Psyche - Logos - Lesezirkel: Ein Gespräch selbdritt mit Martin Heidegger
 9783826017735, 3826017730

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Michael Schödlbauer

Psyche - Logos - Lesezirkel

Schödlbauer Psyche - Logos - Lesezirkel

EPISTEM A TA WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN Reihe Literaturwissenschaft

Band 308 — 2000

Michael Schödlbauer

Psyche - Logos - Lesezirkel Ein Gespräch selbdritt mit Martin Heidegger

Königshausen & Neumann

Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Bildes von Albrecht Dürer, 1506

D ie D eutsche B ibliothek — C IP - Einheitsaufnahm e

Schödlbaucr, Michael: Psyche - Logos - Lesezirkel : ein Gespräch selbdritt mit Martin Heidegger / Michael Schödibauer. »W ürzburg : Königshausen und Neumann, 2000 (Epistemata : Reihe Literaturwissenschaft ; Bd. 308) ZugL: Hamburg, Univn Diss., 1998 ISBN 3-8260-1773-0

D 18

O Verlag Königshausen & Neumann Gm bH, Würzburg 2000 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbestlndigem Papier Umschlag: Hummel / Lang, Würzburg Bindung: Rimparer Industriebuchbinderei Gm bH Alle Rechte Vorbehalten Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechugesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

P rinted in G erm any

ISBN 3-8260-1773-0

Die Forschungsarbeit wurde finanziell unterstützt von: Evangelisches Studienmerk e.V., Schwerte Fran^-Marie-Christinen-Stißung, Regensburg Erck Rickmers, Nordcapital Gesellschaft Hamburg

Die Drucklegung wurde finanziell unterstützt von: Schleicher-Stiftung, Baden-Baden Johanna und Frit% Buch - Gedäcbtmsstißung, Hamburg Fran^-Mane-Christinen-Stißung^ Regensburg

Abdruck von Photographien mit freundlicher Genehmigung von Digne M Manovicζ Eva Brandecker

Inhaltsverzeichnis;

Einleitung......................................................................................................................... 13 LESETHEORIE I: EXPOSITION VERSCHIEDENER ANSÄTZE............................19 1. Psychologische A nsätze.......................................................................................... 20 , 2. Phonologie und Strukturalismus, Grammatologie und Poststrukturalismus.....25 Bewandtnis als strukturales Konzept Heideggers...................................................................29 3. Psyche und L o g o s......................................................................................................32 Lesende Lege bei Heidegger.............................................................................................. 32 Psyche a/s Zeichenorganisation: Von Saussure zp Peirce......................................................... 35 4. Peirce* triadisches Zeichenmodell............................................................................. 41 Unendliche Semiose und Lesezirkel................................................................................... 47 Bedeutung als Übersetzung................................................................................................48 Bedeutung und Kontext..................................................................................................... 50 Etym, Etymologie, Enzyklopädie........................................................................................ 51 Kritik am informationstheoretischen Sprachmodett................................................................. 56 5. Vom Lesen als Akt zur Interaktion......................................................................... 59 Leerstelle und impliziter Leser (Iser).................................................................................. 61 Der Interpretant und die Hermeneutik ............................................................................... 65 Lesezirkel und hermeneutischer Zirkel....................................... ........................................67 Mit-Teilungen.............................................................................................:.................... 68 6. Dialogizität, Intertextualität, Lesezirkel.....................................................................70 Heidegger im Gespräch......................................................................................................71 Bachtins Dialogizität........................................................................................................ 75 Verstehendes Gespräch .............................................................................................. -.....78 Textkritische Implikationen: von der Dialogizität Zur Intertextualität........................................................................................................... 83 Von der Intertextualität zum ersten Lesezirkel.....................................................................88 ERSTER LESEZIRKEL: KANT AUS ZWEITER H A N D .............................................93 1. Interpretation als Akt der G ew alt................................................................ ............ 93 Abriß des ersten Lesezirkels............................................................... 93 Methodische Vorüberlegungen zumforderten Lesen................................................................95 2. Stämme der E rkenntnis............................................................................................ 103 Erster Stamm: transzendentale Ästhetik............................................................................103 Stammbegriffe der Logik.................................................................................................. 108 3. Vom Schematismus zum photogenen S e in ........................................................... 115 Heideggers Lese-Geist: pfingstBcbe Anschirrung...................................................................115 Wurzelziehen................................................................................................................. 118 Das Photogene der Philosophie..........................................................................................120 Das Motiv derAnsichtskarte................................................................................................ .. 130 'Vermittlung? - Die Einbildungskraft alsfreizügiges Fräulein vom A m t?....... ...... Was heißt: eine Orchidee ausstellen?............................................................................... 134 4. Einbildungskraft unter Auflagen: sekundäre Bearbeitung?............................. 141 Lacans Phantasma als Schematismus........................................... 144

Kronasfriß: die Einbildungskraft als Zeitvermögen............................................................145 Kants Zuriickscbrecken................................................................................................. 147 Empirisch-transzendentale Verwicklungen........................................................................ 150 5. Schematismen: das Dreieck und dielachende M agd............................................ 153 6. Passagen-Werke: vom Frauenschuh zum Krug-Ding........................................... 167 Fetisch........................................................................................................................ 174 Hegels Strumpfim Arf-Riß............................................................................................179 Ontische Modellegjbt es —nicht........................................................................................ 184 7. Zw iefalten................................................................................................................ 188 Das Märchen von der ontologischen Differenz........... ......................................................... 188 Sexuelle Differenz : ontologische Differenz.......................................................... Die Zwiefalt bei Kant.................................................................................................... 202 Der Turm als Schematismus der Zwiefalt........................................................................ 208

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LESETHEORIE II: DIE WITZTHEORIE ALS MODELL POINTIERTEN LESENS.............................................................................................211 1. Fragestellungen im Anschluß an einkonvulsivisches L e se n .................................211 2. Die fireudsche Witztheorie.......................................................................... 213 Vom Witz der Übertragung............................................................................................213 Verdichtung..................................................................................................................215 Verschiebung................................................................................................................ 217 Kopula.........................................................................................................................220 Textverschlingungen..................................................................................................... 221 Der sitzengelassene Hörer............................................................................ 222 Degradation des Philosophischen...................................................................................... 224 3. Philosophischer Em st und Lachkultur.................................................................. 227 Heitere Autorenrunde....................................................................................................229 Vom Ende der Harmlosigkeit..........................................................................................231 Die Zote - ein Textköder................................................................................................ 233 4. Der Dritte: Teil des Lesezirkels odersein Tableau?..................................... 235 Anwendung der Zoten-Struktur auf Heideggers Übergriffe auf die Metapbyrik........................................................................... ............................ 237 Der Dritte in der Z Topik..............................................................................................240 Das 'dritte Ohr”: ein theoretisches Kuriosum?............................................... 244 Zur Etymologe von Wit^ ................................................ ............................................. 247 Das Wort und sein Umfeld............................................................................................. 250 Suspense-Moment der ontologschen Differenz..................................................................... 252 Den Spruch-Körper mit der Feder kitzeln........................................................... 254 Lesen und Gedächtnis.................................................................................................... 259 ZWEITER LESEZIRKEL: DIE ABSOLVENZ DES ABSOLUTEN. D er Schuh, das Böse bei Schelling und Hegels H ökersfrau......................................263 1. Mit Kant über Kant hinaus........... ..................................................................... 263 Die Scbmttmenge mit den anderen Lesezirkeln...................................................................263 Freudsches bei Schelling..................................................................... Intellektuelle Anschauung des Absoluten ...........................................................................267 Kants Wurzel.......................................................................................................... 273

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2. Schellings Freiheitsschtift....................................................................................... 275 Freiheit und System........................................................................................ 275 Gottes Entbindung................................. ............................. die Schranke, die beide in ein Verhältnis setzt, in Gestalt einer Unter­ brechung verbindet? Die harre wird meist ausgespart, wenn man Saussures Zweispänner der Zahl nach von Peirce1 dreistelliger semiotischer Relation unterscheidet21 Peirce verbindet ein Zeichenmedium (alias: Zeichenmittel, -träger; Representarnen), ein Zeichenobjekt und einen Interpretanten zu seinem semiotischen Dreieck. Es gibt sicher mehr als eine mögliche Übersetzung von Saussure in Peirce —denn bei beiden ist die Begrifflichkeit in Bewegung, streckenweise aber auch unpräzise.

20 Auch bei Peirce ist der Mensch nicht länger „das tätige Subjekt des Zeichengebrauchs, für das er sich aus­ gibt“ (Schönrich: Zeichenhandeln, 91), sondern taucht im semiotischen Zuge wechselnder Signifikanten auf. „Die bedeutungsstiftenden Intentionen von Subjekten losen sich in der anonymen Produktivität des Zeichen­ prozesses auf.“ (ebd., 93.) G. Vigener sieht Saussures Zeichenmodell nicht durch die bam zwischen Signifikant und Signifikat, son­ dern durch das Sprachsystem (langage) trianguliert (vgl. Vigener Pragmatik, 64).

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An sä tze

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Pcirce:

Signifikat '■

{

Interpretant

■ (bure)

Signifikant

Saussure Peirce: Zeichenmittel (Saussure: Signifikant)

Peirce: Zeichenobjekt

Über die Zuordnung von Zeichenmittel, bzw. Representamen bei Peirce und dem Si­ gnifikanten bei Saussure kann kein Zweifel bestehen. Was Saussure 'Signifikat' nennt, gerät bei Eco wohl deshalb in die Ecke des Interpretanten (vgl. Eco: Zeichen, 30), weil Saussure das Signifikat oft als Vorstellungsbild faßt, das sich nur in der Differenz zu anderen Vorstellungen als Begriff spezifiziert. Im Unterschied hierzu läßt sich das Signi­ fikat auch dem Objektbezug zuordnen (vgl. Schönrich: Zeichenhandeln, 287; H. Schmale, in Grassi: Gelassenheit, 204). Ohne halbherzig erscheinen zu wollen, wird hier das Signifikat zwischen Interpretant und Zeichenobjekt angesiedelt.22 Als Zeichenmittel fungiert beim Lesen die Materialität in Gestalt von Buchstaben und anderen Zeichen —inklusive der Wortzwischenräume - , der Interpretant ist die Übersetzung dieses Zeichens in ein anderes Zeichen (eine Vorstellung, ein Gefühl, eine Handlung ...), das Zeichenobjekt stellt den Objektbezug her. „Ein Zeichen oder ein Repräsentamen ist ein Erstes, das in einer solchen ge­ nuinen triadischen Relation zu einem Zweiten, das sein Objekt genannt wird, steht, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, zu be­ stimmen ...“ (Peirce: zit n. Schönrich: Zeichenhandeln, 104). Bei Peirce ist jede der drei semiotischen Positionen durch die anderen beiden vermittelt, sie verweisen aufeinander. Jede Ecke der Trias gliedert sich wiederum dreifach:23

22

Mit Saussure ließe sich argumentieren, daß weder Signifikat und Interpretant noch Signifikat und Zei­

chenobjekt den gleichen sprachlichen Wert haben können, wenn sich Saussures Signifikant und Signifikat nun auf drei Positionen zu verteilen haben. 23

J Die Erstheit als Zeichenmittel tritt ihrerseits in Form einer Erstheit der Erstheit (Quali-), einer Zweitheit der

Erstheit (Sin-) und einer Drittheit der Erstheit (Legjzeichen) auf, entsprechendes gilt für Zweitheit und Drittheit des semiotischen Dreiecks. Von den sich rechnerisch ergebenden 33 = 27 ergebenden Kombinationen sind aber nur 10 erlaubt (vgl. Seitz: Traumbedeutung, 63).

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In traditionellen philosophischen Kategorien gesprochen korrespondieren der Erstheit die Möglichkeit, der Zweitheit die Wirklichkeit und der Drittheit die Notwendigkeit (vgl. Schönnch: Zeichenhandeln, 166). An dieser Stelle genügt eine kurze Charakteristik des Zeichentrios (vgl. Schönnch: Zeichenhandeln, 122-166; Seitz: Traumbedeutung, 5963): Zeichenmittel: Das Zeichenmedium ist als Qualizeichen (tone) eine sinnliche Qualität, etwa die Farbe gelb, die als Zeichen fungieren kann. Ein materialisiertes, aktual wirken­ des Zeichen ist ein Sinzeichen (token), ein singuläres Zeichenereignis. Buchstaben oder Verkehrszeichen als Beispiele konventioneller Zeichen haben den Status von Gesetzen, es handelt sich um normierte Legizeichen (type). Zeichenobjekt: Die Position der Zweitheit im Zeichenprozeß fällt dem Objektbezug z a Objekt kann eine Sache, ein Abstraktum, Heideggers Sein, ein Erdachtes, Geplantes oder Gefühltes, eine Sprecherintention oder ein anderer Anlaß für einen Zeichenprozeß sein (vgl. Schönrich: Zeichenhandeln, 128; Seitz: Traumbedeutung, 60). Folgt man dem pansemiotischen Peirce, für den nicht nur der Mensch, sondern die ganze „Welt ein ein­ ziges mysteriöses Zeichen [ist)“ (E. Baer, in: Grassi: Gespräch, 171), so kann es sich bei dem Zeichenobjekt nicht um ein schier vçichentrans^endentes Objekt handeln; durch das „Prinzip (J der universellen Zeichenvermitdung ist der Begriff des Objektes als eines selbständigen und unabhängigen Etwas ange fochten“ (Schönrich: Zeichenhandeln, 129). Nach Schönrich ist das von Peirce unmittelbar genannte Objekt die Weise, wie es sich perspektivisch durch dieses bestimmte Zeichen vermittelt darstellt, in Anlehnung an Husserl könnte man vielleicht von einer Abschattung des dynamischen Objekts spre­ chen. Letzteres wird zwar nicht aktuell erfaßt, aber in einer Reihe von Zeichen bezeich­ net, indem es in einem seiner Aspekte indiziert wird (vgl. Schönrich: Zeichenhandeln, 129ff.). Dieser perspektivische Charakter des Bezeichnens wird bereits deutlich in der all­ gemeinen Definition des Zeichens als „something which stands to somebody for something in some respect oder capacity“ (Peirce, zit. n. Eco. Zeichen, 31). Das Etwas wird also in einer spezifischen Hinsicht bezeichnet (unmittelbares Objekt) und betrifft nicht den Gegenstand in seiner Gesamtheit (dynamisches Objekt). Im Prozeß des Be-

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Zeichnens wird der Gegenstand angeschnitten, ja zerteilt, artikuliert, wenn „der durch den Interpretanten gestiftete Bezug der Äquivalenz immer nur partiell sein kann“ (Weber: Sémiologie, 59). Ikon, Index, Symbol sind die drei Modi des Objektbezugs als der Zweitheit der Zeichentrinität Das ikonische Zeichen hat gemeinsame qualitative oder formale Merk­ male mit dem Objekt. Peirce' Rede von einer Ähnlichkeit ist zu relativieren, denn auch die Ikonizität ist Sache der Konvention (vgl. Eco: Theorie, 254ff.); eine photographi­ sche Abbildung übersetzt beispielsweise das Drei- in das Zweidimensionale (vgl. Eco: Zeichen, 143; Schönrich: Zeichenhandeln, 139). Ikonischer Charakter wird dem meta­ phorischen Sprechen, Schemata, Diagrammen, Landkarten zugesprochen, sie spielen aber meist schon in den Bereich des Index hinüber (vgl. Civikov: Lyrik, 30). Der Index steht in einer Kontiguitätsrelation (Jakobson: Semiotik, 80), bzw. in einer physischen oder kausalen Beziehung zum O bjekt der berühmte Zeigefinger - Photographien do­ kumentieren den von Heidegger gerne als indexikalisches Zeigzeug verwendeten Stock —, der Fußabdruck im Sand, der Rauch des Feuers, das ausgetrocknete Flußbett sind Paradebeispiele für Indizes, ferner kann die Mundart als Index der Herkunft gelesen werden. Daß indexikalische Formen wie der Verweis auf ein Ich und Du, auf ein Hier und Jet^t, für sich genommen an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lassen —was kann ein ausgestreckter Finger nicht alles bedeuten —, hat schon Hegel in seiner PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES gezeigt Heidegger hat diese Kritik an der sinnli­ chen Gewißheit, am Diesigen und Hiesigen aufgenommen (vgl. Heideggen Geist, 87f£). Vermutlich sind die Koordinaten des Index von der Drittheit des Objektbezugs voigezeichnet Als Symbol bezeichnet Peirce eine konventionelle Relation zwischen Zeichenme­ dium und Objekt Für Saussure ist eine solche arbiträre Verbindung von Signifikant und Signifikat prototypisch für das Sprachzeichen als eines willkürlich gesetzten und kraft Gesetz der Sprache wirkenden. Auch für Peirce ist das Symbol durch ein Gesetz in Kraft (vgl Schönrich: Zeichenhandeln, 149); Lacan spricht vom Symbolischen der Sprache, vom Gesetz des hinderen. Das Symbol gilt Peirce als „'genuines1 Zeichen, da es sich freier Setzung verdankt Im Vergleich mit dem Symbol sind Index und Ikon abgeschwächte, 'degenerierte' Zeichen.“ (Seitz: Traumbedeutung, 61.) Man verstünde die Klassifikation in Ikon, Index und Symbol falsch, verspräche man sich von ihr eine eindeutige Zuordnung von Zeichen; besser sollte von ikonischen, indexikalischen oder symbolischen Anteilen von Zeichen gesprochen werden. Die semiotische, metasprachliche Einordnung des Objektbezugs eines Zeichens ist selbst schon ein interpretativer Akt. Interpretant: Mit dem Interpretanten expliziert Peirce eine dritte Dimension im Akt des Bedeutens. In ihr zeigt sich die Relevanz des semiotischen Dreiecks für eine Theorie auslegender Lektüre. So verschieden der Interpretantenbegriff auch gefaßt wird — Einigkeit scheint in der Sekundärliteratur darüber zu bestehen, man dürfe den Interpretanten nicht mit der Person des Interpreten verwechseln (vgl. Eco: Theorie, 101; Civikov: Lyrik, 32; PlegerSpies: Erzähler, 64; Vigener. Pragmatik, 82; W eber Sémiologie, 59). Wenn man beide

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aber verwechseln will, so wäre der Interpret über das Konzept des Interpretanten als Ereignis eines Zeichenprozesses zu reformulieren; der Interpretant ist gleichsam ein Wechsel des Interpreten, denn der Interpret ist seines Zeichens ein Zeichen, das - obgleich deutungslos - von immer anderen Zeichen bezeugt und von ihnen ausge­ strichen wird. Der Leser als Subjekt des Signifikanten wird von der Signifikantenkette immer wieder (her) ausgestrichen. In diesem Sinne wird hier Lacans Sigle für das Sub­ jekt verstanden: Bei aller Gefahr einer mentalistischen und psychologistischen Reduktion semiotischer Begriffe —der auch Peirce streckenweise erlegen zu sein scheint (vgl. Eco: Theo­ rie, 38) — kann man den Interpretanten psychologisch betrachtend sagen, daß es sich um die Bedeutung des Zeichens im Interpreten handele. Von einem „interpretie­ rende [n] Bewußtsein eines Interpreten“ (zit. n. Seitz: Traumbedeutung, 62) zu spre­ chen, spielt den Interpretanten ein wenig zu sehr in die psychische Region hinüber; es sei denn man bedenkt, daß der Interpretant als Bedeutung eines Zeichens selbst die Seinsart des Zeichens hat. Ein Interpretant ist „das, was das Zeichen in jenem QuasiGeist hervorbringt, welches der Interpret ist“ (Peirce, zit. n. Eco: Lector, 37). „Ein Zeichen ... richtet sich an jemanden, das heißt, es bringt im Geiste einer Person ein gleichartiges Zeichen hervor, oder vielleicht auch ein entwickelteres Zeichen. Das Zeichen, welches es hervorbringt, nennen wir Interpretant des er­ sten Zeichens.“ (Peirce, zit n. Eco: Lector, 32.) Die Möglichkeit der Substitution eines Zeichenmittels durch ein elaborierteres, entwicht teres Zeichen - den Interpretanten - ist ein Hinweis darauf, daß sich hier die begriffli­ chen Werte im Sinne Saussures ändern werden. Bei Saussure ist die interpretative Vermittlung von Bedeutung der Zeichenbeziehung inhärent Kritisch bemerken C K Ogden und I. A. Richards, „daß das Zeichen seine Interpretation schon per definitio­ nem in sich enthält“ (zit. n. W eber Sémiologie, 51), was S. Weber hingegen als ein Vor­ teil von Saussures strukturalem ZeichenbegrifF erscheint, gesetzt, „daß man Interpretation* nicht einfach als die Auslegung eines Sinnes versteht, der wie ein Kem im Auszulegenden schon enthalten wäre, sondern vielmehr als konfliktträchtiges Spiel“ (Weber ebd.) begreift. Drei Jahrzehnte vor Saussure hat Peirce diese sich im Zeichen­ prozeß vollziehende Deutung als Funktion des Interpretanten beschrieben: Kurz gesagt ist der Interpretant ein Zeichen, welches das Zeichenmedium inter­ pretiert, das Zeichen der Erstheit auf der Ebene der Drittheit liest „Die Deutung des Zeichens [durch den Interpretanten] ist fur Peirce nicht eine Bedeutung, sondern ein anderes Zeichen; es ist eine Lektüre und keine Dekodierung“ (Man: Allegorien, 38). Der Interpretant als lesendes Zeichen kann die Form einer Kognition, eines Af­ fekts odereiner Handlung annehmen (vgl. Eco: Zeichen, 164; Schönrich: Zeichenhan­ deln, 151f.). So kann der Interpretant des Befehls Komm! die entsprechende Innervation der Bewegungsapparatur sein, der Interpretant einer Frage kann eine weitere Frage, beFür Eco läge die Frage nach dem Subjekt des Lesens ebenso wie die „Erforschung der kreativen Aktivität eines mit der Semiose befaßten Subjekts“ (Eco: Theone, 400) jenseits der Grenze der Semiotik. Diese Grenze werde durch Konzeptionen des „Tiefen'-Subjektfs] im freudschen Sinn“ (ebd.) überschritten, wie sie sich bei Lacan und Kristeva finden.

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drücktes Schweigen oder ein wordoser Wink in eine bestimmte Richtung sein. Der emotionale Interpretant unfreiwilliger Komik ist der Impuls zu lachen, der energetische Interpretant eines Zeichens kann in seinem Anreiz, weiterzudenken, es weiter zu ent­ wickeln, liegen (vgl. Civikov: Lyrik, 33). Als Interpretant von flacht* kann der Adler dienen, Interpretanten können in Konnotationen eines Wortes bestehen; fur Eco zeigt die Funktion des Interpretanten, „wie Signifikation (und Kommunikation) mittels kon­ tinuierlicher Verschiebungen, die von einem Zeichen auf ein anderes Zeichen oder eine Kette von Zeichen zurückverweisen“ (Eco: Zeichen, 105), funktioniert. Man kann einen unmittelbaren Interpretanten (die Bedeutung) von einem dynami­ schen unterscheiden - die Wirkung, die er effektiv auf den Interpreten hat - und über den finalen Interpretanten rätseln. In manchen Darstellungen liest er sich so, als er­ warte man, mit den Zeichen irgendwann doch an ein Ende zu kommen. Der Begriff des finalen Interpretanten dient oft als Unterschlupf für das Phantasma einer 'richtigen' Interpretation. Die drei Formen des Interpretantenbezugs, Rhema, Dicent und Argument, unter­ scheiden sich in der Art der Unvollständigkeit. Rhematisch ist ein isoliertes Prädikat wie stürmisch, in der Architektur eine Säule (Seitz: Traumbedeutung, 62). Eröffnet das Rhema eine Möglichkeit, so setzt sie der Dicent wirklich, etwa in Gestalt eines Satzes, der vom stürmischen Liebhaber oder der bewegten See spricht. In der Musik könnte man an den dicentisch verfaßten Satz einer Sonate denken. Über den Satz oder eine lo­ gische Behauptung hinaus geht das Argument, das etwa in der Form eines logischen Syllogismus auftreten kann. „Ein Argument ist ein Zeichen, das für seinen Interpretan­ ten ein Zeichen eines Gesetzes ist“ (Peirce, zit. n. Schönrich: Zeichenhandeln, 160). Der Interpretant nickt sich hier gleichsam selber zu. Nachdem er aus sich seinen Schluß gezogen hat, kann er sich für einen Moment in einem q.e.d ausruhen — oder die Prämissen in Frage stellen. Letztlich nimmt der semiotische Prozeß kein Ende: „ D e r In te rp re ta n t, d e r als rh em atisch e, d icentische o d e r arg u m e n ta tiv e B e ­ d e u tu n g selbst ein Z eichen ist, w ird, sobald v o n ih m g e d a c h t u n d g e s p ro c h e n w ird, zu m O b je k tb e zu g eines folg en d en In te rp re ta n te n , d e r w ie d eru m

e in

Z eich en ist u n d so a d infinitum ... Qjedes Z eich en kann als In te rp re ta n t eines voran g eh en d en Z eichens b e tra ch te t w erd en “ (Civikov: Lyrik, 33) ...

- und wird zum Vor-Wort, zum Zeichenmittel eines neu zu produzierenden Interpre­ tanten, welcher seinerseits auf den Status der Erstheit zurückfällt, um neu interpretiert zu werden, so „daß alle Gegenstände, auf die wir uns durch Zeichen beziehen, ihrer­ seits wieder zu Zeichen werden, wobei es also zu einer Semiotisierung des Referenten kommt“ (Eco: Zeichen, 63). „Jed er G eg en stan d , a u f den ein Z eich en b e zo g e n w ird, kann seinerseits z u m Signifikanten für das Signifikat des u rsp rü n g lich en S ignifikanten w e rd en o d e r sogar zum Signifikanten, dessen m etasprachliches Signifikat d e r u rsp rü n g lic h e Signifikant i s t . . . “ (ebd., 168).

Wenn der Interpretant als dasjenige, was ein Zeichenmittel interpretiert, den Status ei­ nes weiteren Zeichens hat, dann bleiben die Signifikanten in der Semiose unter sich.

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Lesetheorie I:

Analog dazu besteht Lacans Dezentrierung Saussures darin, das Signifikat in eine Kon­ stellation von Signifikanten zurückzunehmen. An die Stelle einer Trennung von Signifi­ kant und Signifikat, zwischen Lautbild und Vorstellung, setzt Lacan die Figur der Möbiusbandes, „bei dem man entlang der einen Oberfläche justament auf der Gegen­ seite ankommt“ (M. Wetzel, in Nagl: Textualität, 207). Wenn man Peirce im Möbius­ band unterbringen wollte, so wären Interpretant und Zeichenmittel auf einer Fläche des Bandes, der Objektbezug vielleicht die Abseite, die andere Fläche. Unendliche Semiose und Lesezirkel Von einem Zeichen wird man über den Inteipretanten auf ein anderes Zeichen ge­ bracht Dieser Prozeß ist jederzeit empirisch erfahrbar. Fragt man nach der Bedeutung eines Zeichens, so wird man an ein anderes Zeichen weiterverwiesen. In einer unab­ schließbaren Bewegung wird ein Wort durch ein zweites erklärt, welches seinerseits von einem weiteren interpretiert wird. In diesem Regreß, der als unendliche Semiose bezeichnet wird (vgl. Eco: Lector, 46f.; Schönridr Zeichenhandeln, 22), liegt der Dreh des semiotischen Dreiecks, bei dem es nicht um eine statische Zuordnung auf Zei­ chenmittel, Zeichenobjekt und Interpretant geht, sondern um eine dynamische Kreis­ bewegung. Ein Zeichen wird durch einen Interpretanten gelesen, wobei „fortlaufend ein Interpretant in ein Medium verwandelt [wird], auf das ein weiterer Interpretant bezo­ gen wird“ (Seitz: Traumbedeutung, 62). „Erstes und Drittes tauschen permanent die Rollen“ (Schönrich: Zeichenhandeln, 108). Warum sollte man die Zweitheit, den Ob­ jektbezug, hier ausnehmen? Der Wechsel scheint nicht auf die erste und dritte Position zu beschränken, denn bei jedem Weitertreiben der Frage nach der Bedeutung ändert sich das unmittelbare Objekt. Anstatt auf die vermeintliche Stabilität und Unabhängig­ keit des dynamischen Objekts zu setzen, müßte dieses selbst als Effekt einer Reihe semiotischer Prozesse begriffen werden. Der stete Wechsel zwischen den Positionen Zeichenmittel, Zeichenobjekt und Inter­ pretant im semiotischen Dreieck von Peirce (vgl. H. Schmale, in Grassi: Gelassenheit, 205) ist die dem Lesezirkel eigene Bewegung: So fungieren im ersten Lesezirkel25 Heideggers Texte zu Kant als Zeichenme­ dium. Diesen Part geben sie ihrerseits immer wieder ab an den Quellentext aus der Feder Kants, für den Heideggers Auslegung fundamentalontologische Interpretanten lie­ fert. Konzepte des transzendentalphilosophischen Ansatzes, die als Erstheit fungieren, werden via Heidegger überfuhrt in den phänomenologischen Kontext (Drittheit), wobei der Begriff des Seins gleichsam als Objektbezug Kant unterstellt wird. Nebenbei wird

25 Peirce* Semiotik kann hier nur anhand sparsamer Hinweise etwas gehaltvoller gemacht werden. Der Verweis auf Details der Arbeit muß knapp ausfallen, um den Pointen der Lesezirkel, ihrer allmählichen Entwicklung nicht vorzugreifen. Nach dem ersten Lesezirkel wird genügend Material vorhanden sein, um Lektüreerfah­ rungen Revue passieren zu lassen In Ltxtbconc II wird Freuds Witzmodell vorgestellt, in dem der Leser un­ schwer eine Übersetzung und Verschiebung von Peirce1semiotischem Dreieck erkennen kann

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Husserls Phänomenologie - vermittelt über den Meisterschüler Heidegger - durch Interpretanten aus der Feder Kants angereichert und von Heidegger dezentriert Teil des ersten Lesezirkels werden auch Photographien sein, die den Emeritus Heidegger unter anderem in seinem Freiburger Haus zeigen. Die Bilder fungieren zu­ nächst als ikonische Sinzeichen, auf einer Photographie eröffnet sich durch Heideggers Blick eine schielende indexikalische Dimension. Dabei werden symbolisch tradierte und ihrerseits ikonisch unterfutterte Ressourcen des Namens einer von Heidegger eräugten Pflanze semiotisch angezapft. Diese Pflanze wird sich über das Mycelium der Intertextualität als Interpretant von Heideggers Kantbuch lesen lassen und gewinnt dabei fast den Rang eines argumentativen Interpretanten (sofern man auch andere als formal-logi­ sche Arten der Schlüssigkeit als Argumente im Sinne von Peirce gelten lassen will). Aber auch nach dem ersten Lesezirkel kann die Lektüre von Heideggers Texten zu Kant und den einschlägigen Photographien unendlich weitergehen. Die Unabschließbarkeit der Semiose ist das Korrelat dessen, was man mit Freud eine unendliche Analyse nennen kann. Nicht zuletzt die Überdeterminiertheit der Signifikanten macht die interpretative Arbeit zu einer endlosen (vgl. Eco: Lector, 53f.). Daran gemessen ist der Umfang des vorliegenden Gesprächs mit Heidegger eher knapp ausgefallen. Im Gespräch selbdritt mit Heidegger werden durch den fortwährenden Wechsel im Lesezirkel die dialogisch (oder besser trialogisch) entwickelten Sinnzusammenhänge im m er weniger personal zurechenbar. Durch die beim Leser eingeforderte Mitarbeit wird der „... Text zu einer Quelle unvorhersehbarer *Sprechakte9y deren wirklicher Autor unbestimmt bleibt, da es manchmal der Sender und manchmal der Empfänger der Botschaft sein kann, der bei ihrer semiosischen Entfaltung mitarbeitet" (Eco: Theorie, 368.) So läßt es der erste Lesezirkel zuweilen offen, ob eine bestimmte Interpretation nur Zusammenhänge aufzeigt, die bei Kant implizit sind, ob sie von Heidegger nur aufgele­ sen wurden oder ob sie auf den Verfasser als Dritten im Bunde zurückgehen. Kant lie­ fert im Lesezirkel seinerseits Interpretanten für Heidegger, ’liest* ihn, und beide lesen den Verfasser, der selektiv auf bestimmte (inter) textuelle Konfigurationen reagiert; dabei schiebt er zuweilen einen Dritten oder Vierten vor, der Zusammenhänge stiftet, indem beispielsweise bestimmte philosophische Figuren in das Vokabular der Psychoanalyse übersetzt werden. Peirce* Konzept des Interpretanten läßt sich demnach als Theorie einer Transposition philosophischer Texte in psychologische Fragestellungen verstehen. Zugleich verdient dieses Konzept als Bedeutungstheorie für eine allgemeine Lesetheorie Interesse. Bedeutung als Übersetzung Peirce zufolge ist die Bedeutung „die Übersetzung eines Zeichens in ein anderes Zei­ chensystem" (Peirce, zit. n. Jakobson: Semiotik, 117). Peirce* Übersetzungstheorie der Be­ deutung wurde gleichermaßen wichtig für R. Jacobson wie U. Eco (vgl. Jakobson: Semiotik, 430f., 482f.).

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L e s e t h e o r ie

I:

Als Übersetzung läßt sich nämlich die Ersetzung der Zeichenerstheit in die Drittheit des Interpretanten begreifen (vgl. Eco: Lector, 41). Beispiel für die Erstheit wäre ein Lemma in einem ein- oder mehrsprachigen Wörterbuch oder einer Enzyklo­ pädie; die Interpretanten wären innersprachliche Paraphrasen bzw. fremdsprachliche Erklärungen, eine Übersetzung oder Synonyme des Lemmas.26 Mit Saus sures zwei Achsen der Sprache gesprochen, hat ein Wort auf der paradigmati­ schen Achse diverse Korrelate. So kann der Thesaurus als synonyme Interpretanten für Schuft anzeigen: Gangster, Ganove, Gauner, Halunke, Lump. Das Syntagma ist die Ebene der Kombination: Schaltet man das Rundfunkgerät während der Nachrichten an und hört den Halbsatz ... darunter auch Frauen und Kinder, so legt das als Interpretanten ei­ nen Unfall oder ein Gemetzel als Kontext nahe. Das Geschehen auf der syntagmatischen und paradigmatischen Achse Saussures/Jakobsons ist also eine mögliche Übersetzung, ein Interpretant für das Interpretantenkonzept von Peirce (vgl. Eco: Lector, 42). Wie bereits erwähnt, werden sich in einer solchen Übersetzung die sprach­ lich-begrifflichen Werte der Zeichenerstheit im Zuge der Ersetzung durch die Drittheit verschieben. „ In d e r In te rp re ta tio n eines Z eichens d u rch ein anderes schneiden sich d ie A ch se n d e r syntagm atischen u n d d er paradigm atischen Z eic h e n b e z ie h u n g e n . Je d e In te rp re ta tio n stellt eine Ä quivalenz von paradigm atisch negativ g eg en ­ e in a n d er b e stim m te n W erten d a d u rch her, daß sie diese in eine syntagm atische B e zieh u n g z u ein an d e r bringt. E rst v o r diesem gleichförm igen H in te rg ru n d d er Ä quivalenz h e b t sich d an n ein Surplus v o n Sinn ab. D ie syntagm atische E n tw icklung eines Surplus an Sinn w irkt jed o ch a u f d ie differentiell b e stim m te n W erte zurück. D ie D ifferen zen geraten in B ew egung, versch ieb en

sich g eg en ein an d er

und

m üssen neu

ausgegrenzt w e rd e n .“

(Schönrich: Z eich e n h a n d eln , 119f.)

Es handelt sich demnach bei der Übersetzung keinesfalls um ein Nullsummenspiel, bei dem ein sprachlicher Wert durch ein Zeichen gleichen Wertes ersetzt würde. Ein Lump ist noch lange kein Gangster,\ Brot läßt sich nicht vedustfrei ins französische pain über­ setzen. „ D ie Ü b e rse tz u n g w ird eine fundam entale U nstim m igkeit e n th ü llen , zw ischen d e r A b sich t, Brot**2^ zu b e n e n n e n , u n d dem Brof in seiner M aterialität selbst, als einem M ittel des B edeutens. W enn m an hier, im K o n te x t v o n H ölderlin ...

Brot* h ö rt,

h ö re ich n o tw en d ig

Brot und IFein*, d e n

h ier se h r gegenw ärtig ist - w oraus a u f F ranzösisch

g ro ß e n H ö ld erlin -T ex t, d e r

Pan et vin wird.

'P ain e t vin'

ist das, w as m an in einem R e stau ra n t u m so n st b e k o m m t, in einem billigen R estau ran t, w o es n o c h im Preis inbegriffen ist, also h at pan et sin ganz a n d e re K o n n o ta tio n e n als Brot und Weid*. E s erin n ert an das pain français, baguette, ficelle.

26 Die Reichweite des Interpretantenkonzcpts - von einer Theorie der Wortsemantik bis hin zu einer der In ­ terpretation - erklärt sich dadurch, daß Peirce unter Zeichenmittel nicht nur basale Einheiten wie das Wort laßt, sondern bei ihm auch ganze Bücher als Zeichen angeführt werden (vgl. Eco: Lector, 41f.). 2^ Wörter, die innerhalb von Zitaten mit einem Sternchen* versehen sind, stehen im Original in deutscher Sprache.

E x p o s i t io n

v e r s c h ie d e n e r

A n sä tze

49

bâtard, all diese D inge - jetz t h ö re ich in B ro t 'B astard'. D as e rsc h ü tte rt d ie Stabilität des A lltäglichen . .. [;] w en n ich d aran d e n k en m u ß , d a ß B ro t [brood[ u n d pain dasselbe sind, ko m m e ich g anz d u rc h e in a n d e r.“ (P. d e M an , in: H irsch: Ü b ersetzung, 201 f.)

Paul de Man erwähnt weiter das unübersetzbare Wort S a t^ 9 das auch eine Feststellung konnotieren kann. Dank einer Homonymie wird Heidegger aus dem SATZ VOM GRUND als Grundsatz der traditionellen Logik heraus zum Satz als Sprung ansetzen. Unübersetzbarkeiten wie die von Brot oder Satv^ widersprechen nicht etwa der Übersetzungstheorie der Bedeutung, sondern sind Beleg für das, was die Semiose in Bewegung hält, was Zeichen in der Semiose wachsen läßt, wie Peirce sagt. Eben das Unübersetzbare verlangt immer neue Interpretanten und fuhrt so zur Wucherung der infiniten Semiose. Eine Form der Übersetzung in ein anderes Zeichensystem ist auch die Heidegger ins Psychologische übersetzende Lektüre, die Dekonstruktion von Heideggers gesetztem Wort und seinem Pathos, indem man es in andere Kontexte verpflanzt. In diesen Kon­ texten als Nährboden kann sich ein Subtext Heideggers entwickeln. Bedeutung und Kontext In Wörterbüchern und lexikalischen Werken werden Homonyme meist nach ihren je­ weiligen Bedeutungen in unterschiedlichen Zusammenhängen aufgeschlüsselt. „Wenn einunddemselben Signifikanten verschiedene Signifikate entsprechen“ (Link: Basis, 24), so dient der Kontext als Selektionskriterium.28 Unter Berücksichtigung der kontextuellen Determinanten von Bedeutung kann man den Interpretanten definieren als „Zeichenzusammenhang, in dem der Interpret das Zeichen versteht“ (Gvikov: Lyrik, 32). A. J. Greimas* semantische Isotopie kann man als zu Peirce* Interpretantenfeld korrelati­ ven Begriff auffassen. Unter einer Isotopie —einer Art semantischer Bewandtnisgan^heit - wird dasjenige verstanden, was die Kohärenz einer Lektüre sichert (vgl. Eco: Lector, 115, 127). Isotopien werden durch eine hierarchische Organisation von Klassemen (cL L· von Bedeutungseinheiten, die kontextuell spezifiziert werden) konstituiert (vgL Link: Basis, 71ff.). Ein homonymes Element wie H und ist der einen Isotopie zufolge animalischer Art, der anderen Isotopie zufolge ein Gefährt unter Tage. Witze arbeiten bevorzugt mit verdeckten Isotopien (vgl. Eco: Zwischen, 70; s. u. S.251). Dabei bestehen konkurrie­ rende Isotopien nicht einfach nebeneinander, sondern „’flimmern*“ (Lotman: Struktur, 107); zwischen zwei Isotopien schwingt das Zwerchfell. Neben Witzen brechen auch Versprecher eine zunächst dominante Isotopie:

28

Interessanterweise werden solche übcrâUwmnaUn Homonyme, die im semantischen Netz mehrfach einge­

bunden sind, in Worterkennungsexperimenten schneller erkannt als monoseme Wörter (vgl. Gibson: Lesen, 294).

