hat, die Beschäftigung mit technisch ausgefeilten Entwürfen wieder mehr in ihrem Leben zu integrieren, sucht sie Argumente, um mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Ihr Mann hat Verständnis für ihr Anliegen. Er bittet sie einfach darum, auf der Arbeit zwischen Routinearbeiten und besonderen Projekten zu unterscheiden und die besonderen Projekte zu begrenzen. Einige Wochen später traut sie sich, mit diesem Anliegen zu ihrem Chef zu gehen. Davor waren mehrere Therapiestunden zur Vorbereitung nötig. Der Chef ist einerseits misstrauisch und glaubt, sie werde wieder viele Überstunden machen, andererseits beteiligt sich das Architekturbüro an einem Wettbewerb, bei dem die verschiedenen Professionen in Team arbeiten und ihre Ideen einbringen sollten. Er vereinbart mit Frau M. ein Zeitkontingent für ihren Anteil an dem Wettbewerb. Im Laufe von weiteren Monaten ist Frau M. sehr zufrieden damit, die Beschäftigung mit anspruchsvollen Problemen in ihre Arbeit integriert zu haben. Frau M. kann Annäherungsziele gut erreichen. Sie muss sich gegen Ende der Therapie noch überwinden, ihre Vorschläge, wie die architektonischen Ideen technisch umgesetzt werden könnten, zu präsentieren. Sie hat sich einen kleinen Freundeskreis aufgebaut und ist immer weniger unsicher darin, Treffen zu initiieren.

Literatur Atkinson JW (1957) Motivational determinants of risk-taking behavior. Psychol Rev 64:359–372 Carver CS, Scheier MF (1998) On the self-regulation of behavior. Cambridge University Press, New York Covington MV, Roberts BW (1994) Self-worth and college achievement: motivational and personality correlates. In: Pintrich PR, Brown DR, Weinstein CE (Hrsg) Student motivation, cognition, and learning. Erlbaum, Hillsdale, S 157–188 Deci EL, Ryan RM (1995) Human autonomy: the basis for true self-esteem. In: Kernis MH (Hrsg) Efficacy, agency, and self-esteem. Plenum Press, New York, S 31–49 Heckhausen H (1975) Fear of failure as a self-reinforcing motive system. In: Sarason IG, Spielberger C (Hrsg) Stress and anxiety, vol II. Hemisphere, Washington, DC, S 117–128

Literatur

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Kanfer FH, Reinecker H, Schmelzer D (2005) Selbstmanagement-Therapie. Ein Lehrbuch für die Klinische Praxis, 4. Aufl. Springer-Verlag, Berlin Kuhl J (1983) Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle. Springer, Berlin Lauth GW, Schlottke PF (2009) Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern, 6. vollständig überarb. Aufl. Psychologie VerlagsUnion, Weinheim Margraf M, Berking M (2005) Mit einem “Warum” im Herzen lässt sich fast jedes “Wie” ertragen: Psychotherpeutische Entschlussförderung. Verhaltenstherapie 15:254–261 Rheinberg F, Krug S (2017) Motivationsförderung im Schulalltag, 4. Aufl. Hogrefe, Göttingen 1. Auflage 1993 Sokolowski K, Schmalt HD, Langens TA, Puca RM (2000) Assessing achievement, affiliation, and power motives all at once: the Multi-Motive Grid (MMG). J Pers Assess 74:126–145 Sznycer D, Tooby J, Cosmides L, Porat R, Shalvi S, Halperin E (2016) Shame closely tracks the threat of devaluation by others, even across cultures. Proc Nat Acad Sci 113(10):2625–2630 Sznycer D, Xygalatas D, Agey E, Alami S, An XF, Ananyeva KI, Atkinson QD, Broitman BR, Conte TJ, Flores C, Fukushima S, Hitokoto H, Kharitonov AN, Onyishi CN, Onyishi IE et al (2018) Cross-cultural invariances in the architecture of shame. Proc Nat Acad Sci USA. https://doi.org/10.1073/pnas.1805016115

Stichwortverzeichnis

A Abwertung globale, 45 Aggression, 40 Alliance Focused Training, 66 Angst vor Misserfolg, 4 Angstbewältigung, 142 Angstreduktion Technik, 91, 131 Annäherungsziel, 7, 119, 127, 130, 133, 142 Anspruchsniveau dysfunktionales, 6 Atkinson, John William, 3 Attribution, 8, 143, 145 Aufgabenbewältigung Strategie, 92 Aufschieben, 90 Autonomie, 50, 51, 53