50

L e s e t h e o r i e I:

„B eim 'fre u d sch e n V ersp rech er' han d elt es sich m eistens um eine lau tlich e Ä hnlichkeit zw ischen einem Sem em der b ew uß ten Iso to p ie u n d einem Sem em d e r u n b e w u ß ten Isotopie. W ird dieser B ruch b ew u ß t angew andt, so sp re ch e n w ir v o n Isotopienmodulatiorf* (Link: Basis, 78).

Im Lapsus wird die Erstheit des Zeichens von einem weiteren Interpretanten (dem Korrelat eines Hintergedankens beispielsweise) reinterpretiert, der Objektbezug findet sich ausgewechselt. Etym, Etymologie, Enzyklopädie Es können „ganze Quintette von Bedeutungen“ (A. Schmidt, zit n. Nicolaus: Ver­ mittlung, 157) in einem Wort instrumentiert sein; diese Überdeterminiertheit des Zeichens hat Freud u. a. in seiner TRAUMDEUTUNG und seiner PSYCHOPATHOLOGIE DES ALLTAGSLEBENS analysiert. Auf die Mehrstimmigkeit der Sprache zugeschnitten ist die psychoanalytisch inspirierte Etymtheorie Amo Schmidts in ZETTELS TRAUM. Wie sich unten ergeben wird, unterhält die Mehrstimmigkeit besondere Beziehung zur Dialogizität. Nicht zufällig wird die Etymtheorie in Form eines Dialogs dargeboten: „ W a s W o rte sind, w ißt Ih r -

?'; (sie nickten so schnell :!) (G lückliches

V ölkchen; mir w ar's nich ganz klar.)), [sic.]: 'A lso das bw sp rich t H o c h = W o rte . N u n w iß t Ih r aber, aus F R E U D 's T ra u m d e u tu n g ', wie das ubw ein eigenes Schalks= E sp e ra n to

lallt;

indem

es

einerseits

B ildersym bolik,

an d rerseits

W o rt= V e rw a n d th e ite n a u sn ü tz t, um m ehrere - (im m er a b er im G e h irn des W irtstieres engbeieinanderlagem de!) - B e d eu tu n g en gleichzeitig w ie d erz u g e ­ b en . Ich m ö ch te n u n diese n e u en , w o rtä h n lich e n G ebilde — die so w o h le rzo g en d e r sch ein b aren

Präzision d e r N o rm a lsp rac h e dienen; als auch

den

fe h llu stig = d o p p e lz ü n g e ln d e n A m fibolien d e r 'H in te r'= G e d a n k e n — Έ Τ Υ Μ Γ ' heißen: d e r o b e re T eil des U n b ew u ß ten : sp ric h t 'E ty m '.“ (A. Schm idt, z i t n. N icolaus: V erm ittlung, 150.)

Zwischen den unbewußten Tendenzen der Etyms und der normierten Sprache sind Konflikte vorprogrammiert.29 Nicolaus zufolge kommt den Etyms eine inneipsychische Vermittlungsfunktion zu (vgL Nicolaus: Vermitdung, 154, 171), viele „Etym=Parasiten“ (Schmidt, zit. n. Nicolaus: Vermittlung, 157) sind Kompromißbil­ dungen im Sinne Freuds. In ZETTELS TRAUM wird die Etymtheorie selbst in Etyms gesetzt, beschreibt also metakommunikativ die Textproduktion von A. Schmidt. Zugleich kann die Etymtheorie als Rezeptionsmodell Geltung beanspruchen. Schmidt findet Etyms so­ wohl als bewußt literarisch eingesetzte Elemente bei J. Joyce, unterstellt aber auch bei­ spielsweise E. A. Poes und K. Mays Texten unbewußte Etyms. Von daher ist die

29 Die Anreicherung der Texte von A Schmidt insbesondere durch sexuell konnoderte Etyms spielt mit der treibenden Kraft des Sprechens. Damit steht Schmidt in der Tradition Freuds, der die energetische und semiotische Analyse von Zeichen miteinander verband (Holenstein, in: Jakobson: Semiotik, 18). Texte A Schmidts befördern in besonderem Maße die Weckung der „semiotischen Energie“ (W. Pielow, zit n. Pleger-Spies; E r­ zähler, 6) des Lesers.

E x p o s it io n

v e r s c h ie d e n e r A n sä t z e

51

Etymtheorie ein literarisiertes Lesemodell mit interessanten text- und rezeptionsästhetischen Implikationen (vgl. Nicolaus: Vermittlung, 131). Etyms bieten eine multiple Lesbarkeit auf der paradigmatischen Achse (vgL Nicolaus: Vermittlung, 181). Zu einem synchronen Lesen Schmidts fordert nicht zu­ letzt der oft mehrspaltige Satzspiegel auf. Etyms sind Wortknoten, die als Rezeptionssignale für eine Mehrstimmigkeit wir­ ken. Die Überdeterminiertheit dient Nicolaus zufolge u. a. der Bedeutungsintensivierung - also der optimalen Nutzung der Kanalkapazität - , der affektiven Aufladung des Le­ sens und der Kritik etwa an der etablierten Bill-Dung (ebd., 110). Aus den genannten Gründen entschließt sich Schmidt beispielsweise, „die Ortogiaffi radikahl zu ändern“ (ebd., 103) und auf „fonetische Schreibunk=umm[zustellen]“ (ebd.). Durch diverse Änderungen und Wortzerteilungen schafft Schmidt eine eigene Schreib- und Lese-Ku/l=Tour. Durch „ganz=kleine Veränderungen, eine organische Anreicherung mit ‘weiteren Bedeutungen* ... [grünt] 1 winziger Akzent=Rasen auf einem danach lüsternen, Vokehlchen“ (ebd., 160). Auf ihm können die Schmidtspezialisten in ihrem Organ BARGFELDER BOTE nach Belieben grasen. Der für Schmidt programmatische Bruch des sprachlichen Gesetzes und der Konven­ tion ist nicht nur ein strukturales Kennzeichen von Poetizität. Sowohl Rezeptionstheo­ retiker wie Wolfgang Iser und Stanley Fish als auch strukturale Linguisten wie Jakobson verzichten darauf, poetologische Techniken und Formen etwa von humo­ ristischen zu unterscheiden: „In der Straßenbahn kann man Witze hören, die auf den­ selben Stilfiguren beruhen wie die zarteste Lyrik“ (Jakobson: Poetik, 69; vgl. Gross: Materialität, 28).30 Ein Isotopienbruch kann Moment eines poetologischen Verfahrens, eines Witzes, philosophischer Diskurse aber auch einer psycho- oder textanalytischen Technik sein, welche hinter der Textoberfläche eine strukturelle Tektonik sehen läßt Die EtymTechnik kann also zugleich textgenerativ und textanalytisch verwendet werden. Die Annahme eines Gattungsunterschieds zwischen Philosophie und Literatur, oder Philosophie und psychologischer Theoriebildung, auf der etwa Habermas und andere insistieren (Nagk Textualität, 7), wird von den (Post)Strukturalisten nicht geteilt (vgL

^

In der strukturalen Textanalyse spricht man von einem „sekundär[] modcllbildende [n] System vom Typ

Kunst [. Auch die Philosophie wäre ein solches sekundäres System. Dieses] konstruiert sein

eignes System von

Denotaten“ (Lotmam Struktur, 77; vgl. Titzmann: Textanalyse, 69). Titzmann verweist vom sekundär genann­ ten poetologischen System auf das analytische Setting. Sobald eine „redende Person auf einer Coch [liegt] ..., so scheint dieselbe normalsprachliche Rede sich gleichzeitig eines sekundären Systems zu bedienen, das dem Sprecher nicht als Kode bewußt i s t ...: es handelt sich um den Extremfall, wo ein und dieselbe Äußerung in zwei wesentlich verschiedenen Zeichensystemen gelesen werden kann“ (Titzmann: Textanalyse, 76f.). Wir teilen rückhaltlos Titzmanns anschließend geäußerten Zweifel, „ob es überhaupt Texte* gibt, die sich nicht —min­ destens auch —sekundärer Systeme bedienen“ (ebd, 77). Man kann zudem seine Zweifel haben, ob es sich bei dem sekundären System wirklich um einen inkgafiven Kode handelt (vgl. ebd., 85), ja was überhaupt als primä­ res und sekundäres System zu gelten hat

52

L e s e t h e o r i e I:

Seel, in: ebd., 121). Philosophie wird zu einer „Art von Textproduktion“ (Nagl, ebd., 18) unter anderen.31 Dabei sind die Formen des Schreibens nicht einfach Weisen der Mitteilung eines schon Gedachten, sondern fungieren zugleich als „gedankliche Generatoren“ (Seel, in Nagl: Textualität, 115). In mehrstimmigen Texten ist der Leser zur Aktivität in ganz besonderer Weisè angehal­ ten, die normale Rezeption stolpert hier. Texte (und Leser) unterscheiden sich darin, inwieweit sie automatisierte Lese- und Verständnisstrategien stocken lassen, womit auf Synthese- und Erwartungsmuster hingewiesen wird, die sich im routinierten Lesen ein­ geschliffen haben (vgl Gross: Materialität, 30; Pleger-Spies: Erzähler, 80). Eben hier zeigt sich der epistemologische Wert von philosophischen wie literarischen Texten, an denen sich eine Lesetheorie erproben und bilden kann: „W as b eim n o rm alen L esen Sonderfall u n d V erseh en ist, w ird beim literari­ sch en L esen A bsicht, ja sogar N o rm . W as die kognitive P sychologie a u f v o r­ b e w u ß te r E b e n e zu teste n versu ch t, fö rd ert d e r literarische T ex t selbst z u ta g e . .. W as also beim no rm alen L esen unb ew u ß t, rapide u n d d e r A ufm erksam keit d e r L e s e rin n e n v e rb o rg e n abläuft, w ird im p ro to ty p isc h e n literarischen L esen b e to n t, p ro b lem atisc h g e m a ch t u n d them atisiert: es w ird, u n d h ier ü b e r ­ sch n e id e n sich L ite ra tu rth e o rie u n d kognitive E x p erim en te, verlangsam t, b e ­ w u ß t g e m a ch t . . . " (G ross: M aterialität, 30).

Auch Eco sieht in Texten mit ästhetischen Qualitäten ein semiotisches Laboratori­ umsmodell (Eco: Theorie, 347), literarische Tropen leisten selbst eine „praktische Sprachanalyse“ (W. Hamacher, in: Man: Allegorien, 13). In ästhetischen Texten finden sich zuhauf Wortkombinationen, welche man als Semantische Anomalien* betrachten wollte. Unten wird man beispielsweise einer Aus­ sage begegnen, die Heidegger als unmöglich erachtet: Das Dreieck lacht Gleichwohl wird man sehen, was man diesem Satz alles abgewinnen kann. Eine solche Un-Aussage, wie Das Dreieck lachte würde sowohl nach allen Regeln der Logik als auch nach der ge­ nerativen Semantik von Katz & Fodor durch ein Selektionskriterium ausgeschlossen: das Prädikat lachen kann demnach nur mit Mensch kombiniert werden (vgl. Hörmann: Meinen, 180-188, Psycholinguistik, 20f.). Gegen die Konzeption eines solchen Kalküls, das sogenannte semantische Anomalien unterbinden soll, wendet Hörmann ein, auch Metaphern seien anomale Sprachgebilde. Lexeme, die scheinbar unvereinbar sind - wie schweigsamer Anstrich oder das flüssige Beil —werden aber solange analysiert, bis etwas Sinnvolles entsteht, wobei der Kontext eine große Rolle spielt (Hörmann: Psycholinguistik, 135). In jedem Fall bieten sich 'semantische Anomalien* - wie auch andere Abweichung von der Sprachnorm - als Gegenstand für eine psycholinguistische Analyse an.32

Detlef Thiel hat beispielsweise „Prolegomena zu einer Theorie der literarischen Formen der Philosophie“ (Thiel: Genese, 2) vorgelegt. 32 Nach verschiedenen Untersuchung von R. Harris (1976), A Ortony et al (1978) & S. Kemper (1981) ist „für das Verstehen von Äußerungen, die in einem ’übertragenen Sinne' gemeint sind“ (Herrmann: Sprachpsy-

ExposmoN v e rsc h ie d e n e r A n sätze

53

Durch Außerkraftsetzen alltäglicher Rezeptionsmuster macht Literatur beispiels­ weise aufmerksam auf habituelle, zu Routinen gewordene „Desambiguierungsstrategien', die Fähigkeit, beim Lesen und Verstehen von Worten und Sätzen Eindeutigkeit herzustellen. Literarische Texte machen die Mehrdeutigkeit zum Programm“ (Gross: Materialität, 2), welche den Leser und Interpreten in ein Gespräch mit dem Text ein­ bindet, ihn zu Entscheidungen bewegt oder mehrere Wege des Bedeutens parallel be­ schreiten läßt.33 Für Heidegger ist „Mehrdeutigkeit ... das Element, worin das Denken sich bewegen muß“ (Heidegger Denken, 68). Die mehrfache Auslegbarkeit, die Überdeterminiertheit ist einer der Gründe, weswegen es „kein allgemeines, mechanisch anlegbares Schema für die Interpretation von Schriften der Denker, nicht einmal für ein und dieselbe Schrift eines Denkers“ (ebd.) gibt, weil sich der Text in immer neuen „Hinsichten, Tragweiten und Fraglichkeiten“ (ebd.) erschließt. Neben ihrer Polyvalenz haben Heideggers Texte diverse ästhetische, die Normal­ sprache deformierende Qualitäten. Gerade für seine Spätphilosophie gilt ein Kriterium, das Jakobson auch für die Poetizität benennt: „Die poetische Funktion projiziert das Prin­ zip der Äquivalenz^ von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (Jakobson: Poetik, 94.) Belege für das Aneinanderreihen ähnlicher Silben, ähnlicher semantischer Einheiten lassen sich zuhauf in Heideggers Texten Enden, der überdies viele Zusam­ menhänge über die Etymologie stiftet Amo Schmidts Schreiben könnte man als ästhetisch-parodistische Überzeichnung man­ cher Textstrategien Heideggers ansehen. Die Parallelität hat auch dann ihr Recht, wenn etwa die Bildung von Neologismen bei Heidegger philosophisch und nicht ästhetisch motiviert ist Schmidt arbeitet mit orthographischen Abweichungen, stiftet über phone­ tisches Material Assoziationen. Mit seinem ,,multilinguale[n] Sprachbewußtsein“ (Nicolaus: Vermitdung, 165) bringt Schmidt ein Wort in mehreren Nationalsprachen und Idiomen zum Sprechen. Dabei sind die Etyms aber selten sprachhistorisch fun­ diert (vgl Nicolaus: Vermittlung, 165). Die Etyms bei Schmidt können wie Überzeichnungen von Heideggers „Kunst der Pseudoetymologie“ (P. Strasser, in: Nagl: Textualität, 62) wirken, die nicht jeder ernst nim m t Strasser findet etwa, daß durch sie „der ganze philosophische Diskurs ein ironi­ sches Gepräge annimmt Denn stets ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint wird“ (ebd., 63). Wenn man dem zustimmt, so hätte Heideggers Philosophie, seine wiederholende Destruktion der klassischen Metaphysik, bereits ironische, vielleicht so-*1

chologie, 127f.), etwa Sprichwörter und Metaphern, nicht mehr Zeit erforderlich als fur Svörtlich’ zu ver­ stehende Vergleichsäußerungen - zumindest wenn der bisherige Kontext übertragene Wendungen erwarten läßt 11

Zur Desambiguierung vgl. auch Herrmann; Sprachpsychologie, 38f.. Begriffe wie Mehrdeutigkeit, P o ­ lyvalenz oder Polysemie ersetzt Derrida wegen ihrer klassisch hermeneutischen Herkunft durch den der Dissemination des Zeichens (vgl. Thiel Genese, 223).

54

L e s e th e o rie I:

Die sprachgeschichtliche ’Richtigkeit* der etymologischen Arbeit stellt auch Eco bei Heidegger in Abrede: „So gestatten es sich renommierte Philosophen wie Heidegger, philosophische Argumente auf Etymologien aufzubauen, bei dem [sic.) einem Sprachgeschichder die Haare zu Berge stünden“ (Eco: Zeichen, 20). Eco kritisiert, Heideggers Etymologie lasse „Wörter etwas aussprechen, was diese überhaupt nicht sagen kön­ nen“ (Eco: Lector, 224f.) —jedenfalls der gängigen Enzyklopädie nach. Eco setzt ein enzyklopädisches semantisches Modell gegen ein bloß lexikalisches, da letzteres allenfalls die Bedeutung eines Satzes, nicht aber die größerer textueller Ein­ heiten erklären könne (vgl. Eco: Lector, 15-17). Bei diesen sei ein Zugriff auf enzyklo­ pädisch vernetztes Wissen erforderlich (ebd., 148f.), in dem alle relevanten Merkmale des Begriffs verzeichnet sind (ebd., 41). Um die nicht explizit formulierten Zusammen­ hänge zwischen Begriffen herstellen zu können, muß man auf ein kulturelles Gitter zu­ rückgreifen können (Greimas: Isotopie, 137). Selbst auf Satzebene dürfte ein Rekurs auf komplexes Weltwissen erforderlich sein. Für die beteiligten „Superstrukturen sind u. a. die Termini ’Schemata*, 'Skripts*, ’Szenarios’, 'Rahmen'“ (Gross: Materialität, 21; vgl. Herrmann: Sprachpsychologie, 56ff., 141) in Umlauf. Eco kritisiert an Heidegger, er verlasse in seiner Philosophie und seinen Ausle­ gungen von Texten Dritter die gültige Enzyklopädie. Wer muß man aber Eco daran erinnern, daß er selbst verschiedene koexistierende Enzyklopädien (die des Spezialisten, des Laien, des Protestanten ...) unterscheidet. Heidegger kann sowohl bei den Liefe­ ranten der Prätexte, die er interpretiert, indem er beispielsweise die Begriffe in ihrer Ge­ schichtlichkeit zum Reden bringt, als auch bei dem Leser, der ihm vorschwebt, eine erweiterte enzyklopädische und etymologische Kompetenz erwarten, wenn er wortge­ schichtliche Zusammenhänge zu Wegmarken des eigenen Denkens nimmt, wie etwa in seinem Vortrag DAS DING. Auch wenn Heidegger die Sprache als „große instinktive Metapher ..., die in einer tiefen Verwandtschaftsbeziehung zum innersten Wesen der Dinge steht“ (Eco: Zeichen, 114) verstehen sollte, so würde ihm daraus per se noch kein Vorwurf erwachsen. Für Heidegger wäre Ecos Orientierung an der Sprecher- und Hörerkompetenz ver­ fehlt, gesetzt, die Sprache spricht und hat ein Wissen, das über das momentan verfügbare der Sprecher, über ihre Enzyklopädie, hinausgeht Heideggers Etymologie hilft dem Ge­ dächtnis der Sprache auf die Sprünge, über etymologische Verbindungen erstellt er bei­ spielsweise einen diskussionswürdigen Subtext der Metaphysikgeschichte, auch wenn dieser in seiner Suggestivität und aufgrund des Dirigismus des Seinsgeschicks (Heidegger) problematische Züge hat, wie man sehen wird. Amo Schmidts Etyms wie etymologische Querverweise überschreiten gleichermaßen die üblichen Einteilungen der Enzyklopädie, brechen usuelle Isotopien. Die Bedeutung eines Worts stellt sich nicht nur als Funktion solcher Isotopien und des enzyklopädischen Zugriffs ein, sondern wird bis in ihre Nuancen und Färbun­ gen über den Kontext bestimmt Mit Hjelmslev kann man von der Denotation eines Begriffs als primäres, die Konnotation als sekundäres Bedeutungssystem unterscheiden (vgl Pleger-Spies: Erzähler, 74). So kann man einen Bierkrug beben zur Geselligkeit. Diese Verwendung von einem

E xposition verschiedener Ansätze

55

Ding wie dem Krug sticht ab von der Bewandtnis eines Opferkrugs, der den Göttern zur Weihe dargebracht wird. Heidegger hat in seinem Vortrag DAS DING solche ver­ schiedenen Konnotationen von Trinken als Trunk und Trank phonetisch differenziert (s. u. S.415). Der Krug läßt sich über seine verschiedenen Konnotationen polarisieren als würdeloser Suff und weihevolle Spende, was die Bedeutung der kontextueilen Se­ lektion für die Dekodierung zeigt (vgl. Eco: Lector, 20- 22). Über den Kon-Text wählt man aus der umfangreichen Enzyklopädie die relevanten Merkmale aus. Ein Begriff bedeutet „die möglichen Texte,... in die man ihn einsetzen wird oder e r ­ setzen könnte“ (ebd., 57). Zu interpretativen Zwecken kann es deshalb —wie bereits erwähnt —angezeigt sein, Textelemente Heideggers probeweise in mehrere Kontexte einzusetzen, wobei sich auf einer sekundären Textebene Zusammenhänge herstellen können, die einen Subtext ergeben. Ein solcher Subtext als interprétatives Resultat ist selbst Teil selektiver Prozesse im Lesezirkel· Prinzipiell gibt es viele Kon-Texte: Für die Dekonstruktion gilt, daß „Bedeutung zwar durchweg kontextbezogen ist — abhängig von internen oder externen Relationen der Texte - , der Kontext selbst aber unbegrenzt“ (J. Culler, in Eco: Zwischen, 132). Eco betont eben wegen dieser Unendlichkeit die Notwendigkeit der Beschränkung: „die unbegrenzte Semiose beschränkt sich selbst, um überleben zu können, um funkti­ onsfähig zu werden“ (Eco: Lector, 57). Dekonstruktive Lektüre bedeutet jedenfalls, mit mehr als einem Kontext zu arbeiten, mit mehreren Kodes gleichzeitig zu operieren. Die Kontexttheorie der Bedeutung wirft ein kritisches Licht auf vereinfachende infor­ mationstheoretische Annahmen. Kritik am informationstheoretischen Sprachmodell Die Spezifizierung der Bedeutung durch den Kontext kann man in informationstheore­ tischer Sprache dadurch ausdrücken, daß sich ein Zeichenmittel nach verschiedenen Kodes lesen läßt Jakobson zufolge ist der Interpretant der „Schlüssel, den der Empfänger bei der Decodierung der Nachricht für das Verständnis verwendet“ (Jakobson: Semiotik, 117). Von Peirce1 Drittheit des Zeichens her soll kurz das informationstheoretische Modell von Sprache betrachtet werden. Der Kommunikationsakt wird üblicherweise wie folgt aufgegliedert Ausgangs­ punkt ist eine Quelle (z. B. ein Erdbeben); von einem Sender (z. B. einem Zeitungs­ korrespondenten) wird über einen Kanal (z. B. via Fernschreiber) eine Botschaft (Nachricht) an den Empfinger(z. B. einen Redakteur) gesendet (Eco: Zeichen, 25).34

^ Dabei seien, so Eco, im Falle der Literatur „Quelle und Sender praktisch identisch“ (Eco: Zeichen, 25) eine durchaus problematische Annahme. Heidegger würde als seine ureigenste Quelle wohl das Sein bezeich­ nen, in dessen Geschick er sich sieht. Heidegger ist übrigens entschiedener Gegener einer kybernetischen Be­ trachtung der Sprache.

56

L e se th e o rie I:

Kritische Betrachtung verdient hier das Verhältnis zwischen der Enkodierung der Botschaft durch den Sender und der Dekodierung des Zeichenmediums durch den Empfänger. Als Voraussetzung gelingender Kommunikation wird oft von der problematischen Annahme einer Identität des Kodes bei Sender und Empfänger ausgegangen, der die Zuordnung von Signifikat und Sign ifik a n t regelt: Jakobson ist vorsichtig genug, einschränkend zu fordern, daß der Kode „ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger ... gemeinsam ist“ (Jakobson: Poetik, 88). Der Mangel an einer solchen Gemeinsamkeit muß die K o m m u n ik a tio n aber kei­ neswegs unmöglich machen, ein solcher Fehl kann vielmehr etwas ungemein Verbin­ dendes sein. Eco spricht wegen der Möglichkeit einer Divergenz der Kodes davon, der Text habe den Charakter einer Flaschenpost (Eco: Lector, 65), Derrida in seiner P O S T K A R T E vom Zeichen als Sendung. Geschick im Sinne von Derridas destinerrance heißt auch, daß sich der Kontext, der das Zeichen empfängt, nicht kalkulieren und kon­ trollieren läßt (vgl. M. Wetzel, in: Nagl: Textualität, 208). Für Texte, die in philosophischer Absicht generiert wurden, gilt gleichermaßen, was Lotman für die Kunst sagt: daß Sender und Empfänger unterschiedliche Kodes ver­ wenden. Eben darin liegt die Fülle der Möglichkeiten der Interpretation eines Textes: unter Einsatz anderer Kodes wird die Mitteilung „deformiert, kreolisiert oder in beliebi­ ger anderer Weise umstrukturiert“ (Lotman: Struktur, 46) und umkodiert. Gibt es aber keine prästabilisierte Harmonie von Sender und Empfänger, dann werden nicht nur Begriffe wie Botschaft und Information55*57, sondern auch ihre Zurückfuhrung auf den Sender oder den Empfänger problematisch: „Der Infonnationswert von Sprache und Mitteilung eines und desselben Tex­ tes verändert sich also in Abhängigkeit von der Struktur des Kodes des Lesers (Betrachters), je nach dessen Forderungen und Erwartungen.“ (Lotman: Struktur, 37.) Eine Passung der Kodes kann nie von vornherein vorausgesetzt werden. Jede Art von Text kann durch die Aufmachung, den Namen des Verlags, den Titel, den Preis etc. signalisieren, auf welche Art von Kode er beim Leser rechnet Insbesondere philosophische Texte sind solche, die erst allmählich im Laufe der Mitteilung ’ihren' Kode konstituieren, der von dem der Alltagssprache unterschieden ist (vgl. Aust: Überlegungen, 2; Eco: Theorie, 215). Über die Vermitdung seines Kodes versucht der Verfasser zu regulieren, wie er verstanden werden will.

55 Zu den Kritikern des informations theoretischen Modells der Sprache ist auch Hörmann zu zählen (Hörmann; Meinen, 500). Auch Theo Herrmann vermeidet es, von Dekodierung zu sprechen; „Dieser Ausdruck suggeriert allzu sehr, daß generierte Konzepte das Ergebnis einer Entschlüsselung von imaginai repräsentierten Wortmarken oder gar von perzipierten Laut- oder Buchstabenfolgen sind. Sprachinputs oder auch Wortmar­ ken enthalten per se gar nichts, was ihnen als invariante 'Bedeutung' per Dekodierung entnommen werden könnte;“ (Herrmann; Sprachpsychologie, 143).

E xposition verschiedener Ansätze

57

„ W ä h ren d d e r E m p fä n g er eine künstlerische [oder p h ilosophische] M itte ilu n g a u fn im m t, aus d e ren T e x t d er K o d e zu ih rer E n tz iffe ru n g n o c h g e w o n n e n w e rd en m u ß , k o n stru iert er ein bestim m tes M odell. D a b ei k ö n n e n S ystem e e n ts te h e n , die zufällig E le m en te des T ex tes so organisieren, d a ß ih n en e in e v o m A u to r n ich t beabsichtigte B ed eu tsam k eit z u k o m m t.“ (L otm an: S tru k tu r, 46.)

Die Autorintention kann aber kaum das letzte Wort sein, kann es sich bei der Reorga­ nisation durch den Rezipienten ja dennoch um eine Bedeutsamkeit des Textes han­ deln.36 Von einer ^fälligen Organisation kann dann nicht mehr die Rede sein, wenn das vom Rezipienten konfigurierte System eine Vielzahl von Textelementen schlüssig miteinander verbindet. Der Leser ist das Medium, in dem sich der Text neu konfigurie­ ren kann, so daß sich dieser selbst liest: „ D ie L ektüre ist nich t 'unsere' L ektüre, sofern sie ausschließlich solche s p ra c h ­ lichen E le m en te h eranzieht, die d e r T ex t selber d a rb ie te t; die U n te rs c h e id u n g zw ischen A u to r u n d L eser ist eine jener falschen U n te rsc h e id u n g e n , die d ie L ektüre ausleuchtet. D ie D e k o n stru k tio n ist n ich ts, was w ir dem T e x t h in z u gefugt h ätten , so n d e rn sie ist es, die den T ex t allererst k o n stitu ie rt h a t.“ (M an: A llegorien, 48.)

Wenn eine ausgesandte Botschaft vom Empfänger scheinbar 'verquer' aufgenommen wird, so handelt es sich um „'Abweichungen' aber nur hinsichtlich der Absichten des Senders [. Es] ... läßt sich bezweifeln, ob, vom Standpunkt des Textes selbst aus ..., diese 'Abweichung' negativ bewertet werden sollte.“ (Eco: Theorie, 200.) Handele es sich nun um ein produktives Mißverständnis des Lesers, um eine dekonstruktive Lektüre oder um eine andere Art der Transformation des Textes: es bringen „neue Kodes des Leserbewußtseins ... im Text auch neue semantische Schich­ ten zum Vorschein“ (Lotman: Struktur, 108). Entgegen der informationstheoretischen Vorstellung eines linearen Wegs, den die Nachricht unbeschadet vom Sender zum Empfänger nehmen soll, wird in Anschluß an Wolfgang Iser von einer Interaktion auszugehen sein: der Leser empfängt den Sinn der­ gestalt, daß er ihn schafft (vgl. Iser. Akt, 39). Für Iser ist dabei der Text so etwas wie ein Platzanweiser für den Leser.

36 Hörmann schlägt vor, ein Sprecher sei dann verstanden worden, wenn der Empfänger durch eine Para­ phrase, eine Handlung oder eine andere Form der Antwort darauf reagiert, und der Sprecher daraufhin zu ver­ stehen gibt: „'ja, so habe ich es gemeint*“ (Hörmann: Psycholinguistik, 140; vgl. Meinen, 206). Hörmann muß aber selbst eingestehen, daß der Sprecher nicht unbedingt immer weiß, „w it er etwas meint“ (Hörmann: Psy­ cholinguistik, 140; vgl. Meinen, 319) und fragt sich deshalb: „kann dann das Verstehen präziser sein als das Meinen?“ (Hörmann: Psycholinguistik, 140). Es dürfte sich weniger um einen graduellen Unterschied an Prä­ zision des Verständnisses handeln, denn um verschiedene Ebenen der Aussage und des Aussagens.

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L e s e t h e o r i e I:

5. Vom L esen als Akt zu r Interaktion Der Interpretant von Peirce ist die Weise, wie der Leser im Text ist, wobei er die Seinsweise eines Zeichens annimmt. Die produktive Übersetzung des Zeichenmedi­ ums in immer neue Interpretanten steht Konzeptualisierungen des Lesens gegenüber, die im Lesen primär eine „Sinnentnahme" (Gibson: Lesen, 9) sehen wollen, wobei der Leser „Informationen aus Texten entnehme!]“ (ebd., 17). Schon der Sprachpsychologe H. Hörmann aber betont, im Verstehen werde n ic h t n u r In fo rm a tio n a u fg en o m m e n o d e r deco d iert, so n d e rn In fo rm a ­ tio n geschaffen, . .. [Es] k o n stru iert d e r H ö re r a u f d e r Basis d e r Ä u ß e ru n g u n d seines W eltw issens etw as U m fassendes, was se h r häufig ü b e r 'das G e sa g te' h in au sg eh t." (H ö rm an n : Psycholinguistik, 138f., vgl. M einen, 470.)

Für Hörmann ist Verstehen ein „schöpferischer, konstruktiver Akt" (Hörmann: Psy­ cholinguistik, 139). Dieser „eher konstruktive als analytische Charakter des Verstehens" (Hörmann: Meinen, 477) werde insbesondere beim Lesen eines Textes deutlich; Hörmann führt zur Stützung dieser These eine Fülle empirischer Untersuchungen an. Wenn man das Lesen demnach als einen produktiven Akt verstehen muß, so ist eine plane Gegenüberstellung von schöpferischem Schreiben und bloßer Rezeption nicht haltbar (vgl. Pleger-Spies: Erzähler, 6; Cullen Dekonstruktion, 40; Rosebrock: Lektüre, 10, 64; Gadamen Wahrheit, 301). Der Leser ist zumindest Ko-Autor, ist schreibend (vgl Thiel: Genese, 39). Der Autor wiederum ist einmal als Leser und Weiterverarbeiter fremder Texte im Schnittfeld der unten näher zu betrachtenden Intertextualität. Des weiteren ist der Au­ tor „also a reader o f his own text" (Suleiman: Reader, 20; vgL Lotman: Struktur, 51; Iser: Akt, 53). Der Verfasser liest das Geschriebene sowohl während des Entstehens als auch in späteren Relektüren. Solche Reinterpretationen hat Heidegger für SEIN UND ZEIT geliefert. Für die Seite der Rezeption hat bereits Jean Paul Sartre festgehalten: „Lesen ist gelenktes Schaffen" (Sartre, zit. n. Grimm: Literatur, 26) - und dies um so mehr, als die „Übergänge zwischen Rezeption und Interpretation ... fließend" (Pietzcker Deu­ tung, 12) sind, so daß Lesen immer schon das (mit-/)schreibt, was gelesen wird und das deutet, was es ’bloß' zu rezipieren scheint. THE READER IN THE TEXT lautet der programmatische Titel eines Sammelbandes (hrsg. V. S. Suleiman & I. Crosman), DER IMPLIZITE LESER heißt es bei Wolfgang Iser, LECTOR IN FABULA bei Eco. Bei allen Differenzen im Detail· bei allen steht der Leser dem Text nicht wie einem Objekt gegenüber, sind wir doch „in das verstrickt, was wir hervorbringen" (Iser: Akt, 214; vgl. Rosebrock: Lektüre, 11; Silverman: Her­ meneutik, 51). Dialektisch damit verbunden werden wir als Leser im Zuge der Sinn­ konstituierung „selbst in einer bestimmten Weise konstituiert" (Iser: Akt, 244; vgl. 246). Damit wäre die Konstitution - ein Begriff aus der husserlschen Phänomenologie, den man vielleicht wegen des mit ihm verbundenen Subjektivismus meiden sollte —je­ denfalls keine Leistung eines egologisch verstandenen Lesers mehr.

E xposition verschiedener Ansätze

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„Hebt das Lesen die für die Wahrnehmung und für die Erkenntnis konstitutive Subjekt-Objekt-Spaltung auf,57 so erfolgt dadurch zugleich eine Besetzung' des Lesers durch die Gedanken des Autors“ (Iser: Akt, 251). Die Besetting ist aber eine wech­ selweise, der Leser besetzt seinerseits offene Textpositionen mit Interpretanten; man vergesse auch nicht die libidinose Besetzung des Autors durch den Leser et vice versa. Hiervon wird in Lesetheorie ΠΙ ebenso die Rede sein wie vom Lesen als Modus der Einverleibung (Lesetheorie IV): the text in the reader, hier hat das Lesen jenseits der Be­ setzung des Gelesenen bzw. durch das Gelesene zudem identifikatorische Folgen. Der Leser wird durch die Assimilation des Textes psychisch alter-iert, wobei er aber das mitproduziert, was ihn verändert haben wird. Ohne solche schöpferischen Anteile kommt selbst das bloße Nachvollziehen eines Textes, das Nachschaffen in Kooperation (Pleger-Spies: Erzähler, 7) mit dem Text nicht aus. flier ist der „Text ... ein Kon-Text, der immer schon geschrieben war und den­ noch von jedem Leser neu geschrieben werden muß“ (Pleger-Spies: Erzähler, 133). Das interpretative Lesen wird dem Text ferner latente Kontexte zuschreiben, es wird mit multiplen Kodes arbeiten und mit LUST AM TEXT (Barthes) durch die (post)strukturalistische Tätigkeit den Text neu schreiben. Im Poststrukturalismus von Barthes, der Dekonstrukdon Derridas oder der aktiven Sinnkonstitution Isers eigeben sich verschiedene Weisen der Interaktion von Text- und Lesestrategien. Mit der kooperativen Art des Zusammenspiels dieser Strategien beschäftigt sich die lite­ raturwissenschaftliche Wirkungstheorie, bzw. Rezeptionsästhetik. Sabine Gross erscheint es vielversprechend, sie mit Ansätzen der kognitiven Psy­ chologie zu verbinden (vgL Gross: Materialität, 2, 24), auch wenn sie einschränkend bemerkt, daß die bisher üblichen experimentellen Forschungsmethoden ihre Schwierig­ keiten haben, die Aktivitäten des Lesers über ihre Designs zu erfassen. Die produktive Seite wurde zwar bereits in der PSYCHOLOGIE DES LESENS bemerkt, ist aber empirisch-psychologisch wenig beforscht (Gibson: Lesen, 235). Als Beispiel für die Unvollständigkeit von Texten und die dazu komplementär erforderten Leistungen des Lesers fuhren Gibson & Levin den Satz an: Oer Butler tat es (ebd., 229f.). Die darin enthaltene syntaktische und semantische Information reicht nicht hin, um zu erklären, wie man den Satz versteht, welchen Kontext man erschließt. „Viele der neuesten Arbeiten über das Verstehen von Sätzen und Satzsequen­ zen betonen die Rolle des erschlossenen Wissens ... Was erschlossen wird, ist semantische oder syntaktische Information, die nicht direkt gegeben ist“ (Gibson: Lesen, 230.)

1*7



Aufgrund der Konstitution des Textes im kreativen Raum des Lesers spricht Pietzcker von der Bildung ei­

nes Übcrgsngsobjtkis zwischen Innen und Außen im Sinne von Winnicott (Pietzcker. Deutung, 23). Iser situiert das Werk am virtuellen Ort ^wischen Text und Leser (Iser, im Suleiman: Reader, 106). Der Objektcharakter eines Bu­ ches verliert sich zudem unter der hypnoseähnlichen Wirkung des Lesens, die ein übriges zur mild narkotischen

Wirkung (Freud: GW. XIV, 439) ästhetischer Erfahrung und von Lektüre aller Art tu t

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L e s e th e o rie

I:

Über das nicht direkt Gegebene muß kombinatorisches Denken und die Enzyklopädie des Lesers im Sinne Ecos Aufschluß geben. Lesen ist ein kommunikativer Prozeß des Aufsteilens von Präsuppositionen (vgl Hörmann: Meinen, 200, 239) und der Hypothe­ senprüfung am weiteren Textverlauf, eine „Sinnproduktion, in dem ständig Entschei­ dungen getroffen und Vermutungen aufgestellt werden" (Gross: Materialität, 15) müssen. Auch wenn sich der Leser nicht beim Verfasser face-to-face mittels Rückfragen versichern kann, „inwieweit die erzeugte Kontingenz kontrolliert" (Iser. Akt, 262) ist, genügt es vollkommen, die Erwartung am weiteren Gang der Dinge zu prüfen. Unbe­ kümmert um die Autorität, die man dem Autor oft beimißt, kann sich der Leser auf den Weg des Textes und seiner Pfade begeben. Hypothesen werden insbesondere an den Unbestimmtheitsstellen (Ingarden) und Leerstellen (Iser) eines Textes aufgestellt. Unter Verwertung aller möglichen Anhalts­ punkte im Text werden in einer Art logischer Abduktion (Peirce) Interpretanten auf Verdacht hin gesetzt. Leerstelle und impliziter Leser (Iser) Roman Ingarden hat für DAS LITERARISCHE KUNSTWERK den Anteil an Unbe­ stimmtheit deutlich gemacht und damit gezeigt, daß dadurch ein aktives Lesen (Grimm: Literatur, 56) gefordert ist. Während Ingarden aber der Gedanke einer adäquaten Konkretisation der Unbe­ stimmtheit, einer wahren Realisation vorschwebt und er dem Werk Substantialität zu unterstellen scheint, geht es Iser mit seinem Begriff der Leerstelle ,picht um die Legiti­ mität richtigen oder falschen Lesens, sondern um die Verdeutlichung der Interaktion von Text und Leser" (Iser: Akt, 324, vgl. 269; vgl. Groeben: Literaturpsychologie, 141). In der Fragestellung der Rezeptions- und Wirkungsästhetik laufen einige Fäden unter­ schiedlicher theoretischer Schulen zusammen, die kurz erwähnt sein sollen. Zum einen sind Impulse seitens der Hermeneutik Gadamers zu nennen, der mit Heidegger die Ge­ schichtlichkeit des Verstehens aufweist und die Seite der Rezeption betont (vgl. de Man, in: Hirsch: Übersetzung, 185). Trotz ihrer hermeneutischen und phänomenologi­ schen Orientierung hat sich die Rezeptionsästhetik als durchaus vereinbar mit strukturalistischen Ansätzen gezeigt Civikov macht auf Koinzidenzen zu den russischen Formalisten und dem Prager Kreis aufmerksam, in dem bereits die Frage diskutiert wurde, wie der Text die Rezeption des Lesers steuert. D er Prager Kreis reduziert dabei die Aktivität des Lesers nicht auf ein bloßes Nachschaffen, wie Roman Ingarden (vgL Grimm: Literatur, 57); ähnlich Isers transzendentalem Ansatz (Iser. Akt, 66), wird der Text von den Pragern als Anlaß zur Bedeutungskonstituierung betrachtet (Gvikov. Lyrik, 60). Die aktive Rolle des Lesers dokumentiert sich in der Konzeption des ästhe­ tischen Subjekts als ein doppelköpfiges von Autorund Leser (Civikov: Lyrik, 44). Jan Mukarovsky unterscheidet das Artefakt — das materielle Zeichenmedium sensu Peirce - vom ästhetischen Objekt (Civikov: Lyrik, 66). Dieses Objekt ist defi-

E xposition verschiedener Ansätze

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niert als „das vom Leser zu konstituierende Korrelat des ästhetischen Zeichens, das seinen O rt im Bewußtsein des Lesers“ (Civikov: Lyrik, 56; Grimm: Literatur, 56) hat, was dem Interpretantenbezug bei Peirce im Unterschied zum Zeichenmittel entspricht (Civikov: Lyrik, 59, Anm. 48). Mit dem Interpretantenkonzept hat Isers Gedanke einer sich an der Leerstelle er­ eignenden Bedeutung den dynamischen Charakter gemein. Wie Iser kann man auch mit Peirce die quasi transzendentalen „Bedingungen der Sinnkonstitution“ (Iser: Akt, 36; vgl. Pleger-Spies: Erzähler, 32) thematisieren, wobei Iser auf eine Analyse der Partizipation des Lesers am Text zielt. Dem Anspruch einer Dekodierung des Textes, einer richtigen Entschlüsselung setzt Iser ein Programm entgegen, das an die unendliche Semiose erinnert die Entfal­ tung von Sinnpotentialen des Textes (Iser). Sie gestaltet sich in Abhängigkeit vom Leser und je nach Grad der Unbestimmtheit und Häufung von Leerstellen im Text je anders. Es sind verschiedene Formen von Aussparungen, Enklaven^ ja Lücken und Pausen im Text möglich: es kann sich um abrupte Szenenwechsel handeln, um fehlende Zu­ sammenhänge, die im Verlauf des Textes herzustellen sind, um eine nur schemenhaft oder gar nicht charakterisierte Gestalt Ingarden fuhrt als Beispiel für eine Unbestimmt­ heit das Textelement alter Mann an, dessen Haarfarbe offen bleibt und vom Leser grau ausgemalt wird - oder mit Geheimratsecken, oder was auch immer Übertragung oder Identifikation hergeben mögen (vgl. Pietzcker Deutung, 18). Leerstellen in der Form einer Unterbrechung des Textes haben etwa der Fort­ setzungsroman im Wochenmagazin und die Vorlesungen Heideggers gemein. Auch sie lassen den Rezipienten eine Woche auf seinen Erwartungen über den Fortgang sitzen. Im Hörer der Vorlesung kann sich der Stoff einige Tage seinen und vielleicht neu for­ mieren. Am Beginn der folgenden Vorlesungsstunde wird der Hörer dann in Form von S tundenWiederholungen mit Heideggers Reicktüre der zurückliegenden Vorlesungsstunde konfrontiert. Auch wenn Iser bemerkt, daß die Anschließbarkeit insbesondere im Falle argumentati­ ver oder didaktischer Literatur streng geregelt und der Leerstellenbetrag demzufolge re­ duziert sei (Iser: Akt, 284, 294), läßt sich daraus nicht folgern, Leerstellen seien in Heideggers Texten zu vernachlässigen. Einmal sind seine Texte und Vorlesungen nicht gerade mustergültig für das, was man üblicherweise an didaktischer Bekömmlichkeit und argumentativer Schlüssigkeit erwartet. Des weiteren kann man den zentralen Term heideggerschen Denkens schlechthin als eine. Leerstelle betrachten, die gleichwohl ein Füllhorn an Bedeutung ist: „Das Sein ist das Leerste und zugleich der Überfluß. Das Sein ist das Allem Gemeinste und zugleich die Einzigkeif1 (Heidegger Grundbegriffe, 54). Auch der strukturalistischen Betrachtung erscheint das Sein als Pro-Nomen. Die Infinitivform sein ist „Merkmal der Universalität. Das Wort ’sein' in seiner semanti­ schen Allgemeinheit und Verallgemeinerung wird fast zu einem Für-wort: es ersetzt alle Verben der Existenz und der Tätigkeit“ (Lotman: Struktur, 255f.) Das Sein ist eine immer neu zu besetzende Leerstelle.

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L e s e t h e o r ie

I:

Der verschwiegene Charakter (Eco: Lector, 30; vgl. Isen Akt, 265), den der Text dank seiner Unbestimmtheit und seiner Leerstellen hat, wird beim späten Heidegger zu jenem Programm, das er Sigetik, Kunst der Erschweigung, nennt. Häufung und Anteil verschiedener Leerstellentypen variieren natürlich textsortenund epochenspezifisch stark. Ganz ohne Leerstellen kommt jedoch kein Text aus, ja man könnte sagen, daß „jede sprachliche Formulierung hinsichtlich ihrer Semantik eine Leerstelle“ (Aust: Überlegungen, 103) ist, um die verschiedene Interpretanten kon­ kurrieren. Eco spricht hier von einem Mehrwert an Sinn, den der Leser aufzubnngen habe (Eco: Lector, 63). Die für das Lesen sonst oft behauptete asymmetrische Kommunikationssituation, die das Lesen von einem Gespräch unterscheiden soll, stellt sich anders dar, wenn man den Fokus auf die Leerstellen richtet (vgl. Isen Akt, 163, 348-352). Gerade die Leer­ stellen verwickeln Iser zufolge Text und Leser in eine Interaktion. In Anlehnung an Heidegger könnte man sagen, es sei gerade der Fehl des Gemeinsamen, was das Mitsein (Heidegger) von Text(autor) und Leser ausmacht, in Ermangelung eines gemeinsamen Kodes gibt es erst ein Gespräch. Gemeinsames wird für Iser gestiftet zwischen dem Expliziten und Impliziten des Textes (vgl. W. Iser, in: Suleiman: Reader, 111), in der Lücke zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Die Leerstelle als das Nicht-Gesagte ist für Iser Bedingung dafür, „daß der Empfänger das Gemeinte zu produzieren vermag“ (Iser: Akt, 97; vgl. 79; vgl. Eco: Lector, 29, 63). „D as L esen als eine v o m T e x t gelenkte A ktivität k o p p e lt d e n V erarb e itu n g s­ p ro z e ß des T ex tes als W irkung a u f d e n L eser zurück. D ieses w echselseitige E inw irken a u fe in a n d e r soll als In tera k tio n b e ze ic h n e t w erden.“ (Iser: A kt,

257.) Die Interaktion verläuft dabei zwischen dem Textpol und dem Lesepol, wobei Iser aber den Schwerpunkt auf die Produktivität des Lesers legt, insofern sie eine vom Text gesteuerte ist, dabei aber die diversen Nebengleise des Textes vernachlässigt. Auch Ecos Arbeiten zur interpretativen Mitarbeit bewegen sich in einer Dialektik von Stimula­ tion von Aktivitäten des Rezipienten und ihrer Lenkung und Regulation durch Textstrategien (Eco: Lector, 5). Eco erlegt seinem kooperativen Modell-Leser als demje­ nigen, den der „Text postuliert“ (Eco: Lector, 228), ähnliche Beschränkungen auf, wie Iser seinem impliziten Leser. D er implizite Leser ist einer, der nur bestimmten Textebe­ nen, bestimmten Textstrategien inhäriert. Der Verfasser würde sich weniger als implizi­ ter Leser oder Modell-Leser von Heideggers Texten, denn als strategisch-dekonstruktiv verfahrendes Moment des Lesezirkels auffassen wollen. Bei einer iserschen Interaktion oder einer nur kooperativen Lektüre wird es der Lesezirkel nicht belassen. Allerdings ist die Fragestellung Isers auch eine andere. Iser legt Wert auf die Feststellung, er betreibe eine im Textuellen verankerte Wir­ kungstheorie, nicht aber eine auf den Leser zentrierte Rezeptionstheorie oder gar eine Lesepsychologie im engeren Sinne —auch wenn Isers Ansatz dort Beachtung gefunden

E x p o s it io n

v e r s c h ie d e n e r

A n sä tze

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hat (Groeben: Literaturpsychologie, 152f.)38 Isers Leser ist von daher nicht der empi­ risch-reale Leser, der üblicherweise als Gegenstand der Lesepsychologie und -Soziologie verstanden wird, sondern jener Leser, den er implizit nennt. Dieser Leser ist Teil der Textstrategie, es handelt sich um die Rolle, die „Gesamtheit der Vororientierungen, die ein ... Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet“ (Iser: Akt, 60). Der implizite Leser löst die durch Unbestimmtheit und Leerstellen des Textes ge­ forderte Aktivität ein. Die „in den Texten eingezeichnete Struktur des impliziten Lesers“ (ebd.) stellt ein Rezeptionsangebot für den realen Leser dar, das der nur teilweise annimmt Bei Iser kann man eine Ambivalenz ausmachen zwischen der Beschreibung der Lenkung des Lesers durch die Appellstruktur des Textes und der Entfaltung von mög­ lichen Sinnhorizonten, die potentiell eine unendliche wäre. Auch Iser betont jedenfalls, daß die Wege der Sinnkonstitution durch den Text nie „vollkommen kontrolliert wer­ den“ (Isen Akt, 45). Allerdings scheint Iser den impliziten Leser auf ein Korrelat bestimmter textueller Ebenen und vom Autor eher bewußt gehandhabter Strategien zu beschränken. Pietzcker hat ergänzend vorgeschlagen, den impliziten Leser etwa auf Übertragungs­ offerten des Textes auszuweiten (Pietzcker Deutung, 18). Der implizite Leser, der auch konzeptioneller Leser genannt wird, unterscheidet sich als Teil der Textstrategie nicht nur vom realen Leser, sondern auch vom idealen Leser den sich der Autor erhofft. So unterschiedlich der ideale Adressat von Heidegger und Nietzsche sein mag: es wäre ein Leser der Zukunft. Amo Schmidts idealer Leser wäre der esoterische Fachmann. In den Texten Schmidts wird der implizite Leser weniger in eine Richtung dirigiert, als immer wieder umgelenkt. Bei dem idealen Leser von Joyce' FINNEGANS WAKE39* handelt es sich um einen, der „mit großem Assoziationsvermögen ausgestattet ist, dessen Enzyklopä­ die fließende Grenzen hat“ (Eco: Lector, 72). Jener Rezipient von Joyce, den Eco Modell-Leser nennt, ist fähig, die multiplen „sich überlagernden Lektüren zur gleichen Zeit zu erfassen“ (Eco: Lector, 72) - eine Art M ultitasking^ Der ideale Leser stellt sich Iser als Fiktion dar. Unterstellt man dem idealen Leser einen Kode, der mit dem des Autors identisch ist, so entfällt damit, so vermutet Iser, die Möglichkeit, in eine Interaktion zu treten (vgl. Iser. Akt, 53); es würde sich wohl allenfalls ein Selbstgespräch ergeben. 4Û

JO Auch H. R. Jauß unterscheidet eine vom Text determinierte Wirkung von einer eher adressatgeschuldeten Rezeption. Um einem Psychologismus entgegenzuarbeiten wendet sich Jauß der Rekonstruktion des Emartungshori· Tpnles ânes Werkes (Jauß, zit n. Grimm: Literatur, 31) zu und analysiert die Reqptionsvorgabtn. 39 „Was passiert bei Joyce? Der Signifikant trüffclt das Signifikat Es ist aufgrund der Tatsache, daß die Si­ gnifikanten sich verschachteln, sich zusammensetzen, sich ineinandcrschieben - lesen Sie Finnegan's Wake - daß sich etwas produziert, das, als Signifikat, rätselhaft scheinen kann, aber eben das Nächste dessen ist, was wir Analytiker, dank dem analytischen Diskurs, zu lesen haben - der Lapsus. Es ist der Lapsus, daß das etwas be­ deutet; das heißt; daß das gelesen werden kann in einer Unendlichkeit verschiedener Weisen.“ (Lacan: Encore,

41) Ecos Modell-Lesers ähnelt zum einen dem impliziten Leser (vgl. Plcger-Spics: Erzähler, 85), scheint aber di­ verse Übergänge zum idealen Leser zuzulassen.

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L e s e t h e o r i e I:

Leerstellen und Unbestimmtheit des Textes rufen nicht nur den impliziten Leser auf den Plan, sondern fordern den realen Leser zu einem Gespräch auf, das sich nicht immer nur kooperativ, von Textstrategien sanft gelenkt, gestaltet Aber auch fur diesen Fall gilt, daß die Kooperation, welche der Text vom Leser abverlangt, Lesen zu einem Dialog macht (Iser: Akt, 108), Lektüre als dynamische Wechselwirkung gestaltet (ebd, 176), so daß „ A u t o r und Leser miteinander sprechen" (Aust Überlegungen, 6). Je nach Grad der Offenheit (Eco) eines Textes41 und seiner Polyvalenz hat der Leser Mitspra­ che, ist er Mitautor des Textes, in ein Gespräch mit ihm verwickelt Für den interpre­ tierenden Lese-Schreibprozeß ist die kommunikative Begehung ^wischen Text und Leser (Pleger-Spies) ebensowenig von der Hand zu weisem In der textuellen Mitarbeit, wie in der Interpretation wird auf enzyklopädische Wissensstrukturen (Eco: Lector, 148f.), auf frühere Textelemente zurückgegriffen, es werden Verknüpfungen zu anderen Texten hergestellt Der Leser hat „Leerräume aufzufullen und das, was sich im Text befindet, mit dem intertextuellen Gewebe zu ver­ knüpfen, aus dem der Text entstanden ist" (Eco: Lector, 5; vgl. 28, 96£, 260). Bevor dieser Faden der Intertextualitätstheorie im Hinblick auf die Dialogizität des Lesezirkels wiederaufgenommen wird, soll zunächst von Heideggers hermeneutischem Gespräch - und seinen semiotischen Parallelen — her die Interaktion zwischen Text und Leser perspektiviert werden. Der Interpretant und die Hermeneutik Peirce hatte wohl keine Kenntnis von der theologischen Tradition der deutschen Her­ meneutik (Daube-Schackat: Anwendung, 3)42*, die später von Heidegger, Gadamer und Ricceur in spezifischer Weise fortgefuhrt wurde. Der Gegenstandsbereich dieser Kunst­ lehre des Verstehens überschneidet sich aber nicht unwesentlich mit dem des semioti­ schen Dreiecks und der Rolle, die dabei dem Interpretanten zukommt Karl-Otto Apel, Klaus Oehler und andere haben in Peirce* Semiotik einen Beitrag zur Frage des Verste­ hens und der Theorie der Interpretation gesehen45. 41 Es erscheint schwierig Offenheit als Eigenschaft anzusehen, die dem Text zukäme. Sie ist eher eine Dimen­ sion der Interaktion von Text und Leser. Texte sind allenfalls unterschiedlich öffhungsbereit, wenn man so wilL Eco dagegen schreibt: „An einem geschlossenen Text ist überhaupt nichts offen; seine Öffnung ist allein Wirkung einer von außen kommenden Initiative, eine Art, den Text zu gebrauchen und nicht sanft und selig sich von ihm gebrauchen zu lassen. Es handelt sich dabei nicht so sehr um Mitarbeit wie um Gewalt“ (Eco: Lector, 71), um Verwendung des Textes. Die Interpretation als A k t der Gewalt ist Gegenstand methodischer Vor­ überlegungen im ersten Lesezirkel. 4^ Gegenstand der Hermeneutik war bei dem Theologen F. Schleiermacher zunächst die Bibel Schleiermacher suchte noch das richtig Verständnis eines Textes; Schleiermachers Anspruch, einen Text besser zu verstehen, als sein Autor, hat Heidegger beispielsweise Kants kritischer Philosophie gegenüber erhoben. Schon der klassisch hermeneudsche Begriff des Verstehens geht also über das Wissen und die Intendon des Autors hinaus. Neben Schleiermacher sind zu nennen sein Schüler A. Boeckh, ferner J. G. Droysen und insbesondere W. Dilthey. Diltheys Analyse der Historizität des Verstehens war für den frühen Heidegger ebenso von Wichtigkeit, wie sein Begriff des Lebens, dessen Nachfolge bei Heidegger der des Daseins antritt. 45 Vgl. auch Gvikov. Lyrik, 38; Peirce selbst verweist auf Aristoteles' Schrift PERI HERMENEIAS (DaubeSchackat: Anwendung, 4).

E x p o s it io n

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A n sä tze

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Für Peirce wie Heidegger sei gleichermaßen das Vorverständnis für das Verstehen wichtig, so Oehler. Peirce spricht von der preinous acquaintance, Heidegger von der VorStruktur des Verstehens (Daube-Schackat: Anwendung, 84). Letztere gliedert sich dreifach in die Vorbabe** - das Vorverständnis der Bewandtnisgan^heit in der wir leben - , die „ Vorsicht, die das in Vorhabe Genommene auf eine bestimmte Auslegbarkeit hin ’anschneidet'“ (Heidegger Zeit, 150) und dabei ihrerseits wesentlich bestimmt wird durch den Vorgriff,, als der Begrifflichkeit des Verstehens. Diese dreifältige Vermittlung ist unhintergehbar. „Wenn sich die ... Auslegung im Sinne der exakten Textinterpretation gern auf das beruft, was 'dasteht', so ist das, was zunächst 'dasteht', nichts anderes als die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers, die not­ wendig in jedem Auslegungsansatz liegt als das, was mit Auslegung überhaupt schon ’gesetzt*, das heißt in Vorhabe, Vorsicht, Vorgriff vorgegeben ist.“ (Heidegger Zeit, 150.) Verstehen ist ohne diese Vor-Struktur, ohne das Vorverständnis nicht möglich. Gadamer thematisiert zwar in WAHRHEIT UND METHODE diese Vorurteilsstruktur im Verstehen (vgl. Gadamer Wahrheit, 270f£, 298ff.), blendet sie aber aus, wenn er gegenüber den Poststrukturalisten darauf beharrt, der Text sei eine Urkunde (Gadamer, zit n. Forget: Debatte, 39), eine Vor-schnft, die „allem neuen Sprechenlassen [in der Interpretation] des Textes bevorsteht“ (zit. n. Forget: Debatte, 17). Das dekonstruktive Ver-Stehen45 hält sich nicht an die eine Vorschrift, es spielt den Text auf mehreren Klaviaturen durch, arbeitet mit mehr als einer Vorhabe, übt die Vorsicht in alle Richtungen und liest mit verschiedenen Kodes als Vorgriffen. Ansatz­ weise hat das bereits Heideggers Destruktion vorgeführt (s. u. S.98), die ein spezifischer Modus des Verstehens ist. Ähnlich der umfassenden pragmatischen Reichweite semiotischer Prozesse ist das Verstehen als Grundmodus, als Seinsweise menschlichen Daseins bei Heidegger nicht auf eine Kunstlehre des Verstehens und der Auslegung beschränkt. Ebenso wie Peirce Ge­ fühle, Handlungen, Gesten, Kognitionen etc. als Zeichen auffaßt, hat Heidegger die Ver­ ständigkeit jeder Handlung und jedes Begriffs deutlich gemacht Die Gestimmtheit des Verstehens bei Heidegger erinnert an den emotionalen Interpretanten von Peirce. Schon ein Handgriff wie das Drücken einer Türklinke ist in ein Verstehen, in eine Bewandtnisgawçbeit eingelassen, auch wenn diese zumeist implizit bleibt. Damit erheben Peirce wie Heidegger einen vergleichbaren „Universalitätsanspruch“ (Daube-Schackat: Anwendung, 14) von Semiotik bzw. Hermeneutik.*4

44 Analog zu der in Vorhabe genommenen Bewandtnis spricht Oehler von einem hcrmcmuüsdxn KontoduaBsmus bei Peirce (zit Daube-Schackat: Auslegung 7). Civikov spricht in ähnlicher Weise von einer „semantisch vorstrukturierten Welt“ (Gvikov: Lyrik, 20) bei Heidegger. 4** Aus Skepsis gegenüber assimilativen Zügen des Verstehens und Ansprüchen wie Verfahrensweisen der klassischen Hermeneutik sollte man eher vom Lesen sprechen als vom Verstehen; zu beherzigen wäre dabei, „daß Lesen uns durchaus nicht verpflichtet zu verstehen“ (Lacan: Encore, 72; vgl. Schriften 1,207).

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Für letztere betont zuletzt Gadamer, daß die Hermeneutik, der Reichweite des Be­ griffs des Verstehens entsprechend, auch das zwischenmenschliche Verhältnis und den Bezug zur Welt zum Gegenstand habe (Gadamer, in: Forget: Debatte, 24). Lesezirkel und bermeneutischer Zirkel Name und Idee des Lesezirkels knüpfen an Peirce und Heidegger an: auf der einen Seite der „Zirkel der Semiose“ (Eco: Zeichen, 178) im semiotischen Dreieck, auf der anderen die Vorstruktur des Verstehens bei Heidegger, die man ebenfalls als zirkulär bezeichnet: Bekanntlich fällt in SEIN UND ZEIT die Wahl eines exemplarischen Seienden für die Seinsfrage auf das Dasein, da es sich als Seiendes selbst in seinem Sein versteht.46 Dasein verstünde sich weder auf dies und das Seiende, noch auf sich selbst in seinem Sein, hätte es nicht ein Seinsversteheny stünde es nicht in der Offenheit (aletheid) des Seins. „Zuvor Seiendes in seinem Sein bestimmen müssen und auf diesem Grunde dann die Frage nach dem Sein erst stellen wollen, was ist das anders als das Gehen im Kreise? Ist für die Ausarbeitung der Frage nicht schon Vorausge­ setzt', was die Antwort auf diese Frage allererst bringen soll?** (Heidegger: Zeit, 7; vgl. 314.) Diese Zirkularität —die in der λ/or-Struktur des Verstehens gründet (Heidegger: Zeit, 153) - läßt Heidegger allerdings nicht als Einwand eines circulus vitiosus gelten. Heidegger affirmiert sogar das „Faktum des Zirkels im Verstehen** (ebd., 152) und beteuert: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen** (ebd., 153; vgl. 315).47 Wenn Heidegger sagt, das Dasein habe diese „ontologische Zirkelstruktur“ (ebd., 153), so ist das auf das Mitsein von Texten und den Umgang mit ihnen im Lesezirkel über­ tragbar. In der Einleitung wurde bereits auf den Zirkel zwischen Heidegger als Gegen­ stand der Lektüre und der Lesetheorie - bzw. der Methodik des Lesens - hingewiesen: Die Dekonstruktion, der Heideggers Texte unterzogen werden, ist eine Permutation der 46 Das Verstehen ist dabei kein Akt, der von anderen psychischen Akten oder Verhaltensweisen unterschieden wäre, sondern ist die Grundweisc, wie das Daseins ist. Verstehen ist ein Existential 47 Über den hermeneutischen Zirkel äußert sich Heidegger des öfteren (vgl Heidegger Ereignis, 407). Später zeigt er sich skeptisch und hebt den Zirkel in der Struktur des Geflechts auf (Heidegger Sprache, 243, vgl. 150f.); speziell behandelt Heidegger zirkuläre Verweisungen wie die von Frage und Antwort (Heidegger Zollikon, 46), henxmd panta bei Heraklit (Heidegger Seminare, 30ff.), zwischen Grund und Existenz bei Schelling (Heidegger Freiheit, 196; Idealismus, 117), im Wesen der Erfahrung (Heidegger. Frage, 173f., 187f.) und in Nietzsches Willen ^tr Macht als Kunst (Heidegger Kunst, 51). Der Verweis Heideggers auf die Notwendigkeit, „den Kreisgang [zu] vollziehen“ (Heidegger Holzwege, 2), und die Bezeichnung des Zirkels als „Fest des Denkens“ (ebd) ist natürlich intertextuell von Nietzsche markiert Pragmatistisch-erkenntnistheo­ retische Analogien bei Peirce zum hermeneutischen Zirkel diskutiert Daübe-Schackat (Daube-Schackat An­ wendung, 42).

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heideggerschen Destruktion. Heideggers Sprachtheorie geht in die vorliegende Lesetheo­ rie mit ein. Im Lesezirkel läßt sich auch der spezielle - oft psychoanalytische - Vorgriff nicht abstreiten. Wenn sich aber Heideggers Text in einem solchen Vorgriff und unter veränderter Vorsicht und Vorhabe übersetzen läßt, so ist dies eine Möglichkeit, die Heideggers Schrift selbst eröffnet. Das Zirkuläre ist Bedingung dieser Eröffnung. Von einem Kreisgang (Heidegger: Holzwege, 2) kann man auch sprechen, wenn das semiotische Dreieck des Lesezirkels derart in Drehung gerät, daß Zeichenmittelbezug, Zeichenobjektbezug und Interpretantenbezug nicht mehr eindeutig Heidegger, den Spendern des Prätextes oder dem Verfasser zuzuordnen sind, wenn unklar ist, was hier noch als Vorausgesetztes an Theorie und an Prä-Textuellem zu gelten hat. Kann man es hier - wie Nietzsche sagen würde —mit den Schletermacbem halten? Ast und Schleiermacher machten die Notwendigkeit des hermeneutischen Zirkels daran fest, daß jede Auslegung von einem Teil des Textes auf dessen Ganzheit zurück­ greifen müsse, welche sich ihrerseits aus den Teilen konstituiert; von den Teilen her wird das Textganze verstanden (vgl. H.-D. Gondek, in Hirsch: Übersetzung, 265; vgL Civikov: Lyrik, 18).48 Im Lesezirkel wird eine solche Ganzheitsvorstellung obsolet, die Grenzen verwi­ schen sich: es ist unklar, was als ganzer Korpus und was als Teil zu gelten hat, wenn sich der einzelne Text eines Autors immer schon intertextuell mit-teilt bzw. wenn er von der Intertextualität unterfuttert ist Mit-Teilungen Die Hermeneutik sieht den Leser in ein Gespräch mit dem Text verwickelt, andere sprechen vom READER IN THE TEXT. Ist das Mit-Sein von Text und Leser eine Art der Aufhebung^ muß man nicht von einer Indifferenz ausgehen, wenn der Leser im Text ist? Nein. Ob man den Leser nun als impliziten Leser, als Modell-Leser, als Interpre­ tanten oder als vom Signifikanten gekreuztes Subjekt denkt - was keineswegs dasselbe ist - das Verhältnis von Text und Leser bleibt ein artikuliertes; der als Signifikant zu begreifende Leser bleibt etwas, was sich im Leseprozeß aus der Signifikantenkette immer neu aussondert49 Zwischen Text und Leser ereignet sich eine „existenzial verstandene[] Mit-Teilung“ (Heidegger: Zeit, 155)50. Hier „konstituiert sich die A rtikulation des verstehen-

48 An diese traditionelle Auffassung des henneneutischen Zirkels schließt Heidegger insofern an, als er den Sinnhorizont, der jede (Be)Deutung eines Details vermittelt, thematisiert Dasein, so Heidegger, könne ohne Vorverständnis keinem Phänomen, keinem Text begegnen. Diese Vorurteile seien konstitutiv für das Verste­ hen. 49 Aus diesem Grund ist es irreführend, wenn C. Rosebrock, die ebenfalls Lacans signifikant verfaßtes Sub­ jekt als Subjekt des Lesers in Anschlag bringt, von einer „Text-Leser-Symbiose“ (Rosebrock: Lektüre, 9) spricht. ^ Wenn hier Heideggers Mitteilung aufgegriffen wird, so wird dabei vernachlässigt, daß „das gemeinsam se­ hende San qtm Aufgezeigten* (Heidegger Zeit; 155), daß Weltlichkeit gteilt w ird Hier geht es um den bezeich­ nenden Trennstrich der Mit-teilung, den Heidegger im Kontext Hölderlins (vgl. Heidegger Vorträge, 191) und dem Schaffen als Mit-teilen bei Nietzsche (Heidegger Wiederkehr, 136f.) wieder einsetzt

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den Miteinanderseins. Sie vollzieht die Teilung* der Mitbefindlichkeit und des Verständnisses des Mitseins... Das Mitsein wird in der Rede Ausdrücklich' geteilt€ (Heidegger. Zeit, 162). Die durch einen Bindestrich getrennte Schreibweise von MitTeilung ist also nicht zufällig: lat. articulus ist ein Gliedchen des Fingers oder sonst am Körper, metonymisch meint es ein Gelenk, den Teil einer Rede, zeitlich einen Wende­ punkt, einen Abschnitt (Petschenig: Latein, 71). In der Mit-teilung geschieht eine immer neue dynamische Teilung der geteilten Mit­ teilung und der sich einander Mit-teilenden. An Heideggers Gedanken anknüpfend spricht Jean-Luc Nancy von der yyMJt-Teilung der Gemeinschaft“ (Nancy: Gemeinschaft, 56), ihrer „'partage'“ (ebd, 173, A n m .ll) die — analog zum Mit-Sein — nicht als nachträgliche Verbindung isolierter Subjekte zu denken wäre, sondern als das, was überhaupt jedes Dasein in seiner Singularität konstituiert (vgL ebd., 57). Die Mit-Teilung teilt die Gemeinschaft, das eine Dasein teilt mit dem anderen nichts als die stets sich verschiebende Grenze, an der sie einander „stets mit-geteilt, stets exponiert“ (ebd, 62) sind. Nancys parataktische For­ mel dafür lautet: „du Mit-Teilung ich“ (ebd., 65). Das Du und das Ich dürfen dabei nicht als Personen im üblichen Sinne verstanden werden, sie sind nicht identisch mit Heidegger und dem Verfasser als seinem Leser, beide sind singuläre textuelle Ereignisse, Momente der Interaktion im Lesezirkel, in dem es Mit-Teilung gibt. Ich und D u gehen dem Gespräch nicht voraus, das Gespräch ereignet sich dank der „Grundlosigkeit des Zwischen, der Offenheit“ (Sh. Ueda, in: Grassi: Gespräch, 52). Jede Identität, jede 'Autorschaft' und Personalität findet sich im Gespräch geteilt, aufgeschoben, unterbrochen: „Wir würden nicht schreiben, wenn unser Sein nicht mit­ geteilt wäre.“ (ebd., 145.) Es handelt sich im Lesezirkel, insbesondere unter den Be­ dingungen einer polyphonen Intertextualität, um „mitgeteilte Texte ...: die Gemeinschaft der Schrift“ (ebd., 92), deren innere Segmentierung und Artikulation jede scheinbar eintretende Indifferenz umgehend wieder mit-teilt Thomas Schestag akzentuiert die Mitteilung auch in ihrer zeitlichen Artikulation. „Ohne daß darüber entschieden werden könnte, wer in diesem Augenblick liest und wer —oder was - gelesen wird. Was in diesem Augenblick, des -kom­ menden Zeichens - ungewiß, ob es an- oder entkommt -, Lesen heißt... ; die­ ser Augenblick der Unscheidbarkeit, aber Unvereinbarkeit von Abschied und Bewillkommnung, des Zeichens, ist der Augenblick der Mitteilung. Er teilt nicht sowohl etwas Bestimmtes - sich selbst gleich - mit, löst nicht sowohl den Schein des Da, als Mit- und Zusammendasein, einer Sprecher- und Hörerge­ meinschaft im Rahmen einer selben Sprache aus, sondern teilt - reglos, schneidender - das Mit der Mitteilung. Splittert - wie unscheinbar und leise immer —den Schein des -da- - oder -fort- - und Zusammen-, jenes -seins. Der Augenblick schneidet, im Innewerden regelloser Teilbarkeit des Zeichens, den Raum oder Zwischenraum der Interpretation, die Fuge des Deutens — semainein —an. Dieser Raum, des Deutens, ist das Gespräch/* (Schestag, in: Hirsch: Übersetzung, 66.)

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Wenn Verstehen und Interpretation den Charakter eines Gesprächs haben, so muß die so gedachte Mit-Teilung Zweifel streuen, wenn Heidegger sagt: „Das Gespräch und seine E inheit trägt unser Dasein.“ (Heidegger Erläuterungen, 39.) Der dialogische Charakter des Verstehens, den die Hermeneutik Heideggers be­ tont, wird in der Dekonstruktion anderer Art, un-einheitlich, sein. Gadamer, für den der Dialog das Prinzip der Sprache ist (Gadamer, in: Forget Debatte, 26), hat das Dialogische ebenso herausgestellt wie die Rezeptionsästhetik. Und auch in Peirce1 semiotischem Dreieck läßt sich unschwer seine dialogische Her­ kunft erkennen. Ein Sprecher äußert Zeichenmittel, die vom Hörer interpretiert werden: „In der Verallgemeinerung dieses Modells hat Peirce dann den Sprecher durch das O b­ jekt, den Hörer durch den Interpretanten ersetzt“ (Schönrich: Zeichenhandeln, 118; vgl Daube-Schackat: Anwendung, 90). Diese Ersetzung fuhrt allerdings —wie man sehen konnte — zu einer völlig neuen, nämlich semiodsierten Auffassung von Sprecher und Hörer. Das Lesen als gesprächsweiser Mit-Teilung fuhrt nun zu den anschließenden Ausfüh­ rungen zur Intertextualität, ausgehend vom dialogischen Charakter des Worts, den be­ reits Wilhelm von Humboldt immer wieder benannt hat: ,Aües Sprechen ruht auf der Wechselrede. ... Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren ... Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt“ (Humboldt, zit n. Fassbind: Dialog, 28.) Heidegger hat solche Repliken auf Dichter und Denker gegeben; er versucht etwa Nietzsches Wort in einer Art zu lesen, „damit es ein Wort sei und von uns die Antwort fordere“ (Heidegger Nihilismus, 335). Der Appell- und Antwortcharater von Wort und Erwiderung hat Michail Bachtin zu seiner Analyse des dialogischen Worts geführt, die sich in der Intertextualitätsdebatte fortsetzt

6. Dialogizität, Intertextualität, Lesezirkel Der Philosoph Ich schreibe Ihnen auf ihren Brief, den zu schreiben Sie sich anschicken als Antwort auf meinen Brief, den ich Ihnen geschrieben habe. (D. Charms)

Der Lesezirkel ist eine Einrichtung zur Pflege der textuellen Nachbarschaft Diese Me­ thodik arbeitet mit den Anrainern von Heideggers Denken, geht der Filiation der Be­ griffe nach und zeigt auf, in welcher Genealogie der ’originäre* philosophische Gedanke, in welcher Aus-einander-setzung (Heidegger) mit der Tradition er (entsteht. Diverse

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Denkbewegungen nehmen unter Berücksichtigung von weiteren Texten Heideggers und seiner Lektüre eine andere Wendung, textuelle Momente entfalten über bestimmte Kontexte komische Effekte und erschließen sich in ihrer textuellen Bewandtnis. Darüber hinaus lassen sich Korrespondenzen der Seinsphilosophie zur Psychoanalyse zeigen, die offensichtlich nicht auf deren Rezeption durch Heidegger zurückgehen. Solche Kontakte zwischen Texten und ihre theoretischen Implikationen aufzuzei­ gen, ist das Anliegen der Intertextualitätsforschung. In dieser theoretischen Perspektive, die aus der Literaturwissenschaft stammt, geht das Werk* seines abgeschlossenen Cha­ rakters verlustig, seine 'Identität* verliert sich in einem Geflecht an Beziehungen mit an­ deren Texten. Ein Buch zeigt sich dabei als immer schon von anderen Texten durchsetzt, ohne daß der Verfasser immer um den Einfall des Worts des anderen, des Vor-Worts, die Wider-Rede etc. wüßte. Heidegger im Gespräch Die Relevanz des Intertextualitätsansatzes für Heidegger ist offensichtlich. Unentwegt liest Heidegger - und das nicht allein in seiner Lehrtätigkeit. Die Übersicht der Gesamt­ ausgabe zeigt, daß Heideggers Textkorpus weniger ein Werk im klassischen Sinne ist, als „nahezu ausschließlich Kommentar“ (Lacoue-Labarthe: Fiktion, 18, vgL 27) der Klassiker der Philosophie. Eben diesen Altvordern soll es der Lesezirkel erlauben, daß sie ihrerseits auf ihre Auslegung durch Heidegger antworten können. So läßt sich intertextuell ein wechselweiser Dialog zwischen Heidegger und den von ihm behandelten Autoren anzetteln. Heidegger hat die Bedeutung des Gesprächs für sein Philosophieren selbst betont, die Seinsphilosophie zeigt sich offen für die Denkgeschichte. Heidegger betont, „daß wir im Denken der Philosophie ein Gespräch sind mit den Denkern der Vorzeit“ (Heidegger: Wegmarken, 79). Heideggers Kantbuch (KANT UND DAS PROBLEM DER METAPHYSIK) versteht sich als ein solches „denkendes Gespräch zwischen Denken­ den“ (Heidegger Kantbuch, XVII), als Zwiesprache. Heidegger mischt sich in das Ge­ spräch zwischen Hölderlin und Hegel ein (vgL Heidegger Seminare, 182) und zeigt sich selbst durchströmt von den Stromdichtungen des ersteren und gerät in den „Wirbel des Gesprächs“ (Heidegger Rhein, 46), in dessen dichterische Bewegung wir, wie er sagt, „einzugehen“ (ebd.) haben. Es gibt eine Art zu lesen, die den Leser aus diesem Wirbel anders hervorgehen läßt. Im Anschluß an Hölderlins Wendung „Seit ein Gespräch wir sind“ (vgl. Heidegger Rhein, 68) zeigt sich das Dasein als immer schon versetzt in das „Mitsein“ (Heidegger Zollikon, 183).51 ^ SEIN UND Z e i t scheint dagegen eher auf das Dasein in seiner Eigentlichkeit zentriert; aber diese E i­ gentlichkeit ist genau besehen selbst ein Moment des Gesprächs des Daseins, das im Aufruf und A nruf des Gewissens steht (vgL Heidegger Zeit, 270 ff.). Fassbind erkennt zwar Heideggers in SEIN UND ZEIT bekun­ deten Anspruch an, Dasein sei strukturell je schon in das Mitsein versetzt, kann im Anderen bei Heidegger je­ doch nur das klassische alter ego erkennen: das „Mi tabsein jedoch wird vom Ich aus gedacht“ (Fassbind: Dialog, 31; vgL 24). „Die Jemeinigkeit des Daseins verschliesst die Möglichkeit; dass das Mitdasein als Anderer, als ein Du begegnen könnte.“ (ebd, 49.) Martin Bubers dem Ich eingeborenes Du,"die beide im Zatschen gründen

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Heidegger geht sogar so weit, das Dasein als Moment der Sprache zu reformulieren: „Im Gespräch geschieht die Sprache, und dieses Geschehen ist eigentlich ihr Seyn. Wir sind - ein Sprachgeschehnis“ (Heidegger. Rhein, 69). Als ein solches stehen wir im Anspruch der Götter Hölderlins: „Unser Seyn geschieht als Gespräch, im Geschehen dessen, daß die Götter uns ansprechen, uns unter ihren Anspruch stellen, uns zpr Sprache bringen, ob und wie wir sind, wie wir antworten, ihnen unser Seyn zu-sagen oder versagen. Un­ ser Seyn geschieht demzufolge als Gespräch, sofern wir, so angesprochen sprechend, das Seiende als ein solches zur Sprache bringen, das Seiende in dem, was es und wie es ist, eröffnen, aber auch zugleich verdecken und ver­ stellen. Nur wo Sprache geschieht, eröffnen sich Sein und Nichtsein. Diese Eröffnung und Verhüllung sind wir selbst." (Heidegger Rhein, 70.) Das Gespräch gerät bei Heidegger zur „Versammlung auf das Wesen der Sprache" (Heidegger: Sprache, 151), wobei sich die Teilnehmer durch das Gespräch verwandeln, indem sie in das Gespräch als Aufenthaltsort eingelassen sind (vgl. Heidegger: Denken,

110). „Die Sprache allein ist es, die eigentlich spricht.“ (Heidegger. Sprache, 265.) In die­ ser Denkfigur des späten Heidegger zeichnet sich seine spezifische Art einer monologsehen Sprachauffassung ab (vgl Fassbind: Dialog, 58f.), der es gleichwohl nicht an Heteronomie gebricht Wenn die Sprache spricht, wie Heidegger sagt, dann ist die Frage, ob und gegebe­ nenfalls wie Heidegger von seinem ontologisch gedachten Gespräch den metaphysi^ sehen Diskurs als ein Selbstgespräch unterscheiden wollte. Als Selbstgespräch stellt sich fur ihn etwa die Dialektik Hegels dar, mit der Heidegger das Zwiegespräch (Heidegger. Problemlage, 6) sucht. Aber auch die Entwürfe zum Willen %ur Macht versteht er als Selbstgespräch Nietzsches mit dem metaphysischen Seienden im Ganzen (Heidegger Ni­ hilismus, 70).* 52*Heideggers „Gespräch eines Denkens mit einem Dichten“ (Heidegger Erläuterungen, 7) sowie mit früheren Denkern steht im Zeichen eines ontologischen „Gespräch[s] mit [d]er geschickhaften Überlieferung“ (Heidegger Identität, 52). Ein metaphysisches Gespräch, wie es beispielsweise Schelling und Nietzsche mit Leibniz geführt haben sollen (vgl. Heidegger Grund, 43), versucht Heidegger später in seinem Gespräch über die Gelassenheit zu lassen (vgl. Heidegger Erfahrung, 37ff.; Feldweg, Iff.). Die Bedeutung des Dialogs für Heidegger dokumentiert sich in der Fülle an Inter­ pretationen philosophischer, aber auch poetischer Texte, die er vorgelegt hat. Wie be­ reits erwähnt, versteht Heidegger seine Auslegungen selbst als Gespräche. Im Anschluß daran hat sein Schüler Gadamer die Aufgabe der Hermeneutik^ als den Versuch be­ stimmt, mit einem Text in ein Gespräch zu kommen (vgl. Stiede, in ders.: Gespräch,

(vg)L ebd, 31,37) und mehr noch als dieses symmetrisch-wechselweise Verhältnis der Vorrang vom Antlitχ des transzendenten Anderen bei Emmanuel Levinas eröffnen neue Dimensionen fur ein Denken des Dialogischen. 52 Auch Bachtin spricht von der ,,monologische[n] Dialektik Hegels“ (Bachdn: W ort, 353). 55 Schleiermacher, der Mitbegründer der philosophischen Hermeneutik, versteht bereits unter „dialegesthar. Gespräch fuhren und Philosophien [sic.]“ (zit η. M. Frank, in: Stierle: Gespräch, 95).