Covington, Martin V., 11 D Deci, Edward L., 23, 50 Detail Konzentration, 118 E Engagement soziales, 58 Entwertung soziale, 40 Erwartungs-mal-Wert-Modell, 3 F Fähigkeitskonzept, 146

B Baumeister, Roy F., 48 Behandlungsrational, 126 Belohnung, 146 Beschwichtigung, 40 Bewertungsmaßstab intraindividueller, 143 Beziehung therapeutische, 57, 66 Bindung Schutz, 49 Bruch der therapeutischen Beziehung, 66 durch Konfrontation, 67 durch Rückzug, 66 C Carver, Charles S., 7

G Grawe, Klaus, 62 Grundbedürfnis psychologisches, 50, 146 Grundüberzeugung dysfunktionale, 145 H Handlungskontrolle, 18 Handlungsorientierung, 17 Handlungsplanung, 7, 17, 127, 133 Heckhausen, Heinz, 8, 47 Heckhausen-Selbstbewertungsmodell, 47 Hilflosigkeit erlernte, 18

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Hollas, Psychotherapie der Misserfolgsangst, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61142-5

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152 Hoffnung auf Erfolg, 4 I Information Threat Theory of Shame, 38, 64, 67 Integration extrinsisch motivierten Verhaltens, 55 soziale, 52, 53, 147 K Kausalattribution, 32 Kompetenzerleben, 50, 51, 57, 147 Kuhl, Julius, 17 Kultur asiatische, 44 westliche, 44 L Lageorientierung, 17 Leary, Mark R., 48 Leistungsmotivation, 3 M McClelland, David C., 28, 31 Metakommunikation, 67 Misserfolgsvermeidende, 12 Modell quadripolares, 11 Motiv explizites, 28 implizites, 28 Motivation, 4 extrinsische, 51 Motivationsstörung, 120 Motivtraining, 31 Multi-Motiv-Gitter Test, 28 Muran, J. Christopher, 66 N Need-to-Belong-Theorie, 48 P Perfektionismus, 118 Persönlichkeitsentwicklung, 58 Planung bei Übermotivation, 142 Problemlösestrategie, 93 für Annäherungsziele, 133

Stichwortverzeichnis Psychoedukation, 59 bei Misserfolgsvermeidung, 77 bei Übermotivation, 120 R Rheinberg, Falko, 28, 32, 143 Risikowahlmodell zur Leistungsmotivation, 3 Roberts, Brent W., 11 Rückzug, 41 Ryan, Richard M., 23, 50 S Safran, Jeremy D., 66 Scham, 37, 81 adaptive Funktion, 38 antizipierte, 5 System, 39 Schambereitschaft, 38 erhöhte, 41, 147 Scheier, Michael F., 7 Schuldgefühl, 37 Selbstbestimmung, 147 Selbstbestimmungstheorie, 50 Selbstbewertung dysfunktionale, 58 funktionale, 58 Selbstbewertungsemotion, 8, 32, 145, 146 Selbstbewertungsmodell, 8, 47 Selbstkritik, 146 Selbstmanagementtherapie, 85 Selbstverbalisation, 90, 91, 128, 131, 142 Selbstwert, 12, 48, 50 kontingenter, 23, 50, 51, 58, 147 Schutz, 47 stabiler, 50, 52, 58, 147 Selbstwerttheorie der Leistungsmotivation, 12 Self-Handicapping, 88 Seligman, Martin, 18 Sicherheitsverhalten, 88, 130, 131 Soziometertheorie, 48 Standard äußerer, 58 Status sozialer, 38, 44, 45 Störungsmodell der Misserfolgsvermeidung, 76 der Übermotivation, 124, 125 Strategie zur Aufgabenbewältigung, 132 System der Scham, 39 Sznycer, Daniel, 38

Stichwortverzeichnis T Tangney, June P., 37 Teufelskreismodell der Misserfolgsvermeidung, 78 der Übermotivation, 120 Therapieabbruch, 62 Therapieresistenz, 61 U Übermotivierte, 12 Unterordnung, 40 V Veränderungsmotivation, 127 Verhaltensexperiment, 141 Vermeidung kognitive, 62 Vermeidungsverhalten, 61, 64, 79, 87, 130, 131

153 Vermeidungsziel, 9, 119, 127, 130 W Weiner, Bernard, 8 Wertklärung, 85, 127 Z Ziel extrinsisches, 57, 58 funktionales, 71 intrinsisches, 57 Zielerklärung, 85, 127 Zielsetzung, 32 Zielsetzungsstrategie, 85 Zugehörigkeit soziale, 48, 50, 58