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298). Die Relevanz von Heideggers hermeneutischem Zirkel für ein intertextuelles Lesen ist in der Intertextualitätstheorie nicht unbemerkt geblieben (vgl. Hoesterey: Sdmftzdchen, 35). Neben dem Gespräch mit Dichtem und Denkern hat Heidegger dem Grundwort seiner Philosophie, dem Sein, einen dialogischen Habitus gegeben, indem er von der Seinsfrage, vom Anspruch des Seins etc. spricht, auf den das seinsverstehende Dasein zu antworten habe —bis Heidegger schließlich die Seinsfrage wie alles Fragen gelassen sich selbst überläßt. Die bisher genannten Formen philosophischen Gesprächs (mit Lettern verstorbe­ ner Denker und Dichter, mit dem Sein ...) mögen befremdlich wirken, gemessen an einem lebendigen* Gespräch mit *wirklichen* Gesprächsteilnehmem. Letztere lassen sich wenigstens in Hörem der Vorlesungen Heideggers finden. Aber gerade hier ist der andere zunächst nur Hörer, mir ist nicht bekannt, wie viel Gelegenheit Heidegger seinen Seminarteilnehmern zur Antwort gegeben hat. Abgesehen vom SPIEGEL-Gespräch, das wiederum eher den Charakter eines Verhörs als eines Gesprächs hat, und der öffentlichen Disputation in Davos mit E. Cassirer (man könnte sich streiten, ob es sich hier nicht eher um einen Hahnenkampf, als um ein Gespräch handelt) läßt sich Heidegger nicht allzuoft auf ein Gespräch ein. Es sei denn, er sucht sich seine Ge­ sprächspartner aus, indem er sie erdichtet Einer dieser als Gespräche54 apostrophierten Texte trägt den vielsagenden Titel: Ein Gespräch selbdritt auf einem Feldweg \wischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen (Heidegger Feldweg, Iff.). Bei dieser Form der Selbdrittheit wirkt jede Uneinigkeit gewollt, es bleibt der Eindruck von Dreieinigkeit zurück. Bei diesem Typ von Gespräch bleibt Heidegger gleichsam unter sich. Allerdings steht eine Analyse der textuellen Dialogizität in diesen Gesprächen noch aus.55 Ob auf dem Feldweg oder im virtuellen Mitsein mit japanischen Gästen — Heideggers erdichtete Gespräche gestalten sich sehr heideggemd. Die Teilnehmer dieser Gespräche teilen sich einander in einer Art und Weise das Seinsdenken (mit), daß sich ihre Rede von der Heideggers oft nicht unterscheiden läßt Die personalen Grenzen verschwimmen hier in einer ähnlichen Art und Weise, wie Freud dies in einer Studie zu Leonardo da Vincis Gemälde HEILIGE ANNA SELBDRITT (Louvre) analysiert Auf dem Schoß der Hl. Anna - die kaum älter als ihre Tochter gezeichnet ist - sieht man die Gottesmutter sitzen. Letztere hält mit ihren Armen das Jesuskind zurück, welches den Hals eines Lamms umfaßt, als wolle es das H er besteigen, „währenddessen die HL

54 Vgl.: A us m an Gtspräch von der Sprache. Zutschen einem Japaner und einem Fragenden (Heidegger Sprache, 83 ff.), „veranlaßt durch einen Besuch von Prof. Tezuka von der Kaiserlichen Universität Tokio“ (ebd, 269) und die drei FELDWEG-GESPRÄCHE, die auf 1944/45 datiert sind. 55 Eine solche Untersuchung könnte sich an B. Fassbinds POETIK DES DIALOGS orientieren. Fassbind ana­ lysiert explizite und implizite Formen des Ich und Du als textuelle Instanzen sowie das Umschlagen von Ich und Du in Gedichten P. Celans (vgl. Fassbind: Dialog, 21). Fassbind weist darauf hin, daß das textuelle Du nicht auf den Rezipienten gemünzt zu sein braucht, dessen dialogische Einbindung Fassbind ebenso von seiner

textintemen Untersuchung ausnimmt wie den intertextuellen Bezugrahmen Celans, den er aber als „Teil von dia­ logisierendem Schreiben“ (Fassbind: Dialog, 20; vgl. 28-31) anerkennt Gerade die Theorie der Intertextualität zieht aber die Legitimität in Zweifel, Textintemes und Textextemes zu unterscheiden. Von daher ist die Frage der Dialogizität hier breiter angelegt

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Anna, die alles beherrscht, die Mutter zurückhält, damit sie das Kind nicht ablenke von seinem Schicksal und seinem Opfer“ (Lacan: Objektbeziehung, 432), dessen Symbol das Lamm abgibt. „V ersu ch t m an an diesem B ilde die Figuren d e r A n n a u n d d e r M aria v o n e in ­ a n d e r a bzugrenzen, so gelingt dies n ich t ganz leicht. M an m ö c h te sagen, b e id e sind so in ein an d er v e rsch m o lzen w ie sch lech t v e rd ic h te te T ra u m g e sta lte n , so d a ß es an m an ch en Stellen schw er w ird zu sagen, w o A n n a a u fh ö rt u n d M aria anfängt.“ (Freud: G W . V III, 186, A n m .l.)

Noch inniger seien, so Freud, die beiden Gestalten in einer Variante des Gemäldes auf einer Londoner Zeichnung verschmolzen^ ja es ist, „'als wüchsen beide Köpfe aus einem Rumpf hervor1“ (zit. n. ebd). Lacan bemerkt in seinem Kommentar zu den beiden Bil­ dern (vgl. die Reproduktionen ebd., 140£, 187f.) einen Austausch der Beine von Mana und Anna (vgl. Lacan: Objektbeziehung, 431), womit der Charakter eines Doppelwesens in den Frauenbeinen deutlich hervortrete. In der Variante des Bildes HEILIGE ANNA SELBDRITT auf dem Karton in London erscheint zudem einer der Arme der Doppel­ gestalt den Körper Christi „fast so wie eine Marionette“ (Lacan: Objektbeziehung, 431) zu verlängern. Während ein Arm Jesu sich der Richtung des erhobenen Zeigefingers der Hand von Anna-Maria anschließt, greift seine andere Hand nicht um den Hals eines Lamms, sondern nach dem des kindlichen HL Johannes, der dem Lamm substituiert ist und unverkennbar die Züge der heiligen Anna trägt (ebd., 387). Ohne hier auf Lacans Analyse des erhobenen Zeigefingers auf der Londoner Zeichnung als „die An­ deutung jenes Seinsverfehlens [manque-ä-etre]“ (ebd., 431) und die „Ambiguität von realer Mutter und imaginärer Mutter, von realem Kind und verborgenem Phallus“ (ebd.) eingehen zu können: Lacan betont in der Darstellung der dreieinigen Konfiguration von Anna, Maria und Jesus, ihrer „Selbdrittheit [sui-trinite]“ (ebd., 433), die Notwendigkeit eines vierten Elements. Auf den erhobenen Zeigefinger und ein Opferlamm hoffentlich verzichtend, ver­ suchen wir diesen Part in den Gesprächen und Selbstgesprächen Heideggers mit Kant, Schelling, Hölderlin und Nietzsche zur Geltung zu bringen: Das dabei sich entwickelnde Gespräch selhdntt mit Martin Heidegger ist zwar ähnlich verwickelt wie die HEILIGE ANNA SELBDRITT, markiert aber gleichwohl dort Differenzen zu Heidegger, wo der sich in seinen Gesprächen zwei- bis dreieinig wähnt. Der hier vorgelegte Lesezirkel nimmt den Titel eines Gesprächs selhdntt ironisch auf und begegnet dem ungeschriebenen Reglement der heideggerschen Gesprächskultur eher skeptisch. Der Lesezirkel versucht ferner, Heideggers Form geschickter Gesprächsfuhrung der Seinsphilosophie mit der Überlieferung zu irritieren, das Seinsgeschick ab­ zulenken, zu zerstreuen. Als Geschick bezeichnet Heidegger seine gut organisierte posdagemde Versendung traditioneller philosophischer Konzepte.56 Dieses Seinsge­ schick erscheint wie der Versuch einer monologisierenden Zähmung der Diffusion und

56 Diese Schickungen des Seins hat bereits J. Detrida in seiner POSTKARTE mit einer Schickungsirrung zu irritieren versucht; er stülpt den ontologischen Postsack um und spielt das nicht kalkulierbare Modell der Zerstreuung (Dissemination) dagegen aus.

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des Metabolismus klassisch philosophischer Texte, deren Dialog verwickelter ist, als Heidegger ihn im Zeichen des Seins darstellt. Immer dann, wenn Heideggers Texte, Gespräche und Zwiegespräche einen monolo­ gischen Charakter annehmen, wird der Lesezirkel dritte Stimmen Zumischen, um Heideggers Text auf einen Polylog hin zu öffnen.57 Das Wort wird wieder in Umlauf gesetzt, dem Wort des anderen ausgesetzt. Die Unterscheidung monologischer und dialogischer Rede geht auf M. Bachtin zurück, dessen Überlegungen zur Dialogizität als Vorwort der Intertextualitätsdebatte gelten können, die von J. Kristeva ihren Ausgang genommen h at Bachtins Dialogizität Anders als F. de Saussures strukturale Linguistik, die sich auf die Analyse des Sprach« systems (langue) konzentriert, legt der Kreis um Bachtin den Schwerpunkt auf das „so­ ziale Ereignis der sprachlichen Interaktion, welche durch Äußerung und Gegenäußerung realisiert wird" (Volosinov, zit. n. R. Grübel, in: Bachtin: Wort, 32), wobei der „RedeVerkehr“ (Bachtin, zit. n. ebd.) in den Vordergrund rückt und „der Primat des Dialogs über den Monolog“ (ebd., 172) behauptet wird. Gegenüber einer Linguistik, welche das Wort und andere Einheiten der Rede aus dem lebendigen Dialog isoliert und damit monologisiert, formuliert Bachtin mit seinem dialogischen Wort das Programm einer Metalinguistik. „Die Bachtin/Volosinovsche Konzeption verwirft den streng binaristisch ausgeleg­ ten Zeichenbegriff de Saussurescher Provenienz“ (Lachmann: Zerstörung, 330), für sie genügt es nicht, das Zeichen als Verbindung eines Signifikanten mit einem Signifikat zu beschreiben.*5® „(D]as lebendige Wort steht seinem Gegenstand keineswegs identisch gegen­ über zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Wort und sprechender Per­ son liegt die elastische und meist schwer zu durchdringende Sphäre der 57 Zur Diskussion um die Unterscheidung von Monolog, Dialog und Gespräch vgl. Grassi 8c Schmale: Ge­ spräch, 22f. 5® De Saussures Zeichen muß aber keineswegs als binärer Komplex verstanden werden, das Dritte ließe sich wohl in der bam zwischen Signifikant und Signifikat finden. Neben einer eher kritischen Auseinandersetzung mit Saussure gingen von dessen Anagrammstudien —die er selbst nie veröffentlicht hat - wichtige Impulse aus, die über den Kommentar von J. Starobinski in seinem Buch WÖRTER UNTER WÖRTERN in die Intertextuali­ tätsdebatte eingebracht wurden. Unter einem Anagramm versteht man eine im Text versteckte Botschaft; die man durch Neukombination von Buchstaben eines Textes erhält. „Für Starobinski zeigt das Anagramm einen verborgenen Text an, dessen Verborgenheit jedoch durch lesbare Signale markiert ist.“ (Lachmann: Gedächt­ nis, 58; vgl. Zerstörung, 316 f, 327.) Starobinski erkennt in den Anagramm-Studien Saussures den intertextuellen Gedanken von einem „Text unter dem Text, eine[m] Vor-Text“ (Starobinski, zit n. Lachmann: Gedächtnis, 78), der auf andere Texte verweisen kann. R. Jakobson hat anagrammähnliche Rätsel angeführt, deren Lösung im Rätseltext kodiert ist (vgl. ebd., 404). In Anlehnung an Kristevas Ansatz verall­ gemeinert Lachmann den Begriff des Anagramms: „Das Asiagamm hingegen besteht aus über den manifesten Text verteilten Elementen, die, zusammengesetzt, die aus der Zerstückelung hervorgeholte, kohärente Struktur eines fremden Textes erkennen lassen; der Referenz text ist als Anatext präsent“ (Lachmann: Gedächtnis, 61.) Zur Dekodierung sei ein kombinatorisches Lesen gefragt

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a n d eren , frem d en W ö rte r zu dem selb en G e g en stan d , z u m gleichen T h e m a ... So findet jedes kon k rete W o rt (die Ä uß eru n g ) jen en G e g e n s ta n d , a u f d e n es g e ric h te t ist, im m e r sc h o n sozusagen b e sp ro ch e n , u m stritte n , b e w e rte t v o r ... D e r G e g en stan d ist u m g eb en u n d d u rc h d ru n g e n v o n allgem einen G e d a n k e n , S ta n d p u n k te n , frem d en W ertu n g en u n d A kzenten. D as a u f seinen G e g e n ­ sta n d g erich tete W o rt g e h t in diese dialogisch erregte u n d g e sp a n n te S p h ä re d e r frem den W ö rte r, W ertu n g en u n d A k zen te ein, v erflicht sich in ihre k o m ­ plexen W ec h se lb e z ie h u n g en , v erschm ilzt m it d e n ein en , stö ß t sich v o n d e n a n d ere n ab , ü b ersch n e id et sich m it d ritte n . . . " (B achdn: W o rt, 169).

Wenn man Bachtin, seinen Vorbehalten gegen Saussure zum Trotz, mit Begriffen zu reformulieren versucht, die R. Jakobson und J. Lacan in Anschluß an Saussure geprägt haben, so könnte man die Ent-sprechungen des Worts auf der metaphonschen Achse als fremde Stimmen, die das Wort dialogisieren, betrachten. Wenn das Wort, wie es bei Bachtin heißt, immer Kontexte früherer Äußerungen mit sich schleppt (vgl. Bachtin: Wort, 185), so wären diese Kontexte auf der metonymischen Achse anzusiedeln. Die Dialogizität des Sprachverstehens bestünde also darin, daß jedes W ort seitens des Hö­ rers auf einen Satz differenter Begriffe trifft und nur über dies Sprachgitter aus syntag­ ma tischer (metonymischer) Achse und paradigmatischer (metaphorischer) Achse Signifikanz gewinnt Das konkrete Wort hat Bachtin zufolge mehr als nur ein soziales Umfeld, es ist Teil der „Sprachen von sozialen Gruppen, ’Berufssprachen*, ’Gattungssprachen’, Spra­ chen der Generationen usw.“ (Bachtin: Wort, 165). Jeder dieser ’Dialekte* entspinnt eine metonymische Achse, ließe sich im Sinne der strukturalen Analyse sagen. Poly­ phon wird das Wort, wenn man die metaphorischen Kontakte, Kon- und Dissonanzen mithört, mitliest, das Wort als eine Ant-Wort oder als Entwertung des Worts des an­ deren versteht. Das dialogische Wort findet Bachtin ansatzweise schon in der griechischen Philo­ sophie. Ob die Dialoge Platons - gerade in ihrer Zentrierung um das Sokratische wirklich als dialogisch und polyphon zu gelten haben (vgl. Bachtin: Karneval, 67; Stierle: Gespräch, 11,23), ist umstritten (vgl. Grassi et aL: Gespräch, 59ff.). Was die dialogische Dimension bei Heidegger betrifft, so pflegt er mehrere Dia­ lekte, mal mimt er mit dem Wort Kehre den Skilehrer, folgt dem Förster auf dem Hohl­ weg oder meditiert über die Zwiesel und schickt Kant mitsamt seiner Einbildungskraft auf die höhere Baumschule, wie man im ersten Lesezirkel sehen wird. Selbstredend beherrscht er neben der „Sprache des Nietzsche-Anhängers“ (Bachtin: Wort, 183) alle klassisch philosophischen Idiome. Die textgenerative Dialogizität weist bereits darauf hin, daß das Lesen von Heideggers Texten in diesen und anderen ’Dialekten* vielversprechend ist. Dabei stellen sich oft Assoziationen ein, die mit dem offiziellen Heideggerbild - gleichsam dem mo­ nologischen Heideggerianismus, der Fundamentalontologie in Hochsprache (Bachtin) kaum vereinbar sind. Das philosophische Vokabular, mit dem Heidegger arbeitet, ist in sich mehrstimmig im Sinne Bachtins. Heidegger findet das philosophische Feld, das Seiende im Ganzen, immer schon besprochen vor, wie Bachtin sagen würde. Das Erbe, das mit jedem Wort der philosophischen Berufssprache verbunden ist, versucht Heidegger teilweise auszu-

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schlagen, indem er Neologismen bildet oder seit Jahrzehnten ungebräuchlich gewordene Wörter wiederaufhimmt. Das etymologische Potential eines Worts, das Heidegger gerne neben der heute dominanten Bedeutung ins Spiel bringt, ist ein ausgezeichnetes Beispiel für polyphone Sinnsedimente. Jedes Wort, das man von einem anderen übernimmt, erhält über den ’ursprüngli­ chen' Wortgebrauch hinaus einen neuen Akzent, Bachtin spricht von der spezifischen Intonation: „ U n te r d e m M o m e n t d e r In to n a tio n d es W ortes verstehen w ir seine Fähigkeit, die ganze V ielfalt v o n W ertb ez ieh u n g e n d e r sp re ch e n d e n P erso n zum In h a lt a u sz u d rü c k e n (in psy ch o lo g isch er Schicht: die V ielfalt an e m o tio n al-v o litio n alen R e ak tio n en des S prechers) das W o rt schilt, liebkost, ist gleichgültig, e rniedrigt, sc h m ü ck t usw .“ (Bachtin: W o rt, 147f.)

Die hier vorgelegten Heideggerlektüren kann man in diesem Sinne als Umakzen­ tuierungen verstehen,59 als Versuche, zunächst monologisch erscheinende Wörter Heideggers symphonisch zu orchestrieren (vgl. Bachtin: Wort, 157) und so die „innere Dialogizität des Wortes“ (ebd., 162) interpretatorisch wiederzuerwecken. Eine Erwiderung auf Heidegger ist dadurch möglich, daß man das Wort umbettet in andere Kontexte als jene, in denen es zunächst angesiedelt erscheint Diese anderen Kontexte, mit denen Heideggers Wort konfrontiert wird, gehören zur dialogischen Be­ wandtnis des Textes: „Jedes Wort ist auf eine Antwort gerichtet und keines kann dem tiefgreifenden Einfluß des vorweggenommenen Wortes der Replik entgehen“ (Bachtin: Wort, 172). In Heideggers Text lassen sich oft Spuren davon ausmachen, daß Heidegger irgendwie auf potentielle Repliken gefaßt war, unterschwellig auf sie reagiert und so auf mehreren Ebenen, in mehreren Dialekten (Bachtin) gleichzeitig spricht Neben der vom Lesezirkel ermöglichten Antwort auf Heideggers Wort ist bereits das von Heidegger von Dritten aufgenommene Wort eine Replik So wird sich gegen Ende des zweiten Lesezirkels zeigen, daß Heidegger den Topos der Gelassenheit nicht nur aus dem Munde Böhmes, sondern auch Schellings übernimmt. Das Wort Gelas­ senheit entspräche dem dritten Typ, den Bachtins Typologie des Worts anfuhrt. E r unterscheidet: 1. das direkte Wort, das als Denotat ein außersprachliches Objekt hat und „als Ausdruck einer abgeschlossenen auktorialen Sinnsetzung des Sprechers gel­ ten kann“ (Lachmann: Gedächtnis, 171), also monologisch sein will, 2. das dargestellte, objekthafte Wort einer dargestellten Person und schließlich 3. das Wort, das auf ein fremdes Wort eingestellt ist und mit ihm in Dialog steht (vgl. ebd., Lachmann: Zerstörung, 329f., R. Grübel, in: Schmid: Dialog,

210). Anders als Bachtin, welcher von monologischen und dialogischen Worten spricht, scheint es eher angebracht, von monologischen oder dialogischen Textstrategien, bzw.

59 Für Novalis ist Rezeption Umakzentuierung : „Der Leser setzt den Accent willkürlich - er macht eigiendich aus einem Buche, was er w ill“ (ZiL n. Nibbrig: Warum, 23.)

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Rezeptionsarten zu sprechen. Es ist zweifelhaft, ob man von einem dia- oder monolo­ gischen Text sprechen kann, wenn „die Rezeptionshaltung einen polyvalenten Text auf einen monovalenten reduzieren kann, wie andererseits monovalente Texte ... eine dia­ logische Dimension erhalten können" (Lachmann: Gedächtnis, 151; vgl. Bachtin, Wort, 297). Manche Passagen bei Bachtin erwecken den Anschein, als würde Dialogizität wiederum als Merkmal des isolierten Textes gedacht. Ohne hier auf die spätere Arbeit am Text Heideggers vorgreifen zu wollen (s. u. S.339ff.) läßt sich am Gelassenheitsbegriff zeigen, wie sich Bachtins Typologie wenden läßt: In monologischer Auffassung würde man beispielsweise den Begriff der Gelassen­ heit τώί seiner Prägung beim späten Heidegger verbinden, ja mit ihr identifizieren. Dabei würde man Heideggers eigenen Verweis auf Meister Eckhart in seinem Gespräch zur Gelassenheit hinter Heideggers Wort verstummen lassen. Die Erinnerung daran, daß die Gelassenheit bei Eckhart oder Böhme eine Rolle spielt, macht das Wort Gelassen­ heit zu einem dargestellten Wort. Heidegger dialogisiert in seinem GESPRÄCH SELBDRITT über das Wort Gelassenheit mit der Tradition christlicher Mystik. Dabei steht er wider Willen in einer Korrespondenz mit Schelling, dessen Willensmetaphysik er gleichsam als Vor-Wort von Nietzsches Willen %ur Macht versteht, den er mit dem Gelassenheitsbegriff - fast möchte man sagen —hintertreiben wollte, ginge es ihm nicht darum, die Willensmetaphysik sich selbst zu überlassen. Obwohl der Begriff der Gelas­ senheit in der Mystik die Runde machte, und Heideggers Text zur Gelassenheit in der Form eines Gespräches daherkommt, scheint eine Tendenz Heideggers zu bestehen, das Wort zu monologisieren, sich gegen bestimmte Einflüsse abzudichten. Das Unbe­ wußte von Heideggers GESPRÄCH SELBDRITT wäre, mit Lacan gesprochen, der Dis­ kurs des Anderen, das Wort Schellings. Heidegger greift zur Dialogform als Darstellungsmodus, um dem Leser selbst ge­ sprächsweise die Gelassenheit näherzubringen, ihn in das GESPRÄCH SELBDRITT zu verwickeln und ihm so etwas zu verstehen zu geben. Verstehendes Gespräch Der Akt des Verstehens vollzieht sich in einem Dialog, als Gespräch, wie Gadamer in Anschluß an Heidegger formuliert. Auf der Basis der bisherigen Ausführungen zum In­ terpretanten bei Peirce und seiner Bedeutung für die Hermeneutik läßt sich eine Koinzi­ denz mit dem Bachtinkreis zeigen: Der Verstehende ist zeichenhaft zu denken, so „... daß das Bewußtsein selbst sich nur durch eine Materielle Verkörperung im Zeichen realisieren und sp einem wirklichen Faktum werden kann. Denn das Verstehen des Zeichens ist nichts anderes als das Beziehen eines wahrgenommenen Zeichens auf andere, schon bekannte Zeichen. Mit anderen Worten: Verstehen ist eine Erwiderung auf Zeichen mit Zeichen." (Volosinov: Marxismus, 57.) „Jedes echte Verstehen ist aktiv und trägt den Keim der Antwort in sich“ (ebd., 167; vgl Bachtin: Wort, 174), dem Wort des anderen wird mit unserer Antwort begegnet, es wird mit ’Antwortern1 umgeben, wenn man so will. Dies macht den dialogischen Charakter der Rezeption aus, deren aktiv mit-schaffenden Charakter Bachtin betont (vgL Bachtin: Wort, 142).

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Dieses Mitschaffen ist schon fur den 'bloß* verstehenden Vollzug einer Rede nötig, f e ­ ries Wort involviert eine bestimmte Konzeption vom Hörer, von seinem appeizeptiven Hintergrund, vom Grad seiner Antwortlichkeit [sic.]“ (Bachtin: Wort, 233). Der Sprecher, der ein Wort an den Hörer adressiert, kann unterschiedliche Strate­ gien verfolgen, es ankommen zu lassen; er kann das Wort gleichsam an einer langen Leine fuhren, aber auch versuchen, es monologisch zu dressieren, es nur in einer be­ stimmten Weise seinen Zeitgenossen zu verstehen zu geben. Isers im puter Leser zielt auf die vom Text programmierte Rezeption, es handelt sich um den Leser, dessen Freiheit von der Textstrategie vorgezeichnet ist, womit dem Dialog bestimmte Grenzen gesetzt sind; zwischen dem idealen Leser und dem Text ist noch weniger ein Dialog der Λ us-einander-set^ung zu erwarten, wenn der ideale Rezipient nur die Intention des idealen Autors einzulösen hat (vgL Bachtin: Wort, 349f.). Aus Bachtins Metalinguistik läßt sich folgern, daß ein gewisser Imperativ des Verste­ hens, wonach man das Wort dem Sinn des Sprechers getreu aufzunehmen habe, der Lebendigkeit des Worts und der Entfaltung seiner Bedeutungsfülle das Wasser abgräbt Die Dissemination (Derrida), das Versprengte, ist die dem Zeichen 'eigene' semiotische Bewegung. Semantisch fuhrt sie zur einer „Sinndispersion“ (Lachmann: Gedächtnis, 7), die auch die scheinbar monovalente Sprecheiintention ergreift. Dialogisch betrachtet geht das W ort schon im Akt der Äußerung fremd. Ver-Stehen als Ver-Fehlen von Ein­ sinnigkeit heißt, den monologisch erscheinenden Text zum Bauchreden bringen. Dem­ zufolge lassen sich die „formende Aktivität des Schöpfer-Autors und des Rezipienten“ (Bachtin: Wort, 145) nicht länger voneinander trennen. „Der Sprecher dringt in den fremden Horizont des Hörers ein, errichtet seine Äußerung auf fremdem Grund und Boden, vor dem Apperzeptionshintergrund des Hörers“ (Bachtin: Wort, 175), und der muß sich nicht mit dem des Sprechers decken. Der Leser verpflanzt das gegebene Wort in sein Milieu und gibt ihm so einen anderen Akzent. Für die vorliegenden Heideggerlektüren gilt „ D e r das frem d e W o rt einfassende K o n te x t sch afft einen d ialogisierenden H in te rg ru n d . .. M it H ilfe d e r V e rfah re n d e r E in ra h m u n g kann m an eine g e ­ n a u w iedergegebene frem d e Ä u ß e ru n g w esentlich v e rä n d e rn ... So kan n m a n etw a eine e m stg e m ein te Ä u ß e ru n g leicht in eine kom ische w enden.“ (B ach tin : W o rt, 227.)

An dieser Stelle muß die Naivität überraschen, mit der Bachtin noch am Ernstgemein­ ten festhält, ist dieses doch selbst eine Sache der Interpretation, der vermeintlichen Autorisierung einer bestimmten Auffassung des Gesprochenen. Bachtin fordert: der Autor soll sein W ort gegeben haben - ganz im Emst. Bedeutsam aber ist die hier von Bachtin aufgezeigte Möglichkeit der Neurahmung einer Aussage. Sie erinnert an Derridas ,,'ranarquer', d[ie] stete Möglichkeit für den Sprecher/ A utor/ Leser/ Hörer/ Interpre­ ten, den Sinne eines Wortes, eines Satzes, eines Textes, einer Kultur neu zu markieren.“ (M. Frank, in: Stierle: Gespräch, 129.) Interpretation ist eine solche Neumarkierung, und der Text Heideggers liefert selbst solche Marken, Wegmarken: Heidegger markiert den Hasen, wenn er einen

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Grundsatz abendländischer Kultur, den Satv^ vom Grunde, dialogisch in einen Sat% in ei­ nen Sprung in den Abgrund wendet (s. u. S.189). Heidegger beherrscht verschiedene Techniken der dialogisierenden Stilisierung (vgl. Bachtin: Wort, 156), indem er die thrakische Magd, den Typus des pragmatischen Wissenschafders oder Hegels gemeinen Menschenverstand zu Wort kommen läßt, mal altgriechisch, mal schwäbisch denkt. Was den im Bachtinkreis diskutierten Ant-Wort-Charakter des Verstehens betrifft, so hat das Wiederaufhehmen von Topoi der Tradition durch Heidegger den Charakter einer Erwiderung, einer Ant-Wort, bei der es zuweilen den Anschein hat, als habe Heidegger den Schalk im Nacken. Fast möchte man sagen, das Wort selbst zwinkere mit dem Auge, oft ist jeden­ falls unentscheidbar, ist es der Interpret, ist es Heidegger irgendjemand „solidarisiert sich nicht voll und ganz mit diesen Wörtern und akzentuiert sie auf besondere Weise humoristisch, ironisch, parodistisch u. dgl. m.“ (Bachtin: Wort, 190). Selbst wenn man wüßte, wem die Ironie zuzuschreiben ist, bleibt die Frage des Subjekts der Ironie eine komplexe: „ D ie iro n isch e Sprache zerteilt, so de M an, die E in h e itlich k e it ihres Lesers o d e r S prechers unendlich: Z u n ä c h st p o stu lie rt sie ein faktisches Ich , das sich in einem Z u stan d v o n U n w ahrheit b e fin d e t, u n d ein w eiteres, das diese I n a u ­ th e n tiz itä t zu k en n en b e h a u p te t - jed o c h o h n e d a d u rc h sc h o n a u th e n tis c h zu sein. E in gew isserm aßen 'linguistisches Subjekt* ... h a t das relativierte u r ­ sprüngliche e rsetz t u n d w ird n u n v o n einem a b g esp alte n e n Ich aus als re in e M ystifikation b elach t - die iro n isch e B ew egung b e s te h t je d o c h in d e r im m a ­ n e n te n N o tw en d ig k eit, gen au diese D iffe re n z ie ru n g zu w ie d erh o len , also d a s Ich , das sich in seiner N egationsgeste a u th en tisch zu g e b ä rd e n an sc h ic k t, w ie­ d eru m zu m vergangenen u n d irrtü m lich en zu d egradieren. D a h e r d ie N ä h e d e r Ironie z u r V e rrü ck th e it', w ie d e M an sagt . . . " (R osebrock: L ek tü re, 202£).

Ebenso wie Stilisierung und Variation (Bachtin: Wort, 248) sind Humor und Parodie ausgezeichnete dialogisierende und intertextuelle Formen60, derer man sich in der Auseinander-setzung mit Heidegger bedienen kann. Es kommt dabei zu einem „Kampfe der sich im Wortinneren abspielt, der Grad des Widerstandes, den das Wort, das parodiert wird, dem parodierenden Wort entgegensetzt“ (Bachtin: Wort, 249), ist dabei ebenso wichtig wie das Feld, auf dem er sich abspielt; die vom Interpreten herbeigebetenen Zwischenrufer - ehrwürdige Philosophen, Psychoanalytiker, Theologen - machen die „umgebende Redevielfalt [aus], die immer als dialogisierender Hintergrund und Reso­ nanzboden dient“ (ebd.). Diese Zwischenrufer bringen den philosophischen E m st aus der Fassung. Es gibt kein direktes, ernstes Wort, das nicht seinen komischen Widerpart hätte, seinen „paro-6 6^ Die intertextuelle Relation besteht darin, daß die Parodie auf Parodiertes verweist. Für K. Stierle ist die Parodie ein Verfahren, das den parodierten Prätext „gleichsam mit sich selbst entzweit Gewöhnlich aber ... mißlingt der Versuch, das Werk selbst auf diese Weise zu dezentrieren. Die Dezentrierung, die die Parodie be­ wirkt, bleibt ein flüchtiger Moment der Entlastung vom Anspruch des Werks, der diesen Anspruch indes nicht selbst außer Kraft setzen kann. So bleibt die Parodie ein peripherer, parasitärer T ex t...“ (Stierle, in: Schmid: Dialog, 20). Der hier von Stierle als 'zentral' gesetzte Text ist für die Intertextualität selbst schon von einer 'parasitären'Machart

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distisch-travestierendea Doppelgänger“ (Bachtin: Wort, 312). Vielleicht ist das Römi­ sche Heidegger deswegen suspekt, denn für dessen Lachkultur galt: ,Jedes Emstgemeinte mußte ein Lach-Double haben“ (Bachtin: Wort, 316). Die Bedeutung der Lachkultur wird in den Ausführungen zur Witztheorie in Lese­ theorie Π psycho- und soziodynamisch zu entfalten sein (wobei auf Bachtin zurückzu­ kommen sein wird). Hier kann nur kurz angerissen werden, daß Bach tins Theorie des dialogischen Wortes sich auch auf ludistische Sprachphänomene berufen kann, wie sie der Wortwitz nutzt, der als paradigmatisch für Bachtins polyphones Wort gelten könnte. Viele Wortwitze und andere polyphone Worte sind hybride Konstruktionen,, in denen ein Wort, das zwei Kontexten angehört, von zwei Stimmen unterschiedlich in­ toniert wird (vgl. Bachtin: Wort, 195; Lachmann: Gedächtnis, 82). Zwischen zwei­ stimmigen, dialogischen Wörtern bricht das Lachen aus - oder es entspinnt sich ein artikulierteres Gespräch. Die Kamevalisierung von Texten durch „Umkodieren [] eines Zeichensystems in ein anderes“ (Lachmann: Gedächtnis, 254) ist der Versuch eines ,,Aus-Treten[s] aus der symbolischen Ordnung“ (ebd., 261), wobei selbst das autoritäre Wort, als das „Wort der Väter“ (Bachtin: Wort, 229) auf dem Spiel steht61 Das Wort der Väter wird zum Wort von Nobodaddy, um eine hübsche zweistimmige Wortbildung aufzugrei­ fen, die von W. Blake über J. Joyce und A. Schmidt ihren intertextuellen Weg nahm (Lachmann: Gedächtnis, 82f.). Bachtin eröffnet die Möglichkeit einer karnevalistischen Hermeneutik, in der man dem ernsten Wort seine Komik mit-teilt, es transformiert. Es zeigen sich diverse Verbindungen des Bachtin-Kreises zum Ansatz der Rezep­ tionsästhetik. Potebnja beispielsweise erkennt an: „Das Wort gehört auf gleiche Weise dem Sprechenden wie dem Hörenden“ (zit. n. Lachmann: Gedächtnis, 140). „W esen u n d K ra ft eines solchen W erks liegen n ich t in dem , was d e r A u to r d a ru n te r v e rste h t, so n d e rn darin, wie es a u f den L eser u n d Z u sch au er w irkt, folglich in d e r u n a u ssc h ö p flie h e n M öglichkeit seines Inhalts.“ (Potebnja, zit. n. eb d ., 143.)

Der dialogische Mehrwert des Worts ist als genuiner Charakter der Sprache zu betrach­ ten, der in der normierten, monologischen Sprache weniger zur Geltung kommt, weil er dort diszipliniert und reduziert wird (vgl. Lachmann: Zerstörung, 308,330). Den Gedanken einer unendlichen Semiose, eines unerschöpflichen Sinnpotentials, verbindet man hierzulande eher mit den Namen von J. S. Peirce oder R. Barthes, als mit Potebnja oder Bachtin, der vom sprechenden Sein schreibt, es „stimmt niemals mit sich selbst überein und ist daher in seinem Sinn und seiner Bedeutung unerschöpflich“ (Bachtin: Wort, 351). Bei Lacan wäre diese Unendlichkeit im Dritten, im Ort des Sprechens (Lacan) zu verorten. Auch für Lacan hat übrigens das Sprechen als Medium der psychoanalytischen talking cure per se Gesprächs- und Appellcharakter. Im Beisein des Zuhörers (bzw. Le61 Bachtin dürfte den Widerstand, den das autoritäre Wort einer neuen produktiven Rahmung entgegenbringt, stark übertreiben. Für ihn sperrt sich das Wort der Väter dem Dialog (vgl. Bachtin: Wort, 229-231).

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sers) bleibe „kein Sprechen ohne Antwort“ (Lacan: Schriften I, 85), auch wenn diese schweigend ausfallt, um den Anspruch des Patienten auf Wiedergabe eines Worts zu frustrieren (vgl. Lacan: Schriften I, 207). Aus der grundlegenden Adressatfunktion der Rede resultiert, „daß der Sprechende (locuteur) sich in ihr als Intersubjektivität konsti­ tuiert“ (Lacan: Schriften I, 97). Am Rande merkt Lacan an: „Selbst wenn es [das Sub­ jekt] nur vor sich hin spricht. Es wendet sich an jenen (großen) Anderen“ (ebd., Anm. 25). Das, was Lacan als volles Sprechen des Patienten bezeichnet, enthält bereits die ihm gemäße Antwort, das Sprechen brauche nur interpunktiert zu werden, damit es in sei­ ner vollen unbewußten Tragweite zur Geltung komme — diesem dialogischen Prinzip folgen die hier vorlegten Heidegger-Lektüren. Anders als in der dualen Vorstellung einer Kommunikation zwischen Sprecher und Hö­ rer versetzt Bachtin (ebenso wie Lacan) den Rezipienten auf den dritten Platz. „ D e r V ersteh en d e w ird zw angsläufig zu einem ’D ritte n ' im D ia lo g [...], d o c h ist die D ialogposition dieses 'D ritte n ' eine ganz b e so n d e re P o sitio n . E in e jed e Ä u ß e ru n g h a t ja im m er einen A dressaten, [...] dessen a n tw o rte n d e s V e rs tä n d ­ nis d e r A u to r des R edegebildes su ch t u n d vorw egnim m t. D ies ist d e r 'Z w e ite '. [...] A b e r a u ß er diesem A dressaten (dem 'Z w e ite n 1) se tzt d e r A u to r d e r Ä u ß e ru n g m e h r o d e r w eniger b e w u ß t einen h ö h e re n 'Ü b e ra d re ssa te n ' d e n ('D ritte n ') [sic] voraus, dessen a b so lu t richtiges V e rstän d n is e n tw e d e r in m e ­ taphysischer F e m e o d e r a b er in fern er h isto risch e r Z e it a n g e n o m m e n w ird (ein S chlupfloch-A dressat).“ (B achtin, zit. n. R. G rü b e l, in: e b d ., 4 7 f.).

Diese Konzeption des Überadressaten mag eher an die des idealen Lesers als an die des impliziten Lesers erinnern (vgl. ebd., 48). Eher zugeschnitten auf den karnevalistischen Bachtin scheinen aber psychoanalytische Konzepte des Dritten, wie sie in Anlehnung an die Witztheorie S. Freuds und Th. Reiks entworfen werden können (s. u. S.240ff.). Grübel unternimmt den Versuch, Bachtins dialogische Theorie des Worts in die drei­ stellige Semiotik von Peirce zu überfuhren. Das Wort erfährt seine Färbung und seine Spezifizierung in einem bestimmten ’Dialekt' (dem Idiom Nietzsches, Heideggers, des Schwaben...) und dieser Dialekt - als spezifische Form sozialer Wertung - läßt sich mit Peirce als Interpretant auffassen, der den Sinn vermittelt (vgL Grübel, in: Bachtin: Wort, 21,35; Lachmann: Gedächtnis, 190). Viele Wortwitze inszenieren Mißverständnisse, die sich zwischen Sprechern unter­ schiedlicher Dialekte ergeben. Im Lachen bricht das Zeichen auf, der Witz hat eine Art Wildwechsel im semiotischen Dreieck zur Folge, eine Auflösung der sprachnormierten Gefüge (vgL Grübel, in: Bachtin: Wort, 58). Das mehrstimmige W ort ist nicht nur ein Wort mit mehreren Interpretanten; schließlich ist das semiotische Dreieck in Bewe­ gung, das Wort des einen wird zum Zeichenmittel des anderen und setzt so einen neuen Interpretanten frei, wobei das unmittelbare Objekt nicht gleich zu bleiben braucht Überträgt man mit M. Riffaterre den semiotischen Prozeß von der Ebene des Worts auf die des Textes, so schlägt sich die Summe anderer Bücher, die in dem aus-

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zulegenden Objekt-Text enthalten sind oder bei seiner Rezeption mitzumischen schei­ nen, nicht nur in der Position des Interpretanten nieder (vgL W.-D. Stempel, im Schmid: Dialog, 88 f.; Ch. Grivel, in: ebd., 66); im Lesezirkel sind die Prä- und Inter­ texte so frei, alle Positionen des semiotischen Triangels besetzen zu können. Textkritische Implikationen: von der Dialogiqtät %ur Intertextualität Es konnte gezeigt werden, daß sich aus dem dialogisch aufgefaßten Wort wichtige Fol­ gerungen für die Lesetheorie ergeben. Sie sollen kurz in Stichworten zusammengefaßt von der Dialogizität zur Intertextualität überleiten. Mit der Abkehr von der Erforschung einer monologisch gedachten Sprache zeigt sich semiotisch die dialogische Vermitteltheit jeder Bedeutung und die prinzipielle Unabschließbarkeit der Sinnzuweisung. Die dialogische Bedeutungsvielfalt des Zeichens läßt selbst dem ernstgemeinten Wort eine unfreiwillige Komik abgewinnen, die als Hinweis für seine Polyvalenz gilt Aus der Sicht von Bachtins dialogischer Metalingui­ stik ist die scheinbare Monovalenz nur ein dürftiges Resultat dialogischer Prozesse, die an jeder Bedeutungszuweisung beteiligt sind. Die hörerseitige Realisierung einer dem Sprecher unterstellten univoken Intention kann nicht länger Gradmesser eines als richtig apostrophierten Verstehens sein. Die Konzentration auf das, was der Autor sagen will, ist per se mit einer Entleerung des Sinnpotentials verbunden. Für Bachtin steht und fällt die Lebendigkeit des Worts mit den Mundarten und Stilformen die sich seiner an­ nehmen. Der Akt des Verstehens ist ferner kein passives Geschehen, sondern interpretatorische Ant-Wort. Das Wort ist ein vom anderen übernommenes und gehörtes Wort, weswegen es schwer zu 'autorisieren* ist, wandert es doch von Mund %u M und (Bachtin). Wenn sich das Wort als eines entpuppt, das vom Mund des anderen abgelesen oder aufgelesen ist und so als dialogisches Wort in einer Zwiesprache steht, büßt es oft den Brustton der Überzeugung ein. Vom Wort, das dem anderen entlehnt ist, sich gegen ihn wendet etc., ist es nur ein Schritt zur Intertextualität als dem Verhältnis zwischen Texten und zu anderen textartigen Gebilden. Bereits Bachtin betont, „daß eine erweiterte Auffassung dialogi­ scher Beziehungen möglich ist: zwischen bedeutungshaften Phänomenen jeder Art, sofern diese mittels irgendeines Zeichenmaterials ausgedrückt werden“ (Bachtin: Karneval, 106). Intertextualität umfaßt nicht nur die offiziellen, ausgewiesenen Weiterverarbei­ tungen, sondern auch alle anderen Arten der Legierung von Texten mit Texten, Plagiat, Kommentar, Interpretation bis hin zu konspirativen und sogenannten unbewußten textuellen Interferenzen und wirkungsgeschichtlich unerklärlichen Affären (so würde ich die Verbindungen zwischen Heidegger und Freud taxieren). Auch die Übersetzung stellt eine intertextuelle Relation dar. Jakobson unterschei­ det drei Arten der Übersetzung (vgl. Jakobson: Semiotik, 483): neben der Übersetzung in eine andere Landessprache spricht er auch dann von Übersetzung, wenn fremde Rede in eigenen Worten wiedeigegeben wird. Eine solche Paraphrase ist eine innersprach-

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liehe Übersetzung und folglich intertextuell. Heidegger dagegen verzichtet auf eine klare Grenzziehung zwischen diesen beiden Typen:62 „M an m eint, das ’Übersetzen* sei die Ü b e rtra g u n g einer Sprache in eine a n ­ dere, d e r F rem d sp rach e in die M u ttersp rac h e o d e r a u ch u m g ek eh rt. W ir v e r­ ken n en jedoch, daß wir ständig auch sc h o n unsere eigene S p rach e, d ie M u ttersp rac h e, in ih r eigenes W o rt ü b e rs e tz e n ... In jed em G e sp rä c h u n d Selbstgespräch w altet ein ursprüngliches Ü b ersetzen .“ (H eidegger, zit. n. H .-D . G o n d c k , in: H irsch: Ü bersetzung, 270.)

Für Heidegger ist das Übersetzen eine „Zwiesprache“ (Heidegger, zit. n. L. Heidbrink, in: ebd., 362) und notwendigerweise eine schon forcierte Auslegung. Damit begegnet er von vomeherein philologischer Kritik an seinen Übersetzungen der Vorsokratiker. Als dritten Typ der Übersetzung läßt sich die Transmutation als intersemiotische Übersetzung nennen (Jakobson: Semiotik, 483). Eine solche intermediale Verbindung wäre beispielsweise eine Buchillustration, die ebenfalls als intertextuell zu gelten hat es wurden bereits Photographien von Heidegger erwähnt, die sich als Interpretanten seiner Philosophie lesen lassen. Intertextualität überkreuzt traditionell auf Autor und Leser verteilte Rollen, wenn in Umlauf gebrachter Sinn, wenn Kodes und Strukturen ein immer schon lesend-rezipierend verfaßtes Schreiben vor-schreiben, wenn jedes Sagen (lat. dicere) diktiert wird und sei es vom Sein selbst: „Das Denken sagt das Diktat der Wahrheit des Seins. Das Denken ist das ursprüngliche dictare.“ (Heidegger. Holzwege, 324.) Den von Bachtin geforderten Übergang vom dialogischen Wort zum „Dialog der Texte“ (Lachmann: Gedächtnis, 9; vgl. 56, Schmid: Dialog, 1) hat J. Kristeva vollzo­ gen.63 Man hat sich „ein Werk als die Replik in einem Dialog vor [zu] stellen“ (Bachtin: Wort, 167). Für die Seite der Rezeption bedeutet das: „jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten“ (Bachtin: Wort, 352), ein steter Dialog mit allen möglichen Kontexten. Die Fülle an Kontakten, die sich zwischen einem Text und anderen Texten ein­ stellt (Replik, Kritik, Kommentar, Interpretation, Zitat, Übersetzung, Anspielung bzw. Allusion, Variation, Parodie, Travestie,... ) macht für Kristeva die Vorstellung eines in sich geschlossenen und eigenständigen Werks obsolet. Das nicht nur literaturkritische Potential des Intertextualitätsbegriffs ist darin zu sehen, daß er mit Ideen wie „Einma­ ligkeit, Abgeschlossenheit, strukturale[r] Totalität, Systemhafdgkeit“ (Lachmann: Ge­ dächtnis, 56; vgl. 67) des isolierten Werks bricht. Auch die landläufige Trennung von Textproduktion und -rezeption wird durchlässig: Wenn ein Text sich früherer Texte bedient, sie sich einverleibt, gegen sie opponiert, Ant-Wort gibt, dann ist das Schaffen in f/y

Eine fundierte Auseinandersetzung mit der verwickelten Problematik der Übersetzung bei Heidegger lie­

fern insbesondere die Beiträge von H .-D . Gondek und L Heidbrink in dem Sammelband ÜBERSETZUNG UND DEKONSTRUKTION (vgj. HIRSCH: ÜBERSETZUNG, 263-372). 63 Wenn bisher auch versucht wurde, ’nur' den Gewinn von Bachtins Dialogizität für die Lesetheorie abzu­ schöpfen, wurde Bachtin dabei wohl schon mit J. Kristevas Konzept der intertextualité gelesen.

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L e s e t h e o r i e I:

ein Rezeptionsgeschehen verwickelt, ist Schreiben ineins „Weiter-, Wider- [sic.] und Umschreiben“ (Lachmann: Gedächtnis, 67). (Entsprechendes gilt für das Lesen wie fiir die Interpretation.) Autoren sind selbst Leser, wandelnde Bibliotheken, die nicht über jeden empfangenen Impuls Buch fuhren können. Der belesene Rezipient kann diese Einflüsse wie ein déjà-vu-Erlebnis (Riffaterre) registrieren, während der Lektüre an Fi­ guren anderer Bücher erinnert werden.64 Autoren verkehren mit zwielichtigen Ideen Dritter - „ M e in e Gedanken sind meine Dirnen“ heißt es bei Diderot (zit n. H. R. Jauß, in: Stierle: Gespräch, 401). All diese Interferenzen hinterlassen Kratzer, emgentzte 'Mono'gramme auf dem Bild des autarken Schöpfers. Kristeva wendet das Intertextualitätskonzept gegen „die Vorstel­ lung von der Identität des Werks sowie von seiner Zurückführbarkeit auf die personale Identität eines Autors ... als literarische Mythen des bürgerlichen Bewußtseins“ (K Stierle, in: Schmid: Dialog, 12). Über den Kamm der Intertextualitätsforschung ge­ schert, zieht das Werk Fäden wie eine Textilie, franst in alle Richtungen aus, scheint aber auch Verbindungen wieder aufzunehmen, aus denen es gewirkt erscheint. Der Text rückt intertextuell in ein diskursives Universum ein (vgl. Hoesterey: Schriftzeichen, 18). In den Worten von R. Barthes: „Schreiben bedeutet, an einem unermeßlichen In­ tertext teilzunehmen“ (zit. n. Ch. Grivel, in Schmid: Dialog, 53). Bei dieser Produktionsintertextualität geht es keineswegs um die Einflußforschung herkömmlicher Prägung, auf die man die Intertextualitätsforschung des öfteren reduzieren und sie damit ent­ schärfen wollte. Es geht nicht um ein Literaturrätsel für Philologen, nicht um die Frage: Woher hat der Autor das, was hat er gelesen? Dem intertextuellen Feld, der Allge­ meinheit des Diskurses und seiner spezifischen Form von Gedächtnis wird ein solches Identifizieren von Einflüssen nicht gerecht. Auch die Trennung von Produktions- und Rezeptionsintertextualität65 ist pro­ blematisch, ja sie wirkt etwas kleinkariert, denkt man an die unendlichen Semiose, in die Leser wie Verfasser verwickelt sind: Roland Barthes spricht von der „Unmöglich­ keit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben“ (Barthes: Lust, 54) in dem alle Ge­ danken und Texte kursieren, gehören sie doch dem Gemeingut des Symbolischen an. Wenn aber alles Text ist, ja sich die Texte nicht mehr als solche trennen lassen, dann hebt sich der Begriff der Intertextualität selbst auf. Die textontologische (R Lachmann; zit. nach Pfister Intertext, 15) Variante der Intertextualität, wie sie etwa Barthes vertritt, verschließt sich jedenfalls einer Re-Positivierung der Verhältnisse in der Form einer präzisen Angabe von Prätexten. Von Barthes her betrachtet ließe sich sagen, daß der Begriff der Inter-Textualität noch die klassische Idee irgendwie geschlossener und voneinander trennbarer Inter-Texte*6 64 Dieser Einflüsse versucht sich der Verfasser vielleicht zu erwehren. Nach Lachmann kann Intertextualität nicht nur den Charakter lustvoll wiederholender Partizipation oder spielerischer Transformation des Prätextes ha­ ben, sondern auch Tropik sein. Tropus meint nach H. Bloom (THE ΑΝΧΙΕΊΎ OF INFLUENCE) den ödipalen, „tragischen Kam pf gegen die sich in den eigenen Text notwendig einschreibenden fremden Texte“ (Lachmann: Gedächtnis, 39; vgL Hoesterey: Schnftzeichen, 12) und den Versuch, sie zu überbieten. 6^ Auf die Affinität zwischen der Rezeptionsintertextualität und dem rezeptionsästhetischen Ansatz sei hier nur hingewiesen (vgl Lachmann: Gedächtnis, 57).

EXPOSITION VERSCHIEDENER ANSÄTZE

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suggeriert. Die schlagen aber immer schon über alle Maßen in andere um, so daß ein Text nicht mehr ein abgrenzbares Etwas ist, das als Subjekt an etwas Zweitem, Drittem usf. partizipierte. Dies wird sich gerade an der Auslegung von Texten Heideggers zeigen, zu deren Intertexten ja nicht nur die Bücher seiner Bibliothek, sondern auch solche Texte gehö­ ren, die er selbst früher, aber auch später geschrieben hat. Wenn hier von InterTextualität gesprochen werden kann, dann zeigt sich hiermit der Korpus von Heideggers Gesamtwerk als in sich gegliedert, ja zerstückelt, in Mit-Teilung begriffen. Der Gesamtkorpus büßt seinerseits an Eigenständigkeit ein, wenn man ihn im Stoff­ wechsel mit anderen Texten, als Teil eines intertextuellen Metabolismus zeigt. Intertextualität versetzt vermeintlich monologische, eigenständige Texte in den Dialog zurück. Auf einer Börse der Ideen schlachtet ein Text andere aus, Texte ver­ kosten sich zitatweise oder inkorporieren sich zur Gänze, geben einander Replik usf.. Spendeorgane in dem fundamentalontologischen Korpus liefert die christliche Mystik, der deutsche Idealismus, Nietzsche, Platon, Parmenides ... D er Anteil an Transplanta­ ten nimmt bei Heidegger derart überhand, daß streckenweise nicht mehr von einem se­ parierbaren philosophischen Korpus gesprochen werden kann, wenn etwa in Heideggers Darstellung des Willens %ur Macht ab Kunst in seinem NIETZSCHE I die Stimmen beider ununterscheidbar werden, bis sich im nachhinein ein Bruch mit Nietzsche abzeichnet. Heideggers Texte teilen (sich) einander (mit), schneiden sich und andere Texte so oft an und auf, daß es in diesem ’Inter' dem Text an Einheit und überhaupt an Unterscheidbarkeit von S(p)ender und Empfänger gebricht. Zu denken wäre eine Mit-Teilung der Texte, „... die nicht als äußerliche Verbindung bereits fester sprachlicher Identitäten mißverstanden werden darf, sondern als nachträglicher Effekt eines intertex­ tuellen Einschnitts gelesen werden muß - [sie] läßt den Text ’verschlungen’ werden, gebrochen, diachron. Aber diese Diachronie ist keine Chronologie mit festgelegten Daten... Dieses Vorher/ Nachher jedoch schneidet in das Innere der Textäußerungen ein, um in ihnen einen Schnitt zu hinterlassen, an dem sich die Signifikanten reihen und so ihre ganz spezifische Wärme erhalten." (Geier. Studien, llf.) Spricht man aus textgenerativer Sicht von einem Prä-Text, so stützt man sich auf eine lineare Vorstellung von Zeitlichkeit, die mit dem radikalen Intertextualitätskonzept, das auf eine Trennung der Produktions- von der Rezeptionsintertextualität verzichtet, nicht vereinbar ist Die Produktionsintertextualität läßt sich eher als die Rezeptionsintertextualität an üblichen wissenschaftlichen Standards zulässiger Interpretation messen. So können Le­ sespuren in den Büchern der Bibliothek eines Verfassers oder seine Zettelkästen als Quellen für einen validen Nachweis von Einflüssen Geltung beanspruchen, insbeson­ dere wenn sich für den intertextuellen Verweis ein textueller Marker ausmachen läßt. Aber auf Seiten der Rezeptionsintertextualität könnte der Leser ja jeden Text mit jedem kreuzen, jeden Text mit jedem korrelieren, ja „durchaus mit später geschriebenen Tex­ ten in einen fruchtbaren Zusammenhang bringen" (R. Grübel, in: Schmid: Dialog, 229f.).

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L e s e t h e o r ie

I:

„[D abei] ... gilt, daß zw ar d u rc h die D o p p e lk o d ie ru n g u nd d eren Signale b e ­ stim m te in tertextuelle W ege gew iesen w erden, daß a b er d e r Leser diese n ic h t b e sch reiten m uß. E r kann sein eigenes L esem uster einbringen und die v o rp ro ­ gram m ierte S in n k o n stru k tio n n u r als eine u n te r anderen m öglichen vollzie­ hen. U nd es kann sein, daß sein L eseh o rizo n t d e n des T extes ü b e rsc h re ite t, daß e r das P ro g ra m m übererfüllen u n d A ssoziationen schaffen kann, die e in ­ m al m e h r d ie O ffe n h e it u n d U nabschließbarkeit solcher T exte bestätigten] . .. " (L achm ann: G e d ä c h tn is, 86f.).

Der Verfasser behält also auch dann nicht die Fäden in der Hand, wenn er Spuren, Wegmarken legt, um durch dialogische Verweisungssignale den Leseakt in kontrollierte Bahnen zu lenken. Solche Markierungen und Köder liest nur der implizite Leser als der „vom Text präsupponiertefl ideale [] Rezipient[]“ (R. Grübel, in: Schmid: Dialog, 228) resdos auf. Daß der empirische Leser gegenüber dem impliziten heillos ins Hintertreffen gerät, zeigt sich bei Autoren wie J. Joyce oder A. Schmidt66. Deren Texte sind sicher ungemein gebildet (von anderen Texten) sind polyglott in ihren Anspielungen. Sie über­ lassen aber auch den Leser seinen Assoziationen, den Verbindungen, die er herstellt „ N ic h t die T atsa ch e d e r Filiation en tsch eid e [M R iffaterre zufolge] ü b e r d ie R elevanz v o n Ä hnlich k eiten zw ischen zwei W erken, so n d e rn die B e zieh u n g , die d e r L eser selb st h e r s te llt. . . , u n d zw ar aufgrund d e r T atsache, d a ß sich ih m b ei d e r L ek tü re eines T extes, b ezogen a u f dessen ’N o rm ’, U n g e reim th e ite n (’Anom alien*, 'A gram m atikalitäten* im w eitesten Sinne) au fd rän g en u n d e in e n 'in te rtex tu ellen M echanism us* auslösen dergestalt, daß d er L eser d e n U r­ sp ru n g s o rt dieser E le m en te a u fsu c h t u n d aus d er D ifferen z die ’signifiance* des v o r ih m liegenden T extes g e w in n t D ie vom L eser v o rg e n o m m en e B e z u g ­ se tzu n g g e sch ieh t dabei, wie R iffaterre b e to n t, keineswegs willkürlich; sie b e ­ stim m t sich vielm ehr n ach strukturellen M u stern (zu d e n e n die v e rb u n d e n e n T ex te jeweils V arianten darstellen) . . . " (W. Stem pel, in: Schm id: D ialog, 88£).

Die Einfälle des Lesers sind damit keineswegs bloß subjektive Assoziationen, sondern Kristallisationen der (inter)textuellen Bewandtnis. Der Ein-Fall ist also keiner, der sich entweder Heidegger oder dem Leser oder dem Autor des Prätextes zurechnen ließe, es handelt sich vielmehr um das Geschehen wechselweiser Besetzungen, die Texte unter sich erleiden und aus denen sie sich ihrerseits speisen. Der Leser ist ein Musterheft, er ist die Stätte der Mit-Tdlung von Text mit Text, ja „das Lesen ist ein praktizierter Intertexf* (Ch. Grivel, in: Schmid: Dialog, 57), ist „Intertextualisierung* (ebd., 66). Letztlich ist der Leser nach Riffaterre selbst der Intertext, also „das Ganze von Texten, die man mit dem Text, der zu lesen ist, in Verbindung setzen kann; das Ganze von Texten, das man in seinem Gedächtnis bei der Lektüre vorfin­ det“ (Riffaterre, zit n. Ch. Grivel, in: Schmid: Dialog, 58). Als Ko-Text und Ko-Autor ist das Ich des Lesers Teil einer unendlichen Bibliothek, „Pluralität von anderen Texten, 66 Amo Schmidt „beschreibt seine Methode in ZETTELS TRAUM (1970) mit einem Begriff der Botanik, der sogenannten 'Gallenbildung'. Die 'Gallenbildungf findet statt auf den 'Wirtspflanzen', den Primärtexten also, und fuhrt zu sekundären Gebilden, den parasitären Texten." (Lachmann: Gedächtnis, 73f.) Schmidts oben er­ wähnte Etym-Tbeorie erweist sich als eine Theorie des dialogischen Worts, in dem das Unbewußte immer seine E tym mitspricht (vgl. ebd., 84).

E xposition verschiedener Ansätze

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von Codes“ (Barthes, zit. n. Hoesterey: Schriftzeichen, 17).67 Das von Texten besetzte psychische Terrain des Lesers steht dem Intertextuellen nicht mehr als ein autarkes Ich gegenüber „ E n tsp re c h e n d h a t die A uflösung des T exts in ein M osaik v o n Z ita te n d ie F u n k tio n , die Spiegelbeziehung zw ischen E rzä h le r u n d L eser in ein en m e h r­ dim ensionalen D ialog aufzulösen. D as Subjekt d e r A ussage u n d d e r L eser als Subjekt d e r L ektüre koinzidieren als Subjekt im P ro z e ß .“ (U. H aselstcin & J. P e m e r in: H örisch: E ingebildet, 154.)

Leser wie Interpret treten weder als passiver Empfänger, noch als Akteure der Dekonstruktion in Erscheinung. Chemisch ausgedrückt hat der intertextuelle Lektüremodus katalytische Funktion für die Auto-destruktion des Textes, der seine Themen und seine monologische Aussageebene immer schon hintertreibt. Die textuelle Bewandtnis von Heideggers Texten erschließt sich über Texte Dritter, aber auch durch Texte, die Heidegger früher oder später verfaßt hat. Von der Intertextualität %um ersten Lesezirkel Damit dürfte die Bedeutung von Bachtins dialogischem Wort und der Intertextualität für die lesepsychologische Fragestellung wie für die Hermeneutik aufgezeigt sein (vgL Ch. Grivel, in: Schmid: Dialog, 60). Es ist kaum zufällig, daß sich in der Intertextualitätsdebatte vereinzelt Verweise auf Heideggers fundamentalontologische Hermeneutik finden. „U nser Paradigm a des intertex tu ellen L esens stä n d e w o h l G a d am e rs ’Z irkel des V erstehens' naher, d e r fü r letz te ren eine D e k o n stru k tio n - via H e id e g g e r - v o n Schleierm achers h e rm e n eu tisc h em Zirkel darstellt. W ie d e r 'Z irkel d es V erstehens', so gibt sich die In te rte x tu a litä t des L esens w ed er subjektiv n o c h objektiv, 'so n d e rn be sc h re ib t das V e rsteh e n als ein In e in a n d ersp ie l d e r B e w e ­ gu n g d er Ü berlieferung u n d d e r B ew egung des In te rp re te n .'“

(H o e stere y :

S chriftzeichen, 35.)

Würde demnach Heidegger gute Miene zur Intertextualität machen müssen? Der Ver­ weis auf Heideggers Theorie der Auslegung kann aber auch in der Form eines kriti­ schen Verweises für die Intertextualitätstheorie ausfallen. Stierle macht mit Rückgang auf Heidegger hinter der semiotischen Relation zwischen Texten den Sachhezpg stark, „ .. . d er als dieser das V erhältnis d e r T ex te z u e in a n d e r ü b e rsc h re ite t u n d d a ­ m it auch die intertextuelle zu einer a n d ere n als intetiextuellen R elatio n m a c h t. D ies ist v o n M. H eidegger in seinem B u ch Kant und das Problem der M etaphysik (1929) m it E indringlichkeit v e rd eu tlic h t w o rd en . H eideggers B u ch ist n ic h t

^ Von der Einvtrieibung der Texte beim Lesen und dem Zusammenhang mit psychoanalytischen Theorien der

Introjektion und Identifikation wird in Ltsethcoric I V die Rede sein. Renate Lachmann hat eine monographische Darstellung zur Intertextualität unter das Motto GEDÄCHTNIS UND LITERATUR gestellt und entwirft „die Interpretation der Intertextualität (konkreter Texte) als eines mnemonischen Raumes, der sich zwischen den Texten entfaltet, u n d ... [behandelt] den Gedächtnisraum innerhalb konkreter Texte“ (Lachmann: Gedächtnis, 11; vg|. 35).

L e s e t h e o r i e I:

nur mit Kants Kritik der Urteilskraft durch eine große Dichte expliziter intertextueller Bezüge verknüpft, es reflektiert zugleich darüber, was in diesem Be­ zug sachlich geschieht. Heidegger fragt, was es heißt, ein Grundproblem zu wiederholen, das in einem philosophischen Text dargclcgt ist Indem der In­ terpret die Frage zurückgewinnt, auf die der Text eine Antwort war, wird die­ ser auf seine Voraussetzung hin überschritten. Die Wiederholung des Orundproblems* führt zurück in einen sachlichen Grund, von dem aus der Text dann selbst überschritten werden kann.“ (K. Stierle, in: Schmid: Dialog, 16.)

In durchaus heideggerscher Logik wird hier die Frage, bzw. das Zu-Denkende oder der sachliche Grund als dem intertextuellen Verhältnis vorgängig, als so etwas wie sein transzendentaler Grund behauptet Damit wendet sich Stierle gegen die von Kristeva und anderen von der Intertextualität erhoffte Dezentrierung des Werks. Das Pochen auf den sachlichen Grund soll dem „Werk ... seine eigene Autorität“ (ebd., 17) sichern. Der erste Lesezirkel Kant aus ^weiter Hand wird diese sich auf Heidegger berufende kritische Haltung gegenüber der Intertextualität mit einer intertextuellen Analyse des von Stierle genannten Kantbuchs erwidern. Dabei wird sich das „babylonische Spra­ chengewirr“ (Bachtin: Wort, 171), das sich aus dem Kantbuch heraushören läßt, nur teilweise auf einen Kant und Heidegger gemeinsamen sachlichen Grund zurückfuhren lassen. Nicht nur ist Heideggers thematischer Blickpunkt auf die von ihm ausgelegten Texte gegenüber dem des jeweiligen Verfassers allzuoft ex-zentrisch; darüberhinaus wird der von Heidegger in den Vordergrund gespielte thematische Horizont seiner phi­ losophischen Auseinandersetzung mit Kant selbst wieder von parallelen dialogischen Beziehungen begleitet, die ganz andere Wege nehmen als das vordergründige Thema. Zusätzlich zu den Verweisen auf den Prätext68 des Kantbuchs, Kants KRITIK DER REINEN VERNUNFT, mischen sich die von Stierle explivjt genannten intertextuellen Bezüge auf die KRITIK DER URTEILSKRAFT69 - die übrigens von Heidegger kaum erwähnt wird. Zusätzlich werden Stimmen Kants aus seiner sogenannten vorkritischen Zeit die Problematik von Heideggers Kantbuch in einer von Heidegger wohl kaum ge­ planten Weise mit dem fremden Wort Kants anreichem. In vielen Fälle dürfte es sich bei den befremdenden Elementen, den fremden Stimmen, die an Heideggers Text mitwirken, ihn organisieren, um eine latente Intertex­ tualität handeln, die von der manifesten Intertextualität und den dabei bewußt einsetzbaren Referenzsignalen unterschieden wird.70 Als implizit, wenn nicht latent71, möchte 68 Die Terminologie der Intertextualitätsforschung ist oft verwirrend Als weitere, teilweise spezifizierende, Begriffe für den Prätext, zu dem ein Text Kontakt herstellt, sind im Umlauf* Referenz text, Sub-, Proto-, Geno-, Quellen-, Objekttext e tc (Schmid, in ders.: Dialog, 143). Daneben trifft man auf Hypotext, Hypertext, Anatext, Paratext, Intertext, Transtext, Pbänotext, Metatext, Autotext (Lachmann: Gedächtnis, 55). 69 Man kann im Titel von Heideggers Vortrag Der Ursprung des Kunstwerks- bzw. in der Abkürzung UdK —ein Anagramm von Kants Ästhetik in der KRITIK DER URTEILSKRAFT (KdU) lesen. 7^ Bereits der Bachtinkreis stand in kritischer Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse. Unter dem Namen von Volosinov erschien das Buch DER FREUDISMUS, das von Bachtin entworfen, wenn nicht geschrieben sein soll (vgl. R. Grübel, in: Bachtin: Wort, 13, 65f.). Es geht gar das Gerücht, Volosinov existiere nur als Pseudonym. Kristeva und Riffaterre lassen in die Intertextualitätsdebatte Konzepte Freuds und Lacans ein­ fließen. So findet sich in der Intertextualitätstheorie verschiedenes psychoanalytisches Vokabular wieder zu

E x p o s it io n

v e r s c h ie d e n e r

A n sä tze

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man die verdeckten Kontakte einschätzen, die das Kantbuch zu Husserls LOGISCHEN UNTERSUCHUNGEN aufnimmt und zwar vermittels einer Vorlesung Heideggers, in der er über eine Ansichtskarte von der Weidenhauser Brücke spricht, die mit der husserlschen Lehre von der Abschattung (= perspektivierende Ansicht, s. u. S.126ff.) dialogisiert Es genügt, die Interferenz von Texten zu zeigen, ohne sich entscheiden zu müs­ sen, ob hier eine bewußte Persiflage, eine Kritik an Husserl oder eine latente Verbin­ dung vodiegt. Wichtig ist vielmehr, daß Husserls Text als Intarsie in dem Text Heideggers Sinn macht, daß er sich zur Übertragung eignet - auch im psychoanalyti­ schen Sinne.72 Als intertextuell sollen nicht nur jene Vernetzungen betrachtet werden, die sich zu Heideggers Prätexten und zwischen sämtlichen Texten Heideggers aus den unterschied­ lichsten Jahren hersteilen lassen, sondern auch solche zwischen biographischen Details und seinem Denken, etwa zwischen Heideggers Tätigkeit im Postwesen zu Kriegszei­ ten und seinem philosophiegeschichdichen Begriff der Schickungen des Seins bzw. die Verwindung metaphysischer Sendungen in der Post-Metaphysik. Besonderes Interesse verdient die intermediale Intertextualität (R. Grübel, in Schmid: Dialog, 223f.) zwischen der philosophischen Textsorte und späten Photographien, die Digne M. Marcovicz von Heidegger fur den SPIEGEL aufgenommen hat. Viele der interpretatorisch hergestellten intertextuellen Bezüge dürften unter das fallen, was Freud 1937 KONSTRUKTIONEN IN DER ANALYSE nannte.73 Wie ist es zu erklären, daß Heidegger als Interpret von Hölderlins Hymne DER RHEIN und in seinem Schellingbuch ungewollt zum Kommentator von Freuds ENTWURF EINER PSYCHOLOGIE wird, den er nie gelesen haben dürfte, daß sich sein Schema des Gevierts topischen Schemata von J. Lacan unterlegt? Die flüchtige Be­ kanntschaft Heideggers mit der Psychoanalyse, vermittelt über den Psychiater und nennen sind die Entstellung, die Unterscheidung manifester und latenter Intertextualität, das Modell des Wun­ derblocks und des Palimpsests (vgl. Lachmann: Gedächtnis, 77), die Oberdeterminierung (Doppeltkodierung) bei Riffaterre (ebd, 80). 7* Die Kategorisierung nach intendierten und erschlossenen unbewußten intertextuellen Bezügen ist jedoch struktural gesehen abkömmlich und sekundär. Im Zerrbild, das von psychoanalytischer Theorie verbreitet wird, stellen sich Phänomene wie der sprachliche Lapsus oft als unbewußte Tendenzen dar, die häufig als rekonstruierbare quasi-Intentioncn betrachtet werden. Auch texttheoretisch ist der Rekurs auf bewußte oder unbewußte Intentionen' mißlich. A J. Greimas findet die Unterscheidung bewußt/ unbewußt „nicht triftig** (Greimas: Isotopie, 148), die „Termini Twtfund Meta-Text... [seien] weniger kompromittierend denn die Ter­ mine [sic.]; manifester Plan und latenter Platt* (ebd, 149). 72 Verschiedene Formen der Intertextualität lassen sich hinsichtlich ihrer Obertragungsstruktur analysieren. Sean Hand schreibt: „The notion o f text afs transference can therefore be used in a truly intertextual way in order to think through both the relationship between book and reader (where reader may include author) and the work's situation within an intertext.*4 (Sean Hand: Missing, 82) Die Dynamik der Übertragung und Ge­ genübertragung ähnele Theorien der Intertextualität, „which locate meaning not in the author or reader but in the intermediate region o f reading*4 (ebd). Dem Lesen als Übertragungsphänomen ist Lesetheorie ΙΠ gewidmet 73 Aufgabe des Analytikers sei es, so Freud, „das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruierest' (Freud GW. XVI, 45). Die Plausibilität einer Konstruktion im Le­ sezirkel bemißt sich anhand bestätigenden intertextuellen Materials.

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L e s e t h e o r ie

I:

Daseinsanalytiker M. Boss, datiert erst aus den Nachkriegsjahren. Es dürfte sich also bei der ontologisch-psychoanalytischen Korrespondenz überwiegend um ein Phänomen der Rezeptionsintertextualität handeln, um einen Kontakt also, den der Verfasser zwi­ schen der Psychoanalyse und der Fundamentalontologie herstellt Einem solchen Unternehmen aber müssen beide Textsorten irgendwie entgegenkommen, sonst ließen sich nicht strukturelle Homologien zwischen beiden Dialekten' konstruieren, es würde sich kein produktiver Dialog zwischen Freud und Heidegger ereignen. Wie lassen sich aber diese unterschiedlichen intertextuellen Beziehungen klassifizieren? Die Intertextualitätsforschung stellt eine differenzierte Taxonomie zur Verfügung. Sie unterscheidet etwa textuelle Intertextualität, Rezeptions- und Produktionsintertextualität, explizite und implizite, manifeste und latente, intramediale, bi- und multimediale Intertextualitat. Eine Auffächerung der Intertextualitat, welche die Affären zwischen Texten zu geordneten Beziehungen positiviert, wäre aber kontraproduktiv. Es wurden bereits gute Gründe genannt, in einer Psychologie des produktiven Lesens solche Diffe­ renzierungen sparsam und nie ohne Ironie zu verwenden. Damit sollen keineswegs un­ terschiedliche Verhältnisse zwischen Texten egalisiert werden, sondern soll auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht werden, einen bestimmten Typ der Intertextualität zu identifizieren. Wollte man beispielsweise einen Rekurs Heideggers auf Texte Dritter - ja sogar auf seine eigenen Texte - als ironische Replik oder als Zustimmung, als Stilisierung qualifizieren,74 würde man die Polyphonie der Texte auf einige Obertöne reduzieren, für die man empfänglich ist, würde man als Rezipient dem Textproduzenten (etwa Heidegger) bestimmte Einstellungen zum fremden Wort (etwa Nietzsches) zuschreiben. Unterstellt man solche Haltungen, so blendet man mögliche affektive Ambivalenzen dem Prätext gegenüber, sachliche Zweischneidigkeiten, die Vielschichtigkeit des Ver­ hältnisses etc. aus. Spezifizierungen der Intertextualität nach Rezeption oder Produktion, Fehlleistung oder Intention etc. sind allzuoft Versuche, Ungewißheit zu reduzieren, aus dem Feld der Unentscheidbarkeit zu gehen. Hinter den Typologisierungen der Intertextualität durch G. Genette und andere steht die Tendenz zur „Reakademisierung des Konzepts" (Lachmann: Gedächtnis, 64), es setzt die „Zähmung der intertextuellen Strategien ein" (ebd.). Die Konstruktion einer hieb- und stichfest philologisch erwiesenen Interrelation zwischen zwei Texten ist sicher eine Reduzierung der Intertextualität auf die Einfluß­ forschung. Bildungsintertextualität (M. Pfister), die nur Belesenheit demonstriert, dreht aber vor den radikalen Implikationen der Intertextualitätstheorie ab, die sich aus dem folgenden Reigen der Texte ergeben werden.

74 Wohl in Anschluß an Bachtins dialogisches Wort, das Stellung beseht, schreibt Scierie: „Die Intertextuali­ tät1ist keine bedeutungsleere und intentionslose Verweisung. Das hermeneutische oder pragmatische Verhältnis eines Textes zu einem Text mag das der Applikation sein oder der Überbietung, der Aufbietung einer Autori­ tät, der ironischen Distanznahme, der Erweiterung, der Korrektur oder der Ausschöpfung eines Spiel­ raum s...41 (K. Sderle, in: Schmid: Dialog, 15).

E xposition verschiedener Ansätze

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ERSTER LESEZIRKEL KANT AUS ZWEITER HAND

1. Interpretation als Akt der Gewalt A bnß des ersten Leseyrkels Heidegger sah sich vor. Als er seinen Kant aus zweiter Hand der Öffentlichkeit übergab, sollte ihm keiner etwas vorzuhalten haben. Den Vorwurf, er habe Kant Gewalt ange­ tan, zieht er dabei aber auf sich - in rhetorischer Absicht Ohne eine Lesetheorie zu explizieren, hebt Heidegger darauf ab, in jeder Interpretation habe man notwendiger­ weise eines zu gebrauchen: Gewalt. Von einer produktiven Lektüre der Philosophie Heideggers läßt sich ihrerseits er­ warten, daß sie forciert sein muß. Dabei kann man von Heideggers Destruktion der klassischen Metaphysik und der davon inspirierten poststrukturalen Dekonstruktion Jacques Derridas profitieren. Was diese Überlegungen für die Architektonik von Kants KRITIK DER REINEN VERNUNFT bedeuten, wird sich anschließend anhand von Heideggers Analysen der Erkenntnisquellen zeigen, die Kant in seiner transzendentalen Ästhetik und transzen­ dentalen Logik untersucht. Schon in der Darstellung dieser beiden Stämme kommt es bei Heidegger zu einer Gewichtsverlagerung zugunsten der Sinnlichkeit. Die anhand der transzendentalen Ästhetik entwickelte Logik des in der Anschauung Gegebenen wird bei Heidegger streckenweise auch für die kategoiiale Ebene tonangebend: der Begriff sieht das Gemeinsame heraus. Unter der Hand destruiert Heidegger so implizit Kants strikte Unterscheidung beider Erkenntnisquellen, bevor er Kants Frage nach ihrer mög­ lichen Vermittlung nachgeht und im Schematismuskapitel das artikulierende Moment erkennt, das er fast zum Vermächtnis Kants stilisiert. Dabei mischen sich in Heideggers Auslegung der transzendentalen Einbildungskraft auch Stimmen des Neuen Testa­ ments, die sich als implizites Gleichnis des Schematismusproblems entpuppen werden. In gewisser Weise ist die Frage des Gleichnisses die des Schematismus: wie lassen sich Sinn und Verstand aufeinander abgleichen? In welcher Weise lassen sich überhaupt Begriffe auf die Anschauung beziehen oder gar visualisieren? Lassen sich Sinn und Verstand überbrücken? A uf diese Frage scheint eine Ansichtskarte zu antworten, die Heidegger in eine frühe Marburger Vorlesung mitbrachte. Sie ist eine Art Andenken an den Phänomenologen Edmund Husserl, der Heidegger über Kant die Augen geöffnet haben soll. Dane­ ben lassen sich diverse Photographien ins Spiel der Semiose bringen, auf denen zu sehen ist, wie ein Gewächs Heidegger die Augen verdreht. Diese Pflanze wird sich als Schema des Schematismus, also als Versinnlichung der Verwurzelung von Sinnlichkeit und Verstand in der Einbildungskraft lesen lassen. Im Text Heideggers schwingen immer wieder parasexuelle Attribute der beiden kantischen Erkenntnisstämme und ihrer Fuge mit, mit denen man Heidegger spielen

sieht, wobei er hinter die Polarität von Rezeptivität und Spontaneität zu deren Wurzel zurückzugehen beansprucht. Alles Wurzelartige strapaziert Heidegger in seinem Kant beinahe fetischistisch, wie sich zeigen wird. Die Fragen nach der Eigenart der Geschlechter, ihrer scheinbaren Polarität und nach der Möglichkeit ihrer Einheit in einem dritten Geschlecht sind in h a ltlic h nicht zuletzt von psychologischem Interesse. Durch Kreuzung verschiedener Texte Heideggers läßt sich nämlich nachweisen, daß er über die beiden Erkenntnisstämme bei Kant implizit eine Theorie der Geschlechtlichkeit entwickelt. Die M ethodik Heideggers erinnert an die Psychoanalyse: über einen Vergleich der Erstausgabe der KRITIK DER REINEN VERNUNFT mit der zweiten Auflage kommt Heidegger zu dem Schluß, daß die Einbildungskraft dort einer sekundären Bearbeitung, wie Freud sagen würde, unterzogen wird, was Heidegger auf die beängstigende Di­ mension der Einbildungskraft zurückfuhrt. Ihr dürfte Heidegger aber selbst erlegen sein: bezeichnend ist nämlich, welche —gerade klinisch relevanten —Abseitigkeiten der kantischen Einbildungskraft er ausblendet. Epistem ologisch gesehen weist die formale Stellung der Einbildungskraft als dasjenige, was Anschauungs- und Verstandesform artikuliert, Parallelen zur Formel des Phantasmas von Lacan auf, wie H.-D. Gondek gezeigt hat Problematischer noch als der Übergang zwischen Sinnlichkeit und Verstand für Kant gestaltet sich bei Heidegger das Verhältnis zwischen ontischen Metaphern und dem Sein. Kann das Sein photogen sein? Eine Frage, die etwa die Hälfte dieses Lese­ zirkels beschäftigen wird. Die These lautet, daß verschiedene Photographien, die Heidegger von sich, seiner Hütte, seiner Frau und verschiedenem Zeug machen ließ, eine philosophische Mission haben. Diese Photos werden auch die folgenden Kapitel interpunktieren. Heideggers theoretische Ausführungen zu Schema, Bild und Photogra­ phie im Zusammenhang mit Kant sind bedeutsam für Heideggers eigene Versuche ei­ ner Überfahrt vom Seienden zum Sein. Es soll der Versuch unternommen werden, diese Abbildungen nicht auf der Ebene des Familienalbums, des Publizistischen oder Dokumentarischen zu belassen, sondern in ihnen philosophische Sujets zu erkennen. Kann man über Heidegger oder gar seine Philosophie im Bilde sein? Viele Photo­ graphien und Beispiele, die Heidegger gibt, lassen sich als Schematismen des Seins lesen. Diese machen sich um so komischer aus, als Heidegger auf Photographie, Film und überhaupt auf das Metaphorische nicht gut zu sprechen ist und nicht müde wird zu beteuern, daß das Sein von anderer Art sei als das Seiende. Dennoch scheinen in seinen Texten immer wieder potentielle Schemata auf, ja das Sein macht in einer Vorlesung zu Kant ulkige Geschichten wie die vom Dreieck und der lachend^ Magd. Es läßt sich also in und um Kant herum genug Stoff für den darauffolgenden Abschnitt sammeln, der sich den Implikationen der Witztheorie für eine Theorie des Lesens zuwendet. Hierauf dürfte wohl zu klären sein, was etwa Heideggers Philosophie der Kunst streckenweise so komisch macht. Der Kunstwerkaufsatz von 1935/36 gehört inso­ weit in den Umkreis von Kant aus ^weiter Hand, da Heidegger in der Kunst eine beson­ dere Art der Versinnlichung sieht Vor dem Hintergrund eines Schematismus des Seins, der Aletheia, werden Schuhe aus Gemälden van Goghs einer eingehenden Betrachtung unterzogen, wobei sich im Anschluß an Lacan und Derrida die fetischistische Bedeu-

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E rster L esezirkel :

tung dieser Schuhe für den Diskurs des Seins, bzw. des Seinsmangels (Lacan) zeigen läßt. In der Nähe dieser Schuhe wird auch Hegels Strumpf seine erheiternde Wirkung entfalten. Mit Strümpfen und Schuhwerk stellt Heidegger Übedegungen über das Sein und die ontologische Differenz an. Die Läufe des Hasen und die knapp gehaltenen Beine des Igels säumen Heideggers Denkweg, begleiten seinen Abschied von der ontologi­ schen Differenz. Nachdem das Verhältnis zwischen ontologischer und sexueller Diffe­ renz vom Grimmschen Märchen her beleuchtet wurde, läßt sich abschließend zeigen, daß in Heideggers Kant aus ^weiter Hand immer auch von der Zweiheit der sexuellen Geschlechter und ihrer fraglichen Einheit die Rede war und welche Bewandtnis es hierbei mit dem Wesen des Turms hat, der bei Heidegger beinahe zu einem Treppen­ witz wird.1 Methodische Vorüberlegungen \um forcierten Lesen SEIN UND ZEIT gilt als das Hauptwerk Heideggers, allerdings blieb diese 1927 erschienene Schrift unvollendet. Angelegt war sie nämlich auf eine „zweite Hälfte“ (Heidegger Zeit, VII) hin. Im ersten Abschnitt des Fortsetzungsbandes sollte Kants Zeitkonzeption moduliert in die Temporalität Heideggers münden. Fast scheint es so, als sollte Heidegger Kants bessere Hälfte abgeben. SEIN UND ZEIT aber wurde nicht fortgesetzt, da sich die Durchführung dieser „Destruktion“ (Heidegger Zeit, 22) Kants nicht mehr in den fundamentalontologischen Rahmen habe einpassen lassen, so daß es bei der ersten „Überlieferung“ (Heidegger Sache, 10) blieb. Unter dem Vorhaben der Destruktion Kants versteht Heidegger eine Reform(ul)ienmg der kritischen Philosophie hinsichtlich der Grundstellungen ihres Ansatzes. Man könnte von Posen sprechen, zu denen sich Kant Heideggers Seinsfrage zuliebe zu bequemen h at Der Tenor von Heideggers Auslegung geht dahin, daß sich Kant die Zeitlichkeit zwar aufgedrängt habe, ohne daß er sich aber über ihren Stellenwert hätte Klarheit verschaffen können. Gegen den Vorwurf einer tendenziösen Lektüre Kants gibt Heidegger zu bedenken: es gibt keinen Kant an sich, keinen richtigen Kant: „ A l l e philosophische Interpretation ist in rieh De­ struktion, Auseinandersetzung und Radikalisierung“ (Heidegger Einleitung, 168). Zwei Jahre nach dem Erscheinen von SEIN UND ZEIT hält Heidegger noch an dem geplanten Fortsetzungsband fest, dessen „vorbereitende Ergänzung“ (Heidegger Kantbuch, XVI) das Kantbuch - so nennt Heidegger KANT UND DAS PROBLEM DER METAPHYSIK - liefere. Wie angekündigt, legt Heidegger den Schwerpunkt seiner Interpretation auf „Kants Lehre vom Schematismus“ (Heidegger Zeit, 40).

1 Schwerpunktmäßig gehen folgende Texte Heideggers in den Lesezirkel zu Kant ein: L 1925/26: LOGIK: DIE FRAGE NACH DER WAHRHEIT (Kürzel: Logik],

2.

1927/28:

PHÄNOMENOLOGISCHE

INTERPRETATION VON KANTS KRITIK DER REINEN VERNUNFT [Kürzel: Interpretation], 3.1929: KANT UND DAS PROBLEM DER METAPHYSIK [Kürzel: Kantbuch], 4.1935/36: DIE FRAGE NACH DEM DING: ZU KANTS LEHRE VON DEN TRANSZENDENTALEN GRUNDSÄTZEN [Kürzel: Frage]. Wichtig für die Frage eines ontologischen Schematismus - wenn auch ohne expliziten Bezug auf Kant - ist 5.1935/36: d e r U r s p r u n g d e s K u n s t w e r k s [in: Holzwege, 1-72].

K ant

a u s z w e it e r

H and

s

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Die fundamentalontologische Destruktion geht nicht mit einer Abbruchbime ge­ gen Kants System vor, sondern versucht im Schematismuskapitel der KRITIK DER REINEN VERNUNFT (Ausgabe A 1781, B 1787) die verdeckte Rolle der Zeitlichkeit und damit den Zusammenhang von Sein und Zeit aufzuweisen. Auch wenn es die Destruktion auf eine Destabilisierung der kantischen Architek­ tonik des reinen Verstandes anlegt, so kennzeichnet Heidegger sein Verfahren mit Wor­ ten, die wie ein Echo auf Kants Ambitionen klingen: die Destruktion der klassischen Metaphysik am „Leitfaden der Seintfrage“ (Heidegger: Zeit, 22) vollziehe sich über den N achw eis der H e rk u n ft d er o n to lo g isc h e n G ru n d b e g riffe , als u n te r s u ­ c h en d e A u s s te llu n g ih re s 'G e b u r ts b r ie f e s ' für sie ... [Eine stru k tio n

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p o sitiv e n

M öglichkeiten, u n d das b esagt im m er, in ih ren G r e n z e n ab stec k en . . . " (ebd.).

Eine solche Ausstellung oblag ursprünglich Kant, der den reinen Begriffen a priori ihren „Geburtsbrief* (vgl. Kant: Vernunft, A86)2 ausstellen wollte. Die Ausstellung hat hier nicht nur die Bedeutung eines Akts, in dem Papiere ausgestellt werden. In Heideggers Kantbuch geht es auch um eine - nur scheinbar museale - Zurschaustellung Kants. Heidegger gefällt sich in der Rolle eines Führers durch die Philosophiegeschichte, die er später als „Seins-Geschick“ (Heidegger Sache, 9) zur Geltung bringen wird. In einem Brief vom 20.12.1931 an K. Jaspers sieht sich Heidegger als Philosoph in der Rolle des „wissenden Führers und Wächters“ (zit. n. Safranski: Meister, 255), des Aufsehers im Museum der großen Philosophie, wobei es ihm obliegt, daß die „Vorhänge an den Fenstern in der rechten Weise auf- und zugezogen sind, damit die wenigen großen Werke der Überlieferung“ (zit. n. ebd., 254) ins rechte Licht gerückt werden. Auf diese dramaturgischen Qualitäten Heideggers und die Bedeutung, die daraus etwa Gemälden erwächst, wird noch einzugehen sein. Destruktion ist immer auch Kartierung, sie soll — zweite und bekanntere trans­ zendentalphilosophische Geste - die Tradition „in ihren Grenzen abstecken“ (Heidegger: Zeit, 22). Gleich der Kritik (vgl griech. knnein) Kants beansprucht auch das Verfahren Heideggers Vermessung zu sein - ja es wagt gar das „Vermessene“ (Heidegger. Kant­ buch, 202). Jedenfalls macht sich Heidegger den kritischen Anspruch zu eigen. Kants erste KRITIK3 versuchte die Demarkation des Erfahrbaren unter Ausschluß vermeint­ licher Wahrheiten, die seitens der dogmatischen Metaphysik über das Ding an sich und die Welt der Ideen verbreitet wurden. „W as K a n t also traditionell als M etaphysik vorlag u n d w orin er sich selbst lange Z eit bew egte, ist eine W issenschaft, die aus b lo ß e n V e m u n ftb e g riffe n G o tt, Seele - etw as ü b e r das d a m it gem einte Seiende a u sm ac h en will, u n d zw ar a u f dem W ege einer logischen Z erg lied eru n g dieser B egriffe am L e itfa ­ d e n b e stim m te r Prinzipien w ie dem Satz des W id ersp ru ch s.“ (H eidegger: In terp re ta tio n , 15, vgl. 42.)

2 Der Nachweis der Seitenzahlen der KRITIK DER REINEN VERNUNFT erfolgt nach der eisten Ausgabe 1781 (A), bzw. d a zweiten Auflage 1787 (B). 3 Auf die KRITIK DER REINEN VERNUNFT von 1781 folgten die KRITIK DER PRAKTISCHEN VERNUNFT 1788 und 1790 die KRITIK DER URTEILSKRAFT.

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In zweischneidiger Weise gilt jemand wie Platon Kant als „erhabene[r] Philosoph“ (Kant: Vernunft, A313). Ihn als erhaben zu bezeichnen läßt sich zum einen als eine Ehrbezeugung lesen, ist aber nicht weniger von Polemik getragen: für Kant ist das er­ habene philosophische Genie nämlich ein Phantast Die Ideen des erhabenen Philosophen finden im Erhabenen des Sittengesetzes ihren Ort, finden in der KRITIK DER PRAKTISCHEN VERNUNFT ihr Unterkommen. Platon in einer transzendentalen Überlegung in die moralische Topik zu verpflanzen, heißt, „ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand“ (Kant Vernunft, A314; zit n. Heidegger Interpretation, 3). Diesen Halbsatz bei Kant, zugleich Wahlspruch der Hermeneutik, macht sich Heidegger seinerseits zur Aufgabe: er will an Kants statt sagen, was der „‘hat sagen wollen’“ (Heidegger: Kantbuch, 201; vgl. Interpretation, 5). Dies er-will-sagen geht über die unphilosophische Paraphrase, das pädagogische »d. ΕrAuto-Hetero-Dekonstruktion“ (Derrida: Gesetz, 68)8, einer „Implosion“ (ebd., 93) seines Textes. Für unseren Zusammenhang bietet sich als Beispiel für diese textimmanente Destruktion das Streikrecht an. Dieses ist nach Benjamin ein vom Staat eingeräumtes geringeres Übel, um handgreiflichen Einforde­ rungen von Ansprüchen der Arbeiter gegen Arbeitgeber vorzubeugen und diese in legitimierte Bahn zu lenken. Seiner Möglichkeit nach aber ist der Streik die Einstellung von Arbeiten aller Art und damit gefährdet das Streikrecht essentiell Recht und Staat (und - nebenbei - das Sxitikrechl). Das Streikrecht als Generalstreik muß der Staat kriminalisieren, dagegen als eine Gewalt einschreiten. Das Streikrecht ist eine aporeti-

^ Als Anwendung wird engl. enforaabiUtj (Derrida: Gesetz, 12) übersetzt; Derrida erinnert an forer. Kraft, Gewalt Q Es wäre subjekrivistisch, würde man den Interpreten als De-Konstrukteur verstehen, vielmehr dekonstruiert sich der Text in dieser Bewegung 'selbst1, auto-heterogen.

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sehe Konstruktion, ein legitimiertes Unrecht Welche Konsequenz hat diese sophistisch scheinende Logik für die Theorie der Interpretation? Appliziert man die Logik des Generalstreiks auf Lektürepraxis - das ist gerade keine Entpolitisierung, sondern eine Entterritorialisierung des 'Politischen* und 'Juristi­ schen' - , so heißt das, „daß in jeder deutenden Lektüre die Möglichkeit eines General­ streiks liegt“ (ebd., 81), sei es im Recht, sich unverständig zu geben, sei es „Lesevorschriften zu suspendieren um eine andere Leseordnung zu (be)gründen“ (ebd.): letzteres gilt den Managern der gelingenden Information als Vergehen gegen ihr Reglement Jede Diskriminierung einer Lektüreweise als Gewaltstreich>ge^wungen^ manipulativ ur­ teilt aber einem hermeneutischen Reglement gemäß, dessen Werteordnung von der Dekonstruktion in einer Art Staatsstreich außer Kraft gesetzt wird. „Wenn jede Inter­ pretation in sich Streik und Streikrecht birgt, so birgt sie ebenfalls Krieg und polemof* (ebd., 84). Den Zusammenhang von Exegese und Gewalt hat bereits Heidegger in seiner Aus­ einandersetzung mit Kant gesehen. Später geht er eher dazu über, vom ,,denkende[n] Zwiegespräch“ (Heidegger Kantbuch, XVII) mit Denkern und Dichtem zu reden. In Vorworten und Nachgelassenem zum Kantbuch (1929) geschieht der Gewalt ebensol­ che, unterläuft Heidegger sein einmal gewonnenes Verständnis der Gewalt und er ist versucht, „die Überdeutung Kants zurückzunehmen“ (ebd., XIV). Diese Überdeutung soll in einer Überbewertung der transzendentalen Ästhetik bestanden haben. Gleichsam als Ausgleich verweist Heidegger auf ein Gegengewicht hierzu: In DIE FRAGE NACH DEM DING (1935/36) habe er Kants transzendentale Logik in den Vordergrund ge­ stellt. Diese Frage nach dem Ding „holt nach, was in der Schrift 'Kant und das Pro­ blem der Metaphysik* (1929) fehlt“ (Heidegger Frage, 97). Hier wird der Eindruck erweckt, als läge die Gewalt in der Entscheidung, auf welchen der beiden Teile der transzendentalen Elementarlehre (Ästhetik oder Logik) man seinen hermeneutischen Rigorismus verwendet. Die Gewalt im oben genannten Sinn ist mir zu feinsinnig, zu schade für derlei grob-inhaltliche Unterscheidungen, was den Ausgangspunkt und das Material von Heideggers verschiedenen Exegesen angeht. Unnötig zu bemerken, daß bei der hier vorgelegten Lektüre der Gewalt, insbeson­ dere in Verbindung mit der Derridas, Gewalt im Spiel ist, zumal ich darin meine methodologische Orientierung wizàerfinde. Mißverstünde man meinen Vorspann zu Kant aus ^weiter Hand als bloßes Referat der Gewalt bei Heidegger und Derrida, so wäre noch eine solche Darstellung von Standpunkten nicht etwa der Gewalt enthoben, sondern gerade ihr gängigster Modus, der das Gesagte auf seinen Inhalt verpflichtet Lesen mißversteht man oft als das Entziffern einer kodierten Botschaft, als das Konsumieren und Speichern von Inhalten. Von dieser Art zu lesen her steht der Vor­ wurf gegen die hier praktizierte Lektüre: Gewaltsame Interpretation! am ehesten zu erwar­ ten. Ohne meinerseits meinen imaginierten Leser kontrollieren zu wollen und zu können, soll seine Invektive im Vorfeld laut geworden und an die unkritischen Impli­ kationen einer solchen Kritik erinnert worden sein.

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Zuweilen werde ich der Versuchung nachgeben, dem drohenden Vorwurf Gewalt! dadurch aus dem Weg zu gehen, indem ich mich über den jeweiligen Status, den ‘E m st’ einer Auslegung —etwa als einer momentanen Kondensierung meiner Leseer­ fahrung, einer bloßen Assoziation etc. - erkläre. Ein solcher Passus passiert derart eingeklammert den Leser leichter. Als mein eigener Leser stehe ich dem so Eingeklammertem mit „einer gewissen wohlwollenden Neugierde gegenüber“ (Freud: GW. XIII, 237), wie Freud sagen würde. Allzuleicht beschleicht einen das Gefühl, daß der Interpret eines Textes zu weit gegangen ist, den Kredit, den man ihm als Leser eingeräumt hat, überzogen ist. Die Empfindung des Lesers, ausgetrickst worden zu sein, kann sich als Ent­ rüstung motorisch entladen (Freud), oder das Gelesene in ein schlechtes Licht rücken: da sei nur (auf)gelesen (griech. legein) worden, was zupaß kam, es seien Zweideutigkei­ ten geschröpft und ein permanentes Mißverstehen geübt worden. Die folgenden Lesezirkel werden sich den Vorwurf einer gewaltsamen Interpreta­ tion irgendwie gefallen lassen müssen - gesetzt, daß gewaltsame Interpretation kein Vorwurf, sondern ein Pleonasmus ist. Derridas dekonstruktives Verfahren läßt sich oft daran erkennen, daß die Analyse eine Umzentrierung des interpretativ verhandelten manifesten Textes leistet - psychoanaly­ tisch könnte man von einer Verschiebung sprechen. Vermeintliche Nebenschauplätze treten in den Vordergrund, das Parergonale bestimmt das Werk. Daran gemessen nimmt sich die Destruktion im Kantbuch zunächst fast als orthodoxe Lektüre der KRITIK DER REINEN VERNUNFT aus, deren Architektonik Heidegger als Raster sei­ ner Darstellung übernimmt, nicht ohne aber Kant dabei phänomenologisch zu wenden und in ein gewaltsames Kalkül zu bringen. Heidegger verschreibt sich in seiner Analyse durchwegs Kants Programm der Einheit auch ihm geht es darum, die menschliche Vernunft wieder zu vereinen, die Kant schon aus ihrer sophistischen und dialektischen Entzweiung (vgl. Kant: Vernunft, A XII) in die „vollkommene Einheit“ (ebd., A XIII) bloßer Vernunft zurückzunehmen suchte. Kant aber behielt die klassische Zergliederung der Erkenntniskräfte in Sinnlichkeit (griech. aisthesis) und Verstand (noiesis) bei, die nun der Polier Heidegger zu verfugen beabsichtigt, um so die „Einheit von Anschauung und Denken“ (Heidegger Logik, 272) zu bewerkstelligen. Allerdings verbindet er Kants Differenz ausgerechnet mittels einer anderen, der ontologischen Differenz. Zunächst soll ein Aufriß von Kants erster KRITIK im Hinblick auf jenen Riß in ihrer Mitte gegeben werden, den Heidegger in einer Gabelung aufzuheben versucht. Dabei wird sich zeigen, daß Heidegger im Kantbuch die Problematik der KRITIK DER REINEN VERNUNFT auf einen eher unauffälligen und marginal scheinenden Teil darin (11 von 856 Seiten der Erstausgabe) verschieb/, vor dem „Kant hier gleichsam zurück­ weicht“ (Heidegger: Zeit, 23). A uf diesen strategischen Ansatzpunkt bezogen, läßt sich durchaus sagen, daß Heidegger Kant dekonstruiert.

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2. Stäm m e d et Erkenntnis Erster Stamm: transzendentale Ästhetik Kant unterscheidet die transzendentale Ästhetik von der transzendentalen Logik Ge­ genstand der transzendentalen Ästhetik ist die reine Sinnlichkeit Das Reine der beiden Darreichungsformen Raum und Zeit ergibt sich, wenn man von der Erkenntnis das Begriffliche des Denkens und von der an der Erkenntnis beteiligten Anschauung die Empfindung abzieht. Reine Anschauung ist „ledig*, eines anderen ledig, und zwar der Empfindung“ (Heidegger Frage, 115). Der sinnliche Input, also die empirischen Daten, die Materie der Sinnlichkeit, würden uns ohne das transzendentale Entgegenkommen in Gestalt von Raum und Zeit als ästhetischen Formen nicht angehen. Raum: Die „Erörterung“ (Kant: Vernunft, A22) des Raumes, der alles räumlich Erscheinende —wie etwa „ein Zimmer oder z. B. de[n] Raum, den ein Baum einnimmt“ (Heidegger. Interpretation, 116) —erst einräumt, ergibt folgendes: der Raum als a priorischer VorRaum ist eine Form, die nicht dem Ding anhängt, sondern dem menschlichen Fas­ sungsvermögen eigen ist. „Als das Worauf der charakterisierten Hinblicknahme ist der Raum sonach das primär alles empirische räumliche Anschauen struktural Bestim­ mende“ (ebd., 129). Der Raum als Form der Anschauung ist die menschliche Art, Gegenstände zu „befassen“ (Kant: Vernunft, A34). Anders als empirische Räume ist der reine Raum selbst nicht meßbar, sondern stellt eine unendliche Große (Kant) dar. Als Form der An­ schauung ist der Raum „dem Gemüte beiwohnen[d]“ (ebd., B41). Weil Kant die transzendentalen Bedingungen scheinbar in der Seele sucht, könnte man darin einen Subjektivismus sehen. Mit diesem Urteil macht auch Heidegger zuweilen kurzen Prozeß mit Kant und schert ihn über den Kamm des Kartesianismus als Schikkung des Seins. Die Einschätzung des Raumes als etwas Subjektivem läßt sich aber mit einer Heidegger entlehnten Geste subvertieren: das Transzendentale ist als Bedingung der Möglichkeit eines Außer-mir und der Gegenstände logisch vor der Trennung von Sub­ jekt und Objekt anzuberaumen. Es kommt erst nach der transzendentalen Konstitu­ tion von Welt zu der Vorstellung eines Außerhalb meiner, und die Vermögen werden erst im Gegenhalt dazu dem Subjekt introjizierbar. Hegen aber struktural dieser Entge­ gensetzung voraus. In diese Richtung scheint Heidegger selbst zu gehen: „W ie k ö n n e n R aum u n d Z eit als B estim m ungen des V o rh a n d e n e n uns v o n diesem h er en tgegenkom m en, w o das Subjekt sie do ch den E rsc h ein u n g en g e ­ rade en tgegenbringt? . .. W ie ist die Subjektivität selbst onto lo g isch g e b a u t, daß, so fern sie existiert. Subjektives dem Subjekt als O bjektives objiziert w ird?“ (H e id eg g e r In terp re ta tio n , 160.)

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Zeit: Der Raum als die eine der beiden Formen der Anschauung ist der Sinn für das Außere, für Mannigfaltiges außer mir. Das Räumliche muß in die im Gemüt gängige Währung konvertibel sein, soll eine Erfahrung möglich sein. Das Medium des inneren Sinnes ist die Zeit, in der sich psychologisch-faktisch das Insgesamt an Gedanken, Empfindungen, Vorstellungen etc. ablöst: „meine Vor­ stellungen folgen einander" (Kant: Vernunft, A37, Anm.).9 Die Zeit ist „die unmittel­ bare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußeren Erscheinungen" (ebd., A34). So ist die Zeit „wie die Schwester" (Heidegger: Einleitung, 119) zum Raum —zumindest sind beide verschwägert. Auf der Seite der Sinnlichkeit unterscheidet Kant also eine Affektion von außen nach der Art von Empfindungen von der reinen Zeit als Selbstaffektion (vgl. Kant: Ver­ nunft, B68; Heidegger: Interpretation, 150,269) des inneren Sinnes. Halten wir von Raum und Zeit fest, daß sie der menschlichen Sinnlichkeit „eigen­ tümlich" (Kant: Vernunft, A42) und nicht „durch Erfahrung erborgt“ (ebd., A23) sind. Raum und Zeit als Gemütssachen geben einen freien „Spiel-Raum“ (Heidegger. Interpre­ tation, 131) ab, einen Rahmen der Dinge, der aber nicht schon Gegenstände schafft Die Schöpfung bleibt der intellektuellen Anschauung des göttlichen Blicks Vorbehalten; dieser Blick gebiert, wessen er ansichtig wird. D er Demiurg hat es mit dem Ding an sich zu tun, dem Menschen begegnen nur Erscheinungen. Phänomenologie des Gegebenen: Die Sinnlichkeit gibt (Kant), sie gibt ein Mannigfaltiges an Gebbarem (Heidegger Logik, 273). Die Zeit als Selbstaffektion gibt gar sich selbst. Gleichsam als transzendentales Präsent „spendet" (Heidegger Einleitung, 114) sie die Präsenz des Seins und gibt damit die Möglichkeit der Empfänglichkeit. Damit die Sinnlichkeit an den Verstand etwas Gehaltvolles weiterzugeben hat, ist etwas verlangt, das sich der Sinnlichkeit darbietet, das sich dann in den Formen der reinen Anschauung als Erscheinung gibt Für die menschliche Sinnlichkeit gilt, daß sie „erstens Anschauungen gebend ist und zweitens endliches Anschauen ist, d. h. ein sol­ ches, das eines Sichmeldens des vordem schon Seienden selbst als des zu Gebenden be­ darf ‘ (Heidegger Interpretation, 86). Gott ist darauf nicht angewiesen. Schaffend gibt er, was er denkt Was er ins Auge faßt, das schafft er zugleich, sein ’Sehen’ ist zugleich „Ent-stand" (Heidegger. Kantbuch, 31) des Er-Blickten, des Dings an sich, das Eräugte ereignet sich. Dennoch sind die reinen Formen der menschlichen Anschauung in gewisser Weise spontan (ein Attribut, das Kant sonst dem Verstand verleiht), etwas Produkti­ ves und Vor-Bildliches ist an ihnen. Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich gestaltet sich in der Sprache einer PHÄNOMENOLOGISCHE[N] INTERPRETATION VON KANTS KRITIK DER REINEN VERNUNFT zunehmend schwierig: die kantischen Erschei9 Hiermit ist nicht nur die zeitliche Linearität der Vorstellungsabfolge angesprochen. Es klingt auch die Folgsamkeit an, die Erwartung eines irgend geregelten Ablaufs, einer Stirnmigkeit und Kontinuität der Sedenvorkommnissc, fur die aber der Verstand verantwortlich zeichnet.

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nungen sind phänomenologisch betrachtet die Dinge selbst (vgl Heidegger: Kantbuch, 32), die man nicht mit dem Ding an sich verwechseln darf. Erscheinung und Ding an sich sind unterschiedlich hinsichtlich ihres Subjekt-Korrelats: was dem Menschen er­ scheint, gibt sich Gott als Ding an sich. „ Im O p u s p o stu m u m sagt K a n t, D in g an sich sei n ic h t ein a n d eres Seiendes als die E rsc h ein u n g , d. h. [Kant:] ’d e r U n te rsc h ie d . .. ist n ic h t objektiv, s o n d e rn b lo ß subjektiv. D as D in g a n sich ist n ic h t ein a n d ere s O b je k t, so n d e rn ein e a n d e re

B e zieh u n g

(respectus)

der

V o rstellu n g

auf

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O b je k t1."

(H eidegger: K a n tb u c h , 33.)

Wenn Heidegger Kants Erscheinungen als Dinge selbst bezeichnet, dann signalisiert er die Unhintergehbarkeit der Endlichkeit des Daseins. Sinnlichkeitgibt - Heidegger legt dabei den Akzent auf das Rezeptive, das Moment des Empfangene (vgl. Heidegger: Interpretation, 150), die Angewiesenheit (Heidegger) auf Vorgabe des Seienden: „Anschauung ist das Hin-nehmen, Empfangen" (Heidegger: Frage, 111). In unserer Endlichkeit10 sind wir an die Dinge „ausgeliefert“ (Heidegger: Kantbuch, 31), die uns ihr Erscheinen „an-tun“ (Heidegger Interpretation, 86), die uns angehen, oder kantisch: affizieren. Die Sinnesorgane werden „’gerührt*; es wird ihnen etwas angetan, sie werden angegangen. Das tins so Anziehende und die Art, wie der Anzug des Anziehenden geschieht, ist die Empfindung als Affektion.“ (Heidegger Frage, 112.) Demgegenüber erlangen wir z. B. bei einem Spaziergang durch einen Mischwald ein Verständnis des „Baumartigefn]“ (ebd.) nicht durch die Affektion, sondern durch die „Verrichtung und Herrichtung des Begriffes [, das] heißt [durch die] Funktion“ (ebd.). In den Grundsätzen des Denkens in seiner Spontaneität — z. B. der Satz vom Widerspruch - ist ein „reines Sich-selbst-geben dessen, was das Denken in seinem Wesen schon in sich hat.“ (ebd,, 84.) Sinnlichkeit gibt also nicht nur, zu betonen ist dabei auch ihr Angewiesensein auf Gebung. Das Glossar der Ausgabe der KRITIK DER REINEN VERNUNFT aus dem Meiner-Verlag setzt in der dort gebotenen Kürze die Äquivalenz: Rezeptivität = Sinnlich­ keit (Kant: Vernunft, 824£, Anhang). Diese Gleichsetzung hat ihr beschränktes Recht In Raum und Zeit als transzendentaler Vor-Gabe ist das Vermögen, des Empirischen überhaupt bedürftig sein zu können (Rezeptivität), angelegt „ D ie F ähigkeit (R ezeptivität), V orstellungen d u rc h die A rt, wie w ir v o n G e g e n s tä n d e n affiziert w e rd en , zu b e k o m m e n , h e iß t Sinnlichkeit V e rm ittelst d e r S innlichkeit also w erd en u n s G e g en stän d e gegeben . . . " ( K a n t V e rn u n ft, A l 9).

Die Fähigkeit, die Gabey empfangen zu können, liegt in den reinen Anschauungen von Raum und Zeit.

10 Heidegger wird später seine im Kantbuch getroffene Unterscheidung der Endlichkeit des Menschen ge­ gen die Unendlichkeit Gottes skeptisch sehen, da sich diese Interpretationslichtung Kants noch von der Unendlichkeitsidee ex negativo leiten lasse (vgl. Heidegger Sache, 58).

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Ähnlich, wie eine Hotelrezeption einen Service offeriert, wie ein offizieller Empfang geladene Gäste zur (Aus)Gabe von einem Imbiß empfängt, so ist die Sinn­ lichkeit beinahe dialektisch. Es besteht durchaus kein Widerspruch zwischen: Sinnlichkeit g b t vs. das Dasein braucht Gegebenes. Das verwickelte Verhältnis in der Sinnlichkeit zwischen Hinnehmen und Geben prälu­ diert m. E. Motive des späten Heidegger. Es gibt so etwas wie eine Migration der kantischen Sinnlichkeit zu ZEIT UND SEIN.11 In diesem Vortrag von 1962 scheint Heidegger die kantische Zeit zu einem Etwas, das gibt, anonymisiert zu haben. Dabei ist es auch nicht länger die freigebige Zeitlichkeit, die alles gibt, selbst sie ist nun vom Ereignis als einem „‘neutrale tantum“' (Heidegger: Sache, 47), von einem spendablen Es ausgegeben; deswegen sei „das 'Es* groß [zu schreiben]" (ebd., 5). Die Verfügung einer vierten Dimension, der des Reichens, verfugt die drei Eksta­ sen der Zeit als „Einander-sich-reichen von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart" (ebd., 15). Dieses Einandersichreichen „ist selber vor-räumlich; nur deshalb kann es Raum einräumen, d. h. geben" (ebd.). Als venäumlicht sich reichende Ekstase wird die Zeit zum Topos, wird orthaft über das „an-fangende Reichen ..., die nähernde Nähe, 'Nahheit1, ein frühes, noch von Kant gebrauchtes Wort" (ebd., 16). Nahheit meint zugleich „das örtliche oder zeitliche nahesein" (Grimm: Wörterbuch 13,300). Heideggers E s gibt ist eine Legierung von Zeit und Raum innerhalb einer Art Wiederholung der transzendentalen Ästhetik. Erhärten läßt sich diese These durch Heideggers eigenen Verweis auf das Kantbuch (Heidegger: Sache, 58). Um die Art, wie die nach über drei Dezennien wiederaufgelegte Gabe ihre frühere Version im Kantbuch wiederholt, präziser aufzurollen, bedürfte es eines neuen Lesedurchlaufes, was mit Rücksicht auf die endlich (und nicht unendlich) zu haltende Analyse hier unterbleibt, ohne daß ich es bei einem unverbindlichen Aperçu belassen wollte. Kants Erscheinung aus Sicht der Phänomenologie: Kants kntisches Geschäft (Kant) besteht in dem, was das griechische Wort krinein nennt scheiden, trennen, (ab)$ondem. Kant geht es um das Einschränken der Erkenn tnisan-

11 Mit diesem Text erinnert Heidegger an seinen ursprünglichen Plan einer Fortsetzung von SEIN UND ZEIT. D er Vortrag von 1962 trägt den Titel des geplanten dritten Abschnitts des ersten Teils von SEIN UND ZEIT: “ L ût und Sein (vgL Heidegger. Zeit, 39; Heidegger. Sache, 91). Das 1962 leitende „Es gibt Sein und es gibt Zeit'* (Heidegger Sache, 5) erinnert an das kantische Motiv der Sinnlichkeit (respektive der Zeit), die alles gibt (was dem Verstand zu denken gibt). Die Gabe und ihr „Reichen" (ebd, 17), ihr Reichtum scheinen fast wie eine Handreichung des Immanuel Kant, liest man darin den lat Vokativ manu! O Hand!. „Die Hand reicht und empfangt und zwar nicht allein Dinge, sondern sie reicht sich und empfangt sich in der anderen. ... Die Hand zeichnet, vermutlich weil der Mensch ein Zeichen ist. Die Hände falten sich, wenn diese Ge­ bärde den Menschen in die große Einfalt tragen soll." (Heidegger Denken, 51.) Die Bedeutung der Hand fur Heidegger - Derrida ist ihr verschiedentlich nachgegangen - zeigt sich etwa in einem Text zu Anaximander. Dort ist die Rede vom „Einhändigen des Anwesens, welches Einhändigen das Anwesen dem Anwesenden aushändigt und so das Anwesende als ein solches gerade in der Hand behält, d. h. im Anwesen w ahrt“ (Heidegger: Holzwege, 361.)

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E r ster L e s e z ir k e l :

Sprüche auf die Sphäre der Erscheinungen. Diese Erscheinungen werden vom Ding an sich abgesondert, das sich allenfalls Gott zu erkennen gibt Der scheele Blick philoso­ phischer und theologischer Spekulanten, der nach dieser menschabgewandten Seite der Dinge lugt, ist damit verpönt. Heidegger übernimmt den kritischen Gestus, indem er den phänomenologischen Schlachtruf: Zu den Dingen selbst! anstimmt. Kants Erscheinungen, das Gegebene,, gelten phänomenologisch als diese Dinge selbst, die sich in den Ordnungen von Raum und Zeit darbieten. Heidegger spricht aber auch davon, daß sich das Seiende Kant zufolge in der Sinn­ lichkeit melde (Heidegger Kantbuch, 22; vgL Interpretation, 86; Frage, 112). Vom Melden handelt auch der § 7 A) von SEIN UND ZEIT. Es wird dort im Zusammenhang mit der Phänomenologie der Krankheitserscheinung —dem Paradigma vermittelten Erscheinens - eingefiihrt: Wangenrot zeigt etwa einen nicht direkt zu sich­ tenden fiebrigen Infekt an, Rötung meldet ihn. Wenn Heidegger in Bezug auf Kant vom Melden spricht, könnte darin die implizite phänomenologische Kritik liegen, daß Kants Rede von der Erscheinung doch noch etwas suggeriert, was hinter den Sachen selbst diese an sich be-dingt Heidegger könnte in der Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich so etwas wie ein Symptom sehen. Oft genug hat Heidegger das semsgeschichtliche Geschick als Verfallsgeschichte beschrieben, die ihren glücklichen Ausgang nimmt vom urgriechischen pbainomenon, dem ,,Sich-so-an-ihm-selbst-zeigende[n]“ (Heidegger. Zeit, 31), zum darüber aufziehen­ den platonischen Ideenhimmel samt dessen Niederschlag, dem Ideen-Abfall in Gestalt der Weltendinge bis hin zum kan tischen Noumenon (Ding an sich) hinter dem Phainomenon (Erscheinung). Das Noumenon hinter der Erscheinung ist für Heidegger sicher auch ein Symptom der Seinsvergessenheit. So ist es kaum zufällig, wenn Heidegger in nächster Nähe der Krankheitserschei­ nungen auf den Erscheinungsbegriff Kants zu sprechen kommt: „D as h e rv o rg e b ra ch te M eldende [das Seiende als ens erratum] zeigt sich zw ar selbst [als E rscheinung], so zw ar, daß es, als A u s s tra h lu n g p\ dessen, was es m eldet [das D in g an sich], dieses gerade ständig an ihm selbst verhüllt . .. K a n t g e b rau c h t den T erm inus E rsc h ein u n g in dieser V erkoppelung. E rsc h e in u n g e n sind n a ch ih m einm al die ’G e g en stän d e d e r em pirischen A n sch a u u n g ', d as, w as sich in dieser zeigt. D ieses Sichzeigende (P h ä n o m en ...) ist zugleich 'E rsc h e in u n g 1 als m eld en d e A usstrahlung v o n etw as, was sich in d e r E rsc h ein u n g verbirgt [näm lich als A usstrahlung des D ings an sich]/* (H eideggen Z eit, 30.)

Die eingeklammerten Erläuterungen erklären sich von der Vorlesung aus dem Jahr der Veröffentlichung von SEIN UND ZEIT her. Dort heißt es, Erscheinungen sind „Erscheinung von etwas - wie Kant sagt: vom Ding an sich ... [S]ie sind auch n ich t nur irgendwelche freischwebenden A usstrahlungen von Dingen, sondern die Er­ scheinungen sind die Gegenstände selbst - die Dinge“ (Heidegger. Interpretation, 98). Ob nun die Erscheinung wirklich als Ausstrahlung auf ein Wovon der Aus­ strahlung, auf eine Art Sender - das Ding an sich - verweist oder nicht:

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Jedenfalls versteht das Kantbuch unter Meldung die Notwendigkeit füir die Sinn­ lichkeit, affiziert zu werden (vgl. Heidegger: Kantbuch, 26; Interpretation, 170), das An­ gesprochensein seitens eines schon „Vorhandene[n]“ (Heidegger. Interpretation, 160). Von der Aufnahme dessen, was sich empirisch meldet, was die Sinnlichkeit von außen affiziert, ist dergleichen wie die Selbstaffektion der Zeit zu unterscheiden. Diese reine Sinnlichkeit ist die Gabe zur Rezeptivität. Dieses Vermögen ist die „reine An­ schauung ... [als] von Hause aus darbietend, und zwar in Richtung auf das reine Denken“ (Heidegger Kantbuch, 62).12 Es gilt also, den sinnlichen Stamm der Erkenntnis abzupassen auf den zweiten Stammy das reine Denken. Sinnlichkeit gibt, was den begünstigten Verstand ihr verbind­ lich macht. Schon das Mannigfaltige an Empfindungen muß in einem Akt der Synthesis gebunden werden. Bevor die Schnittstelle von Sinnlichkeit und Verstand entwickelt wird, ihre Ver­ bindung analysiert werden kann, tun wir es zunächst Heidegger und den Affen gleich und „springen ... gleichsam nur äußerlich vom Stamm der Anschauung auf den des Denkens, ohne uns um die gemeinsame Verwurzelung beider Stämme zu kümmern“ (Heidegger Interpretation, 161). Stammbegriffe der Logik In der ersten KRITIK Kants fällt die paarige Anordnung der „beiden Elemente Sinn­ lichkeit und Verstand oder Rezeptivität und Spontaneität, Affektion und Funktion, Anschauung und Denken“ (Heidegger Interpretation, 169) auf. Dabei werden Sinn­ lichkeit und Verstand oft wie Passivität und Aktivität, Rezeptivität und Spontaneität gegenübergestellt - zuweilen auch von Heidegger „Der Begriff begreift mehreres tinter sich —diesen aktiven Charakter im Begriff muß man heraushören, der im Gegensatz steht zur Rezeptivität“ (ebd., 228). Dabei ist es gerade der (seins)geschickte Heidegger, der das zum Gegensatz Verfestigte wieder figurai flott bekommen wird. An der sinnli­ chen Quelle der Erkenntnis zeigte sich bereits, daß sie nicht nur rezeptive Züge hat, sondern auch gebend ist. Ja der deutsche Idealismus hat in den reinen Formen der An­ schauung sogar ein Zeugnis spontanen Schöpfertums sehen wollen (s. u. S.269ff.); wenn Fichte allerdings Kants Vernunft in ihrer Endlichkeit „verabsolutiert zum absolu­ ten Ich“ (Heidegger: Interpretation, 73), dann ist diese Lesart Heideggers Beschwörung menschlicher Endlichkeit insoweit entgegengesetzt (Heidegger. Kantbuch, 137, Anm. 196). Zur Ebene der transzendentalen Logik gelangt man, wenn man von der Erkennt­ nis die reinen Formen der Anschauung und deren sinnliche Materie in Abzug bringt. Das Wort Begriff deutet auf eine haptische Dimension hin: der Begriff ist das „umgreifende Eine“ (Heidegger. Kantbuch, 53; vgl. Interpretation, 228). Bezeichnendi i

o Von Hause aus meint hier

das von sich aus sich Darbietende der Anschauung. Später wird das Haus als

Haus in Betracht gezogen: „Und so liegt denn schon in der unmittelbaren Wahrnehmung eines Vorhande­ nen, z. B. dieses Hauses, notwendig der schematisierende Vorblick auf so etwas wie Haus überhaupt, aus welcher Vor-stellung her allein das Begegnende sich als Haus zeigen, den Anblick Vorhandenes Haus’ dar­ bieten kann." (Heidegger Kantbuch, 101.)

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fiir Heideggers Strategie ist, wie er dieses verständige Auffassen metaphorisch sogleich in die Gegend des Gesichtssinns verschiebt: Der Begriff leistet ein „Heraussehen0 des vielgültigen Einen“ (Heidegger Kantbuch, 53). Heidegger okuliert die Sinnlichkeit auf den Verstand. „ Okuliren, oculare, eig. äugeln (im pfen, einim pfen, anschilden), einen fre m d e n Z w eig bis an das A uge [oculus] o d e r die K n o sp e a b sc h n eid en , ih n in die a b ­ gelöste R inde des a n d ere n B aum es setzen u n d m it ders. verbinden-“ (O ertel: F re m d w ö rter, 609.) „ D as A uge an einem B aum blatt, d e m Z w eige eines a n d ern eingeim pft, b rin g t an einem frem dartigen Stocke ein G ew ächs v o n seiner eignen A rt h erv o r, u n d e b e n so d e r P fro p freis a u f einem a n d ern Stam m e.“ (K a n t U rteilskraft, A284.)

Heidegger, so könnte man sagen, impft Kant phänomenologisch, äugelt ihn, indem er in seiner Kantinterpretation der sinnlichen Dimension das Schwergewicht gibt Selbst da, wo er Kant ’nur* zu referieren scheint, pfropft Heidegger optische Metaphern auf den Verstand. Das Sehen ist die Domäne der phänomenologischen Tradition, der sich Heidegger im Kantbuch verpflichtet weiß. Von hier aus kritisiert er auch die Dominanz der transzendentalen Logik im Neukantianismus, die Kant dadurch befördert habe, daß er die reinen Verstandesbegriffe, die Notionen, „beschnitten [habe], nämlich [um] den in­ neren Bezug zur Anschauung ... [, aber] um so aufdringlicher [werde damit] die Angewiesenheit des reinen Denkens auf die Anschauung“ (Heidegger Kantbuch, 57). Der Verstand vollzieht als spontanes Element der Seele die „Einheit der Handlung verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ (Kant Vernunft, A68). Diese Vorstellungen können einzelne Anschauungen sein, denen die begriffliche Allgemeinheit zu geben ist, oder es handelt sich um Begriffe, die in einem allgemeineren Konzept aufgehoben, unter einen Oberbegriff subsumiert werden. Die reinen Begriffe, die klassischen Kategorien, geordnet nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität, sind in der Architektur der KRITIK DER REINEN VERNUNFT das, was Raum und Zeit für die Sinnlichkeit sind. Für unseren Zu­ sammenhang müssen diese sogenannten reinen Notionen, diese Stammbegiffè“ (ebd., A81) nicht im einzelnen durchforstet werden. Stattdessen soll eine kleine logische Übung die Funktion des zweiten Stamms der Erkenntnis (Kant) an einem griffigeren Beispiel als dem der reinen Kategorien illustrie­ ren. Begriffe als yigene toy ontos, Stämme des Seienden“ (Heidegger. Interpretation, 296), sind „Gemeinheit bergende Einheit“ (ebd., 230), Fassen des Verschiedenen nach dessen Komparieren. Wenn so viel von Stämmen die Rede ist, bieten sich zur Explikation der Gemein­ heit des Begrifflichen die einschlägigen Objekte des Forst-Wesens an. Bäume sind ja überhaupt zur Materie prädestiniert, denn das griechische Wort für Materie (hyle) dient im Besonderen auch als Bezeichnung für Ho/%, Um von einem Gemenge von Grün- und Braunempfindungen zur Wahrnehmung eines Baumes als Baum zu gelangen, braucht es den Be-Griff. Auch für die isolierte Darstellung des begrifflichen Erkenntnisstammes gilt, „daß es ein müßiges Beginnen ist.

K ant

a u s z w e it e r

H and

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geichsam durch Herumklettem an dem einen Stamm diesen zu begreifen, ohne nach der Wurzel zu graben“ (ebd., 161). „ K an t sagt in d e r Logik [§ 6]: 'Ich sehe z. B. eine F ich te, eine W eide u n d ein e L inde. In d e m ich diese G e g en stän d e

z u v ö rd e rst u n te re in a n d e r

vergleiche,

bem erke ich, daß sie v o n ein an d er verschieden sind in A n se h u n g des Stam m es, d e r Ä ste, d e r B lätter u n d dergleichen m ehr; n u n reflektiere ich a b e r h in ä c h s t n u r a u f das, w as sie u n te r sich gem ein h ab en , d e n S tam m , die Ä ste, die B lä tte r selbst u n d abstrahiere v o n d e r G rö ß e , d e r F igur derselben usw .; so b e k o m m e ich einen B egriff v o m Baume.*“ (K ant, zit. nach H e id e g g e r I n te rp re ta tio n , 231.)*13

Im Kantbuch sind es „Linde, Buche, Tanne“ (Heidegger: Kantbuch, 52), andernorts „Tanne - Buche - Eiche - Birke“ (Heidegger Frage, 111), die zum Begriff vom Baume Übereinkommen, - gesetzt man kann bei Fichte und Tanne von den Nadeln im Unter­ schied zu den Blättern absehen. Die Begriffsbildung vollzieht sich darüber, daß wir „über das einzelne Seiende weg blicken, und wohin? Auf das Sein. N ur wenn wir z. B. das Baumhafte schon im Blick haben, vermögen wir einzelne Bäume festzustellen“ (Heidegger Wegmarken, 242). Was bei Platon unter eidos oder idea des Baums firmiert, „gibt das Geschlecht des Dinges, seine Abstammung [Stammbaum], sein genos an“ (Heidegger Grundprobleme, 151). Bekanntlich deckt sich das Sein Heideggers nicht mit dem der klassischen Meta­ physik, die das Sein meist als allgemeinste Gattung versteht. Mit steter Regelmäßigkeit aber wird bei Heidegger das Sein in seiner Einzigartigkeit von einer bestimmten Gattung des Seienden, nämlich der des Baumwesens, abgesetzt, womit ein Begriff aus der Botanik so etwas wie ein Intimus des Seins wird: „Wir setzen statt des allgemeinen Begriffes 'Sein' beispielshalber die allgemeine Vorstellung *Baum*.“ (Heidegger Einführung 60). Heidegger repetiert das Durchgehen der Exem­ plare bei der Begriffsbildung, was so „selbstverständlich [sei], daß wir uns fast scheuenß]“ (ebd., 61). „Demzufolge bleibt fraglich, ob einzelnes Seiendes überhaupt je als Beispiel für das Sein gelten kann, so wie [bestrittene Metapher] diese Eiche für *Baum überhaupt*“ (ebd.). Das Sein scheint des öfteren wie furniert mit: Echt Eiche, oder mit Buche.14 Über die negative Abgrenzung des Seins von der Allgemeinheit des Baumhaften erscheint das Sein wie hinter einem Schlagbaum: „Streichen wir das 'ist' und den Satz *der Baum ist* einmal für einen Augenblick durch.“ (Heidegger. Denken, 107.) Heidegger stellt auch die Frage, ob seine ontologische Differenz der Aussageform nach wie „'der grüne Baum* gebildet“ (Heidegger. Seminare, 310) sei. D er Baum hat auch später seine Auftritte (vgl. Heidegger Sprache, 23ff.): E r wird zum Balken der Schwelle (ebd., 26) (s. u. S.408).

j

13 In der Terminologie der dritten Kritik wäre der Übergang vom Besonderen (Bäume verschiedener Art) zum Allgemeinen des Begriffs (der Baum) ein refikiierendes Orteil, wogegen das bestimmende O rteil ein Beispiel für den Begriff liefert (vgL Derrida: Malerei, 71). 14 Die Buche ist im Französischen {hêtre) beinahe homophon zu Sein (frz. être).

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Wenn der Begriff Baum gebildet werden soll, werden verschiedene Bäume kompariert und etwa auf die Gemeinheit des Stamms hin betrachtet Bei der Begriffsbildung ist am Werk der „Grundakt - Vorstellen von Einheit - Sammlung“ (Heidegger: Kantbuch, 53, Anm. aus Handexemplar). Ich hoffe, der Leser wird die kurze Schaltung zu den ZOLLIKONER SEMINAREN gutheißen, da dort gezeigt wird, daß die Allgemeinheit des Baums ein Vor-Urteil im besten Sinne ist: „D as E rfaß th ab e n dessen, w as 'B aum 1 ist, ist im V ergleichen einzelner B ä u m e m ite in a n d e r sc h o n im m e r vorau sg esetzt ... als das, w o ra u f hinblickend ic h L inde u n d E ic h e ü b e rh a u p t e rst m iteinander, näm lich als B äum e, vergleichen kann. Sie h ab en d o c h alle sch o n als K n a b en gew ußt, was ein B aum ist, h a b e n d a v o n ein V o rv erstän d n is g e h a b t D as Allgem eine TBaum* ist das id en tisc h Selbe . . . " (H eid eg g er Z ollikon, 171).

Sollte das unthematische Seinsverständnis, worin das Wissen (d. L Gesehenhaben) um die Eiche als Baum in Ansehung ihres Stammes, ihrer Blätter, der Eichel gründet, am Begriff Knabey der Klasse der Knaben, der Knaben „als Knaben“ (ebd.) hängen?15 Oder ist hier, wie 1953, das „Knabenhafte nicht in einem Gegensatz zum Mädchenhaften“ (Heideggen Sprache, 55) gesagt? Bäume haben Augen, Triebe, kennen Gabeln, schlagen gelegentlich aus, so daß ein Mann wie Stefan George als Dichter nicht nur zum Stamm des Stammes gehört, son­ dern lt. Heidegger ein ebensolcher ist (vgl. ebd., 231), gesetzt, daß folgende Strophe den Dichter „meint“ (ebd.): „'[G eorge:] S o w ie a u f h ö h n ] D e r feste sta m m | Stolz reglos ra g t| U n d d a n n n o c h sp ä t ein stu rm | Ih n bis zum b o d e n b e u g t

| | So wie das m e e r| M it

gellem la u t| M it w ildem prall) N o c h einm al in die lan g | V erlassne M u sch el stö ß t.’“ (ebd., 230.)

Heidegger streicht als „Fuge“ des Gedichts heraus: „Stamm und Sturm, Meer und Mu­ schel“ (ebd.), wobei letztere „das Gehör des Dichters“ (ebd., 231) abgibt. Der Stamm i. S. des Volksstammes und des sexuellen Geschlechts ist in der Reli­ gionsphilosophie Kants (1793) präsent: das Judentum als „Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm“ (Kant Religion, B l86) gehören, „zum Teil peinliche [] Observanzen“ (ebd., B284, Anm.) einfuhren, wie die Maddenmg durch ein „körperliche[$] Abzeichenf]“ (ebd.. B l90). Die männlichen Mitglieder werden gleich Bäumen beschnitten.

15 Die Männer sollen - ebenso wie hohe Eichen - zum erhabenen Geschlecht gehören (vgl. K ant Vorkri­ tisch II, 208, 228). „Totenglocke und Milchstraße des Kolossalischen. Im Zwischenraum zwischen dem mathematischen Erhabenen und dem dynamischen Erhabenen wurde ein Baum in die Milchstraße projiziert. ... [Kant] Ein Baum, den wir nach Mannshöhe schätzen...; der Erddurchmesser fur das uns bekannte Pla­ netensystem;... dieses für die Milchstraße“ (Derrida: Malerei, 176) - man kommt an kein Ende. Von der Milchstraße zurück zum Knabenhaften. Worin besteht das Vorurteil des Knaben? E r erwartet in der phallischen Phase überall einen Phallus wie den seinen zu sehen. Andernfalls beugt er die Wahrnehmung, wenn sie seinem Vor-Urteil nicht entgegenkommt

Kant aus zweiter H and

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Die Fortpflanzung des Baumes ist eine mögliche Weise, das genos als Geschlecht und Begriff zu illustrieren. In seiner KRITIK DER (teleologischen) URTEILSKRAFT entwickelt Kant den Begriff eines Naturzwecks am Paradigma des Baumes: „Ein Baum zeugt erstlich einen andern Baum nach einem bekannten Naturgesetze. Der Baum aber, den er erzeugt, ist von derselben Gattung; und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach ..." (Kant: Urteilskraft, A283). Der Baum steht in einer Genealogie, der er entstammt und die er fortsetzt Zum zweiten „erzeugt ein Baum sich auch selbst als Individuum“ (ebd.). Dieses Phänomen des Wachstums sei „einer Zeugung ... gleich zu achten“ (ebd.). Als drittes fuhrt Kant das oben als Pfropfung schon eingeführte Weiterwachsen eines gepfropften Teils im Medium eines anderen an. Dabei können Zweige und Blätter dieses gepfropften Bau­ mes angesehen werden, als ob der Pfropfreis als ein eigener Baum „sich nur an einen andern anhängt und parasitisch nährt“ (ebd., A284). Bevor wir vor lauter Bäumen den Begriff nicht mehr sehen, hoffen wir mit Heideggers Seinsvertrauen auf die Vertrautheit mit dem begrifflichen Denken und hal­ ten den zweiten Stamm der Erkenntnis für unseren Belang für einstweilen abgetan. So wie Raum und Zeit reine Anschauungen sind, so soll es auch beim Stamm des Begrifflichen reine Urteile geben. So etwas wie der Begriff Baum läßt sich nicht rein gewinnen, er wird in Ansehung der Gleichheit und in Absehung der Verschiedenheit der Stämme von Buche, Fichte ... gebildet. Fällen (Heidegger Interpretation, 48) lassen sich nicht nur Bäume, sondern auch reine Urteile, die vor aller Erfahrung gewonnen werden. Natürlich sind dabei nicht die ausschlagenden Bäume, wohl aber das Formale der Einheitsbildung im Begriff für Heideggers Kantdeutung von „ausschlaggebender Bedeutung“ (ebd., 240). Urteile gibt es zweierlei: die analytischen, die den eingegebenen Begriff nur auswikkeln, erläutern (z. B. alle Körper sind ausgedehnt: das Prädikat Ausgedehntheit ist dem Subjektbegriff Körper inklusive, beide widersprechen sich nicht) und die synthetischen Urteile a priori, die ohne Bezuschussung durch Erfahrung (rein) etwas erwirtschaften, was nicht analytisch im Begriff selbst beschlossen liegt „Ontologische Erkenntnis ist demnach ein Urteilen nach nicht erfahrungsgemäß beizubringenden Gründen (Prinzi­ pien)“ (Heidegger: Kantbuch, 14). Dem liegt zugrunde die Annahme einer „a priorische[n] Begehung der reinen Verstandesbegriffe und Grundsätze auf Gegenstände“ (Heideggen Interpretation, 57). Eine solche ontologische Synthesis scheint fast wie eine göttliche Ader im menschlichen Dasein: ...... wie kann ein endliches W esen, das als solches an das Seiende au sg e liefe rt u n d a u f die H in n a h m e desselben angew iesen ist, v o r aller H in n a h m e das Sei­ e n d e e rk en n e n , d. h. a n sc h au e n , o h n e d o c h d essen 'S c h ö p fe r' zu sein?“ (H eidegger. K a n tb u c h , 38.)

Dieses Überschusses, dieses Mehrwerts wegen sei die garnie Kritik da, schreibt Kant. Ist der wundersame Bonus in diesen synthetischen Urteilen a priori (z. B.: Alles, was ge­ schieht, hat seine Ursache; vgl Kant: Vernunft, A9) nicht vom Verstand beigesteuert, wurde auch keine Erfahrung eingeschleppt, so bleibt via Ausschlußverfahren nur die reine Form der Sinnlichkeit als anonymer Gönner der synthetischen Erweiterung in

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diesen Urteilen: „Zeit und Raum sind demnach zwei Erkenntnisquellen, aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse geschöpft werden können“ (Kant: Ver­ nunft, A38f.; vgl. B73). Gesetzt, daß der Mehrwert in den synthetischen Urteilen a priori seine Quelle in den reinen Formen der Sinnlichkeit hat, markiert diese Art der Urteile eine Kreuzung von Verstand und reinem Sinn, und es stellt sich auch von daher die Frage nach deren Verquickung. Die kritische Kardinalfrage nach den synthetischen Urteilen a priori als dem reinen Zubrot der Formen der Anschauung in diesen Urteilen spiegelt sich in der zunächst orthodox scheinenden Lektüre Heideggers, in ihrer mit Kant gleichziehenden Gewich­ tung, wieder reine Synthesis gilt ihm als „Seinsverfassung des Seienden“ (Heidegger. Kantbuch, 38), als ein „Erkennen des Seins des Seienden“ (ebd.). Der Einsatz des Be­ griffs Sein ist eine ontologische Marke, mit der eine bestimmte Konfiguration der KRITIK —die für Kant zentrale Frage nach der Möglichkeit des synthetischen Apriori versehen wird. Ein Wink Heideggers, daß das Augenmerk der Durchquerung der bei­ den Stämme gelten sollte. „Das Erkennen des Seins aber ist Einheit von reiner An­ schauung und reinem Denken.“ (ebd., 66.) Wie kommt es aber zu einer solch glücklichen Fügung? Man könnte versucht sein, nach dem Vorbild der abgehandelten Begriffsbildung die nun anstehende Wiedervereinigung der beiden Stämme oder Quellen der Erkenntnis nach Art des logischen comparare zu üben, damit aus Sinnlichkeit und Verstand Erkenntnis erwüchse, wie Linde und Eiche auf den Begriff vom Baum fuhren. Die Einheit der Erkenntnis ist aber auf diesem logischem Weg, auf den sich der Neukan­ tianismus machte, nicht zu erstellen. Raum und Zeit sind kein „allgemeiner Begriff* (Kant: Vernunft, A24). Die Sinnlichkeit blieb dem Neukantianismus ein „Fremdkör­ per“ (Heidegger Frage, 114); als solcher erfuhr dieser Stamm der Erkenntnis eine „Hintansetzung“ (ebd.). Heidegger analysiert, wie diese sinnliche Quelle, dieses rein Reizende und der stämmige Begriff sich für einander zurechtmachen und so Erkenntnis möglich machen. Im Sich-fiireinander~bereiten der beiden Stämme bleibt gleichwohl eine Heterogenität be­ stehen, die sich der Reduktion auf eine der beiden Seiten widersetzt „D ieses

gegenseitige

S ic h -fü rein an d er-b ereiten

geschieht

in

derjenigen

H a n d lu n g , die K a n t allgem ein Synthesis n e n n t In ihr treffen sich die b e id e n reinen E le m en te jew eils v o n sich her, sie schließt die aufeinander zuw eisenden F ugen u n d

m acht

so die W esenseinheit einer reinen

E rkenntnis aus.”

(H eidegger: K a n tb u c h , 62.)

Erkenntnis, mit Sinn und Verstand, verlangt eine Synthesis, die weder von der Art der „Syndosi/* (Heidegger Interpretation, 265) ist, welche das Ganze des Zeit-Raumes schafft, noch mit der Synthesis des Begrifflichen zusammenfällt. Vielmehr sucht Heidegger nach der Synthesis schlechthin, die Sinn und Verstand ursprünglich verbin­ den soll. Wie gehen die beiden zusammen? Daß Sinnlichkeit und Verstand von Kant beide Stämme oder Quellen genannt werden, ist nur eine terminologische Annäherung, ebenso, daß beide Vorstellungen sind.

Kant aus zweiter H and

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d. h. sich auf Gegenstände beziehen. (Vorstellung kann zugleich den Akt des Vor­ stellens und das Vorgestellte bezeichnen). Anschauung und Denken in ihrer Beschaf­ fenheit als Vorstellung zeigen eine gewisse in n ere V e rw a n d tsch a ft

die die E in ig u n g b e id e r z u lä ß t.

D iese V e rw a n d tsch a ft, H e rk u n ft aus dem selb en G e sc h le c h t (genus), d rü c k t sich darin aus, daß

für beide

'Vorstellung ü b e rh a u p t

(rep ra e se n ta tio )'

'd ie

G a ttu n g ist' [Kant: V e rn u n ft, A 320].“ (H eidegger: K a n tb u c h , 22; vgl. In te r p r e ­ tatio n , 90.)

Gleichwohl bleibt ein entscheidender Unterschied: die Vorstellungen seitens der Sinn­ lichkeit sind unmittelbarer, die des Verstandes mittelbarer Art. Die Frage nach der Art der Verbindung zwischen beiden Stämmen bleibt also bisher offen. Erst die Verschaltung der beiden reinen Vorstellungsarten (Anschauung und Begriff) macht Erkenntnis möglich. Kants kritisches Programm besteht ja darin, die Erkenntnisansprüche zu begrenzen und die Anwendung der reinen Verstandesbe­ griffe (Kategorien) auf die sinnliche Sphäre einzuschränken. Kant widersetzt sich damit der dogmatischen Metaphysik, welche über logische Aufschlüsselung und Analyse der Begriffe etwa von Gott, Freiheit und Seele „eihabene[|“ (Kant: Vernunft, B7) Urteile fällte und die Unsterblichkeit und Substantialität der Seele postulierte. Solche Schlüsse aus Begriffen sind aber bloße Spekulationen über das* Ding an sich (Gott, Seele, Welt etc.), Dinge, die von unsereiner Anschauung nicht verbürgt sind. In der kritischen Restriktion des Vemunftgebrauchs sieht Heidegger ein Einge­ ständnis der Endlichkeit des Menschen. Dasjenige, „worauf alles Denken als Mittel ab­ zweckt, [ist] die Anschauung* (Kant Vernunft, A l 9, zit. n. Heidegger Interpretation, 82f.). Heidegger spricht von der „Dienststellung“ (Heidegger Kantbuch, 25) des Den­ kens gegenüber der Anschauung. Andererseits hat der Verstand alles, was die Anschauung liefert, vorab zu regeln. „Wandelt sich da nicht der Knecht zum Herrn?“ (ebd., 75). Wie im Herr-Knecht-Kapitel von Hegels PHÄNOMENOLOGIE DES GEISTES zeigt sich hier eine besondere Dialektik, die Dialektik von Anschauung und Denken: „(W ]ie läß t sich d a n n die je tz t o ffe n b a r w e rd en d e H e rrsc h aftsste llu n g des V e r­ standes m it seiner D ienststellung in E inklang b ringen? Ist sein H e rrsc h e n u n d W alten als G egenstehenlassen v o n R egeln d e r E in h e it im G ru n d e ein D ie n en ? W altet er eines D ienstes, d u rch d e n er zutiefst seine E n d lic h k eit v errät, weil e r im G egenstehenlassen gerade die u rsp rü n g lich ste B ed ü rftig k eit des e n d lic h e n W esens bekundet? ... N u r so fern d e r reine V e rstan d als V e rstan d K n e c h t d e r rein en A n sch a u u n g ist, kann e r H e rr d e r e m p irisch en A n s c h a u u n g b le ib e n .“ (ebd., 75f.)

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3. Vom Schem atism us zum photogenen Sein Heideggers Lese-Geist: pfingstliche Anschirrung Diese bisherige Übersicht über die beiden Stämme der Erkenntnis sollte hinfuhren zu der psychologisch interessanten Allianz der Parteien Sinnlichkeit und Verstand. Deren Ineinanderspiel gilt die nun folgende „entscheidende Partie“ (Heidegger Interpretation, 168).16 Aus der reinen sinnlichen Gabe erwachsen Verbindlichkeiten für die Synthesis des Verstandes. „R aum u n d Z e it m üssen auch den B egriff d e r G eg en stän d e jederzeit affixie­ ren. R aum u n d Z eit als reine A n schauungen sind reine, nich t em pirische A ffektionen; als reine A ffektionen, die das reine D en k en angehen, affizieren sie ’den B e g riff ... "Reine A ffektion m eint also Selbstaffektion“ (H e id eg g e r In te rp re ta tio n , 269.)

Damit diese Selbstaffektion und die Spontaneität des Verstandes Hand in Hand gehen, braucht es etwas, das „gleichsam %wischen beiden liegt und demgemäß die Verbindung !(wischen Anschauung und Denken, ihre Einigung zu einer vollen Erkenntnis herstellt“ (ebd., 270). Es stellt sich nun die Frage nach der Art des Gelenks, des Scharniers, der Passung zwischen den beiden Stämmen, die für den Erkenntnisprozeß miteinander verschränkt werden müssen. Die Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand ist für Heidegger übrigens phänomenologisch keineswegs haltbar. Er erklärt kurzerhand Kants Trennung von Sinn und Verstand für „dogmatisch“ (Heidegger: Logik, 282) und sagt, daß dieses Schisma „gleichsam zum Urväterhausrat der Philosophie gehöreQ“ (Heidegger Zeitbegriff, 97). E r erkennt darin ein Erbe aristotelischen Denkens, geht doch die Trennung von Sinn und Verstand auf die von aisthesis und noesis zurück (vgL Heidegger Logik, 282; Kantbuch, 129, Anm.; Interpretation, 278); Aristoteles handelt sie in DE ANIMA (Γ 1, G 4ff.) als Register der Seele ab. Kants Absicht, die alteingesessene Unterscheidung von Perzeption und Kognition nachträglich zu verbinden, „scheint noch weit mehr in das Feld des Unmöglichen zu gehören als der Versuch, Feuer und Wasser zu mischen“ (Heidegger Interpretation, 163); weit mehr als - ist der Vergleich von Kants Unternehmen mit der Verbindung von Feuer und Wasser ein Gleichnis? Acht Jahre später unternimmt Heidegger einen weiteren Anlauf zur Lektüre Kants. Hier eröffnet er den Problemkreis der Einigung von Sinn und Verstand in der Form von Kants Hauptfrage: „Wie sind synthetische Urteile a priori m ö g lic h (Kant: Vernunft, B l9.) Bezeichnenderweise verwendet Heidegger hier exakt dieselbe „Formel“: „Wie ist Feuer als Wasser möglich?“ (Heidegger: Frage, 132.)

16 Für Heidegger handelt es sich gar um eine Art Zitterpartie fur K ant Im Abgrund zwischen Sinnlichkeit und Verstand sitzt die Angst, die zusammen mit dem Phantasma psychologisch zu befragen sein wird.

K ant aus zweiter H and

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Sollte Heidegger, ehemaliger Student der Theologie, hier an Johannes den Täufer erinnern wollen? Dessen Wassertaufe verstand sich ja als Vorform der Taufe Christi, der „mit dem heiligen Geist und mit Feuer“ (NT, Mt. 3,11) über den Täufling komme.17 Ähnlich wie „der Begriff ... über die Anschauung kommen“ (Heidegger: Frage, 109) muß, so mußte der Geist über die Jünger kommen. Heidegger gedenkt andernorts des Pfingstwunders: „'Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer [dispertiae linguae tamquam ignis] ... und sie [die Apostel] fingen an, zu predigen mit anderen Zungen.' [NT, Apg. 2,3-4]“ (Zit. nach Heidegger Sprache, 203.) Im Pfingstwunder fahren die Zungen des HL Geistes auf das gute Dutzend herab, so daß jeder Volksstamm fortan die Apostel in seiner Muttersprache hören kann. Im Vergleich mit diesem neutestamentarischen Topos der unmittelbar gegebenen Mehrsprachigkeit stellt sich die Einigung der beiden Stämme der Erkenntnis quasi als ein Übersetzungsproblem18 der beiden transzendentalen Dialekte Sinnlichkeit und Ver­ stand dar, die —wie durch ein Wunder - miteinander korrespondieren und so im Ver­ ein Erkenntnis schaffen. Wenn der Leser immer noch meint, die zweimalige Verbindung der kantischen Problematik mit der Vereinigung von Feuer und Wasser sei eine Floskel bei Heidegget; sie hätte weiter nichts zu bedeuten, dann schlage er im Kantbuch nach. Heidegger da­ tiert das Vorwort der ersten Auflage: Todtnauberg im bad. Schwarzwald, Pfingsten 1929 “ (Heidegger Kantbuch, XVI.) Als wäre Heidegger bei der Freiwilligen Feuerwehr von Todtnauberg, scheint ihn der Gedanke an Feuer und Wasser nicht loszulassen: Der letzte Teil dieses Buches gibt von der Kantinteipretation her einen Einblick in den Ansatz von SEIN UND ZEIT. Dort ist es nicht der Abgrund der Mitte zwischen Sinn und Verstand, sondern die Frage nach dem Sein, die an den „Rand“ (Heidegger Kantbuch, 226) fuhrt Und an diesem Rand „gilt es, nicht vorzeitig auszuweichen“ (ebd.). Zunächst möchte man meinen, es könne einen das Sein nicht schrecken, schließlich verstünden wir es stillschweigend als Was- und Daß-Sein: „In jedem Aussprechen eines Satzes, z. B.: 'heute ist Feiertag', verstehen wir das 'ist* und damit dergleichen wie Sein. Im Ruf 'Feuer!' liegt 'Feuer ist ausge­ brochen, Hilfe ist nötig, rette sich - bringe sein eigenes Sein in Sicherheit - wer kann!'“ (ebd., 227.)

17 Unmittelbar vorher ist übrigens von Stämmen die Rede: „Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt“ (NT, M t 3,10.) Und eben dies wirft Heidegger dem Neukantianismus vor. 18 Verstreute Hinweise auf die Verbindung von kandschem Schematismus, Pfingsten und der Problematik der Übersetzung finden sich auch im kürzlich erschienenen Sammelband ÜBERSETZUNG UND DEKONSTRUKTION. Das neu testamentarische Pfingstwunder setzt die babylonische Sprachverwirrung, die

Vervielfältigung der Lippen in begrenzter Weise wieder aus (vgL Hirsch, in ders.: Übersetzung, 408). D. Gondek (vgL ebd, 281) sammelt Indizien dafür, daß Heidegger mit seinem als ursprüngliche Versammlung ge­ dachten logos die Dissemination der Sprache namens Babel verleugnet Für diese These spricht das hier herausgearbeitete Pfingstmotiv. Von den Trümmern Babels aus auf den ersten Lesezirkel zurückblickend wird mir klarer, warum das Kapitel mit dem Turm als Schematismus der Znicjah enden muß.

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E r st e r L e s e z ir k e l :

Auch dieser N otruf zwischen Feuer und (Losch-)Wasser assoziiert sich mit einem Fei­ ertag —es dürfte wohl Pfingsten sein. Ohne auf das Kantbuch Bezug zu nehmen, verbindet auch der Biograph Safranski diese katholische Festtagsstimmung mit Heideggers Empfänglichkeit: „Ex-sistenz aber bedeutet offen zu sein für Pfingsterlebnisse der verschiedensten Art“ (Safranski: Mei­ ster, 424). Safranski denkt dabei an die Philosophie der Kehre, gerade die Fragment­ sammlung BEITRÄGE ZUR PHILOSOPHIE (VOM EREIGNIS) wirkt wie ein Füllhorn an Eingebungen, die Heidegger vom Seyn empfing. Petrus stellt denen gegenüber, die ungläubig das Pfingstwunder auf die Wirkung geistiger Getränke zurückführen, klar, „diese sind nicht trunken“ (NT, Apg. 2, 15). Sol­ che geistigen Getränke scheinen der kantischen Metaphorik durchaus verwandt. Der Gebrannte, das Feuer-Wasser ist nicht nur klar, pur, sondern wird schlechthin der Klare genannt. Die Verbindung zur reinen Vernunft ist glasklar „was ’rein* bedeutet im Unterschied zu unrein (unreines Wasser z. B.), ist auch klar“ (Heidegger Frage, 47). Bei Kant geht es gleichsam um ein transzendentales Feuerwasser, das nicht mit Empirischem versetzt, gestreckt oder verschnitten ist. Die apriorische Vermitdung macht möglich, daß uns sinnlich Gegebenes als begrifflich faßbar, d. h. als ein erfahrba­ res Etwas angeht. Das Vermittelnde zwischen den so disparat erscheinenden Posten Sinn und Ver­ stand ist keine Halbheit, für ein Ausmitteln sind beide zu heterogen, das tertium muß ursprünglicher sein als Sinnlichkeit und Verstand. Das zu Vermittelnde läßt sich nur vom Dritten aus er-mitteln, gesetzt, daß wir in dem Dritten „den ersten Ursprung unserer Erkenntnis“ (Kant, zit. n. Heidegger Interpretation, 273) zu suchen haben. Dieses Dritte, die Dimension, in der sich dem Sdentifischen (Kant) die reine Sinnlich­ keit eröffnet, ist eine „Angel“ (Heidegger Interpretation, 168), in der alles „dreht“ (ebd.; vgl. Frage, 160).15 Wenn Heidegger behauptet, daß Kant sich in der Deduktion der Kategorien „selbst aus den Angeln hebt“ (Heidegger Interpretation, 214), so könnte das in der Unwucht liegen, welche die KRITIK dadurch bekommt, daß Kant sich in der zweiten Auflage der KRITIK DER REINEN VERNUNFT stark auf die Seite des Verstandes kapriziert. Die Angel von Sinnlichkeit und Verstand ist so zu verstehen, daß sie über das, was sie ver-hält, verfügt, daß sie also nicht bloß dazu dient, zwei Sachen nachträglich von außen zu verbinden. Die Angel ist Wurzel.

^ Die selbe Matrix des Zutschen und der A n g l entwickelt Heidegger sieben Jahre später in seiner Vorlesung zu Hölderlins Hymne DER RHEIN, w ohn dieser Fluß als H albgitt gedacht wird. Es handelt sich dabei um mehr als einen zufälligen Anklang: in der Rhein-Vorlesung Heideggers geht es bei der halbgöttlichen Angel um die ontologische Artikulation der „Not-Zucht“ (Heidegger. Rhein, 246). Die Angel der KRITIK DER REINEN VERNUNFT findet Heidegger im sogenannten Ißfe/awi^j^Kapitek dieses sei Kants „N otw ehr ge­ gen die V ergew altigung [Not-Zucht] durch die äußerliche Architektonik der formalen Logik“ (Heidegger Interpretation, 430) (s. u. S.370).

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Wurzelziehen

„D ie ursprünglichere A uslegung dieses gelegten G ru n d e s e n th ü llte a b e r dieses Z w ischenverm ögen n ich t n u r als u rsprünglich einigende M itte, so n d e rn diese M itte als W urzel d e r beiden Stäm m e. „ (H e id eg g e r K a n tb u c h , 196.) „U n d es w u rd e z u le tzt deu tlich , daß es ein m üßiges B eg in n en ist, gleichsam d u rch H e ru m k le tte rn an dem einen Stam m diesen zu b eg reifen , o h n e n a c h d er W urzel zu g raben u n d sie freizulegen." (H e id eg g e r In te rp re ta tio n , 161.)

Die Wurzel, nach der Heidegger gräbt, soll die „Bezogenheit des Denkens auf die Anschauung, die wir mit Absicht ohne Namen lassen“ (Heidegger Interpretation, 266), leisten. Das Zwischen (Heidegger Frage, 188), das Dritte, die Angel, das Gelenk — es kann nicht länger anonym bleiben. Von nun an wird es unter dem Titel Schematismus firmieren - eine Frage der Taufe des Numinosen, der die Mission hat, Sinnes- und Verstandesform aufeinander abzupassen. In der alles ,,entscheidende[n] Partie“ (Heidegger Interpretation, 168) für die KRITIK DER REINEN VERNUNFT, im Schematismuskapitel, versucht Kant nicht bloß von einem Stamm auf den anderen äußerlich überzusetzen, sondern zwischen beiden zu übersetzen - ein durchaus pfingstliches Ereignis.20 „ N u n ist klar, daß es ein D rittes geb en m üsse, w as einerseits m it d e r K a te g o rie , andererseits m it d e r E rsc h e in u n g in G leichartig keit ste h e n m u ß , u n d die A n ­

vermittelnde Vor­ intellektuell transzendentale S ch e m a (K a n t:

w e n d u n g der ersteren a u f die letzte m öglich m a c h t D iese

stellung

m u ß rein (o h n e alles E m pirische) u n d d o c h

andererseits

sinnlich

sein. E in e solche ist das

einerseits

V e rn u n ft, A l 38.)

Das Dritte als vermittelnde Vorstellung suggeriert bereits, daß es vom Stamm der anderen beiden ist, nämlich eine repraesentatio. Die Kategorien werden in Schemata transformiert, transponiert und kompatibel mit dem, was in der Sinnlichkeit rein vorstellig wird. Uber die Verbindung mit den Sinnen bekommen die Verstandesbegriffe objektive „Bedeutung* (K ant Vernunft, A146) - und dies dank des transistorischen Effekts des Schematismus: „Diese Bedingung —das Sinnliche, was eine Kategorie muß enthalten können - nennt Kant das Schema der Kategorien“ (Heideggen Logik, 359). Die Funktion des Schematismus besteht in der Hypotypose, d. h. der Darstellung des Begriffs. Dabei darf einen eine gewisse Dysfunktion des Schematismus als einem parasinnlichen und parakategorialen Vermögen nicht wundem: das zum Begriff gesuchte Bild ist wesensmäßig inadäquat, um die Notion faßbar zu machen, muß man sie „ver­ zeichnen“ (Kant Vernunft, A141). Dieses Präfix ver- ist Index eines Verfehlens, die „ Schematising, . . . Vorbildern, im A T. Vorbilder sehen, die auf spätere u. höhere Personen und Begeben­ heiten im N. T. hindeuten sollen.“ (Oertel: Fremdwörter, 760). Mit dem Schematismus überzusetzen ist nicht minder gewagt, als mit einem apostolost einem griechischen Postschiff. Sinnliche und kategoriale Formen sollen in einen Guß gebracht werden; AposkDauXct die Bezeichnung fur ein liturgisches Gefäß, das mit Bil­ dern der hL Zwölf geziert ist

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E r s t e r L e s e z ir k e l :

„Unangemessenheit gehört vielmehr zum Schema-Bild“ (Heidegger Kantbuch, 98), sie ist kein Mangel Nehmen wir der Übung halber das Verzeichnen des rein-sinnlichen Begriffs vom gleichschenkligen Dreieck, so ist die Unangemessenheit der niedetzulegenden Figur eine multiple: Gleich lange Schenkel sind ein Limes, dem sich die Zeichnung nur anzunähem vermag. Zudem kann von der unendlichen Variabilität (x) an Winkeln, die beide Schenkel einfassen können (bis zum Grenzfall: x 0°, dem Einklappen der beiden Schenkel zu einer Linie) nur ein Gradmaß realisiert werden. Überdies erfahren die drei Linien im Zuge der materialisierenden Zeichnung eine gewisse Breite, die in der geome­ trischen Definition der Linie nicht vorgesehen ist. Indes gilt es den Vorwitz zu üben; man muß sich eine andere Beschwerlichkeit für mögliche „Darstellungen (exhibitio [nes])“ (Kant: Urteilskraft, A252) dieser Triangel mithilfe der KRITIK DER URTEILSKRAFT (1790) vor Augen fuhren. § 59 kennt zwei Modi der „Hypotypose (Darstellung ...)“ (ebd., A251): neben der Versinnlichung von reinen Verstandesbegriffen in „Schemate“ (ebd.) (bzw. im gegebenen Falk die Beispiele oder Bilder des Dreiecks) die ganz und gar nicht demonstrierbaren moralischen Begriffe der praktischen Vernunft u. a. erhabener Ideen, die von Symbolen angezeigt werden. Selbst dem reinsten philosophischen Diskurs kann es an der angemessenen Schematisierung gebrechen: „Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein, in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich zu Anfang von seiner Wissenschaft gibt, sehr selten seiner Idee;“ (Kant: Vernunft, A834, zit n. Heidegger: Interpretation, 2.) Das philosophische Denken kann aber letztlich der Schematisierung gar nicht entraten: Ideen schlagen sich nicht in Schemate^ sondern in Symbolen, in „indirekte [n] Dar­ stellungen“ (Kant: Urteilskraft, A252) nieder. Die gesamte philosophische Nomenklatur ist vom Analogischen durchwachsen, „... wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema fur den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter Gn/nd (Stütze, Basis), abhanden (von oben gehalten werden), woraus fließen (statt fol­ gen) ... symbolische Hypotyposen“ (Kant Urteilskraft, A253f.). Von einer solchen „Übertragung“ (ebd., A254) kann man übrigens auch den geometri­ schen Schenkel analogisch infiziert sehen. Derbe Naturen mögen mit den Schenkeln gar eine andere Art Triangel21 verbinden. Wenigstens kann der Vergleich mit den gleichen Schenkeln eines nicht - hinken. Festzuhalten ist, daß die Rundung und Dicke animali­ scher Schenkel nicht dem geometrischen Ideal an Gleichschenkligkeit entsprechen. Paul de Man erinnert daran, daß das Dreieck selbst Trope, genauer eine Synekdoche ist, die drei Ecken für die ganze Figur einstehen läßt (vgl. Gondek: Angst, 97).

21 Tribaden sind „Reiberinnen, selbstschändcnde Weibspersonen1*(Oertei Fremdwörter, 853).

Kant aus zweiter H and

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Sollten uns im Verlauf der Arbeit Segeltuch, Trinität und etwa lachende Dreiecke Unterkommen, wird der Umschlag von geometrischen in metaphorische oder symboli­ sche Dreiecke nicht ausbleiben, und man wird sich an den Schematismus erinnern. Nach diesem Seitensprung zu den gleichen Schenkeln soll die Hypotypose gemäß der minutiösen Analysen nachgezeichnet werden, die sich in der LOGIK-Vorlesung von 1925/26 und dem Kantbuch (1929) finden. Diese lassen sich dann mit dem verfilzen, was man das Photogene von Heideggers Denken nennen könnte. Dabei bietet sich die Auslegung von Photographien, die Heidegger zeigen, an. Dies ist kein Exkurs, gesetzt, daß sie sich als Schemata lesen lassen. Im übrigen ist der Eks-Kurs die einzige Möglichkeit sich in der Ek-sistenz zum Sein zu verhalten. Der Schematismus räumt bei Kant jede Sichtbarkeit erst ein. A uf Heideggers Seinsphilosophie bezogen wird der Schematismus sich als die Station darstellen, die das Sein verlädt, als die Relation, die alles ver-hält und das Sein verschifft in Sujets. Sujets, die in den kommenden Bild-, bzw. Schema-Beilagen die weitere Arbeit am Text mit Photographien skandieren sollen. Das Photogene der Philosophie Wenn Heidegger die Frageform wählt, dann zeichnet er das Fragwürdige meist mit ei­ ner besonderen ontologischen Würde aus. Im Zusammenhang mit dem Schematismus heißt es nicht WAS HEISST DENKEN?, sondern: „Was heißt Bild?“ (Heidegger: Kant­ buch, 92). Als guter Didakt fängt Heidegger nicht gleich mit der - jede andere Versinnlichung fundierenden - Verzeichnung im Schematismus als transzendentalem Transit zwischen den Formen der Sinnlichkeit und den Kategorien an. In mehreren Schritten (vgL Heidegger Logik, §31 a-e) fuhrt er vor den transzendentalen Schematismus hin, der sich nicht „unverdeckt vor Augen legen“ (Kant Vernunft, A l41) läßt. Das Verschlei­ ern, das Verdecken des Auges, das Niederschlagen des Lides könnten selbst schon Hypotyposen des nicht Imaginierbaren, des Undarstellbaren am Schematismus sein. Heidegger unterscheidet folgende Formen der Bildlichkeit, - die sich aber hie und da überlappen werden: 1. Als phänomenologisch schlicht gilt das Bild im Sinne des ,,Anblick[s]“ (Heidegger Kantbuch, 92) den etwas bietet, „gleich als blicke ... [es] uns an“ (ebd., 93) ,22 Als alltagssprachliche Referenz für diese Form des unmittelbaren Bildes, welches das Seiende selbst darbietet, erinnert der Referent an die Redeweise: „die Versammlung bot ein trauriges T3ild' (Anblick)“ (ebd., 91). (Sollte es bei dieser Versammlung schon um das gehen, was Heidegger 1950 emphatisch DAS DING nennt? Etymologisch „beDies erinnert an Lacans Theorie vom Feld des Sehens. Über eine Sardinenbüchsc, die in der Sonne er­ glänzend Fischern auf dem Meer entgegentreibt, sagt Lacan, daß „sie in einem bestimmten Sinn mich tat­ sächlich anblickt, angeht Sie blickt mich an [me regarde] auf der Ebene des Lichtpunkts, wo alles ist, was mich angeht [me regarde]“ (Lacan: Grundbegriffe, 102).

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deutet das althochdeutsche Wort thing [Ding] die Versammlung“ (Heidegger: Vorträge, 167).) 2. Ganz im Zeichen der Endlichkeit steht Heideggers Paradigma des Bildes i · S. des m edial Verm ittelnden: ein Abbild in diesem Sinne ist die „Totenmaske“ (Heidegger Kantbuch, 93), die das Antlitz des Verschiedenen meine. Läßt sich das Bild als Zeug zum Meinen und Zeigen-Wollen instrumentalisieren? Ob ein Abbild zunächst den Toten als „Dieses-da“ (Heidegger Logik, 361) zeigt oder sich darin etwas Allge­ meines abzeichnet, das scheint eher eine Frage der Auffassung, d. h. der Lektüre des Bildes. Die Totenmaske ist mehr als nur ein beliebiges Beispiel für die Versinnlichung ei­ ner 'Erscheinung. Es wird sich unten zeigen, daß die phänomenologische Theorie — ebenso wie die kantische Theorie der Erscheinung —vom Wiedergänger, vom Phantom, vom eine Erscheinung haben tangiert werden. Daß Heidegger das Abbild dessen, der das Zeitliche gesegnet hat, als Beispiel nimmt, ein Abbild wählt, das den Leichnam über­ dauert, ist paradigmatisch für die Stoßrichtung, die seine Interpretation annehmen wird: das Beispiel läßt bereits den Zusammenhang zwischen Schematismus und Zeitlichkeit anklingen. Es können übrigens auch Masken anfallen, ohne daß diese unbedingt zu dem Zweck hergestellt werden, ein Aussehen zu zeigen: man denke an Masken in der kos­ metischen Anwendung, vielleicht auch an das Schweißtuch Jesu. Wenn ich nicht irre, differenziert Heidegger innerhalb des Abbilds den „Abklatsch“ (Heidegger Logik, 361) in Gestalt einer Maske von der „Abschreibung“ (ebd.) in der Art einer 'Photographie. Bei einem solchen „Licht-bild“ (Heidegger. Kantbuch, 93, Anm.) gibt es gegebenenfalls eine Umschrift der Farben in Schwarz und Weiß. Der dafür er­ forderte „aufhehmende[| Apparat“ (Heidegger. Vorträge, 157) ist der Apparat des ZumErscheinen-Bringens (vgl. lat. apparare)', auch in der Photographie spricht man von einer Maske als einem Teilbildauszug des Negativs. 3. Das Bild kann ferner der V ersinnlichung eines em pirischen Begriffs dienen. „Das bestimmte Darstellende, das, was ich im Bild sehe, diese Totenmaske kann aber auch einen Begriff darstellen wollen“ (Heidegger Logik, 362), nämlich den empirischen Begriff Totenmaske. Wenn ein abgebildetes Einzelnes den Typus Maske verkörpern soll, so ist der Unterschied von Abbild und Schema eines Begriffs eine Frage der Auffassung eines Bildes, d. h. eine Frage, wie man das Bild liest, bzw. wie man das Schema bildet. „ D ie P h o to g ra p h ie kann n u n ab er auch zeigen, wie so etw as wie eine T o te n ­ m aske ü b e rh a u p t a u ssie h t D ie T otenm aske w iederum kann zeigen, wie ü b e r­ h a u p t so etw as wie das G e sic h t eines to te n M enschen a u ssie h t A ber das k a n n a u ch ein einzelner T o te r selbst [!] zeigen. U n d so kann auch die M aske selbst zeigen, w ie eine T o te n m ask e ü b e rh au p t aussieht, im gleichen die P h o to g ra p h ie n ic h t n u r das P h o to g ra p h ie rte , so n d e rn wie eine P h o to g rap h ie ü b e r h a u p t aussieht.“ (H e id eg g e r K a n tb u ch , 94.)

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Schon im Falle der Versinnlichung eines empirischen Begriffs zeigt sich die Insuffizienz des Bildes, das ja als „repraesentatio singularis“ (Heidegger Kantbuch, 94) im Rahmen des Einzelnen bleibt. „Eben deshalb ist aber der Begriff auch wesensmäßig nicht ab­ bildbar.“ (Ebd., 94; vgl. Kant: Vernunft, A l 41.) Wohl aber kann der Begriff eben als Regel vorzeichnen, wie etwa ein Haus als Haus auszusehen hat, und kann so im Schema beispielgebend sein. Die Regel des Be­ griffs ist in diesem Sinne ein bild-gebendes (Heidegger: Kantbuch, 142) Verfahren. Heidegger instrumentalisiert nicht einfach die Photographie und ihren Apparat zu einem Zeug zum Abbilden, um damit den empirischen Begriff zu illustrieren. Wenn er sagt, daß eine Photographie nicht nur das Photographierte zeigt, sondern wie eine Photographie überhaupt aussieht, dann könnte man diesen Gedanken in die Richtung hin entwickeln, daß Abbildendes (Photo) und Abgebildetes unlöslich verknüpft sind. So ließe sich im Photo2^ bzw. im Negativ als Medium der Versinnlichung das Versinnlichen, d. h. der Schematismus selbst versinnlichen. 4. Der Darstellung reiner sinnlicher Begriffe (vgl. Heidegger Logik, 365) haben wir uns oben durch die Diskussion des gleichschenkligen Dreiecks bereits enthoben. Zu erinnern ist an die als ausdehnungslos definierten Schenkel, deren man nur in einer sie verfehlenden, verzeichnenden, raumgreifenden Grafik ansichtig wird. In einer Zeichnung muß man sich fiir Winkel und Seitenlangen des gleichschenkligen Dreiecks entscheiden, was der Begriff offen läßt. „Das Schema dieses Begriffs Dreieck ist die Vorstellung des denkbaren Verfahrens der anschaulichen Darstellung (ebd.). 4./5· “ [W]enn ich fünf Punkte hintereinander setzte,.........ist dieses ein Bild von der Zahl fü n f4 (Kant: Vernunft, A140). Diese fünf Punkte stellen eine Anweisung für den Akt des Zählens homogener Einheiten dar, die in Kants Satz flankiert sind von disparaten graphischen Zeichen, dem »,« und dem » i«. Fünf Punkte sind das „durch den Begriff Fünf Abzählbare“ (Heidegger: Logik, 367). »,..... i « ist für Heidegger eher ein Bild der Zahl fü n f als „5 oder V“ (ebd.). Aber hier kann es Verwechslungen geben, denn das »V« dient auch als logisches und men­ gentheoretisches Zeichen für Oder,\ Für jenen Patienten, den Freud Wolfsmann nennt, evoziert V Uhr die gespreizten Schenkel einer Frau und SchmetterlingsflügeL »V« kann das Bild der Gabelung wie das von gespaltenen Feuerzungen oder der Zunge einer Viper sein. Heidegger setzt fünf Punkte wie folge » « (Heidegger. Logik, 368), was ein Piktogramm der gespreizten Hand sein könnte und wohl inspiriert ist von Immanuel, der sich beim Zählen zu helfen weiß: er pflegt „für den Begriff der 5 die Finger meiner Hand als Anschauung zu Hilfe44 (Kant: Vernunft, B l5) zu nehmen. Der Begriff der Zahl erhält seine Bedeutung „an den Fingern, den Korallen des Rechenbretts, oder den Strichen und Punkten, die vor Augen gestellt werden44 (Kant: Vernunft, A240). Er­ innert man sich an § 59 der KRITIK DER URTEILSKRAFT, so könnte die Hand Fast scheint sich Heidegger in eeiner Art der Interpretation photographischer Techniken zu bedienen: „Unsere Interpretation vollzieht zunächst eine OberheUung des Ganzen, um dann rückläufig gerade das Unausgeglichene und Fragwürdige bei Kant in der Scharfe zu sehen ..." (Heidegger. Interpretation, 93).

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wiederum auch als Symbol des Be-Griffs durchgehen: die Hand reicht also vom Begriff der Zahl 5 bis zum Begriff des Begriffs überhaupt. Der Begriff einer Zahl überhaupt läßt sich nicht bebildern, sondern nur schematisieren. Für die Fälle ausgefallener Imagination könnten die drei Auslassungspunkte » ... « herhalten, oder ein » X «. Eine solche BildStörung ließe sich zum Bilde des reinen Schemas machen.

5.

Reines Schema:

a) b)

»... « » « 24 Nach diesen Hinführungen zum Schematismus mögen diese beiden illustrativen Auslassungen zum transzendentalen Schematismus, d. h. zur Versinnlichung reiner Verstandesbegriffe (Kategorien), notwendigerweise enttäuschen, denn es „ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann“ (Kant: Vernunft, A142). Es wird einem bei den von Kant vorgelegten Schematismen nicht besser ergehen, ja man sollte sich bei diesen vielleicht nicht einmal eines Verständnisversuchs befleißi­ gen, denn die Obskurität der Schematismen der Kategorien ist bei Kant Prinzip. Das Unverständnis, das sich an diesen Seiten (vgL K ant Vernunft, A142-145) pflegen läßt, ist konstruktiv, insofern es den Bildern wehrt und dabei über die Einbildungskraft als „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ (Kant: Vernunft, A l41) auf­ klärt. Das Bild der Kategorie ist, wie Heidegger mit Kant formuliert, nichts anderes als das Medium der Versinnlichung, d. h. die Zeit (vgl. Heidegger: Kantbuch, 103). Die Zeit ist das Vorbild a priori, das reine Anschauungskorrelat der Kategorie. In die Zeit­ lichkeit als temporale Währung der Seele muß ja selbst noch der Raum umgemünzt werden: „Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln“ (Kant: Vernunft, A l45). Der Schematismus ist die Gußform, in der Formen der reinen Anschauung und der Kategorien sich zur Erkenntnis zusammenfinden. In der Poinrierung des transzendentalen Schematismus gelingt Heidegger eine philosophiehistorische Stützung seines Konzepts der Temporalität als dem transzenden­ talen Horizont von SEIN UND ZEIT. Was entscheidet nun darüber, auf welcher dieser fünf Stufen der Bildlichkeit ein bestimmtes Abbild anzusiedeln ist? Es ist alles eine Frage der Aufnahme —weniger des Moments der Aufnahme und der Intention dessen, der z. B. ein Bild aufgenommen hat, als dessen, der es auf-nimmt, re-zipiert. Heidegger am Herd: Deshalb kann man leicht die verschiedenen Stufen der Versinnlichung, die Heidegger unterscheidet, überblenden: Läßt eine Photographie nicht primär dies Singuläre, sondern dieses Eine, quasi stellvertretend für das mehrerem Gemeine, sehen, so ist ein Begriff angezeigt. Man versenke sich in das Bild vom Ehepaar Heidegger am Herde:

24 Bei dem reinen Schema b) handelt es sich weniger um eine Leer2 eile als um einen Leerraum.

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Diese Abbilder denke man sich abgezweckt, nicht um an Heidegger zu erinnern (die Photo­ graphien sind in gewisser Weise allesamt Totenmasken, sie durf­ ten erst nach Heideggers Ableben publiziert werden!), sondern um vorzufuhren, was ein Mann und was eine Frau so tun, oder wie so etwas wie ein Mann oder eine Frau überhaupt aussieht - auch wenn es da sicher trennscharfere (Ein)Stellungen gäbe. Wenn man Heidegger so neben Elfride am Herde hocken sieht, fühlt man sich an eine von Aristoteles überlieferte und 1946 von Heidegger kolportierte Anekdote erinnert, wonach Man den Philosophen Heraklit besuchte, neugierig, wie ei­ ner als Denker so aussieht Die Schaulustigen treffen ihn beim Händereiben am wär­ menden Herde des „Backofenjs]“ (Heidegger. Wegmarken, 351) an und sind enttäuscht Heraklit soll ihnen entgegnet haben: „Auch hier nämlich wesen Götter an.“ (Zit. n. Heidegger. Wegmarken, 351.) Die Photographie von Heidegger und Elfride läßt sich also selbst intertextuell lesen und könnte als Beleg für die Identifikation Heideggers mit Heraklit gelten. Das Bild von Heideggers Dasein am Herde verzeichnet also auch den empirischen Begriff des Philosophen. Um die hier unterschiedenen Bild- und Begriff-Sorten zu ver­ wirren, sei vermerkt, daß Heidegger sich nicht mit den Philosophen gemein macht, denn er sitzt an anderem Herde. „Wer ist am Herde? Und was ist der Herd?“ (Heidegger Ister, 115.) „Der Herd ist die Stätte des Heimisch-seins“ (ebd., 130), ja der Herd ist gar das Sein (vgl. ebd., 134). Und die Gattin Elfride? Auf die Keuschheit der am Herd (bestia) beschäftigten Vestalinnen hielten die Römer große Stücke und richte­ ten die hin, die dawiderhandelten. Das Sujet vom „Herd als das Sein“ (ebd.) macht Heidegger ineins zum Philoso­ phen des bislang verdeckten Seins und damit zum Prototyp des Philosophen, zum Denker der Denker als Denker des Herdes, als Denker hinterm Herd: so ließe sich das Bild kippen in Richtung der Hypotypose dessen, was weder ein reiner Verstandes-, noch ein Vernunftbegriff sein will: zum Herd als Sein. Der Herd als Stätte der Ver­ sammlung (Heidegger) rottet auch andere Signifikanten zusammen, schart die Herde um sich, die sich nicht zerstreuen darf: der Mensch ist Hirt und Hüter des Seins (Heidegger). Waidmanns-Kunst: Aus dem Rahmen der obigen fünfgliedrigen Einteilung fällt auch eine eigene Art der Schematisierung heraus, die Heidegger in der darstellenden Kunst (vgl. Heidegger Logik, 364) erkennt Er situiert sie zunächst zwischen der Versinnlichung von (2) Erschei­ nungen (Abbild) und der von (3) empirischen Begriffen. Aber es geht dabei um etwas

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anderes, nämlich um die Versinnlichung nicht logischer Begriffe, sondern um eine her­ meneutische Auffassung des Seienden in seinem Sein: Wenn Heidegger von der Kunst spricht, bezieht er sich gerne auf Gemälde, die nicht identifizierbar sind. Fast möchte man meinen, Heidegger habe aus mehreren Ge­ mälden einen Begriff gebildet. Heidegger erwähnt die „Rehe im Wald, die z. B. [!] Franz Marc gemalt hat, [sie] sind nicht diese Rehe in diesem bestimmten Wald, sondern fdas Reh im Wald1“ (Heidegger: Logik, 364). Unter den (wie?) vielen Rehsujets, die „z. B.“ Marc malte, kämen wenigstens die Titel in Frage: „Reh im Walde I“ (1911), „Reh im Walde II“ (1912), zwei Bilder, die Heidegger zusammen „Rehe im Wald“ titulieren könnte. Zu allem Überfluß taufte Marc 1914 eine Leinwand „Rehe im Wald II“ [sic.]. Ein echt philosophischer Titel würde dagegen lauten: Das Reh im Wald. Daß Heidegger als Beispiel das „Reh gleichsam als Waldbewohner'j (ebd.) er- I" wählt, ist m. E. nicht kontingent, das Reh ist keine Animalie wie jede andere, unterhält es doch über seinen Fluchtpunkt - das Hinterteil dieses flüchtigen Rotwildes, das man 'Spiegel' nennt - intime Beziehungen zum Bild. Ohne an dieser Stelle den ganzen Hori­ zont der leibnizschen Monadologie und seiner Beziehung zum Rehspiegel entwickeln zu können: Heidegger schreibt, daß Tiere keine Weltanschauung hätten, wohl aber eine solche sind, und daß sich ihnen darin die Welt dumpföffne. Tiere seien „lebende Spiegel, deren Leben gerade im Sehenlassen (erstrebenden) der Welt besteht“ (Heidegger: Frei­ heit, 31, Anm. e). Das Reh ist wirklich ein lebender Spiegel Einige der hier eingeschobenen Photographien wurden im übrigen von der Photo­ graphin Digne M. Marcovicz für das Magazin DER SPIEGEL geschossen. Während Heidegger sonst auf dem Wesensunterschied des weltarmen Tieres und des Daseins besteht, scheint er 1925/26 wenigstens das gemalte Reh noch anthropomorphisierend mit dem Dasein gemein zu machen. Die Weise des „Im-Wald-sein des Rehes“ (ebd.) wird als sein „hermeneutische[r] Begriff* (ebd.) bezeichnet. Für das „Gemälde 'der Hund'“ (ebd.) mag Waldi Modell stehen. Die höchste Form der Schematisierung wäre bei Heidegger sicher die Versinnlichung der dem Dasein vorbehaltenen Lichtung. Das Wort Lichtung würde Kant wohl selbst schon als ein Symbol bezeichnen, die Waldlichtung schematisiert irgendwie die Offen­ heit des Daseins, die sein In-der-Welt-sein ermöglicht. Zum Zwecke einer Schematisierung wohl dieser Art „wählen [wir] dazu ein be­ kanntes Gemälde von van Gogh, der solches Schuhzeug mehrmals gemalt hat“ (Heidegger: Holzwege, 17). Inwiefern dieses und das zehn Jahre zuvor in der LOGIKVorlesung entwickelte Kunstkonzept zwei Paar Stiefel sind, läßt sich an dieser Stelle noch nicht sagen. Die strukturelle Funktion des welteröffnenden Schuh-Werks im Kunstwerkaufsatz Heideggers ist vielleicht der analog, die Heidegger für den transzen­ dentalen Schematismus Kants herausgearbeitet hat. Jedenfalls steht sie nicht auf der Ebene einer Hypotypose des empirischen Begriffs vom Schuh. Irritieren würde ein gemalter Schuh, wenn aus seinen dunklen Ösen auf der Leinwand richtige Schnürsenkel herabhängen, die womöglich aus den Fäden der Lein­ wand bestehen könnten. Mit einem solchen Objekt wäre ein Unterschied durchkreuzt, an dem Heidegger festhält, wie man sogleich anhand seiner Überlegungen zu einer

Kant

a u s z w e it e r

H and

125r

Postkarte sehen wird: es handelt sich um den Unterschied von Bildträger (Leinwand) und Sujet (Abgebildetes): Bei der natürlichen Auffassung eines Gemäldes soll man sich nicht - so Heidegger - bei der Beschaffenheit der Leinwand etc. aufhalten, wie es z. B. ein Restaurator tun würde. „ D a s A bgebildete aber, etw a die S o n n en b lu m en , die van G o g h gem alt hat, die sind, m ag auch das Bild vielleicht b e sc h äd ig t sein, d a d u rc h n ic h t selb st b e ­ schädigt;

es sei d e n n ,

S o n n e n b lu m e n

daß

d arzustellen

ein K ü n s d e r

v e rsu ch e n

w ollte, b e sc h ä d ig te

[sie lieb t m ich, sie liebt m ich n ic h t

...]; d as

g esch ieh t a b er n ich t d a d u rch , d a ß e r gew isserm aßen ein b esch äd ig tes B ild d in g herstellt, so n d e rn gerade so, daß das B ildding im h ö c h ste n G ra d u n b e s c h ä d ig t ist, u m das beschädigte A bzu b ild en d e a b zu b ild en .“ (H eidegger: L ogik, 370.)

Das Motiv der Ansichtskarte Es braucht etwas „Vermittelndes“ (Heidegger Kantbuch, 111), das Sinnlichkeit und Kategorien „überbrückt“ (ebcL, 112). Aus den zwei Stämmen, zwischen ihnen, muß sich eine Brücke (heraus)schlagen lassen.25 Als Medium dieser Ein-Bildung und der ontologischen Reflexion gab die Photographie zu denken. Nim, es gibt pittoreske, pho­ togene Brücken, Brückenbilder in Heideggers Lehrtätigkeit. Sollten diese die verbindende Funktion des Schematismus illustrieren? Der frühe Heidegger hätte wohl der Tragfähigkeit dieses Sujets der Brücke mißtraut: ein Brückenschlag als nachträgliche Verkupplung von Sinn und Verstand birgt die Gefahr, den Schematismus zu entwurzeln, die Kluft zwischen den zwei Stämmen weiter zu vertiefen. Später faßt Heidegger mehr Zutrauen zu einem Denken der Brücke jenseits des Additiven und der nur technischen Dimension. E r schafft Reservoirs der Brücke, die einen Zusammenhang von BAUEN WOHNEN DENKEN (1951) sehen lassen. „D ie B rücke schw ingt sich 'leich t u n d kräftig' [eine S c h a ltu n g v o m D e n k e r z u m dichterischen A nonym us H ölderlin] ü b e r d e n Strom . Sie v e rb in d e t n ic h t n u r sch o n v o rh a n d en e U fer. Im Ü b ergang d e r B rücke tre te n die U fe r e rst als U fer hervor.

D ie

B rücke

läß t

sie eigens

g e g en e in a n d e r

über

liegen.“

(H eidegger: V orträge, 146.)

„Die Brücke versammelt* (ebcL, 146, 147) —„die Versammlung bot ein trauriges Bild*“ (Heidegger: Kantbuch, 91). Es scheint nun legitim (d. h. in einer bestimmten interpreta25 Jacques Derrida geht auf die Problematik des Übergangs ein, auf die Kant mit seiner KRITIK DER URTEILSKRAFT antwortet Es gibt eine „offenbare Unmöglichkeit, eine Brücke* [Kant]“ (Derrida: Malerei,

55) zwischen der Sphäre des Sinnlichen und dem Noumenalcn der Freiheit zu schlagen. „Die Analogie des Abgrundes und der Brücke über den Abgrund ist eine Analogie, die besagen will, daß man hier gerade eine Analogie zwischen zwei absolut heterogenen Welten haben muß, ein Drittes, um den Abgrund zu überwin­ den, die Kluft zu schließen und die Spanne zu denken. Es ist Kurz, ein Symbol Die Brücke ist ein Symbol ... und das Symbol ist eine Brücke“ (ebd.). Bei Heidegger ist die Einbildungskraft als das Mittlere zwischen Sinn und Verstand, als Quasi-Brücke aber der Abgrund selbst

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tiven Axiologie vertretbare Gewalt), in Steghosen auszuschreiten zu einet photogra­ phierten Brücke, aufgegabelt in der Marburger Vorlesung des Sommers 1925. Dabei wird zu prüfen sein, ob die Phänomenologie der Brücke tragfahig genug ist, um sie die man in Gestalt einer Postkarte zwischen Husserl und Heidegger zirkulieren sehen wird - zu spannen bis zum Schematismus im Kantbuch. Die in Frage stehenden Zusammenhänge sind von der Art dessen, was man mit Freud KONSTRUKTIONEN IN DER ANALYSE nennen könnte. Es geht um Brückenkonstruktionen. Die Erörterung der Brücke steht 1925 im Zusammenhang mit einer phänome­ nologischen Deskription verschiedener Weisen des Intendiertseins von etwas bei Wahmehmen, Erinnern, Leermeinung und Bildbetrachtung. Dabei werden unterschie­ den: a) Das Wahmehmen von einem „Stuhl selbst“ (Heideggen Zeitbegriff, 53) in voller »Leibhaftigkeif1(ebd.).26 b) Wenn man diesen für die Wahrnehmung spezifischen Charakter der Leibhaftig­ keit abzieht, so gelangt man zu dem Modus der Vergegenwärtigung, z. B. der „Weiden­ hauser Brücke“ (ebd., 54). Aber auch in der Vergegenwärtigung steht letztere im Modus der „,Selbstgegebenheit‘ (ebd.) da. c) Das W ort Brücke in „verkürztem und blinde[m]“ (ebd., 55) Verstehen ist dage­ gen der Fall des Leermeinenr. „Auch im Leermeinen ist das Gemeine [sic.] direkt, schlicht selbst gemeint, aber nur leer“ (ebd., 54). Wenn man das Wort blind als Gedankenbrücke zu anderen Stellen der Vorlesung neh­ men darf: Der Drang des animalischen Triebs „macht blind“ (ebd., 410); „es soll nicht blind“ (ebd., 193) gefragt werden, was das Sein ist Das Wort Sein könnte ein Parade­ beispiel des Leermeinens abgeben, denn das Verstehen dieses Wortes Sein sei „hart an der Grenze des bloßen Wortverständnisses“ (ebd., 194). d) Ein vierter Akt ist die Bildwahrnehmung, die Heidegger anhand einer „Ansichts­ karte von der Weidenhauser Brücke“ (ebd., 55) darstellt. Was hat es mit dieser An­ sichtskarte, diesem Zeug zum sich Weiden an einem Panorama auf sich? „Leibhaft gegeben ist jetzt die Ansichtskarte selbst [präziser: nicht das in der Ansicht Abgebildete, sondern die bloße Kartonage ist leibhaftig da]. Diese Ansichtskarte selbst ist Ding, Objekt, genauso wie die Brücke oder ein Baum [z. B. ein Weide] oder dergleichen ..., ein Bildding.“ (ebd., 55). Ein Ding, wie die „Tafel an der Wand“ (ebd., 56) eines ist. Damit diese Postkarte mehr abwirft, ließe sich in geschicktem Kollationieren von Auszügen der frühen Marburger Vorlesung und des Vortrags BAUEN WOHNEN DENKEN der Anschein erwecken, die Brücke würde sich awördsieren, gesetzt man hört aus dem „Streit über Zahl der Bogen und Pfeiler der Brücke“ (Heidegger: Zeitbegrif£ 59) das amouröse Sujet von Pfeil und Bogen heraus: „Pfeilerbogen schießen“ (Heidegger: Vorträge, 146). Die Brücke aber ist nie eine Chiffre etwa für Amor mit sei26 In SEIN UND Z e it war das Dasein das exemplarische Seiende. Es ließe sich die Kür des hölzernen Vier­ beiners im „exemplarischen Fall der StuhlWahrnehmung (Heidegger Zeitbegriff, 64; vgl. 37) einer anderen „Verhaltung“ (ebd., 37) annähem: „der Stuhl ist hart“ (ebd., 50), ist „leibhaftig gegeben“ (ebd., 54). Etwas Leibhaftes klebt noch an manchem StuhL

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nem Bogen, „niemals zuerst bloße Brücke und hinterher ein Symbol” (ebd., 148) - und sei es das Symbol des formalen, neutralen, grammatikalischen Und oder etwa eines im­ perativischen Berücke! „Wenn ich z. B. sage: ’Ich liebe Vater und Mutter', so hat hier 'und' in keinem Sinne die Bedeutung des Zusammenzählens, wie wenn ich sage: der Stuhl und die Tafel, sondern dieses 'Und' ist hier ein spezifisches 'Und' - hier des Liebens.“ (Heidegger. Zeitbegriff, 413.) Gehen wir darüber hinweg, daß mancher Stuhl auch ein Produkt des Tafelns sein kann und daß eben dieser Stuhl, den das Kind an die Eltern abtritt, als Zeichen der Liebe gegeben wird. Wie stellt sich die „Ansichtskarte von der Weidenhauser Brücke” (Heidegger: Zeitbegriffj 55) im Rahmen dessen dar, was Heidegger später Seinsgeschick nennt? Heidegger entwickelt 1925 diese Postkarte in phänomenologischer Absicht. Die Begrifflichkeit, die er dabei verwendet —Leemeinen, Leibhaftigkeit etc. - setzte Edmund Hussed in Umlauf. Unter den Forschungsmanuskripten, die dieser seinem Günstling Heidegger lieh, waren offenbar auch viele der 700 Druckseiten zu PHANTASIE, BILDBEWUSSTSEIN, ERINNERUNG (Husserliania, Bd. XXIII), diezwischen den Jahren 1898 und 1925 entstanden sind. Diese Übedegungen Husserls gingen 1925 in die besagte Vodesung Heideggers, in den Abriß der phänomenologischen Forschung ein. Heidegger macht dabei durchaus Abstriche, so hegt er Zweifel an der Gültigkeit der Theorie der ,3^Abschattung‘ (Heideggen Zeitbegriffj 58). Darunter versteht Hussed, daß ein Wahmehmungsgegenstand nur von meinem Hier aus, d. h. nur in seiner aktu­ ellen Ansicht (= Perspektive oder Abschattung) originär gegeben sei. Diese Ansicht sendet Heidegger postwendend zurück und dies u. a. in Gestalt einer Phänomenologie der Ansichtskarte. Heidegger kontert gegen die Abschattungstheorie, angesichts der Aufsicht auf die Sitzfläche eines Stuhls sei der Stuhl in seiner Ganzheit selbst gemeint und nicht die je spezifische Abschattung. Damit eröffnet die Vodesung eine - für das Geschick zwischen der Phänomenologie Husserls und der Fundamentalontologie Heideggers ent­ scheidende - für das Postalische a priori geforderte Distanz. Heidegger ist Verzogen’, der Stuhl ist nicht länger Ding der phänomenologischen Kontemplation, sondern zuhandenes Sitz-Zeug (oder soll man sagen, er sei ’zugesäß'?). Die Ansichtskarte könnte also ihre Rolle im „Geschick des Seins” (Heidegger Wegmarken, 366) spielen. Das Sein selbst sollte erst mit dem „Denken an die Seins­ vergessenheit zum Austrag” (ebd) kommen, so Heidegger. Die bisherigen Denker glichen dann ein wenig den Zustellern (oder K